Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher: eine Auswahl [1. Aufl.] 978-3-528-08538-4;978-3-322-88795-5

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German Pages VI, 250 [255] Year 1983

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Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher: eine Auswahl [1. Aufl.]
 978-3-528-08538-4;978-3-322-88795-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Autobiographisches (Albert Einstein)....Pages 1-36
Albert Einstein (Arnold Sommerfeld)....Pages 37-42
Das Wissenschaftliche Werk Albert Einsteins (Louis de Broglie)....Pages 43-59
Einsteins Beitrag zur Quantentheorie (Wolfgang Pauli)....Pages 60-69
Einsteins Statistische Theorien (Max Born)....Pages 70-83
Diskussion mit Einstein über Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik (Niels Bohr)....Pages 84-119
Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit (Henry Margenau)....Pages 120-141
Die Philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie (Hans Reichenbach)....Pages 142-161
Geometrie als Zweig der Physik (H. P. Robertson)....Pages 162-178
Über die Struktur des Weltalls (Leopold Infeld)....Pages 179-199
Trägheit und Energie (Max von Laue)....Pages 200-224
Eine Bemerkung Über die Beziehungen Zwischen der Relativitätstheorie und der Idealistischen Philosophie (Kurt Gödel)....Pages 225-231
Bemerkungen zu den in Diesem Bande Vereinigten Arbeiten (Albert Einstein)....Pages 233-249
Back Matter ....Pages 250-250

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Paul Arthur Schilpp (Hrsg.)

Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher

Facetten der

Physik

Physik hat viele Facetten: historische. technische soziale, kulturelle, philosophische und amüsante. Sie können wesentliche und bestimmende Motive für die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften sein. Viele Lehrbücher lassen diese "Facetten der Physik" nur erahnen. Daher soll unsere Buchreihe ihnen gewidmet sein. Prof. Dr. Roman Sexl Herausgeber

Eine Liste der erschienenen Bände finden Sie auf Seite 250

Paul Arthur Schilpp (Herausgeber)

Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher eine Auswahl

Friedr. Vieweg & Sohn

BraunschweiglWiesbaden

1983 Der gekürzte Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der OPEN COURT Publishing Company, La Salle, 11., U .S.A. und des W. Kohlhammer Verlags, Stuttgart

© Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig 1983

Die Vervielfältigung und übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder, auch für Zwecke der Unterrichtsgestaitung, gestattet das Urheberrecht nur, wenn sie mit dem Verlag vorher vereinbart wurden. Im Einzelfall muß über die Zahlung einer Gebühr für die Nutzung fremden geistigen Eigentums entschieden werden. Das gilt für die Vervielfältigung durch alle Verfahren einschließlich Speicherung und jede übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien.

ISBN 978-3-528-08538-4 ISBN 978-3-322-88795-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-88795-5

Vorwort

Fast dreißig Jahre sind seit der Erstausgabe dieses Buches vergangen, die wenige Wochen nach dem Tode Albert Einsteins in der berühmten Reihe "Library of living philosophers" erschien, die Paul Arthur Schilpp herausgibt. Freunde und Gegner äußern sich darin jeweils zum Lebenswerk eines bedeutenden Philosophen, der auch Gelegenheit zu einer entsprechenden Replik auf seine Kritiker erhält. Fast jeder Band dieser Reihe wurde zu einem Klassiker auf seinem Gebiet und auch "Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher" wurde bald zu dem vielleicht meist zitierten Werk der umfangreichen EinsteinLiteratur. Wie sorgfältig Paul Arthur Schilpp damals bei der Auswahl der Beiträge vorging, zeigt sich wohl am besten daran, daß auch heute noch die überwiegende Mehrzahl dieser Artikel von der gleichen Aktualität und Bedeutung sind, wie zum Zeitpunkt der Erstauflage. Dennoch hat sich manches überlebt und erweist sich heute als nicht mehr lesenswert. Deshalb erschien es sinnvoll, eine Auswahl aus dem umfangreichen Band in der Reihe "Facetten der Physik" zu einem günstigen Preis anzubieten. Eignet sich doch das Werk in seiner charakteristischen Mischung physikalischer und philosophischer Themen ganz hervorragend als Grundlage wissenschaftstheoretischer und wissenschaftshistorischer Vorlesungen und Seminare. Bei der schwierigen Aufgabe, eine geeignete Selektion aus dem umfangreichen Originalband vorzunehmen, hat Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider (Gießen) beratend mitgewirkt.

Roman Sexl

Wien, im September 1982

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI Albert Einstein: Autobiographisches

1

Faksimile der Handschrift Einsteins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

36

Arnold Sommerfeld: Albert Einstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Louis d(? Broglie: Das wissenschaftliche Wort Albert Einsteins . . . .

43

Wolfgang Pauli: Einsteins Beitrag zur Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . 60 Max Born: Einsteins statistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 70 Niels Bohr: Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Henry Margenau: Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

.... 120

Hans Reichenbach: Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.. 142

H. P. Robertson: Geometrie als Zweig der Physik

.. 162

Leopold Infeld: Über die Struktur des Weltalls.

. 179

Max von Laue: Trägheit und Energie . . . . . . .

.200

Kurt Gödel: Eine Bemerkung über die Beziehungen zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie ...

. .... 225

Albert Einstein: Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Albert Einstein

AUTOBIOGRAPHISCHES

Hier sitze ich, um mit 67 Jahren so etwas wie den eigenen Nekrolog zu schreiben. Dies tue ich nicht nur, weil mich Dr. Schilpp dazu überredet hat, sondern ich glaube selber daß es gut ist, den Mitstrebenden zu zeigen, wie einem das eigene Streben und Suchen im Rückblick erscheint. Nach einiger Überlegung fühlte ich, wie unvollkommen ein solcher Versuch ausfallen muß. Denn wie kurz und beschränkt ein Arbeitsleben ist, wie vorherrschend die Irrwege, so fällt doch die Darstellung des Mitteilungswerten nicht leicht - der jetzige Mensch von 67 ist nicht derselbe wie der von 50, 30 und 20. Jede Erinnerung ist gefärbt durch das jetzige So-Sein, also durch einen trügerischen Blickpunkt. Diese Erwägung könnte wohl abschreckelI. Aber man kann doch manches aus dem Selbsterleben schöpfen, was einem andern Bewußtsein nicht zugänglich ist. Als ziemlich frühreifem jungem Menschen kam mir die Nichtigkeit des Hoffens und Strebens lebhaft zum Bewußtsein, das die meisten Menschen rastlos durchs Leben jagt. Auch sah ich bald die Grausamkeit dieses Treibens, die in jenen Jahren sorgsamer als jetzt durch Hypokrisie und glänzende Worte verdeckt war. Jeder war durch die Existenz seines Magens dazu verurteilt, an diesem Treiben sich zu beteiligen. Der Magen konnte durch solche Teilnahme wohl befriedigt werden, aber nicht der Mensch als denkendes und fühlendes Wesen. Da gab es als ersten Ausweg die Religion, die ja jedem Kinde durch die traditionelle Erziehungsmaschine eingepflanzt wird. So kam ich - obwohl ein Kind ganz irreligiöser (jüdischer) Eltern zu einer tiefen Religiosität, die aber im Alter von 12 Jahren bereits ein jähes Ende fand. Durch Lesen populär-wissenschaftlicher Bücher kam ich bald zu der Überzeugung, daß vieles in den Erzählungen der Bibel nicht wahr sein konnte. Die Folge war eine geradezu fanatische Freigeisterei, verbunden mit dem Eindruck, daß die Jugend vom Staate mit Vorbedacht helogen wird; es war ein niederschmetternder Eindruck. Das Mißtrauen gegen jede Art Autorität erwuchs aus diesem Erlebnis, eine skeptische Einstellung gegen die Überzeugungen, welche in der jeweiligen sozialen Umwelt lebendig waren - eine Einstellung, die mich nicht wieder verlassen hat, wenn sie auch später durch bessere Einsicht in die kausalen Zusammenhänge ihre ursprüngliche Schärfe verloren hat.

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Albert Einstein

Es ist mir klar, daß das so verlorene religiöse Paradies der Jugend ein erster Versuch war, mich aus den Fesseln des "Nur-Persönlichen" zu befreien, aus einem Dasein, das durch \Vünsche, Hoffnungen und primitive Gefühle beherrscht ist. Da gab es draußen diese große Welt, die unabhängig von uns Menschen da ist und vor uns steht wie ein großes, ewiges Rätsel, wenigstens teilweise zugänglich unserem Schauen und DenkeIl. Ihre Betrachtung wirkte als eine Befreiung, und ich merkte bald, daß so mancher, den ich schätzen und bewundern gelernt hatte, in der hingebenden Beschäftigung mit ihr innere Freiheit und Sicherheit gefunden hatte. Das gedankliche Erfassen dieser außerpersönlichen Welt im Rahmen der uns gebotenen Möglichkeiten schwebte mir halb bewußt, halb unbewußt als höchstes Ziel vor. Ähnlich eingestellte Menschen der Gegenwart und Vergangenheit sowie die von ihnen erlangten Einsichten waren die unverlierbaren Freunde. Der \Veg zu diesem Paradies war nicht so bequem und lockend wie der Weg zum religiösen Paradies; aber er hat sieh als zuverlässig erwiesen, und ich habe es nie bedauert, ihn gewählt zu haben. Was ich da gesagt habe, ist nur in gewissem Sinne wahr, wie eine aus wenigen Strichen bestehende Zeichnung einem komplizierten, mit verwirrenden Einzelheiten ausgestatteten Objekt nur in beschränktem Sinne gerecht werden kann. Wenn ein Individuum an gutgefügten Gedanken Freude hat, so mag sich diese Seite seines Wesens auf Kosten anderer Seiten stärker ausprägen und so seine Mentalität in steigendem Maße bestimmen. Es mag dann wohl sein, daß dies Individuum im Rückblick eine einheitliche systematische Entwicklung sieht, während das tatsächliche Erleben in kaleidoskopartiger Einzelsituation sich abspielt. Die Mannigfaltigkeit der äußeren Situationen und die Enge des momentanen Bewußtsein-Inhaltes bringen ja eine Art Atomisierung des Lebens jedes Menschen mit sich. Bei einem Menschen meiner Art liegt der Wendepunkt der Entwicklung darin, daß das Hauptinteresse sich allmählich weitgehend loslöst vom Momentanen und Nur-Persönlichen und sich dem Streben nach gedanklicher Erfassung der Dinge zuwendet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet enthalten die obigen schematischen Bemerkungen so viel ·Wahres, als sich in solcher Kürze sagen läßt. Was ist eigentlich "Denken"? Wenn beim Empfangen von Sinneseindrücken Erinnerungsbilder auftauchen, so ist das noch nicht "Denken"_ Wenn solche Bilder Serien bilden, deren jedes Glied ein anderes wachruft, so ist dies auch noch kein "Denken". Wenn aber ein gewisses Bild in vielen solchen Reihen wiederkehrt, so wird es eben durch seine Wiederkehr zu einem ordnenden Element für solche Reihen, indem es an sich zusammenhanglose Reihen verknüpft. Ein solches Element wird zum Werkzeug, zum Begriff. Ich denke mir, daß der Übergang vom freien Assoziieren oder "Träumen" zum Denken charakterisiert ist durch die mehr oder minder 2

Autobiographisches dominierende Rolle, die der "Begriff" dabei spielt. Es ist an sich nicht nötig, daß ein Begriff mit einem sinnlich wahrnehmbaren und reproduzierbaren Zeichen (Wort) verknüpft sei; ist er es aber, so wird dadurch Denken mitteilbar. Mit welchem Recht - so fragt nun der Leser - operiert dieser Mensch so unbekümmert und primitiv mit Ideen auf einem so problematischen Gebiet, ohne den geringsten Versuch zu machen, etwas zu beweisen? Meine Yerteidigung: all unser Denken ist von dieser Art eines freien Spiels mit Begriffen; die Berechtigung dieses Spiels liegt in dem Maße der Übersicht über die Sinnenerlebnisse, die wir mit seiner Hilfe erreichen können. Der Begriff der "Wahrheit" kann auf ein solches Gebilde noch gar nicht angewendet werden; dieser Begriff kann nach meiner Meinung erst dann in Frage kommen, wenn bereits eine weitgehende Einigung (Konvention) über die Elemente und Regeln des Spieles vorliegt. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß unser Denken zum größten Teil ohne Verwendung von Zeichen (Worte) vor sich geht und dazu noch weitgehend unbewußt. Denn wie sollten wir sonst manchmal dazu kommen, uns über ein Erlebnis ganz spontan zu "wundern"? Dies "sich wundern" scheint dann aufzutreten, wenn ein Erlebnis mit einer in uns hinreichend fixierten Begriffswelt in Konflikt kommt. Wenn solcher Konflikt hart und intensiv erlebt wird, dann wirkt er in entscheidender Weise zurück auf unsere Gedankenwelt. Die Entwicklung dieser Gedankenwelt ist in gewissem Sinn eine beständige Flucht aus dem "Wunder". Ein Wunder solcher Art erlebte ich als Kind von 4 oder 5 Jahren, als mir mein Vater einen Kompaß zeigte. Daß diese Nadel in so bestimmter Weise sich benahm, paßte so gar nicht in die Art des Geschehens hinein, die in der unbewußten Begriffswelt Platz finden konnte (an "Berührung" geknüpftes Wirken). Ich erinnere mich noch jetzt - oder glaube mich zu erinnern - daß dies Erlebnis tiefen und bleibenden Eindruck auf mich gemacht hat. Da mußte etwas hinter den Dingen sein, das tief verborgen war. \Vas der Mensch von klein auf vor sich sieht, darauf reagiert er nicht in solcher Art, er wundert sich nicht über das Fallen der Körper, über Wind und Regen, nicht über den Mond und nicht darüber, daß dieser nicht herunterfällt, nicht über die Verschiedenheit des Belebten und des Nichtbelebten. Im Alter von 12 Jahren erlebte ich ein zweites Wunder ganz verschiedener Art: an einem Büchlein über Euklidische Geometrie der Ebene, das ich am Anfang eines Schuljahres in die Hand belnm. Da waren Aussagen wie z. B. das Sichschneiden der drei Höhen eines Dreieckes in einem Punkt, die - obwohl an sich keineswegs evident - doch mit solcher Sicherheit bewiesen werden konnten, daß ein Zweifel ausgeschlossen zu sein schien. Diese Klarheit und Sicherheit machte einen unbeschreiblichen Eindruck

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Albert Einstein

auf mich. Daß die Axiome unbewiesen hinzunehmen waren, beunruhigte mich nicht. Überhaupt genügte es mir vollkommen, wenn ich Beweise auf solche Sätze stützen konnte, deren Gültigkeit mir nicht zweifelhaft erschien. Ich erinnere mich beispielsweise, daß mir der pythagoräische Satz von einem Onkel mitgeteilt wurde, bevor ich das heilige Geometriebüchlein in die Hand bekam. Nach harter Mühe gelang es mir, diesen Satz auf Grund der Ähnlichkeit VOll Dreiecken zu "beweisen"; dabei erschien es mir "evident", daß die Verhältnisse der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks durch einen der spitzen Winkel völlig bestimmt sein müssen. Nur was nicht in ähnlicher \Veise "evident" erschien, schien mir überhaupt eines Beweises zu bedürfen. Auch schienen mir die Gegenstände, von denen die Geometrie handelt, nicht von anderer Art zu sein als die Gegenstände der simllichen Wahrnehmung, "die man sehen und greifen konnte". Diese primitive Auffassung, welche wohl auch der bekannten Kantschen Fragestellung betreffend die Möglichkeit "synthetischer Urteile apriori" zugrundeliegt, beruht natürlich darauf, daß die Beziehung jener geometrischen Begriffe zu Gegenständen der Erfahrung (fester Stah, Strecke, usw.) unbewußt gegenwärtig war. Wenn es so schien, daß man durch bloßes Denken sichere Erkenntnis üher Erfahrungsgegenstände erlangen könne, so beruhte dies "Wunder" auf einem Irrtum. Aber es ist für den, der es zum ersten Mal erlebt, wunderbar genug, daß der Mensch überhaupt imstande ist, einen solchen Grad von Sicherheit und Reinheit im bloßen Denken zu erlangen, wie es uns die Griechen erstmalig in der Geometrie gezeigt haben. Nachdem ich mich nun einmal dazu habe hinreißen lassen, den notdürftig begonnenen Nekrolog zu unterbrechen, scheue ich mich nicht, hier in ein paar Sätzen mein erkenntnistheoretisches Credo auszudrücken, obwohl im Vorigen einiges davon beiläufig schon gesagt ist. Dies Credo entwickelte sich erst viel später und langsam und entspricht nicht der Einstellung, die ich in jüngeren Jahren hatte. Ich sche auf der eincn Seite die Gesamtheit der Sinnenerlebnisse, auf der andern Seite die Gesamtheit der Begriffe und Sätze, die in den Büchern niedergelegt sind. Die Beziehungen zwischen den Begriffen und Sätzen untereinander sind logischer Art, und das Geschäft des logischen Denkens ist strikte beschränkt auf die Herstellung der Verbindung zwischen Begriffen und Sätzen untereinander nach festgesetzten Regeln, mit denen sich die Logik beschäftigt. Die Begriffe und Sätze erhalten "Sinn" bzw. "Inhalt" nur durch ihre Beziehung zu Sinnenerlehnissen. Die Verbindung der letzteren mit den ersteren ist rein intuitiv, nicht selbst von logischer Natur. Der Grad der Sicherheit, mit der diese Beziehung bzw. intuitive Verknüpfung vorgenommen werden kann, und nichts anderes, unterscheidet die leere Phantasterei von der wissenschaftlichen "Wahrheit". Das Begriffs4

Autobiographisches system ist eine Schöpfung des Menschen samt den syntaktischen Regeln, welche die Struktur der Begriffssysteme ausmachen. Die Begriffssyst eme sind zwar an sich logisch gänzlich willkürlich, aber gebunden durch das Ziel, eine möglichst sichere (intuitive) und vollständige Zuordnung zu der Gesamtheit der Sinnen erlebnisse zuzulassen; zweitens erstrebcn sie m öglichste Sparsamkeit in bezug auf ihre logisch unabhängigen Elemente (Grundbegriffe und Axiome), d. h. nicht definierte Begriffe und nicht erschlossene Sätze. Ein Satz ist richtig, wenn er innerhalb eines logischen Systems nach den akzeptierten logischen Regeln abgeleitet ist. Ein System hat Wahrheitsgehalt, entsprechend der Sicherheit und Vollständigkeit seiner Zuordnungsmöglichkeit zu der Erlebnisgesamtheit. Ein richtiger Satz erborgt seine "Wahrheit" von dem Wahrheitsgehalt des Systems, dem er angehört. Eine Bemerkung zur geschichtlichen Entwicklung. Hume erkannte klar, daß gewisse Begriffe, z. B. der der Kausalität, durch logische Methoden nicht aus dem Erfahrungsmaterial abgeleitet werden können. Kant, von der Unentbehrlichkeit gewisser Begriffe durchdrungen, hielt sie - so wie sie gewählt sind - für nötige Prämissen jeglichen Denkens und unterschied sie von Begriffen empirischen Ursprungs. Ich bin aber davon überzeugt, daß diese Unterscheidung irrtümlich ist, bzw. dem Problem nicht in natürlicher Weise gerecht wird. Alle Begriffe, auch die erlebnisnächsten, sind vom logischen Gesichtspunkte aus freie Setzungen, genau wie der Begriff der Kausalität, an den sich in erster Linie die Fragestellung angeschlossen hat. Nun zurück zum Nekrolog. Im Alter von 12-16 machte ich mich mit den Elementen der Mathematik vertraut inklusive der Prinzipien der Differential- und Integralrechnung. Dabei hatte ich das Glück auf Bücher zu stoßen, die es nicht gar zu genau nahmen mit der logischen Strenge, dafür aber die Hauptgedanken übersichtlich hervortreten ließen. Diese Beschäftigung war im ganzen wahrhaft faszinierend; es gab darin Höhepunkte, deren Eindruck sich mit dem der elementaren Geometrie sehr wohl messen konnte der Grundgedanke der analytischen Geometrie, die unendlichen Reihen, der Differential- und Integralbegriff. Auch hatte ich das Glück, die wesentlichen Ergebnisse und Methoden der gesamten Naturwissenschaft in einer vortrefflichen populären, fast durchweg aufs Qualitative sich beschränkenden Darstellung kennen zu lernen (Bernsteins naturwissenschaftliche Volksbücher, ein Werk von 5 oder 6 Bänden), ein Werk, das ich mit atemloser Spannung las. Auch etwas theoretische Physik hatte ich bereits studiert, als ich mit 17 Jahren auf das Zürich er Polytechnikum kam als Student der Mathematik und Physik. Dort hatte ich vortreffliche Lehrer (z. B. Hurwitz, Minkowski), so daß ich eigentlich eine tiefe mathematische Ausbildung hätte erlangen können.

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Ich aber arbeitete die meiste Zeit im physikalischen Laboratorium, fasziniert durch die direkte Berührung mit der Erfahrung. Die übrige Zeit benutzte ich hauptsächlich, um die Werke von Kirchhoff, Heimholtz, Hertz usw. zu Hause zu studieren. Daß ich die Mathematik bis zu einem gewissen Grade vernachlässigte, hatte nicht nur den Grund, daß das naturwissenschaftliche Interesse stärker war als das mathematische, sondern das folgende eigentümliche Erlebnis. Ich sah, daß die Mathematik in viele Spezialgebiete gespalten war, deren jedes diese kurze uns vergönnte Lebenszeit wegnehmen konnte. So sah ich mich in der Lage von Buridans Esel, der sich nicht für ein besonderes Bündel Heu entschließen konnte. Dies lag offenbar daran, daß meine Intuition auf mathematischem Gebiete nicht stark genug war, um das Fundamental-Wichtige, Grundlegende sicher von dem Rest der mehr oder weniger entbehrlichen Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Außerdem war aber auch das Interesse für die Naturerkenntnis unbedingt stärker; und es wurde mir als Student nicht klar, daß der Zugang zu den tieferen prinzipiellen Erkenntnissen in der Physik an die feinsten mathematischen Methoden gebunden war. Dies dämmerte mir erst allmählich nach Jahren selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Freilich war auch die Physik in Spezialgebiete geteilt, deren jedes ein kurzes Arbeitsleben verschlingen konnte, ohne daß der Hunger nach tieferer Erkenntnis befriedigt würde. Die Masse des erfahrungsmäßig Gegebenen und ungenügend Verbundenen war auch hier überwältigend. Aber bald lernte ich es hier, dasjenige herauszuspüren; was in die Tiefe führen konnte, von allem andern aber abzusehen, von dem Vielen, das den Geist ausfüllt und von dem Wesentlichen ablenkt. Der Haken dabei war freilich, daß man für die Examina all diesen Wust in sich hineinstopfen mußte, ob man nun wollte oder nicht. Dieser Zwang wirkte so abschreckend, daß mir nach überstandenem Endexamen jedes Nachdenken über wissenschaftliche Probleme für ein ganzes Jahr verleidet war. Dabei muß ich sagen, daß wir in der Schweiz unter solchem den wahren wissenschaftlichen Trieb erstickenden Zwang weniger zu leiden hatten, als es an vielen andern Orten der Fall ist. Es gab im ganzen nur zwei Examina; im übrigen konnte man so ziemlich tun und lassen, was mau wollte. Besonders war dies so, wenn man wie ich einen Freund hatte, der die Vorlesungen regelmäßig besuchte und den Inhalt gewissenhaft ausarbeitete. Dies gab Freiheit in der Wahl der Beschäftigung bis auf wenige Monate vor dem Examen, eine Freiheit, die ich weitgehend genossen habe; das mit ihr verbundene schlechte Gewissen nahm ich als das weitaus kleinere Übel gerne in Kauf. Es ist eigentlich wie ein Wunder, daß der moderne Lehrbetrieb die heilige Neugier des Forschens noch nicht ganz erdrosselt hat; denn dies delikate Pflänzchen bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit; ohne diese geht es unweigerlich zugrunde. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß Freude am Schauen und Suchen 6

Autobiographisches durch Zwang und Pflichtgefühl gefördert werden könne. Ich denke, daß man selbst einem gesunden Raubtier seine Freßgier wegnehmen könnte, wenn es gelänge, es mit Hilfe der Peitsche fortgesetzt zum Fressen zu zwingen, wenn es keinen Hunger hat, besonders wenn man die unter solchem Zwang verabreichten Speisen entsprechend auswählte. Nun zur Physik, wie sie sich damals präsentierte. Bei aller Fruchtbarkeit im einzelnen herrschte in prinzipiellen Dingen dogmatische Starrheit: Am Anfang (wenn es einen solchen gab) schuf Gott Newtons Bewegungsgesetze samt den notwendigen Massen und Kräften. Dies ist alles; das Weitere ergibt die Ausbildung geeigneter mathematischer Methoden durch Deduktion. Was das 19. Jahrhundert fußend auf dieser Basis geleistet hat, insbesondere durch die Anwendung der partiellen Differenzialgleichungen, mußte die Bewunderung jedes empfänglichen Menschen erwecken. Newton war wohl der erste, der die Leistungsfähigkeit der partiellen Differentialgleichung in seiner Theorie der Schallfortpflanzung offenbarte. Euler hatte schon das Fundament der Hydrodynamik geschaffen. Aber der feinere Aushau der Mechanik diskreter Massen, als Basis der gesamten Physik, war das Werk des 19. Jahrhunderts. Was aber auf den Studenten den größten Eindruck machte, war weniger der technische Aufbau der Mechanik und die Lösung komplizierter ProhIerne, als die Leistungen der Mechanik auf Gebieten, die dem Anscheine nach nichts mit Mechanik zu tun hatten: die mechanische Lichttheorie, die das Licht als Wellenbewegung eines quasi starren elastischen Äthers auffaßte, vor allem aber die kinetische Gastheorie : Die Unabhängigkeit der spezifischen Wärme einatomiger Gase vom Atomgewicht, die Ableitung der Gasgleichung und deren Beziehung zur spezifischen Wärme, die kinetische Theorie der Dissoziation der Gase, vor allem aber der quantitative Zusammenhang von Viskosität, Wärmeleitung und Diffusion der Gase, welche auch die absolute Größe des Atoms lieferte. Diese Ergebnisse stützten gleichzeitig die Mechanik als Grundlage der Physik und der Atomhypothese, welch letztere ja in der Chemie schon fest verankert war. In der Chemie spielten aber nur die Verhältnisse der Atommassen eine Rolle, nicht deren absolute Größen, so daß die Atomtheorie mehr als veranschaulichendes Gleichnis denn als Erkenntnis über den faktischen Bau der Materie betrachtet werden konnte. Abgesehen davon war es auch von tiefem Interesse, daß die statistische Theorie der klassischen Mechanik imstande war, die Grundgesetze der Thermodynamik zu deduzieren, was dem Wesen nach schon von Boltzmann geleistet wurde. Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß sozusagen alle Physiker des letzten Jahrhunderts in der klassischen Mechanik eine feste und endgültige Grundlage der ganzen Physik, ja der ganzen Naturwissenschaft sahen, und daß sie nicht müde wurden zu versuchen, auch die indessen langsam sich durchsetzende Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus auf die Me-

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chanik zu gründen. Auch Maxwell und H. Hertz, die im Rückblick mit Recht als diejenigen erscheinen, die das Vertrauen auf die Mechanik als die endgültige Basis alles physikalischen Denkens erschüttert haben, haben in ihrem bewußten Denken durchaus an der Mechanik als gesicherter Basis der Physik festgehalten. Ernst Mach war es, der in seiner Geschichte der Mechanik an diesem dogmatischen Glauben rüttelte; dies Buch hat gerade in dieser Beziehung einen tiefen Einfluß auf mich als Student ausgeübt. Ich sehe Machs wahre Größe in der unbestechlichen Skepsis und Unabhängigkeit; in meine 1I jungen Jahren hat mich aber auch Machs erkenntnistheoretische Einstellung sehr beeindruckt, die mir heute als im wesentlichen unhaltbar erscheint. Er hat nämlich die dem Wesen nach konstruktive und spekulative Natur alles Denkens und im besonderen des wissenschaftlichen Denkens nicht richtig ins Licht gestellt und infolge davon die Theorie gerade an solchen Stellen verurteilt, an welchen der konstruktiv-spekulative Charakter unverhüllbar zutage tritt, z. B. in der kinetischen Atomtheorie. Bevor ich nun eingehe auf eine Kritik der Mechanik als Grundlage der Physik, muß erst etwas Allgemeines über die Gesichtspunkte gesagt werden, nach denen physikalische Theorien überhaupt kritisiert werden können. Der erste Gesichtspunkt liegt auf der Hand: die Theorie darf Erfahrungstatsachen nicht widersprechen. So einleuchtend diese Forderung auch zunächst erscheint, so subtil gestaltet sich ihre Anwendung. Man kann nämlich häufig, vielleicht sogar immer, an eiller allgemeinen theoretischen Grundlage festhalten, indem man durch künstliche zusätzliche Annahmen ihre Anpassung an die Tatsachen möglich macht. Jedenfalls aber hat es dieser erste Gesichtspunkt mit der Bewährung der theoretischen Grundlage an einem vorliegenden Erfahrungsmaterial zu tun. Der zweite Gesichtspunkt hat nichts zu schaffen mit der Beziehung zu dem Beobachtungsmaterial, sondern mit den Prämissen der Theorie selbst, mit dem, was man kurz aber undeutlich als "Natürlichkeit" oder "logische Einfachheit" der Prämissen (der Grundbegriffe und zugrunde gelegten Beziehungen zwischen diesen) bezeichnen kann. Dieser Gesichtspunkt, dessen exakte Formulierung auf große Schwierigkeiten stößt, hat von jeher bei der Wahl und Wertung der Theorien eine wichtige Rolle gespielt. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine Art Abzählung der logisch unabhängigen Prämissen (wenn eine solche überhaupt eindeutig möglich wäre), sondern um eine Art gegenseitiger Abwägung inkommensurabler Qualitäten. Ferner ist von Theorien mit gleich "einfacher" Grundlage diejenige als die überlegene zu betrachten, welche die an sich möglichen Qualitäten von Systemen am stärksten einschränkt (d. h. die bestimmtesten Aussagen enthält). Von dem "Bereich" der Theorien brauche ich hier nichts zu sagen, da wir uns auf solehe Theorien beschränken, deren Gegenstand die Gesamtheit der physikalischen Erscheinungen ist. Der zweite Gesichtspunkt kann kurz als

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Autobiographisches der die "innere Vollkommenheit" der Theorie betreffende bezeichnet werden, während der erste Gesichtspunkt sich auf die "äußere Bewährung" bezieht. Zur "inneren Vollkommenheit" einer Theorie rechne ich auch folgendes: Wir schätzen eine Theorie höher, wenn sie nicht eine vom logischen Standpunkt willkürliche Wahl unter an sich gleichwertigen und analog gebauten Theorien ist. Die mangelhafte Schärfe der in den letzten beiden Absätzen enthaltenen Aussagen will ich nicht mit dem Mangel an genügendem zur Verfügung stehendem Druckraum zu entschuldigen suchen, sondern bekenne hiermit, daß ich nicht ohne weiteres, vielleicht überhaupt nicht fähig wäre, diese Andeutungen durch scharfe Definitionen zu ersetzen. Ich glaube aber, daß eine schärfere Formulierung möglich wäre. Jedenfalls zeigt es sich, daß zwischen den "Auguren" meist Übereinstimmung besteht bezüglich der Beurteilung der "inneren Vollkommenheit" der Theorien und erst recht über den Grad der "äußeren Bewährung". Nun zur Kritik der Mechanik als Basis der Physik. Vom ersten Gesichtspunkte (Bewährung an den Tatsachen) mußte die Einverleibung der Wellenoptik ins mechanische Weltbild ernste Bedenken erwecken. War das Licht als Wellenbewegung in einem elastischen Körper aufzufassen (Äther), so mußte es ein alles durchdringendes Medium sein, wegen der Transversalität der Lichtwellen in der Hauptsache ähnlich einem festen Körper, aber inkompressibel, so daß longitudinale Wellen nicht existierten. Dieser ~Üher mußte neben der sonstigen Materie ein Gespensterdasein führen, indem er den Bewegungen der "ponderabeln" Körper keinerlei Widerstand zu leisten schien. Um die Brechungsindices durchsichtiger Körper sowie die Prozesse der Emission und Absorption der Strahlung zu erklären, hätte man verwickelte Wechselwirkungen zwischen beiden Arten von Materie annehmen müssen, was nicht einmal ernstlich versucht, geschweige geleistet wurde. Ferner nötigten die elektromagnetischen Kräfte zur Einführung elektrischer Massen, die zwar keine merkliche Trägheit besaßen, aber Wechselwirkungen auf einander ausübten, und zwnr, im Gegensatz zur Gravitationskraft, solche von polarer Art. Was die Physiker nach langem Zaudemlangsam dazu brachte, den Glauben an die Möglichkeit zu verlassen, daß die gesamte Physik auf Newtons Mechanik gegründet werden könne, war die Faraday-Maxwellsche Elektrodynamik. Diese Theorie und ihre I3estätigung durch die Hertzschen Versuche zeigten nämlich, daß es elektromagnetische Vorgänge gibt, die ihrem \Vesen nach losgelöst sind von jeglicher ponderabeln Materie - die aus elektromagnetischen "Feldern" im leeren Raume bestehenden Wellen. Wollte man die Mechanik als Grundlage der Physik aufrecht halten, so mußten die Maxwellschen Gleichungen mechanisch interpretiert werden.

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Albert Einstein

Dies wurde eifrigst aber erfolglos versucht, während sich die Gleichungen in steigendem Maße als fruchtbar erwiesen. Man gewöhnte sich daran, mit diesen Feldern als selbständigen Wesenheiten zu operieren, ohne daß man sich über ihre mechanische Natur auszuweisen brauchte; so verließ man halb unbemerkt die Mechanik als Basis der Physik, weil deren Anpassung an die Tatsachen sich schließlich als hoffnungslos darstellte. Seitdem gibt es zweierlei Begriffselemente, einerseits materielle Punkte mit Fernkräften zwischen ihnen, andererseits das kontinuierliche Feld. Es ist ein Zwischenzustand der Physik ohne einheitliche Basis für das Ganze, der - obwohl unbefriedigend - doch weit davon entfernt ist, überwunden zu sein. Nun einiges zur Kritik der Mechanik als Grundlage der Physik vom zweiten, dem inneren Gesichtspunkte aus. Solche Kritik hat bei dem heutigen Stande der Wissenschaft, d. h. nach dem Verlassen des mechanischen Fundamentes, nur noch methodisches Interesse. Sie ist aber recht geeignct, eine Art des Argurnentierens zu zeigen, die in der Zukunft bei der Auswahl der Theorien eine umso größere Rolle spielen muß, je weiter sich die Grundbegriffe und Axiome von dem direkt Wahrnehmbaren entfernen, so daß das Konfrontieren der Implikationen der Theorie mit den Tatsachen immer schwieriger und langwieriger wird. Da ist in erster Linie das Machsche Argument zu erwähnen, das übrigens von Newton schon ganz deutlich erkanllt worden war (Eimerversuch). Alle "starren" Koordinationssysteme sind vom Standpunkt der rein geometrischen Beschreibung untereinander logisch gleichwertig. Die Gleichungen der Mechanik (z. B. schon das Trägheitsgesetz) beanspruchen Gültigkeit nur gegenüber einer besonderen Klasse solcher Systeme, nämlich gegenüber den "Inertialsystemen". Das Koordinationssystem als körperliches Objekt ist hierbei ohne Bedeutung. Man muß also für die Notwendigkeit dieser besonderen ·Wahl etwas suchen, was außerhalb der Gegenstände (Massen, Abstände) liegt, von denen die Theorie handelt. Newton führte als ursächlich bestimmend deshalb ganz explizite den "absoluten Raum" ein als allgegenwärtigen aktiven Teilnehmer bei allen mechanischen Vorgängen; unter "absolut" versteht er offenbar unbeeinflußt von den Massen und ihren Bewegungen. Was den Tatbestand besonders häßlich erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß es unendlich viele, gegeneinander gleichförmig und rotationsfrei bewegte Inertialsysteme geben soll, die gegenüber allen andern starren Systemen ausgezeichnet sein sollen. Mach vermutet, daß in einer wirklich vernünftigen Theorie die Trägheit, genau wie bei Newton die übrigen Kräfte, auf Wechselwirkung der Massen beruhen müsse, eine Auffassung, die ich lange für im Prinzip die richtige hielt. Sie setzt aber implizite voraus, daß die basische Theorie eine solche vom allgemeinen Typus der Mechanik Newtons sein solle: Massen und Wirkungen zwischen diesen als ursprüngliche Begriffe. In eine konsequente 10

Autobiographisdles Feldtheorie paßt em solcher Lösungsversuch nicht hinein, Wie man unmittelbar einsieht. Wie stichhaltig die Machsehe Kritik aber an sich ist, kann man besonders deutlich aus folgender Analogie ersehen. Wir denken uns Leute, die eine Mechanik aufstellen, nur ein kleines Stück der Erdoberfläche kennen und auch keine Sterne wahrnehmen können. Sie werden geneigt sein, der vertikalen Dimension des Raumes besondere physikalische Eigenschaften zuzuschreiben (Richtung der Fallbeschleunigung) und auf Grund einer solchen begrifflichen Basis es begründen, daß der Erdboden überwiegend horizontal ist. Sie mögen sich nicht durch das Argument beeinflussen lassen, daß bezüglich der geometrischen Eigenschaften der Raum isotrop ist, und daß 'es daher unbefriedigend sei, physikalische Grundgesetze aufzustellen, gemäß welchen es eine Vorzugsrichtung geben soll; sie werden wohl geneigt sein (analog zu Newton) zu erklären, die Vertikale sei absolut, das zeige eben die Erfahrung und man müsse sich damit abfinden. Die Bevorzugung der Vertikalen gegen alle anderen Raumrichtungen ist genau analog der Bevorzugung der Inertialsysteme gegen andere starre Koordinationssysteme. Nun zu anderen Argumenten, die sich ebenfalls auf die innere Einfachheit bzw. Natürlichkeit der Mechanik beziehen, Wenn man die Begriffe Raum (inklusive Geometrie) und Zeit ohne kritischen Zweifel hinnimmt, so besteht an sich kein Grund, die Zugrundelegung von Fernkräften zu beanstanden, wenn ein solcher Begriff auch nicht zu denjenigen Ideen paßt, die man sich auf Grund der rohen Erfahrung des Alltags bildet. Dagegen gibt es eine andere Überlegung, welche die Mechanik als Basis der Physik aufgefaßt, als primitiv erscheinen läßt. Es gibt im wesentlichen zwei Gesetze: 1. das Bewegungsgesetz ; 2. den Ausdruck für die Kraft bzw. die potentielle Energie. Das Bewegungsgesetz ist präzis, aber leer, solange der Ausdruck für die Kräfte nicht gegeben ist. Für die Sctzung der letzteren besteht aber ein weiter Spielraum für \Villkür, besonders wenn man die an sich nicht natürliche Forderung fallen läßt, daß die Kräfte von den Koordinaten allein (und z. B. nicht von deren Differentialquotienten nach der Zeit) abhängen. Im Rahmen der Theorie ist es an sich ganz willkürlich, daß die von einem Punkte ausgehenden Gravitations- (und elektrischen) Kraftwirkungen durch die Potentialfunktion (I/v) beherrscht werden. Zusätzliche Bemerkung: es ist schon lange bekannt, daß diese Funktion die zentralsymmetrische Lösung der einfachsten (drehungs-invarianten) Differentialgleichung .d cp = 0 ist; es wäre also naheliegend gewesen, dies als ein Anzeichen dafür zu betrachten, daß man diese Funktion als durch ein Raumgesetz bestimmt anzusehen hätte, wodurch die Willkür in der Wahl des Kraftgesetzes beseitigt worden wäre. Dies ist eigentlich die erste Erkenntnis, welche eine

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Albert Einstein

Abkehr von der Theorie der Fernkräfte nahelegt, welche Entwicklung - durch Faraday, Maxwell und Hertz angehahnt - unter dem äußeren Druck von Erfahrungstatsachen erst später einsetzt. Ich möchte auch als eine innere Unsymmetrie der Theorie erwähnen, daß die im Bewegungsgesetz auftretende träge Masse auch im Kraftgesetz der Gravitation, nicht aber im Ausdruck der übrigen Kraftgesetze auftritt. Endlich möchte ich darauf hinweisen, daß die Spaltung der Energie in zwei wesensverschiedene Teile, kinetische und potentielle Energie, als unnatürlich empfunden werden muß; dies hat H. Hertz als so störend empfunden, daß er in seinem letzten Werk versuchte, die Mechanik von dem Begriff der potentiellen Energie (d. h. der Kraft) zu befreien. Genug davon. Newton verzeih' mir; du fandest den einzigen Weg, der zu deiner Zeit für einen Menschen von höchster Denk- und Gestaltungskraft eben noch möglich war. Die Begriffe, die du schufst, sind auch jetzt noch führend in unserem physikalischen Denken, obwohl wir nun wissen, daß sie durch andere, der Sphäre der unmittelbaren Erfahrung ferner stehende ersetzt werden müssen, wenn wir ein tieferes Begreifen der Zusammenhänge anstreben. "Soll dies ein Nekrolog sein?" mag der erstaunte Leser fragen. Im wesentlichen ja, möchte ich antworten. Denn das Wesentliche im Dasein eines Menschen von meiner Art liegt in dem, was er denkt und wie er denkt, nicht in dem, was er tut oder erleidet. Also kann der Nekrolog sich in der Hauptsache auf Mitteilung von Gedanken beschränken, die in meinem Streben eine erhebliche Rolle spielten. Eine Theorie ist desto eindrucksvoller, je größer die Einfachheit ihrer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie verknüpft und je weiter ihr Anwendungsbereich ist. Deshalb der tiefe Eindruck, den die klassische Thermodynamik auf mich machte. Es ist die einzige physikalische Theorie allgemeinen Inhaltes, von der ich überzeugt bin, daß sie im Rahmen der Anwendbarkeit ihrer Grundbegriffe niemals umgestoßen werden wird (zur besonderen Beachtung der grundsätzlichen Skeptiker). Der faszinierendste Gegenstand zur Zeit meines Studiums war die Maxwellsehe Theorie. Was sie als revolutionär erscheinen ließ, war der Übergang von den Fernwirkungskräften zu Feldern als Fundamentalgrößen. Die Einordnung der Optik in die Theorie des Elektromagnetismus mit ihrer Beziehung der Lichtgeschwindigkeit zum elektrischen und magnetischen absoluten Maßsystem sowie die Beziehung .des Brechungsexponenten zur Dielektrizitätskonstante, die qualitative zwischen Reflexionsfähigkeit und metallischer Leitfähigkeit des Körpers - es war wie eine Offenbarung. Abgesehen vom Übergang zur Feldtheorie, d. h. dem Ausdruck der elementa"en Gesetze durch Differentialgleichungen, hatte Maxwell nur einen einzigen hypothetischen Schritt nötig - die Einführung 12

Au tobiogra phisches

des elektrischen Verschiebungsstromes im Vakuum und in den Dielektrika und seiner magnetischen Wirkung, eine Neuerung, die durch die formalen Eigenschaften der Differentialgleichungen beinahe vorgeschrieben war. In diesem Zusammenhang kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß das Paar Faraday-Maxwell so merkwürdige innere Ähnlichkeit hat mit dem Paar Galileo-Newton - der erste jedes Paares die Zusammenhänge intuitiv erfassend, der zweite sie exakt formulierend und quantitativ anwendend. Was die Einsicht in das Wesen der elektromagnetischen Theorie zu jener Zeit erschwerte, war folgender eigentümlicher Umstand. Elektrische bzw. magnetische "Feldstärken" und "Verschiebungen" wurden als gleich elementare Größen behandelt, der leere Raum als Spezialfall eines dielektrischen Körpers. Die A1aterie erschien als Träger des Feldes, nicht der Raum. Dadurch war impliziert, daß der Träger des Feldes einen Geschwindigkeitszustand besitze, und dies sollte natürlich auch vom "Vakuum" gelten (Ä ther). Hertz' Elektrodynamik bewegter Körper ist ganz auf diese grundsätzliche Einstellung gegründet. Es war das große Verdienst von H. A. Lorentz, daß er hier in überzeugender Weise Wandel schuf. Im Prinzip gibt es nach ihm ein Feld nur im leeren Raume. Die atomistisch gedachte Materie ist einziger Sitz der elektrischen Ladungen j zwischen den materiellen Teilchen ist leerer Raum, der Sitz des elektromagnetischen Feldes, das erzeugt ist durch die Lage und Geschwindigkeit der auf den materiellen Teilchen sitzenden punktartigen Ladungen. Dielektrizität, Leitungsfähigkeit usw. sind ausschließlich durch die Art der mechanischen Bindung der Teilchen bedingt, aus welchen die Körper bestehen. Die Teilchenladungen erzeugen das Feld, das andererseits Kräfte auf die Ladungen der Tp.ilrhen ausübt, die Bewegungen der letzteren gemäß Newtons Bewegungsgesetz bestimmend. Vergleicht man dies mit Newtons System, so besteht die Änderung darin: Die Fernkräfte werden ersetzt durch das Feld, welches auch dle Strahlung rnitbeschreibt. Die Gravitation wird meist ihrer relativen Kleinheit wegen unberücksichtigt gelassen j ihre Berücksichtigung war aber stets möglich durch Bereicherung der Feldstruktur bzw. Erweiterung des Maxwellschen Feldgesetzes. Der Physiker der gegenwärtigen Generation betrachtet den von Lcrentz errungenen Standpunkt als den einzig möglichen j damals aber war es ein überraschender und kühner Schritt, ohne den die spätere Entwicklung nicht möglich gewesen wäre. Betrachtet man diese Phase der Entwicklung der Theorie kritisch, so fällt der Dualismus auf, der darin liegt, daß materieller Punkt im Newtonsehen Sinne und das Feld als Kontinuum als elementare Begriffe nebeneinander verwendet werden. Kinetische Energie und Feldenergic erscheinen als prinzipiell verschiedene Dinge. Dies erscheint um so unbefriedigender, als gemäß der Maxwellschen Theorie das Magnetfeld einer bewegten elek-

13

Albert Einstein

trisehen Ladung Trägheit repräsentierte. Warum also nicht die ganze Trägheit? Dann gäbe es nur noch Feldenergie, und das Teilchen wäre nur ein Gebiet besonders großer Dichte der Feldenergie. Dann durfte man hoffen, den Begriff des Massenpunktes samt den Bewegungsgleichungen des Teilchens aus den Feldgleichungen abzuleiten -der störende Dualismus wäre beseitigt. H. A. Lorentz wußte dies sehr wohl. Die Maxwellsehen Gleichungen aber erlaubten nicht, das Gleichgewicht der ein Teilchen konstituierenden Elektrizität abzuleiten. Nur andere, nicht lineare Gleichungen des Feldes konnten solches vielleicht leisten. Es gab aber keine Methode, derartige Feldgleichungen herauszufinden, ohne in abenteuerliche Willkür auszuarten. Jedenfalls durfte man glauben, auf dem von Faraday und Maxwell so erfolgreich begonnenen Wege nach und nach eine neue, sichere Grundlage für die gesamte Physik zu finden. Die durch die Einführung des Feldes begonnene Revolution war demnach keineswegs beendet. Da ereignete es sich, daß um die Jahrhundert\'{ende unabhängig hiervon eine zweite fundamentale Krise einsetzte, deren Ernst durch Max Plancks Untersuchungen über die Wärmestrahlung (1900) plötzlich ins Bewußtsein trat. Die Geschichte dieses Geschehens ist um so merkwürdiger, weil sie wenigstens in ihrer ersten Phase nicht von irgendwelehen überraschenden Entdeckungen experimenteller Art beeinfIußt wurde. Kirchhoff hatte auf thermodynamischer Grundlage geschlossen, daß die Energiedichte und spektrale Zusammensetzung der Strahlung in einem von undurchlässigen Wänden von der Temperatur T umschlossenen Hohlraum unabhängig sei von der Natur der Wände. Das heißt, die nonchromatische Strahlungsdichte (! ist eine universelle Funktion der Frequenz v und der absoluten Temperatur T. Damit entstand das interessante Problem der Bestimmung dieser Funktion e(v, T). Was konnte auf theoretischem Wege über diese Funktion ermittelt werden? Nach Maxwells Theorie mußte die Strahlung auf die Wände einen durch die totale Energiedichte bestimmten Druck ausüben. Hieraus folgerte Boltzmann auf rein thermodynamischem Wege, daß die gesamte Energiedichte der Strahlung (J dv) proportional T4 sei. Er fand so eine theoretische Begründung einer bereits vorher von Stefan empirisch gefundenen Gesetzmäßigkeit, bzw. er yerknüpfte sie mit dem Fundament der Maxwellsehen Theorie. Hierauf fand W. Wien durch eine geistvolle thermodynamische Überlegung, die ehenfalls von der Maxwellschen Theorie Gebrauch machte, daß die universelle Funktion der beiden Variabeln v und T von der Form sein müsse

e

e

wobei t(vjT) eine universelle Funktion der einzigen Variablen vjT bedeutet. Es war klar, daß die theoretische Bestimmung dieser universellen Funk14

Autobiographisches

t

tion von fundamentaler Bedeutung war - dies war eben die Aufgabe, vor welcher Planck stand. Sorgfältige Messungen hatten zu einer recht genauen empirischen Bestimmung der Funktion geführt. Es gelang ihm zunächst, gestützt auf diese empirischen Messungen, eine Darstellung zu finden, welche die Messungen recht gut wiedergab:

t

(!

=

Sn hv 3 -c3 -

1

e x p~(hC;-v-cj k~T=)--;-1 '

wobei hund k zwei universelle Konstante sind, deren erste zur Quantentheorie führte. Diese Formel sieht wegen des Nenners etwas sonderbar aus. War sie auf theoretischem Wege begründbar? Planck fand tatsächlich eine Begründung, deren Unvollkommenheiten zunächst verborgen blieben, welch letzterer Umstand ein wahres Glück war für die Entwicklung der Physik. War diese Formel richtig, so erlaubte sie mit Hilfe der Maxwellsehen Theorie die Berechnung der mittleren Energie E eines in dem Strahlungsfelde befindlichen quasi-monochromatischen Oszillators:

E

=

hv ex p (hvjkT)-1

Planck zog es vor, zu versuchen, diese letztere Größe theoretisch zu berechnen. Bei diesem Bestreben half zunächst die Thermodynamik nicht mehr und ebensowenig die Maxwellsche Theorie. Was nun an dieser Formel ungemein ermutigend war, war folgender Umstand. Sie lieferte für hohe Werte der Temperatur (bei festem v) den Ausdruck

E=kT. Es ist dies derselbe Ausdruck, den die kinetische Gastheorie für die mittlere Energie eines in einer Dimension elastisch schwingungsfähigen Massenpunktes liefert. Diese liefert nämlich

E= (RJN)T, wobei R die Konstante der Gasgleichung und N die Anzahl der Moleküle im Grammolekül bedeutet, welche Konstante die absolute Größe des Atoms ausdrückt. Die Gleichsetzung beider Ausdrücke liefert

N

= RJk.

Die eine Konstante der Planckschen Formel liefert also exakt die wahre Größe des Atoms. Der Zahlenwert stimmte befriedigend überein mit den allerdings wenig genauen Bestimmungen von N mit Hilfe der kinetischen Gastheorie. Dies war ein großer Erfolg, den Planck klar erkannte. Die Sache hat aber eine bedenkliche Kehrseite, die Planck zunächst glücklicherweise übersah. Die Überlegung verlangt nämlich, daß die Beziehung E = kT

15

Albert Einstein

auch für kleine Temperaturen gelten müsse. Dann aber wäre es aus mit der Planckschen Formel und mit der Konstante h. Die richtige Konsequenz aus der bestehenden Theorie wäre also gewesen: Die mittlere kinetische Energie des Oszillators wird entweder durch die Gastheorie falsch geliefert, was eine Widerlegung der Mechanik bedeuten würde; oder die mittlere Energie des Oszillators ergibt sich unrichtig aus der Maxwellsehen Theorie, was eine Widerlegung der letzteren bedeuten würde. Am wahrscheinlichsten ist es unter diesen Verhältnissen, daß beide Theorien nur in der Grenze richtig, im übrigen aber falsch sind; so verhält es sich aueh in der Tat, wie wir im folgenden sehen werden. Hätte Planck so geschlossen, so hätte er vielleicht seine große Entdeckung nicht gemacht, weil seiner Überlegung das Fundament entzogen worden wäre. Nun zurück zu Plancks Überlegung. Boltzmann hatte auf Grund der kinetischen Gastheorie gefunden, daß die Entropie abgesehen von einem konstanten Faktor gleich dem Logarithmus der "Wahrscheinlichkeit" des ins Auge gefaßten Zustandes sei. Er hat damit das Wesen der im Sinne der Thermodynamik "nicht umkehrbaren" Vorgänge erkannt. Vom molekular-mechanischen Gesichts pun kte aus gesehen sind dagegen alle Vorgänge umkehrbar. Nennt man einen molekulartheoretisch definierten Zustand einen mikroskopisch beschriebenen oder kurz Mikrozustand, einen im Sinne der Thermodynamik beschriebenen Zustand einen Makrozustand, so gehören zu einem makroskopischen Zustand ungeheuer viele (Z) Zustände. Z ist dann das Maß für die Wahrscheinlichkeit eines ins Auge gefaßten Makrozustandes. Diese Idee erscheint auch darin von überragender Bedeutung, daß ihre Ahwendbarkeit nicht auf die mikroskopische Beschreibung auf der Grundlage der Mechanik beschränkt ist. Dies erkannte Planck und wendete das Boltzmannsche Prinzip auf ein System an, das aus sehr vielen Resonatoren von derselben Frequenz 'JI besteht. Der makroskopische Zustand ist gegeben durch die Gesamtenergie der Schwingung aller Resonatoren, ein Mikrozustand durch Angabe der (momentanen) Energie jedes einzelnen Resonators. Um nun die Zahl der zu einem Makrozustand gehörigen Mikrozustände durch eine endliche Zahl ausdrücken zu können, teilte er die Gesamtenergie in eine große, aber endliche Zahl von gleichen Energieelementen e und fragte: auf wie viele Arten können diese Energieelemente unter die Resonatoren verteilt werden? Der Logarithmus dieser Zahl liefert dann die Entropie und damit (auf thermodynamischem Wege) die Temperatur des Systems. Planck erhielt nun seine Strahlungsformel, wenn er seine Energieelemente e von der Größe e = h'JI wählte. Das Entscheidende dabei ist, daß das Ergebnis daran gebunden ist, daß man für e einen bestimmten endlichen Wert nimmt, also nicht zum Limes e = 0 übergeht. Diese Form der Überlegung läßt nicht ohne weiteres erkennen, daß dieselbe mit der mechanischen und elektrodynamischen Basis im Widerspruch 16

Autobiographisches steht, auf welcher die Ableitung im übrigen beruht. In Wirklichkeit setzt die Ableitung aber implizite voraus, daß die Energie nur in "Quanten" von der Größe hv von dem einzelnen Resonator absorbiert und emittiert werden kann, daß also sowohl die Energie eines schwingungsfähigen mechanischen Gebildes als auch die Energie der Strahlung nur in solche Quanten umgesetzt werden kann - im Gegensatz mit den Gesetzen der Mechanik und Elektrodynamik. Hierbei war der Widerspruch mit der Dynamik fundamental, während der Widerspruch mit der Elektrodynamik weniger fundamental sein konnte. Der Ausdruck für die Dichte der Strahlungsenergie ist nämlich zwar vereinbar mit den Maxwellschen Gleichungen, aber keine notwendige Folge dieser Gleichungen. Daß dieser Ausdruck wichtige Mittelwerte liefert, zeigt sich ja dadurch, daß die auf ihm beruhenden Gesetze von Stefan-Boltzmann und Wien mit der Erfahrung im Einklang sind. All dies war mir schon kurze Zeit nach dem Erscheinen von Plancks grundlegender Arbeit klar, so daß ich, ohne einen Ersatz für die klassische Mechanik zu haben, doch sehen konnte, zu was für Konsequenzen dies Gesetz der Temperaturstrahlung für den lichtelektrischen Effekt und andere verwandte Phänomene der Verwandlung von Strahlungsenergie sowie für die spezifische Wärme (insbesondere) fester Körper führt. All meine Versuche, das theoretische Fundament der Physik diesen Erkenntnissen anzupassen, scheiterten aber völlig. Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können. Daß diese schwankende und widerspruchsvolle Grundlage hinreichte, um einen Mann mit dem einzigartigen Instinkt und Feingefühl Bohrs in den Stand zu setzen, die hauptsächlichsten Gesetze der Spektrallinien und der Elektronenhüllen der Atome nebst deren Bedeutung für die Chemie aufzufinden, erschien mir wie ein Wunder - und erscheint mir auch heute noch als ein Wunder. Dies ist höchste Musikalität auf dem Gebiete des Gedankens. Mein eigenes Interesse in jenen Jahren war weniger auf die Einzelfolgerungen aus dem Planckschen Ergebnis gerichtet, so wichtig diese auch sein mochten. Meine Hauptfrage war: Was für allgemeine Folgerungen können aus der Strahlungsformel betreffend die Struktur der Strahlung und überhaupt betreffend das elektromagnetische Fundament der Physik gezogen werden? Bevor ich hierauf eingehe, muß ich einige Untersuchungen kurz erwähnen, die sich auf die Brownsche Bewegung und verwandte Gegenstände (Schwenkungsphänomene) beziehen und sich in der Hauptsache auf die klassische Molekularmechanik gründen. Nicht vertraut mit den früher erschienenen und den Gegenstand tatsächlich erschöpfenden Untersuchungen von Boltzmann und Gibbs, entwickelte ich die statistische Mechanik und die auf sie gegründete molekular-kinetische Theorie 17

Albert Einstein

der Thermodynamik. Mein Hauptziel dabei war es, Tatsachen zu finden, welche die Existenz von Atomen von bestimmter endlicher Größe möglichst sicherstellten. Dabei entdeckte ich, daß es nach der atomistischen Theorie eine der Beobachtung zugängliche Bewegung suspendierter mikroskopischer Teilchen geben müsse, ohne zu wissen, daß Beobachtungen über die "Brownsche Bewegung" schon lange bekannt waren. Die einfachste Ableitung beruhte auf folgender Erwägung. Wenn die molekular-kinetische Theorie im Prinzip richtig ist, muß eine Suspension von sichtbaren Teilchen ebenso einen die Gasgesetze erfüllenden osmotischen Druck besitzen wie eine Lösung von Molekülen. Dieser osmotische Druck hängt ab von der wahren Größe der Moleküle, d. h. von der Zahl der Moleküle in einem Grammäquivalent. Ist die Suspension von ungleichmäßiger Dichte, so gibt die damit vorhandene räumliche Variabilität dieses osmotischen Druckes Anlaß zu einer ausgleichenden Diffusionsbewegung, welche aus der bekannten Beweglichkeit der Teilchen berechenbar ist. Dieser Diffusionsvorgang kann aber andererseits auch aufgefaßt werden als das Ergebnis der zunächst ihrem Betrage nach unbekannten regellosen Verlagerung der suspendierten Teilchen unter der Wirkung der thermischen Agitation. Durch Gleichsetzung der durch beide Überlegungen erlangten Beträge für den Diffusionsfluß erhält man quantitativ das statistische Gesetz für jene Verlagerungen, d. h. das Gesetz der Brownschen Bewegung. Die Übereinstimmung dieser Betrachtung mit der Erfahrung zusammen mit der Planckschen Bestimmung der wahren Molekülgröße aus dem Strahlungsgesetz (für hohe Temperaturen) überzeugte die damals zahlreichen Skeptiker (Ostwald, Mach) von der Realität der Atome. Die Abneigung dieser Forscher gegen die Atomtheorie ist ohne Zweifel auf ihre positivistische philosophische Einstellung zurückzuführen. Es ist dies ein interessantes Beispiel dafür, daß selbst Forscher von kühnem Geist und von feinem Instinkt durch philosophische Vorurteile für die Interpretation von Tatsachen gehemmt werden können. Das Vorurteil - welches seither keineswegs ausgestorben ist - liegt in dem Glauben, daß die Tatsachen allein ohne freie begriffliche Konstruktion wissenschaftliche Erkenntnis liefern könnten und sollten. Solche Täuschung ist nur dadurch möglich, daß man sich der freien Wahl von solchen Begriffen nicht leicht bewußt werden kann, die durch Bewährung und langen Gebrauch unmittelbar mit dem empirischen Material verknüpft zu sein scheinen. Der Erfolg der Theorie der Brownschen Bewegung zeigte wieder deutlich, daß die klassische Mechanik stets dann zuverlässige Resultate lieferte, wenn sie auf Bewegungen angewandt wurde, bei welchen die höheren zeitlichen Ableitungen der Geschwindigkeit vernachlässigbar klein sind. Auf diese Erkenntnis läßt sich eine verhältnismäßig direkte Methode gründen, um aus der Planckschen Formel etwas zu erfahren über die Konstitution 18

Autobiographisches

der Strahlung. Man darf nämlich schließen, daß in einem Strahlungsraume ein (senkrecht zu seiner Ebene) frei bewegter, quasi monochromatisch reflektierender Spiegel eine Art Brownsche Bewegung ausführen muß, deren mittlere kinetische Energie gleich

1

~f

(RjN) T ist (R

=

Konstante der Gas-

gleichung für ein Gramm-Molekül, N gleich Zahl der Moleküle in einem Gramm-Molekül, T = absolute Temperatur). Wäre die Strahlung keinen lokalen Schwankungen unterworfen, so würde der Spiegel allmählich zur Ruhe kommen, weil er auf seiner Vorderseite infolge seiner Bewegung mehr Strahlung reflektiert als auf seiner Rückseite. Er muß aber gewisse aus der Maxwellsehen Theorie berechenbare unregelmäßige Schwankungen des auf ihn wirkenden Druckes dadurch erfahren, daß die die Strahlung konstituierenden Wellenbündel miteinander interferieren. Diese Rechnung zeigt nun, daß diese Druckschwankungen (insbesondere bei geringen Strahlungsdichten) keineswegs hinreichen, um dem Spiegel die mittlere kinetische Energie

~

(RjN)T zu erteilen. Um dies Resultat zu erhalten, muß man vielmehr

annehmen, daß es eine zweite aus der Maxwellsehen Theorie nicht folgende Art Druckschwankungen gibt, welche der Annahme entspricht, daß die Strahlungsenergie aus unteilbaren, punktartig lokalisierten Quanten von der Energie hv (und dem Impuls hvje [c = Lichtgeschwindigkeit]) besteht, die ungeteilt reflektiert werden. Diese Betrachtung zeigte in einer drastischen und direkten Weise, daß den Planckschen Quanten eine Art unmittelbare Realität zugeschrieben werden muß, daß also die Strahlung in energetischer Beziehung eine Art Molekularstruktur besitzen muß, was natürlich mit der Maxwellsehen Theorie im Widerspruch ist. Auch Überlegungen über die Strahlung, die unmittelbar auf Boltzmanns Entropie-Wahrscheinlichkeits-Relation gegründet sind (Wahrscheinlichkeit = statistische zeitliche Häufigkeit gesetzt), führten zu demselben Resultat. Diese Doppelnatur von Strahlung (und materiellen Korpuskeln) ist eine Haupteigenschaft der Realität, welche die Quantenmechanik in einer geistreichen und verblüffend erfolgreichen Weise gedeutet hat. Diese Deutung, welche von fast allen zeitgenössischen Physikern als im wesentlichen endgültig angesehen wird, erscheint mir als ein nur temporärer Ausweg; einige Bemerkungen darüber folgen später. Überlegungen solcher Art machten es mir schon kurz nach 1900, d. h. kurz nach Plancks bahnbrechender Arbeit klar, daß weder die Mechanik noch die Elektrodynamik (außer in Grenzfällen) exakte Gültigkeit beanspruchen können. Nach und nach verzweifelte ich an der Möglichkeit, die wahren Gesetze durch auf bekannte Tatsachen sich stützende konstruktive Bemühungen herauszufinden. Je länger und verzwpifelter ich mich bemühte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, daß nur die 19

Alb ert Eins tein

Auffindung eines allgemeinen formalen Prinzips uns zu gesicherten Ergebnissen führen könnte. Als Vorbild sah ich die Thermodynamik vor mir. Das allgemeine Prinzip war dort in dem Satze gegeben: die Naturgesetze sind so beschaffen, daß es unmöglich ist, ein perpetuum mobile (erster und zweiter Art) zu konstruieren. Wie aber ein solches allgemeines Prinzip finden? Ein solches Prinzip ergab sich nach zehn Jahren Nachdenkens aus einem Paradoxon, auf das ich schon mit 16 Jahren gestoßen bin: Wenn ich einem Lichtstrahl nacheile mit der Geschwindigkeit c (Lichtgeschwindigkeit im Vakuum), so sollte ich einen solchen Lichtstrahl als ruhendes, räumlich oszillatorisches, elektromagnetisches Feld wahrnehmen. So etwas scheint es aber nicht zu geben, weder auf Grund der Erfahrung noch gemäß den Maxwellschen Gleichungen. Intuitiv klar schien es mir von vornherein, daß VOll einem solchen Beobachter aus beurteilt, alles sich nach denselben Gesetzen abspielen müsse wie für einen relativ zur Erde ruhenden Beobachter. Denn wie sollte der erste Beobachter wissen, bzw. konstatieren können, daß er sich im Zustand rascher, gleichförmiger Bewegung befindet? Man sieht, daß in diesem Paradoxon der Keim zur speziellen Relativitätstheorie schon enthalten ist. Heute weiß natürlich jeder, daß alle Versuche, dies Paradoxon befriedigend aufzuklären, zum Scheitern verurteilt waren, solange das Axiom des absoluten Charakters der Zeit bzw. der Gleichzeitigkeit unerkannt im Unbewußten verankert war. Dies Axiom und seine Willkür klar erkennen bedeutet eigentlich schon die Lösung des Problems. Das kritische Denken, dessen es zur Auffindung dieses zentralen Punktes bedurfte, wurde bei mir entscheidend gefördert insbesondere durch die Lektüre von David Humes und Ernst Machs philosophischen Schriften. Man hatte sich darüber klar zu werden, was die räumlichen KoordinateLl und der Zeitwert eines Ereignisses in der Physik bedeuteten. Die physikalische Deutung der räumlichen Koordinaten setzte einen starren Bezugskörper voraus, der noch dazu von mehr oder minder bestimmtem Bewegungszustande (Inertialsystem) sein mußte. Bei gegebenem Inertialsystem hdeuteten die Koordinaten Ergebnisse von bestimmten Messungen mit starren (ruhenden) Stäben. (Daß die Voraussetzung der prinzipiellen Existenz starrer Stäbe eine durch approximative Erfahrung nahegelegte, aber im Prinzip willkürliche Voraussetzung ist, dessen soll man sich stets bewußt sein.) Bei solcher Interpretation der räumlichen Koordinaten wird die Frage der Gültigkeit der euklidischen Geometrie zum physikalischen Problem. Sucht man nun die Zeit eines Ereignisses analog zu deuten, so braucht man ein Mittel zur Messung der Zeitdifferenz (in sich determinierter periodischer Prozeß, realisiert durch ein System von hinreichend geringer räumlicher Abmessung). Eine relativ zum Inertialsystem ruhend angeordnete Uhr definiert eine Ortszeit. Die Ortszeiten aller räumlichen Punkte zu20

Autobiographisches sammengenommen sind die "Zeit", die zu dem gewählten Inertialsystem gehört, wenn man noch ein Mittel gegeben hat, diese Uhren gegeneinander zu "richten". Man sieht, daß es apriori gar nicht nötig ist, daß die in solcher Weise definierten "Zeiten" verschiedener Inertialsysteme miteinander übereinstimmen. Man würde dies längst gemerkt haben, wenn nicht für die praktische Erfahrung des Alltags (wegen des hohen Wertes von c) das Licht als Mittel für die Konstatierung absoluter Gleichzeitigkeit erschiene. Die Voraussetzung von der (prinzipiellen) Existenz (idealer bzw. vollkommener) Maßstäbe und Uhren ist nicht unabhängig voneinander, denn ein Lichtsignal, welches zwischen den Enden eines starren Stabes hin und her reflektiert wird, stellt eine ideale Uhr dar, vorausgesetzt, daß die Voraussetzung von der Konstanz der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit nicht zu Widersprüchen führt. Das obige Paradoxon läßt sich nun so formulieren. Nach den in der klassischen Physik verwendeten Verknüpfungsregeln von räumlichen Koordinaten und Zeit von Ereignissen beim Übergang von einem Inertialsystem zu einem andern sind die beiden Annahmen

1. Konstanz der Lichtgeschwindigkeit; 2. Unabhängigkeit der Gesetze (also speziell auch des Gesetzes von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) von der Wahl des Inertialsystems (spezielles Relativitätsprinzip) miteinander unvereinbar (trotzdem beide einzeln durch die Erfahrung gestützt sind). Die der speziellen Relativitätstheorie zugrunde liegende Erkenntnis ist: Die Annahmen 1. und 2. sind miteinander vereinbar, wenn für die Umrechnung von Koordinaten und Zeiten der Ereignisse neuartige Beziehungen ("Lorentz-Transformation") zugrunde gelegt werden. Bei der gegebenen physikalischen Interpretation von Kqordinaten und Zeit bedeutet dies l1icht etwa nur einen konventionellen Schritt, sondern involviert bestimmte Hypothesen über das tatsächliche Verhalten bewegter Maßstäbe und Uhren, die durch Experiment bestätigt bzw. widerlegt werden können. Das allgemeine Prinzip der speziellen Relativitätstheorie ist in dem Postulat enthalten: die Gesetze der Physik sind invariant mit Bezug auf Lorentz-Transformationen (für den Übergang von einem Inertialsystem zu einem beliebigen andern Inertialsystem). Dies ist ein einschränkendes Prinzip für die Naturgesetze, vergleichbar mit dem der Thermodynamik zugrunde liegenden einschränkenden Prinzip von der Nichtexistenz des perpetuum mobile. Zunächst eine Bemerkung über die Beziehung der Theorie zum "vierdimensionalen Raum". Es ist ein verbreiteter Irrtum, daß die spezielle Relativitätstheorie gewissermaßen die Vierdimensionalität des physikali-

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Albert Einstein

sehen Kontinuums entdeckt bzw. neu eingeführt hätte. Dies ist natürlich nicht der Fall. Auch der klassischen Mechanik liegt das vierdimensionale Kontinuum von Raum und Zeit zugrunde. Nur haben im vierdimensionalen Kontinuum der klassischen Physik die "Schnitte" konstanten Zeitwertes eine absolute, d. h. von der Wahl des Bezugssystems unabhängige, Realität. Das vierdimensionale Kontinuum zerfällt dadurch natürlich in ein dreidimensionales und ein eindimensionales (Zeit), so daß die vierdimensionale Betrachtungsweise sich nicht als notwendig aufdrängt. Die spezielle Relativitätstheorie dagegen schafft eine formale Abhängigkeit zwischen der Art und 'Weise, wie die räumlichen Koordinaten einerseits und die Zeitkoordinate andererseits in die Naturgesetze eingehen müssen. Minkowskis wichtiger Beitrag zu der Theorie liegt in folgendem: Vor Minkowskis Untersuchung hatte man an einem Gesetze eine LorentzTransformation auszuführen, um seine Invarianz bezüglich solcher Transformationen zu prüfen; ihm dagegen gelang es, einen solchen Formalismus einzuführen, daß die mathematische Form des Gesetzes selbst dessen Invarianz bezüglich Lorentz-Transformationen verbürgt. Er leistete durch Schaffung eines vierdimensionalen Tensorkalküls für den vierdimensionalen Raum dasselbe, was der gewöhnliche Vektorkalkül für die drei räumlichen Dimensionen leistet. Er zeigte auch, daß die Lorentz-Transformation (abgesehen von einem durch den besonderen Charakter der Zeit bedingten abweichenden Vorzeichen) nichts anderes ist als eine Drehung des Koordinatensystems im vierdimensionalen Raume. Zunächst eine kritische Bemerkung zur Theorie, wie sie oben charakterisiert ist. Es fällt auf, daß die Theorie (außer dem vierdimensionalen Raum) zweierlei physikalische Dinge einführt, nämlich 1. Maßstäbe und Uhren, 2. alle sonstigen Dinge, z. B. das elektromagnetische Feld, den materiellen Punkt usw. Dies ist in gewissem Sinne inkonsequent; Maßstäbe und Uhren müßten eigentlich als Lösungen der Grundgleichungen (Gegenstände, bestehend aus bewegten atomistischen Gebilden) dargestellt werden, nicht als gewissermaßen theoretisch selbständige VVesen. Das Vorgehen rechtfertigt sich aber dadurch, daß von Anfang an klar war, daß die Postulate der Theorie nicht stark genug sind, um aus ihr genügend vollständige Gleichungen für das physikalische Geschehen genügend frei von Willkür zu deduzieren, um auf eine solche Grundlage eine Theorie der Maßstäbe und Uhren zu gründen. Wollte man nicht auf eine physikalische Deutung der Koordinaten überhaupt verzichten (was an sich möglich wäre), so war es besser, solche Inkonsequenz zuzulassen - allerdings mit der Verpflichtung, sie in einem späteren Stadium der Theorie zu eliminieren. Man darf aber die erwähnte Sünde nicht so weit legitimieren, daß man sich etwa vorstellt, daß Abstände physikalische Wesen besonderer Art seien, wesensverschieden von sonstigen physikalischen Größen ("Physik auf Geometrie zurück22

Autobiographisches führen", usw.). "'ir fragen nun nach den Erkenntnissen von definitivem Charakter, den die Physik der speziellen Relativitätstheorie verdankt. 1. Es gibt keine Gleichzeitigkeit distanter Ereignisse; es gibt also auch keine unvermittelte Fernwirkung im Sinne der Newtonschen Mechanik. Die Einführung von Fernwirkungen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, bleibt zwar nach dieser Theorie denkbar, erscheint aber unnatürlich; in einer derartigen Theorie könnte es nämlich keinen vernünftigen Ausdruck für das Energieprinzip geben. Es erscheint deshalb unvermeidlich, daß die physikalische Realität durch kontinuierliche Raumfunktionen zu beschreiben ist. Der materielle Punkt dürfte deshalb als Grundbegriff der Theorie nicht mehr in Betracht kommen. 2. Die Sätze der Erhaltung des Impulses und der Erhaltung der Energie werden zu einem einzigen Satz verschmolzen. Die träge Masse eines abgeschlossenen Systems ist mit seiner Energie identisch, so daß die Masse als selbstständiger Begriff eliminiert ist. Bemerkung: Die Lichtgeschwindigkeit c ist eine der Größen, welche in physikalischen Gleichungen als "universelle Konstante" auftritt. Wenn man aber als Zeiteinheit statt der Sekunde die Zeit einführt, in welcher das Licht 1 cm zurücklegt, so tritt c in den Gleichungen nicht mehr auf. Man kann in diesem Sinne sagen, daß die Konstante c nur eine scheinbare universelle Konstante ist. Es ist offenkundig und allgemein angenommen, daß man auch noch zwei andere universelle Konstante dadurch aus der Physik eliminieren könnte, daß man an Stelle des Gramms und Zentimeters passend gewählte "natürliche" Einheiten einführt (z. B. Masse und Radius des Elektrons). Denkt man sich dies ausgeführt, so würden in den Grundgleichungen der Physik nur mehr "dimensionslose" Konstante auftreten können. Bezüglich dieser möchte ich einen Satz aussprechen, der vorläufig auf nichts anderes gegründet werden kann als auf ein Vertrauen in die Einfachheit, bzw. Verständlichkeit, der Natur: derartige willkürliche Konstante gibt es nicht; cl.. h. die Natur ist so beschaffen, daß man für sie logisch derart stark determinierte Gesetze aufstellen kann, daß in diesen Gesetzen nur rational völlig bestimmte Konstante auftreten (also nicht Konstante, deren Zahl werte verändert werden könnten, ohne die Theorie zu zerstören). Die spezielle Relativitätstheorie verdankt ihre Entstehung den Maxwellschen Gleichungen des elektromagnetischen Feldes. Umgekehrt werden die letzteren erst durch die spezielle Relativitätstheorie in befriedigender Weise formal begriffen. Es sind die einfachsten Lorentz-invarianten Feldgleichungen, die für einen aus einem Vektorfeld abgeleiteten schief symmetrischen Tensor aufgestellt werden können. Dies wäre an sich befriedigend, wenn wir nicht aus den Quantenerscheinungen wüßten, daß die Maxwellsehe Theorie den energetischen Eigenschaften der Strahlung nicht gerecht wird. Wie

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aber die Maxwellsche Theorie in natürlicher 'Weise modifiziert werden könnte, dafür liefert auch die spezielle Relativitätstheorie keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Auch auf die Machsche Frage "Wie kommt es, daß die Inertialsysteme gegenüber anderen Koordinationssystemen physikalisch ausgezeichnet sind?" liefert diese Theorie keine An twort. Daß die spezielle Relativitätstheorie nur der erste Schritt einer notwendigen Entwicklung sei, wurde mir erst bei der Bemühung völlig klar, die Gravitation im Rahmen dieser Theorie darzustellen. In der feldartig interpretierten klassischen Mechanik erscheint das Potential der Gravitation als cin skalares Feld (die einfachste theoretische Möglichkeit eines Feldes mit einer einzigen Komponente). Eine solche Skalartheorie des Gravitationsfeldes kann zunächst leicht invariant gemacht werden in bezug auf die Gruppe der Lorentz-Transformationen. Folgendes Programm erscheint also natürlich: Das physikalische Gesamtfeld besteht aus einem Skalarfeld (Gravitation) und einem Vektorfeld (elektromagnetisches Feld) j spätere Erkenntnisse mögen eventuell die Einführung noch komplizierterer Feldarten nötig machen, aber darum brauchte man sich zunächst nicht zu kümmern. Die Möglichkeit der Realisierung dieses Programms war aber von vornherein zweifelhaft, weil die Theorie folgende Dinge vereinigen mußte. 1. Aus allgemeinen Überlegungen der spezieUen Relativitätstheorie war klar, daß die träge Masse eines physikalischen Systems mit der Gesamtenergie (also z. B. mit der kinetischen Energie) wachse. 2. Aus sehr präzisen Versuchen (insbesondere aus den Eötvösschen Drehwaageversuchen) war mit sehr großer Präzision empirisch bekannt, daß die schwere Masse eines Körpers seiner trägen Masse genau gleich sei. Aus 1. und 2. folgte, daß die Schwere eines Systems in genau bekannter Weise von seiner Gesamtenergie abhänge. Wenn die Theorie dies nicht oder nicht in natürlicher Weise leistete, so war sie zu verwerfen. Die Bedingung läßt sich am natürlichsten so aussprechen: die FaUbeschleunigung eines Systems in einem gegebenen Schwerfelde ist von der Natur des faUenden Systems (spezieU also auch von seinem Energieinhalte) unabhängig. Es zeigte sich nun, daß im Rahmen des skizzierten Programmes diesem elementaren Sachverhalte überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in natürlicher Weise Genüge geleistet werden konnte. Dies gab mir die Überzeugung, daß im Rahmen der spezieUen Relativitätstheorie kein Platz sei für eine befriedigende Theorie der Gravitation. Nun fiel mir ein: Die Tatsache der Gleichheit der trägen und schweren Masse, bzw. die Tatsache der Unabhängigkeit der Fallbeschleunigung von der Natur der faUenden Substanz, läßt sich so ausdrücken: In einem Gravitationsfelde (geringer räumlicher Ausdehnung) verhalten sich die Dinge so wie in einem gravitationsfreien Raume, wenn man in diesem statt eines

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Autobiographisches "Inertialsystems" ein gegen ein solches beschleunigtes Bezugssystem einführt. Wenn man also das Verhalten der Körper in bezug auf das letztere Bezugssystem als durch ein "wirkliches" (nicht nur scheinbares) Gravitationsfeld bedingt auffaßt, so kann man dieses Bezugssystem mit dem gleichen Rechte als ein "Inertialsystem" betrachten wie das ursprüngliche Bezugssystem. Wenn man also beliebig ausgedehnte, nicht von vornherein durch räumliche Grenzbedingungen eingeschränkte Gravitationsfelder als möglich betrachtet, so wird der Begriff des Inertialsystems völlig leer. Der Begriff "Beschleunigung gegenüber dem Raume" verliert dann jede Bedeutung und damit auch das Trägheitsprinzip samt dem Machschen Paradoxon. So führt die Tatsache der Gleichheit der trägen und schweren Masse ganz natürlich zu der Auffassung, daß die Grundforderung der speziellen Relativitätstheorie (Invarianz der Gesetze bezüglich Lorentz-Transformationen) zu eng sei, d. h. daß man eine Invarianz der Gesetze auch bezüglich nicht linearer Transformationen der Koordinaten im vierdimensionalen Kontinuum zu postulieren habe. Dies trug sich 1908 zu. Warum brauchte es weiterer 7 Jahre für die Aufstellung der allgemeinen Relativitätstheorie? Der hauptsächliche Grund liegt darin, daß man sich nicht so leicht von der Auffassung befreit, daß den Koordinaten eine unmittelbare metrische Bedeutung zukommen müsse. Die Wandlung vollzog sich ungefähr in folgender Weise. Wir gehen aus von einem leeren, feldfreien Raume, wie er - auf ein Inertialsystem bezogen - im Sinne der speziellen Relativitätstheorie als der einfachste aller denkbaren physikalischen Tatbestände auftritt. Denken wir uns nun ein Nichtinertialsystem dadurch eingeführt, daß das neue System gegen das Inertialsystem (in dreidimensionaler Beschreibungsart) in einer Richtung (geeignet definiert) gleichförmig beschleunigt ist, so besteht in bezug auf dieses System ein statisches paralleles Schwerefeld. Das Bezugssystem kann dabei als starr gewählt werden, in den dreidimensionalen metrischen Beziehungen von euklidischem Charakter. Aber jene Zeit, in welcher das Feld statisch erscheint, wird nicht durch gleich beschaffe ne ruhende Uhren gemessen. Aus diesem speziellen Beispiel erkennt man schon, daß die unmittelbare metrische Bedeutung der Koordinaten verloren geht, wenn man überhaupt nichtlineare Transformationen der Koordinaten zuläßt. Letzteres muß man aber, wenn man der Gleichheit von schwerer und träger Masse durch das Fundament der Theorie gerecht werden will, und wenn man das Maehsche Paradoxon bezüglich der Inertialsysteme überwinden will. Wenn man nun aber darauf verzichten muß, den Koordinaten eine unmittelbare metrische Bedeutung zu geben (Koordinatendifferenzen = meß25

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bare Längen bzw. Zeiten), so wird man nicht umhin können, alle durch kontinuierliche Tra nsformationen der Koordinaten erzeugbaren Koordinatensysteme als gleichwertig zu behandeln. Die allgemeine Relativitätstheorie geht demgemäß von dem Grundsatz aus: die Naturgesetze sind durch Gleichungen auszudrücken, die kovariant sind bezüglich der Gruppe der kontinuierlichen Koordinatentransformationen. Diese Gruppe tritt also hier an die Stelle der Gruppe der Lorentz-Transformationen der speziellen Relativitätstheorie, welch letztere Gruppe eine Untergruppe der ersteren bildet. Diese Forderung für sich allein genügt natürlich nicht als Ausgangspunkt für eine Ableitung der Grundgleichungen der Physik. Zunächst kann man sogar bestreiten, daß die Forderung allein eine wirkliche Beschränkung für die physikalischen Gesetze enthalte; denn es wird stets möglich sein, ein zunächst nur für gewisse Koordinatensysteme postuliertes Gesetz so umzuformuliel'en, daß die neue Formulierung der Form nach allgemein kovariant wird. Außerdem ist es von vornherein klar, daß sich unendlich viele Feldgesetze formulieren lassen, die diese Kovarianzeigenschaft haben. Die eminente heuristische Bedeutung des allgemeinen Relativitätsprinzips liegt aber darin, daß es uns zu der Aufsuchung jener Gleichungssysteme führt, welche in allgemein lwrarianter Formulierung möglichst einfach sind; unter diesen haben wir die Feldgesetze des physikalischen Raumes zu suchen. Felder, die durch solche Transformationen ineinander übergeführt werden können, beschreiben denselben realen Sachverhalt. Die Hauptfrage für den auf diesem Gebiete Suchenden ist diese: Von welcher mathematischen Art sind die Größen (Funktionen der Koordinaten), welche die physikalischen Eigenschaften des Raumes auszudrücken gestatten ("Struktur")? Dann erst: welchen Gleichungen genügen jene Größen? Wir können heute diese Fragen noch keineswegs mit Sicherheit beantworten. Der bei der ersten Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie eingeschlagene Weg läßt sich so kennzeichnen. Wenn wir auch nicht wissen, durch was für Feldvariable (Struktur) der physikalische Raum zu charakterisieren ist, so kennen wir doch mit Sicherheit einen speziellen Fall: den des "feldfreien" Raumes in der speziellen Relativitätstheorie. Ein solcher Raum ist dadurch charakterisiert, daß für ein passend gewähltes Koordinatensystem der zu zwei benachbarten Punkten gehörige Ausdruck

(1) eine meßbare Größe darstellt (Abstandsquadrat), also eine reale physikalische Bedeutung hat. Auf ein beliebiges System bezogen drückt sich die Größe so aus (2) 26

Autobiographisches

wobei die Indizes von 1 bis 4 laufen. Die gii bilden einen symmetrischen Tensor. Wenn, nach Ausführung einer Transformation am Felde (1), die ersten Ableitungen der gii nach den Koordinaten nicht verschwinden, so besteht, mit Bezug auf dies Koordinatensystem, ein Gravitationsfeld im Sinne der obigen Überlegung, und zwar ein Gravitationsfeld ganz spezieller Art. Dies besondere Feld läßt sich dank der Riemannschen Untersuchung n-dimensionaler metrischer Räume invariant charakterisieren: 1. Der aus den Koeffizienten der Metrik (2) gebildete Riemannsche Krümmungstensor R ii1m verschwindet. 2. Die Bahn eines Massenpunktes ist in bezug auf das Inertialsystem (in bezug auf welches [1.] gilt) eine gerade Linie, also eine Extremale (Geodete). Letzteres ist aber bereits eine auf (2) sich stützende Charakterisierung des Bewegungsgesetzes. Das allgemeine Gesetz des physikalischen Raumes muß nun eine Verallgemeinerung des soeben charakterisierten Gesetzes sein. Ich nahm nun an, daß es zwei Stufen der Verallgemeinerung gibt: a) reines Gravitationsfeld, b) allgemeines Feld (in welchem auch Größen auftreten, die irgendwie dem elektromagnetischen Felde entsprechen). Der Fall a) war dadurch charakterisiert, daß das Feld zwar immer noch durch eine Riemann-Metrik (2) bzw. durch einen symmetrischen Tensor darstellbar ist, wobei es aber (außer im Infinitesimalen) keine Darstellung in der Form (1) gibt. Dies bedeutet, daß im Falle a) der Riemann-Tensor nicht verschwindet. Es ist aber klar, daß in diesem Falle ein Feldgesetz gelten muß, das eine Verallgemeinerung (Abschwächung) dieses Gesetzes ist. Soll auch dies Gesetz von der zweiten Differentiationsordnung in den zweiten Ableitungen linear sein, so kam nur die durch einmalige Kontraktion zu gewinnende Gleichung

o=

Rld =

gim R ildm

als Feldgleichung im Falle a) in Betracht. Es erscheint ferner natürlich, anzunehmen, daß auch im Falle a) die geodätische Linie immer noch das Bewegungsgesetz des materiellen Punktes darstelle. Es erschien mir damals aussichtslos, den Versuch zu wagen, das Gesamtfeld b) darzustellen und für dieses Feldgesetze zu ermitteln. Ich zog es deshalb vor, einen vorläufigen formalen Rahmen für eine Darstellung der ganzen physikalischen Realität hinzustellen; dies war nötig, um wenigstens vorläufig die Brauchbarkeit des Grundgedankens der allgemeinen Relativität untersuchen zu können. Dies geschah so. In der Newtonsehen Theorie kann man als Feldgesetz der Gravitation

.19' = 0

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schreiben (rp = Gravitationspotential) an solchen Orten, wo die Dichte (! der Materie verschwindet. Allgemein wäre zu setzen (Poissonsche Gleichung)

Arp = 4n k e

(e =

Massendichte).

Im Falle der relativistischen Theorie des Gravitationsfeldes tritt Ril: an die Stelle von Arp. Auf die rechte Seite haben wir dann an die Stelle von (! ebenfalls einen Tensor zu setzen. Da wir aus der speziellen Relativitätstheorie wissen, daß die (träge) Masse gleich ist der Energie, so wird auf die rechte Seite der Tensor der Energiedichte zu setzen sein - genauer der gesamten Energiedichte, soweit sie nicht dem reinen Gravitationsfelde angehört. Man gelangt so zu der Feldgleichung

Das zweite Glied der linken Seite ist aus formalen Gründen zugefügt; die linke Seite ist nämlich so geschrieben, daß ihre Divergenz im Sinne des absoluten DifIerentialkalküls identisch verschwindet. Die rechte Seite ist eine formale Zusammenfassung aller Dinge, deren Erfassung im Sinne einer Feldtheorie noch problematisch ist. Natürlich war ich keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß diese Fassung nur ein Notbehelf war, um dem allgemeinen Relativitätsprinzip einen vorläufigen geschlossenen Ausdruck zu geben. Es war ja nicht wesentlich mehr als eine Theorie des Gravitationsfeldes, das einigermaßen künstlich von einem Gesamtfelde noch unbekannter Struktur isoliert wurde. Wenn irgend etwas - abgesehen von der Forderung der Invarianz der Gleichungen bezüglich der Gruppe der kontinuierlichen Koordinatentransformationen - in der skizzierten Theorie möglicherweise endgültige Bedeutung beanspruchen kann, so ist es die Theorie des Grenzfalles des reinen Gravitationsfeldes und dessen Beziehung zu der metrischen Struktur des Raumes. Deshalb soll im unmittelbar folgenden nur von den Gleichungen des reinen Gravitationsfeldes die Rede sein. Das Eigenartige an diesen Gleichungen ist einerseits ihr komplizierter Bau, besonders ihr nichtlinearer Charakter in bezug auf die Feldvariabeln und deren Ableitungen, andererseits die fast zwingende Notwendigkeit, mit welcher die Transformationsgruppe dies komplizierte Feldgesetz bestimmt. Wenn man bei der speziellen Relativitätstheorie, d. h. bei der Invarianz bezüglich der Lorentz-Gruppe, stehengeblieben wäre, so würde auch im Rahmen dieser engeren Gruppe das Feldgesetz Ril: = 0 invariant sein. Aber vom Standpunkte der engeren Gruppe bestünde zunächst keinerlei Anlaß dafür, daß die Gravitation durch eine so komplizierte StruktUr dargestellt werden müsse, wie sie der symmetrische Tensor gik darstellt. Würde man aber doch hinreichende Gründe dafür finden, so gäbe es eine 28

Autobiographisches

unübersehbare Zahl von Feldgesetzen aus Größen ga." die alle kovariant sind bezüglich Lorentz-Transformationen (nicht aber gegenüber der allgemeinen Gruppe). Selbst aber wenn man von all den denkbaren Lorentzinvarianten Gesetzen zufällig gerade das zu der weiteren Gruppe gehörige Gesetz erraten hätte, so wäre man immer noch nicht auf der durch das allgemeine Relativitätsprinzip erlangten Stufe der Erkenntnis. Denn vom Standpunkt der Lorentz-Gruppe wären zwei Lösungen fälschlich als physikalisch voneinander verschieden zu betrachten, wenn sie durch eine nichtlineare Koordinatentransformation ineinander transformierbar sind, d. h. vom Standpunkt der weiteren Gruppe nur verschiedene Darstellungen desselben Feldes sind. Noch eine allgemeine Bemerkung über Struktur und Gruppe. Es ist klar, daß man im allgemeinen eine Theorie als um so vollkommener beurteilen wird, eine je einfachere "Struktur" sie zugrunde legt und je weiter die Gruppe ist, bezüglich welcher die Feldgleichungen invariant sind. Man sieht nun, daß diese beiden Forderungen einander im Wege sind. Gemäß der speziellen Relativitätstheorie (Lorentz-Gruppe) kann man z. B. für die denkbar einfachste Struktur (skalares Feld) ein kovariantes Gesetz aufstellen, während es in der allgemeinen Relativitätstheorie (weitere Gruppe der kontinuierlichen Koordinatentransformationen) erst für die kompliziertere Struktur des symmetrischen Tensors ein invariantes Feldgesetz gibt. Wir haben physikalische Gründe dafür angegeben, daß Invarianz gegenüber der weiteren Gruppe in der Physik gefordert werden mußl; vom rein mathematischen Gesichtspunkte aus sehe ich keinen Zwang, die einfachere Struktur der Weite der Gruppe zum Opfer zu bringen. Die Gruppe der allgemeinen Relativität bringt es zum ersten Male mit sich, daß das einfachste invariante Gesetz nicht linear und homogen in den Feldvariabeln und ihren Differentialquotienten ist. Dies ist aus folgendem Grunde von fundamentaler Wichtigkeit. Ist das Feldgesetz linear (und homogen), so ist die Summe zweier Lösungen wieder eine Lösung; so ist es z. B. bei den Maxwellsehen Feldgleichungen des leeren Raumes. In einer solchen Theorie kann aus dem Feldgesetz allein nicht auf eine Wechselwirkung von Gebilden geschlossen werden, die isoliert durch Lösungen des Systems dargestellt werden können. Daher bedurfte es in den bisherigen Theorien neben den Feldgesetzen besonderer Gesetze für die Bewegung der materiellen Gebilde unter dem Einfluß der Felder. In der relativistischen Gravitationstheorie wurde nun zwar ursprünglich neben dem Feldgesetz das Bewegungsgesetz (Geodätische Linie) unabhängig l 1 Bei der engeren Gruppe zu bleiben und gleichzeitig die kompliziertere Struktur der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde zu legen, bedeutet eine naive Inkonsequenz. Sünde bleibt Sünde, auch wenn sie von sonst respektabeln Männern begangen wird.

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postuliert. Es hat sich aber nachträglich herausgestellt, daß das Bewegungsgesetz nicht unabhängig angenommen werden muß (und darf), sondern daß es in dem Gesetz des Gravitationsfeldes implizite enthalten ist. Das Wesen dieser an sich komplizierten Sachlage kann man sich wie folgt veranschaulichen. Ein einziger ruhender materieller Punkt wird durch ein Gravitationsfeld repräsentiert, das überall endlich und regulär ist außer an dem Orte, an dem der materielle Punkt sitzt; dort hat das Feld eine Singularität. Berechnet man aber durch Integration der Feldgleichungen das Feld, welches zu zwei ruhenden materiellen Punkten gehört, so hat dieses außer den Singularitäten am Orte der materiellen Punkte noch eine aus singuHiren Punkten bestehendc Linie, welche die bei den Punkte verbindet. Man kann aber eine Bewegung der materiellen Punkte in solcher ""eise vorgeben, daß das durch sie bestimmte Gravitationsfeld außerhalb der materiellen Punkte nirgends singulär wird. Es sind dies gerade jene Bewegungen, die in erster Näherung durch die Newtonschen Gesetze beschrieben werden. Man kann also sagen: Die Massen bewegen sich so, daß die Feldgleichung im Raume außerhalb der Massen nirgends Singularitäten des Feldes bedingt. Diese Eigenschaft der Gravitationsgleichungen hängt unmittelbar zusammen mit ihrer Nicht-Linearität, und diese ihrerseits wird durch dic weitere Transformationsgruppe bedingt. Nun könnte man allerdings den Einwand machen: Wenn am Orte der materiellen Punkte Singularitäten zugelassen werden, was für eine Berechtigung besteht dann, das Auftreten von Singularitäten im übrigen Raume zu verbieten? Dieser Einwand wäre dann berechtigt, wenn die Gleichungen der Gravitation als Gleichungen des Gesamtfeldes anzusehen wären. So aber wird man sagen müssen, daß das Feld eines materiellen Teilchens desto weniger als reines Gra>Jitationsteld wird betrachtet werden dürfen, je näher man dem eigentlichen Ort des Teilchens kommt. Würde man die Feldgleichung des Gesamtfeldes haben, so müßte man verlangen, daß die Teilchen selbst als überall singularitätsfreie Lösungen der vollständigen Feldgleichungen sich darstellen lassen. Dann erst wäre die allgemeine Relativitätstheorie eine vollständige Theorie. Bevor ich auf die Frage der Vollendung der allgemeinen Relativitätstheorie eingehe, muß ich Stellung nehmen zu der erfolgreichsten physikalischen Theorie unserer Zeit, der statistischen Quantentheorie, die vor etwa 25 Jahren eine konsistente logische Form angenommen hat (Schrödinger, IIeisenberg, Dirac, Born). Es ist die einzige gegenwärtige Theorie, welche die Erfahrungen über den Quantencharakter der mikromechanischen Vorgänge einheitlich zu begreifen gestattet. Diese Theorie auf der einen Seite und die Relativitätstheorie auf der andern Seite werden beide in gewissem Sinne für richtig gehalten, obwohl ihre Verschmelzung allen bisherigen Bemühungen widerstanden hat. Damit hängt es wohl zusammen, daß unter

so

Autobiographisches den theoretischen Physikern der Gegenwart durchaus verschiedene Meinungen darüber bestehen, wie das theoretische Fundament der künftigen Physik aussehen wird. Ist es eine Feldtheorie; ist es eine im wesentlichen statistische Theorie? Ich will hier kurz sagen, wie ich darüber denke. Die Physik ist eine Bemühung, das Seiende als etwas begrifflich zu erfassen, was unabhängig vom Wahrgenommen-Werden gedacht wird. In diesem Sinne spricht man vom "Physikalisch-Realen". In der Vor-Quantenphysik war kein Zweifel, wie dies zu verstehen sei. In Newtons Theorie war das Reale durch materielle Punkte in Raum und Zeit, in der Maxwellsehen Theorie durch ein Feld in Raum und Zeit dargestellt. In der Quantenmechanik ist es weniger durchsichtig. Wenn man fragt: Stellt eine P-Funktion der Quantentheorie einen realen Sachverhalt in demselben Sinne dar wie ein materielles Punktsystem oder ein elektromagnetisches Feld, so zögert man mit der simplen Antwort "ja" oder "nein"; warum? Was die P-Funktion (zu einer bestimmten Zeit) aussagt, das ist: Welches ist die Wahrscheinlichkeit dafür, eine bestimmte physikalische Größe q (oder p) in einem bestimmten gegebenen Intervall vorzufinden, wenn ich sie zur Zeit t messe? Die Wahrscheinlichkeit ist hierbei als eine empirisch feststellbare, also gewiß "reale" Größe anzusehen, die ich feststellen kann, wenn ich dieselbe P-Funktion sehr oft erzeuge und jedesmal eine q-Messung vornehme. Wie steht es nun aber mit dem eir,zelnen gemessenen Wert von q? Hatte das betreffende individuelle System diesen q-Wert schon vor der Messung? Auf diese Frage gibt es im Rahmen der Theorie keine bestimmte Antwort, weil ja die Messung ein Prozeß ist, der einen endlichen äußeren Eingriff in das System bedeutet; es wäre daher denkbar, daß das System einen bestimmten Zahlwert für q (bzw. p), nämlich den gemessenen Zahlwert erst durch die Messung selbst erhält. Für die weitere Diskussion denke ich mir zwei Physiker A und B, die bezüglich des durch die P-Funktion beschriebenen realen Zustandes eine verschiedene Auffassung vertreten. A. Das einzelne System hat (vor der Messung) einen bestimmten Wert von q (bzw. p) für alle Variabeln des Systems, und zwar den Wert, der bei einer Messung dieser Variabeln festgestellt wird. Ausgehend von dieser Auffassung wird er erklären: Die P-Funktion ist keine erschöpfende Darstellung des realen Zustandes des Systems, sondern eine unvollständige Darstellung; sie drückt nur dasjenige aus, was wir auf Grund früherer Messungen über das System wissen. B. Das einzelne System hat (vor der Messung) keinen bestimmten Wert von q (bzw. p). Der Meßwert kommt unter Mitwirkung der ihm vermöge der P-Funktion eigentümlichen Wahrscheinlichkeit erst durch den Akt der Messung zustande. Ausgehend von dieser Auffassung wird (oder wenigstens darf) er erklären: Die P-Funktion ist eine erschöpfende Darstellung des realen Zustandes des Systems.

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Albert Einstein Nun präsentieren wir diesen beiden Physikern folgenden Fall. Es liege ein System vor, das zu der Zeit t unserer Betrachtung aus zwei Teilsystemen SI und S2 bestehe, die zu dieser Zcit räumlich getrennt und (im Sinne der klassischen Physik) ohne erhebliche Wechselwirkung sind. Das Gesamtsystem sei durch eine bekannte P-Funktion P 12 im Sinne der Quantenmechanik vollständig beschrieben. Alle Quantentheoretiker stimmen nun im folgenden überein. Wenn ich eine vollständige :Messung an SI mache, so erhalte ich aus den Meßresultaten und aus P 12 eine völlig bestimmte P-Funktioll P 2 des Systems S2. Der Charakter vonP2 hängt dann davon ab, was für eine Art Messung ich an SI vornehme. Nun scheint es mir, daß man von dem realen Sachverhalt des Teilsystems S2 sprechen kann. Von diesem realen Sachverhalt wissen wir vor der Messung an SI von vornherein noch weniger als bei einem durch die P-Funktion beschriebenen System. Aber an einer Annahme sollten wir nach meiner Ansicht unbedingt festhalten : Der reale Sachverhalt (Zustand) des Systems S2 ist unabhängig davon, was mit dem von ihm räumlich getrennten System SI vorgenommen wird. Je nach der Art der Messung, welche ich an SI vornehme, bekomme ich aber ein andersartiges P 2 für das zweite Teilsystem (Pz, Pl . .. ). Nun muß aber der Realzustand von S2 unabhängig davon sein, was an SI geschieht. Für denselben Realzustand von S2 können also (je nach Wahl der Messung an SI) verschiedenartige P-Funktionen gefunden werden. (Diesem Schlusse kann man nur dadurch ausweichen, daß man entweder annimmt, daß die Messung an SI den Realzustand von S2 (telepathisch) verändert, oder aber daß man Dingen, die räumlich voneinander getrennt sind, unabhängige Realzustände überhaupt abspricht. Beides scheint mir ganz inakzeptabel.) Wenn nun die Physiker A und B diese Überlegung als stichhaltig annehmen, so wird B seinen Standpunkt aufgeben müssen, daß die P-Funktion eine vollständige Beschreibung eines realen Sachverhaltes sei. Denn es wäre in diesem Falle unmöglich, daß demselben Sachverhalt (von S2) zwei verschiedenartige P-Funktionen zugeordnet werden könnten. Der statistische Charakter der gegenwärtigen Theorie würde dann eine notwendige Folge der Unvollständigkeit der Beschreibung der Systeme in der Quantenmechanik sein, und es bestände kein Grund mehr für die Annahme, daß eine zukünftige Basis der Physik auf Statistik gegründet sein müsse. Meine Meinung ist die, daß die gegenwärtige Quantentheorie bei gewissen festgelegten Grundbegriffen, die im wesentlichen der klassischen Mechanik entnommen sind, eine optimale Formulierung der Zusammenhänge darstellt. Ich glaube aber, daß diese Theorie keinen brauchbaren Ausgangspunkt für die künftige Entwicklung bietet. Dies ist der Punkt, in welchem meine Erwartung von derjenigen der meisten zeitgenössischen Physiker ab-

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Autobiographisches weicht. Sie sind davon überzeugt, daß den wesentlichen Zügen der Quantenphänomene (scheinbar sprunghafte und zeitlich nicht determinierte Änderungen des Zustandes eines Systemes, gleichzeitig korpuskuläre und undulatorische Qualitäten der elementaren energetischen Gebilde) nicht Rechnung getragen werden kann durch eine Theorie, die den Realzustand der Dinge durch kontinuierliche Funktionen des Raumes beschreibt, für welche DifTerentialgleichungen gelten. Sie denken auch, daß man auf solchem Wege die atomistische Struktur der Materie und Strahlung nicht wird verstehen können. Sip, erwarten, daß Systeme von DilTerentialgleichungen, wie sie für eine solche Theorie in Betracht kämen, überhaupt keine Lösungen haben, die überall im vierdimensionalen Raume regulär (singularitätsfrei) sind. Vor allem aber glauben sie, daß der anscheinend sprunghafte Charakter der Elementarvorgänge nur durch eine im Wesen statistische Theorie dargestellt werden kann, in welcher den sprunghaften Änderungen der Systeme durch kontinuierliche Xnderungen von Wahrscheinlichkeiten dcr möglichen Zustände Rechnung getragen wird. All diese Bemerkungen erscheinen mir recht eindrucksv011. Die Frage, auf die es ankommt, scheiut mir abf'r die zu sein: 'Vas kann bei der heutigen Situation der Theorie mit fliniger Aussiebt auf Erfolg versucht werden? Da sind es die Erfahrungen in der Gravitatioustheorie, die für meine Erwartungen richtunggebend sind. Diese Gleichungen haben nach meiner Ansicht mehr Aussicht, etwas Genaues auszusagen als alle anderen Gleichungen der Physik. Man ziehf' etwa die Maxwellsehen Gleichungen des leeren Raumes zum Vergleich heran. Diese sind Formulierungen, die den Erfahrungen an unendlich schwachen elektromagnetischen Feldern entsprechen. Dieser empirische Ursprung bedingt schon ihre lineare Form; daß aber die wahren Gesetze nicht linear sein können, wurde schon früher betont. Solche Gesetze erfüllen das Superpositionsprinzip für ihre Lösungen, enthalten also keine Aussagen über die Wechselwirkungen von Elementargebilden. Die wahren Gesetze können nicht linear sein und aus solchen auch nicht gewonnen werden. Noch etwas anderes habe ich aus der Gravitationstheorie gelernt: Eine noch so umfangreiche Sammlung empirischer Fakten kann nicht zur Aufstellung so verwickelter Gleichungen führen. Eine Theorie kanu an der Erfahrung geprüft werden, aber es gibt keinen Weg von der Erfahrung zur Aufstellung einer Theorie. Gleichungen von solcher Kompliziertheit wie die Gleichungen des Gravitationsfeldes können nur dadurch gefunden werden, daß eine logisch einfache mathematische Bedingung gl'funden wird, welche die Gleichungen völlig oder nahezu determilliert. Ilat man aber jene hinreichend starken formalen Bedingungen. so braucht man nur wenig Tatsachenwissen für die Aufstellung der Theorie; bei den Gravitationsgleichungen ist es die Vierdimensionalität ulld der symmetrische Tensor als Ausdruck für die Raumstruktur, welche zusammen mit der In33

Albert Einstein

varianz bezüglich der kontinuierlichen Transformationsgruppe die Gleichungen praktisch vollkommen determinieren. Unsere Aufgabe ist es, die Feldgleichungen für das totale Feld zu finden. Die gesuchte Struktur muß eine Verallgemeinerung des symmetrischen Tensors sein. Die Gruppe darf nicht enger sein als die der kontinuierlichen Koordinatentransformationen. Wenn man nun eine reichere Struktur einführt, so wird die Gruppe die Gleichungen nicht mehr so stark determinieren wie im Falle des symmetrischen Tensors als Struktur. Deshalb wäre es am schönsten, wenn es gelänge, die Gruppe abermals zu erweitern in Analogie zu dem Schritte, der von der speziellen Relativität zur allgemeinen Relativität geführt hat. Im besonderen habe ich versucht, die Gruppe der komplexen Koordinatentransformationen heranzuziehen. Alle derartigen Bemühungen waren erfolglos. Eine offene oder verdeckte Erhöhung der Dimensionszahl des Raumes habe ich ebenfalls aufgegeben, eine Bemühung, die von Kaluza begründet wurde und in ihrer projektiven Variante noch heute ihre Anhänger hat. Wir beschränken uns auf den vierdimensionalen Raum und die Gruppe der kontinuierlichen reellen Koordinatentransformationen. Nach vielen Jahren vergeblichen Suchens halte ich die im folgenden skizzierte Lösung für die logischerweise am meisten befriedigende. An Stelle des symmetrischen gik (gik = gki) wird der nichtsymmetrische Tensor gik eingeführt. Diese Größe setzt sich aus einem symmetrischen Teil 8ik und einem reellen oder gänzlich imaginären antisymmetrischen aik so zusammcn:

Vom Standpunkte der Gruppe aus betrachtct ist diese Zusammenfügung von sund a willkürlich, weil die Tensoren 8 und a einzeln Tensorcharakter haben. Es zeigt sich aber, daß diese gik (als Ganzes betrachtet) im Aufbau dcr neuen Theorie eine analoge Rolle spielen wie die symmetrischen gik in der Theorie des reinen Gravitationsfeldes. Diese Verallgemeinerung der Raumstruktur scheint auch vom Standpunkt unseres physikalischen Wissens natürlich, weil wir wissen, daß das elektromagnetische Feld mit einem schief symmetrischen Tensor zu tun hat. Es ist ferner für die Gravitationstheorie wesentlich, daß aus den symmetrischen gik die skalare Dichtt. Vigiki gebildet werden kann, sowie der kont,avariante Tensor gik gemäß der Definition gikgil

=

(jkl ((jkl

=

Kronecker-Tensor).

Diese Bildungen lassen sich genau entsprechend für die nichtsymmetrischen gik definieren, ebenso Tensordichten. In der Gravitationstheorie ist es ferner wesentlich, daß sich zu einem gegebenen symmetrischen gik-Feld ein Feld FIk definieren läßt, das in den 34

Autobiographisches

unteren Indizes symmetrisch ist und geometrisch betrachtet die Parallelverschiebung eines Vektors beherrscht. Analog läßt sich zu den nichtsymmetrischen gik ein nichtsymmetrisches definieren, gemäß der Formel

rik

(A) welche mit der betreffenden Beziehung der symmetrischen g übereinstimmt, nur daß hier natürlich auf die Stellung der unteren Indizes in den g und r geachtet werden muß. Wie in der reellen Theorie kann aus den r eine Krümmung Ri k1m gebildet werden und aus dieser eine kontrahierte Krümmung llkl' Endlich kann man unter Verwendung eines Variationsprinzips mit (A) zusammen kompatible Feldgleichungen finden:

g~ = ~

(gi1: _ gki) Y'/gik/ 1

r!:!8 = 0 (Ii/ = 2

(fis" -

r 8i'))

R ik = 0 Rk1,m ~

+ R1m,k + Rmk,l = '"

0.

~

Hierbei ist jede der beiden Gleichungen (BI)' (B 2 ) eine Folge der andern, wenn (A) erfüllt ist. R kl bedeutet den symmetrischen, RH den antisymmetrischen Teil von R ik . Im Falle des Verschwindens des antisymmetrischen Teils von gik reduzieren sich diese Formeln auf (A) und (Cl) - Fall des reinen Gravitationsfeldes. Ich glaube, daß diese Gleichungen die natürlichste Verallgemeinerung der Grav.itationsgleichungen darstellen 2 • Die Prüfung ihrer physikalischen Brauchbarkeit ist eine überaus schwierige Aufgabe, weil es mit Annäherungen nicht getan ist. Die Frage ist: \Vas für im ganzen Raume singularitätsfreie Lösungen dieser Gleichungen gibt es? Diese Darlegung hat ihren Zweck erfüllt, wenn sie dem Leser zeigt, wie die Bemühungen eines Lebens miteinander zusammenhängen und warum sie zu Erwartungen bestimmter Art geführt haben. Institute for Advanced Study Princeton, New Jersey

Albert Einstein

2 Die hier vorgeschlagene Theorie hat nach meiner Ansicht ziemliche Wahrscheinlichkeit der Bewährung, wenn sich der Weg einer erschöpfenden Darstellung der physischen Realität auf der Grundlage des Kontinuums überhaupt als gangbar erweisen wird.

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Faksimile aus Einstein's Selbstbiographie, die er speziell für den vorliegenden Band geschrieben hat (vgl. S. 5/6)

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Wolfgang Pauli

samtheit verwendet wird, berechnet. Im Hinblick auf den physikalischen Inhalt der Theorie erscheint es offensichtlich, daß die Annahme eines einzigen Wertes für die Frequenz der Oszillatoren im festen Körper nicht korrekt sein kann. Dieses Problem wurde von Einstein in verschiedenen nachfolgenden Arbeiten [7, 8, 9J diskutiert in Verbindung mit der Entdeckung von MadelungS und Sutherland6 , wonach eine Relation zwischen dem angenommenen Wert dieser Frequenz und den elastischen Eigenschaften des Körpers existiert. Unter diesen Arbeiten ist Einsteins Bericht beim Solvay-Kongreß 1911 am interessantesten, da er nach der Auffindung der empirischen Formel von Nernst und Lindemann für die thermische Energie der Festkörper und gerade vor der theoretischen Lösung des Problems durch Born und Karman7 und unabhängig von DebyeS verfaßt wurde. Es mutet heute eher merkwürdig an, daß diese späteren Theorien nicht viel früher gefunden wurden, um so mehr, als die Methode der Eigenschwingungen schon viel früher von Rayleigh und Jeans vom Standpunkt der klassischen Theorie auf die schwarze Strahlung angewandt worden war. Es ist jedoch zu bedenken, daß bis zu jenem Zeitpunkt noch keine allgemeine Regel zur Bestimmung der diskreten Energiewerte von Zuständen gefunden war und daß außerdem die Physiker gezögert haben, di" Quantengesetze auf so weit räumlich ausgedehnte Zustände, wie die Eigenschwingungen eines Körpers, anzuwenden. Einsteins Bericht über die Beschaffenheit der Strahlung anläßlich der Physikalischen Tagung in Salzburg im Jahre 1909 [5J, an welcher er erstmals vor einer größeren Hörerschaft erschien, kann als einer der Wendepunkte in der Entwicklung der theoretischen Physik angesprochen werden. Er behandelt in demselben sowohl die spezielle Relativitätstheorie als auch die Quantentheorie und kommt zu dem wichtigen Schluß, daß dem Elementarprozeß nicht nur im Falle der Absorption, sondern auch der Emission von Strahlung eine Richtung zuzuschreiben ist (Nadelstrahlung). Dieses Postulat stand allerdings in offenem Widerspruch zu der klassischen Vorstellung der Emission von Kugelwellen, welche für das Verständnis der Kohärenzeigenschaften der Strahlung, wie sie in Interferenzexperimenten zutage treten, unerläßlich ist. Einstein hat sein Postulat des gerichteten Emissionsprozesses in seiner folgenden Arbeit durch gewichtige thermodynamische Argumente weiter gestützt. In Untersuchungen, welche er zusammen mit L. Hopf publizierte [6J (diese Untersuchungen vcranlaßten auch eine interessante Diskussion mit von Laue [12J über den Grad der Unordnung in der "schwarzen" Strahlung), konnte er die früher!' 5 8

7 8

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J. Madelung, Phys. Zschr. 11, 898 (1910). W. Sutherland, Phi!. Mag. (6) 20, 657 (1910). M. Born und Th. van Karman, Phys. Zschr. 13, 297 (1912). P. Debye, Ann. Phys. (4) 39,789 (1912).

Einsteins Beitrag zur Quantentheorie

Arbeit über die Impulsschwankungen eines Spiegels unter dem Einfluß eines Strahlungsfeldes auf die entsprechenden Impulsschwankungen eines harmonischen Oszillators ausdehnen. Auf diese Weise war es - zumindest für dieses spezielle System, das in Plancks ursprünglicher Theorie eine so wichtige Rolle gespielt hat - möglich, neben der von Planck viel früher behandelten Oszillationsbewegung auch die translatorische Bewegung für die Berechnung des Strahlungsgleichgewichtes heranzuziehen. Das Resultat war für alle diejenigen enttäuschend, die immer noch vergeblich hofften, die Plancksche Formel lediglich durch eine Änderung der statistischen Annahmen an Stelle eines grundsätzlichen Bruchs mit den klassischen, die elementaren Mikrophänomene betreffenden Vorstellungen abzuleiten: Die klassische Berechnung der Impulsschwankung eines harmonischen Oszillators bei seiner Wechselwirkung mit einem Strahlungsfeld ist nur mit dem wohlbekannten Wert 3/2 kT seiner kinetischen Energie im thermodynamischen Gleichgewicht verträglich, sofern das Strahlungsfeld dem klassischen Gesetz von Rayleigh-Jeans an Stelle der Planckschen Formel genügt. Wird umgekehrt die letztere akzeptiert, so müssen die Impulsschwankungen des Oszillators von Unregelmäßigkeiten im Strahlungsfeld herrühren, die viel größer sind als die entsprechenden klassischen Schwankungen für kleine Dichten der Strahlungsenergie. Mit Bohrs erfolgreicher Anwendung der Quantentheorie auf die Linien!'pektren der Elemente, deren Erklärung auf seinen wohlbekannten zwei "Fundamentalpostulaten der Quantentheorie" (1913) beruht, setzte eine rasche Entwicklung ein, in deren Verlauf die Quantentheorie von der Beschränkung auf so spezielle Systeme wie Plancksche Oszillatoren befreit wurde. Hieraus ergab sich das Problem, das Plancksche Strahlungsgesetz in übereinstimmung mit den Bohrsehen Postulaten auf Grund allgemeiner, für alle atomaren Systeme gültigen Annahmen abzuleiten. Dieses Problem wurde durch Einstein im Jahre 1917 in einer berühmten Arbeit gelöst [13], die als der Höhepunkt einer Etappe von Einsteins Leistungen in der Quantentheorie (s. a. [10] und [11]) und als die reife Frucht seiner früheren Untersuchung der Brownschen Bewegung angesehen werden kann. Mit Hilfe allgemeiner statistischer Gesetze für die spontanen und induzierten Emissionsprozesse und für deren Umkehrung, die Absorptionsprozesse, konnte er das Plancksche Strahlungsgesetz neu begründen. Dabei nahm el' zwei allgemeine Relationen an zwischen den drei Koeffizienten, welche die Häufigkeit dieser Prozesse bestimmen und aus welchen bei Angabe VOll zwei dieser Koeffizienten der dritte Koeffizient berechnet werden kann. Da diese Einsteinschen Resultate heutzutage in allen Lehrbüchern der Quantrntlworie enthalten sind, ist es wohl kaum nötig, die Einzelheiten dipser Theorie sowie ihre spätere Verallgemeinerung auf kompliziertere

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Wolfgang PauIi

Strahlungsprozesse zu diskutieren [15]. Außer der Herleitung der Plancksehen Strahlungsformel wird in dieser Arbeit auch der Impulsaustausch zwischen dem atomaren System und der Strahlung in einer endgültigen und sehr allgemeinen Weise diskutiert. Das geschieht wiederum unter Verwendung der Gleichung (4) aus der Theorie der Brownschen Bewegung, welche das Quadratmittel des Impulsaustausches während eines bestimmten Zeitintervalls mit der Reibungskraft p" verbindet. Diese letztere läßt sich unter Benützung der allgemeinen Annahme berechnen, daß die von Strahlenbündeln verschiedener Richtung hervorgerufenen Emissions- bzw. Absorptionsprozesse voneinander unabhängig sind9 • Diese Annahme ist sowohl durch die Erfahrung als auch durch das Experiment nahegelegt. Dann ist die Bedingung (4) für das Plancksche Strahlungsfeld nur erfüllt, wenn die spontane Emission als gerichtet angenommen wird, derart, daß für jeden elementaren Strahlungsprozeß ein Impuls vom Betrage hvjc in einer nach Zufall verteilten Richtung emittiert wird und das Atomsystem einen entsprechenden Rückstoß in der entgegengesetzten Richtung erfährt. Die letztgenannte Schlußfolgerung wurde später durch Frisch experimentell bestätigt1o• Nach der Ansicht des Verfassers wurde Einsteins eigenem kritischen Urteil über die fundam~ntale Rolle, welche dem "Zufall" in dieser Beschreibung der Strahlungsprozesse durch statistische Gesetzmäßigkeiten zukommt, zu wenig Aufm~rksam~(eit geschenkt. Wir zitieren deshalb die folgende Stelle seiner Arbeit aus dem Jahre 1917: "Die Schwäche der Theorie liegt einerseits darin, daß sie uns dem Anschluß an die Undulationstheorie nicht näher bringt, andererseits darin, daß sie Zeit und Richtung der Elem~ntarprozesse dem ,Zufall' überläßt; trotzdem hege ich das volle Vertrauen in die Zuverlässigkeit des eingeschlagenen Weges." Der Gegensatz zwischen den Interferenzeigenschaften der Strahlung, für deren Beschreibung das Superpositionsprinzip der Wellentheorie unerläßlich ist, und den Eigenschaften des Energie- und Impulsaustausches zwischen Strahlung und Mlterie, welche nur mit Hilfe des Korpuskelbildes beschrieben werden können, war unvermindert und schien zunächst auch unversöhnlich. Wie all'gem~in bekannt, formulierte de Broglie später in quantitativer Weise die Auffassung, derzufolge ein ähnlicher G~gensatz wiederum bei der Materie auftritt. Einstein begünstigte sehr diese neue Idee; der Autor erinnert sich, daß während einer Diskussion bei der Physikertagung in Innsbruck im H~rb3t 192~ Einstein die Suche nach Interferenz- und Beugungserscheinungen bei Molekularstrahlen vor9

10

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Vgl. zu di}sem Punkt die Diskussion zwischen Einstein und Jordan [16]. R. Frisch, Zschr. f. Phys. 86, 42 (1933).

Einsteins Beitrag zur Quantentheorie

schlugll . Zur gleichen Zeit wurde in einer Arbeit von S. N. Bose eine Ableitung der Planckschen Formel gegeben, in welcher nur das Korpuskelbild, aber keine wellentheoretische Vorstellung verwendet wurde. Das regte Einstein zu einer analogen Anwendung auf die Theorie der sog. Entartung idealer Gase [17] an, die uns heute als allgemeine Beschreibung des thermodynamischen Verhaltens eines Systems von Teilchen mit symmetrischen Eigenfunktionen bekannt ist (Einstein-Bose-Statistik). Es ist interessant, daß später ein Versuch gemacht wurde, diese Theorie auf flüssiges Helium anzuwenden. Der fundamentale Unterschied zwischen den statistischen Eigenschaften von gleichen und ungleichen Teilchen, der auch in den genannten Arbeiten von Einstein diskutiert wird, ist nach der Wellenmechanik mit dem Umstand verknüpft, daß gemäß der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation, die zu den Grundlagen der neuen Theorie ge· hört, die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen verschiedenen gleichen Teilchen auf Grund der Kontinuität ihrer Bewegung in Raum und Zeit verlorengeht. Kurz nachdem Einsteins Arbeit erschien, wurde die thermodynamische Konsequenz der andern Alternative, von Teilchen mit antisymmetrischen Wellenfunktionen, welche für Elektronen gilt, in der Literatur diskutiert ("Fermi-Dirac-Statistik"). Die kurz auf das Erscheinen von de Broglies Arbeit folgende Formulierung der Quantenmechanik war entscheidend für die neue Möglichkeit, erstmals seit der Planckschen Entdeckung wiederum eine widerspruchsfreie Beschreibung derjenigen Phänomene aufzustellen, in denen das Wirkungsquantum eine wesentliche Rolle spielt. Außerdem brachte die Quantenmechanik oder Wellenmechanik den Fortschritt einer tieferen Einsicht in die allgemeine begriffliche Situation der Atomphysik im Zusammenhang mit dem von Bohr "Komplimentarität" genannten Gesichtspunktl2 • Der Verfasser gehört zu den Physikern, welche glauben, daß die neue, der Quantenmechanik zugrunde liegende erkenntnistheoretische Situation befriedigend ist, und zwar sowohl vom Standpunkt der Physik als auch VOll dem weiteren Standpunkt der menschlichen Erkenntnis im allgemeinen. Ich bedauere es, daß Einstein über diese Sachlage anderer Meinung ist, um so mehr, als dieser neue Aspekt der Naturbeschreibung, im Gegensatz zu den der klassischen Physik zugrunde liegenden Ideen, die Hoffnung auf eine zukünftige Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Teildiszipli· neu in Richtung auf eine größere Einheit des Ganzen erweckt. Innerhalb der eigentlichen Physik sind wir uns bewußt, daß der gegenwärtige Bau der Quantenmechanik von seiner endgültigen Form nicht nur 11 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die früheren Diskussionen zwischen Einstein und Ehrenfest [14] in Fragen, welche die Molekularstrahlen betreffen. 12 Ein Bericht über die Stellungnahme Einsteins während dieser Entwicklung kann aus dem folgenden Aufsatz von N. Bohr ersehen werden.

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Wolf gang Pauli

noch weit entfernt ist, sondern sogar Probleme ungelöst läßt, mit denen sich Einstein schon viel früher befaßt hat. In seiner vorgehend erwähnten Arbeit aus dem Jahre 1909 [4b] hebt er die Bedeutung von Jeans Bemerkung hervor, daß die elementare elektrische Ladung e mit Hilfe der Lichtgeschwindigkeit c die Konstante e2/c bestimmt, welche die gleichc Dimension hat wie das Wirkungs quantum h (womit er also auf die heute wohlbekannte Feinstrukturkonstante 2ne 2/hc zielt). Er betonte (loc. eit. p. 192), "daß das (elektrische) Elementarquantum e ein Fremdling ist in der Maxwell-Lorentzschen Elektrodynamik", und gab der Hoffnung Ausdruck, "daß die gleiche Modifikation der Theorie, welche das Elemcntarquantum e als Konsequenz enthält, auch die Quantenstruktur der Strahlung als Konsequenz enthalten wird". Die Umkehrung dieser Aussage hat sich sicherlich als unzutreffend herausgestellt, indem die neue Quantentheorie der Strahlung und Materie den Wert der elektrischen Elementarladung nicht als Konsequenz enthält, so daß diese auch in der Quantenmechanik ein Fremdling geblieben ist. Die theoretische Bestimmung der Feinstrukturkonstante ist zweifellos das wichtigste aller noch ungelösten Probleme der Physik. Wir glauben, daß jede Rückkehr zu den Ideen der klassischen Physik (wie z. B. die Benützung des klassischen Feldbegriffs) uns diesem Ziel nicht näher bringen kann. Um es zu erreichen, werden wir vermutlich noch in weitere revolutionäre Änderungen der fundamentalen physikalischen Begriffe einwilligen müssen, die uns von den Begriffen der klassischen Theorien noch weiter entfernen werden. Verzeichnis von Einsteins Arbeiten über Quantentheorie 1. Ann. Phys., Leipzig (4) 17,132 (1905): "Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt." ') Ann. Phys., Leipzig (4) 20, 199 (1906): "Zur Theorie der Lichterzeugung und Lich tabsorption. " :l. Ann. Phys., Leipzig (4) 22,180 und 800 (1907): "Die Plancksche Theorie der

Strahlung und die Theorie der spezifischen Wärme." 'l.

Diskussion mit W. Ritz: 11) W. Ritz, Phys. Zschr. 9, 903 (1908) und 10,224 (1908); b) A. Einstein, Phys. Zschr. 10, 185 (1909): "Zum gegenwärtigen Stand des Strahlungsproblems." c) \V. Ritz und A. Einstein, Phys. Zschr. 10, 323 (1909): "Zur Aufklärung."

.). Phys. Zschr. 10, 817 (1909): "Über die Entwicklung unserer Anschauungen über das Wesen und die Konstitution der Strahlung." (Bericht anläßlich der physikalischen Tagung in Salzburg, September 1909.) G. a) A. Einstein und L. Hopf, Ann. Phys., Leipzig 33, 1096 (1910): "Über einen Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung und seine Anwendung in der Quan-

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Einsteins Beitrag zur Quantentheorie tentheorie" (vgl. auch unten, Referenz 12); b) A. Einstein und L. Hopf, Ann. Phys., Leipzig 33, 1105 (1910): "Statistische Untersuchung der Bewegung eines Resonators in einem Strahlungsfeld". 7. Ann. Phys., Leipzig 34, 170 und 590 (1911): "Eine Beziehung zwischen dem elastischen Verhalten und der spezifischen Wärme bei festen Körpern mit einatomigem Molekül." 8. Ann. Phys., Leipzig 35, 679 (1911): "Elementare Betrachtungen über die thermische Molekularbewegung in festen Körpern." 9. Bericht und Diskussion des Solvay-Kongresses, 1911: "La theorie du Rayonnement et les Quanta", Paris, 1912. Bericht Einsteins: "L'ßiat actuel du probleme des chaleurs specifiques." 10. Ann. Phys., Leipzig 37, 832 (1912) und 38, 881 (1912): "Thermodynamische Begründung des photo chemischen Äquivalentgesetzes. " 11. A. Einstein und O. Stern, Ann. Phys., Leipzig 40,551 (1913): "Einige Argumente für die Annahme einer molekularen Agitation beim absoluten Nullpunkt." 12. Diskussion zwischen Einstein und von Laue: a) M. von Laue, Ann. Phys., Leipzig 47, 853 (1915); b) A. Einstein, Ann. Phys., Leipzig 47, 879 (1915); c) M. von Laue, Ann. Phys., Leipzig 48, 668 (1915). 13. Phys. Zschr. 18, 121 (1917) (vgl. auch Verhandlungen der deutschen physikalischen Gesellschaft, Nr. 13/14, 1916): "Zur Quantentheorie der Strahlung." 14. A. Einstein und P. Ehrenfest, Z. Phys. 11, 326 (1922): "Quantentheoretische Bemerkungen zum Experiment von Stern und Gerlach." 15. A. Einstein und P. Ehrenfest, Z. Phys.19, 301 (1923): "Zur Quantentheorie des Strahlungsgleichgewichtes." (Siehe auch W. Pauli, Z. Phys.18, 272, 1923.) 16. Diskussion Jordan-Einstein: a) P. Jordan, Z. Phys. 30, 297 (1924); b) A. Einstein, Z. Phys. 31, 784 (1925). 17. Berliner Ber. (1924), S. 261 und (1925), S. 3 und 18: "Zur Quantumtheorie des einatomigen idealen Gases." (Siehe auch: S. N. Bose, Z. Phys. 26, 178, 1924 und 27, 384, 1924.) Physikalisches Institut der Eidg. Technischen Hochschule Zürich

Woljgang Pauli

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Max Born EINSTEINS STATISTISCHE THEORIEN

Einer der bemerkenswertesten Bände in der ganzen naturwissenschaftlichen Literatur scheint mir der Band 17 (iJ. Reihe) der "Annalen der Physik" von 1905 zu sein. Er enthält drei Arbeiten von Einstein, die alle verschiedene Gegenstände behandeln und heute als Meisterwerke, jedes der Ausgangspunkt für einen neuen Zweig der Physik, anerkannt sind. Diese drei Gegenstände sind, nach der Reihenfolge in dem Bande geordnet, die folgenden: Theorie der Photonen, Brownsche Molekularbewegung, Relati vität. Der Relativität ist der letzte der drei Aufsätze gewidmet, und dies zeigt, daß Einsteins Geist damals durch seine Ideen über Raum und Zeit, Gleichzeitigkeit und Elektrodynamik nicht vollständig in Anspruch genommen war. Nach meiner Meinung wäre er einer der größten theoretischen Physiker aller Zeiten geworden, wenn er keine einzige Zeile über die Relativität geschrieben hätte - eine allerdings ziemlich absurde Annahme. Denn Einsteins Auffassung der physikalischen Welt kann nicht in wasserdichte Abteilungen aufgeteilt werden, und es ist wohl unmöglich, sich vorzustellen, daß er auf die Dauer irgendein Grundproblem unserer Zeit übersehen hätte. Hier möchte ich nun Einsteins Beiträge zu den statistischen Methoden in der Physik behandeln. Man kann seine Veröffentlichungen über dieses Thema in zwei Gruppen teilen: Die erste Reihe von Arbeiten befaßt sich mit der klassischen statistischen Mechanik, die spätere mit der Quantentheorie. Beide Gruppen sind aufs engste mit Einsteins Philosophie der \Vissenschaft verbunden. Klarer als irgend jemand vor ihm hat er die statistische Grundlage der physikalischen Gesetze erkannt, und im Kampf für die Klärung des noch verworrenen Gebietes der Quantenphänomene leistete er Pionierarbeit. Später aber, als durch sein Werk eine Synthese der statistischen und der Quantenprinzipien geschaffen war, die fast allen Physikern annehmbar erschien, hielt er sich abseits und ablehnend. Viele von uns empfinden das als tragisch, für ihn selbst, der nun seinen Weg in Einsamkeit gehen muß, und für uns, denen der Meister und Bannerträger fehlt. Ich wage nicht, eine Lösung dieses Zwiespaltes vorzuschlagen. Wir haben uns mit der Tatsache abzufinden, daß auch in der Physik grundsätzliche überzeugungen mächtiger sind als Vernunftgründe, so wie es 70

Einsteins statistische Theorien

ja auch in allen anderen menschlichen Bereichen der Fall ist. Meine Aufgabe ist es, einen Bericht von Einsteins Werk zu geben und es von meinem eigenen philosophischen Standpunkt aus zu diskutieren. Einsteins erste Arbeit von 1902, "Kinetische Theorie des Wärmegleichgewichtes und des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamikl ", ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, daß wichtige Ideen, sobald die Zeit reif ist, fast gleichzeitig durch verschiedene Männer an verschiedenen Orten entwickelt werden. Einstein sagt in seiner Einleitung, daß bis dahin noch niemand die Bedingungen des Wärmegleichgewichts und des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik aus Wahrscheinlichkeitsüberlegungen mit Erfolg abgeleitet habe, wenn auch Maxwell und Boltzmann dem sehr nahe waren. Willard Gibbs wird von ihm nicht erwähnt. Tatsächlich ist Einsteins Arbeit eine Neuentdeckung aller wesentlichen Züge der statistischen Mechanik und offensichtlich in voller Unkenntnis der Tatsache geschrieben, daß dies Gebiet kurz vorher durch Gibbs erschlossen worden war (1901; deutsche Übersetzung von E. Zermelo allerdings erst 1905). Die Ähnlichkeit ist geradezu verblüffend. Genau wie Gibbs untersucht Einstein das statistische Verhalten einer virtuellen Gesamtheit gleicher mechanischer Systeme eines sehr allgemeinen Typus. Der Zustand eines einzelnen Systems wird durch verallgemeinerte (Lagrangesehe) Koordinaten und Geschwindigkeiten beschrieben, die als ein Punkt in einem 2n-dimensionalen "Phasenraum" gedeutet werden. Die Energie ist als eine Funktion dieser Variabeln gegeben. Die einzige Folgerung der dynamischen Gesetze, die benötigt wird, ist das Theorem von Liouville, nach dem jeder Bereich in dem 2n-dimensionalen Phasenraum aller Koordinaten und Bewegungsgrößen sein Volumen im Laufe der Zeit behält. Diese Formel ermöglicht es, Bereiche von gleichem Gewicht zu definieren und die Wahrscheinlichkeitsgesetze anzuwenden. Tatsächlich ist Einsteins Methode im wesentlichen identisch mit Gibbs' Theorie der kanonischen Gesamtheiten. In einer zweiten Arbeit aus dem folgenden Jahre mit dem Titel "Eine Theorie der Grundlagen der Thermodynamik2 " baut Einstein die Theorie auf einer anderen, nicht von Gibbs benutzten Grundlage auf, nämlich auf der Betrachtung eines einzelnen Systems im Laufe der Zeit (später von ihm ,,7.eitGesamtheit" genannt), und er beweist, daß dieses einer bestimmten virtuellen Gesamtheit vieler Systeme äquivalent ist, nämlich Gibbs' mikrokanonischer Gesamtheit. Schließlich zeigt er, daß die kanonische und die mikrokanonische Verteilung zu den gleichen physikalischen Konsequenzen führen. Einsteins Behandlung des Gegenstandes scheint mir etwas weniger abstrakt zu sein als die von Gibbs. Das wird auch dadurch bestätigt, daß Gibbs für seine Methode kein schlagendes Beispiel vorbrachte, während 1 Z

Ann. Phys. (4. Reihe), Bd. 9, 5.477 (1902). Ann. Phys. ('i. Reihe), Bd.11, 5.170 (1903).

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Max Born

Einstein sofort dazu überging, seine Theoreme auf einen Fall von äußerster Wichtigkeit anzuwenden, nämlich auf Systeme von solcher Größe, daß die Realität der Moleküle und die Richtigkeit der kinetischen Theorie der Materie nachgewiesen werden konnten. Das war die Theorie der Brownschen Bewegung. Einsteins Arbeiten über diese sind jetzt leicht zugänglich in einem kleinen Band, den R. Fürth herausgegeben und durch Anmerkungen ergänzt hat und den A. D. Cowper ins Enghsche übersetzt hat 3 • In der crsten Arbeit (190'») ist er bemüht, zu zeigen, "daß entsprechend der molekularkinetischen Wärmetheorie Körper von mikroskopisch sichtbarer Größe, die in einer Flüssigkeit suspendiert sind, infolge der molekularen Wärmebewegung Ortsveränderungen von solcher Größe erleiden, daß man sie in einem Mikroskop leicht beobachten kann", und er fügt hinzu, daß diese Bewegungen möglicherweise mit der "Brownschen Bewegung" identisch sind, obwohl seine Kenntnis der letzteren zu ungenau sei, um cin endgültiges Urteil zu erlauben. Der grundlegende Schritt, den Einstein unternahm, war die Idee, die kinetische Theorie der Materie aus einer möglichen, einleuchtenden und nutzbringenden Hypothese zu einer Sache der Beobachtung zu machen, indem er Fälle untersuchte, in denen die Molekularbewegung und ihr statistischer Charakter sichtbar gemacht werden können. Es war dies das erste Beispiel eines Phänomens von Wärmeschwankungen, und seine Methode ist das klassische Beispiel für die Behandlung aller anderen. Er betrachtet die Bewegung suspendierter Partikel als einen Diffusionsvorgang unter der Wirkung des osmotischen Drucks und anderer Kräfte, von denen die Reibung, die auf die Viskosität der Flüssigkeit zurückzuführen ist, die wichtigste darstellt. Der logische Schlüssel zum Verständnis des Phänomens liegt in der Feststellung, daß die tatsächliche Geschwindigkeit der suspendierten Partikel, die durch die Stöße der Flüssigkeitsmoleküle erzeugt wird, nicht beobachtet werden kann. Der sichtbare Effekt in einem bestimmten Zeitintervall "C besteht in unregelmäßigen Ortsveränderungen, deren Wahrscheinlichkeit einer Differentialgleichung vom gleichen Typus wie die Diffusionsgleichung genügt. Der Diffusionskoeffizient ist einfaeh das mittlere Quadrat der Verschiebung geteilt durch 2 "C. Auf diese Weise erhielt Einstein sein berühmtes Gesetz, das die mittlere geradlinige Verschiebung für "C durch meßbare Größen (Temperatur, Radius der Partikel, Viskosität der Flüssigkeit) und die Anzahl der Moleküle in einem Grammmolekül (Avogadrosche Zahl N) ausdrückt. Die Einfachheit und Klarheit der Darstellung machen diese Abhandlung zu einer klassischen Arbeit unserer Wissenschaft. 3 R. Fürth, "Schwankungserscheinungen in der Physik", Vieweg, BraunBchweig 1920. A. D. Cowper, "Investigations on the Theory of the Brownian Movement", Methuen & Co., London (1926).

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Einsteins statistische Theorien

In der zweiten Arbeit (1906) spricht Einstein über die Arbeiten von Siedentopf (Jena) und Gouy (Lyon), die sich durch Beobachtungen überzeugt hatten, daß die Brownsche Bewegung tatsächlich durch die Wärmehewegung der Flüssigkeitsmoleküle verursacht ist, und von da ab hielt er es für sicher, daß die "unregelmäßige Bewegung der suspendierten Partikel", die er vorausgesagt hatte, mit der Brownschen Bewegung identisch ist. Diese und die folgenden Publikationen sind der Ausarbeitung von Einzelheiten (z. B. der rotierenden Brownschen Bewegung) und der Darstellung der Theorie in anderen Formen gewidmet. Aber sie enthalten nichts wesentlich Neues. Ich denke, diese Forschungen Einsteins haben mehr als alles andere dazu beigetragen, die Physiker von der Bealität der Atome und Moleküle, von der kinetischen Wärme theorie und von der fundamentalen Bedeutung der Wahrscheinlichkeit in den Naturgesetzen zu überzeugen. \Venn man diese Arbeiten liest, dann ist man geneigt, zu glauben, daß in jener Zeit der statistische Aspekt der Physik Einsteins Geist vorwiegend beschäftigte. Aber doch arbeitete er gleichzeitig an der Relativitätstheorie, in der .. ine strenge Kausalität herrscht. Offensichtlich war es immer seine Überzeugung und ist es noch heute, daß die tiefsten Gesetze der Natur kausal lind deterministisch zu verstehen sind, daß die Wahrscheinlichkeitsidee Hur nötig ist, um unsere Unwissenheit zu verdecken, wenn wir mit einer großen Anzahl von Partikeln zu tun haben, und daß nur das große Ausmaß dieser Unwissenheit die Statistik in die vorderste Linie gerückt hat. Die meisten Physiker teilen diese Ansicht heute nicht, und zwar ist der Grund dafür die Entwicklung der Quantentheorie. Einstein hat an dieser durch bedeutsame Beiträge teilgenommen. Seine erste, hier bereits erwähnte Arbeit von 1905 wird häufig zitiert als die erste Einführung des Begriffes der Lichtquanten (Photonen) zur Erklärung des photoelektrischen Effekts und ähnlicher Phänomene (des Stokessehen Gesetzes der Photolumineszenz, der Photoionisation, usw.). Tatsächlich ist das Hauptargument Einsteins wiederum von statistischer Art, und die soeben erwähnten Phänomene werden zur Bestätigung herangezogen. Dieses statistische Denken ist sehr charakteristisch für Einstein und hinterläßt den Eindruck, daß für ihn die Wahrscheinlichkeits gesetze im Mittelpunkt stehen und viel wichtiger sind als irgendein anderes Gesetz. Er geht aus von dem fundamentalen Unterschied zwischen einem idealen Gas und einem mit Strahlen ausßefüllten Hohlkörper. Das Gas besteht aus einer bestimmten Anzahl von Partikeln, während die Strahlung durch eine Reihe von Funktionen im Baum und damit durch eine unbegrenzte Zahl von Variabeln beschrieben wird. Hierin liegt die Wurzel für die Schwierigkeit, das Gesetz der Strahlung im schwarzen Körper zu finden. Die monochromatische Strahlungsdichte ergibt sich als proportional zur absoluten Temperatur (später bekannt

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Max Born

geworden als das Gesetz von Rayleigh-Jeans) mit einem von der Frequenz unabhängigen Faktor, und darum wird die totale Dichte unendlich. Um das zu vermeiden, hat Planck (1900) die Hypothese eingeführt, daß die Strahlung aus Quanten von begrenzter Größe besteht. Einstein allerdings benützt nicht Plancks Strahlungsgesetz, sondern das einfachere von Wien, das für den Grenzfall einer niedrigen Strahlungsdichte gilt, und er erwartet mit Rerbt, daß hier der korpuskulare Charakter der Strahlung klarer zum Vorschein kommt. Er zeigt, wie man die Entropie S der Strahlung im schwarzen Körper aus einem gegebenen Strahlungsgesetz (monochromatische Dichte als Funktion der Frequenz) ableiten kann, und dann wendet er Boltzmanns Grundbeziehung zwischen der Entropie S und der thermodynamischen Wahrscheinlichkeit W an: S = k log W

(wohei k die Gaskonstante pro Molekül ist), um W zu bestimmen. Boltzmanns Ziel bei der Aufstellung dieser Formel war, die physikalische Quantität S auf die kombinatorische Quantität W zurückzuführen, die durch Berechnung aller möglichen Konfigurationen der atomaren Elemente der statistischen Gesamtheit erhalten wird. Einstein kehrt diesen Prozeß um: er geht von der bekannten Funktion S aus, um einen Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit zu erhalten, der als Schlüssel für die Interpretation der statistischen Elemente verwendet werden kann. (Den gleichen Kunstgriff hat er später in seiner Arbeit über die Wärmeschwankungen angewandt. Obwohl das von beträchtlicher Wichtigkeit in der Praxis ist, möchte ich es hier nur erwähnen, denn es führt keinen neuen Grundbegriff neben dieser "Umkehrung" ein.) Einstein substituiert die aus dem Wiensehen Gesetz abgeleitete Entropie in die Boltzmannsche Formel und erhält für die Wahrscheinlichkeit des Teiles Energie E, die gerade in einem Bruchteil a V des Totalvolumens l' enthalten ist, die Formel das bedeutet, die Strahlung verhält sich, als ob sie aus unabhängigen Energiequanten von der Größe hv und Zahl n = E/hv besteht. Es wird aus dem Text der Arbeit klar, daß dieses Ergebnis für Einstein eine überwältigende Überzeugungskraft besaß und ihn veranlaßte, nach direkten Bestätigungen zu suchen. Er fand sie in den oben erwähnten physikalischen Phänomenen (z. B. im photoelektrischen Effekt), die auf dem Austausch von Energie zwischen Elektron und Licht beruhen. Der Eindruck dieser Entdeckungen auf die Experimentalphysiker war groß. Die Tatsachen selbst nämlich waren vielen bekannt, aber man verknüpfte sie nicht miteinander. Damals war Einsteins Gabe, solche Korrelationen intuitiv zu finden, wahrhaft unheimlich. Sie beruhte auf einer gründlichen Kenntnis 74

Einsteins statistische Theorien

der experimentellen Tatsachen, verbunden mit einem tiefen Verständnis des gegenwärtigen Standes der Theorie, und dies befähigte ihn, sofort zu erkennen, wo etwas Ungewohntes vorlag. Seine Arbeitsweise in jener Periode war wesentlich empirisch, obwohl er immer die Ausbildung einer in sich geschlossenen Theorie im Auge hatte - sehr im Gegensatz zu seinen späteren Arbeiten, bei denen er sich in zunehmendem Maße von philosophischen und mathematischen Ideen leiten ließ. Ein zweites Beispiel für die Anwendung dieser Methode ist seine Arbeit über die spezifische Wärme 4 • Sie begann wiederum mit theoretischen Betrachtungen jener Art, die für Einstein die stärkste Beweiskraft haben, nämlich statistische Überlegungen. Er bemerkt, daß man Plancks Strahlungsformel erhalten kann, wenn man die kontinuierliche Verteilung des statistischen Gewichts im Phasenraum aufgibt, die eine Konsequenz des Liouvilleschen Theorems der Dynamik ist. Statt dessen sollen in schwingenden Systemen von der Art, wie sie in der Strahlungstheorie als Sender und Empfänger benützt werden, die meisten Zustände ein verschwindendes statistisches Gewicht haben, und nur eine ausgewählte Anzahl, deren Energien ein Vielfaches des Quants betragen, ein endliches Gewicht. Wenn das so ist, so kann das Quantum nicht eine Sonderheit der Strahlung sein, sondern ist eine Eigenschaft der allgemeinen physikalischen Statistik, und es muß darum auch bei anderen Phänomenen erscheinen, bei denen Oszillatoren im Spiele sind. Diese Überlegung hat offensichtlich Einsteins Denken entscheidend beeinflußt und wurde besonders fruchtbar durch seine Kenntnis der Tatsachen und sein unfehlbares Urteil über die Bedeutung der Tatsachen für das Problem. Ich weiß nicht, ob es ihm bekannt war, daß es feste Elemente gibt, für die die spezifische Wärme pro Mol niedriger ist als ihr normaler Wert von 5,94 Kalorien, wie er durch das Gesetz von Dulong-Petit gegeben ist, oder ob er zuerst die Theorie hatte und dann die Tabellen durchsuchte, um Beispiele zu finden. Das Gesetz von Dulong-Petit ist eine direkte Konsequenz des Gesetzes der Gleichverteilung in der klassischen statistischen Mechanik; dieses besagt, daß jede Koordinate oder Bewegungsgröße, die ein quadratisches Glied zur Energie beiträgt, die gleiche durchschnittliche Energie besitzt, nämlich 1/2RT pro Mol, wobei R die Gaskonstante ist. Da R ein wenig kleiner ist als 2 Kalorien pro Grad und ein Oszillator 3 Koordinaten und 3 Bewegungsgrößen hat, muß die Energie eines Mols eines festen Elements pro Temperaturgrad angenähert 6 X 1/2RT oder 5,94 T Kalorien sein. Bei Substanzen, für die der experimentelle Wert wesentlich niedriger ist, wie es tatsächlich bei Kohle (Diamant), Bor, Silizium der Fall ist, besteht also ein Widerspruch 4 "Die Plancksche Theorie der Strahlung und die Theorie der spezifischen Wärme", Ann. Phys. (4. Reihe), Bd. 22, S. 180 (1907).

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Max Born zwischen den Tatsachen und der klassischen Theorie. Ein anderer ähnlicher Widerspruch findet sich bei einigen Gasen mit mehratomigen Molekülen. Drude hatte durch optische Experimente bewiesen, daß die Atome in diesen Molekülen Schwingungen gegeneinander ausführen. Daher muß die Zahl der schwingenden Einheiten pro Molekül höher als 6 und somit die spezifische Wärme höher als der Dulong-Petit-Wert sein. Aber das ist nicht immer der Fall. Ferner bemerkte Einstein, daß es vom klassischen Standpunkt unerklärlich ist, warum die Elektronen keinen Beitrag zur spezifischen Wärme liefern. Man mußte schwingende Elektronen im Atom annehmen, um die Ultraviolettabsorption zu erklären; doch tragen sie offensichtlich nicht zur spezifischen \Värme bei, im Widerspruch zum Gesetz der Gleichverteilung. Alle diese Schwierigkeiten wurden auf einmal durch Einsteins Annahme beseitigt, daß die atomaren Oszillatoren nicht dem Gesetz der Gleichverteilung folgen, sondern dem Gesetz, das zu Plancks Strahlungsformel führt. Danach ist die mittlere Energie der absoluten Temperatur nicht proportional, sondern nimmt schneller mit fallender Temperatur ab, und zwar auf eine Weise, die noch von den Frequenzen des Oszillators abhängt. Hochfrequente Oszillatoren, wie die Elektronen, tragen danach bei gewöhnlicher Temperatur nichts zur spezifischen Wärme bei, Atome nur, wenn sie nicht zu leicht sind und nicht zu fest gebunden sind. Einstein bestätigte, daß diese Bedingungen im Falle von mehratomigen Molekülen, für die Drude die Frequenzen geschätzt hatte, erfüllt sind, und er zeigte, daß die Messungen der spezifischen Wärme des Diamanten recht gut mit der neuen Formel übereinstimmen. Es ist hier nicht der Ort, die physikalischen Einzelheiten von Einsteins Entdeckung zu diskutieren. Ihre Tragweite für die Prinzipien der physikalischen Erkenntnis war groß. Es war nun bewiesen, daß die QuantenefJekte keine spezifische Eigenschaft der Strahlung sind, sondern ein allgemeines Charakteristikum physikalischer Systeme. Die alte Regel "natura non facit saltus" war widerlegt: Es gibt fundamentale Diskontinuitäten, und zwar Energiequanten, nicht nur in der Strahlung, sondern auch in gewöhnlicher Materie. In Einsteins Modell eines Moleküls oder eines festen Körpers sind diese Quanten noch eng mit der Bewegung einzelner schwingender Partikel verknüpft. Aber bald wurde klar, daß eine beträchtliche Verallgemeinerung notwendig ist. Die Atome in Molekülen und Kristallen sind nicht unabhängig voneinander, sondern durch starke Kräfte miteinander verbunden. Deshalb ist die Bewegung einer individuellen Partikel nicht die eines einzelnen harmonischen Oszillators, sondern die Überlagerung vieler harmonischer Schwingungen. Der Träger einer einfachen harmonischen Bewegung ist überhaupt nichts Materielles. Er ist die abstrakte Normalkoordi-

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Eins teins statistische Theorien

Ilate, wohl bekannt von der gewöhnlichen Mechanik her. Für Kristalle insbesondere ist jede Normalkoordinate eine stehende Welle. Die Einführung dieser Idee öffnete den Weg zu einer quantitativen Theorie der Thermodynamik der Moleküle und Kristalle und erwies den abstrakten Charakter der neuen Quantenphysik, der sich nun allmählich aus diesen Gedanken herausschälte. Es wurde klar, daß die Gesetze der Mikrophysik von denen der groben Materie fundamental verschieden sind. Niemand hat mehr für die Aufhellung dieser Dinge getan als Einstein. Ich kann hier nicht über alle seine Beiträge berichten, sondern will mich auf zwei besonders hervorragende Untersuchungen beschränken. Sie bereiteten den Weg für die neue Mikromechanik, die die Physik heute in weitestem Ausmaß angenommen hat, während Einstein selbst abseits steht, kritisch, skeptisch und immer hoffend, daß diese Periode vorübergehen und die Physik zu den klassischen Prinzipien zurückkehren würde. Die erste dieser beiden Untersuchungen hat es wiederum mit dem Gesetz der Strahlung und der Statistik zu tun 5 • Es gibt zwei Möglichkeiten, die Probleme des statistischen Gleichgewichts anzufassen. Die erste ist der direkte Weg; man kann ihn die kombinatorische Methode nennen: Nachdem man die Gewichte der Elementarbereiche festgestellt hat, berechnet man die Anzahl der Kombinationen der Elemente, die dem beobachtbaren Zustand entsprechen. Die erhaltene Zahl ist die statistische Wahrscheinlichkeit W, aus der man alle physikalischen Eigenschaften erhalten kann (z. B. die Entropie durch die Boltzmannsche Formel). Die zweite Methode besteht in der Bestimmung der Geschwindigkeiten der elementaren Prozesse, die zu dem betrachteten Gleichgewicht führen. Das ist natürlich viel schwieriger; denn es verlangt nicht nur die Berechnung von gleich wahrscheinlichen Fällen, s~ndern eine Kenntnis des wirksamen Mechanismus. Dafür aber führt dieser Weg viel weiter, indem er nicht nur die Bedingungen für das Gleichgewicht, sondern auch das Gesetz der Geschwindigkeiten solcher Prozesse liefert, die von nicht im Gleichgewicht befindlichen Konfigurationen ausgehen. Klassische Beispiele für diese zweite Methode sind Boltzmanns und Maxwells Formulierungen der kinetischen Gastheorie. Hier besteht der elementare Mechanismus in den binären Zusammenstößen der Moleküle, deren Zahl in der Zeiteinheit zur Anzahl jedes der Partner in der Volumeneinheit proportional ist. Aus der Stoßgleichung kann die Verteilungsfunktion der Moleküle nicht nur im statistischen Gleichgewicht bestimmt werden, sondern auch für den Fall der makrophysikalischen Bewegung, des Wärmeflusses, der Diffusion und so weiter. Ein anderes Bei" spiel ist das Gesetz der Massenwirkung nach Guldberg und Waage. Hier besteht wiederum der elementare Mechanismus in mehrfachen Zusammen5

"Zur Quantentheorie der Strahlung", Phys. Z., Jg.18, S.121 (1917).

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Max Born

stößen von Molekülgruppen, wobei die Atome vereint, getrennt oder ausgetauscht werden, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die zur Dichte der Partner proportional ist. Ein Spezialfall dieser elementaren Prozesse ist dic einatomige Reaktion, bei der die Moleküle einer bestimmten Art zerfallen mit einer Geschwindigkeit, die zu ihrer Dichte proportional ist. Dieser Fall ist von besonderer Bedeutung in der Kernphysik: er heißt dort das Gesetz des radioaktiven Zerfalls. Während in den wenigen Beispielen der gewöhnlichen Chemie, bei denen man einatomige Reaktionen beobachtet hat, eine Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den physikalischen Bedingungen, z. B. der Temperatur, angenommen oder sogar beobachtet werden konnte, trifft das nicht für die Radioaktivität zu. Die Zerfallskonstante schien eine unveränderliche Eigenschaft des Kerns zu sein, die von außen her auf keine Weise beeinflußt werden kann. Jeder individuelle Kern explodiert in einem Augenblick, der nicht vorausgesagt werden kann. Wenn aber eine große Anzahl von Kernen beobachtet wird, so ist die Durchschnittsgeschwindigkeit des Zerfalls der gesamten Anzahl der Kerne proportional. Es sieht so aus, als ob das Kausalitätsgesetz für diesc Prozesse außer Kraft gesetzt ist. Einstein hat nun gezeigt, daß Plancks Strahlungsgesetz auf Prozesse eines ähnlichen Typus, also eines mehr oder weniger akausalen Charakters, zurückgeführt werden kann. Man betrachte zwei stationäre Zustände eines Atoms, etwa den niedrigsten Zustand 1 und den angeregten Zustand 2. Einstein nimmt an: Wenn man ein Atom im Zustand 2 findet, so besitzt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, in den Grundzustand 1 zurückzukehren, und zwar indem es ein Photon von einer Frequenz v12 aussendet, die nach dem Quantengesetz dem Energieunterschied zwischen den beiden Zuständen entspricht. Das heißt, in einer großen Masse solcher Atome ist die Anzahl der Atome im Zustand 2, die in der Zeiteinheit in den Grundzustand 1 zurückkehren, proportional zu ihrer ursprünglichen Zahl, genau wie beim radioaktiven Zerfall. Die Strahlung anderseits erzeugt eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den U mkehrprozeß 1 -')0 2, die Absorption eines Photons von der Frequenz V12 ' und diese Wahrscheinlichkeit ist der Strahlungsdichte für die betreffende Frequenz proportional. Diese beiden das Glcichgewicht herstellenden Prozesse allein aber würden nicht zu Plancks Formel führen. Einstein sah sich daher gezwungen, einen dritten Prozeß anzunehmen, nämlich einen Einfluß der Strahlung auf den Emissionsvorgang 2 -')0 1, "die induzierte Emission", deren Wahrscheinlichkeit ebenfalls proportional zur Strahlungs dichte für die Frequenz V12 ist. Diese außerordentlich einfache überlegung führt in Verbindung mit dem elementaren Prinzip der BoItzmann-Statistik sofort zur Planckschen Formel, und zwar ohne jede Bezugnahme auf die Größe der übergangswahrscheinlichkeiten. Einstein hat damit eine Betrachtung über den Austausch 78

Einsteins statistische Theorien

von Bewegungsgröße zwischen Atom und Strahlung verbunden und gezeigt, daß der von ihm vorgeschlagene Mechanismus nicht mit der klassischen Idee sphärischer Wellen im Einklang ist, sondern nur mit einem geschoßartigen Verhalten der Quanten. Hier wollen wir aber nicht auf diese Seite von Einsteins Arbeit eingehen, sondern ihre Bedeutung für die Grundfrage der kausalen und statistischen Gesetze in der Physik erörtern. Von diesem Standpunkt aus ist diese Arbeit Einsteins besonders wichtig. Denn sie bedeutete einen entscheidenden Schritt in der Richtung auf cin akausales, indeterministisches Denken. Selbstverständlich weiß ich, daß Einstein selbst überzeugt war und noch ist, daß es strukturelle Eigenschaften in dem angeregten Atom gibt, die den genauen Moment der Emission bestimmen, und daß der \\'ahrscheinlichkeitsbegrifI nur infolge unserer unvollkommenen Kenntnis der Vorgeschichte des Atoms hineinspielt. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß er zur Verbreitung des indeterministischen,. statistischen Denkens wesentlich beigetragen und es von der Radioaktivität auf andere Bereiche der Physik ausgedehnt hat. Noch ein anderer charakteristischer Zug in Einsteins Arbeit muß erwähnt werden, der ebenfalls beträchtlich dazu beitrug, die indeterministische Physik der Quantenmechanik zu formulieren. Das ist die Tatsache, daß aus der Gültigkeit des Planckschen Strahlungs gesetzes die Gleichheit der Wahrscheinlichkeiten für die Absorption (1 -+ 2) und für die induzierte Emission (2 -+ 1) folgt. Dies war der erste Hinweis, daß die Wechselwirkung in den atomaren Systemen ständig zwei Zustände in symmetrischer Weise verbindet. In der klassischen Mechanik trifft eine von außen kommende Wirkung, wie die Strahlung, auf einen bestimmten Zustand, und das Ergebnis der \Virkung kann aus den Eigenschaften dieses Zustandes und der äußeren Wirkung berechnet werden. In der Quantenmechanik ist jeder Prozeß ein Übergang zwischen zwei Zuständen, die symmetrisch in die Gesetze der Wechselwirkung mit äußeren Systemen eingehen. Diese Symmetrieeigenschaft war ein entscheidender Schlüssel bei der Formulierung der Matrizenmechanik, der frühesten Form der modernen Quantenmechanik. Den ersten Hinweis auf diese Symmetrie gab Einsteins Entdeckung von der Gleichheit der auf- und abwärts gerichteten Übergangswahrscheinlichkeiten. Die letzte von Einsteins Untersuehungen, die ich hier diskutieren möchte, ist seine Arbeit über die Quantentheorie einatomiger idealer Gase 6 • Dabei hatte nicht er die ursprüngliche Idee, sondern sie kam von einem indischen Physiker, S. N. Bose. Dessen Arbeit erschien in einer Übersetzung von Einstein selbst7 , der die Bemerkung hinzufügte, er hielte sie für einen 8

7

Berliner Ber., 1924, S. 261; 1925, S. 318. S. N. Bose, Zschr. f. Phys., Bd. 26, S. 178 (1924). 79

]\fax Born

wichtigen Fortschritt. Der wesentliche Punkt in Boses Verfahren war der, daß er die Protonen als Gaspartikeln mit der Methode der statistischen Mechanik behandelt, aber mit der Zusatzannahme, daß diese Partikel nicht unterscheidbar sind. Er verteilt nicht individuelle Partikel über eine Reihe von Zuständen, sondern berechnet die Anzahl der Zustände, deren eine gegebene Zahl von nicht unterscheidbaren Partikeln fähig ist. Diese kombinatorische Überlegung führt in Verbindung mit den physikalischen Bedingungen (gegeben ist die Anzahl der Zustände und die Gesamtenergie ) sofort zum Planckschen Strahlullgsgesetz. Einstein verallgemeinerte diese Idee durch den Vorschlag, den gleichen Gedankengang auf materielle Atome anzuwenden, um die Quantentheorie einatomiger Gase zu erhalten. Die Abweichung von den gewöhnlichen Gasgesetzen, die aus dieser Theorie abgeleitet wird, nennt man "Degeneration der Gase". Eillsteins Arbeiten hierüber erschienen gerade ein Jahr vor der Entdeckung der Quantenmechanik. Eine von diesen Arbeiten enthält überdies (Seite 9 der zweiten Arbeit) eine Bezugnahme auf de Broglies berühmte Dissertation und die Bemerkung, daß ein skalares Wellenfeld mit einem Gas verknüpft werden kann. Diese Arbeiten von de Broglie und Einstein führten Schrödinger zur Entwicklung seiner Wellenmechanik, wie cr selbst am Ende seiner berühmten Arbeit hierüber bekennt8 • Die gleiche Bemerkung Einsteins stellte ein oder zwei Jahre später die Brücke her zwischen de Broglies Theorie und der experimentellen Entdeckung der Elektronenbeugung. Denn als Davissoll mir seine Ergebnisse über seltsame Maxima in den Reflexionskurven von Elektronen an Kristallflächen mitteilte, erinnerte ich mich an Einsteins Hinweis und veranlaßte Elsass er, zu untersuchen, ob diese Maxima als Interferenzfransen der de-Broglie-Wellen interpretiert werden könnten. Einstein ist darum ganz zweifellos beteiligt an der Begründung der Wellenmechanik, und kein Alibi kann das widerlegen. Ich sehe keinen Weg, wie man die Bose-Einsteinsche Zählung gleich wahrscheinlicher Fälle ohne die Begriffe der Quantenmechanik rechtfertigen könnte. In dieser wird der Zustand eines Systems gleicher Partikel nicht durch Angabe ihrer individuellen Lagen und Bewegungsgrößen beschrieben, sondern durch eine symmetrische Wellenfunktion der Koordinaten. Diese Funktion stellt ganz offensichtlich nur einen Zustand dar. In der klassischen Statistik dagegen kann eine Gruppe gleicher Partikel, selbst wenn sie vollkommen gleichartig sind, noch auf viele Weise zwischen zwei Behälter verteilt werden; mögen die Teilchen auch individuell nicht unterscheidbar sein, so tut das der Tatsache, daß sie Individuen sind, keinen Eintrag. Obwohl Argumente dieser Art eher metaphysisch als physi8 "Quantisierung als Eigenwertproblem", Ann. Phys. (4. Reihe), Bd. 70, S. 361 (1926), vgl. S. 373.

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Einsteins statistische Theorien

kalisch sind, scheint mir die Verwendung einer symmetrischen Wellen funktion zur Darstellung eines Zustandes besser zu sein als die Leugnung der Individualität. Diese Denkweise hat nun weiter zu einem anderen Fall von Gasdegeneration geführt, der von Fermi und Dirac entdeckt wurde, wobei die Wellenfunktion antisymmetrisch ist, und zu einer Fülle physikalischer Folgerungen, die durch das Experiment bestätigt wurden. Nach meiner Kenntnis war die Bose-Einstein-Statistik Einsteins letzter entscheidender positiver Beitrag zur physikalischen Statistik. Seine späteren Bemühungen in dieser Richtung waren zwar von großer Bedeutung für die Anregung zu weiterem Nachdenken und zur Diskussion, aber doch im wesentlichen nur kritisch. Er lehnte es ab, den Anspruch der Quantenmechanik anzuerkennen, sie habe die Partikel- und Wellenvorstellung der Strahlung miteinander versöhnt. Dieser Anspruch basiert auf einer völligen Neuorientierung der physikalischen Prinzipien: Die kausalen Gesetze werden durch statistische, der Determinismus wird durch den Indeterminismus ersetzt. Ich habe versucht, zu zeigen, daß Einstein selbst den Weg zu dieser Einstellung gebahnt hat. Aber in seiner Philosophie ist ein Prinzip enthalten, das es ihm unmöglich macht, diesen Weg zu Ende zu gehen. "Vas ist das für ein Pr1nzip? Einsteins Philosophie ist nicht systematisch in einem Buche niedergelegt, wo man sie lesen könnte. Man muß sich schon der Mühe unterziehen, sie aus seinen Arbeiten über Physik und aus einigen mehr allgemeinen Artikeln und Schriften herauszudestillieren. Ich habe bei ihm keine bestimmte Antwort auf die Frage "Was ist Wahrscheinlichkeit?" gefunden. Auch hat er nicht an den Diskussionen teilgenommen, die über von Mises' Definition und ähnliche Bemühungen entbrannt sind. Ich vermute, er lehnt sie als metaphysische Spekulationen ab und macht gar seine Scherze darüber. Von Anfang an hat er die Wahrscheinlichkeit als ein geistiges Werkzeug der Naturforschung angesehen, nicht anders als irgendeine andere wissenschaftliche Methode. Er hat sicherlich sehr bestimmte Überzeugungen von dem Wert solcher Werkzeuge. Seine Haltung gegenüber der Philosophie und der Erkenntnistheorie ist aus seinem Nachrufartikel auf Ernst Mach zu entnehmenD: "Wenn ich mich nicht aus äußeren Gründen, wie Gelderwerb, Ehrgeiz, und auch nicht oder wenigstens nicht ausschließlich des sportlichen Vergnügens, der Lust am Gehirnturnen wegen einer Wissenschaft zuwende, so muß mich als Jünger dieser Wissenschaft die Frage brennend interessieren: Was für ein Ziel will und kann die Wissenschaft erreichen, der ich mich hingebe? Inwiefern sind deren allgemeine Ergebnisse ,wahr'? Was ist wesentlich, was beruht nur auf Zufälligkeiten der Entwicklung?" " Phys. Zschr., Bd. 17, S. 101 (1916).

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Max Born Etwas später im gleichen Artikel formuliert er sein empirisches Glaubensbekenntnis in folgenden Worten: "Begriffe, welche sich bei der Ordung der Dinge als nützlich erwieseIl haben, erlangen über uns leicht eine solche Autorität, daß wir ihres irdischen Ursprungs vergessen und sie als unabänderliche Gegebenheiten hinnehmen. Sie werden dann zu ,Denknotwendigkeiten', ,Gegebenen apriori' usw. gestempelt. Der Weg des wissenschaftlichen Fortschrittes wird durch solche Irrtümer oft für lange Zeit ungangbar gemacht. Es ist deshalb durchaus keine müßige Spielerei, wenn wir darin geübt werden, die längst geläufigen Begriffe zu analysieren und zu zeigen, von welchen Umständen ihre Berechtigung und Brauchbarkeit abhängt, wie sie im einzelnen aus den Gegebenheiten der Erfahrung herausgewachsen sind. Dadurch wird ihre allzu große Autorität gebrochen. Sie werden entfernt, wenn sie sich nicht ordentlich legitimieren können, korrigiert, wenn ihre Zuordnung zu den gegebenen Dingen allzu nachlässig war, durch andere ersetzt, wenn sich ein neues System aufstellen läßt, das wir aus irgendwelchen Gründen vorziehen." Das ist das Wesen des jungen Einstein vor 30 Jahren. Ich bin gewiß, die Prinzipien der Wahrscheinlichkeit waren damals für ihn von der gleichen Art wie alle anderen Begriffe, die man für die Beschreibung der Natur verwendet und die in den zitierten Worten so eindrucksvoll formuliert sind. Der heutige Einstein hat sich gewandelt. Ich führe hier einige Sätze an aus einem Briefe, den ich von ihm vor einigen Jahren erhielt (7. November 1944): "In unserer wissenschaftlichen Erwartung haben wir uns zu Antipoden entwickelt. Du glaubst an den würfelnden Gott und ich an volle Gesetzmäßigkeit in einer Welt von etwas objektiv Seiendem, das ich auf wild spekulative Weise zu erhaschen suche." Diese Spekulationen unterscheiden tatsächlich sein heutiges Werk von dem, was er früher geschrieben hat. Aber wenn überhaupt jemand das Recht hat zu spekulieren, so ist er es, dessen fundamentale Ergebnisse gleich Felsen dastehen. Was er erstrebt, ist eine allgemeine Feldtheorie, die die strenge Kausalität der klassischen Physik bewahrt und die Anwendung der Wahrscheinlichkeit darauf beschränkt, unser Nichtwissen von den Anfangsbedingungen oder, wenn man lieber will, der Vorgeschichte aller Einzelheiten des betrachteten Systems zu verhüllen. Hier ist nicht der Ort die Frage zu erörtern, ob man das erreichen kann. Aber ich möchte eines bemerken und mich dabei Einsteins bildreicher Sprache bedienen: Wenn Gott die Welt zu einem vollkommenen mechanischen System gemacht hat, so hat er unserem unvollkommenen Verstand mindestens so viel zugestanden, daß wir, um kleine Teilvorgänge in diesem System voraussagen zu können, nicht unbedingt unzählige Differentialgleichungen lösen müssen, sondern mit Aussicht auf Erfolg zu den Würfeln greifen können. Daß das so ist, habe ich mit vielen

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Einsteins statistische Theorien

meiner Zeitgenossen von Einstein selbst gelernt. Ich denke, diese Situation hat sich durch die Einführung der Quantenstatistik nicht sehr verändert. Immer noch sind es wir sterblichen Menschen, die für unsere kleinen Zwecke der Voraussage Würfel spielen, und Gottes Wirken ist in der klassischen Brownschen Bewegung ebenso geheimnisvoll wie in der Radioaktivität und der Quantenstrahlung, oder im ganzen Leben überhaupt. Einstein hat seine Unzufriedenheit mit der modernen Physik nicht nur in allgemeiner Weise zum Ausdruck gebracht, der man in einer ähnlichen allgemeinen und unbestimmten Weise Rede und Antwort stehen könnte, sondern auch in sehr substantiierten Arbeiten, in denen er seine Einwände gegen bestimmte Behauptungen der Wellenmechanik formuliert hat. Von diesen wurde am bekanntesten seine mit Podolsky und Rosen10 gemeinsam publizierte Abhandlung. Daß diese sehr tief in die logischen Grundlagen der Quantenmechanik eingreift, ist an dem Echo erkennbar, das sie hervorrief. Niels Bohr hat ausführlich geantwortet. Schrödinger hat seine eigenen skeptischen Ansichten über die Interpretation der Quantenmechanik publiziert. Reichenbach befaßt sich mit diesem Problem in dem letzten Kapitel seines ausgezeichneten Buches "Philosophic Foundations of Quantum Mechanics" und zeigt, daß eine vollständige Behandlung der von Einstein, Podolsky und RQsen vorgebrachten Schwierigkeiten eine Revision der Logik selbst erfordert. Er führt eine "dreiwertige" Logik ein, in der es neben den Wahrheits werten "wahr" und "falsch" noch einen Zwischenwert gibt, den er "unbestimmt" nennt; mit anderen Worten, er lehnt das alte Prinzip des "tertium non datur" ab, was auch schon vorher von Brouwer und anderen Mathematikern aus rein mathematischen Gründen gefordert wurde. Ich bin kein Logiker und glaube bei solchen Disputationen immer demjenigen Fachmann, der gerade zuletzt mit mir gesprochen hat. Meine Haltung gegenüber der Statistik in der Quantenmechanik ist kaum durch formale Logik beeinflußt, und ich vermute, daß das auch für Einstein gilt. Daß seine Meinung in dieser Frage von der meinigen abweicht, ist bedauerlich, aber eine logische Auseinandersetzung zwischen uns kanu hier nicht weiterführen. Die Abweichung basiert auf einer unterschiedlichen Gesamterfahrung in unserem Werk und in unserem Leben. Aber trotzdem bleibt er mein hochverehrter Meister. Department of Mathematical Physics University of Edinburgh Schottland.

Maz Born

10 A. Einstein, B. Podolsky, N. Rosen: "Can Quantum Mechanical Description of Physical Reality be Considered Complete?" Phys. Rev., Bd. 47, S. 777 (1935).

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Niels Bohr DISKUSSION MIT EINSTEIN üBER ERKENNTNISTHEORETISCHE PROBLEME IN DER ATOMPHYSIK

Als ich von dem Herausgeber der Reihe "Living Philosophers" aufgefordert wurde, einen Beitrag zu liefern zu diesem Bande, in dem zeitgenössische Forscher den epochemachenden Einsatz Albert Einsteins auf dem Gebiete der Naturwissenschaften würdigen und die Dankbarkeit unserer heutigen Generation für den Weg, den sein Genius gewiesen hat, zum Ausdruck bringen, habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich wohl am besten die Inspiration beschreiben könnte, die ich ihm verdanke. Dabei sind mir die zahlreichen Gelegenheiten lebhaft ins Gedächtnis zurückgekommen, bei denen ich den Vorzug hatte, im Laufe der Jahre mit Einstein die erkenntnistheoretischen Probleme zu diskutieren, die die neuere Entwicklung der Atomphysik aufgeworfen hat, und ich glaube kaum, daß ich etwas Besseres beitragen könnte als einen Bericht eben dieser Diskussionen, die - wenn sie auch bisher noch nicht zu völliger Übereinstimmung geführt haben außerordentlich wertvoll und anregend für mich gewesen sind. Gleichzeitig hoffe ich, daß ein solcher Bericht weiteren Kreisen eine Vorstellung davon vermitteln kann, wie hilfreich offener Gedankenaustausch für den Fortschritt auf einem Gebiete gewesen ist, auf dem neue Erfahrungen immer wieder eine Überprüfung unserer Anschauungen gefordert haben. Der Kernpunkt, der von Anfang an zur Debatte stand, war die Haltung gegenüber Abweichungen von den gewohnten Prinzipien der Naturbeschreibung, kennzeichnend für die neuere Entwicklung der Physik, die im ersten Jahre unseres Jahrhunderts durch Plancks Entdeckung des universellen Wirkungs quantums eingeleitet wurde. Diese Entdeckung enthüllte einen Zug von Atomistik in den Naturgesetzen, der weit über die alte Lehre von der begrenzten Teilbarkeit der Materie hinausging; tatsächlich hat sie uns gezeigt, daß die klassischen Theorien der Physik Idealisierungen sind, die unzweideutig nur unter Umständen angewandt werden können, unter denen alle Wirkungen groß sind im Verhältnis zum Wirkungsquantum. Es 84

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

stand die Frage zur Diskussion, ob der Verzicht auf eine kausale Beschreibung atomarer Prozesse, der das Bestreben, die neue Situation zu meistern, kennzeichnet, als eine vorübergehende Vernachlässigung letzten Endes wieder zu ihrem Recht kommender Ideale anzusehen ist, oder ob es sich um einen unwiderruflichen Schritt auf dem Wege zur rechten Harmonie zwischen Analyse und Synthese physikalischer Erscheinungen handelt. Für die möglichst deutliche Beschreibung des Hintergrundes unserer Diskussionen sowie der Argumente für die gegensätzlichen Gesichtspunkte erscheint es mir notwendig, auf einige Hauptzüge der Entwicklung, an der Einstein selbst so entscheidenden Anteil hat, etwas eingehender zurückzugreifen. Bei der scharfsinnigen Behandlung der Probleme der Wärmestrahlung, die Planck zu seiner fundamentalen Entdeckung geführt hat, wurde er bekanntlich durch die erstmalig von Boltzmann aufgezeigte enge Beziehung zwischen den Gesetzen der Thermodynamik und statistischen Gesetzmäßigkeiten mechanischer Systeme mit vielen Freiheitsgraden angeregt. Planck beschäftigte sich in seinen Arbeiten hauptsächlich mit Betrachtungen wesentlich statistischer Art und vermied äußerst vorsichtig endgültige Aussagen darüber, in welchem Ausmaße das Bestehen des Wirkungsquantums eine Abweichung von den Grundlagen der Mechanik und der Elektrodynamik bedeutet. Einstein dagegen hat in seinem ersten bedeutsamen Beitrag zur Quantentheorie (1905) eben betont, wie im besonderen die atomaren lichtelektrischen Wirkungen individuelle Quanteneffekte unmittelbar in Erscheinung bringenl • In jenen Jahren, da Einstein mit der Entwicklung seiner Relativitätstheorie eine neue Grundlage für die Physik schuf, erforschte er tatsächlich zugleich mit verwegenem Geiste die neuen Züge der Atomistik, die weit über den Rahmen der klassischen Physik hinauswiesen. So wurde Einstein mit unfehlbarer Intuition Schritt für Schritt zu der Schlußfolgerung geleitet, daß jeder Strahlungsvorgang aus der Emission oder Absorption individueller Lichtquanten oder "Photonen" mit der Energie und dem Impuls E

=

hv

und

P

=

h (J

(1)

besteht, wobei h Plancks Konstante ist, während v und (J die Schwingungszahl per Zeiteinheit bzw. die Anzahl der Wellen per Längeneinheit ist. Ungeachtet ihrer Fruchtbarkeit brachte die Vorstellung des Photons ein ganz unvorhergesehenes Dilemma mit sich, da jedes einfache korpuskulare Bild der Strahlung offensichtlich unvereinbar mit den Interferenzeffekten ist, die ein so wesentlicher Zug der Strahlungsphänomene sind und nur im Wellenbild beschrieben werden können. Die Tatsache, daß die Interferenz1

A. Einstein, Ann. Phys. 17, 132 (1905).

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Niels Bohr

erscheinungen das einzige Mittel sind, mit dessen Hilfe wir die Begriffe Frequenz und Wellenlänge definieren können, die in den Ansatz für Energie und Impuls des Photons eingehe n, verleiht dem Dilemma besonderen Nachdruck. In dieser Situation konnte keine Rede von einem Versuch zu einer kausalen Analyse der Strahlungsphänomene sein; es konnte sich nur darum handeln, durch kllmbinierte Verwendung der kontrastierenden Bilder die Wahrscheinlichkeiten für den Ablauf individueller Strahlungs prozesse zu berechnen. Man muß sich jedo ch vergegenwärtigen, daß die Heranziehung der Wahrscheinlichkeitsgesetze unter solchen Umständen wesentlich andere Zwecke verfolgt als die bekannte Anwendung statistischer Überlegungen als praktisches Mittel zur Erklärung der Eigenschaften mechanischer Systeme von großer struktureller Mannigfaltigkeit. Tatsächlich haben wir es in der Quantenphysik nicht mit Komplikationen solcher Art zu tun, sondern mit der Unmöglichkeit, im Rahmen des klassischen Begriffsgebäudes die eigentümlichen Züge der Unteilbarkeit oder "Individualität" zu umfassen, die die elementaren Prozesse charakterisieren. Das Versagen der Theorien der klassischen Physik bei der Erforschung atomarer Prozesse zeigte sich noch deutlicher im Laufe unserer fortschreitenden Erkenntnis des Baues der Atome. Es war vor allem Rutherfords Entdeckung des Atomkerns (1911), die mit einem Schlag die Ungeeignetheit klassischer mechanischer und elektromagnetischer Begriffe für die Erklärung der dem Atom eigenen Stabilität enthüllte. Hier lieferte wiederum die Quantentheorie einen Anhaltspunkt zur Erhellung der Situation, und es bot sich im besonderen die Möglichkeit, sowohl die atomare Stabilität als auch die empirischen Gesetze, denen die Spektren der Elemente unterliegen, auf Grund der Annahme zu erklären, daß jede zu einer Änderung seiner Energie führende Reaktion des Atoms den übergang zwischen zwei sogenannten stationären Quantenzuständen mit sich führt und daß im besonderen die Spektren in einem stufenähnlichen Vorgang emittiert werden, in dem jeder übergang von der Emission eines monochromatischen Lichtquantums begleitet wird, dessen Energie genau gleich der eines Einsteinschen Photons ist. Diese Vorstellungen, die alsbald durch die Experimente von Franck und Hertz (1914) über die Anregung von Spektren durch Elektronenstöße in den Atomen bestätigt werden sollten, brachten einen weiteren Verzicht auf die kausale Beschreibungsmethode mit sich; denn offenbar setzt die Interpretation der Spektralgesetze voraus, daß ein Atom im angeregten Zustande im allgemeinen die Möglichkeit von Übergängen in den einen oder anderen seiner niedrigeren Energiezustände unter Photonenemission hat. Tatsächlich ist die Vorstellung stationärer Zustände an sich unvereinhar mit jeglicher Vorschrift für die Wahl zwischen solchen übergängen

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Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

und läßt Raum nur für den Begriff relativer Wahrscheinlichkeiten der individuellen Übergangsprozesse. Bei der Beurteilung solcher Wahrscheinlichkeiten war die einzige Grundlage die im Korrespondenzprinzip ausgedrückte Suche nach einer möglichst engen Verbindung zwischen der statistischen Beschreibung atomarer Prozesse und den auf Grund der klassischen Theorie zu erwartenden Folgen, die aber nur unmittelbar anwendbar sind unter Umständen, wo auf allen Stufen der Analyse der Phänomene die Wirkungen groß sind im Vergleich zum universellen Wirkungsquantum. Zu jener Zeit war noch keine allgemeine widerspruchsfreie Quantentheorie in Sicht; die damalige Einstellung diesen Fragen gegenüber mag jedoch vielleicht durch den folgenden Abschnitt aus einem 1913 von dem Verfasser gehaltenen Vortrag illustriert werden2 : Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt, damit Sie einsehen, wie weit die angeführten Betrachtungen von dem bewundernswert konsequenten Hegriffsschema abweichen, das mit Recht als die klassische Theorie der Elektrodynamik bezeichnet wird. Anderseits habe ich versucht, Ihnen einen Eindruck davon zu vermitteln, daß es gerade durch die starke Betonung dieser Abweichung mit der Zeit doch möglich sein sollte, einen gewissen Zusammenhang in den neuen Vorstellungen herzustellen. Ein wichtiger Fortschritt in der Entwicklung der Quantentheorie wurde von Einstein selbst in seinem berühmten Artikel von 19173 über das Strahlungsgleichgewicht gemacht. Hier zeigte er, daß Plancks Gesetz über die Wärmestrahlung in einfacher Weise aus Annahmen abgeleitet werden kann, die mit den Grundgedanken der Quantentheorie über den Bau der Atome übereinstimmen. Zu diesem Zweck formulierte Einstein allgemeine statistische Regeln über das Vorkommen von Strahlungsübergängen zwischen stationären Zuständen, wobei er nicht nur annahm, daß bei dem in einem Strahlungsfeld befindlichen Atom sowohl Absorptions- als auch Emissionsvorgänge eintreten, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit pro Zeiteinheit, die proportional der Strahlungsintensität ist, sondern daß auch ohne äußere Störungen spontane Emissionsprozesse auftreten, deren Größe einer bestimmten apriorischen Wahrscheinlichkeit entspricht. In bezug auf letzteren Punkt unterstrich Einstein den grundlegenden Charakter der statistischen Beschreibung höchst eindrucksvoll, indem er j;luf die Analogie zwischen den Annahmen über das Vorkommen spontaner Strahlungsübergänge und den wohlbekannten Gesetzen, die die Umwandlungen radioaktiver Substanzen beherrschen, aufmerksam machte. 2 N. Bohr, Fysisk Tidsskrift 12, 97 (1914). (Englische Fassung in "The Theory of Spectra and Atomic Constitution", Cambridge, University Press, 1922). 3 A. Einstein, Phys. Zschr. 18, 121 (1917).

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Niels Bohr Im Zusammenhang mit einer eingehenden Untersuchung der Forderungen der Thermodynamik in bezug auf die Strahlungsprobleme hat Einstein das Dilemma noch weiter verschärft, indem er zeigte, wie die Argumentation es mit sich bringt, daß jeder Strahlungsprozeß "eindeutig gerichtet" ist, und zwar in dem Sinne, daß nicht nur ein Impuls, der einem Photon mit der Fortpflanzungsrichtung entspricht, während des Absorptionsprozesses auf ein Atom übertragen wird, sondern daß auch das emittierende Atom einen entsprechenden Impuls in der entgegengesetzten Richtung empfängt, obwohl nach dem Wellenbild der Vorrang einer bestimmten Richtung in einem Emissionsprozeß gar nicht in Frage kommt. Einsteins eigene Haltung gegenüber so überraschenden Schlußfolgerungen findet sich in einem Satz am Ende des obenerwähnten Artikels (S. 127 f.): "Diese ... Eigenschaften der Elementarprozesse lassen die Aufstellung einer eigentlich quantenhaften Theorie der Strahlung fast unvermeidlich erscheinen. Die Schwäche der Theorie liegt einerseits darin, daß sie uns dem Anschluß an die Undulationstheorie nicht näherbringt, andererseits darin, daß sie Zeit und Richtung der Elementarprozesse dem ,Zufall' überläßt j trotzdem hege ich das volle Vertrauen in die Zuverlässigkeit des eingeschlagenen Weges." Als ich 1920 bei einem Besuch in Berlin das große Erlebnis hatte, Einstein zum erstenmal zu treffen, bildeten diese grundlegenden Fragen das Thema unserer Gespräche. Die Diskussionen, auf die ich in Gedanken oft zurückgekommen bin, fügten zu meiner großen Bewunderung für Einstein einen tiefen Eindruck von seiner vorurteilsfreien Haltung. Seine Vorliebe für so malerische Ausdrücke wie "Gespensterfelder, die die Photonen leiten", zeugte gewiß nicht von einer Neigung zum Mystizismus, sie verriet vielmehr einen tiefwurzelnden Humor hinter seinen scharfsinnigen Bemerkungen. Und doch blieh ein gewisser Unterschied in der Einstellung und dem Ausblick bestehen j denn mit seiner Meisterschaft der Koordinierung anscheinend sich widersprechender Erfahrungen, ohne auf Kontinuität und Kausalität zu verzichten, war Einstein vielleicht weniger geneigt, diese Ideale aufzugeben als jemand, dem ein solcher Verzicht als die einzige Möglichkeit erschien, das vielfältige Material aus dem Bereiche der atomaren Phänömene, das sich bei der Erforschung dieses neuen Wissensgebietes von Tag zu Tag anhäufte, zu koordinieren. In den folgenden Jahren, während derer die atomaren Probleme die Aufmerksamkeit eines rasch wachsenden Kreises von Physikern auf sich zogen, wurden die scheinbaren Widersprüche innerhalb der Quantentheorie immer schärfer empfunden. Bezeichnend dafür ist die Diskussion, 88

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die sich 1922 durch die Entdeckung des Stern· Gerlach-Effektes entspann. Einerseits brachte dieser Effekt eine schlagende Bestätigung der Vorstellung der stationären Zustände und im besonderen der von Sommerfeld entwickelten Quantentheorie des Zeeman-Effektes, anderseits stieß, wie Einstein und Ehrenfest so klar ausführten', jeder Versuch, das Verhalten von Atomen in einem magnetischen Feld anschaulich darzustellen, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Ähnliche Paradoxien entstanden durch Comptons (1924) Entdeckung der Veränderung der Wellenlänge, die die Streuung von Röntgenstrahlen durch Elektronen begleitet. Dieses Phr.nomen lieferte bekanntlich einen ganz unmittelbaren Beweis für die Ricbtigkeit von Einsteins Ansicht betreffend Übertragung von Energie und Impuls bei Strahlungsvorgängen. Gleichzeitig war es aber einleuchtend, daß kein einfaches Bild eines korpuskularen Zusammenstoßes eine erschöpfende Beschreibung des Phänomens liefern konnte. Unter dem Eindruck solcher Schwierigkeiten entstanden sogar vorübergehend Zweifel all der Erhaltung von Energie und Impuls in den individuellen Strahlungsprozessen6 • Solche Zweifel verstummten jedoch bald angesichts verfeiner· ter Experimente, die die eindeutige Beziehung zwischen dcr Photonenablenkung und dem entsprechenden Rückstoß des Elektrons klarlegten. Der Weg zur Klärung der Situation wurde erst durch die Entwicklung einer umfassenderen Quantentheorie gebahnt. Ein erster Schritt zu diesem Ziel war die Erkenntnis von de Broglie im Jahre 1925, daß der WellenTeilchen-Dualismus nicht auf die Eigenschaften der Strahlung beschränkt ist, sondern bei der Darstellung des Verhaltens materieller Teilchen ebenso unvermeidlich wird. Dieser Gedanke wurde alsbald überzeugend durch Versuche über Interferenzerscheinungen der Elektronen bestätigt und von Einstein, der die tiefgehende Analogie zwischen den Eigenschaften der Wärmestrahlung und der Gase im sogenannten entarteten Zustand bereits erfaßt hatte 6 , sofort freudig begrüßt. Die neue Linie wurde erfolgreich von Schrödinger (1926) weitergeführt, der insbesondere zeigte, wie die stationären Zustände der atomaren Systeme durch die Eigenlösungen einer Wellengleichung dargestellt werden können, wobei ihm die ursprünglich von Hamilton hervorgehobene formale Analogie zwischen mechanischen und optischen Problemen den Weg wies. Die paradoxen Aspekte der Quantentheorie waren ab.:r noch keineswegs gemildert; sie wurden vielmehr verschärft durch den scheinbaren Widerspruch zwischen den Forderungen des allgemeinen Superpositionsprinzips der Wellenbeschreibung und den individuellen Zügen der elementaren Atomprozesse. Um die gleiche Zeit hatte Heisenberg (1925) die Grundlagen einer ratio, A. Einstein und P. Ehrenfest, Zschr. f. Phys. 11, 31 (1922). iN. Bohr, H. A. Kramers und J. C. Slater, Phi!. Mag. 47, 785 (1924). • A. Einstein, Berliner Ber. 261 (1924) sowie 3 und 18 (1925).

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Niels Bohr nalen Quantenmechanik gelegt, die durch wichtige Beiträge von Born und Jordan ebenso wie von Dirac rasch weiter entwickelt wurden. Die Theorie führt einen Formalismus ein, in dem die kinematischen und dynamischen Varia beln der klassischen Mechanik durch Symbole ersetzt werden, welche einer nicht-kommutativen Algebra unterworfen sind. Trotz des Verzichtes auf den Begriff von Teilchenbahnen wurden ciie Grundgleichungen der Mechanik in der Hamiltonschen kanonischen Form unverändert beibehalten, und die Plancksche Konstante fand nur Eingang in die Vertauschungsrelationen (2) qp _. pq = 2hn'

V-i

die für jedes Paar der konjugierten VariaheIn q und p gelten. Durch Darstellung der Symbole in Form von Matrizen mit Elementen, die sich auf Übergänge zwischen stationären Zuständen beziehen, wurde eine quantitative Formulierung des Korrespondenzprinzips zum ersten Male möglich. Es sei hier daran erinnert, daß ein wichtiger vorbereitender Schritt in dieser Richtung, insbesondere durch Beiträge von Kramers, mit der Aufstellung einer Quantentheorie der Dispersion getan war, in der Einsteins allgemeine Regeln für die Wahrscheinlichkeiten, mit der Absorptions- und Emissionsprozesse auftreten, grundlegend verwendet werden. Dieser Formalismus der Quantenmechanik führte, wie Schrödinger bald nachweisen konnte, zu Ergebnissen, die identisch sind mit jenen, die man mit Hilfe der mathematisch oft bequemeren Methoden der 'Wellentheorie erzielt. In den folgenden Jahren wurden nach und nach allgemeine Methoden zur statistischen Beschreibung atomarer Prozesse ausgearbeitet, die die für die Quantentheorie charakteristischen Züge der Individualität mit den Forderungen des Superpositionsprinzips in widerspruchsfreier W'eise verbanden. Von den zahlreichen Errungenschaften aus dieser Zeit sei vor allem erwähnt, daß sich der Formalismus als geeignet erwies, das Ausschließungsprinzip mit einzubeziehen, das die Zustände von Systemen mit mehreren Elektronen regelt und von Pauli bereits vor der Aufstellung der Quantenmechanik auf Grund einer Analyse der atomaren Spektren abgeleitet worden war. Die quantitative Erfassung eines großen empirischen Beweismaterials ließ zwar keinen Zweifel mehr an der Fruchtbarkeit und Angemessenheit des quantenmechanischen Formalismus zu, sein abstrakter Charakter verursachte jedoch ein weitverbreitetes Gefühl der Unbefriedigtheit. Eine Klärung der Sachlage verlangt in der Tat eine gründliche Untersuchung des Beobachtungsproblems in der Atomphysik. Diese Phase der Entwicklung wurde bekanntlich 1927 von Heisenberg7 eingeleitet, der darauf hinwies, daß die über den Zustand eines atomaren 7 \.".

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Hcisenberg, Zschr.

r.

Phys. '.3, 172 (1927).

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Systems zu gewinnende Kenntnis immer mit einer eigentümlichen "Unbestimmtheit" behaftet sei. So muß jede Messung der Lage eines Elektrons mit Hilfe eines Meßgerätes, z. B. eines mit hochfrequenter Strahlung arbeitenden Mikroskops, nach den grundlegenden Gleichungen (1) mit einem Impulsaustausch zwischen Elektron und Meßgerät verbunden sein, der um so größer ist, eine je genaucre Messung der Lage angestrebt wird. Indem Heisenberg solche Überlegungen mit den Forderungen des quantenmechanischen Formalismus verglich, lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die Vertauschungsrelation (2) der Fixierung zweier konjugierter Variabeln, q und p, eine reziproke Begrenzung auferlegt, die durch das Verhältnis (3) ausgedrückt wird, wobei L1 p und L1 q passend definierte Unschärfen bei der Bestimmung dieser Variabeln sind. Unter Hinweis auf die enge Beziehung zwischen der statistischen Beschreibungsmethode der Quantenmechanik und den tatsächlichen Messungsmöglichkeiten ist, wie Heisenberg zeigte, diese sogenannte Unbestimmtheitsrelation von größter Bedeutung bei der Erklärung der Paradoxien, die die Versuche einer Analyse der Quantcneffekte unter Bezugnahme auf übliche physikalische Bilder mit sich führen. Auf dem Internationalen Physikerkongreß in Corno, im September 1927, der als Gedächtnisfeier für Volta abgehalten wurde, bildeten die Errungenschaften der Atomphysik den Gegenstand eingehender Diskussionen. Bei dieser Gelegenheit trat ich in einem VortragS für einen Gesichtspunkt ein, der durch den Begriff "Komplementarität" kurz bezeichnet werden kann und geeignet ist, die typischen Züge der Individualität von Quantenphänomenen zu erfassen und gleichzeitig die besonderen Aspekte des Beobachtungsproblems innerhalb dieses Erfahrungsgebietcs klarzulegen. Hierfür ist die Erkenntnis entscheidend, daß, wie weit auch die Phänomene den Bereich klassischer physikalischer Erklärung überschreiten mögen, die Darstellung aller Erfahrung in klassischen Begriffen erfolgen muß. Die Begründung hierfür ist einfach die, daß wir mit dem Wort "Experiment" auf eine Situation hinweisen, in der wir anderen mitteilen können, was wir getan und was wir gelernt haben, und daß deshalb die Versuchsanordnung und die Beobachtungsergebnisse in klar verständlicher Sprache unter passender Anwendung der Terminologie der klassischen Physik beschrieben werden müssen. Aus diesem entscheidenden Punkte, der zum Hauptthema der im folgenden berichteten Diskussion wurde, folgt die Unmöglichkeit einer scharten Trennung zwischen dem Verhalten atomarer Objekte und der Wechsel8 Atti dei Congresso Internazionale dei Fisici, Corno, Setternbre 1927 (abgedruckt auch in Nature 121, 78 und 580, 1928).

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wirkung mit den Meßgeräten, die zur Definition der Bedingungen dienen, unter welchen die Phänomene erscheinen. Tatsächlich findet die Individualität der typischen Quanteneffekte ihren logischen Ausdruck in dem Umstande, daß jeglicher Versuch einer Unterteilung eine Änderung in der Versuchsanordnung verlangt und somit neue, prinzipiell unkontrollierbare Möglichkeiten der Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meß· geräten herbeiführt. Demzufolge kann das unter verschiedenen Versuchsbedingungen gewonnene Material nicht mit einem einzelnen Bilde erfaßt werden; es ist vielmehr als komplementär in dem Sinne zu betrachten, daß erst die Gesamtheit aller Phänomene die möglichen Aufschlüsse über die Objekte erschöpfend wiedergibt. Unter diesen Umständen findet sich ein wesentliches Element von Mehrdeutigkeit in den atomaren Objekten zuzuschreibenden üblichen physikalischen Eigenschaften; dies tritt unmittelbar zutage in dem Dilemma betreffend Korpuskel- und Welleneigenschaften der Elektronen und Photonen, bei denen wir es mit kontrastierenden Bildern zu tun haben, von denen jedes eine wesentliche Seite der Erfahrung darstellt. Ein lehrreiches Beispiel dafür, wie die anscheinenden Paradoxien durch eine Untersuchung der Versuchs bedingungen beseitigt werden können, unter denen die komplementären Phänomene erscheinen, bietet wiederum der Compton-Effekt, dessen widerspruchsfreie Beschreibung anfänglich so große Schwierigkeiten bereitet hat. Jede Anordnung, die zum Studium des Energie- und Impulsaustausches zwischen Elektronen und Photonen geeignet ist, muß somit notwendig einen Spielraum für die raumzeitliche Beschreibung des Vorgangs offen lassen, der für die Definition der in die Gleichung (1) eingehenden Wellenzahl und Frequenz ausreicht. Umgekehrt würde jeder Versuch einer genaueren Ortsbestimmung des Zusammenstoßes zwischen dem Photon und dem Elektron - wegen der unvermeidlichen Wechselwirkung mit den fixierten Meßstäben und Uhren, die das raumzeitliche Bezugssystem definieren - eine genauere Rechenschaft über die Impuls- und Energiebilanz unmöglich machen. Wie in dem Vortrag betont, liefert gerade der quantenmechanische Formalismus ein für die komplementäre Beschreibungsmethode geeignetes Werkzeug. Dieser Formalismus ist nämlich ein rein symbolisches Schema, das im Rahmen des Korrespondenzprinzips nur solche Voraussagen über Ergebnisse gestattet, die unter mit klassischen Begriffen gekennzeichneten Bedingungen erzielt werden können. Es darf hier daran erinnert werden, daß wir es insbesondere in der Unbestimmtheitsrelation (3) mit einer Konsequenz des Formalismus zu tun haben, welche eine unzweideutige Ausdrucksweise in Worten unmöglich macht, die zur Beschreibung klassischphysikalischer Phänomene geeignet sind. So muß sich bei einem Satze wie "Wir können nicht gleichzeitig den Impuls und die Lage eines atomaren

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Objektes erkennen" sofort die Frage nach der physikalischen Realität zweier solcher Attribute des Objektes erheben, und diese Frage kann nur unter Bezugnahme auf die Bedingungen für den unzweideutigen Gebrauch raumzeitlicher Begriffe einerseits und dynamischer Erhaltungsgesetze anderseits beantwortet werden. Während die Zusammenfassung dieser Begriffe innerhalb eines einzigen geschlossenen Bildes einer Kausalkette von Vorgängen das Wesen der klassischen Mechanik ausmacht, wird für Gesetzmäßigkeiten außerhalb der Tragweite einer solchen Beschreibung .gerade durch den Umstand Raum gelassen, daß das Studium komplementärer Phänomene Versuchsanordnungen verlangt, die sich gegenseitig ausschließen. Die in der Atomphysik vorliegende Notwendigkeit einer erneuten Überprüfung der Grundlagen für die zulässige Anwendung elementarer physikalischer Ideen erinnert in gewissem Sinne an die Situation, die Einstein zu seiner ursprünglichen Revision der Grundlagen für jegliche Anwendung der raumzeitlichen Begriffe geführt hat und die dureh ihre Betonung der fundamentalen Bedeutung des Beobaehtungsproblems unserem Weltbild eine so starke Einheitlichkeit verliehen hat. Trotz aller Neuartigkeit der Betrachtungsweise wird die kausale Beschreibung in der Relativitätstheorie innerhalb jedes gegebenen Bezugssystems beibehalten; in der Quantenmechanik zwingt indessen die unkontrollierbare Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meßgeräten zu einem Verzicht sogar in dieser Hinsicht. Diese Erkenntnis weist jedoch keineswegs auf eine Begrenzung der quantenmechanischen Beschreibung hin, und mit der in meinem Vortrag in Corno angeführten Argumentation war es eben beabsichtigt, zu zeigen, daß der Komplementaritätsgesichtspunkt als eine rationelle Verallgemeinerung des Kausalitätsideals anzusehen ist.

Bei der allgemeinen Diskussion in Corno ver mißten wir alle die Teilnahme Einsteins, aber bald danach, im Oktober 1927, hatte ich Gelegenheit, ihn in Brüssel auf dem 5. Physikalischen Kongreß des Solvay-Instituts zu treffen, der dem Thema "Elektronen und Photonen" gewidmet war. Auf den Solvay-Tagungen war Einstein ja von Anfang an eine der markantesten Persönlichkeiten, und zu dieser Sitzung waren viele von uns mit großer Spannung gekommen, um Einsteins Reaktion auf den neuesten Stand der Entwicklung zu erfahren, der unserer Ansicht nach eine befriedigende Klärung der Probleme gebracht hatte, die von ihm selbst zuerst so scharfsinnig aufgeworfen worden waren. Während der Diskussionen wurde das Thema durch Beiträge von vielen Seiten beleuchtet und die im Vorhergehenden erwähnten Argumente erneut vorgetragen. Einstein hingegen gab seiner tiefen Besorgnis darüber Ausdruck, daß in der Quanten93

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mechanik von einer kausalen Beschreibung in Raum und Zeit so weitgehend Abstand genommen wurde. Um seine Haltung zu veranschaulichen, verwies Einstein in einer der Sitzungen9 auf das einfache, in Fig. 1 dargestellte Beispiel eines Teilchens (Elektron oder Photon), das durch ein Loch oder einen engen Schlitz in einem Schirm dringt, der in einiger Entfernung vor einer photographischen Platte aufgestellt ist. Infolge der Beugung der mit der Bewegung des Teilchens verbundenen Welle, die in der Abbildung mit dünnen Strichen angegeben ist, kann man unter solchen Bedingungen nicht mit Sicherheit voraussagen, an welchem Punkte das Elektron auf die photographische Platte auftreffen wird: man kann nur die Wahrscheinlichkeit berechnen,

A (ß)

Fig.1

mit der das Elektron bei einem Versuch in irgendeinem gegebenen Bereich der Platte gefunden wird. Die scheinbare Schwierigkeit dieser Beschreibung, die Einstein so stark em?fand, ist folgende Tatsache: Wenn in dem Versuch das Elektron an einem Punkte A der Platte registriert wurde, dann ist es unm5glich, daß ein Effekt dieses Elektrons jemals an einem anderen Punkte (B) beobachtet werden könnte, obwohl die G3setze der gewöhnlichen Wellenfortpflanzung für einen Zusammenhang zweier solcher Vorgänge keinen Spielraum lassen. Einsteins Haltung entfesselte eifrige Diskussionen in einem kleineren Kreis, und Ehrenfest, der mit uns beiden seit vielen Jahren eng befreundet war, beteiligte sich h_ieran in außerordentlich lebhafter und förd3rnler Weise. Selbstverständlich erkannten wir alle, daß in dem obigen B~ispiel die Situation kein Analogon zur Anwendllng von Statistik bei der Behandlung komplizierter m3chanischer Systeme ist. Sie erinnerte vielm}hr an die Voraussetzungen für Einsteins eigene früher gemlchte Schluß9 Institut Internatilnal de Physilue Solvay, Rapport et discussions du 5e Conseil, Paris (1928) 2531T.

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folgerungen über die eindeutige Richtung individueller Strahlungseffekte, die in so schroffem Gegensatz zu einem einfachen Wellenbilde steht (vgl. S.119). Die Diskussionen kreisten indessen um die Frage, ob die quantenmechanisehe Beschreibungsweise die beobachtbaren Phänomene erschöpfe oder ob, wie Einstein behauptete, die Analyse weitergetrieben werden und im besonderen eine erschöpfendere Beschreibung der Phänomene dadurch erreicht werden könne, daß die genaue Bilanz von Energie und Impuls in individuellen Vorgängen mit in Betracht gezogen wird. Zur Erläuterung des Gedankenganges in Einsteins Argumenten sollen hier einige einfache Züge des Gleichgewichts von Impuls und Energie in Verbindung mit der Ortsbestimmung eines Teilchens in Raum und Zeit betrachtet werden. Zu diesem Zweck wollen wir den einfachen Fall eines

Fig.2a

Fig.2b

Teilchens untersuchen, das durch ein Loch in einer Blende dringt, die entweder (Fig. 2a) immer offensteht oder (Fig. 2b) mit einem Schieber zum Öffnen und Schließen des Loches versehen ist. Die äquidistanten, parallelen Linien auf der linken Seite der Abbildung deuten den ebenen Wellenzug an, der dem Bewegungszustand eines Teilchens entspricht, das vor Er"eichung der Blende einen Impuls P hat, verknüpft mit der Wellenzahl (J durch die zweite Gleichung (1). Infolge der Beugung der Wellen beim Durchgang durch das Loch entspricht der Bewegungszustand des Teilchens rechts von der Blende einem sphärischen Wellenzug mit passend definierter Winkelöffnung {} und im Falle von Fig. 2 b auch mit begrenzter radialer ,\usbreitung. Die Beschreibung dieses Zustandes umfaßt folglich einen gewissen Spielraum LI p in der Impulskomponente des Teilchens parallel zur Blendenebene und, im Falle einer Blende mit Verschluß, einen zusätzlichen :-1pielraum LI E seiner kinetischen Energie. Da ein Maß für die Unschärfe LI q in der Ortsbestimmung des Teilchens auf der Blendenebene durch den Radius a des Loches gegeben, und da {) ~ (1J(J a) ist, erhalten wir unter Verwendung von (1) eben LI p ~ {} P

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~ (hf L1 q), in übereinstimmung mit der Unbestimmtheitsrelation (3). Dieses Ergebnis könnte man auch unmittelbar auf Grund der Feststellung erhalten, daß - infolge der begrenzten Ausbreitung des Wellenfeldes an der Stelle des Loches - die Komponente der Wellenzahl parallel zur BIendenebene nur innerhalb eines Spielraumes L1 (1 ~ (1Ia) ~ (1/ L1 q) definiert ist. Ähnlich ist die Breite der Frequenzverteilung der harmonischen Komponenten in dem begrenzten Wellenzug von Fig.2b offensichtlich A v ~ (1fL1 t), wobei L1 t den Zeitraum bezeichnet, während dessen der Schieber das Loch offenhält und somit den zeitlichen Spielraum darstellt, während dessen das Teilchen die Blende passiert. Aus der Formel (1) erhalten wir danach L1E·L1tl'l::$h, (4)

wiederum in übereinstimmung mit der Gleichung (3) für die beiden konjugierten Variabeln E und t. Vom Standpunkt der Erhaltungsgesetze kann der Ursprung solcher Unhestimmtheiten, die in die Beschreibung des Zustandes des Teilchens nach seinem Durchgang durch das Loch eingehen, auf die Möglichkeit des Impuls- und Energieaustausches mit der Blende oder dem Schieber zurückgeführt werden. In dem in Fig. 2a und 2b betrachteten Bezugssystem kann die Geschwindigkeit der Blende vernachlässigt werden, und man braucht nur einen Austausch des Impulses L1 p zwischen Teilchen und Blende zu berücksichtigen. Der Schieber aber, der das Loch während der Zeit L1 toffenhält, bewegt sich mit einer beträchtlichen Geschwindigkeit 1) ~ (al L1 t), und eine Impulsübertragung L1 p schließt deshalb einen Energieaustausch mit dem Teilchen von der Größe v L1 p ~ (1/ L1 t) L1 q L1 p 1'1::$ (h/ L1 t) in sich, der eben von der gleichen Größenordnung ist wie der durch (4) gegebene Spielraum L1 E und folglich der Forderung der Erhaltung von Impuls und Energie genügt. Das von Einstein aufgeworfene Problem war nun, inwieweit eine Kontrolle der mit der Ortsbestimmung des Teilchens in Raum und Zeit verbundenen übertragung von Impuls und Energie für eine weiter ins Einzelne gehende Beschreibung des Zustandes des Teilchens nach seinem Durchgang durch das Loch verwendet werden könne. Hierbei müssen wir die Tatsache im Auge behalten, daß bisher Lage und Bewegung von Blende und Schieber als genau mit dem raumzeitlichen Bezugssystem koordiniert angenommen wurden. Bei der Beschreibung des Zustandes dieser Körper läßt diese Annahme einen wesentlichen Spielraum für Energie und Impuls, der natürlich die Geschwindigkeiten nicht merklich zu beeinflussen braucht, wenn Blende und Schieber genügend schwer sind. Sobald wir allerdings Impuls und Energie solcher Teile der Meßanordnung mit einer Genauigkeit kennenlernen wollen, die für die Kontrolle des Impuls- und Energieaustausches mit dem zu untersuchenden Teilchen genügt, verlieren wir - in

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übereinstimmung mit den allgemeinen Unbestimmtheitsrelationen - die Möglichkeit seiner genauen Ortsbestimmung in Raum und Zeit. Wir müssen darum prüfen, wie weit dieser Umstand den beabsichtigten Gebrauch der ganzen Anordnung beeinflußt, und gerade dieser Kardinalpunkt offenbart, wie wir sehen werden, den komplementären Charakter der Phänomene. Wenn wir uns einen Augenblick erneut dem Falle der einfachen Anordnung zuwenden, die in Abb. 1 dargestellt ist, müssen wir bedenken, daß bisher noch nicht genauer erklärt wurde, wozu sie benutzt werden soll. Tatsächlich ist es nur unter der Annahme, daß Blen'de und Platte wohldefinierte Positionen im Raum haben, im Rahmen des quantenmechanischen Formalismus möglich, genauere Voraussagen darüber zu machen, in welchem Punkt das Teilchen auf die photographische Platte auftreffen wird. Wenn wir aher genügend große Unschärfe in der Kenntnis der Lage der Blende zulassen, sollte es im Prinzip möglich sein, die Impulsübertragung auf die Blende zu kontrollieren und damit genauere Voraussagen über die Richtung des Elektronenweges vom Loch zum Punkt des Auftreffens zu machen. In bezug auf die quantenmechanische Beschreibung haben wir es hier mit eincm Zweikörpersystem zu tun, das aus der Blende und dem Teilchen besteht; beim Compton-Effekt haben wir uns gerade mit der direkten Anwendung der Erhaltungsgesetze auf ein solches System zu befassen, wo z. B. die Beobachtung des Elektroncnrückstoßes mit Hilfe einer Nebelkammer Voraussagen darüber ermöglicht, in welcher Richtung das gestreute Photon schließlich zu beobachten sein wird. Im Laufe der Diskussionen wurde die Wichtigkeit derartiger Betrachtungen in höchst interessanter Weise beleuchtet durch die Unttrsuchung einer'Anordnung, bei der zwischen dem Schirm mit dem Schlitz und der photographischen Platte ein zweiter Schirm mit zwei gleichlaufenden Schlitzen angebracht ist, wie dies Fig.3 zeigt. Wenn ein paralleler Strahl von Elektronen (oder Photonen) von links her auf die erste Blende fällt, werden wir unter gewöhnlichen Versuchsbedingungen ein Interferenzmuster beobachten, das durch Schattierung auf der photographischen Platte angedeutet und im rechten Teil der Abbildung in Frontalansicht wiedergegeben ist. Bei intensiver Strahlung wird dieses Muster durch Ansammlung zahlreicher Einzelprozesse aufgebaut, von denen jeder einen kleinen Fleck auf der photographischen Platte erzeugt. Die Verteilung dieser Flecke folgt einem einfachen, aus der Wellenanalyse ableitbaren Gesetz. Die gleiche Verteilung müßte man auch aus der Statistik üher eine große Zahl von Versuchen finden, die mit so schwacher Strahlung ausgeführt wurden, daß bei einer einzigen Belichtung nur ein Elektron (oder Photon) die photographische Platte erreichen und an einem Punkte auftreffen wird, 80 wie es in der Abbildung mit einem Sternchen angedeutet ist. Da nun, wie die gestrichelten Pfeile angeben, der auf die erste Blende übertragene

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Impuls verschieden sein sollte, je nachdem man annimmt, daß das Elektron durch den unteren oder den oberen Schlitz in der zweiten Blende fliegt, vertrat Einstein die Auffassung, daß eine Kontrolle der Impulsübertragung eine genauere Analyse des Vorganges gestatten würde und im besonderen die Entscheidung ermöglichen sollte, durch welchen der beiden Schlitze das Elektron vor seinem Auftreffen auf die Platte hindurchgegangen ist.

Fig.3

Eine genauere Prüfung zeigte indessen, daß der vorgeschlagenen Kontrolle der Impulsübertragung eine Unschärfe bezüglich der Kenntnis der Lage der Blende anhaftet, die das Auftreten der in Frage stehenden Interferenzphänomene ausschließen würde. Tatsächlich wird, wenn w den kleinen Winkel zwischen den vermuteten Bahnen eines Teilchens durch den oberen oder unteren Schlitz bezeichnet, die Differenz der Impulsübertragung in bei den Fällen gemäß (1) gleich haw sein, und jede Kontrolle des Blendenimpulses mit einer zur Messung dieser Differenz ausreichenden Genauigkeit wird infolge der Unbestimmtheitsrelation einen mit 1/aw vergleichbaren Minimalspielraum der Lage der Blende einschließen. Wenn die Blende mit den beiden Schlitzen, wie in der Abbildung, in der Mitte zwischen der ersten Blende und der photographischen Platte aufgestellt ist, sieht man, daß die Zahl der Fransen pro Längeneinheit genau gleich aw ist; da ferner eine Unsicherheit 1/aw in der Lage der ersten Blende eine gleiche Unsicherheit in den Lagen der Fransen verursacht, kann folglich keine Interferenzwirkung erscheinen. Das gleiche Ergebnis erhält man, wie sich leicht zeigen läßt, für jede andere Stellung der zweiten Blende zwischen der ersten und der Platte, und es bliebe auch dasselbe, wenn wir anstatt der ersten Blende einen anderen dieser drei Körper zur Kontrolle der Impulsübertragung für den vorgeschlagenen Zweck verwendeten. Dieser Punkt ist von großer logischer Tragweite, denn nur der Umstand, daß wir vor der Wahl stehen, entweder den Weg eines Teilchens zu verfolgen oder Interferenzwirkungen zu beobachten, gestattet es uns, dem paradoxen Schluß zu entgehen, daß das Verhalten eines Elektrons oder

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Photons von dem Vorhandensein eines Schlitzes im Schirm abhängen sollte, durch den es nachweisbar nicht hindurchgegangen ist. Wir haben hier ein typisches Beispiel dafür, wie die komplementären Phänomene unter sich gegenseitig ausschließenden Versuchsanordnungen (vgl. S.123) auftreten, und wir stehen bei der Analyse der Quanteneffekte vor der Unmöglichkeit, eine scharfe Trennungslinie zwischen einem unabhängigen Verhalten atomarer Objekte und ihrer \Vechselwirkung mit den Meßgeräten zu ziehen, die zur Definition der Bedingungen für das Auftreten der Phänomene dienen. Unsere Gespräche über die Haltung, die angesichts einer neuen Situation in bezug auf Analyse und Synthese der Erfahrungen einzunehmen ist, rührten natürlich an viele Seiten philosophischen Denkens; aber trotz aller Yerschiedenheiten der Ausgangspunkte und der Meinungen waren die Diskussionen von humorvollem Geiste beseelt. Einstein seinerseits fragte uns ironisch, ob wir denn wirklich glauben könnten, daß die göttlichen Mächte ihre Zuflucht zum \Vürfelbecher nähmen (" ... ob der liebe Gott würfelt"), und ich antwortete darauf mit dem Hinweis auf die bereits von den Denkern des Altertums geforderte große Vorsicht, die geboten ist, wenn man der Vorsehung Eigenschaften in der Umgangssprache zuschreibt. Ich erinnere mich auch daran, wie Ehrenfest auf dem Höhepunkt der Diskussion in der ihm eigenen liebenswürdigen Art, seine Freunde zu necken, auf die offensichtliche Analogie zwischen Einsteins Haltung und jener der Gegner der Relativitätstheorie hinwies. Aber gleich darauf fügte Ehrenfest hinzu, daß er seine Seelenruhe nicht finden könne, bevor Übereinstimmung mit Einstein erreicht sei. Einsteins Bedenken Und Kritik spornten uns alle in höchst wertvoller \Veise dazu an, die verschiedenen Aspekte der Situation bei der Beschreibung atomarer Phänomene einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Für mich waren sie ein willkommener Anlaß, die Rolle der Meßgeräte noch weiter zu klären; und um den sich wechselseitig ausschließenden Charakter der Versuchsbedingungen, unter denen die komplementären Phänomene auftreten, möglichst deutlich zu veranschaulichen, versuchte ich damals verschiedene Apparate in einem pseudorealistischen Stil zu skizzieren, wovon in den folgenden Abbildungen einige Beispiele wiedergegeben werden. Für das Studium eines Interferenzphänomens der in Fig. 3 gezeigten Art liegt es nahe, eine Versuchsanordnung zu verwenden, die in Fig. 4 gezeigt wird. Hier sind die als Schirme und Plattenständer dienenden festen Apparatteile auf einer gemeinsamen Grundplatte mit Bolzen festgemacht. In einer solchen Anordnung, die unsere Kenntnis der relativen Lagen der Blenden und der Platte durch eine starre Verbindung sichert, ist es offenbar unmöglich, die zwischen dem Teilchen und den einzelnen Apparatteilen ausgetauschten Impulse zu kontrollieren. Die emzlge Möglichkeit, bei

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einer solchen Anordnung sicher festzustellen, daß das Teilchen durch einen der Schlitze im zweiten Schirm hindurchgegangen ist, besteht darin, den anderen Schlitz durch einen Schieber zu verdecken, wie aus Fig. 4 ersichtlich ist. Wenn der Schlitz aber verdeckt ist, können natürlich keine Interferenzen auftreten, und wir werden auf der Platte einfach eine kontinuierliche Verteilung beobachten, entsprechend dem Falle des einen befestigten Schirmes in Fig. 1. Beim Studium der Phänomene, zu deren Beschreibung wir es mit einem genauen Impulsgleichgewicht zu tun haben, müssen sich natürlich gewisse Teile der Gesamtapparatur frei bewegen können. Fig. 5 zeigt eine solche

Fig.4

Apparatur, in der ein Schirm mit einem Schlitz an schwachen Federn von einem festen Joch herabhängt. Das Joch ist an der Grundplatte angeschraubt, an der die anderen unbeweglichen Teile der Anordnung gleichfalls zu befestigen sind. Mit Hilfe der Skala am Schirm und des Zeigers an den Jochträgern kann man die Bewegung des Schirmes in der Weise studieren, wie es für eine Schätzung des auf den Schirm übertragenen Impulses erforderlü,h ist. Damit wird es möglich, Schlüsse auf die Beugung zu ziehen, die das Teilchen bei seinem Durchgang durch den Schlitz erleidet. Da aber jede Ablesung auf der Skala, wie man sie auch immer vornehmen mag, eine unkontrollierbare Veränderung des Schirmimpulses mit sich führt, wird in Übereinstimmung mit dem Unbestimmtheitsprinzip ständig eine reziproke \Vechselbeziehung zwischen unserer Kenntnis der Lage des Schlitzes und der Genauigkeit der Impulskontrolle bestehen. In dem gleichen halbernsten Stile zeigt Fig. 6 einen Teil einer dem Studium von Phänomenen angepaßten Versuchs anordnung, welche - im Gegensatz zu den bereits besprochenen - Zeitzuordnung direkt mitein100

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schließt. Sie besteht aus einer Verschlußanordnung, in welcher der Schieber mit einer kräftigen Uhr fest verbunden ist; diese ist wiederum auf derselben Grundplatte befestigt, die den Schirm trägt und auf welcher weitere Apparatteile zu befestigen sind, die entweder durch dasselbe Uhrwerk oder andere damit synchronisierte Uhren reguliert werden können. Die Figur soll die Tatsache hervorheben, daß eine Uhr ein Stück einer Maschinerie ist, deren Wirkungsweise unter Anwendung der gewöhnlichen Mechanik vollständig beschrieben werden kann und weder durch Ablesungen der

Fig.5

Lage ihrer Zeiger noch durch die Wechselwirkung zwischen ihren Einzelteilen und einem atomaren Teilchen beeinflußt wird. Da eine Apparatur dieses Typus das Öffnen des Loches in einem bestimmten Augenblick gewährleistet, könnte sie beispielsweise für eine genaue Messung der Zeit verwendet werden, die ein Elektron oder Photon braucht, um von der Blende zu einer anderen Stelle zu gelangen; sie würde aber offensichtlich keine Möglichkeit zur Messung der Energieübertragung auf den Schieber bieten, um daraus Rückschlüsse auf die Energie des durch die Blende geflogenen Teilchens zu erlauben. \Venn wir uns für solche Rückschlüsse interessieren, müssen wir natürlich eine Anordnung benützen, in der die Schiebervorrichtung nicht mehr als genaues Uhrwerk dienen kann, in der vielmehr die zeitliche Festlegung des Augenblicks, während dessen das Loch offen ist, einen Spielraum läßt, der mit der Genauigkeit der Energiemessung durch die allgemeine Formel (4) verknüpft ist. 101

Niels Bohr

Die Betrachtung derartiger mehr oder weniger realisierbarer Anordnungen und ihres mehr oder minder fiktiven Gebrauches erwies sich als außerordentlich lehrreich durch die Richtung unserer Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Züge der Probleme. Der Kardinalpunkt hierbei ist die Unterscheidung zwischen den zu erforschenden Objekten und den Meßgeräten, die dazu dienen, auf Grund von Begriffen der klassischen Physik die Bedingungen zu definieren, unter denen die Phänomene erscheinen. Wir wollen hier nur beiläufig erwähnen, daß es zur Veranschaulichung der vorangehenden Betrachtungen nicht wesentlich ist, ob Experimente, die eine genaue Kontrolle der Übertragung von Impuls und Energie von ato-

Fig.6

maren Teilchen auf schwere Körper, wie Schirme, Blenden und Schieber, bezwecken, sehr schwierig, falls überhaupt ausführbar sind. Entscheidend ist nur, daß diese Körper - im Gegensatz zu den eigentlichen Meßgeräten - zugleich mit den Teilchen in einem solchen Falle das System bilden, auf das der quantenmechanische Formalismus Anwendung finden soll. Mit Rücksicht auf die ins Einzelne gehende Spezifizierung der Bedingungen für irgend eine wohldefinierte Anwendung dieses Formalismus ist es außerdem wesentlich, daß die gesamte Versuchsanordnung miteinbezogen wird. Tatsächlich würde der Einbau jedes weiteren Apparatteiles, etwa eines Spiegels, in den Weg eines Teilchens neue Interferenzeffekte verursachen, die die Voraussagen über die schließlich zu registrierenden Ergebnisse wesentlich beeinflussen. Das Ausmaß des Verzichtes auf die Veranschaulichung atomarer Phänomene, der uns durch die Unmöglichkeit ihrer Unterteilung auferlegt wird, 102

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

geht treffend aus folgendem Beispiel hervor, auf das Einstein unsere Auf. merksamkeit sehr frühzeitig gelenkt und auf das er oft zurückgegriffen hat. "Venn ein halbreflektierender Spiegel auf dem Wege eines Photons angebracht wird und diesem zwei Möglichkeiten für seine Ausbreitungsrichtung läßt, so kann das Photon entweder auf einer und nur einer von zwei photographischen Platten registriert werden, die in großen Entfernungen voneinander in den bei den fraglichen Richtungen stehen, oder aber wir können beim Ersatz der Platten durch Spiegel Effekte beobachten, die eine Interferenz zwischen den zwei reflektierten Wellenzügen zeigen. Bei jedem Versuch einer anschaulichen Darstellung des Verhaltens des Photons würden wir also folgender Schwierigkeit begegnen: Wir müßten einerseits sagen, daß das Photon immer einen der heiden Wege wählt, anderseits aber, daß es sich verhält als ob es heide Wege durchlaufen hätte. Gerade derartige Argumente erinnern an die Onmöglichkeit Quantenphänomene zu unterteilen, und sie decken die Mehrdeutigkeit auf, die der Ausstattung atomarer Objekte mit gewohnten physikalischen Eigenschaften anhaftet. Man muß sich insbesondere klar machen, daß - neben der raumzeitlichen Beschreibung der Instrumente, die die Versuchsanordnung bilden - jede wohldefinierte Verwendung raumzeitlicher Begriffe bei der Beschreibung atomarer Phänomene auf die Registrierung von Beobachtungen beschränkt ist, die sich auf Spuren auf einer photographischen Platte oder ähnliche, praktisch irreversible Verstärkungseffekte beziehen, wie etwa die Bildung eines Wassertropfens um ein Ion in der Wilsonkammer. Obwohl natürlich letzten Endes die Existenz des Wirkungsquantums verantwortlich ist für die Eigenschaften des Materials, aus dem die Meßgeräte angefertigt sind und von dem das Funktionieren der Registrierapparate abhängt, kommt dieser Umstand für die Probleme der Angemessenheit und Vollständigkeit quantenmechanischer Beschreibung in ihren hier besprochenen Aspekten nicht direkt in Frage. Diese Probleme wurden von verschiedenen Seiten auf dem SolvayKongreßlO in der gleichen Sitzung, in der Einstein seine allgemeinen Einwände erhob, aufschlußreich diskutiert. Dabei entstand eine interessallte Debatte darüber, wie man vom Auftreten von Erscheinungen sprechen solle, für die nur statistische Voraussagen gemacht werden können. Die Diskussion drehte sich um die Frage, ob man beim Auftreten von Einzeleffekten die von Dirac vorgeschlagene Terminologie anwenden solle, nach der wir es mit einer Wahl von seiten der "Natur" zu tun haben, oder ob wir in Heisenbergs Ausdrucksweise von einer Wahl seitens des "Beobachters", der die Meßgeräte konstruiert und ihre Resultate abliest, sprechen sollen. Jede solche Terminologie würde aber zweifelhaft erscheinen; denn einer10

Ibid., 248 ff.

103

Niels Bohr

scits ist es kaum angängig, die Natur mit Willen im üblichen Sinne auszustatten, während es anderseits dem Beobachter sicher nicht möglich ist, die Vorgänge zu beeinflussen, die unter den von ihm geschaffenen Bedingungen ablaufen. Es gibt meiner Meinung nach keinen anderen Ausweg als zuzugeben, daß wir es auf diesem ErfahrungsgeLiete mit individuellen PhÜllOmenen zu tun haben, und daß unsere Möglichkeiten, die :\leßgeräte zu gebrauchen, uns nur die Wahl lassen zwischen den verschiedenen komplementären Phänomentypen, die wir untersuchen wollen. Die hier berührten erkenntnistheoretischen Probleme wurden ausführlicher in meinem Beitrag zu dem aus Anlaß von Plancks 70. Geburtstag herausgegebenen Festheft der "Naturwissenschaften" im Jahre 1929 behandelt. Dieser Artikel enthält auch einen Vergleich zwischen der Belehrun~, die uns die Entdeckung des universellen 'Virkungsquantums gebracht hat, und der Entwicklung, die auf die Entdeckung der endlichen Lichtgeschwindigkeit folgte und durch die dank Einsteins bahnbrechendem Werk die Grundprinzipien der Naturbeschreibung so weitgehende Klärung gefunden haben. Durch den Nachdruck, den die Relativitätstheorie auf die Abhängigkeit aller Phänomene vom Bezugssystem legt, wurden ganz neue Wege zur Entdeckung allgemeiner physikalischer Gesetze von beispielloser Tragweite eröffnet. In der Quantentheorie, so argumentierte ich, führt das logische Erfassen bisher ungeahnter fundamentaler Gesetzmäßigkeiten, die die atomaren Vorgänge beherrschen, zu der Erkenntnis, daß kcine scharfe Trennung zwischen dem unabhängigen Verhalten der Objekte und ihrer Wechselwirkung mit den das Bezugssystem definierenden Meßgeräten gemacht werden kann. In dieser Beziehung stellt uns die Quantentheorie vor eine neue Situation in der physikalischen Wissenschaft. Ich habe aber darauf hingewiesen, daß eine weitgehende Analogie zu der Situation betreffend Analyse und Synthese von Erfahrungen besteht, der wir auf manchen anderen Gebieten menschlicher Erkenntnis begegnen. Viele Schwierigkeiten in der Psychologie entstehen ja bekanntlich dadurch, daß die Trennungslinie zwischen Objekt und Subjekt bei der Analyse mannigfaltiger Aspekte psychischen Erlebens in verschiedener Weise gezogen wird. Tatsächlich werden \Vorte wie "Gedanken" und "Gefühle", die gleich unentbehrlich für die Beschreibung von Umfang und Reichtum bewußten Lebens sind, in ähnlich komplementärer Weise gebraucht wie raumzeitliche Koordination und dynamische Erhaltungsgesetze in der Atomphysik. Die genaue Formulierung solcher Analogien ist selbstverständlich mit terminologischen Schwierigkeiten behaftet, und der Standpunkt des Autors kommt vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck in einem Hinweis in dem Artikel auf die sich gegenseitig ausschließende Beziehung, die immer zwischen dem praktischen Gebrauch eines \Vortes und dem Versuch seiner genauen Definition besteht. 104

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

Der Hauptzweck dieser Betrachtungen, die nicht zuletzt angeregt wurden durch die Hoffnung, Einsteins Haltung zu beeinflussen, war es jedoch, die Aufmerksamkeit zu lenken auf die Möglichkeiten der Beleuchtung allgemeiner erkenntnistheoretischer Probleme mit Hilfe der Belehrung, die uns das Studium neuer, aber im Grunde einfacher physikalischer Erfahrung vermittelt hat. Bei der nächsten Begegnung mit Einstein auf der Solvay-Konferenz im Jahre 1930 nahmen unsere Diskussionen eine ganz dramatische Wendung. Als Einwand gegen die Auffassung, daß eine Kontrolle des Austauschs von Impuls und Energie zwischen den Objekten und den Meßgeräten ausgeschlossen sei, wenn diese Geräte ihren Zweck, den raumzeitlichen Rahmen der Phänomene zu bestimmen, erfüllen sollten, brachte Einstein das Argument vor, daß eine solche Kontrolle möglich wäre, wenn den Forderungen der Relativitätstheorie Rechnung getragen würde. Im besonderen dürfte es die allgemeine Beziehung zwischen Energie und Masse, ausgedrückt in Einsteins berühmter Formel E= mc2 (5) gestatten, die Gesamtenergie eines Systems durch einfache Wägung zu messen und so im Prinzip die auf das System übertragene Energie zu kontrollieren, wenn es in Wechselwirkung mit einem atomaren Objekte steht.

Fig.7

Als eine zu diesem Zwecke geeignete Anordnung schlug Einstein den in Abb. 7 entworfenen Apparat vor. Er besteht aus einem Kasten mit einem Loch auf einer Seite, das durch einen Schieber geöffnet oder geschlossen werden kann, der mit Hilfe eines Uhrwerks im Innern des Kastens bewegt wird. Wenn der Kasten am Anfang Strahlung enthält, und die Uhr so eingestellt ist, daß sich der Schieber zu einer gegebenen Zeit während eines sehr kurzen Intervalls öffnet, könnte man es erreichen, daß ein einzelnes 105

Niels Bohr

Photon durch das Loch in einem Augenblick durchgelassen wird, der mit jeder gewünschten Genauigkeit bekannt ist. Weiterhin wäre es offenbar auch möglich, durch Wägen des Kastens vor und nach diesem Vorgang die Energie des Photons mit jeder gewünschten Genauigkeit zu messen - in striktem Widerspruch zur reziproken Unbestimmtheit von Zeit- und Energiegrößen in der Quantenmechanik. Dieses Argument bedeutete eine ernste Herausforderung und gab Anlaß zu einer gründlichen Prüfung des ganzen Problems. Das Ergebnis der Diskussion, zu der Einstein selbst wirksam beitrug, war jedoch, daß das Argument nicht aufrechterhalten werden konnte. Bei näherer Betrachtung erwies es sich nämlich als notwendig, die Folgen der Identifizierung von Trägheits- und Gravitationsmasse, die mit der Anwendung der Gleichung (5) verbunden ist, eingehender zu untersuchen. Im besonderen erschien es wesentlich, die Beziehung zwischen dem Gang einer Uhr und ihrer Lage in einem Gravitationsfeld zu berücksichtigen, eine Beziehung, die aus der Rotverschiebung der Linien im Sonnenspektrum wohlbekannt ist und aus Einsteins Prinzip der Äquivalenz zwischen Schwerkraftwirkungen und den Erscheinungen, die in beschleunigten Bezugssystemen beobachtet werden, folgt. Unsere Diskussion konzentrierte sich auf die mögliche Verwendung eines Apparates, in den die von Einstein vorgeschlagene Anordnung eingebaut ist. Eine solche Aufstellung ist in Fig. 8 in dem gleichen pseudorealistischen Stil wie einige der oben gezeigten Figuren dargestellt. Der Kasten, der im Querschnitt gezeichnet ist, um einen Einblick in einen Teil seines Innern zu gestatten, ist an einer Federwaage aufgehängt; mittels eines Zeigers kann die Lage des Kastens an einer am Waagestativ befestigten Skala abgelesen werden. Die Wägung des Kastens kann danach mit jeder gegebenen Genauigkeit LI m durchgeführt werden, wenn man die Waage mit Hilfe geeigneter Gewichte auf ihre Nullage einstellt. Wesentlich dabei ist nun, daß jede Bestimmung dieser Lage mit einer gegebenen Genauigkeit LI q eine Unbestimmtheit LI p in der Kontrolle des Kastenimpulses in sich schließt, die mit LI q durch die Gleichung (3) verknüpft ist. Diese Unbestimmtheit muß offensichtlich wiederum kleiner sein als der Gesamtimpuls, der während des ganzen Zeitintervalls T des Wägeverfahrens von dem Gravitationsfeld auf einen Körper mit der Masse LI m gegeben werden kann; es folgt demnach h (6) LlpR::! Llq < T· g. LI m, wobei g die Gravitationskonstante ist. Je genauer die Ablesung von q am Zeiger ausgeführt wird, desto länger muß also das Wägeintervall T sein, wenn man eine gegebene Genauigkeit LI m beim Wägen des Kastens mit Inhalt erzielen will. 106

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

Nun wird nach der allgemeinen Relativitätstheorie eine Uhr, die in der Richtung der Gravitationskraft mit einem Betrage ,1 q verschoben wird, ihren Gang in der Weise ändern, daß ihre Zeitangabe im Laufe eines Inter-

Fig.8

valls T um einen Betrag ,1 T abweicht, der durch die Gleichung ,1 T

-1'- =

1

-c2 g ,1 q

(7)

gegeben ist. Bei einem Vergleich von (6) und (7) sehen wir daher, daß nach dem Wägevorgang unsere Kenntnis betreffend die Eichung der Uhr eine h Unsicherheit

T>

C2,1

m

enthält. Zusammen mit (5) finden wir wiederum

,1T·,1E>h, 107

NieIs Bohr in Übereinstimmung mit dem Ungenauigkeitsprinzip. Demzufolge wird uns der Gebrauch des Apparates als Mittel zur genauen Messung der Photonen energie daran hindern, den genauen Zeitpunkt des Entweichens des Photons zu bestimmen. Durch diese Diskussion, die in so eindrucksvoller Weise die Kraft und Folgerichtigkeit relativistischer Argumente zum Vorschein brachte, wurde noch einmal die Notwendigkeit hervorgehoben, beim Studium atomarer Phänomene zu unterscheiden zwischen den eigentlichen Meßgeräten, die zur Definition des Bezugssystems dienen, und den Apparatteilen, die man als Untersuchungsobjekte betrachten muß und bei deren Beschreibung QuantenefTekte nicht übersehen werden dürfen. Trotz der höchst einleuchtenden Bestätigung der Konsequenz und des weiten Rahmens der quantenmechanischen Beschreibungsweise drückte Einstein in einem folgenden Gespräch nichtsdestoweniger sein Gefühl einer Unbefriedigtheit über den scheinbaren Mangel festgelegter Prinzipien für die Naturbeschreibung aus, mit denen alle einverstanden sein könnten. Von meinem Standpunkte aus konnte ich jedoch nur antworten, daß wir bei der Aufgabe, in einem ganz neuen Erfahrungsgebiet Ordnung zu schaffen, kaum auf irgendwelche althergebrachten noch so allgemeinen Prinzipien vertrauen können, abgesehen von der Forderung logischer Widerspruchsfreiheit, und eben in dieser Hinsicht dürfte der mathematische Formalismus der Quantenmechanik gewiß allen Ansprüchen genügen. Der Solvay-Kongreß von 1930 war die letzte Gelegenheit, bei der wir uns in den Diskussionen des anregenden und ,vermittelnden Einflusses von Ehrenfest erfreuen konnten; kurz vor seinem tief betrauerten Tod im Jahre 1933 erzählte er mir aber, daß Einstein längst nicht zufrieden war und mit gewohntem Scharfsinn neue Aspekte der Situation gefunden hatte, die seine kritische Haltung verstärkten. Tatsächlich hatte sich Einstein bei weiterer Prüfung der Möglichkeiten für die Verwendung einer Wägeanordnung andere Verfahren ausgedacht, die, wenn sie auch nicht die von ihm ursprünglich beabsichtigte Anwendung erlaubten, die Paradoxien jenseits der Möglichkeiten einer logischen Lösung noch zu vergrößern schienen. So hatte Einstein darauf hingewiesen, daß nach vorhergehendem Wägen des Kastens mit der Uhr und dem folgenden Entweichen des Photons immer noch die \Vahl bliebe, entweder den Wägevorgang zu wiederholen oder den Kasten zu öffnen und die Ablesung an der Uhr mit der standardisierten Zeitskala zu vergleichen. Demzufolge steht es uns in diesem Stadium des Vorgangs noch frei, ob wir Schlüsse ziehen wollen entweder über die Photonenenergie oder über den Augenblick, in dem das Photon den Kasten verließ. Ohne irgendwie das Photon zwischen seinem Entweichen und seiner späteren Wechselwirkung mit anderen dafür geeigneten Meßgeräten zu beeinflussen, können wir genaue Voraussagen machen entweder über den 108

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

Augenblick seines Eintreffens oder über die durch seine Absorption freiwerdende Energiemenge. Da aber gemäß dem quantenmechanischen Formalismus die Angabe des Zustandes eines isolierten Teilchens nicht zugleich eine wohldefinierte Verbindung mit der Zeitskala und eine genaue Fixierung der Energie enthalten kann, könnte es so scheinen, als ob dieser Formalismus nicht das Mittel einer zutreffenden Beschreibung darböte. Noch einmal hatte Einsteins forschender Geist einen besonderen Aspekt der Situation in der Quantenphysik ans Licht gebracht, der in schlagender Weise zeigte, wie weit wir hier über die übliche Erklärung von Naturphänomenen hinausgegangen sind. Trotzdem konnte ich mich mit der Tendenz seiner Bemerkungen, wie sie von Ehrenfest berichtet wurden, nicht einverstanden erklären. Meiner Meinung nach gab es für den Nachweis, daß ein logisch in sich geschlossener mathematischer Formalismus unzutreffend ist, keine anderen Wege als Abweichungen seiner Konsequenzen von der Erfahrung zu demonstrieren oder zu beweisen, daß seine Voraussagen die Beobachtungsmöglichkeiten nicht erschöpfen, und auf kein solches Ziel konnte Einsteins Argumentation gerichtet werden. Wir müssen uns tatsächlich klarmachen, daß wir es bei dem fraglichen Problem nicht mit einer im einzelnen bes'chriebenen Versuchsanordnung zu tun haben, sondern auf zwei sich gegenseitig ausschließende Versuchsanordnungen hinweisen. Bei der einen wird die Waage zusammen mit anderen Apparaten, etwa einem Spektrometer, zum Studium der Energieüberführung durch ein Photon benützt; im anderen Fall wird ein Schieber, der durch eine geeichte Uhr in Verbindung mit einem anderen ähnlichen, mit dieser Uhr synchronisierten Gerät steht, benützt, um die Zeit zu messen, die ein Photon zur Zurücklegung einer gegebenen Strecke benötigt. In beiden Fällen ist zu erwarten, wie Einstein auch annahm, daß die beoba«htbaren Wirkungen in voller Übereinstimmung mit den Voraussagen der Theorie stehen. Das Problem unterstreicht erneut die Notwendigkeit, die ganze Versuchsanordnung, deren Spezifizierung für jede wohldefinierte Anwendung des quantenmechanischen Formalismus unerläßlich ist, zu betrachten. Es mag beiläufig noch hinzugefügt werden, daß Paradoxien der von Einstein ins Auge gefaßten Art auch in so einfachen Anordnungen auftreten, wie sie Fig. 5 zeigt. Es ist uns ja nach einer vorhergehenden Messung des Schirmimpulses prinzipiell die Wahl überlassen, ob wir nach Durchgang des Elektrons oder Photons durch den Schlitz entweder die Impulsmessung wiederholen oder die Stellung des Schirmes kontrollieren wollen, und je nach dieser Wahl Voraussagen über verschiedenartige folgende Beobachtungen machen. Es sei auch noch bemerkt, daß es bezüglich beobachtbarer Effekte, die man bei einer bestimmten Versuchsanordnung erhält, offenbar keinen Unterschied bedeuten kann, ob unsere Pläne, wie wir die Geräte bauen und 109

Niels Bohr bedienen wollen, vorher festgelegt sind, oder ob wir lieber die Vollendung solcher Pläne auf eine spätere Zeit verschieben, wenn das Teilchen bereits auf dem Wege von einem Gerät zum andern ist. In der quantenmechanischen Beschreibung findet unsere Freiheit, die Versuchsanordnung aufzubauen und zu handhaben, ihren angemessenen Ausdruck in der Möglichkeit, die klassisch definierten Parameter zu wählen, die in jede konsequente Anwendung des Formalismus eingehen. Tatsächlich weist bei allen solchen Beziehungen die Quantenmechanik eine Korrespondenz mit der Situation in der klassischen Physik auf, die so eng wie möglich ist, wenn man die den Quantenphänomenen innewohnende Individualität in Betracht zieht. Gerade zur Klärung dieses Punktes haben Einsteins Bedenken daher wiederum eine sehr willkommene Anregung gegeben, die wesentlichen Züge der Situation zu erforschen.

Der nächste Solvay-Kongreß im Jahre 1933 war den Problemen des Aufbaus und der Eigenschaften der Atomkerne gewidmet. Gerade auf diesem Gebiete waren ja damals dank der experimentellen Entdeckungen und der neuen erfolgreichen Anwendung der Quantenmechanik so große Fortschritte erzielt worden. In diesem Zusammenhang brauchen wir kaum daran zu erinnern, daß die durch das Studium der künstlichen Kernumwandlungen gewonnenen Aufschlüsse eine ganz unmittelbare Bestätigung für Einsteins Grundgesetz über die Äquivalenz von Masse und Energie lieferten, welche sich für die Kernforschung als immer wichtigere Richtschnur erweisen sollte. Es sei hier auch erwähnt, wie nachdrücklich Einsteins intuitive Erkenntnis der engen Beziehung zwischen dem Gesetz der radioaktiven Umwandlungen und Wahrscheinlichkeitsregeln, die die individuellen Strahlungseffekte bestimmen (vgl. oben), durch die quantenmechanische Erklärung des spontanen Kernzerfalls bestätigt wurde. Tatsächlich haben wir hier ein typisches Beispiel der statistischen Beschreibungsweise, und die komplementäre Beziehung zwischen der Erhaltung von Energie und Impuls einerseits und der Raum-Zeit-Koordination anderseits tritt in der bekannten Paradoxie des Durchdringens eines Teilchens, durch Potentialschwellen schlagend zutage. Einstein selbst war nicht anwesend auf diesem Kongreß, auf den die tragische Entwicklung in der politischen Welt, die auch sein persönliches Schicksal so stark beeinflussen und die Bürde, die er im Dienste der Menschheit auf sich genommen hatte, so sehr erschweren sollte, ihre Schatten warf. Einige Monate vorher traf ich jedoch Einstein bei einem Besuch in Princeton, wo er damals Gast an dem neugegründeten Institute for Advanced Study war, dessen ständiges Mitglied er bald darauf wurde. Ich hatte dabei Gelegenheit, wieder mit ihm über die erkenntnistheoretischen Aspekte der 110

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

Atomphysik zu sprechen, aber noch immer stand die Verschiedenheit unserer Betrachtungs- und Ausdrucksweise vollem gegenseitigen Verstehen im Wege. Während bis dahin nur verhältnismäßig wenige an den hier berichteten Diskussionen teilgenommen hatten, sollte Einsteins kritische Haltung gegenüber den quantentheoretischen Gesichtspunkten, welchen sich so viele Physiker angeschlossen hatten, bald darauf zur Kenntnis weiterer Kreise durch einen Artikell l kommen, der unter dem Titel "Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality be Considered Complete?" 1935 von Einstein, Podolsky und Rosen veröffentlicht wurde. Die Argumentation dieser Arbeit beruht auf einem Kriterium, dem die Verfasser in folgendem Satze Ausdruck verleihen: "Wenn wir, ohne ein bestimmtes System irgendwie zu stören, mit Sicherheit (d. h. mit einer \Vahrscheinlichkeit gleich eins) den Wert einer physikalischen Größe voraussagen können, dann muß ein Element physikalischer Wirklichkeit bestehen, das dieser physikalischen Größe entspricht." Durch eine elegante Darlegung der Konsequenzen des quantenmechanischen Formalismus in bezug auf die Darstellung des Zustandes eines Systems, das aus zwei Teilen besteht, die während eines begrenzten Zeitintervalls in Wechselwirkung standen, wird dann gezeigt, daß verschiedene Größen, deren Fixierung in der Darstellung des einen Teilsystems nicht erfolgen kann, dennoch durch Messungen am anderen Teilsystem vorausgesagt werden können. Auf Grund ihres Kriteriums kommen daher die Verfasser zu dem Schluß, daß die Quantenmechanik "keine vollständige Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit liefert", und sie drücken ihre Überzeugung aus, daß es möglich sein müsse, eine mehr zutreffende Beschreibung der Phänomene zu entwickeln. Dank ihrer Klarheit und scheinbar unangreifbaren Argumentation gab die Arbeit von Einstein, Podolsky und Rosen Anlaß zu Aufregung unter den Physikern und hat in der Diskussion allgemein philosophischer Fragen eine große Rolle gespielt. Das Thema ist gewiß auch sehr subtiler Natur und geeignet, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie weit wir in der Quantentheorie außerhalb der Reichweite anschaulicher Bilder stehen. Man wird jedoch gesehen haben, daß es sich hier um Probleme eben der gleichen Art handelt, wie sie Einstein in den früheren Diskussionen aufgeworfen hatte, und in einem wenige Monate später veröffentlichten Artikell2 versuchte ieh zu zeigen, daß vom Standpunkte der Komplementarität aus die anscheinenden \Vidersprüche vollständig beseitigt waren. Der Gedankengang war im wesentlichen der gleiche wie der auf den vorangehenden Seiten dargestellte; das Bestreben, die damaligen Diskussionen wieder wachzu11 12

A. Einstein, B. Podolsky und N. Rosen, Phys. Re". 47, 777 (1935). N. Bohr, Phys. Re". 48, 696 (1935).

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Niels Bohr rufen, mag aber als Entschuldigung dafür dienen, daß einige Abschnitte aus meinem Artikel hier angeführt werden. Nach einem Bericht über die von Einstein, Podolsky und Rosen auf Grund ihres Kriteriums abgeleiteten Schlüsse schrieb ich: Eine solche Argumentation dürfte jedoch kaum geeignet sein, die Zuverlässigkeit quantenmechanischer Beschreibung in Frage zu steilen. Diese Beschreibung beruht ja auf einem in sich geschlossenen mathematischen Formalismus, der automatisch jedes Meßverfahren der hier erwähnten Art umfaßt. Der scheinbare Widerspruch enthüllt lediglich eine wesentliche Unzulänglichkeit des gewohnten Standpunktes der Naturbeschreibung für die rationelle Darstellung physikalischer Phänomene des in der Quantenmechanik behandelten Typus. Tatsächlich bringt die endliche Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meßgeräten, die durch die Existenz des Wirkungsquantums bedingt ist, die Notwendigkeit mit sich - wegen der Unmöglichkeit einer Kontrolle der Reaktion des Objektes auf die Meßgeräte, wenn diese ihren Zweck erfüllen sollen, - endgültig auf das klassische Kausalitätsideal zu verzichten und unsere Haltung gegenüber dem Problem der physikalischen Wirklichkeit von Grund aus zu revidieren. Wie wir sehen werden, enthält auch ein Kriterium der Wirklichkeit, wie das von den Autoren vorgeschlagene - trotz noch so vorsichtiger Formulierung - eine wesentliche Mehrdeutigkeit, wenn es auf die aktuellen, hier zur Diskussion stehenden Probleme angewandt wird. In bezug auf das besondere von Einstein, Podolsky und Rosen behandelte Problem wurde darm gezeigt, daß die Konsequenzen des Formalismus bei der Darstellung des Zustandes eines aus zwei miteinander wechselwirkenden atomaren Objekten bestehenden Systems eben den in Verbindung mit der Diskussion der zum Studium komplementärer Phänomene geeigneten Versuchsanordnungen erwähnten einfachen Argumenten entsprechen. Obwohl jedes Paar q und p konjugierter Lage- und ImpulsvariaheIn der Regel der nicht-kommutativen, in Formel (2) ausgedrückten Multiplikation untel'liegt, und somit nur mit reziproken Unschärfen nach Formel (3) fixiert werden kann, wird - wie direkt aus der Vertauschbarkeit von qI mit P2 und von q2 mit PI folgt - die Differenz qI - q2 zwischen zwei Raumkoordinaten, die sich auf die Bestandteile des Systems bcziehen, vertauschbar sein mit der Summe PI + P2 der korrespondiercnden ImpulsP2 in einem 1\O.mponenten. Es kann daher sowohl qI - q2 als auch PI Zustand des komplexen Systems genau fixiert werden, und demzufolge können wir die Werte von qI oder PI voraussagen, wenn q2 bzw. P2 durch direkte Messungen bestimmt worden ist. Wenn wir als die beiden Teile des Systems, wie in Fig. 5, ein Teilchen und einen Schirm nehmen, sehen wir,

+

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Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

daß die Möglichkeiten der Spezifizierung des Teilchenzustandes durch Messungen am Schirm genau der auf Seite 132 beschriebenen und weiter auf Seite 140 diskutierten Situation entsprechen. Es wurde dort darauf hingewiesen, daß wir nach dem Durchgang des Teilchens durch den Schirm prinzipiell die freie Wahl haben, ob wir entweder die Lage des Schirmes oder seinen Impuls messen und in jedem Fall Voraussagen über darauffolgende Beobachtungen an dem Teilchen machen wollen. Der Kardinalpunkt ist hier, wie wiederholt betont, daß solche Messungen einander ausschließende Versuchsanordnungen verlangen. Die Argumentation wurde in folgendem Abschnitt zusammengefaßt: Von unserem Gesichtspunkt aus erkennen wir nun, daß die Formulierung des obenerwähnten, von Einstein, Podolsky und Rosen vorgeschlagenen Kritcriums physikalischer Wirklichkeit eine Mehrdeutigkeit in bezug auf den Sinn des Ausdrucks "ohne ein System irgend wie zu stören" enthält. Natürlich ist in einem Fall wie dem soeben betrachteten nicht die Rede von einer mechanischen Störung des zu untersuchenden Systems während der letzten kritischen Phase des Meßverfahrcns. Aber selbst in dieser Phase handelt es sich wesentlich um einen Einfluß auf die tatsächlichen Bedingungen, welche die möglichen Arten von Voraussagen über das zukünftige Verhalten des Systems definieren. Da diese Bedingungen ein immanentes Element der Beschreibung jeglichen Phänomens ausmachen, dem man mit Recht den Begriff "physikalische Wirklichkeit" zuschreiben kann, sehen wir, daß die Argumentation der genannten Verfasser nicht ihre Schlußfolgerung rechtfertigt, die quantenmechanische Beschreibung sei wesentlich unvollständig. Im Gegenteil kann diese Beschreibung, wie die obige Diskussion zcigt, als eine rationelle Ausnützung aller Möglichkeiten eindeutiger Interpretation von Messungen charakterisiert werden, wie sie auf dem Gebiete der Quantentheorie mit der endlichen und unkontrollierbaren Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meßgeräten vereinbar ist. Tatsächlich ist es nur der wechselseitige Ausschluß von irgend zwei, die eindeutige Definition komplementärer physikalischer Größen gestattenden Versuchs anordnungen, dcr neuen physikalischen Gesetzen Raum schafft, deren Koexistenz auf den ersten Blick mit den Grundprinzipien der Naturwissenschaften unvereinbar zu sein scheint. Es ist gerade diese völlig neue Situation bezüglich der Beschreibung physikalischer Phänomene, deren Kennzeichnung mit dem Begriff Komplementarität beabsichtigt ist. Beim Durchlesen dieser Sätze kommt mir die Unbeholfenheit der Ausdrucksweise zum Bewußtsein, die es schwierig gemacht haben muß, dem Gedankengang der Argumentation zu folgen. Ihr Zweck war es, die wesent·

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Niels Bohr

liche Mehrdeutigkeit auszudrücken, die den physikalischen Attributen der Objekte anhaftet, wenn man es mit Phänomenen zu tun hat, die keine scharfe Unterscheidung zwischen dem Verhalten der Objekte und ihrer Wechselwirkung mit den Meßgeräten zulassen. Ich hoffe aber, daß die vorliegende Darstellung der Diskussionen mit Einstein während der vergangenen Jahre, die so sehr dazu beigetragen haben, uns mit der Situation in der Quantenphysik vertraut zu machen, eine klarere Vorstellung davon zu vermitteln vermag, wie notwendig es ist, die Grundprinzipien physikalischer Erklärung zu revidieren, um logische Ordnung auf diesem Erfahrungsgebiete wiederherzustellen. Einsteins damaligc eigene Ansichten sind in einem Artikel "Physik und Wirklichkeit" niedergelegt, der 1936 im "Journal of the Franklin InstitutE "13 erschienen ist. Ausgehend von einer äußerst klaren Darlegung der allmählichen Entwicklung der Grundprinzipien in den Theorien der klassischen Physik und ihrer Beziehung zum Problem der physikalischen Wirklichkeit, vertritt Einstein den Standpunkt, daß der quantenmechanische Formalismus nur als Mittel zur Beschreibung des Durchschnittsverhaltens einer großen Anzahl atomarer Systeme zu betrachten sei; seine Haltung gegenüber der Anschauung, daß sie die Möglichkeit einer erschöpfenden Beschreibung der Einzelphänomene böte, findet in folgenden Worten Ausdruck: "Ein solcher Glaube ist ohne Widerspruch logisch möglich; er ist aber meinem wissenschaftlichen Instinkt so zuwider, daß ich die Suche nach einem vollständigeren Begriffssystem nicht aufgeben kann." Selbst wenn eine solche Haltung auch recht ausgeglichen erscheinen mag, enthält sie doch eine Ablehnung der ganzen hier geschilderten Argumentation, mit der der Hinweis darauf bezweckt ist, daß wir es in der Quantenmechanik nicht mit einem willkürlichen Verzicht auf eine Analyse atomarer Phänomene zu tun haben, sondern mit der Erkenntnis, daß eine solche Analyse prinzipiell ausgeschlossen ist. In bezug auf die Zusammenfassung wohldefinierter Versuchsergebnisse stellt uns die eigenartige Individualität der Quanteneffekte vor eine neue Situation, die in der klassischen Physik nicht vorauszusehen war und die mit den gewohnten Vorstellungen, die dem Überblick über bisherige Erfahrung angepaßt waren, unvereinbar ist. Es ist gerade in dieser Beziehung, daß die Quantentheorie eine erneute Prüfung der Grundlagen für den unzweideutigen Gebrauch von elementaren Begriffen verlangt hat als einen weiteren Schritt in der Entwicklung, die seit Schaffung der Relativitätstheorie so charakteristisch für die modernen Naturwissenschaften gewesen ist.

13

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A. Einstein, Journ. Franklin Institute 221, 349 (1936).

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

In den folgenden Jahren erweckten die mehr philosophischen Seiten der Situation in der Atomphysik das Interesse immer weiterer Kreise, und sie wurden im besonderen auf dem im Juli 1936 in Kopenhagen abgehaltenen Zweiten Internationalen Kongreß für die Einheit der Wissenschaft diskutiert. In einem Vortrag14, den ich bei dieser Gelegenheit hielt, versuchte ich vor allem die erkenntnistheoretische Analogie zwischen der Begrenzung der kausalen Beschreibungsweise in der Atomphysik und Situationen, denen wir auf anderen Erfahrungsgebieten begegnen, zu betonen. Ein Hauptzweck solcher Vergleiche war es, darauf hinzuweisen, daß es auf vielen Gebieten allgemein menschlichen Interesses notwendig ist, sich ähnlichen Problemen zuzuwenden wie jenen, die in der Quantentheorie entstanden waren, und dabei einen breiteren Hintergrund zu schaffen für die anscheinend überspannte Ausdrucksweise, die die Physiker im Kampfe mit ihren brennenden Fragcn entwickelt hahen. Neben den komplementären Zügen, die in der Psychologie hervortreten und die bereits berührt worden sind (S. 135), können Beispiele solcher Beziehungen auch in der Biologie gefunden werden, besonders bei dem Vergleich zwischen mechanistischen und vitalistischen Anschauungen. Gerade in bezug auf das Beobachtungsproblem war letztere Frage einige Jahre vorher Gegenstand einer Ansprache gewesen, die ich auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Lichttherapie 1932 in Kopenhagen16 gehalten habe. Hierin wurde unter anderem ausgeführt, daß sogar der psychophysische Parallelismus in der von Leibniz und Spinoza gegebenen Form durch die Entwicklung der Atomphysik einen weiteren Rahmen erhalten hat, der, was die Frage nach Erklärung betrifft, an die Mahnung der Alten erinnert, auf der Suche nach Harmonie im Leben nie zu vergessen, daß wir im Drama des Daseins sowohl Schauspieler als Zuschauer sind. Äußerungen solcher Art könnten natürlich bei manchen den Eindruck eines dem Geiste der Wissenschaft fremden Mystizismus erwecken; deshalb versuchte ich 1936 auf der oben erwähnten Tagung solche Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen und zu betonen, daß es sich einzig und allein um das Bestreben handelt, auf jedem Forschungsgebiete die Bedingungen für die Analyse und Synthese der Erfahrung klarzulegen15• Und doch fürchte ich, daß es mir in dieser Beziehung nur wenig geglückt ist, meine Zuhörer zu übcrzeugen; für sie waren ja die Meinungsverschiedenheiten unter den Physikern selber natürlich ein Grund zum Skeptizismus gegenüber der Notwendigkeit eines so weitgehenden Verzichtes auf gewohnte Forderungen in bezug auf die Erklärung von Naturphänomenen. Im besonderen wurde ich in einer erneuten Diskussion mit Einstein in Princeton 1937, die auf N. Bohr, Erkenntnis 6, 293 (1937), und Philosophy of Science 4, 289 (1937). IIe Congres international de la Lumiere, Copenhague 1932 (abgedruckt in Nature 131, 421 und 457, 1933). 14

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Niels Bohr

einen humorvollen Wortstreit hinauslief über die Seite, auf welche sich wohl Spinoza geschlagen, wenn er die heutige Entwicklung miterlebt hätte, zur äußersten Vorsicht bei allen Fragen der Terminologie und Dialektik gemahnt. Diese Aspekte der Situation wurden eingehend auf einer Versammlung diskutiert, die 1938 in Warschau vom Internationalen Institut des Völkerbundes für Geistige Zusammenarbeit veranstaltet worden war1 6 • Die vorangehenden Jahre hatten große Fortschritte auf dem Gebiete der Quantenphysik gezeitigt dank einer Anzahl grundlegender Entdeckungen über den Bau und die Eigenschaften der Atomkerne sowie bedeutungsvoller Entwicklungen des mathematischen Formalismus im Hinblick auf die Forderungen der Relativitätstheorie. In letzterer Hinsicht bot Diracs geniale Quantentheorie des Elektrons ein schlagendes Beispiel der Kraft und Fruchtbarkeit der allgemeinen quantenmechanischen Beschreibungsweise. Tatsächlich haben wir es bei den Phänomenen der Entstehung und Vernichtung von Elektronenpaaren mit neuen, mit den nichtklassischen Seiten der Quantenstatistik eng verbundenen Grundzügen der Atomistik zu tun, die im Ausschließungsprinzip Ausdruck fanden und einen noch weitergehenden Verzicht auf Erklärung mit Hilfe einer anschaulichen Darstellung erfordert haben. Inzwischen zog die Diskussion der erkenntnistheoretischen Probleme in dcr Atomphysik die Aufmerksamkeit mehr denn je auf sich, und bei der Kommentierung von Einsteins Ansichten über die Unvollständigkeit der quantenmechanischen Beschreibungsweise kam ich unmittelbar auf Fragen der Terminologie zu sprechen. Dabei warnte ich insbesondere vor häufig in der physikalischen Literatur vorkommenden Wendungen wie z. B. "Störung der Phänomene durch Beobachtung" oder "den atomaren Objekten durch Messungen physikalische Attribute beilegen". Solche Ausdrücke, die wohl zur Erinnerung an scheinbare Paradoxien in der Quantentheorie dienen mögen, sind gleichzeitig dazu angetan, Verwirrung zu stiften, da Worte wie "Phänomene" und "Beobachtungen" ebenso wie "Attribute" und "Messungen" hier in einer \Veise gebraucht werden, die mit der Umgangssprache und praktischen Definitionen kaum vereinbar ist. Als zweckmäßigere Ausdrucksweise empfahl ich, das Wort Phänomen ausschließlich anzuwenden in Verbindung mit Beobachtungen, die unter genau angegebenen, den Bericht der ganzen Versuchsanordnung einschließenden Bedingungen gewonnen sind. Mit einer solchen Terminologie ist das Beobachtungsproblem von jeglicher Mehrdeutigkeit befreit; denn in den Experimenten handelt es sich ja immer um durch unzweideutige Feststellungen ausgedrückte Beobachtungen, wie z. B. die Registrierung des 18

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New Theories in Physics, Paris (1938) 11.

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

Punktes, an dem ein Elektron auf die photographische Platte auftrifft. Eine solche Ausdrucksweise eignet sich außerdem besonders dafür, die Tatsache zu unterstreichen, daß die physikalische Interpretation des symbolischen quantenmechanischen Formalismus nur Voraussagen deterministischen oder statistischen Charakters betreffend das Auftreten individueller Phänomene unter Bedingungen umfaßt, die durch klassische physikalische Begriffe definiert sind. Trotz aller Unterschiede in den physikalischen Problemen, die zur Elltwicldung der Relativitätstheorie bzw. der Quantentheorie Anlaß gegeben haben, enthüllt ein Vergleich der rein logischen Aspekte relativistischer und komplementärer Darstellungsweise weitgehende Ähnlichkeiten hinsichtlich des Verzichtes auf die absolute Bedeutung althergebrachter physikalischer Attribute der Objekte. Auch die Vernachlässigung der atomaren Konstitution der Meßgeräte selber bei der Beschreibung tatsächlicher Erfahrungen ist gleich charakteristisch für die Relativitäts- und die Quantentheorie. Die Kleinheit des Wirkungs quantums verglichen mit den Wirkungen, um die es sich bei gewöhnlichen Erscheinungen einschließlich Aufstellung und Bedienung physikalischer Apparate handelt, ist in der Atomphysik genau so wesentlich wie die riesige Anzahl von Atomen, aus denen .die Welt besteht, in der allgemeinen Relativitätstheorie, welche bekanntlich verlangt, daß die Dimensionen der zur Winkelmessung benutzten Geräte klein gegen den Krümmungsradius des Universums gemacht werden können. In meinem Warschauer Vortrag kommentierte ich den Gebrauch nicht unmittelbar anschaulicher Formalismen in der Relativitäts- und der Quantentheorie folgendermaßen: Sogar die Formalismen, die in beiden Theorien innerhalb ihres Rahmens das adäquate Mittel zur Erfassung aller denkbaren Erfahrung liefern, weisen tiefgehende Analogien auf. Tatsächlich beruht in beiden Fällen die überraschende Einfachheit der Verallgemeinerung klassischer physikalischer Theorien, die mit Hilfe multidimensionaler Geometrie bzw. nicht-kommutativer Algebra gewonnen werden, im wesentlichen auf der Einführung des konventionellen Symbols -1. Der abstrakte Charakter der besprochenen Formalismen ist tatsächlich bei näherer Betrachtung ebenso typisch für die Relativitätstheorie wie für die Quantenmechanik, und es ist in dieser Beziehung eine reine Frage der Tradition, ob man die erstere Theorie als eine Vervollständigung der klassischen Physik ansieht oder lieber als einen ersten entscheidenden Schritt in der tiefgreifenden Revision unserer begrifflichen Hilfsmittel zum Vergleich von Beobachtungen, die uns die neuere Entwicklung der Physik aufgezwungen hat.

V

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Niels Bohr

Es ist gewiß richtig, daß wir in der Atomphysik einer Anzahl ungelöster Grund probleme gegenüberstehen, im besonderen hinsichtlich der engen Beziehung zwischen der Elementareinheit der elektrischen Ladung und dem universellen Wirkungsquantum. Diese Probleme sind jedoch mit den hier diskutierten erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten nicht enger verknüpft als die Aufrechterhaltung der relativistischen Beschreibungsweise mit den noch ungelösten Problemen der Kosmologie. Sowohl in der Relativitätstheorie als auch in der Quantentheorie haben wir es mit neuen Aspekten der wissenschaftlichen Analyse und Synthese zu tun, und in diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß es sich selbst in der großen Epoche der kritischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts nur darum handelt, ob eine apriorische Begründung der raum zeitlichen Einordnung und der kausalen Verknüpfung von Erfahrungen gegeben werden könnte, während von rationellen Verallgemeinerungen oder innewohnenden Beschränkungen solcher Kategorien menschlichen Denkens nie die Rede war. Obwohl ich während der letzten Jahre mehrmals Gelegenheit hatte, Einstein zu treffen, haben weitere Gespräche, von denen ich stets neue Anregungen empfing, bis jetzt noch nicht zu einem gemeinsamen Standpunkt gegenüber den erkenntnistheoretischen Problemen in der Atomphysik geführt. Unsere gegensätzlichen Auffassungen sind vielleicht am deutlichsten in einem der neuesten Hefte von "Dialectica"17 zum Ausdruck gekommen, das eine allgemeine Diskussion dieser Probleme bringt. Da ich mir jedoch der vielen Hindernisse bewußt bin, die gegenseitigem Verständnis im Wege stehen bezüglich einer Frage, wo Ausgangspunkt und Hintergrund die Haltung eines jeden beeinflussen müssen, war mir diese Gelegenheit sehr willkommen f~r eine ausführliche Darstellung der Entwicklung, durch die meiner Ansicht nach eine ernste Krisis in der physikalischen Wissenschaft überwunden wurde. Die Belehrung, die wir dabei empfangen haben, dürfte uns einen entscheidenden Schritt vorwärts gebracht haben in dem nie endenden Kampf um Harmonie zwischen Inhalt und Form, und sie hat uns wieder einmal gezeigt, daß kein Inhalt ohne formalen Rahmen faßbar ist und daß jeder Rahmen, wie nützlich er bisher auch gewesen sein mag, als zu eng befunden werden kann, um neue Erfahrungen zu umfassen. In einer Situation wie der vorliegenden, in der es schwierig gewesen ist, gegenseitiges Verständnis nicht nur zwischen Philosophen und Physikern zu erreichen, sondern sogar zwischen Physikern verschiedener Schulen, haben die Schwierigkeiten gewiß nicht selten ihre Wurzeln in der Vorliebe für einen bestimmten Sprachgebrauch, der sich aus den verschiedenen Ausgangspunkten ergibt. Im Kopenhagener Institut, wo in jenen Jahren eine 17

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N. Bohr, Dialectica 1, 312 (1948).

Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik

Reihe junger Physiker aus verschiedenen Ländern zu Diskussionen zusammenkamen, pflegten wir uns in unseren Nöten oft mit Scherzen zu trösten, unter denen das alte Sprichwort von den zweierlei Wahrheiten beliebt war. Zu der einen Art Wahrheit gehören so einfache und klare Feststellungen, daß die Behauptung des Gegenteils offensichtlich nicht verteidigt werden könnte. Die andere Art, die sogenannten "tiefen Wahrheiten", sind dagegen Behauptungen, deren Gegenteil auch tiefe Wahrheit enthält. Die Entwicklung auf einem neuen Gebiete wird gewöhnlich stufenweise vor sich gehen, wobei Chaos allmählich in Ordnung verwandelt wird; aber nicht zum mindesten auf den Zwischenstufen, auf denen tiefe Wahrheit vorherrscht, ist die Arbeit voller Spannung und regt die Phantasie zur Suche nach einem lesteren Halt an. In solchem Streben nach Gleichgewicht zwischen Ernst und Humor haben wir in Einsteins Persönlichkeit ein leuchtendes Vorbild, und wenn ich meine Überzeugung zum Ausdruck bringe, daß wir uns durch besonders fruchtbare Zusammenarbeit einer ganzen Generation von Physikern dem Ziel nähern, wo logische Ordnung weitgehend erlaubt, tiefe 'Wahrheiten zu umgehen, so hoffe ich, daß dies im Einsteinschen Sinne aufgenommen wird und gleichzeitig als Entschuldigung für verschiedene Äußerungen auf den vorangehenden Seiten dienen möge.

Die Diskussionen mit Einstein, die den Gegenstand des vorliegenden Beitrages bildeten, haben sich über viele Jahre erstreckt, in denen große Fortschritte auf dem Gebiete der Atomphysik gemacht wurden. Ob unsere persönlichen Zusammenkünfte von kürzerer oder längcrer Dauer waren, sie haben stets eincn tiefen und bleibenden Eindruck auf mich gemacht, und bcim Schreibcn dieses Berichtes habe ich sozusagen immer wieder mit Einstein argumentiert, auch dann, wenn ich auf Fragen eingegangen bin, die anscheinend weit entfernt von den während unserer Diskussionen besprochenen besonderen Problemen lagen. Bezüglich der \Viedergabe der Gespräche bin ich natürlich ganz auf mein eigenes Gedächtnis angewiesen, wie ich auch mit der Möglichkeit rechnen muß, daß viele Züge der Entwicklung in der Quantentheorie, bei der Einstein eine so große Rolle gespielt hat, ihm selbst in anderem Lichte erscheinen. Ich hoffe jedoch zuversichtlich, daß es mir gelungen ist, einen klaren Eindruck davon zu vermitteln, welche Bereicherung es für mich bedeutet hat, daß ich an der Anregung teilhaben durfte, die für uns alle jede Begegnung mit Einstein mit sich gcbracht hat.

Niels Bohr

Universitetets Institut for Teoretisk Fysik Kopenhagen, Dänemark.

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Henry Margenau EINSTEINS AUFFASSUNG VON DER WIRKLICHKEIT

1. Einleitung Eine Arbeit, die sich mit den philosophischen Ansichten eines lebenden Forschers befaßt, bedarf der Rechtfertigung unbeschadet des Wunsches, sein Werk zu ehren. Denn diese Ehre würde man besser erweisen durch das Auf:;püren und die Veröffentlichung einer bedeutsamen eigenen Forschung in der Linie, die durch den Forscher selbst bezeichnet ist. Eine solche Überlegung wiegt schwer in Hinsicht auf Einstein, einen Mann, der gegen Schriften über seine Person besonders feinfühlig ist. Es sind zwei recht verschiedene Dinge, eine wissenschaftliche Darstellung der Relativitätstheorie zu schreiben und den Bereich tatsächlicher Feststellungen zu verlassen und in den weiteren Bereich der Diskussion einzutreten, in dem Worte verschiedenen Sinn haben, in dem es schwer ist, das was wirklich bekannt ist, zu unterscheiden von dem, was man nur annimmt und wo vielleicht Einstein kein zentrales Interesse hatte. Diese Arbeit will nicht versuchen, seine Anschauungen über das Reale zu interpretieren oder in ein System zu fassen, das der Leser annehmen oder ablehnen könnte. Wäre das der Fall, dann sollte der Urheber dieser Ansichten selbst der Autor ihrer Interpretation sein. Gleich weit entfernt von meinen Absichten wäre es, eine Kritik der physikalischen oder metaphysischen Ideen vorzunehmen, die die Relativitätstheorie erfüllen. Viele Arbeiten haben das versucht, allzuviele angesichts des geringen Nutzens, dcn Physik oder Philosophie davon hatten. Eine Kenntnis der physikalischen und mathematischen Struktur der Relativitätstheorie wird hier vorausgesetzt; ihre grundsätzliche Geltung wird niemals in Frage gestellt werden (soweit wir jetzt darüber Klarheit gewinnen können). Tatsächlich ist diese Theorie heute so gut durch die Erfahrung und durch ihre Aufnahme in das Ganze der modernen Physik bestätigt, daß ihre Ablehnung fast undenkbar wäre. Der Physiker ist nicht nur durch ihre umfangreichen empirischen Bestätigungen beeindruckt, sondern vor allem durch die innere Schönheit ihrer Struktur, die dem kritischen Geist diese Theorie seIhst dann nahe legte, wenn es überhaupt keine experimentelle Evidenz für sie gäbe. 120

Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

Der Sinn der folgenden Bemerkungen ist einfach der: Aus Einsteins Werk diejenigen methodischen Elemente herauszuarbeiten und aus seinen verschiedenen Werken diejenigen Grundbegriffe zu gewinnen, die das, was für ihn Realität heißt, zu einem Bild zusammenfassen. Daß Philosophen und Physiker an diesem Bild interessiert sind, welches so hohe schöpferische Kraft in unserer Zeit erzeugte, versteht sich VOll selbst. Daß es ein richtiges Bild wird, sollte dadurch gewährleistet sein, daß der Schöpfer selbst Gelegenheit hat, vorhandene Mängel zu ergänzen. Die Arbeit wurde daher in der Erwartung geschrieben, daß sie da, wo sie irren sollte, abgelehnt oder verbessert würde. Diese wertvolle Möglichkeit der späteren Korrektur hat, soviel ich weiß, die Publikation dieses und der anderen Bände so erfolgreich gemacht. Forscher, unter ihnen auch Einstein, haben die Philosophen gemahnt, sie möchten lieber ihren Taten Aufmerksamkeit schenken als ihren \Vorten. Da man das oft nicht beachtete, kam es heutzutage zu einem bedauernswerten Mangel an Verständnis zwischen Philosophie und Physik. Jeder, der ein neues physikalisches Prinzip entdeckt, leistet einen wichtigen Beitrag zur Philosophie, auch wenn er ihn nicht in philosophische Begriffe kleidet. Der metaphysische Reichtum, der weithin unberührt in den modernen physikalischen Theorien verborgen liegt, ist überaus groß und ein ständiger Ansporn für den Forscher. Jeder hat Zutritt zu ihm, der über das nötige Handwerkszeug verfügt, um ihn zu heben. Der methodische Gehalt der Relativitätstheorie, sowohl der speziellen wie der allgemeinen, ist noch nicht ausgeschöpft, und er soll in unserer Betrachtung die Hauptquelle bilden. Die Bemerkungen Einsteins über das Reale, die trotz ihrer relativen Spärlichkeit so erleuchtend sind, werden ihre Beweiskraft stärken. Man könnte einen \Viderspruch konstruieren zwischen den methodischen Schwierigkeiten der Relativitätstheorie und den interpretierenden Kommentaren ihres Schöpfers. Daraus sind Mißverständnisse entstanden, und da sie eine irrtümliche Begriffsbestimmung der Realität enthalten, sollen sie sofort untersucht werden. Eine der wesentlichen Folgerungen der speziellen Relativitätstheorie ist das Erfordernis eines vom Newtonsehen abweichenden Zeitbegriffs. Nach Newton war die Zeit ein einheitlicher Fließvorgang, der von den besonderen Umständen des Beobachters unabhän~rig ist. Diese empirische Einheitlichkeit wurde in Kants System durch rationale Überlegungen auf eine Formel gebracht, die der Einheitlichkeil der Zeit transzendentale Notwendigkeit zuschrieb und sie so über alle empirischen Nachprüfungen hinaushob. Die Relativitätslehre zerstörte diese Isolierung und machte die Zeit wieder zu einem Gegenstand experimenteller Untersuchung. Aber sie tat noch viel mehr und ging weit über Newton oder irgend einen anderen früheren Physiker hinaus. Sie verzichtete ganz auf rationale Vorurteile und machte die Bedeutung der Zeit von einem rein physikali121

Henry Margenau

sehen Vorgang abhängig, nämlich von der Fortpflanzung des Lichts. Sie schuf im wesentlichen eine Definition der Zeit, die his in viele Einzelheiten auf Grund experimenteller Operationen umschrieben werden konnte, eine Definition, die zum Kronzeugen des Pragmatismus wurde. Wenn die Ergebnisse dieser neuen Auffassung den als unumstößlich angesehenen Vorschriften der Vernunft widersprachen, so mußte das gewöhnliche Verstandesdenken modifiziert werden. Die empirischen Tatsachen zwangen die Forschung in ungewohnte Kanäle. Schwerlich kann man dabei eine empiristische Unterströmung verkennen, und man wäre versucht, den Erfolg der Relativitätstheorie einer philosophischen Grundhaltung zuzuschreiben, die vernunftmäßige oder üherhaupt geistige Elemente aus der Beschreibung der Natur ausschalten und sie durch die sicheren Tatsachen der Sinneserfahrung ersetzen will. Und das geschieht nur zu oft. Dahei sagt Einstein häufig in seinen Schriften, daß sich seine Position von der Newtons insofern unterscheide, als seine Auffassung auf den Gedanken hinausläuft, Zeit und Raum seien von der Erfahrung abgeleitete Begriffe. Er hehauptet, daß der Unterschied zwischen theoretischer Konstruktion und verifizip-rbarer Schlußfolgerung in der modernen Physik größer geworden sei, als das bei Theorien von einfacherer Form der Fall war. Er betrachtet tatsächlich die Grundprinzipien als "freie Erfindungen des menschlichen Geistes"l. Eine oberflächliche Prüfung fühlt hier einen Widerspruch heraus, den nur genauere Analyse beseitigen kann. Einsteins Position kann man nicht mit irgend einem der geläufigen Namen für philosophische Haltungen etikettieren. Sie enthält Züge rationalen Erkennens und ebenso solche eines extremen Empirismus, aber beide nicht logisch voneinander isoliert.

2. Ontologische Glaubens/armen Alle Äußerungen deuten an, daß Einstein unter Wirklichkeit physikalische Wirklichkeit versteht. \Vährend er gegenüher den Bereichen der Erfahrung, in die die wissenschaftliche Methodik hisher noch nicht eingedrungen ist, gehührende Ehrfurcht bezeigt, so erkennt man beim Lesen der Einsteinsehen Werke doch eine tiefe Überzeugung, daß alles Existierende wesentlich ergründbar ist, und zwar durch ein besonderes Zusammenwirken von Erfahrung und Analyse, wie es die Physik charakterisiert. Ein gewisses Pathos gegenüber dem Unbekannten findet sich zwar oft bei ihm, es deutet aber doch auf den letztlich erkennbaren, und zwar in wissenschaftlicher ßegriffiichkeit erkennbaren Charakter des Existierenden hin. 1 "On the Method of Theoretical Physics", von Albert Einstein (The Clarendon Press, Oxford, 1933; "The Herbert Spencer Lecture delivered at Oxford, 10 J une 1933"); wieder abgedruckt in "Thc World as I see it", Covici Friede (1934) 33.

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Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit Man wird wenig bei ihm finden, was für die traditionellen Fragen der Ontologie wichtig wäre: ob die reale Welt Spuren des menschlichen Beobachters im Sinne Kants enthält; ob sie rein sensorische Qualitäten aufweist oder ebenso sehr auch Idealisierungen, die man Naturgesetze nennt; ob logische Begriffe ein Teil von ihr sind. Man findet bei ihm tatsächlich keine Definition der Wirklichkeit. Ich seIhst möchte das nicht als einen Mangel bezeichnen; denn es wird in steigendem Maße klar, daß der beste Teil der modernen Physik diese Begriffe vermeidet und ganz innerhalb des Bereiches der Wissenschaftslehre (Epistemologie) bzw. der Methodologie operiert. Dabei überläßt sie es dem Zuschauer, den Sinn der Wirklichkeit in einer beliebigen \Veise zu konstruieren. In gewissem Sinne gilt das auch für den Entdecker der Relativität. Gleichwohl findet sich ein gut Teil Konsequenz in der Art, wie er das Wort gebraucht. Es ist völlig klar, daß Einstein in Übereinstimmung mit eigentlich allen Wissenschaftlern die Existenz einer Außenwelt, einer objektiven Welt annimmt, also einer \Velt, die vom menschlichen Beobachter weithin unabhängig ist. Wir zitieren: "Der Glaube an eine vom wahrnehmenden Subjekt unabhängige Außenwelt liegt aller Naturwissenschaft zugrunde. Da die Sinneswahrnehmungen jedoch nur indirekt Kunde von dieser Außenwelt bzw. vom ,PhysikalischRealen' geben, so kann dieses nur auf spekulativem Weg von uns erfaßt werden. Daraus geht hervor, daß unsere Auffassungen vom PhysikalischRealen niemals endgültige sein können. Wir müssen stets bereit sein, diese Auffassungen, d. h. das axiomatische Fundament der Physik, zu verändern, um den Tatsachen der Wahrnehmungen auf eine logisch möglichst vollkommene Weise gerecht zu werden".2 Einerseits haben wir hier eine Identifizierung der physikalischen Wirklichkeit mit der Außenwelt, anderseits eine Betonung des Unterschiedes zwischen dem Wesen der Wirklichkeit und dem, was sie zu sein scheint. Wir finden da aber eine dreifache Unterscheidung, und zwar zwischen einer Außenwelt, der Wahrnehmung dieser Außenwelt durch den Beobachter und unseren Begriffen von ihr. Denn wie wir bereits gesehen haben, ist die axiomatische Struktur der Physik nicht von der Sinneserfahrung abstrahiert. Es scheint, als ob die Antwort auf einige der interessanten Fragen fehle, die hier auftauchen. In der Kantischen Tradition erzogen, verteidigt Einstein vielleicht in seiner Begriffswelt ein Ding an sich, das letztlich unverkennbar ist. Wahrscheinlicher aber ist es, daß er jede Charakterisierung der Realität in anderen Begriffen als den durch die Wissenschaft gelieferten für wesenlos hält und die Frage nach den metaphysischen Attributen der Realität als uninteressant betrachtet. Bei dieser Sachlage wird problematisch, 2

Maxwell, World S. 60, Weltbild S. 207 f. 123

Henry Margenau

was mit seiner Behauptung gemeint ist, daß es eine Außenwelt unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt gibt. Wie die meisten Wissenschaftler läßt Einstein das grundlegende metaphysische Problem, das aller Wissenschaft zugrunde liegt, unbcantwortet, nämlich die Bedeutung des Außerhalbseins. Man kann in dem letzten Zitat eine merkwürdige Spur von Rationalismus finden. Sinneswahrnehmung, so denkt man gemeinhin, gibt uns Kunde über die physikalische Wirklichkeit in einer indirekt zu nennenden Weise. Dieses unscheinbare \Vort verbirgt freilich eine Menge wissenschaftstheorQtischer Probleme, über die sich unser Forscher nicht weiter aussprechen will. Aber der Hinweis, daß man wegen der indirekten Natur unserer sinnesbedingten Erkenntnis auf die Spekulation zurückgreifen müßte, ist ungemein interessant und erinnert uns wiederum an die grundsätzliche Überzeugung, die Einstein, Planck und andere für die moderne Physik bedeutsame Persönlichkeiten von den mehr populär gewordenen Schulen des landläufigen Positivismus und Empirismus trennt. Allerdings ist es schwer, seine Überzeugung wirklich genau wiederzugeben, wie das folgende Zitat zeigt: "Hinter den unermüdlichen Bemühungen des Forschers liegt ein stärkerer, geheimnisvoller Drang versteckt: was man begreifen will, ist Existenz und Realität. Vor dem Gebrauch solcher Worte schreckt man aber zurück; denn man kommt schnell in Schwierigkeiten, wenn man erklären soll, was denn in so einer allgemeinen Darlegung mit ,Realität' und ,begreifen' eigentlich gemeint sei".8

3. Beziehung zwischen Theorie und Wirklich/reit Während eine exakte Auffassung über die Art, wie bei Einstein die Theorie die physikalische Wirklichkeit darstellt, schwer zu formulieren ist, ist es nach seinen Werken und Schriften ganz klar, daß er ein Gegner der Ansicht war, nach der die Theorie die Realität 'rapiert. In diesem Punkt setzt er sich scharf von Newton und indirekt von dem gesamlen britischen Empirismus ab. Die wesentliche Erkenntnis in der Relativitätstheorie ist die, daß die Geometrie, die Newton als eine Reihe von beschreibenden, aus der physikalischen Erfahrung fließenden und sie zusammenfassenden Sätzen betrachtete, eine Konstruktion des menschlichen Geistes ist. Nur wenn man diese Entdeckung annimmt, kann sich der Geist frei fühlen und sich mit den zeitbedingten Begriffen von Raum und Zeit befassen. Erst dann kann er die ganze Reihe der Möglichkeiten überblicken, die es gibt um sie zu definieren, erst dann kann er die Formulierung ausfindig machen, die sich mit der Beobachtung deckt. Die Übereinstimmung mit der Erfahrung muß erreicht werden, aber nicht auf den Anfangsstufen der theoreti3

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Adrcss at Columbia University (The World as I see it, 137 f.).

Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

sehen Analyse, sondern in ihren letzten Folgerungen. "Die Ratio gibt den Aufbau des Systems; die Erfahrungsinhalte und ihre gegenseitigen Beziehungen sollen durch die Folgesätze der Theorie ihre Darstellung finden "4. Wie der Kontakt mit der Realität hergestellt wird, das wird klar durch den physikalischen Inhalt der Relativitätstheorie, und hier ist ein Punkt, über den sich Einstein unzweideutig ausgesprochen hat. Es gibt etwas Unaussagbares über das Reale, etwas, das gelegentlich als geheimnisvoll und ehrfurchtgebietend beschrieben wird. Die Eigenschaft, die ihm zugischrieben wird, ist zweifellos ihre Schlcchthinnigkeit, ihre Spontaneität, ihr Versagen bei dem Versuch, sich vollkommen und spezifisch als Folgerung des rationalen Denkens zu präsentieren. Anderseits hat die Mathematik, speziell die Geometrie, genau die Attribute einer inneren Ordnung, nämlich die Möglichkeiten der Voraussage, die der Realität zu fehlen scheinen. Wie lassen sich diese widersprechenden Züge unserer Erfahrung vereinigen? "Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit"5. Der springende PU:lkt dabei ist der, daß die bei den nicht von selbst zur Übereinstimmung gelangen, sondern gewaltsam mit Hilfe eines speziellen Postulats zusammengebracht werden müssen. Die euklidische Geometrie ist eine hypothetische Disziplin, die auf Axiomen beruht, welche als solche keine Bedeutung für die Wirklichkeit haben. Mit anderen Axiomen kann man andere Geometrien aufbauen. Die Wirklichkeit konfrontiert aber den Ferscher doch nicht mit Axiomen! Eine physikalische Theorie, d. h. ein geistig durchdachtes Bild der Wirklichkeit, ergibt sich, wenn von einer bestimmten Geometrie auf Grund ihrer Postulate behauptet werden kann, daß sie der Beobachtung entspricht. Dann ist nämlich der Kontakt zur Realität hergestellt. Die mystische Erfahrung dcr Realität ist wie ein weites, aber ungeformtes Reservoir lebenspendender Substanz. Die Mathematik für sich allein ist eine Galerie von Robotern. Man muß einen von ihnen auswählen und mit dem Realcn verknüpfen. Hat man den richtigen zu fassen bekommen, dann wird der Roboter lebendig; das Blut rinnt durch die vorher leeren Adern des künstlichen Gebildes, und ein lebensfähiger Organismus ist geschaffen. Nicmand kann vorher sagen, welcher Roboter es vermag, diesen Erfolg herbeizuführen. Der geniale Wissenschaftler trifft die richtige Wahl. Ich mächte annehmen, daß dieses Alfreskogcmälde Einstcins Ansichten keine Gewalt antut. Es hebt einen Punkt hervor, dem ich großen Wert beilege, nämlich daß die wescntlichcn Gesichtspunkte bei jeder Methodologie , Zur Methodik der theoretischen Physik (1933), World S. 33, Weltbild S. 151.. 5 Geometrie und Erfahrung, Weltbild S. 157.

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der Physik die folgenden sind: die sinnesgegebenen Tatsachen der Erfahrung, die Konstruktionen, die zu ihrer Erklärung geschaffen werden und die Korrespondenzregeln, die die fruchtbare und erprobte gegenseitige Beziehung zwischen den beiden genannten Gebieten herstellen. Gerade durch die Verbindung von "Geometrie und Erfahrung" kommt man zur Erkenntnis der Notwendigkeit solcher Korrespondenzregeln. An vielen Stellen bringt Einstein zum Ausdruck, wieviel er Mach verdankt, und es ist nicht schwer, gewisse Spuren seiner Epistemologie unmittelbar auf diesen Denker zurückzuführen. Beide lehnen theoretische Begriffe ab, die ihrer Natur nach keine Verifizierung erlauben. Mach bemüht sich von allen Seiten um den Begriff des niehtbeobachtbaren absoluten Raumes und versucht, die Gesetze der Mechanik zu retten, indem er die Beschleunigung im absoluten Raum ersetzt durch eine Beschleunigung relativ zu einem Inertialsystem, das sich mit dem Massenmittelpunkt der Gesamtmasse des Universums bewegt. Diese gleiche Auffassung veranlaßte Einstein zur Ablehnung des Xthers und auch der Machsehen These, denn diese hebt sich selbst auf, wenn man sie konsequent durchdenkt. Um eine Beschleunigung in bezug auf ein universelles Bezugssystem zu messen und dieses selbst zu definieren, benötigt man den Begriff der Wirkung auf Distanz, und dieser setzt umgekehrt eine universale Gleichzeitigkeit voraus, was auf Grund der Experimente absurd wäre. Durch diese Kette logischer Schlußfolgerung hebt sich die Vorstellung von Mach schließlich selbst auf. Dieses Beispiel ist fast von symbolischer Bedeutung; denn es zeigt sich, daß die geistige Offenheit des Einsteinschen Denkens über philosophische Dinge dem ursprünglichen Standpunkt Machs entgegensteht, und der nachdenkliche Beobachter erkennt in seinem Gesamtwerk eine fortschreitende Abwendung von der positivistischen Grundhaltung, die Theorien für unwesentliche Verzierungen der Wirklichkeit erklärt, welche, wenn auch für einige Zeit nützlich, doch bei der Weiterentwicklung des Gesamtorganismus der Wissenschaft "wie dürres Laub abgeschüttelt werden", um einen Ausdruck Machs zu gebrauchen.

4. Der Begriff der Objektivität Die Relativitätstheorie ist für die Philosophie besonders wichtig geworden durch ihre tiefgründige Antwort auf das Problem der Objektivität. Es herrscht Übereinstimmung darüber, daß die Formalisierung, die bei deI üblich~n Auffassung der Wirklichkeit eintritt, die Qualität eines objektiven Seins besitzen muß, d. h. eines vom Beobachter unabhängigen Seins. Sie muß so wenig anthropomorphe Züge tragen wie nur möglich. Man könnte dabei meinen, daß die Realität für alle als die gleiche erscheinen müsse, soweit es sich um die Sinneswahrnehmung handelt. Aber das kann nie

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Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

sicher behauptet werden angesichts der unabänderlichen Subjektivität a11 unserer auf Sinneserfahrung beruhenden Erkenntnis. Es ist auch nutzlos, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Realität, abgesehen von der spezifischen Sinneserfahrung, konstruiert sein könnte; denn das würde zu einer endlosen Mannigfaltigkeit der Realitäten führen. Wie die Welt aussehen würde, wenn unsere Augen nicht die Skala der optischen Frequenzen empfinden würden, sondern die Röntgenstrahlen, oder auch, wie eine dreidimensionale Darstellung aller elektrischen und magnetischen Felder in einem bestimmten Augenblick beschaffen wäre, das sind philosophisch nicht eben wesentliche Fragen. Die Relativitätslehre zeigt, daß der Sinn von Objektivität im äußeren Bereich der Wissenschaft nicht völlig verstanden werden kann. In der Physik Newtons waren Raum und Zeit objektiv, weil sie sich unmißverständlich in jedermanns Erfahrung manifestierten. Aber diese Idee der Objektivität wurde völlig zerstört, als mehrere verschiedene Räume und Zeiten plötzlich Anspruch auf Beachtung erhoben. Man mußte danach zwischen der subjektiven Zeit und dem subjektiven Raum jedes Beobachters und verschiedenen Arten formalisierter und universaler Räume und Zeiten unterscheiden. Die letzteren bekamen gewisse ideale Eigenschaften, z. B. endlich oder isotrop oder metrisch-konstant zu sein, was bei den subjektiven Gegenspielern nicht der Fall ist. Jedoch wurden sie durch diese idealen Eigenschaften nicht als objektiv erwiesen. Entspringt denn Objektivität aus der Übereinstimmung zwischen Erfahrung und den Voraussagen der Theorie? Ist jede gültige Theorie objektiv? Die Antwort auf diese Frage ist zweifellos bejahend, aber sie gibt keinen Hinweis für die Bewältigung unseres Problems; denn wenn eine Theorie gültig ist, muß sie auch objektiv richtig sein. Richtige Voraussage von Vorgängen genügt allein nicht. Man sieht also, daß das Kriterium der Objektivität in gewisser Beziehung innerhalb der Struktur der Theorie selbst liegt, es muß innerhalb einer bestimmten formalen Eigenschaft des idealen Schemas liegen, das den Anspruch erhebt, mit der \Virklichkeit übereinzustimmen. Dahin deutet auch die Relativitätstheorie. Objektivität wird gleichbedeutend mit der Unveränderlichkeit physikalischer Gesetze, nicht etwa physikalischer Phänomene oder Beobachtungen. Ein fallender Gegenstand mag für einen Beobachter auf einem fahrenden Zug eine Parabel und für einen anderen Beobachter auf dem Erdboden eine gerade Linie beschreiben. Diese Unterschiede im Erscheinungsbild haben so lange nichts zu bedeuten, als das Naturgesetz in seiner allgemeinen Form, d. h. der der Differentialgleichung, das gleiche für beide Beobachter ist. Einsteins Begriff der Objektivität nimmt jeden Anspruch auf Gleichförmigkeit aus dcr Sphäre dcr Wahrnehmung heraus und gibt ihm die grundsätzliche Form theoretischer Sätze. Er lehnt Newtons Mechanik ab wegen ihres

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Henry l\Iargenau

Unvermögens, diesem Prinzip Genüge zu leisten. Er schaltet aus diesem Grunde den Äther aus. Nachdem Einstein die spezielle Relativitätstheorie geschaffen hatte, führte ihn die Überzeugung von der endgültigen Bedeutung des Axioms der Invarianz trotz der verblüffenden Reihe der durch die spezielle Theorie erzielten Erfolge zu einer klaren Erkenntnis ihrer Grenzen. Denn die spezielle Theorie hatte die Invarianz nur in bezug auf Inertialsysteme anerkannt und daher die Objektivität nicht weit genug gefaßt. Aus diesem Mangel leitet die allgemeine Relativitätstheorie ihren Ursprung her. Die erstaunlichen Ergebnisse der Einsteinschen Objektivitätsdeutung haben alle philosophischen Untersuchungen über ihren logischen Status {ast völlig zum Schweigen gebracht. Angesichts dessen scheint es zu genügen, die Forderung der Invarianz auf die grundsätzlichen Thesen der Theorie zu beschränken, obwohl das in der Sphäre der unmittelbaren Erfahrung eine Variabilität erzeugt. Vom mathematischen Standpunkt aber ist dieses Verfahren nicht unparteiisch; denn es begünstigt die Differentialgleichungen vor den gewöhnlichen. Die Gesetze der Physik, die invariant bleibcn müssen, sind immer Differentialgleichungen. Ihre Lösungen, d. h. also gewöhnliche Gleichungen, enthalten Konstanten, die heim Übergang von einem Beobachter zum anderen ihre Werte ändern. Was nun die Differentialgleichungen logisch von den gewöhnlichen unterscheidet, ist dies, daß sie faktisch weniger aussagen, und daß die mit ihnen verbundenen Forderungen weniger drastische Wirkungen haben als ähnliche Forderungen bei ihren Lösungen. Man könnte daher die Bedeutung der Objektivität vidleicht in folgende Form fassen: Sie läuft auf eine Invarianz der Gruppe von theoretischen Behauptungen hinaus, die am wenigsten spezifisch sind. Die Idee der Invarianz bildet den Kern der Relativitätstheorie. Für den Laien und manchmal auch für den Philosophen bedeutet aber diese Theorie gerade das Gegenteil, nämlich eine Reihe von Gesetzen, die die Veränderlichkeit vom einen Beobachter zum anderen erlaubt und unterstreicht. Diese einseitige Auffassung liegt 8prachlich im Wort Relativität begründet, das die Theorie nicht so in ihrem Wesen charakterisiert, wie es zu wünschen wäre. Der wahre Stand der Dinge wird erkennbar, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das erwähnte Postulat der Objekt.ivität richten, welches verlangt, daß die Grundgesetze (die Differcntialgleichungen höchster Ordnung, wie sie in der Beschreibung der Wirklichkeit verwendet werden) in bezug auf bestimmte Transformationen invariant bleiben. Daraus mag die Variabilität bzw. die Relativität der Einzelbeobachtung als ci ne logische Folgerung erscheincn. Um ein einfaches Beispiel zu geben: die Grundgesetze der Elektrodynamik enthalten die Lichtgeschwindigkeit c. Wenn diese Gesetze invariant bleiben sollen, muß c konstant sein. Aber die Konstanz von c hat zur Folge, daß in verschiedenen Inertialsystemen bewegte Gegenstände sich zusammenziehen, bewegte Uhren langsamer gehen, daß 128

Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

es keine universelle Gleichzeitigkeit geben kann usw. Um die Objektivität der grundlegenden Beschreibung zu erzielen, muß die Theorie die Relativität auf den Bereich der unmittelbaren Beobachtung übertragen. In den philosophischen Diskussionen hat man die nebensächlichen Folgerungen zu sehr betont, zweifellos weil die sichtbaren Zeugnisse der Theorie diese Folgerungen so markant vor Augen stellen.

5. Einfachheit als Kriterium der Realität Verbunden mit der Hypothese, daß wir eine im erläuterten Sinne objektive Auffassung von der Realität gewinnen müssen, findet man im gesamten Werk Einsteins stets den Glauben, daß die beste Beschreibung der Welt auch die einfachste ist. "Nach unserer bisherigen Erfahrung sind wir zum Vertrauen berechtigt, daß die Natur die Realisierung des mathematisch denkbar E;infachsten ist"6. Das Kriterium der Einfachheit wird von den Theoretikern der Wissenschaft oft angewendet, um die annehmbaren Theorien von den unannehmbaren zu unterscheiden. Aber man erreicht damit nur selten völlige Klarheit in der Darstellung der Tatbestände. Vom Standpunkt der Lo~ik aus ist es außerordentlich schwierig, die Bedingungen festzustellen, unter denen eine Reihe von Axiomen als einfach betrachtet werden kann; und so wird es wahrscheinlich bleiben, bis die theoretische Physik völlig von den Methoden der symbolischen Logik beherrscht wird. Erst wenn die Zahl voneinander unabhängiger fundamentaler Axiome, mit denen eine Theorie arbeitet, feststell bar ist, wird Einfachheit zu einem Quantitätsbegriff. Immerhin fährt der Wissenschaftler inzwischen fort, diesen Begriff intuitiv zu gebrauchen, und zwar als eine Art topologischen Maßstabs, auf den er sich verläßt, wenn sich zwei konkurrierende Theorien, die beide gleich gut verifiziert sind, zur Annahme empfehlen. Dies geschah zum Beispiel in den Tagen des Kopernikus. Das Prinzip der Einfachheit trat in Erscheinung, und es sprach zugunsten der heliozentrischen TheCITie, obwohl es ganz gut möglich gewesen wäre, das ptolemäische Weltsystem zu verbessern, indem man beliebig viele deferierende Kreise und Epizyklen einfügte. Historisch gesehen ist es durchaus korrekt zu sagen, daß Kopernikus seine Theorie aufstellte, nicht weil er sie für wahr hielt, sondern weil sie einfacher war. Ähnliche Beispiele finden sich in der späteren Geschichte der Wissenschaft. Einsteins Anwendung des Prinzips der Einfachheit ist nicht nur scharfsinnig, sie ist auch konstruktiv. Wenn er neue Theorien vorbringt, läßt er sich von diesem Prinzip leiten. Das wird ihm möglich, indem er seine Be6

"Zur Methodik der theoretischen Physik" (1933), World S. 36, Weltbild S.153.

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deutung in gewisser Weise einschränkt, und zwar indem er es in die Form mathematischer Gleichungen gießt. Hier ist es ganz leicht zuzugeben, daß eine lineare Gleichung beispielsweise einfacher ist als eine von höherer Ordnung, daß eine Konstante die einfachste Funktion ist, daß ein Vektor ein einfacheres Gebilde ist als ein Tensor zweiter Ordnung usw. Auch im Bereich der Mathematik verbindet sich die Hypothese der Einfachheit sehr schön mit dem Postulat der Invarianz, wie sie im vorhergehenden Abschnitt behandelt ist. Um nochmals zu zitieren: "In der Beschränktheit der ,mathematisch existierenden einfachen Feldarten und einfachen Gleichungen, die zwischen ihnen möglich sind, liegt die Hoffnung des Theoretikers begründet, das Wirkliche in seiner Tiefe zu erfassen. "7 Diese Methode wird vor allem wirksam in der speziellen Relativitätstheorie mit ihrer Wahl von linearen Transformationsgleichungen8 ; in der Erklärung des photoelektrischen Effekts, bei dem sich die einfachste aller möglichen mathematischen Formulierungen so fruchtbar erwies; in der Theol'ie der Strahlung, in der die mathematische Einfachheit und Notwendigkeit zur Einführung eines Koeffizienten der spontanen Emission zwang, für den zur damaligen Zeit kein klares physikalisches Bedürfnis bestand; weiter in der Formulierung von Einsteins kosmologischer Gleichung in der allgemeinen Relativitätstheorie und schließlich in seiner Entdeckung, daß die Quantitäten, die in der so erfolgreichen Diracschen Theorie des Elektrons verwendet werden, tatsächlich die einfachsten Feldquantitäten (Spinoren) sind, die man für diesen Zweck brauchen kann. Es mag wohl sein, daß Einstein in seinem Vertrauen auf das Prinzip der Einfachheit zu wei.t ging. Denn es hat ihn dazu verleitet, die neueren Fortschritte der Quantentheorie unter Anwendung dieses Kriteriums mit Zurückhaltung zu beurteilen. Wir werden aber dieser Frage in einem späteren Abschnitt näher treten. Diese Idee der Einfachheit, über die wir uns nun klar geworden sind, ist aber für den Mann, der sie so erfolgreich anwandte, zugleich auch die Spiegelung einer tieferen Überzeugung, nämlich daß unser Begreifen der Wirklichkeit trotz allem \Vechselspiel in unserer Zeit auf ein bestimmtes Ziel zusteuert. Dieses Ziel mag nie erreicht werden, aber es wirkt als GrenzbegrifI. Und wenn ich mich nicht sehr irre, so betrachtet Einstein dieses Ziel als etwas Einfaches und darum auch eine einfache Theorie als das beste Vehikel, auf dem man sich ihm nähern kann. Überlegungen im Sinne mathematischer Einfachheit spielen in den modernen Theorien der Kosmologie eine wichtige Rolle. Ein HauptarguWorld S. 38, Weltbild S. 154f. Das ist vielleicht kein gutes Beispiel, denn es gibt außer der Einfachheit noch andere Gründe, warum man hier zu linearen Gleichungen greifen muß. Aber wir glaubten doch, es erwähnen zu sollen. 7

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Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit me nt für die Annahme eines im Raume begrenzten Universums war der Gedanke, daß die Grenzbedingungen für eine endliche geschlossene Oberfläche viel einfacher sind als die entsprechenden Bedingungen für eine Unendlichkeit, wie sie für ein quasi-euklidisches Universum erforderlich sind. Die Geschichte der "kosmologischen Konstante" wirft ein interessantes Licht auf diese Frage. Das einfachste Gesetz der Gravitation, welches den divergenzfreien Tensor zweiter Ordnung RI'," _1/2 gl'," R direkt auf den "Materie-Energie-Tensor T /-''' bezieht, erwies sich bedauerlicherweise als falsch, weil es die endliche mittlere Dichte der Materie im Universum nicht erklären konnte. Unter dem Zwang seiner Überzeugung vom Prinzip der Einfachheit führte Einstcin in sein Gesetz die Minimumkomplikation durch Hinzufügung des Gliedes AG ik ein, wobei A die kosmologische Konstante ist. Dies lief auf ein höchst unwillkommenes Opfer hinaus. Wenn man den Anhang zur zweiten Auflage von "The Meaning of Relativity" (1945) liest, fühlt man die Erleichterung heraus, die der Autor dieses erweiterten Gravitationsgesetzes angesichts der Arbeit von Friedmann empfand, die zeigte, daß die kosmologische Konstante letzten Endes gar nicht notwendig ist. Aber leider tritt dabei ein weiteres, noch ungelöstes Dilemma in Erscheinung. Die Friedmann-Gleichungen nehmen ein Alter des Universums von nur einer Milliarde Jahren an, während alle anderen Forschungsergebnisse einen größeren Zeitraum fordern.

6. Die Gestalt der physikalischen Theorien Die Physik vor der Entdeckung der Quantentheorie war gehemmt durch einen eigentümlichen Begriffsdualismus, nämlich die Unvereinbarkeit von Partikeln und Feldern oder, noch grundsätzlicher gesagt, dureh den Gegensatz zwischen diskreter Struktur und Kontinuum. Die Partikel auffassung wurde bestätigt durch die Newtonsche Physik und gipfelte in den glänzenden Ideengängen von Heimholtz. Aber die eigentliche Idee eines Partikels wird logisch unhaltbar, wenn sie nicht verknüpft wird mit der Idee eines absoluten Raumes oder eines Äthers, so daß man einen invariablen Bezugskörper für seine augenblickliche Position erhält. Die Sachlage ist von Einstein ausgezeichnet beschrieben, so daß wir ihn ausführlich zitieren: "Vor Maxwell dachte man sich das Physikalisch-Reale - soweit es die Vorgänge in der Natur darstellen sollte - als materielle Punkte, deren Veränderungen nur in Bewegungen bestehen, die durch partielle Differentialgleichungen beherrscht sind. Nach Maxwell dachte man sich das Physikalisch-Reale durch nicht mechanisch deutbare, kontinuierliche Felder dargestellt, die durch partielle Differentialgleichungen beherrscht werden. Diese Veränderung der Auffassung des Realen ist die tiefgehendste und fruchtbarste, welche die Physik seit Newton erfahren hat; man muß aber

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auch zugehen, daß die restlose Realisierung der programmatischen Idee noch keineswegs gelungen ist. Die erfolgreichen physikalischen Systeme, welche seither aufgestellt worden sind, stellen vielmehr Kompromisse zwischen diesen heiden Programmen dar, die ehen wegen ihres Kompromißcharakters den Stempel des Vorläufigen und logisch Unvollkommenen tragen, obschon sie im einzelnen große Fortschritte gemacht haben. Da ist zuerst die Lorentzsche Elektronentheorie zu nennen, in der das Feld und die elektrischen Korpuskeln als gleichwertige Elemente zur Erfassung des Realen nebeneinander auftreten. Es folgte die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, welche - obgleich ganz auf feldtheoretische Erwägungen gegründet - die selbständige Einführung materieller Punkte und totaler Differentialgleichungen bisher nicht vermeiden konnte".9 Die Einstein beherrschende Ansicht kommt hier sehr klar zum Ausdruck. Das Reale muß als eine kontinuierliche Mannigfaltigkeit angesehen werden. Diese Üherzeugung hat Einsteins letzte Forschungen inspiriert, vor allem seine Forderung einer einheitlichen Feldtheorie nach dem Modell der allgemeinen Relativität, die die Gesetze des Elektromagnetismus ebenso einschließt wie die der Gravitationsfelder. Die Einfachheit verlangt die Abwesenheit von Singularitäten (Individualitäten) in einer solchen Mannigfaltigkeit, aber wenn Singularitäten automatisch in Erscheinung träten und mit elektrischen und materiellen Partikeln in Korrelation gesetzt werden könnten, so wäre das eine noch größere Errungenschaft der Forschung. Jedoch sind die Erfolge dieser Forschung weithin begrenzt, teilweise weil Einstein einen einsamen Weg geht und die meisten Physiker sich an die Probleme der Quantenphysik halten, die eine bessere unmittelbare Lösung versprechen. Gleichwohl ist die Notwendigkeit der Vereinheitlichung, vielleicht nach Art einer Theorie des Kontinuums, stärker als es auf Grund philosophischer Überlegungen oder auch bestimmter Voreingenommenheiten betreffs der Darstellung der Wirklichkeit erscheinen möchte. Man darf nämlich nicht übersehen, daß man hier ein Problem der tatsächlichen inneren Geschlossenheit vor sich hat. Wenn die Relativität auch nur in ihrer speziellen Form richtig ist, dann ist der Begriff unabhängiger Partikel absurd, weil ihre Zustände prinzipiell nicht spezifiziert werden können. Wir finden da noch weitere Schwierigkeiten, und es gibt Anzeichen dafür, daß man Partikel • Aus "Maxwells Einfluß auf die Entwicklung der Auffassung des PhysikalischRealeJl", World S. 65f., Weltbild S. 21ff. Die einzige erhältliche Übersetzung gebraucht die Worte "partielle" und "totale" Differentialgleichungen in einer mich verwirrenden Weise. Ich habe mir darum die Freiheit genommen, diese Worte in Übereinstimmung zu bringen mit meinen Vorstellungen von der Sache. H.M.

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nicht als Punkte, sondern als Strukturen endlicher Größe und daher potentiell unendlicher Kompliziertheit betrachten muß. Also muß man annehmen, ihre Zustände seien durch eine unendliche Reihe von Variabeln gegeben, und diese Folgerung bedroht die Gültigkeit aller kausalen Beschreibung in einer bestürzenden Weise. Es ist daher klar, daß sich die physikalische Beschreibung entweder auf die vereinfachenden Möglichkeiten stützen muß, die durch Felder, welche partiellen Differentialgleichungen genügen, geboten werden und somit ausreichende Regelmäßigkeit für eine kausale Analyse aufweisen, oder man muß die vierdimensionale Mannigfaltigkeit ganz aufgeben und neue Bahnen verfolgen, wie sie durch die Quantenmechanik beschritten werden. Einsteins Auffassung über diese Möglichkeiten, die wir jetzt prüfen wollen, wirft weiterhin ein interessantes Licht auf seinen Begriff von der Wirklichkeit.

7. Klassische und quantenmechanische B,eschreibung Zur Einführung erinnern wir den Leser zunächst an die wesentlichen Differenzen zwischen der sogenannten klassischen und der quantenmechanischen Beschreibung der Realität. In der Newtonschen Mechanik versteht man unter der Materie ein Aggregat von Massenpunkten, und der Zustand jedes Massenpunktes ist mit Hilfe von 6 Zahlen spezifiziert, 3 Koordinaten und 3 Bewegungsgrößen. Wenn der Zustand in irgendeinem Moment bekannt ist, so können alle künftigen und vergangenen Zustände aus den Bewegungsgesetzen berechnet werden. Wahrscheinlichkeiten enthält dieses Schema nur infolge der Unkenntnis aller Zustände aller Partikel. Die Unkenntnis ist also nur durch die Schwierigkeiten der Messung verursacht. Entsprechend der klassischen Auffassung hat eine Partikel Lage und Geschwindigkeit in dem einfachen Sinne eines Besitzens, ebenso wie ein sichtbarer Gegenstand eine bestimmte Größe oder Farbe hat. Wenn man sagt, meßbare Zustände (Quantitäten) wie Lage und Geschwindigkeit eines Partikels seien real, so ist das eine ganz klare Feststellung, die keine weitere Untersuchung erfordert. Die Relativitätstheorie hat die einzelnen Züge dieses Bildes erheblich verschärft und ihm einen Grad von Evidenz und Naturbedingtheit verliehen, gegen den kaum ein Widerstand möglich ist. Indem sie zeigt, man könne die Zeit als vierte Koordinate betrachten; indem sie das sich ändernde Universum als ein System von Weltlinien darstellt, macht sie das Bild sowohl symmetrischer als auch ästhetisch ansprechender, und der Sinn, in dem Partikel eine Lage, eine Zeit und eine Geschwindigkeit haben, ist noch zwingender geworden. Aber gegen dieses höchst vollkommene Bild kann man ebenso ",ie gegen seine Newtonschen Vorlä.ufer aus dem Grunde Einwände erheben, weil es die endliche Größe und die innere Struktur der

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Partikel nicht berücksichtigt, und weil es sicherlich hoffnungslos akausal würde, wenn man es versuchen würde. Die Quantenmechanik ändert das alles durch Einführung eines anderen Zustandsbegriffes. Allerdings benutzt sie noch die Terminologie der Partikel, aber sie verlangt nicht mehr, daß wir uns damit befassen, genau anzugeben, wo die Partikel ist oder welche Geschwindigkeit sie hat. Sie operiert tatsächlich mit Zustandsfunktionen P (x, y, z), die bestimmte Werte für alle Lagen des physikalischen Systems (d. h. der Partikel) haben. Sie bilden die beste Möglichkeit, die Wirklichkeit darzustellen, aber sie erlauben keine allgemeine Vorhersage zukünftiger und vergangener Lagen, Geschwindigkeiten usw. des Systems. Wenn wir weiterhin das Wort Zustand in seinem klassischen Sinne gebrauchen, so definieren diese Funktionen überhaupt keinen Zustand. Gleichwohl sind sie außerordentlich brauchbar. Denn durch einfache und wohlbekannte mathematische Verfahrensweisen erlauben sie eine Berechnung der mittleren Werte aller Messungen, die man möglicherweise an dem System ausführen kann. Oder, wenn man so will: die Wahrscheinlichkeit' daß eine bestimmte Messung einen gegebenen Wert ergibt, kann man durch einfache Regeln berechnen. Viele Quantenmechaniker folgen der klassischen Terminologie so weit, daß sie sagen: Die Quantenmechanik ermöglicht die Berechnung der Wahrscheinlichkeit, daß eine bestimmte Quantität wie die Bewegungsgröße bei der Messung einen bestimmten Wert ergeben wird. Der Physiker kann das für seine praktische Tätigkeit als eine Arbeitsregel hinnehmen. Für den Philosophen bringt es freilich eine Fälschung mit sich, und zwar eine recht unglückliche, gerade weil sie so harmlos erscheint. Tatsächlich bezieht sich nämlich die Quantenmechanik nie auf quantitative Größen eines Systems. Sie enthält keinen Hinweis irgendwelcher Art darauf, daß das System solche quantitativen Größen im früheren Sinne besitzt. Sie tut weiter nichts als daß sie in Wahrscheinlichkeitsbegriffen aussagt, was man auf Grund von Messungen erfahren kann. Alle weiteren Schwierigkeiten entspringen aus einem unrichtigen Gebrauch der klassischen Terminologie in einem Bereich, der dieser verschlossen bleiben muß. Wir werden sehen, daß Einsteins Beurteilung der Quantenmechanik durch diese Unzuträglichkeit gestört ist. Die Kenntnis der Zustandsfunktionen stellt das Höchstmaß an Erkenntnis dar, das für ein physikalisches System erzielt werden kann, und die quantenmechanische Theorie, die dieses Höchst.maß an Darstellung erreicht, heißt darum die Theorie der reinen Fälle oder der reinen Zustände. Fast alles, was in der modernen Atomtheorie brauchbar ist, gehört hierzu; es entspricht der gewöhnlichen Dynamik der klassischen Theorie. Aber die klassische Physik enthält auch die statistische Mechanik, wo Zustände mit eIDem geringen Grad von Genauigkeit bekannt sind. In der Quanten-

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Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

mechanik kann es ebenfalls so sein, daß sich die Kenntnis nur auf die Wahrscheinlichkeiten (lVi) erstreckt, ein System mit der Zustandsfunktion !PI vorzufinden. Soweit Beobachtung oder Messungen in Frage kommen, haben wir es also mit zwei Arten von Wahrscheinlichkeiten zu tun. Selbst wenn wir sicher wüßten, daß das System im Zustand !PI wäre, könnten die Messungsergebnisse nur mit Wahrscheinlichkeit berechnet werden, und die Unsicherheit, die durch WI ausgedrückt wird, würde diese Kenntnis vermindern. Ein Zustand f/>, der dieser unvollkommenen Kenntnis entspricht und geschrieben wird L'vwi !PI , heißt ein gemischter Zustand. Die Theorie gemischter Zustände wurde durch von Neumann entwickelt; ihr Hauptanwendungsgebiet ist die Quantenthermodynamik und die Theorie der Messung. Da sich Einstein stark für sie interessiert, mußten wir sie hier erwähnen. Wir kommen in kurzem noch einmal darauf zurück. Wir fassen diese einleitenden Betrachtungen zusammen: Die Quantenmechanik definiert ihre Zustände nicht in den Ausdrücken der klassischen Zustandsvariabeln. Sie benützt Funktionen, die sich zwar auf die Wirklichkeit beziehen, aber die Existenz der früheren Zustandsvariabeln nicht notwendig in sich schließen. Diese Funktionen sind mit der Erfahrung (Beobachtung, Messung) insofern völlig befriedigend verknüpft, als sie Wahrscheinlichkeitsvoraussagen von Vorgängen erlauben, aber nicht die Voraussage von genauen quantitativen Größen oder Eigenschaften des Systems. Noch weniger sichere Erkenntnis ist in der Quantenmechanik durch die Idee der gemischten Zustände dargestellt, die spezieller Behandlung bedarf und von den reinen Fällen unterschieden werden muß.

8. Quantentheorie und Realität Einstein, Rosen und Podolski haben über ihre Betrachtungen zu den Wandlungen, die die Quantentheorie bei der Beschreibung physikalischer Zustände herbeigeführt hat, eine Arbeit mit dem bedeutsamen Titel veröffentlicht "Kann die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig angesehen werdell?"lO. Ohne eine negative Antwort auf diese Frage zu geben, enthält der Artikel eine mehr oder weniger systematische Dokumentierung dessen, was die Autoren unter Realität verstehen, naturgemäß begrenzt auf den vorliegenden Zweck. Sie bestätigen einige der hier bereits besprochenen Punkte. Wir lesen da in ausführlicher Wiedergabe: "Jede ernsthafte Betrachtung einer physikalischen Theorie muß die Unterscheidung berücksichtigen zwischen der objektiven Realität, die von jeder Theorie unabhängig ist, und den physikalischen Begriffen, mit denen 10

Phys. Rev., Bd. 47, S. 777 (1935).

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die Theorie operiert. Diese Begriffe müssen so sein, daß sie der objektiven Realität entsprechen, und mit ihrer Hilfe gewinnen wir ein Abbild dieser Realität für uns selbst. Welchen Sinn auch immer wir dem Ausdruck lJollständig zuschreiben, die folgende Bedingung für eine vollständige Theorie erscheint uns jedenfalls notwendig: Jedes Element der physikalischen Wirklichkeit muß sein Gegenstück in der physikalischen Theorie haben. Das ist also für uns die Bedingung der Vollständigkeit. Damit ist auch eine zweite Frage leicht zu beantworten, sobald wir entscheiden können, welches denn die Elemente der physjkalischen Wirklichkeit sind. Diese Bestandteile der physikalischen Wirklichkeit kann man nicht durch apriorische philosophische Betrachtungen bestimmen, sondern nur auf Grund von Ergebnissen der Experimente und Messungen finden. Eine wirklich umfassende Definition der Realität ist allerdings für unseren Zweck überflüssig. Wir können uns mit dem folgenden Kriterium begnügen, das uns vernünftig erscheint. Wenn wir, ohne irgendwie störend in ein System einzugreifen, mit Sicherheit (d. h. mit einer an Einhelligkeit grenzenden Wahrscheinlichkeit) den Wert einer physikalischen Größe lJoraussagen können, dann existiert ein Bestandteil der physikalischen Realität, der dieser physikalischen Größe entspricht. Es scheint uns, daß dieses Kriterium, das allerdings bei weitem nicht alle möglichen Wege zur Erkenntnis einer physikalischen Realität erschöpft, doch einen solcher Wege eröffnet, vorausgesetzt, daß die darin enthaltenen Bedingungen erfüllt werden. Dieses Kriterium, das nicht als eine notwendige, sondern nur als eine genügende Voraussetzung der ,Realität' angesehen werden muß, steht in Übereinstimmung sowohl mit den klassischen als mit den quantenmechanischen Ideen von der Realität." Die besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf die im Druck hervorgehobenen Stellen. Die erste stellt eine Korrespondenz zwischen den Tatbeständen der physikalischen Realität und der physikalischen Theorie her. Bedauerlicherweise findet man nirgendwo eine deutliche Erklärung über den Sinn der physikalischen Realität unabhängig von der physikalischen Theorie. Nach meiner Überzeugung kann tatsächlich die Realität nur in Beziehung zur physikalischen Theorie mit Erfolg definiert werden. Wenn das so ist, dann wird Einsteins Auffassung tautologisch. Es besteht zwar die Möglichkeit einer günstigeren Interpretation, wenn man unter physikalischer Realität in diesem besonderen Zusammenhang nur die Sinneserfahrung oder vielleicht die Gesamtheit aller möglichen Sinneserfahrung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versteht. Der Nachteil dieser Auffassung ist ihre Divergenz von der üblichen Deutung der Realität. Denn dieser Begriff schließt gewohntermaßen mehr Struktur und Gleichförmigkeit in sich, als die Sinneserfahrung allein zu liefern vermag. 136

Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

Was die zweite im Druck hervorgehobene Stelle in dem letzten Zitat betrifft, so finden wir sie etwas zu speziell für eine allgemeine Anwendung; ihr Schwergewicht spricht zugunsten der klassischen Definition eines Zustandes. Die Wirklichkeit wird physikalischen Größen auf Grund ihrer Voraussagbarkeit zugewiesen. Wie aber ist es, wenn die genauen quantitativen Größen schemenhafte Dinge sind, denen kein wesentliches Interesse gilt, so wie es in der Quantenmechanik tatsächlich oft der Fall ist? Wie verhält es sich, wcnn die physikalische Theorie die Erfahrungselemente direkt ergreift, sich unmittelbar an Beobachtungen hält, ohne die Interpolation idealer genauer Größen, wie Lage und Bewegungsgröße ? Auf diese Frage kommen wir zum Schluß noch zu sprechen. Zunächst sei nur bemerkt, daß bei Annahme des zweiten im Druck hervorgehobenen Zitates die Argumentation von Einstein, Podolski und Rosen genau das leistet, was sie leisten will. Sie beweist, daß die quantenmechanische Beschreibung der Realität nicht vollständig ist, wenn man die Diskussion auf die reinen Fälle beschränkt, und diese Beschränkung liegt den betreffenden Xußerungen zugrunde, wenn sie auch nicht eigens darin erwähnt wird. Es handelt sich hier auch keineswegs um einen unwesentlichen Beitrag; denn die halb klassische Auffassung der Realität, die im Zitat enthalten ist und die hier als ein nicht mehr gültiges Überbleibsel aus früheren Tagen kritisiert wird, ist tatsächlich von den Physikern weithin festgehalten und erfreut sich noch heute einer gewissen Beliebtheit. Wir prüfen nun noch kurz den logischen Inhalt der fraglichen Arbeit und erwähnen die Schlußfolgerungen im einzelnen. Der Hauptinhalt kann durch das folgende Beispiel zusammenfassend erkannt werdenl l . Nehmen wir an, zwei physikalische Systeme seien vom Anfang der Zeit an bis jetzt isoliert voneinander geblieben; nun sollen sie kurz aufeinander einwirken, um dann aber wieder für immer isoliert zu werden. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik ist es möglich, die Zustandsfunktion der zwei isolierten Systeme nach der gegenseitigen Einwirkung auf zwei äquivalenten Wegen mit Hilfe biorthogonaler Entwicklungen darzustellen. Die eine Entwicklung setzt die Wahrscheinlichkeiten für die Ergebnisse einer Beobachtung vom Typ Al im System 1 mit denen für die Beobachtung vom Typ A2 im System 2 in Beziehung. Die andere setzt die Wahrscheinlichkeiten für die Ergebnisse der Beobachtung BI im System 1 mit denen für die Beobachtung B 2 im System 2 in Korrelation. In Einsteins Terminologie sind Al' A2 , BI' B2 "Größen" wie in der klassischen Physik. Wenn nun eine Messung vom Typ A 2 am System 2 nach der Isolierung gemacht wird und der gemessene Wert ist A2 , dann kann man gewisse Schlüsse mit 11 Die folgende Übersicht ist stark konzentriert und wird wahrscheinlich für solche Leser einigermaßen unverständlich bleiben, die nicht zuvor die in Anmerkung 10 genannte Arbeit studiert haben.

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Bezug auf den Zustand von System 1 ziehen. Der übliche Schluß ist folgender: Nach der Messung wissen wir genau, in welchem Zustand sich das System 2 befinden muß. Er ist so beschaffen, daß eine weitere Wiederholung der Messung den gleichen Wert liefern muß. Mit anderen Worten, die Messung hat die ursprüngliche Zustandsfunktion in einen Eigenzwltand,12 für diese Art von Messung verwandelt. Aber mit diesem Eigenzustalld von System 2 ist auch ein Eigenzustand von System 1 verbunden, der dem Wert a 1 entspricht, dessen Existenz somit als das Ergebnis einer Messung erschlossen werden kann, die an System 2 vorgenommen wurde. Diese Schlußfolgerung bringt uns Verwirrung. Denn nehmen wir an, wir hätten uns nach der Isolierung vorgenommen, das Ergebnis eines anderen Messungstypus, z. B. vom Typ B2 , am System 2 zu beobachten, und der gemessene Wert sei b 2 • Das würde dann der Gewißheit entsprechen, daß man am System 1 die Größe b 1 mißt. Wenn nun b 1 von a 1 verschieden wäre, hätten wir die merkwürdige Tatsache einer Messung am System 2 vor Augen, die den Zustand von System 1 beeinfIußt, während doch die beiden Systeme zu dieser Zeit gar nicht aufeinander einwirken. Die Situation ist tatsächlich nicht nur deshalb schlimm; denn man kann an bestimmten Beispielen zeigen, daß die Ergebnisse a 1 und b 1 nicht nur unterschiedlich sind, sondern sogar unvereinbar sein können (also zu unvertauschbaren Operatoren gehören). Sie sind von einer Art, die die Erfahrung niemals gleichzeitig liefern kann, und der folgende Schluß ist innerhalb des Rahmens von Einsteins Fragestellung unausweichlich. In Übereinstimmung mit seinen Kriterien müssen wir in dem einen Falle a 1 , in dem anderen b 1 als einen Bestandteil der Realität ansehen. Aber beide gehören zur gleichen Realität; denn das System 1 ist durch den Messungsvorgallg nicht gestört worden. Von da aus kommen Einstein, Podolski und Rosen na eh einer kurzen weiteren Durcharbeitung der Sache schließlich zu dem Urteil: "Wir sind somit zu dem Schluß gezwungen, daß die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Realität, wie sie durch Wellenfunktionen, d. h. durch Zustandsfunktionen, gegeben wird, nicht vollständig ist." Um den Ernst dieses Verdikts zu beurteilen, müssen einige Voraussetzungen dieser Argumentation geprüft werden. Wir bemerken, daß die Autoren ständig mit einfachen Zustandsfunktionen und daher mit reinen Fällen operieren und daß sie ein Axiom annehmen, nach dem eine Messung einen Zustand in einen Eigenzustand der gemessenen Beobachtungsgröße verwandelt. Nach meiner an anderer Stelle begründeten Allsicht13 kann Für die Terminologie siehe irgendein Werk über Quantenmechanik. "Critical Points of Modern Physical Theory", Journal of Philosophy of Science, Bd. 4, 337 (1937). The Nature of Physical Reality, McGraw-Hill, New York, 1950. 12

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diese Auffassung aber trotz ihrer Plausibilität und ihrer engen Anlehnung an die klassische Physik nicht aufrechterhalten werden. Empirisch gesehen ist die Wirkung einer Messung auf den Zustand eines Systems außerordentlich kompliziert, manchmal verhältnismäßig schwach, manchmal aber, wie bei der Absorption von Photonen, so stark, daß die Identität des physikalischen Systems zerstört wird. Es ist schwierig, eine einfache Theorie über das dynamische Schicksal eines Systems während der Messung aufzustellen. Nun darf man sagen, die Quantenmechanik sei die Disziplin, die diese Schwierigkeit erfolgreich überwindet, indem sie die ganze Methode physikalischer Beschreibung abändert und die Unsicherheiten empirischer Erkenntnis bereits in ihrer Basis berücksichtigt. Wenn wir das richtig auffassen, dürfen wir nicht fragen: was geschieht in einem System während der Messung, sondern müssen uns mit dem Bescheid zufrieden geben, den wir in dieser Messung erhalten. Und ein weiteres: eine Zustandsfunktion stellt nicht das Ergebnis einer einzelnen Beobachtung dar. Warum soll denn eine Einzelbeobachtung eine Zustandsfunktion, d. h. eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, bestimmen? So scheint es, daß Einsteins Analyse implizit die Aufmerksamkeit auf eine Unzuträglichkeit lenkt, die sich häufig in die Diskussion über die Grundlagen der Quantenmechanik einschleicht, und zwar eine, die näher zu entwickeln nicht unwichtig ist. Das Schicksal eines Systems während der Messung kann nicht befriedigend durch den Formalismus beschrieben werden, der in der hier diskutierten Arbeit angewendet wird. Seine Analyse erfordert die Anwendung gemischter Zustände. Verschiedene Autoren, zuerst von Neumann, haben tatsächlich gezeigt, daß auf Grund der Wirkung einer Messung ein reiner Fall in einen gemischten Zustand verwandelt wird. Sobald man das erkennt, verschwinden die logischen Schwierigkeiten. Um das Bild abzurunden, sei noch einmal betont, daß wir eine Neuformulierung des Kriteriums für die Realität, das klassische Größen (Lage, Geschwindigkeit usw.) als Teil der Wirklichkeit betrachtet, dringend benötigen. Die Quantentheorie leugnet die Zuordnung von zahlenmäßigen Größen zu physikalischen Systemen, insofern es sich um ein "Besitzen" handelt. Zu sagen, ein Elektron hat eine Bewegungsgröße, wenn es sich nicht in einem Eigenzustand der Bewegungsgröße befindet, ist sinnlos, und in diesem Falle ist seine Bewegungsgröße keine wesentliche Komponente der Realität. Die Möglichkeit, "seine Bewegungsgröße zu messen", besteht natürlich immer; aber im eigentlichen Sinne bedeutet das nicht mehr als einen Akt, durch den Erfahrung einer bestimmten Art geschaffen wird. Diese Erfahrung ist ein Teil der Realität, wie es auch die Tatsache ist, daß bei einer Wiederholung der Messung ihr Ergebnis von der ersten verschieden ausfällt. Um sicher zu sein, sollte man sagen, daß physikalische "Größen", wie etwa Lage und Geschwindigkeit, eigentlich erst im Meßakt 139

Henry Margenau real werden, sonst unter Um3tänden nur (reale) Wahrscheinlichkeiten besitzen. Einstein hat immer richtig betont, daß die klassische Kontinuität von makroskopischen Eigenschaften durch die Quantenphysik zunichte gemacht wird. Er erhebt weitere Einwände gegen die neue Forschungsrichtung. Wir lesen in der genannten Arbeit "Zur Methodik der theoretischen Physik": Die Quantenmechanik "zwingt aber leider dazu, ein Kontinuum zu benutzen, dessen Dimensionszahl nicht die des Raumes der bisherigen Physik (nämlich 4) ist, sondern mit der Zahl der das betrachtete System konstituierenden Partikeln unbegrenzt ansteigt. Ich kann nicht umhin, zu bekennen, daß ich dieser Interpretation nur eine vorübergehende Bedeutung beimesse. Ich glaube noch an die Möglichkeit eines Modells der Wirklichkeit, d. h. einer Theorie, die die Dinge selbst und nicht nur die Wahrscheinlichkeit ihrcs Auftretens darstellt." Hier dürfte man gespannt sein, was aus den Modellen mit vorher zugeschriebenen Eigenschaften wird, wenn die Experimente Zweifel an ihrer Existenz aufkommen lassen. Muß uns nicht das Modell eines Elektrons zu einer Entscheidung zwingen, ob es eine Partikel oder eine Welle ist? Diese Frage ist freilich im Licht der neueren Entwicklung nicht zu beantworten. Einstein hält die Heisenbergsche Unsicherheitsrelation für richtig und wichtig, aber er zieht eine andere Art der Beschreibung vor. " ... Um zum Beispiel dem atomistischen Charakter der Elektrizität gerecht zu werden, brauchen die Feldgleichungen nur zur folgenden Konsequenz zu führen: Ein dreidimensionaler Raumteil, an dessen Begrenzung die elektrische Dichte überall verschwindet, enthält stets eine elektrische Gesamtladung von ganzzahligem Betrag. In einer Kontinuumtheorie würde sich also der atomistische Charakter der Integralsätze befriedigend äußern können, ohne Lokalisierung der die atomistische Struktur ausmachenden Gebilde. Erst wenn eine solche Darstellung der atomistischen Struktur gelungen wäre, würde ich das Quantenrätsel für gelöst halten".14 Zum Schluß wäre noch folgendes zu sagen. Es ist angesichts der vorliegenden Schriften klar, daß Einstein mit seinem intuitiven Scharfsinn für das physikalisch Wirkliche eine Diskrepanz in der üblichen Beschreibung des Universums gefunden hat. Der Begriff einer unabhängigen Partikel muß aufgegeben werden, weil der Absolutheitscharakter des Raumes oder des Äthers im Newtonschen Sinne nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Ferner bedroht die Annahme einer dreidimensionalen Unendlichkeit punktförmiger Partikel, die man zur Berechnung von Strukturen endlicher Größen benötigt, die Einfachheit und damit die Möglichkeit kausaler Analyse. Und es gibt noch andere Hinweise solcher Art. 1&

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World S. 40, Weltbild S. 155-156.

Einsteins Auffassung von der Wirklichkeit

Man sieht heute zwei Wege, die aus diesen Schwierigkeiten führen können. Der eine ist das Festhalten an der Wissenschaftslehre der klassischen Physik, also die Wirklichkeit an Hand von Systemen zu beschreiben, die durch stetige, ununterbrochen existierende Eigenschaften charakterisiert werden. Das ist nur möglich unter Anwendung von Feldtheorien, in denen jeder Punkt eines vierdimensionalen Kontinuums ein stetiger Träger von Qualitäten, wie z. B. eines metrischen oder elektrodynamischen Potentials, wird. Um diesen Leitgedanken praktisch anwendbar zu machen, müssen die Feldtheorien partiellen Differentialgleichungen unterliegen, die es erlauben, einen weiten Bereich des Kontinuums durch die Eigenschaften eines infinitesimalen Ausschnittes zu kontrollieren und so eine Basis für die Kausalität zu gewinnen. Das ist der Weg, den Einstein bevorzugt. Der andere Weg führt durch weniger bekanntes Gebiet. Um es zu betreten, muß man vieles aus der klassischen Physik hinter sich lassen. Man muß den Begriff eines physikalischen Zustandes neu definieren und eine mehr bruchstückhafte Form der Realität annehmen, die ihr eigen ist. Das wiederum bedingt das Aufgeben des Versuches, die Erfahrung auf ein vierdimensionales Kontinuum aufzutragen, aber es führt zu einem Zweig der Mathematik, der an sich besonders reizvoll ist. Die heutigen Erfolge in der Erforschung des Atoms empfehlen bestimmt diesen Weg, also den der Quantenmechanik. Aber auch da treten Schwierigkeiten auf, die in der Quantentheorie der elektromagnetischen Felder bereits sehr störend wirken und den Enthusiasmus derer, die dieses Gebiet betreten, bereits zu dämpfen beginnen. Vielleicht treffen die beiden Wege jenseits unseres gegenwärtigen Hori.zontes zusammen. Sloane Physics Laboratory Yale University.

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Hans Reichenbach DIE PHILOSOPHISCHE BEDEUTUNG DER RELATIVITÄTSTHEORIE

I. Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie ist zum Gegenstand widersprechender Meinungen geworden. Während viele Autoren den philosophischen Gehalt der Theorie betont und sogar versucht haben, sie als eine Art philosophisches System zu interpretieren, haben andere das Vorhandensein einer philosophischen Problematik geleugnet und die Ansicht vertreten, daß Einsteins Theorie eine rein physikalische, nur für den mathematischen Physiker interessante Angelegenheit ist. Diese Kritiker glauben, daß philosophische Ansichten mit anderen Mitteln gebildet werden als durch die Methoden der Wissenschaftler, und daß sie von den Ergebnissen der Physik unabhängig sind. Nun ist allerdings das, was man die Philosophie der Relativität genannt hat, weitgehend die Frucht von Mißverständnissen der Theorie und nicht so sehr ihres physikalischen Inhalts. Philosophen, die es für der Weisheit letzten Schluß halten, daß alles relativ ist, sind im Irrtum, wenn sie glauben, daß Einsteins Theorie den Beweis für eine solche weittragende Verallgemeinerung liefert. Und ihr Irrtum wird noch krasser, wenn sie eine derartige Relativität auf das Gebiet der Ethik übertragen und behaupten, Einsteins Theorie führe zum Relativismus der menschlichen Rechte und Pflichten. Die Relativitätstheorie gilt nur auf dem Gebiet der Erkenntnis. Daß moralische Begriffe mit den sozialen Klassen und der Struktur der Zivilisation einem Wandel unterliegen, ist eine Tatsache, die man nicht aus Einsteins Theorie ableiten kann. Der Parallelismus zwischen der Relativität der Ethik und der von Raum und Zeit ist nur als eine oberflächliche Analogie anzusehen, die die wesentlichen logischen Unterschiede zwischen den Bereichen des Willenslebens und der Erkenntnis verwischt. Es erscheint verständlich, daß diejenigen, die in der Präzision mathematisch-physikalischer Methoden erzogen sind, die Physik von solchen Blüten von Philosophastern freihalten wollen. Aber es wäre ebensosehr ein Mißverständnis zu glauben, Einsteins Theorie sei keine philosophische Theorie. Diese Entdeckung eines Physikers 142

Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie

hat radikale Konsequenzen für die Erkenntnistheorie. Sie zwingt uns, gewisse überlieferte Begriffe zu überprüfen, die in der Geschichte der Philosophie große Bedeutung erlangt haben, und sie bietet Lösungen für bestimmte Fragen, die so alt sind wie die Geschichte der Philosophie und früher nicht beantwortet werden komiten. Platos Versuch, die Probleme der Geometrie durch eine Theorie der Ideen zu lösen, Kants Bestreben, das Wesen von Raum und Zeit durch "reine Anschauung" und durch eine Transzendentalphilosophie zu erkennen, waren zwei Antworten auf die gleichen Fragen, auf die Einsteins Theorie in einer so viel späteren Zeit eine andere Antwort gab. Platos und Kants Lehren waren philosophische Theorien. Aber auch Einsteins Relativitätstheorie ist eine philosophische Theorie und keine bloße Angelegenheit der Physik. Und die von ihm behandelten Fragen sind für die Philosophie nicht z",eiten Ranges, sondern von grundsätzlicher Bedeutung; das ist ganz klar bei der zentralen Stellung, die sie in den Systemen von Plato und Kant einnehmen. Deren Systeme werden unhaltbar, wenn man Einsteins Antwort an die Stelle der Antworten setzt, die die beiden Denker auf die gleichen Fragen gegeben haben. Ihre Grundlagen werden erschüttert, wenn Raum und Zeit nicht Offenbarungen sind, die aus der Vision einer Ideenwelt oder aus der reinen Vernunft stammen, deren Existenz ein philosophischer Apriorismus bewiesen zu haben behauptete. Die Analyse der Erkenntnis ist immer der grundsätzliche Ausgangspunkt der Philosophie gewesen. Und wenn die Erkenntnis auf einem so fundamentalen Bereich wie dem von Raum und Zeit überprüft werden muß, so werden sich die Folgen einer solchen Kritik auf die ganze Philosophie erstrecken. Es heißt aber nicht, Einstein zum Philosophen zu machen, wenn man für die philosophische Bedeutung seiner Theorie eintritt; oder es bedeutet doch jedenfalls nicht, daß Einstein seiner ursprünglichen Absicht nach Philosoph ist. Alle Forschungsgegenstände Einsteins finden sich in erster Linie im Reich der Physik. Aber er erkannte, daß sich gewisse physikalische Probleme nur lösen lassen, wenn man zunächst die Grundlagen von Raum und Zeit logisch analysiert, und ebenso wurde ihm klar, daß eine solche Analyse umgekehrt eine philosophische Richtigstellung bestimmter gewohnter Begriffe der Erkenntnis voraussetzt. Der Physiker, der das Michelson-Experiment verstehen will, muß sich an eine Philosophie halten, für die der Sinn einer Aussage auf ihre Verifizierbarkeit zurückgeführt werden kann. Das heißt, er muß die Verifizierbarkeitstheorie der Sinnerkenntnis voraussetzen, wenn er dem Irrgarten zweideutiger Fragen und willkürlicher Komplikationen entrinnen will. Diese positivistische oder wohl besser gesagt empiristische Haltung bestimmt Einsteins philosophische Position. Es war nicht nötig, daß er an dieser in größerem Ausmaße selbständig arbeitete. Er brauchte sich bloß dem Zug einer Generation von Physikern 143

Hans Reichenbach

vor ihm anzuschließen, die in der bezeichneten Richtung gingen, wie Kirchhoff, Hertz oder Mach, und eine philosophische Entwicklung zu ihren letzten Konsequenzen zu führen, die auf früheren Stufen in Prinzipien wie Occams Induktion und Leibniz' Identität des Ununterscheidbaren beruhte. Einstein hat auf diesen Begriff des Sinnes beziehungsweise der Bedeutung in verschiedenen Bemerkungen Bezug genommen, obwohl er es nie für nötig hielt, in eine Diskussion seiner Grundlagen oder in eine Analyse seines philosophischen Standpunkts einzutreten. Nirgendwo findet sich in seinen Schriften eine ausführliche Darstellung und Beweisführung für eine philosophische Theorie. Seine Philosophie ist auch in Wirklichkeit eher eine philosophische GrundeinsteIlung als ein philosophisches System. Abgesehen von gelegentlichen Äußerungen überließ er es anderen, zu sagen, welche Philosophie seinen Gleichungen zugrunde liegt, und so blieb er gleichsam ein Philosoph, aus dessen Denken die anderen die Folgerungen zu ziehen hatten. Das ist seine Stärke und seine Schwäche: seine Stärke, weil sie seine Physik so schlüssig macht, und seine Schwäche, weil er seiner Theorie die Tür zu Mißverständnissen und irrtümlichen Auslegungen öffnete. Es scheint ein allgemeines Gesetz zu sein, daß die Schöpfung einer neuen Physik zuerst kommt und dann erst eine neue Philosophie der Physik. Die philosophische Analyse läßt sich leichter durchführen, wenn sie auf konkrete Ziele angewendet wird und wenn sie innerhalb einer Forschungsarbeit geschieht, die eine Interpretation von Beobachtungsdaten bezweckt. Die philosophischen Ergebnisse eines wissenschaftlichen Verfahrens werden oft erst auf einer späteren Stufe erkannt. Sie sind die Frucht Jines Nachdenkens über die Methoden, die bei der Lösung konkreter Probleme angewendet werden. Aber die Schöpfer der neuen Physik haben meist nicht die Muße oder betrachten es auch nicht als ihre Aufgabe, die ihren Konstruktionen innewohnende Philosophie darzustellen und genauer auszuarbeiten. In allgemeinverständlichen Darstellungen versucht manchmal ein Physiker, den logischen Hintergrund seiner Theorien zu entwickeln. Dadurch sind manche Physiker irregeleitet worden und glauben, daß die Philosophie der Physik nichts anderes sei als eine Popularisierung der Physik. Einstein selbst gehört nicht zu der Gruppe von Autoren, die nicht erkennen, daß das, was sie erreicht haben, ebenso sehr eine Popularisierung der Philosophie wie der Physik bedeutet und daß die Philosophie der Physik eine ebenso fachliche und verwickelte Sache ist wie die Physik selbst. Freilich ist Einstein keineswegs ein Philosoph im fachtechnischen Sinne. Es erscheint praktisch unmöglich, daß der gleiche Mann, der nach neuen physikalischen Gesetzen sucht, sich mit gleicher Konzentration der Analyse seiner Methode widmen könnte. Er wird diese zweite Aufgabe nur in Angriff nehmen, wenn eine solche Analyse für die Auffindung physikalischer Ergebnisse unerläß-

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Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie

lieh ist. Die Arbeitsteilung zwischen dem Physiker und dem Philosophen ist wohl eine unausweichliche Konsequenz innerhalb der Organisation der menschlichen Geistesarbeit. Eine Arbeitsteilung zwischen dem Physiker und dem Philosophen wird nicht nur infolge der Beschränkung der menschlichen Fähigkeiten notwendig. Die Entdeckung allgemeiner Beziehungen, die einer empirischen Verifikation zugänglich sind, setzt eine andere Mentalität voraus als die des Philosophen, dessen Methoden weniger im Voraussagen als in der Analyse und Kritik liegen. Der Physiker, der nach neuen Entdeckungen sucht, darf nicht allzu kritisch sein. Im Anfangsstadium seiner Arbeit ist er auf Vermutungen angewiesen und er wird seinen Weg nur finden, wenn er sich von einem bestimmten Glauben leiten läßt, der diesen Vermutungen Direktiven gibt. Als ich hei einer Gelegenheit Prof. Einstein fragte, wie er seine Relativitätstheorie gefunden hätte, antwortete er, er habe sie gefunden, weil er so stark von der Harmonie des Universums überzeugt war. Zweifellos liefert seine Theorie einen höchst erfolgreichen Beweis für die Nützlichkeit einer solchen Überzeugung. Aber ein Glaubensbekenntnis ist noch keine Philosophie. Es trägt diesen Namen nur in der populären Interpretation dieses Wortes. Der Naturphilosoph ist nicht so sehr an den gedanklichen Prozessen interessiert, die zu wissenschaftlichen Entdeckungen führen. Er sucht vielmehr nach der logischen Analyse der fertigen Theorie, einschließlich dcr Beziehungen, die ihre Gültigkeit garantieren. Er ist also nicht am Zusammenhang der Entdeckungen selbst, sondern an dem ihrer Rechtfertigung interessiert. Aber die kritische Haltung kann einen Menschen auch unfähig zum Entdecken machen. So lange der schöpferische Physiker also Erfolg hat, mag er ruhig sein Glaubensbekenntnis der Logik des analytischen Philosophen vorziehen. Der Philosoph hat gegen den Glauben eines Physikers nichts einzuwenden, solange dieser ihn nicht in die Form einer Philosophie kleidet. Er weiß durchaus, daß ein persönlicher Glaube als Instrument zum Auffinden einer physikalischen Theorie gerechtfertigt und daß er nur eine primitive Form des Mutmaßens ist, das nach und nach durch eine ausgearbeitete Theorie ersetzt wird und schließlich der gleichen empirischen Erprobung wie die Theorie unterworfen ist. Die Philosophie der Physik aber ist nicht ein Produkt des Glaubensbekenntnisses, sondern der Analyse. Sie betrachtet den Glauben des Physikers im Rahmen der Psychologie des Entdeckens. Sie ist bestrebt, den Sinn der physikalischen Theorien zu klären, und zwar unabhängig von deren Interpretation durch ihre Schöpfer, und sie hat es allein mit logischen Beziehungen zu tun. Betrachtet man die Dinge von diesem Gesichtspunkt, so scheint es erstaunlich, wie stark die logische Analyse der Relativität mit der ursprünglichen Interpretation durch ihren Autor zusammenfällt, so weit man das

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aus den seltenen Bemerkungen in Einsteins Schriften entnehmen kann. Im Gegensatz zu einigen Entwicklungen in der Quantentheorie stimmt das logische Schema der Relativitätstheorie überraschend mit den programmatischen Gedanken überein, die ihre Entdeckung beherrschten. Seine philosophische Klarheit unterscheidet Einstein von manchem Physiker, dessen 'Verk zur Quelle einer Philosophie wurde, die sich von der eigenen Interpretation seines Schöpfers unterscheidet. In den folgenden Seiten will ich versuchen, die philosophischen Ergebnisse der Einsteinsehen Theorie zu umreißen, und ich hoffe, dabei ein freundliches Urteil seitens des Mannes zu finden, der als erster alle diese Beziehungen gesehen hat, auch wenn er sie nicht immer ausdrücklich formulierte. Und der Philosoph ist dem großen Physiker dankbar, dessen Werk in sich selbst mehr Philosophie enthält als manches philosophische System.

II. Als logische Basis der Relativitätstheorie dient die Entdeckung, daß viele Aussagen, deren Wahrheit oder Falschheit als erweisbar angesehen wurde, bloße Definitionen sind. Diese Formulierung klingt so, als ob sie nur eine unwichtige fachtechnische Entdeckung sei und enthüllt nicht die weittragenden Folgen, die den philosophischen Wert der Theorie ausmachen. Gleichwohl bildet sie eine vollständige Formulierung des logischen Teils der Theorie. Betrachten wir z. B. das Problem der Geometrie. Daß die Meßeinheit eine Sache der Definition ist, wird als Tatsache allgemein zugegeben. Jeder weiß, daß es keinen Unterschied ausmacht, ob wir Entfernungen in Fuß oder Metern oder Lichtjahren messen. Daß aber auch der Vergleich von Entfernungen eine Sache der Definition ist, wurde nur dem Kenner der Relativität deutlich. Dieses Ergebnis kann auch als der definitions mäßige Charakter der Kongruenz formuliert werden. Daß eine gewisse Entfernung einer anderen kongruent ist, die an einem anderen Orte gelegen ist, kann niemals als wahr bewiesen, sondern nur im Sinn einer Definition aufrecht erhalten werden. Genauer gesprochen, man kann es nur als wahr bezeichnen, nachdem man eine Definition der Kongruenz gegeben hat. Es hängt also von einem vorhergehenden Vergleich der Entfernungen ab, una der ist eine Sache der Definition. Ein Vergleich von Entfernungen mittels des Transports fester Körper ist nur eine Definition der Kongruenz. Eine andere Definition würde herauskommen, wenn wir einen Maßstab, der einmal an eine andere Stelle transportiert wurde, als zweimal so lang, oder wenn er dreimal transportiert wurde, als dreimal so lang betrachten, usw. Eine weitere Erhellung des Problems hat es mit der Zeit zu tun. Daß die Gleichzeitigkeit von Vorgängen an entfernten Stellen eine Sache der Definition

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ist, war unbekannt, bevor Einstein seine spezielle Relativitätstheorie auf diese logische Entdeckung begründete. Die Definitionen, die für die Konstruktion von Raum und Zeit verwendet werden, sind von besonderer Art. Es sind Zuordnungsdefinitionen. Das heißt, sie werden durch Zuordnung eines physikalischen Objekts oder Vorgangs zu einem Grundbegriff gebildet. Zum Beispiel ist der Begriff "gleiche Länge" durch den Bezug auf ein physikalisches Objekt definiert, nämlich einen starren Maßstab, dessen Transport gleiche Entfernungen festlegt. Der Begriff "gleichzeitig" ist definiert durch die Verwendung von Lichtstrahlen, die sich über gleiche Entfernungen bewegen. Alle Definitionen der Relativitätstheorie sind von diesem Typus. Es sind Zuordnungsdefinitionen. Bei den Darstellungen der Relativitätstheorie wird der Gebrauch verschiedener Definitionen oft durch Bezugnahme auf verschiedene Beobachter illustriert. Diese Art der Darstellung hat zu der irrtümlichen Auffassung geführt, daß die Relativität der raum-zeitlichen Messung mit der Subjektivität des Beobachters verknüpft ist und daß der individuelle Charakter der wahrgenommenen \Velt die Relativität, wie sie Einstein versteht, bedingt. Eine solche Interpretation der Einsteinschen Relativität im Sinne des Protagoras ist höchst mißverständlich. Der definitions mäßige Charakter der Gleichzeitigkeit hat zum Beispiel nichts zu tun mit den perspektivischen Verschiedenheiten, die sich für Beobachter in verschiedenen Bezugssystemen ergeben. Daß wir verschiedenen Beobachtern verschiedene Definitionen der Gleichzeitigkeit zuordnen, dient nur als Vereinfachung für die Darstellung logischer Beziehungen. Wir könnten ebenso gut die Zuordnung vertauschen und den Beobachter in dem "bewegten" System die Zeitdefinition des Beobachters in dem "ruhenden" System anwenden lassen, und umgekehrt. Oder wir könnten sogar beide die gleiche Zeitdefinition anwenden lassen, z. B. die des "ruhenden" Systems. Solche Variationen würden zu verschiedenen Transformationen führen, die zuletzt erwähnte Definition zum Beispiel nicht zur Lorentz-Transformation, sondern zur klassischen Transformation von einem ruhenden System auf ein bewegtes. Es ist üblich, ein Definitionssystem mit einem Beobachter zu identifizieren. \Venn man von verschiedenen Beobachtern spricht, so ist das nur eine Ausdrucksweise, die die Mehrzahl von Definitionssystemen bezeichnet. In einer logischen Darstellung der Relativitätstheorie kann der Beobachter völlig ausgeschaltet werden. Definitionen sind willkürlich, und es ist eine Konsequenz des definitionsmäßigen Charakters der Grundbegriffe, daß mit dem Wechsel der Definitionen verschiedene Beschreibungssysteme entstehen. Aber diese Systeme sind einander gleichwertig und es ist möglich, von jedem System auf ein anderes durch passende Transformation überzugehen. So führt der Definitionscharakter der Fundamentalbegriffe zu einer Klasse äquivalenter

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Beschreibungen. Eine bekannte Illustration dafür haben wir in den verschiedenen Beschreibungen der Bewegung, die zustande kommen, wenn das als ruhend betrachtete System variiert wird. Eine andere Illustration haben wir in den verschiedenen Geometrien, die für den gleichen physikalischen Raum durch Veränderungen in der Definition der Kongruenz gegeben werden. Alle diese Beschreibungen sagen in verschiedenen Sprachen das gleiche. Gleichwertige Beschreibungen bringen darum den gleichen physikalischen Inhalt zum Ausdruck. Die Theorie gleichwertiger Beschreibungen ist auch auf andere physikalische Bereiche anwendbar, aber der Bereich von Raum und Zeit ist zum Musterbeispiel dieser Theorie geworden. Das Wort "Relativität" sollte. so interpretiert werden, daß es "relativ zu einem bestimmten Definitionssystem" bedeutet. Daß Relativität Pluralität einschließt, folgt daraus, daß die Variation der Definitionen zu einer Anzahl gleichwertiger Beschreibungen führt. Aber wir sehen, daß diese innewohnende Pluralität sich nicht auf verschiedene Ansichten oder Systeme mit widersprechendem Inhalt bezieht. Sie ist nur eine Pluralität gleichwertiger Sprachen, also von Ausdrucksformen, die einander nicht widersprechen, sondern den gleichen Inhalt haben. Relativität bedeutet nicht den Verzicht auf Wahrheit. Ihr Sinn ist nur der, daß die Wahrheit auf verschiedene Weise ausgedrückt werden kanD.. Diesen Punkt möchte ich so klar wie möglich herausstellen. Die zwei Feststellungen "Das Zimmer ist 21 Fuß lang" und "Das Zimmer ist 7 Ellen lang" sind gleichwertige Beschreibungen. Sie stellen die gleiche Tatsache fest. Daß die einfache Wahrheit, die sie zum Ausdruck bringen, in dieser doppelten Weise formuliert werden kann, bedeutet nicht die Ausschaltung des WahrheitsbegrifIes. Vielmehr illustriert dies nur die Tatsache, daß die Zahl, die die Länge bezeichnet, relativ zur Maßeinheit zu verstehen ist. Alle Relativitäten in Einsteins Theorie sind von diesem Typus. So verknüpft beispielsweise die Lorentz-Transformation verschiedene Beschreibungen der raum-zeitlichen Beziehungen, die in dem gleichen Sinne äquivalent sind wie die Aussagen über eine Länge von 21 Fuß und eine Länge von 7 Ellen. Ein gewisses Mißverständnis entstand im Zusammenhang mit der Eigenschaft der Einfachheit. Ein Beschreibungssystem kann einfacher sein als ein anderes. Aber dadurch wird es nicht "wahrer" als das andere. Das Dezimalsystem ist einfacher als das Ellen-Fuß-ZolI-System. Aber der Plan eines Architekten, der in Fuß und Zoll gezeichnet ist, bedeutet eine ebenso getreue Beschreibung des Hauses, wie ein Plan, der das Dezimalsystem benutzt hätte. Eine Einfachheit dieser Art, für die ich die Bezeichnung deskriptive Einfachheit gebraucht habe, ist an sich kein Kriterium der Wahrheit. Nur im Rahmen induktiver Überlegungen kann die Einfachheit ein Kriterium

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der Wahrheit sein. So wird beispielsweise die einfachste Kurve zwischen Beobachtungsdaten, die in einem Diagramm graphisch dargestellt sind, als "wahrer", d. h. als wahrscheinlicher im Vergleich zu anderen verbindenden Kurven betrachtet. Diese induktive Einfachheit bezieht sich allerdings auf nicht-äquivalente Beschreibungen und spielt in der Relativitätstheorie keine Rolle, da in ihr nur gleichwertige Beschreibungen verglichen werden. Die Einfachheit der in Einsteins Theorie verwendeten Beschreibungen ist darum immer eine beschreibende Einfachheit. So wird durch die Tatsache, daß die nicht-euklidische Geometrie oft eine einfachere Beschreibung des physikalischen Raumes liefert als die euklidische, die nicht-euklidische Beschreibung nicht "wahrer". Ein anderes Mißverständnis entstand durch die Theorie des Konventionalismus, die auf Poincare zurückgeht. Nach dieser Theorie ist die Geometrie einfach eine Sache der Konvention, und einer Aussage über die Geometrie des physikalischen Raumes kann keine empirische Bedeutung zugeschrieben werden. Nun ist es richtig, daß der physikalische Raum sowohl durch die euklidische wie die nicht-euklidische Geometrie beschrieben werden kann. Aber es wäre eine irrtümliehe Interpretation dieser Relativität der Geometric, eine Aussage über die geometrische Struktur des physikalischen Raums als sillnlos zu bezeichnen. Die Wahl der Geometrie ist nur so lange willkürlich, als Doch keine spezifizierte Definition der Kongruenz vorliegt. Sobald diese Definition aufgestellt ist, wird es eine empirische Frage, welche Geometrie für einen physikalischen Raum gilt. Es ist zum Beispiel eine empirische Tatsache, daß unser Raum innerhalb irdischer Dimensionen bei Verwendung starrer Körper für die Definition der Kongruenz praktisch euklidisch ist. Wenn die gleiche Definition der Kongruenz in einem anderen Teil des Weltalls zu einer nicht-euklidischen Geometrie führen würde, so hätte dieser Teil des universalen Raums eine geumetrische Struktur, die von der in unserer Welt verschieden wäre. Sicher könnte auch für jenen Teil des Universums eine euklidische Geometrie eingeführt werden. Aber dann würden die starren Körper nicht länger die Definition der Kongruenz liefern l • Die Kombination einer Aussage über die Geometrie mit einer Aussage über die verwendete Zuordnungsdefinition der Kongruenz unterliegt der empirischen Nachprüfung und drückt so eine Eigenschaft der physikalischen Welt aus. Der Konventionalist übersieht die Tatsache, daß nur die unvollständige Aussage über eine Geometrie, in der eine Bezugnahme auf die Definition der Kongruenz unterlassen wurde, willkürlich ist. Wenn die Aussage durch Hinzufügung einer solchen Bezugnahme voll1 Poincare glaubte, man könne die Definition eines starren Körpers nicht ohne Bezugnahme auf eine Geometrie geben. Daß diese Auffassung irrtümlich ist, wird in des Verfassers Buch Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (Berlin, 1928), § 50 bewiesen.

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ständig gemacht wird, dann wird sie empirisch verifizierbar und bekommt somit einen physikalischen Inhalt. Wir sollten lieber von der Relativität der Geometrie als von Konventionalismus sprechen. Geometrie ist genau im gleichen Sinne relativ wie andere relative Begriffe. Wir können es als eine Konvention bezeichnen, wenn wir sagen, Chicago liege links von New Y ork. Aber wir sollten nicht vergessen, daß diese konventionelle Feststellung zu einer objektiven Wahrheit wird, sobald der Bezugspunkt in die Aussage aufgenommen wird. Es ist keine Konvention, sondern eine physikalische Tatsache, daß Chicago links von New Y ork liegt, wenn man es beispielsweise von Washington, D. C., aus ansieht. Die Relativität so einfacher Begriffe wie rechts und links ist wohl bekannt. Daß die fundamentalen Begriffe von Raum und Zeit von gleicher Art sind, ist das Wesentliche an der Relativitätstheorie. Die Relativität der Geometrie ist eine Konsequenz der Tatsache, daß verschiedene Geometrien eindeutig und stetig aufeinander abgebildet werden können. Für bestimmte geometrische Systeme indessen wird diese Abbildung nicht kontinuierlich sein, und es werden sich Singularitäten in einzelnen Punkten oder Linien ergeben. Zum Beispiel kann eine Kugel nicht ohne eine Singularität in mindestens einem Punkt auf eine Ebene projiziert werden. In den üblichen Projektionen entspricht der Nordpol der Kugel der Unendlichkeit der Ebene. Diese Besonderheit bringt gewisse Einsehränkungen für die Relativität der Geometrie mit sieh. Angenommen, daß wir in einer geometrischen Beschreibung, etwa mit Hilfe eines sphärischen Raumes, eine normale Kausalität für alle physikalischen Vorgänge vorfinden, dann führt eine Transformation in gewisse andere Geometrien einschließlich der euklidischen zu Verletzungen des Prinzips der Kausalität, zu kausalen Anomalien. Ein Lichtsignal, das von einem Punkt A über den Nordpol zu einem Punkt B in einer endlichen Zeit geht, wird innerhalb der euklidischen Interpretation dieses Raumes so gedeutet, daß es sich von A aus in einer Richtung auf die Unendlichkeit zubewegt und von der anderen Seite her nach B zurückkehrt, wobei es also in einer endlichen Zeit eine unendliche Entfernung zurücklegt. Noch kompliziertere kausale Anomalien ergeben sich bei anderen Transformationen 2 • Wenn das Prinzip der normalen Kausalität, d. h. eines kontinuierlichen Übergangs von der Ursache znr Wirkung in einer endlichen Zeit, also Nahwirkung, als not2 Vgl. des Verfassers Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (Berlin, 1928), § 12. Es hat sich ergeben, daß innerhalb der auf die Quantenmechanik anwendbaren Anzahl von Beschreibungen das Problem der kausalen Anomalien eine noch größere Bedeutung gewonnen hat, da wir hier einen Fall haben, in dem keine Beschreibung existiert, die kausale Anomalien vermeidet. (Vgl. auch des Verfassers Buch Philosophic Foundations 01 Quantum Mechanics, Berkeley, 1944, §§ 5-7, § 26.) (Deutsche Übersetzung: Philosophische Grundlagen der Quantenmechanik, Verlag Birkhäuser, Basel, 1949.)

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wendige Voraussetzung für die Naturbeschreibung angenommen wird, dann können gewisse \Velten nicht durch gewisse Geometrien interpretiert werden. Es könnte gut so sein, daß die so ausgeschlossene Geometrie gerade die euklidische ist. Wenn Einsteins Hypothese eines in sich geschlossenen Universums richtig ist, dann wäre die euklidische Beschreibung des Weltalls für alle Anhänger der normalen Kausalitätsidee ausgeschlossen. Eben diese Tatsache halte ich für die stärkste Widerlegung des Kantschen Raumbegriffs. Die Relativität der Geometrie ist bei den Neukantianern zu einer Hintertür geworden, durch die der Apriorismus der euklidischen Geometrie in Einsteins Theorie eingeführt wurde. Das heißt: wenn es immer möglich ist, für die Beschreibung des Universums eine euklidische Geometrie zu wählen, dann besteht der Kantianer darauf, daß man diese Beschreibung unbedingt verwenden müsse, weil die euklidische Geometrie für einen Kantianer die einzige ist, die anschaulich gemacht werden kann. Wir sehen, daß diese Regel zu Verletzungen des Kausalitätsprinzips führen kann. Und da für einen Kantianer die Kausalität genau so ein apriorisches Prinzip ist wie die euklidische Geometrie, so kann diese Regel den Kantianer vom Regen in die Traufe bringen. Es gibt keine Verteidigung des Kantianismus, wenn die Aussage über die Geometrie der physikalischen Welt in vollständiger Form gemacht wird, also in einer Form, die alle ihre physikalischen Folgerungen mit einschließt. Denn dann ist die Aussage empirisch verifizierbar und ihre Wahrheit hängt vom Wesen und Charakter der physikalischen Welt ab 3 . Aus dieser Analyse dürfte klar werden, daß die Pluralität gleichwertiger Beschreibungen die Möglichkeit wahrer empirischer Aussagen nicht beseitigt. Der empirische Inhalt von Aussagen über Raum und Zeit wird nur durch eine kompliziertere Methode gefunden.

III. Obwohl wir jetzt in Einsteins Theorie eine vollständige Darlegung der Relativität von Raum und Zeit besitzen, sollten wir nicht vergessen, daß sie das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung ist. Ich erwähnte oben Occams Induktion und Leibniz' Identität des Ununterscheidbaren in Verbindung mit der Verifizierungstheorie für Sinn und Bedeutung. Leibniz hat sein Prinzip erfolgreich auf das Problem der Bewegung angewandt und ist aus logischen Gründen zur Relativität der Bewegung gekommen. Die berühmte Korrespondenz zwischen Leibniz und Clarke, der ein zeitgenössischer Verteidiger der Newtonschen absoluten Anschauung war, führt uns die gleiche Art von Diskussion vor Augen, die uns aus modernen Debatten 3

Diese Wiederlegung des Kantianismus ist dargestellt in des Verfassers Buch

Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori (Berlin, 1920).

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über die Relativität vertraut ist, und liest sich, als ob Leibniz seine Argumente aus einer Darlegung der Einsteinsehen Theorie entnommen hätte. Leibniz ging sogar so weit, die Beziehung zwischen kausaler Ordnung und zeitlicher Ordnung zu erkennen 4 • Diese Auffassung der Relativität wurde später von Ernst Mach weiter ausgebaut, der zu der Diskussion die wichtige Idee beitrug, daß eine Relativität von Rotationsbewegungen eine Ausdehnung des Relativismus auf den Begriff der Trägheitskraft erfordere. Einstein hat immer Mach als einen Vorläufer seiner Theorie anerkannt. Eine andere Entwicklungslinie, die ebenfalls durch Einsteins Theorie zu Ende geführt wurde, haben wir in der Geschichte der Geometrie. Die Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien durch Gauß, Bolyai und Lobatschewski war mit der Idee verbunden, daß die physikalische Geometrie nicht euklidisch sein könnte. Es ist bekannt, daß Gauß versuchte, den euklidischen Charakter der Erdgeometrie durch Winkelmessungen von Bergspitzen ans zu prüfen. Aber derjenige, dem wir die philosophische Klärung des Geometrieproblems verdanken, ist Heimholtz. Er sah, daß die physikalische Geometrie von der Definition der Kongruenz mit Hilfe starrer Körper abhängt und gelangte so zu einer klaren Auffassung vom Wesen der physikalischen Geometrie. Diese war an logischer Einsicht dem Konventionalismus Poincares überlegen, der einige Jahrzehnte später entwickelt wurde. HeImholtz klärte auch das Problem der anschaulichen Darstellung der nicht-euklidischen Geometrie durch die Entdeckung, daß Anschaulichkeit eine Frucht der Erfahrung mit sta~ren Körpern und Lichtstrahlen ist. Wir finden in HeImholtz' Schriften die berühmte Feststellung, daß die anschauliche Vorstellung von etwas bedeutet, daß man sich eine Reihe von Sinneswahrnehmungen vorstellt, die man haben würde, wenn man in einer solchen Welt lebte. Wenn Heimholtz keinen Erfolg damit hatte, zeitgenössischen Philosophen den Kantischen Apriorismus von Raum und Zeit auszureden, so ist das nicht seine Schuld. Seine philosophischen Ansichten wurden nur einer kleinen Gruppe von Fachleuten bekannt. Als die Öffentlichkeit durch Einsteins Theorie diesen Problemen auf einmal ihre Aufmerksamkeit zuwandte, begannen die Philosophen, sich von Kants Apriorismus abzuwenden. Wir hoffen, daß diese Entwicklung anhält und schließlich auch auf diejenigen Philosophen übergreift, die heute noch eine aprioristische Philosophie gegen die Angriffe der mathematischen Physiker verteidigen. Obwohl sich eine geschichtliche Entwicklung der Begriffe von Raum und Bewegung feststellen läßt, finden wir beim Zeitbegriff nichts derartiges. Der erste, der von einer Relativität der Zeitmessung, d. h. des sogenannten , Für eine Analyse von Leibniz' Ansichten vgl. des Verfassers Arbeit "Die Bewegungslehre bei Newton, Leibniz und Huyghens", Kantstudien, Bd. 29 (1924), S.416.

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gleichförmigen Stromes der Zeit, sprach, war Mach. Aber Einsteins Idee von der Relativität der Gleichzeitigkeit hat überhaupt keine Vorläufer. Offensichtlich konnte man diese Entdeckung nicht machen, bevor die experimentellen Methoden der Physik vervollkommnet waren. Einsteins Relativität der Gleichzeitigkeit ist eng verbunden mit der Annahme, daß das Licht das schnellste Signal ist, und auf diese Idee konnte man nicht vor dem negativen Resultat von Experimenten wie dem Michelsons kommen. Gerade die Kombination von Relativität der Zeit und der Bewegung machte Einsteins Theorie so erfolgreich und führte zu Ergebnissen, die weit über den Bereich früherer Theorien hinausgingen. Die Entdeckung der speziellen Relativitätstheorie, an die keiner von Einsteins Vorgängern gedacht hatte, wurde so der Schlüssel zu einer allgemeinen Theorie des Raumes und der Zeit, die alle Ideen von Leibniz, Gauß, Riemann, Helmholtz und Mach einbezog und ihnen gewisse fundamentale Entdeckungen hinzufügte, die man auf einer früheren Stufe nicht hätte voraussehen können. Hierbei denke ich besonders an Einsteins Auffassung, nach der die Geometrie des physikalischen Raumes eine Funktion der Massenverteilung ist; diese Idee ist in der Geschichte der Geometrie vollkommen neu. Dieser kurze Überblick zeigt, daß die Entwicklung der philosophischen Ideen von der Entwicklung der physikalischen Theorien her zu verstehen ist. Die Philosophie von Raum und Zeit ist nicht im elfenbeinernen Turm des Philosophen geboren worden. Sie wurde von Männern ausgebildet, die den Versuch machten, Beobachtungsdaten mit mathematischer Analyse zu verbinden. Die große Synthese der verschiedenen Entwicklungslinien, die wir Einstein verdanken, bezeugt die Tatsache, daß die Philosophie der Wissenschaften eine Aufgabe übernommen hat, die die philosophischen Systeme nicht erfüllen konnten. IV. Die Frage nach dem Wesen von Raum und Zeit hat die Schöpfer philosophischer Systeme immer wieder gefesselt. Plato beahtwortete sie, indem er eine Welt der "höheren" Wirklichkeit, die Welt der Ideen schuf, die Raum und Zeit unter ihren idealen Gegenständen mit umfaßt und ihre Beziehungen dem Mathematiker enthüllt, der zu dem notwendigen Akt einer Schau fähig ist. Für Spinoza war der Raum ein Attribut Gottes. Kant hingegen leugnete die Realität von Raum und Zeit und hielt diese beiden Begriffssysteme für Anschauungsformen, d. h. für Konstruktionen des menschlichen Geistes, mit deren Hilfe der menschliche Beobachter seine Wahrnehmungen verknüpft, um sie in einem geordneten System zu sammeln. Die Antwort, die wir auf diese Frage auf Grund der Einsteinsehen

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Theorie geben können, unterscheidet sich sehr stark von den Antworten dieser Philosophen. Die Relativitätstheorie zeigt, daß Raum und Zeit weder ideale Gegenstände noch Ordnungsformen sind, die der menschliche Geist benötigt. Sie stellen vielmehr ein Bezugssystem dar, das gewisse allgemeine Züge physikalischer Gegenstände zum Ausdruck bringt und so der Beschreibung der physikalischen Welt dient. Wollen wir uns das möglichst klar machen. Ganz gewiß sind Raum und Zeit wie alle Begriffe Erfindungen des menschlichen Geistes. Aber nicht alle solche Erfindungen vermögen die physikalische Welt zu beschreiben. Damit wollen wir sagen, daß die Begriffe auf bestimmte physikalische Gegenstände Bezug nehmen und sie von anderen unterscheiden. So ist z. B. der Begriff "Kentaur" leer, während der Begriff "Bär" auf gewisse physikalische Gegenstände hinweist und sie von anderen unterscheidet. Der Begriff "Ding" andererseits ist zwar nicht leer, aber so allgemein, daß er keine Unterschiede zwischen Gegenständen feststellt. Unsere Beispiele beziehen sich auf in sich geschlossene Prädikate, aber unsere Unterscheidung gilt auch für Prädikate mit Verhältnisbeziehungen. Die Beziehung "Telepathie" ist leer, während es die Beziehung "Vater" nicht ist. Wenn wir sagen, daß nicht-leere Prädikate der ersten Art wie "Bär" reale Gegenstände beschreiben, müssen wir hinzufügen, daß nicht-leere Prädikate mit Verhältnisbeziehungen wie "Vater" reale Beziehungen beschreiben. In diesem Sinne spricht die Relativitätstheorie von der Realität von Raum und Zeit. Diese Begriffssysteme beschreiben Beziehungen, die zwischen physikalischen Gegenständen, nämlich festen Körpern, Lichtstrahlen und Uhren, gelten. Überdies formulieren diese Beziehungen physikalische Gesetze von großer Allgemeinheit, die gewisse Grundzüge der physikalischen Welt bestimmen. Raum und Zeit sind ebenso wirklich wie etwa die Beziehung "Vater" oder die Newtonschen Anziehungskräfte. Folgende Betrachtung mag zur weiteren Erklärung dienen, warum die Geometrie die physikalische Realität beschreibt. So lange nur eine einzige Geometrie, die euklidische, bekannt war, bedeutete die Tatsache, daß diese Geometrie für eine Beschreibung der physikalischen Welt verwendet werden konnte, ein Problem für den Philosophen. Kants Philosophie muß als ein Versuch verstanden werden, zu erklären, warum ein vom menschlichen Geiste abgeleitetes strukturelles System beobachtete Beziehungen wiedergeben kann. Mit der Entdeckung einer Vielheit von Geometrien änderte sich die Situation grundlegend. Der menschliche Geist erwies sich als fähig, alle möglichen Arten geometrischer Systeme zu erfinden, und die Frage, welches System zur Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit geeignet ist, verwandelte sich in eine empirische Frage, d. d. die Antwort wurde letztlich den empirischen Daten überlassen. Bezüglich der empirischen

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Natur dieser Antwort verweisen wir den Leser auf unsere Betrachtungen in Abschnitt II. Empirisch ist eine Aussage, die Geometrie und Zuordnungsdefinitionen verbindet. Wenn aber die Aussage über die Geometrie der physikalischen Welt empirisch ist, so beschreibt die Geometrie eine Eigenschaft der physikalischen Welt in demselben Sinne wie etwa Temperatur oder Gewicht Eigenschaften physikalischer Gegenstände beschreiben. Wenn wir von der Realität des physikalischen Raumes sprechen, so meinen wir eben diese Tatsache. Wie vorher erwähnt, sind die Gegenstände, deren allgemeine Beziehung in der raum-zeitlichen Ordnung zum Ausdruck kommt, starre Körper, Lichtstrahlen und natürliche Uhren, d. h. geschlossene periodische Systeme, wie rotierende Atome oder Planeten. Die große Bedeutung, die die Lichtstrahlen in der Relativitätstheorie bekommen haben, leitet sich aus der Tatsache ab, daß das Licht das schnellste Signal ist, das heißt, es stellt die schnellste Form einer Kausalkette dar. Der Begriff der Kausalkette erweist sich als der Grundbegriff, mit dessen Hilfe die Struktur von Raum und Zeit crfaßt wird. Die raum-zeitliche Ordnung muß somit als Ausdruck der kausalen Ordnung der physikalischen Welt aufgefaßt werden. Die enge Verbindung zwischen Raum und Zeit einerseits und Kausalität andererseits ist vielleicht der wesentlichste Zug in Einsteins Theorie, obwohl er in seiner Bedeutung nicht immer erkannt wurde. Zeitordnung, also die Ordnung von früher und später, läßt sich auf Kausalordnung zurückführen. Die Ursache ist stets früher als die Wirkung, und diese Beziehung ist nicht umkehrbar. Wenn Einsteins Theorie für gewisse Vorgänge eine Umkehrung der Zeit zuläßt, wie wir es als Ergebnis der Relativität der Gleichzeitigkeit kennen, so ist das nur eine Konsequenz jener grundlegenden Tatsache. Da die Geschwindigkeit kausaler Übertragung begrenzt ist, existieren Vorgänge von solcher Art, daß keiner von beiden die Ursache oder die Wirkung des anderen sein kann. Für Vorgänge dieser Art gibt es keine definierte Zeitordnung, und jeweils kann der eine von ihnen als früher oder später bezeichnet werden. Letzten Endes ist sogar die räumliche Ordnung auf die Kausalordnung zurückführbar. Ein Raumpunkt B wird näher an A als ein Raumpunkt C genannt, wenn ein direktes Lichtsignal, also eine schnellste Kausalkette, auf dem Wege von A zu C den Punkt B passiert. Für eine Konstruktion der Geometrie mit Hilfe von Lichtstrahlen und Massenpunkten, also eine Lichtgeometrie, verweise ich auf eine andere Publikations. Die Verknüpfung von Zeitordnung und Kausalordnung führt zur Frage der Zeitrichtung. Ich möchte zu diesem oft diskutierten Problem, das aber nicht immer klar genug ins Auge ge faßt wurde, cin;ge Bemerkungen machen. Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist asymmetrisch. 6

H. Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (Berlin, 1928), § 27.

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Wenn P die Ursache von Q ist, dann ist Q nicht die Ursache von P. Diese grundlegende Tatsache ist für die Zeitordnung wesentlich, weil sie aus der Zeit eine Reihenbeziehung macht. Darunter verstehen wir eine Beziehung, die ihre Elemente in eine lineare Ordnung stellt. Eine solche Beziehung ist immer asymmetrisch und transitiv, wie etwa die Beziehung "kleiner als". Nach Einsteins Theorie hat die Zeit solche Eigenschaften, und das ist eine unentbehrliche Voraussetzung, weil man sie sonst nicht für die Konstruktion einer Reihenordnung benützen könnte. Aber was wir die Richtung der Zeit nennen, muß von dem asymmetrischen Charakter der Begriffe "früher" und "später" unterschieden werden. Eine Beziehung kann asymmetrisch und transitiv sein, ohne daß man eine Richtung von der entgegengesetzten unterscheiden kann. Zum Beispiel sind die Punkte einer geraden Linie durch eine Reihenbeziehung geordnet, die wir durch die Worte "vor" und "nach" ausdrücken können. Wenn A vor B ist, dann ist B nicht vor A, und wenn A vor Bund B vor C ist, dann ist A vor C. Aber welche Richtung der Linie sollen wir "vorher" und welche "nachher" nennen? Das ist durch den Charakter der Linie nicht gegeben. Diese Definition kann man nur durch eine willkürliche Wahl vornehmen, indem man z. B. einen Pfeil in der einen Richtung anbringt und diese die Richtung des "vorher" nennt. Mit anderen Worten, die Beziehungen "vorher" und "nachher" sind strukturell ununterscheidbar und darum austauschbar. Ob wir sagen, der Punkt A kommt vor dem Punkt B oder nach dem Punkt B, ist eine Sache willkürlicher Definition. Anders liegt es bei der Beziehung "kleiner als" bei realen Zahlen. Diese Beziehung ist auch eine Reihenbeziehung und somit asymmetrisch und transitiv. Darüber hinaus aber ist sie strukturell verschieden von ihrer Umkehrung, der Beziehung "größer als", und diese Tatsache kann man durch den Unterschied positiver und negativer Zahlen ausdrücken. Das Quadrat einer positiven Zahl ist eine positive Zahl, und das Quadrat einer negativen Zahl ist auch eine positive Zahl. Diese Besonderheit erlaubt uns, die Beziehung "kleiner als" zu definieren: Eine Zahl, die nicht das Quadrat einer anderen Zahl sein kann, ist kleiner als eine Zahl, die das Quadrat einer anderen Zahl ist. Die Reihe der realen Zahlen besitzt also eine Richtung: Die Richtung "kleiner als" ist nicht austauschbar mit der Richtung "größer als". Diese Beziehungen sind darum nicht nur asymmetrisch, sondern einsinnig gerichtet. Das Zeitproblem dreht sich um die Frage nach der Einsinnigkeit ihrer Richtung. Die Beziehung "früher als", die wir im täglichen Leben gebrauchen, ist strukturell verschieden von der Beziehung "später als". Wir beabsichtigen z. B., morgen ins Theater zu gehen. Aber es wäre sinnlos, zu beabsichtigen, gestern ins Theater zu gehen. Der Physiker drückt diesen Unterschied durch den Begriff der Nichtumkehrbarkeit der Zeit aus: 156

Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie

die Zeit läuft in einer Richtung, und dieser Lauf kann nicht umgekehrt werden. In der Theorie der Beziehungen kommt also das Problem der Nichtumkehrbarkeit der Zeit nicht in der Frage zum Ausdruck, ob die Zeit eine asymmetrische Beziehung ist, sondern in der Frage, ob sie eine einsinnig gerichtete Beziehung ist. Für die Relativitätstheorie ist die Zeit natürlich eine asymmetrische Beziehung, denn sonst könnte sie keine Reihenordnung aufstellen; aber sie ist nicht einsinnig gerichtet. Mit anderen Worten, die Nichtumkehrbarkeit der Zeit findet in der Relativitätstheorie keinen Ausdruck. Wir dürfen allerdings nicht den Schluß ziehen, daß dies das letzte Wort des Physikers über das Zeitproblem sei. Wir können nur sagen: was die Relativitätstheorie betrifft, brauchen wir keine qualitative Unterscheidung zwischen den beiden Richtungen der Zeit, also zwischen "früher" und "später", zu machen. Eine physikalische Theorie kann sehr gut von gewissen Eigenschaften der physikalischen Welt absehen. Das bedeutet aber nicht, daß diese Eigenschaften nicht existieren. Bisher hat man sich mit der Nichtumkehrbarkeit der Zeit nur in der Thermodynamik beschäftigt, wo man sie als rein statistisch und auf Elementarprozesse nicht anwendbar auffaßt. Diese Antwort ist nicht allzu befriedigend, besonders angesichts der Tatsache, daß sie zu gewissen Widersprüchen geführt hat. Die Quantenphysik hat freilich bis jetzt keine bessere Antwort. Ich möchte sagen, daß ich dieses Problem vorläufig als ungelöst betrachte und nicht mit denen übereinstimme, die glauben, die Richtung der Zeit sei kein wissenschaftliches ProblemS. Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß die in Einsteins Theorie formulierte mathematisch-physikalische Behandlung des Zeitbegriffs zu einer Klärung geführt hat, die die philosophische Analyse nicht erzielen konnte. Für den Philosophen waren Begriffe wie Zeitordnung und Gleichzeitigkeit primitive Begriffe und einer weiteren Analyse nicht zugänglich. Aber die Behauptung, ein Begriff sei der Analyse nicht zugänglich, entspringt oft nur aus einer Unfähigkeit, seinen Sinn zu verstehen. Mit seiner Zurückführung des Zeitbegriffs auf den Begriff der Kausalität und mit seiner Generalisierung der Zeitordnung durch die Relativität der Gleichzeitigkeit hat Einstein nicht nur unsere Zeitbegriffe verändert, sondern er hat auch den Sinn des klassischen Zeitbegriffs geklärt, der seinen Entdeckungen vorausging. Mit anderen Worten, wir wissen heute besser, was absolute Zeit hedeutet, als irgend ein Anhänger der klassischen Zeitbegriffe. Absolute Gleichzeitigkeit würde in einer ·Welt gelten, in der es keine obere Grenze für die Geschwindigkeit von Signalen, also für kausale Übertragung gibt. Eine solche Welt kann man sich genau so gut vorstellen wie die Einstein6 Ein nachgelassenes Werk von Hans Reichenbach, "The Direction of Time", ist im Druck bei der University of California Press, Berkeley, Ca!.

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Hans Reichenbach

sche Welt. Es ist eine empirische Frage, zu welchem Typus unsere Welt gehört. Das Experiment hat zugunsten der Einsteinsehen Auffassung entschieden. Wie bei der Geometrie ist der menschliche Geist fähig, auch verschiedene Formen eines Zeitschemas zu konstruieren. Die Frage, welches dieser Schemata auf die physikalische ·Welt paßt, also wahr ist, kann nur mit Bezug auf die Beobachtungsdaten beantwortet werden. Der menschliche Geist trägt zum Problem der Zeit nicht eine bestimmte Zeitordnung bei, sondern eine Vielheit möglicher Zeitordnungen, und die Auswahl einer bestimmten Zeitordnung als der tatsächlich richtigen wird der empirischen Beobachtung überlassen. Die Zeit ist die Ordnung von Kausalketten. Das ist das außerordentliche Ergebnis der Einsteinsehen Entdeckungen. Der einzige Philosoph, der dieses Ergebnis vorausahnte, war Leibniz, obwohl es natürlich in seinen Tagen unmöglich war, einen Begriff von der Relativität der Gleichzeitigkeit zu gewinnen. Leibniz war e-bensosehr Mathematiker wie Philosoph. Es scheint, daß die Lösung des Problems von Raum und Zeit Philosophen vorbehalten ist, die wie Leibniz Mathematiker sind, oder Mathematikern, die wie Einstein Philosophen sind.

V. Seit der Zeit Kants zeigt die Geschichte der Philosophie eine Kluft zwischen philosophischen Systemen und einer Philosophie der Wissenschaft. Kant hat sein System in der Absicht gebildet, zu beweisen, die Erkenntnis sei die Resultante zweier Komponenten, einer aus dem Geiste und einer aus der Beobachtung stammenden. Von der geistigen Komponente nahm er an, sie sei durch die Gesetze der reinen Vernunft gegeben und als synthetisches Element zu verstehen, das von den rein analytischen Operationen der Logik verschieden ist. Der Begriff synthetisch apriori formuliert die Kantsche Position: ein Teil der Erkenntnis ist synthetisch apriori, d. h. es gibt nicht-leere Aussagen, die mit absoluter Notwendigkeit erfolgen. In diese Prinzipien der Erkenntnis bezieht Kant die Gesetze der euklidischen Geometrie, der absoluten Zeit, der Kausalität und der Erhaltung der Materie ein. Seine Nachfolger im 19. Jahrhundert übernahmen diese Anschauung und fügten ihr viele Variationen hinzu. Die Entwicklung der Wissenschaft aber hat von der Kantschen Metaphysik weggeführt. Die Prinzipien, die Kant als synthetisch apriori angesehen hatte, erwiesen sich von fragwürdiger \Vahrheit. Man hat entgegengesetzte Prinzipien entwickelt und sie für die Erkenntnistheorie benutzt. Diese neuen Prinzipien wurden nicht mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit aufgestellt, sondern in der Form von Versuchen, eine Naturbeschreibung zu finden, die auf Beobachtungsmaterial paßt. Unter der Vielheit möglicher Systeme konnte dasjenige, das der physikalischen Wirk158

Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie

lichkeit entspricht, nur durch Beobachtung und Experiment herausgefunden werden. Mit anderen Worten, die synthetischen Prinzipien der Erkenntnis, die Kant als apriorisch angesehen hatte, wurden als aposteriorisch erkannt, also als verifizierbar durch die Erfahrung allein und nur gültig in dem eingeschränkten Sinne empirischer Hypothesen. In diesen Prozeß der Auflösung des synthetischen apriori müssen wir die Relativitätstheorie einordnen, wenn wir sie vom Gesichtspunkt der Philosophiegeschichte aus beurteilen wollen. Eine Linie, die mit der Erfindung nicht-euklidischer Geometrien 20 Jahre nach Kants Tod begann, zieht sich ununterbrochen bis zur Einsteinsehen Theorie von Raum und Zeit hin. Die Gesetze der Geometrie, die 2000 Jahre lang als Gesetze der Vernunft betrachtet worden waren, wurden nun als empirische Gesetze erkannt, die die Welt unserer Umgebung zu einem hohen Genauigkeitsgrade beschreiben. Aber für astronomische Dimensionen muß man sie aufgeben. Die scheinbare Evidenz dieser Gesetze, die zu der Auffassung führte, daß sie unausweichliche Voraussetzungen aller Erkenntnis seien, erwies sich als ein Produkt der Gewohnheit. Durch ihre Eignung für alle Erfahrungen des täglichen Lebens hatten diese Gesetze einen Grad von Verläßlichkeit erworben, den man irrtümlicherweise als absolute Sicherheit ansah. Heimholtz hat als erster die Idee vertreten, daß menschliche Wesen, die in einer nicht-euklidischen Welt lebten, eine Fähigkeit zur Anschauung entwickeln würden, die sie die Gesetze der nicht-euklidischen Geometrie als ebenso notwendig und evident betrachten ließen, wie uns die Gesetze der euklidischen Geometrie erscheinen. Wenn wir diese Idee auf den Einsteinsehen ZeitbegrifI übertragen, so dürfen wir sagen, daß menschliche Wesen, in deren täglicher Erfahrung die Wirkungen der Lichtgeschwindigkeit beträchtlich von denen einer unendlichen Geschwindigkeit verschieden wären, sich an die Relativität der Gleichzeitigkeit gewöhnen und die Regeln der Lorentz-Transformation als ebenso notwendig und selbstverständlich ansehen würden, wie wir die klassischen Regeln der Bewegung und der Gleichzeitigkeit als selbstverständlich betrachten. Wenn man z. B. eine Telephonverbindung mit dem Mars einrichtete und wir eine Viertelstunde auf die Antwort auf unsere Fragen warten müßten, so würde die Relativität der Gleichzeitigkeit für uns ebenso selbstverständlich werden wie der Zeitunterschied zwischen den Normalzeiten der verschiedenen Erdteile. Das, was Philosophen als Gesetze der Vernunft betrachtet hatten, hat sich als Einfluß der physikalischen Gesetze unserer Umgebung herausgestellt. \Vir haben Grund zur Annahme, daß ein entsprechender Einfluß in einer anderen Umgebung zu einer anderen Anpassung unseres Geistes führen würde. Der Prozeß der Auflösung des synthetischen apriori ist ein Wesenszug der heutigen Philosophie. Wir wollen aber nicht den Fehler begehen und

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es als einen Zusammenbruch der menschlichen Fähigkeiten ansehen, wenn sich Auffassungen, die wir als absolut wahr betrachteten, in ihrer Gültigkeit als begrenzt erweisen und auf verschiedenen Gebieten der Erkenntnis aufgegeben werden müssen. Im Gegenteil, die Tatsache, daß wir diese älteren Auffassungen überwinden und durch bessere ersetzen konnten, enthüllt unerwartete Fähigkeiten des menschlichen Geistes und eine Wendigkeit, die dem Dogmatismus einer reinen Vernunft, die dem Wissenschaftler seine Gesetze vorschreibt, weit überlegen ist. Kant selbst glaubte, einen Beweis für seine Behauptung in der Hand zu haben, daß seine Prinzipien des synthetischen apriori notwendige Wahrheiten seien. Danach wären diese Prinzipien notwendige Bedingungen der Erkenntnis. Er hat nicht gesehen, daß ein solcher Beweis die Wahrheit der Prinzipien nur aufzeigen könnte, wenn es sicher wäre, daß eine Erkenntnis im Rahmen dieser Prinzipien immer möglich wäre. Einsteins Theorie brachte dann den Beweis, daß Erkenntnis innerhalb des Bezugssystems der Kantschen Prinzipien nicht möglich ist. Für einen Kantianer mußte ein solches Ergebnis den Zusammenbruch der Wissenschaft bedeuten. Zum Glück war der Forscher Einstein kein Kantianer und suchte, anstatt seine Versuche in der Erkenntnistheorie aufzugeben, nach Wegen, die sog. apriorischen Prinzipien abzuändern. Mit seinem Talent, die raumzeitlichen Beziehungen anders als im traditionellen System der Erkenntnistheorie zu behandeln, hat Einstein den Weg zu einer Philosophie gebahnt, die der Philosophie des synthetischen apriori überlegen ist. Die Einsteinsche Relativitätstheorie gehört also zur Philosophie des Empirismus. Allerdings ist Einsteins Empirismus nicht der von Bacon und Mill, die glaubten, alle Naturgesetze könnten durch einfach-induktive Generalisierungen gefunden werden. Einsteins Empirismus ist der der modernen theoretischen Physik und der mathematischen Konstruktion, der so angelegt ist, daß er die Beobachtungsdaten durch deduktive Operationen verknüpft und uns befähigt, neue Beobachtungsdaten vorauszusagen. Die mathematische Physik wird immer empiristisch bleiben, solange sie der Sinnesempfindung das letzte Kriterium der Wahrheit überläßt. Der gewaltige Beitrag der deduktiven Methode in einer solchen Physik besteht in rein analytischen Operationen. Zu den deduktiven Operationen tritt natürlich ein induktives Element, das in der Physik der mathematischen Hypothesen enthalten ist. Aber sogar das Prinzip der Induktion, das bei weitem das schwerste Hindernis für einen radikalen Empirismus bildet, kann heute ohne den Glauben an ein synthetisches apriori als gerechtfertigt erwiesen werden. Die Methode der modernen Wisst'nschaft erschöpft sich in einem Empirismus, der nur die Sinllesempfindung und die analytischen Prinzipien der Logik als Quellen der Erkenntnis anerkennt. Trotz des gewaltigen mathematischen Apparates ist die Einsteinsehe Theorie von 160

Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie

Raum und Zeit der Triumph eines solchen radikalen Empirismus, und zwar auf einem Gebiet, das immer als ein Vorbehalt für die Entdeckungen der reinen Vernunft angesehen worden war. Der Auflösungsprozeß des synthetischen apriori ist keineswegs zu Ende. Zu dem Verzicht auf den absoluten Raum und die absolute Zeit hat die Quantenphysik den auf die Kausalität hinzugefügt. Ferner hat sie den klassischen Begriff der materiellen Substanz aufgegeben und gezeigt, daß die Bestandteile der Materie, die Atomteilchen, keineswegs den unzweideutigen Charakter fester Körper wie in der makroskopischen Welt besitzen. Wenn wir unter Metaphysik den Glauben an Prinzipien verstehen, die nicht analytisch sind, und trotzdem ihre Geltung allein von der Vernunft ableiten, dann ist die moderne Wissenschaft antimetaphysisch. Sie lehnt es ab, die Autorität des Philosophen anzuerkennen, der behauptet, er erkenne die Wahrheit durch Intuition, durch Einblick in eine Welt der Ideen oder in das Wesen der Vernunft oder der Prinzipien des Seins oder aus irgendeiner anderen überempirischen Quelle. Es gibt für Philosophen keinen Sondereingang zur Wahrheit. Der Weg des Philosophen fällt mit dem des Wissenschaftlers zusammen. Der Philosoph kann nicht mehr tun, als die Ergebnisse der Wissenschaft zu analysieren, ihren Sinn zu deuten und ihre Geltung abzustecken. Erkenntnistheorie ist Wissenschaftsanalyse. Ich sagte oben, Einstein sei ein indirekter Philosoph. Das heißt, es ist die Aufgabe des Philosophen, den philosophischen Gehalt der Einsteinsehen Theorie ausdrücklich und bewußt darzustellen. Wir wollen nicht vergessen, daß aus der Relativitätstheorie Folgerungen von gewaltiger Reichweite abzuleiten sind, und daß es eine durch und durch philosophische Physik ist, die solche Folgerungen in Bereitschaft hält. Nicht oft werden physikalische Systeme von so hoher philosophischer Bedeutung vor uns entwickelt. Einsteins Vorgänger war Newton. Es ist der Vorzug unserer Generation, daß wir unter uns einen Physiker haben, dessen Werk den gleichen Rang hat wie das des Mannes, der die Raum-und-Zeit-Philosophie zwei Jahrhunderte lang bestimmt hat. Wenn uns die Physiker so ausgezeichnetes philosophisches Material schenken, dann ist es eine Freude, Philosoph zu sein. Der dauernde Ruhm einer Philosophie der modernen Physik wird gerechterweise dem Manne zufallen, der die Physik gemacht hat - nicht denen, die sich darum bemüht haben, die Folgerungen seines \Verkes abzuleiten und es in die Geschichte der Philosophie einzuordnen. Viele haben zur Philosophie der Einsteinschen Theorie beigetragen, aber es gibt nur einen Einstein. Department of Philosophy University of California at Los Angeles.

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H. P. Robertson GEOMETRIE ALS ZWEIG DER PHYSIK

Ist der Raum in Wirklichkeit gekrümmt? Diese Frage wird in der einen oder anderen Form immer wieder von Philosophen, Wissenschaftlern, dem Mann von der Straße und den Lesern der Illustrierten aufgeworfen. Die Frage ist vor allem durch das geniale Werk Albert Einsteins in das helle Licht des Tages gestellt worden, und dort blieb sie infolge der unermüdlichen Bemühungen der Astronomen, die Antwort einer merkwürdig widerstrebenden Natur zu entreißen. Aber was ist der Sinn dieser Frage? Ja, man muß nach dem Sinn eines jeden Wortes fragen! Wollte man die Frage ganz genau formulieren und zutreffend beantworten, so würde das einen kritischen Exkurs durch die ganze Philosophie und Mathematik bis zur Physik und Astronomie erfordern, und der liegt freilich außerhalb des Bereiches unseres bescheidenen Versuchs. Wir wollen uns damit begnügen, die Bedeutung von Deduktion und Beobachtung beim Problem des physikalischen Raumes zu prüfen, einige Höhepunkte in der Geschichte des Problems klarzulegen und schließlich den Gesichtspunkt herauszuarbeiten, der sich durch die Vorführung eines relativ einfachen Bildes von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie ergibt. Wir hoffen dabei, daß diese sicher unvollkommene und vielleicht naive Beschreibung die wesentlichen Punkte des Problems von einem neutralen mathematisch-physikalischen Standpunkt aus darstellt, der seineEinbeziehung in irgendeine vertretbare philosophische Anschauung erlaubt. Allerdings werden wir hier das wichtige Problem von Form und Materie nicht direkt angehen. Aber wenn man die hier behandelte geometrische Basis als einen formalen Hintergrund betrachtet, vor dem sich die kontingenten Beziehungen in der Natur abspielen, so darf man das sicher versuchen, ohne dem wissenschaftlichen Inhalt Gewalt anzutun. So betrachten wir denn zunächst die Geometrie als eine deduktive Wissenschaft, als einen Zweig der Mathematik, in dem ein System von Theoremen durch logische Prozesse aus einer Reihe von axiomatischen Postulaten (aber nicht von "evidenten Wahrheiten") abgeleitet wird. Logisch genommen unterscheidet sich die Geometrie keineswegs von irgendeiner anderen mathematischen Disziplin, etwa von der Zahlentheorie oder dem Variationskalkül. Als mathematische Wissenschaft ist sie nicht die 162

Geometrie als Zweig der Physik

von den Messungen, obwohl das eigentlich in ihrem Namen läge; denn dieser hat seinen Ursprung in der Kodifizierung von Regeln für die Landvermessung. Das Hauptkriterium für ihre Gültigkeit als eine mathematische Disziplin ist die Frage, ob die zu Papier gebrachten Axiome mit sich selbst in Übereinstimmung stehen, und das einzige Kriterium der Wahrheit eines Theorems ist die Frage, ob es von den Axiomen abgeleitet werden kann. Diese Wahrheit ergibt sich offensichtlich relativ zu den Axiomen. Das Theorem, daß die Summe der drei inneren Winkel eines Dreiecks gleich zwei Rechten ist, ist zwar in der euklidischen Geometrie wahr, aber in jeder anderen Geometrie falsch, wenn diese das Parallelenpostulat durch ein ihm widersprechendes ersetzt. An dieser Stelle genügt es, festzustellen, daß die Geometrie ein System von Theoremen ist, das unter anderem die Begriffe des Punktes, des Winkels und einer bestimmten zahlenmäßigen Relation enthält, die man Entfernung zwischen zwei Punkten nennt, wobei die Ableitung aus einer Reihe sich nicht widersprechender Axiome erfolgte. Was unterscheidet dann aber die euklidische Geometrie als mathematisches System von jenen logisch widerspruchsfreien Systemen, die die gleiche Kategorie von Begriffen enthalten, aber auf der Ablehnung eines oder mehrerer der traditionellen Axiome beruhen? Der Unterschied kann nicht in ihrer "Wahrheit" bestehen in dem Sinne, wie man Tatsachen in der physikalischen Wissenschaft beobachtet. Deren Wahrheit oder Anwendbarkeit oder vielleicht besser noch Angemessenheit in diesem physikalischen Sinne hängt von der Beobachtung und nicht allein von der Deduktion ab. Das Wesen der euklidischen Geometrie als mathematischer Wissenschaft ist darum in ihrem inneren Gefüge zu suchen und nicht in ihrer Beziehung zur empirischen Welt. In erster Linie ist die euklidische Geometrie eine solche der Kongruenz, man kann auch sagen, der Raum, die Gesamtheit ihrer Elemente und Beziehungen ist homogen und isotrop. Die inneren Beziehungen zwischen Punkten und anderen Elementen einer Konfiguration werden durch die Lage oder die Orientierung der Konfiguration nicht beeinflußt. Beispielsweise sind in der euklidischen Geometrie alle wirklichen Eigenschaften eines Dreiecks (seine ·Winkel, seine Fläche usw.) einzig und allein bestimmt durch die Längen seiner drei Seiten. Zwei Dreiecke, deren drei Seiten entsprechend gleich sind, sind "kongruent". Beide können durch eine "Bewegung" des Raumes in sich selbst miteinander in eine vollständige Koinzidenz gebracht werden, ganz gleich, welches ihre ursprüngliche Lage und Orientierung sein mag. Diese Bewegungen des euklidischen Raumes sind die bekannten Übertragungen und Drehungen, von denen man Gebrauch macht, um viele der euklidischen Theoreme zu beweisen. Daß die Existenz dieser Bewegungen (also das Axiom der "freien Beweglichkeit") eine erwünschte Annahme, wenn nicht sogar eine Notwendigkeit für eine auf den

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H. P. Robertson

physikalischen Raum anwendbare Geometrie ist, haben HeImholtz, Whitehead, Russell und andere zwingend begründet, und zwar auf Grund apriorischer Überlegungen; denn nur in einem homogenen und isotropen Raum kann der traditionelle Begriff eines starren Körpers aufrechterhalten werden!. Aber die euklidische Geometrie ist nur eine von verschiedenen auf Kongruenz beruhenden Geometrien. Es gibt da auch die "hyperbolische" Geometrie von Bolyai und Lobatschewsky und die "sphärischen" und die "elliptischen" Geometrien von Riemann und Klein. Jede dieser Geometrien ist charakterisiert durch eine reale Zahl K, die für die euklidische Geometrie gleich Null, für die hyperbolische negativ und für die sphärischen und elliptischen Geometrien positiv ist. Im Falle zweidimensionaler Kongruenzräume, die als Oberflächen verstanden werden können (aber nicht müssen), die in einen dreidimensionalen euklidischen Raum eingebettet sind, kann die Konstante K als die Krümmung der Oberfläche in die dritte Dimension verstanden werden, woraus auch die Bezeichnung abgeleitet ist. Diese Bezeichnung und diese Vorstellung sind für unsere Zwecke zumindest psychologisch unvorteilhaft, denn unser Vorschlag geht schließlich dahin, einzig und allein mit den dem betrachteten Raum innewohnenden Eigenschaften zu arbeiten (Eigenschaften, die in den weiteren physikalischen Anwendungen innerhalb des Raumes selbst gemessen werden können), und diese Eigenschaften hängen nicht von einer hinzukommenden äußeren Konstruktion ab, wie etwa der Beziehung zu einem hypothetischen, höherdimensionalen einbettenden Raum. Wir müssen dementsprechend eine Bestimmung von K, das wir gleichwohl weiterhin als Krümmung bezeichnen, in Ausdrücken solcher innewohnenden Eigenschaften versuchen. Um in eine solche von innen heraus zu verstehende Charakterisierung der Krümmung einzudringen, greifen wir zunächst zurück zu einer beinahe naiv erscheinenden Betrachtung der Messungen, die man auf der Erdoberfläche machen kann, wobei die Erde als eine Kugel vom Radius R verstanden wird. Diese Oberfläche ist das Beispiel eines zweidimensionalen Kongruenzraumes von der positiven Krümmung K = 1/ R2, wobei wir annehmen, daß der abstrakte geometrische Begriff der "Entfernung" r zwischen zweien ihrer Punkte (natürlich nicht die Endpunkte eines Durch1 Fachtechnisch besteht diese Forderung, wie sie im Axiom der freien Beweglichkeit zum Ausdruck kommt, darin, daß es eine Bewegung des dreidimensionalen Raumes in sich selbst gibt, die eine willkürliche Konfiguration (bestehend aus einem Punkt, einer Richtung durch den Punkt hindurch und einem Komplex von Richtungen, der die gegebene Richtung enthält) in irgend eine andere solche Konfiguration überträgt. Als ausgezeichnete Darlegung dieses Standpunktes ziehe man heran: B. A. W. Russell "The Foundations of Geometry" (Cambridge, 1897), oder den Artikel von Russell und A. N. Whitehead "Geometry VI: NonEuclidean Geometry", 11. Auf!. der Encyclopaedia Britannica.

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messers) mit der kleineren der beiden Entfernungen korrespondiert, die zwischen ihnen an der Oberfläche entlang dem großen Kreise gemessen werden, der die beiden Punkte verbindet 2• Nun betrachten wir einen "kleinen Kreis" vom Radius r (gemessen an der Oberfläche!) etwa um einen Punkt P der Oberfläche; sein Umkreis L und die Fläche A (wiederum an der Oberfläche gemessen!) sind offensichtlich kleiner als die entsprechenden Maße 2nr und nr2 des Umfangs und der Fläche eines Kreises vom Radius r im euklidischen System. Eine elementare Berechnung zeigt, daß für einen genügend kleinen Betrag von r (d. h. klein im Vergleich zu R) diese Größen an der Kugel annähernd durch folgende Formeln dargestellt werden:

L=2nr(1-Kr2/6+ ... ), A=nr2 (1-Kr 2/12+ ... ).

(1)

Es ergibt sich so, daß das Verhältnis der Fläche eines kleinen Kreises vom Radius 400 Meilen auf der Erdoberfläche zu dem eines Kreises vom Radius 40 Meilen nur 99,92 anstatt 100 beträgt. Eine andere Folgerung für eine mögliche astronomische Anwendung ist die, daß in der sphärischen Geometrie die Summe (1 der drei Winkel eines Dreiecks (dessen Seiten Bögen großer Kreise sind) größer als zwei rechte Winkel ist. Man kann ohne weiteres zeigen, daß dieser "sphärische Überschuß" ausgedrückt wird durch die Formel

(1-n=K(j,

(2)

wobei (j die Fläche des sphärischen Dreiecks darstellt und die Winkel in Radien gemessen werden (bei denen 1ROo = n ist). Ferner ist jede geschlossene Linie (großer Kreis) von der bestimmten Länge 2nR, und jeweils zwei geschlossene Linien treffen sich in zwei Punkten, so daß es also keine Parallelen gibt! In dem vorhergehenden Abschnitt haben wir vorsorglich einen quasiphysikalischen Standpunkt eingenommen, also einen nicht der Sache angemessenen, um die Formeln (1) und (2) auf einem mehr oder weniger intuitiven Wege zu gewinnen. Es ist aber wesentlich, zu begreifen, daß diese Formeln tatsächlich von dieser besonderen Art der Ableitung unabhängig sind. Sie bilden Beziehungen zwischen den mathematischen Begriffen Entfernung, Winkel, Umfang und Fläche, die als logische Konsequenzen aus den Axiomen dieser besonderen Art von nicht-euklidischer Geometrie 2 Die Bewegungen der Erdoberfläche in sich selbst, die uns ermöglichen, einen Punkt und eine Richtung durch diesen in einen anderen Punkt und eine andere Richtung zu transformieren, wie es das Axiom der freien Beweglichkeit verlangt, sind in diesem Zusammenhang diejenigen, die durch die 3-Parameter-Gruppe der Erddrehung um ihren Mittelpunkt hervorgebracht werden (nicht nur die 1-Parameter-Gruppe der täglichen Rotation um ihre "Achse"!).

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H. P. Robertson

folgen. Und da sie die Raumkonstante K enthalten, mag diese "Krümmung" wenigstens im Prinzip durch Messungen bestimmt sein, die an der Oberfläche gemacht werden, ohne daß man auf ihre Einbettung in einen Raum von höherer Dimension zurückgreifen müßte. \Veiterhin müssen diese Formeln als gültig angesehen werden für einen Kreis oder ein Dreieck in der hyperbolischen Sphäre, also einen zweidimensionalen Kongruenzraum, für den K < O. Dementsprechend sind hier Umfang und Fläche eines Kreises größer und die Summe der drei Winkel eines Dreiecks kleiner als die entsprechenden Größen im euklidischen System. Man kann auch zeigen, daß jede geschlossene Linie von unendlicher Länge ist, daß durch einen gegebenen Punkt außerhalb einer gegebenen Linie unendlich viele Linien gezogen werden können, die die gegebene Linie nicht schneiden (die bei den Linien, die die Schar begrenzen, heißen "parallel" zu der gegebenen Linie), und daß zwei Linien, die sich schneiden, dies nur in einem Punkte tun. Der \Vert dieser adäquaten Formulierungen wird besonders deutlich bei der Betrachtung dreidimensionaler Kongruenzräume, bei denen unsere physikalische Intuition kaum hinreicht, um sie als "gekrümmt" in einem Raum von höherer Dimension zu verstehen. Die innere Geometrie eines solehen Raumes von der Krümmung K ergibt Formeln für die Oberfläche S und das Volumen V einer "kleinen Kugel" vom Radius r, deren Hauptbestimmungen die folgenden sind:

S= 4 n r 2 (1 - K r 2/3 + ... ) , V= (4/3)nr 3 (1-Kr 2/5+ ... ).

(3)

Es ist zu bemerken, daß in all diesen Kongruenzgeometrien mit Ausnahme der euklidischen eine natürliche Längeneinheit R = 1/1 Ki'l. vorliegt; diese Längeneinheit wollen wir einfach den "Krümmungsradius" des Raumes nennen. Soviel sei über die Kongruenzgeometrien gesagt. Wenn wir das Axiom der freien Beweglichkeit aufgeben, so können wir uns gleichwohl noch mit der Geometrie von Räumen befassen, die nur begrenzte oder gar keine Bewegungen in sich selbst haben 3 • Jede Oberfläche im dreidimensionalen euklidischen Raum hat eine solche zweidimensionale Geometrie; eine drehsymmetrische Oberfläche unterliegt einer 1-Parameter-Gruppe von Bewegungen (Umläufe um ihre Achse), was aber nicht genügt, das Axiom der freien Beweglichkeit zu befriedigen. Jede solche Oberfläche hat an jedem Punkt P(x, y) eine innere "totale Krümmung" K(x, y), die ganz allgemein vom einen zum anderen Punkt variiert. Die Kenntnis der Krüm3 Wir beschränken uns hier auf die metrischen (Riemannschen) Geometrien, in denen ein Differentialelement der Entfernung ds existiert, deren Quadrat eine homogene quadratische Form in den Koordinaten-Differentialen bildet.

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Geometrie als Zweig der Physik

mung an allen Punkten bestimmt im wesentlichen alle inneren Eigenschaften der Oberfläche 4 • Die Bestimmung von K(x, y) durch Messungen an der Oberfläche wird nun durch die Tatsache ermöglicht, daß der Umfang L und die Fläche A einer geschlossenen Kurve, in der jeder Punkt in einer gegebenen (genügend kleinen) Entfernung r von P(x, y) liegt, durch unsere Formel (1) ausgedrückt sind, in der K nicht mehr notwendigerweise vom einen zum anderen Punkt konstant ist. Jede solche Fläche, für die K = 0 ist, ist eine Oberfläche, die, unter Vernachlässigung ihrer makroskopischen Eigenschaften, ohne Zerreißen oder Strecken in der euklidischen Ebene abgewickelt werden kann. Von hier aus gehen wir weiter zur Betrachtung von drei- oder mehrdimensionalen ("Riemannschen") Räumen, deren innere Eigenschaften von Punkt zu Punkt variieren. Aber diese Eigenschaften sind nicht mehr in den Begriffen einzelner Quantitäten zu beschreiben; denn die "Krümmung" erhält jetzt an jedem Punkte einen Richtungscharakter, der im dreidimensionalen Raum 6 Komponenten (und im vierdimensionalen 20) für seine Spezifizierung erfordert. Wir begnügen uns hier damit, die Aufmerksamkeit auf eine einzelne Kombination der 6 Komponenten zu richten, die wir die "mittlere Krümmung" am Punkt P(x, y, z) nennen und die wir wiederum mit K, bzw. vollständiger mit K(x, y, z), bezeichnen. In gewissem Sinne ist sie das Mittel der Krümmungen verschiedener durch P gehender Oberflächen, und sie reduziert sich zu der vorhin betrachteten Raumkonstanten K, wenn der betreffende Raum ein Kongruenzraum ist 5 • Dieser Begriff erweist sich als nützlich für physikalische Anwendungen; denn die Oberfläche S und das Volumen r einer Kugel vom Radius r mit dem Mittelpunkt P(x, y, z) ist wiederum durch die Formel (3) gegeben, wobei hier K als die mittlere Krümmung K(x, y, z) des Raumes beim Punkt P interpretiert werden muß. Bei ähnlichen vier- und mehrdimensionalen Überlegungen mögen ähnliche Begriffe eingeführt und ähnliche l'ormeln entwickelt werden, aber wir benötigen diese hier nicht. Wir müssen uns nun mit der Welt physikalischer Objekte um uns be4 Das heißt die "difIerentialen" Eigenschaften im Gegensatz zu denen "im Großen". So hat die euklidische Ebene und ein Zylinder das gleiche DifIerential, aber nicht die gleiche makroskopische Struktur. 5 Die hier gemeinten Größen sind die 6 unabhängigen Komponenten des Riemann-ChristofIel-Tensors in 3 Dimensionen, und die hier eingeführte "mittlere Krümmung" (nicht zu verwechseln mit der mittleren Krümmung einer Oberfläche, die eine von außen bedingte von der Einbettung abhängende Eigenschaft ist) ist K = -R'j6, wobei R' der kontrahierte Ricci-Tensor ist. Ich bin Prof. Herbel't Busemann von der Universität Südkalifornien zu Dank verpflichtet für eine Bemerkung, die die Nutzbarkeit dieses Konzepts für meine späteren Zwecke hervorhob. Eine vollständige Entwicklung der dabei verwendeten GrundbegrifIe findet sich in L. P. Eisenharts "Riemannian Geometry" (Princeton 1926).

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fassen und aufzeigen, wie ihre geordnete Beschreibung in Übereinstimmung mit anerkannten, philosophisch möglichst neutralen wissenschaftlichen Methoden erzielt werden kann. Diese Gegenstände, die für uns kraft einer gewissen vorwissenschaftlichen Konkretisierung unserer Sinnesgegebenheiten existieren, sind in einer ausgedehnten Mannigfaltigkeit gelagert, die wir den physikalischen Raum nennen. Jeder individuelle Geist, der mit gewaltiger Beschleunigung den von der Menschheit zurückgelegten Pfad abschreitet, bemüht sich um eine Analyse der gegenseitigen Einwirkung von Objekt und Ausdehnung. Er entwickelt eine Vorstellung von der Permanenz des Objekts und der Ordnung und Verwandlung ihrer extensiven Beziehungen in der Zeit, einer anderen Form der Ausdehnung, durch die Objekt und Subjekt aufeinander treffen. Das Studium der Ordnung aktueller und potentieller Beziehungen und das physikalische Problem von Raum und Zeit führen zu einer Auffassung von Geometrie und Bewegungslehre als einem Zweig der physikalischen Wissenschaft. Wir richten nun unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Aspekte dieses Problems. Zunächst betrachten wir diejenige Lösung des Raumproblems, die auf dem Postulat beruht, daß der Raum eine apriorische Form des Verstandes sei. Seine Geometrie muß dann eine Kongruenzgeometrie sein, unabhängig vom physikalischen Inhalt des Raums. Und da für Kant, den Hauptvertreter dieser Ansicht, nur eine Geometrie existierte, mußte der Raum euklidisch sein, womit das Problem des physikalischen Raumes auf einem rein wissenschaftsgeschichtlichen und vorphysikalischen Niveau gelöst war. Aber die Entdeckung anderer Kongruenzgeometrien, die durch einen numerischen Parameter K charakterisiert sind, modifiziert notgedrungen diese Auffassung und stellt wenigstens in gewisser Weise den objektiven Aspekt eines physikalischen Raumes wieder her. Der aposteriorische Grund für diese Raumkonstante K muß dann in der Kontingenz gesucht werden. Das Rüstzeug für seine innere Bestimmtheit ist implicite in der oben angeführten Formel enthalten. Wir haben nur (!) das Volumen V einer Kugel vom Radius r oder die Winkelsumme a eines Dreiecks von der ausgemessenen Fläche b zu messen und aus den Ergebnissen den Wert von K zu berechnen. Bei dieser modifizierten Kantschen Anschauung, die Russell ausführlich entwickelt hat S, wäre es unbegreiflich, daß K sich von Punkt zu Punkt verändert; denn nach dieser Auffassung hängt die Möglichkeit der Messung von der Konstanz der Raumstruktur ab, wie sie durch das Axiom der freien Beweglichkeit gewährleistet ist. Es ist nicht unwichtig, hier anläßlich der neuesten kosmologischen Entdeckungen am Rande auf die von A. Calinon (1889!) bereits erwogene Möglichkeit hinzuweisen, daß die Raumkonstante K sich mit der Zeit verändern könnte7• Aber diese 6

7

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In seinen Werken, die bereits in Fußnote 1 genannt sind. "Les espaces geometriques", Revue Philosophique, Bd. 27, S. 588-595 (1889).

Geometrie als Zweig der Physik

Möglichkeit hat Russell mit Recht außer acht gelassen; denn die gleichen Argumente, mit denen diese apriorische Theorie zur Forderung der Konstanz von K im Raume gelangt, würden genau so seine Konstanz in der Zeit erfordern. In unserer bisherigen Skizze sind wir der eigentlichen Schwierigkeit beim Problem der Messung ausgewichen. Als Physiker müssen wir diejenigen Aspekte der physikalischen Welt klar herausarbeiten, die den Elementen des mathematischen Systems entsprechen, dessen Anwendung wir für die Beschreibung empfehlen ("Realisierung" des abstrakten Systems). Im Idealfalle würde dieser Leitgedanke in vollkommener Weise die Operationen festlegen, durch die die numerischen \Verte den physikalischen Gegenstücken der abstrakten Elemente zugeschrieben werden. Wie kann man das in dem vorliegenden Falle erreichen, in dem es sich um die Bestimmung des numerischen Wertes der Raumkonstante K handelt? Obwohl K. F. Gauß, einer der geistigen Väter der nicht-euklidischen Geometrie, einmal einen Test für die angeblich flache Struktur des Raumes vorgeschlagen hatte, indem er die inneren Winkel eines irdischen Dreiecks messen wollte, blieb es seinem Göttinger Nachfolger Karl Schwarzschild vorbehalten, das Verfahren genauer zu formulieren und den Versuch zu machen, den Wert von K auf der Basis der astronomischen Daten zu bestimmen, die an der Jahrhundertwende verfügbar waren8 • Schwarzschilds bahnbrechender Versuch ist in seiner Konzeption so faszinierend und in seiner Ausführung so schön, daß ich es mir nicht versagen möchte, ein paar kurze Auszüge aus seiner Arbeit wiederzugeben. Er deutet die Möglichkeit an, daß der physikalische Raum, in Übereinstimmung mit der oben näher entwickelten neukantianischen Position, nicht euklidisch sei, und stellt fest: "Man befindet sich hier, wenn man so sagen darf, in einem geometrischen. Märchenland, aber die Schönheit dieses Märchens besteht darin, daß man nur das zu wissen bekommt, was wahr ist. Darum besprechen wir Die Möglichkeiten, die Calinon gesehen hat, seien hier in freier Übertragung wiedergegeben:

1. Unser Raum ist und bleibt im strengen Sinne euklidisch. 2. Unser Raum realisiert einen geometrischen Raum, der sich nur sehr wenig vom euklidischen unterscheidet, aber ständig der gleiche bleibt. 3. Unser Raum realisiert in der Zeitfolge verschiedene geometrische Räume; anders ausgedrückt, unser Raum-Parameter variiert mit der Zeit, sei es, daß er mehr oder weniger vom euklidischen Parameter abweicht oder daß er um einen bestimmten Parameter oszilliert, dessen Wert dem euklidischen sehr nahe kommt. 8 "Über das zulässige KrÜmmungsmaß des Raumes", Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft, Bd. 35, S. 337-347 (1900). Die jährliche Parallaxe, wie sie in der Praxis benützt wird, beträgt die Hälfte der weiter unten definierten.

169

H. P. Robertson

hier die Frage, wie weit wir die Grenzen dieses Märchenlandes zurück schieben müssen, das heißt, wie klein wir die Krümmung des Raumes bzw. wie groß wir den Radius seiner Krümmung wählen müssen." Für die Weiterentwicklung seines Verfahrens schlägt Schwarzschild vor: "Ein durch drei Punkte bestimmtes Dreieck soll definiert werden als Kennzeichnung für die Wege von Lichtstrahlen von einem Punkt zum anderen, die Längen der Seiten a, b, c kennzeichnen die Zeiten, die das Licht braucht, um diese Wege zurückzulegen, und die Winkel a, ß, y sollen mit den gebräuchlichen astronomischen Instrumenten gemessen werden." Indem wir Schwarzschilds Vorschriften für die Beobachtungen an einem bestimmten Stern annehmen, betrachten wir das Dreieck ABC, das durch die Lage A des Sterns und durch zwei Positionen Bund C der Erde (nehmen wir an, sechs Monate voneinander entfernt) definiert wird, wobei die Winkelpositionen des Sterns in Bund C gemessen werden. Die Basis BC = a ist bekannt, und zwar durch Messungen innerhalb des Sonnensystems, die nach der Vorschrift erfolgen, und die inneren Winkel ß und y, die die Lichtstrahlen des Sterns mit dieser Basislinie bilden, sind ebenfalls durch Messung bekannt. Daraus kann die Parallaxe p = n - (ß y) berechnet werden j im euklidischen Raum ist diese Parallaxe einfach der angeführte Winkel a, der am Stern dem Durchmesser des Erdkreises gegenüberliegt. In den anderen Kongruenzgeometrien erscheint die Parallaxe mit Hilfe unserer obigen Formel (2) gleich

+

p

=n-



+ y) = a -

K !5 ,

(2')

wobei a der (unbekannte) Winkel am Stern A und !5 die (unbekannte) Fläche des Dreiecks ABC ist. Trotz unserer unvollkommenen Kenntnis der Elemente auf der rechten Seite dieser Gleichung können aus diesem Ergebnis gewisse gültige Schlüsse gezogen werden. Erstens: wenn der Raum hyperbolisch ist (K < 0), wird die Parallaxe p für entfernte Sterne (für die a '" 0) positiv bleiben. Wenn daher Sterne beobachtet werden, deren Parallaxe innerhalb der Irrtumsmöglichkeiten bei der Beobachtung gleich Null ist, so wird dieser geschätzte Irrtum eine obere Grenze für den absoluten Wert -K der Krümmung bilden. Zweitens: wenn der Raum sphärisch ist (K > 0), wird für einen genügend weit entfernten Stern (weiter entfernt als ein Viertel des Umfangs einer euklidischen Kugel vom Radius R = i/K'I" wie man sofort unter Zuhilfenahme eines Globus sieht) die Summe ß y zwei rechte Winkel übersteigen. Daher müßte die Parallaxe p eines solchen Sternes negativ sein, und auch wenn tatsächlich keine Sterne mit negativer Parallaxe beobachtet werden, ergibt der geschätzte Irrtum der Beobachtung eine obere Grenze für die Krümmung K. Auch in diesem letzteren Falle muß das vom Stern ausgesandte Licht zu ihm zurückkehren, nachdem es die volle Länge 2nR (nR im elliptischen

+

170

Geometrie als Zweig der Physik

Raume) der Linie durchlaufen hat, und von hier aus können wir, abgesehen von der Absorption und Streuung, das zurückkehrende Licht als einen Gegenstern beobachten, und zwar in der Richtung, die dem Licht des Sternes selbst entgegengesetzt ist. Auf Grund der dadurch gewonnenen Evidenz zog Schwarzschild den Schluß: wenn der Raum hyperbolisch ist, kann sein Krümmungsradius R = 1/(- K)'/. nicht weniger als 64 Lichtjahre sein (d. h. die Entfernung, die das Licht in 64 Jahren durchmißt), und wenn der Raum elliptisch ist, so ist sein Krümmungsradius R = 1/ K'/. mindestens 1600 Lichtjahre groß. Das sind kaum imponierende Zahlen für uns, die wir aus anderen astronomischen Gründen glauben, daß Objekte auf eine Entfernung von 500 Millionen Lichtjahren im Mt.-Wilson-Teleskop gesichtet wurden, und die wir Objekte auf die doppelte Entfernung mit Hilfe des neuen Mt.-PalomarReflektors zu finden hoffen! Aber der Wert der Arbeit von Schwarzschild liegt für uns in seiner korrekten experimentellen Befassung mit dem Problem der physikalischen Geometrie. Hier steht er in erfrischendem Gegensatz zu der Verlautbarung von Henri Poincare, der nach einer Übersicht über diese Probleme feststellteD : "Wenn man also negative Parallaxen entdecken könnte oder beweisen könnte, daß alle Parallaxen oberhalb einer gewissen Grenze liegen, so hätte man die Wahl zwischen zwei Schlußfolgerungen: wir könnten der euklidischen Geometrie entsagen oder die Gesetze der Optik abändern und zulassen, daß das Licht sich nicht genau in gerader Linie fortpflanzt. Es ist unnütz hinzuzufügen, daß jedermann diese letztere Lösung als die vorteilhaftere ansehen würde. Die euklidische Geometrie hat also von neuen Erfahrungen nichts zu fürchten." (!) Bis jetzt haben wir uns der neukantianischen Lehre angeschlossen, daß der Raum homogen und isotrop sein muß, und in diesem Falle werden unsere Vorschläge in bezug auf die experimentellen Verfahrensweisen begrenzt durch ihre Anwendung auf die Bestimmung numerischer Werte der Raumkonstanten K. Aber die Möglichkeiten der experimentellen Methode gehen sicher weiter. Was geschieht, wenn wir sie auf Dreiecke, Kreise und Kugeln in verschiedenen Positionen und zu verschiedenen Zeiten anwenden und finden, daß die so bestimmte Größe K tatsächlich von der Lage in Raum und Zeit abhängt? Müssen wir Poincare folgen und diese Feststellungen auf den Einfluß einer äußeren Kraft zurückführen, die eigens zu diesem Zweck postuliert wird? Oder sollen wir unsere Ergebnisse als maßgebend erachten und eine Geometrie annehmen, zu der wir als 9 "Wissenschaft und Hypothese". Zitiert nach der autorisierten deutschen Ausgabe (mit erläuternden Anmerkungen) von F. und L. Lindemann, 2. verbesserte Auf!. Leipzig, Teubner 1906. S. 74f.

171

H. P. Robertson der natürlichen Geometrie für die physikalische Wissenschaft hingeleitet werden? Die Antwort auf diese methodologische Frage hängt weitgehend von der Allgemeingültigkeit der so gefundenen Geometrie ab, das heißt, ob die Geometrie, die in einem bestimmten Bereich der physikalischen Erörterung gefunden wurde, folgerichtig auf andere ausgedehnt werden kann, und schließlich wird die Antwort zum Teil auch von der individuellen Einstellung des Forschers oder seiner Kollegen oder seiner Zeitepoche überhaupt abhängen. So ist Einsteins spezielle Relativitätstheorie, die eine physikalische Bewegungslehre unter Einschluß von Raum- und Zeitmessungen bietet, durch verschiedene Stufen der Anerkennung und Anwendung gegangen, bis sie schließlich heute zu einem universalen und unentbehrlichen Werkzeug der modernen Physik geworden ist. Seine allgemeine Relativitätstheorie, die eine weiter ausgedehnte Bewegungslehre bringt und in ihrer geometrischen Struktur die universale Gravitationskraft enthält, wurde von manchen Zeitgenossen lange Zeit als eine Gewaltsamkeit betrachtet, die bestenfalls eine Spielerei, aber in der Praxis nutzlos ist. Jetzt aber, wo diese Theorie bis zu den äußersten Enden des beobachteten Universums ausgedehnt werden konnte, erscheint diejenige Art von Geometrie, die durch die gegenwärtigen Daten nahegelegt wird, vielen als so abwegig, daß sie lieber Poincare folgen und ad hoc eine Kraft postulieren wollen, sei es in Form eines ambivalenten Zeitbegriffs oder einer Xnderung in der Lichtgeschwindigkeit oder der Planckschen Konstante über lange Zeiten hin, ehe sie sich zur Annahme jener Geometrie entschließen. Aber genug von dieser allgemeinen und historischen Beschäftigung mit dem Problem der physikalischen Geometrie! Wenn wir diese Diskussion mit einer genaueren, die Verfahrensweise berücksichtigenden Analyse der Lösung beschließen wollen, wie sie die allgemeine Relativitätstheorie an die Hand gibt, so erforderte das weit mehr als den bescheidenen mathematischen Aufriß, wie wir ihn hier entwickelt haben. Ferner ist das Operationsfeld der allgemeinen Theorie so wenig auf die Erde beschränkt und ihre Experimenta crucis sind so heikel, daß uns eine sachgemäße Diskussion weit aus der Welt der gewohnten Gegenstände und des Alltags herausführen und die wesentlichen Punkte in einer Vielfalt ungewohnter und esoterischer astronomischer und mathematischer Begriffe verdunkeln würde. Was wir brauchen, ist ein leicht begreifliches Experiment, das man im Laboratorium ausführen kann. So weit sind wir leider noch nicht, aber ich glaube, daß das folgende Beispiel einer einfachen Theorie der Messung an einem wärmeleitenden Medium geeignet ist, die Prinzipien auseinanderzusetzen, ohne zu tief in die Mathematik einzudringen. Gerade die Tatsache, daß es uns zu einer ziemlich schlechten und unannehmbaren physi-

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Geometrie als Zweig der Physik

kalischen Theorie führt, ist instruktiv j denn ihr Versagen wird das Erfordernis einer universalen Anwendung unterstreichen, also ein Erfordernis, das durch die allgemeine Relativitätstheorie in befriedigender Weise erfüllt wird. Der Schauplatz unseres Beispiels ist ein gewöhnliches Laboratorium, ausgerüstet mit Bunsenbrennern, Klammern, Zollstöcken, Mikrometern und aB den anderen um die Jahrhundertwende gebräuchlichen Dingen. Elektronische Apparate brauchen wir nicht! Im Laboratorium herrscht (bisher!) unbestritten praktisch die euklidische Geometrie j denn selbst wenn Messungen mit recht beträchtlichen Genauigkeitsgrenzen ausgeführt werden müssen, so sind doch sophistische Skrupel wegen der Wirkung von Gravitations- oder magnetischen oder anderen Kraftfeldern auf ihre metrische Struktur überflüssig. Wenn wir uns in diesem gewohnten und entwaffnenden Milieu so richtig wohl fühlen, betrachten wir das folgende Experiment. Wir erhitzen eine dünne, flache Metallplatte auf irgendeine Weise so, daß die Temperatur T auf der Platte nicht gleich verteilt ist. Während des Prozesses hindern wir die Platte durch Klammern oder sonst irgendwie daran, sich zu "krümmen", so daß man mit Recht sagen kann, sie bleibt nach unseren üblichen Maßstäben flach. Nun fahren wir fort und machen an der Platte geometrische Messungen mit einem kurzen Metallstab, der einen gewissen Ausdehnungskoeffizienten c hat. Dabei achten wir darauf, daß der Stab bei jeder Berührung mit der Platte in ein thermisches Gleichgewicht kommen kann, bevor wir die Messung ausführen. Die Frage ist nun die nach der Geometrie der Platte, wie sie in den Ergebnissen dieser Messungen zutage tritt. Wenn nicht gerade der Ausdehnungskoeffizient c des Stabes gleich Null ist, wird die Geometrie evidenterweise nicht euklidisch bleiben j denn der Stab wird sich in den wärmeren Bereichen der Platte mehr ausdehnen als in den kälteren, und dabei werden die (euklidischen) Messungen verzerrt, die man durch einen Stab erhält, dessen Länge sich im Vergleich zu den gebräuchlichen Standardlängen des Laboratoriums nicht verändert hat. Somit wird sich der Umfang L eines Kreises um einen Punkt, an dem sich ein Brenner befindet, sicher als größer erweisen als n mal dem gemessenen Durchmesser 2 r. Denn der Stab wird sich bei der Messung durch den inneren, wärmeren Teil des Kreises ausdehnen und daher eine kleinere Ablesung ergeben, als wenn die Temperatur gleich verteilt wäre. Mit Bezug auf unsere erste Formel (1) ergibt sich, daß die Platte offensichtlich eine negative Krümmung K im Mittelpunkt des Kreises hat. Das ist die Struktur, wie sie bei einer gewöhnlichen gedrehten Oberfläche in der Nähe eines "Sattelpunktes" entsteht. Im allgemeinen wird die Krümmung von Punkt zu Punkt regelmäßig variieren. Eine genauere mathematische Analyse

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H. P. Robertson zeigt, daß bei Entfernung der Wärmequellen und Vernachlässigung der Strahlungsverluste an den Seiten der Platte K überall negativ 'wird und daß an jedem Punkt P der "Krümmungsradius" R = 1/( - K)'/. umgekehrt proportional ist dem Betrag s, mit dem die Wärme an P vorbeiströmt. (R ist tatsächlich gleich dem Betrag kies, wobei k den Wärmeleitungskoeffizienten der Platte und e wie vorher den Ausdehnungskoeffizienten des Meßstabs darstellt.) Die hyperbolische Geometrie wird entsprechend realisiert, wenn der Wärmestrom durch die Platte konstant ist, ebenso, wie wenn die langen Seiten eines verlängerten Rechtecks verschiedenen festen Temperaturen ausgesetzt werden10• Und nun kommt die Frage, welches die wahre Geometrie der Platte ist. Ist es die ebene euklidische Geometrie, die wir am Anfang des Experiments unkritisch vorausgesetzt haben, oder die nichteuklidische Geometrie, wie sie sich aus der Messung ergab? Offensichtlich ist die Frage in uneigentlicher Form ausgedrückt. Eine Geometrie ist nur dann bestimmt, wenn die Messungsmethode vorgeschrieben ist, d. h. wenn wir eine Korrespondenz zwischen den physikalischen Aspekten (hier also Ablesungen an einem bestimmten Maßstab, die auf vorgeschriebenem Weg erhalten wurden) und den Elementen (hier also Entfernungen im abstrakten Sinne) des mathematischen Systems herstellen. So führt uns unsere ursprüngliche, dem gesunden Menschenverstand entsprechende Forderung, daß sich die Platte nicht biegt oder daß sie durch einen unveränderlichen Maßstab gemessen werde (für den e "" 0 ist), zur euklidischen Geometrie. Der Gebrauch eines Maßstabes dagegen mit einem empfindlichen Ausdehnungskoeffizienten führt uns zum lokal-hyperbolischen Typ der Riemannschen Geometrie, der im allgemeinen keine Kongruenzgeometrie ist. Zweifellos wird jeder, der diese Sachlage prüft, Poincares dem gesunden Menschenverstand entsprechende Lösung des Problems, welcher physikalischen Geometrie die Platte unterliegt, vorziehen. Das heißt, er wird ihr die euklidische Geometrie zuschreiben und die gemessenen Abweichungen von dieser auf die Wirkung einer Kraft (Wärmespannung im Maßstab) zurückführen. Recht zwingend im Sinn dieser Lösung erscheint die Tatsache, daß die störende Kraft des Erfordernisses der Allgemeingültigkeit entbehrt. Verwenden wir einen Messingstab anstelle des Stahlstabes, so würden wir finden, daß die lokale Krümmung sich verdreifacht, und ein 10 Dieser Fall, in dem die Geometrie zu der Poincareschen Halbebene wird, wurde im einzelnen diskutiert in der Arbeit von E. \V. Barankin "Heat Flow and Non-Euclidean Geometry", American Mathematical Monthly, Bd. 49, S. 4-14 (1942). Für diejenigen, die auf Zahlen Wert legen, sei bemerkt, daß für eine 1 cm dicke Stahlplatte (k = 0,1 caljcm Grad), mit einem Wärmestrom von 1 caljcm 2 sec, die natürliche Einheit der Länge R der Geometrie, wie sie durch einen Stahlstab gemessen wird (c = 10- 6jGrad), 100 Meter beträgt!

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Geometrie als Zweig der Physik

idealer Meßstab (c = 0) würde, wie bereits bemerkt, zur euklidischen Geometrie führen. In welcher Hinsicht unterscheidet sich denn nun die allgemeine Relativitätstheorie im Prinzip von dieser geometrischen Theorie der heißen Platte? Die Antwort ist: in ihrer Allgemeingültigkeit. Die Gravitationskraft, die sie in ihrer geometrischen Struktur umfaßt, wirkt gleichförmig an aller Materie. Es findet sich hier eine enge Analogie zwischen der Gravitationsmasse M eines Feld-produzierenden Körpers (Sonne) und der trägen Masse meines Testkörpers (Erde) auf der einen Seite, und der Wärmeleitung k des Feldes (Platte) und dem Ausdehnungskoeffizienten c des Testkörpers (Meßstab) auf der anderen. Der Erfolg der allgemeinen RelatilJitätstheorie der GralJitation als einer physikalischen Geometrie der Raum-Zeit ist der Tatsache zuzuschreiben, daß die GralJitations- und die trägen Massen eines Körpers für alle Materie als streng proportional beobachtet wurden. In unserer geometrischen Theorie des Wärmefeldes variiert das Verhältnis der Wärmeleitung zum Ausdehnungskoeffizienten von einer Substanz zur anderen, und es resultiert in einer Veränderung der Feldgeometrie mit der Veränderung des Testkörpers. Von unserem heutigen Gesichtspunkt aus liegt der große Triumph der Relativitätstheorie darin, daß sie die universale Gravitationskraft in den geometrischen Strukturen aufgehen läßt. Ihr Erfolg in der Berechnung kleinster Diskrepanzen bei der Newtonschen Beschreibung der Bewegungen von Testkörpern im Sonnenfeld ist zwar wichtig, aber doch von weit geringerem Gewicht für die Philosophie der physikalischen Wissenschaftl l. 11 Auch hier existiert eine unterhaltsame und instruktive Analogie zwischen unserer Schilderung und der Relativitätstheorie. Wir dehnen unsere Vorstellungen auf ein dreidimensionales wärme leitendes Medium aus (ohne uns zu sehr den Kopf zu zerbreehen, wie unsere Messungen tatsächlich ausgeführt werden können), wir nehmen die gewöhnliche Feldgleichung für die Wärmeleitung an, und dann ergibt sich die oben eingeführte "mittlere Krümmung" an jedem Punkt als (cs/k)2, also ein Betrag zweiter Ordnung in dem charakteristischen Parameter c/k. (Der Fall, in dem die Temperatur proportional ist dem Betrage Ra-rl, was eine kontinuierliche Verteilung der Wärmequellen voraussetzt, ist ziemlich eingehend von Poincare an der angeführten Stelle [So 67-69] in seiner Behandlung der nichteuklidischen Geometrie diskutiert worden.) Die Feldgleichung mag nun !line geometrische Formulierung erhalten, wenigstens in erster Annäherung, indem wir sie durch die Forderung ersetzen, daß die mittlere Krümmung des Raumes an jedem Punkt IJcrschwindet, an dem dem Medium keine Wärme zugeführt wird. Das steht in vollständiger Analogie mit jenem Verfahren in der allgemeinen Relativitätstheorie, bei dem die klassischen Feldgleichungen durch die Forderung ersetzt werden, daß der Krümmungstensor der Ricci-Kontraktion verschwindet. Hier wie dort werden nun gewisse Abweichungen erscheinen, deren Größe hier von dem Verhältnis c/k abhängt, und zwar Abweichungen zwischen den gewöhnlichen und den modifizierten Theorien. Eine merkwürdige Folge dieses Verfahrens ist die: Wenn man die modifizierte Feldgleichung für eine sphärisch-symme-

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H. P. Robertson

Einsteins Errungenschaften wären prinzipiell ebenso groß, selbst wenn sie nicht diese minutiösen Beobachtungsteste mit sich brächten. Unsere letzte Betrachtung über physikalische Geometrie besteht in einem kurzen Hinweis auf das kosmologische Problem der Geometrie bei dem als Ganzes beobachteten Universum, ein Problem, das ausführlicher an anderer Stelle dieses Bandes behandelt wird. Wenn die gesamte Materie im Universum, an einem genügend großen Maßstab (Raumgebilde mit Durchmessern von Millionen von Lichtjahren) betrachtet, als gleichmäßig verteilt angesehen wird, und wenn ihre geometrische Struktur, wie es nach der allgemeinen Relativitätstheorie der Fall ist, durch die Materie bedingt wird, so muß unser dreidimensionaler astronomischer Raum annähernd homogen und isotrop sein, und zwar mit einer Raumkonstante K, die allerdings von der Zeit abhängen mag. Diese Hypothese als sicher vorausgesetzt, entsteht die Frage, wie kommen wir mit der Messung von K voran, wenn wir selbstverständlich nur Verfahren anwenden, die experimentell spezifiziert werden können, und zu welcher Kongruenzgeometrie gelangen wir dabei? Der Weg zur Antwort wird nahegelegt durch die zweite der Formeln unter (3); denn wenn die Nebel im Großen und Ganzen gleichförmig verteilt sind, dann muß die Zahl N innerhalb einer Kugel vom Radius r dem Volumen V dieser Kugel proportional sein. Wir haben dann nur die Abhängigkeit dieser Zahl N, wie sie in einem genügend starken Teleskop beobachtet wird, von der Entfernung r zu prüfen, um die Abweichung vom euklidischen Wert zu bestimmen. Wie aber kann man r auf experimentellem Wege definieren? Wenn alle Nebel von der gleichen absoluten Helligkeit wären, dann wäre ihre erscheinende Helligkeit, wie man sie von der Erde aus beobachten kann, ein Maß für ihre Entfernung von uns. Wir müssen daher das genaue Verhältnis untersuchen, das zwischen der anscheinenden Helligkeit und der theoretischen Entfernung r zu erwarten ist. In ihrer Praxis nehmen heute die Astronomen an, daß die Helligkeit umgekehrt proportional mit dem Quadrat der "Entfernung" des Gegenstandes abnimmt, so wie es im euklidischen Raum der Fall wäre, wenn es keine Absorption oder Streuung oder ähnliches gäbe. Wir müssen daher Untersuchungen anstellen über das Verhältnis zwischen dieser "Entfernung" d der Astronomen, wie sie von der anscheinenden Helligkeit nahe gelegt wird, und der Entfernung r, die als ein Element der Geometrie erscheint. Offensichtlich liegt alles Licht, das trische Quelle (oder besser Senke) von Wärme berechnet, so findet man genau die gleiche Raumstruktur wie bei Schwarzschilds Lösung für das Gravitationsfeld einer sphärisch-symmetrischen Gravitationsmasse. Die Korrespondenz ist derartig, daß der geometrische Effekt einer Senkung, die pro Sekunde eine Kalorie aus dem Medium entfernt, äquivalent ist dem Gravitationseffekt einer Masse von 1028 g, d. h. einem Felsblock von 300 Kilometer Durchmesser!

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Geometrie als Zweig der Physik

zu einern gegebenen Moment vorn Nebel ausgestrahlt wird, nach Zurücklegung einer Entfernung, auf der Oberfläche einer Kugel, deren Fläche S durch die erste unserer Formeln unter (3) gegeben ist. Und da das praktische Verfahren, das bei der Bestimmung von d angewandt wird, äquivalent zu der Annahme ist, daß all dieses Licht an der Oberfläche einer euklidischen Kugel vorn Radius d liegt, folgt daraus unmittelbar, daß das Verhältnis zwischen der in der Praxis benützten Entfernung d und der in der Geometrie angewendeten Entfernung, durch die Gleichung ausgedrückt wird

4 n d2

= S = 4n

r 2 (1- K

,2/3 + ... )

woraus sich, nach unserer Annäherung, ergibt

+ ... ), r = d (1 + K d2/G + ... ).

d oder

=

r (1-

K r 2/G

(4)

Aber die astronomischen Daten geben die Zahl N der Nebel bis zu einer gegebenen "Entfernung" d, und um daraus die Krümmung zu bestimmen, müssen wir N, bzw. äquivalent V, zu dem es wahrscheinlich proportional ist, in Größen von d ausdrücken. Aus der zweiten der Formeln (3) und der Formel (4) läßt sich in gleicher Annäherung leicht ableiten, daß

V

= (4/3)nd 3 (1 +

0,3 Kd 2

+ ... ).

(5)

Wenn man nun N gegen die errechnete "Entfernung" d aufträgt und dieses empirische Resultat mit der Formel (5) vergleicht, wird es möglich, die "Krümmung" K empirisch zu bestimmen12 • Das Suchen nach der Krümmung K zeigt nach Herstellung aller bekannten Verbesserungen, daß die Zahl N rascher mit d zu wachsen scheint als die dritte Potenz, die im euklidischen Raum zu erwarten ist. Daher ist K positiv. Der zugrunde liegende Raum ist darum begrenzt, er hat ein endliches Totalvolumen und gegenwärtig einen "Krümmungsradius" R = 1/ K'/., dessen Betrag in der Größenordnung von 500 Millionen Lichtjahren gefunden wurde. Andere Beobachtungen an der "Rotverschiebung" des 12 Dies ist natürlich eine geradezu übertrieben vereinfachte Darstellung der beteiligten Annahmen und Verfahrensweisen. N ich t alle Nebel sind in ihrem Inneren gleich hell, und die hierdurch notwendig werdenden Modifikationen und andere stillschweigend gemachte Annahmen erlauben uns eine Jagd durch das Teleskop, die Erdatmosphäre, die Milchstraße und die Magellanwolken zur Andromeda und unseren anderen näheren extragalaktischen Nachbarn und darüber hinaus. Die Geschichte dieser Forschung ist großartig erzählt von E. P. Rubble in seinem Buch "The Realm of the Nebulae" (Yale 1936) und in "Observational Approach to Cosmology" (Oxford 1937). Aus diesen Quellen haben wir unsere Daten geschöpft.

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H. P. Robertson

Lichtes von diesen entfernten Objekten erlauben uns mit vielleicht noch größerer Sicherheit den Schluß, daß dieser Radius in einem Verhältnis wächst, das, wenn gleichbleibend, den gegenwärtigen Radius in etwas weniger als zwei Milliarden Jahren verdoppeln würde·. Damit haben wir unsere kurze Schilderung der Geometrie als Zweig der Physik beendet. Niemand hat hierzu mehr beigetragen als Albert Einstein, der durch seine Relativitätstheorien die physikalischen Geometrien erst geschaffen hat, und diese haben die traditionsgesättigten apriorischen Geometrien und Bewegungslehren von Euklid und Newton verdrängt. Department of Physics California Institute of Technology

H. P. Robertson

• Bemerkung zur deutschen Ausgabe: Seit Erscheinen der Originalausgabe hat die astronomische Distanzskala eine gewaltige Erhöhung erfahren, und zwar um das dreifache für die entfernteren Nebel. Als Folge hiervon müssen die entsprechenden Entfernungen, wie auch die Zeiten mit 3 multipliziert werden. Das erfordert eine durchgehende Prüfung der oben angeführten Daten und Schlüsse.

178

LeopoUl In/eid ÜBER DIE STRUKTUR DES WELTALLS

I.

Spekulationen über das Weltall, in dem die Menschen leben, sind so alt wie das menschliche Denken und die Kunst; sie sind so alt wie der Anblick leuchtender Sterne in einer klaren Nacht. Aber erst die allgemeine Relativitätstheorie hat vor 30 Jahren die kosmologischen Probleme aus dem Bereich der Poesie oder der spekulativen Philosophie in den physikalischen iibertragen. \Vir können sogar das Jahr angeben, in dem die moderne Kosmologie ihre Geburtsstunde erlebte. Es war das Jahr 1917, als Einsteim Arbeit in der Preußischen Akademie der Wissenschaften unter dem Titel erschien "Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinenRelativitätstheorie"l. Obwohl man die Bedeutung dieser Arbeit schwerlich übertreiben kann lind obwohl sie eine Flut von anderen Arbeiten und Spekulationen verursachte, sind Einsteins ursprüngliche Ideen, aus der heutigen PerspektiV!" gesehen, veraltet oder sogar falsch. Ich glaube, Einstein wäre der erste, deI" das zugäbe. Aber doch ist jene Arbeit für die Geschichte der theoretischen Physik sehr wichtig. Sie ist wieder ein Beispiel dafür, wie eine falsche Lösung eines fundamentalen Problems unvergleichlich bedeutsamer sein kann als di,' richtige eines unerheblichen und uninteressanten Problems. Warum ist Einsteins Arbeit so wichtig? Weil sie ein völlig neues Problem. nämlich das der Struktur des Weltalls, formuliert, und weil sie zeigt, daß die allgemeine Relativitätstheorie neues Licht auf dieses Problem werfell kann. Die Vertreter der klassischen Physik betrachteten unseren physikalischeIl Baum als ein dreidimensionales ('uldidisehes KontiJluum und unsere physikalische Zeit als ein eindimensionales Kontinuum, das allen Beobachtefll gemeinsam ist, gleichgültig, ob sie in relativer Bewegung zueinander steheIl uder nicht. Diese Grundbegriffe unterlagen einern völligen Wandel, nachdem Einstein 1905 die spezielle Relativitätstheorie formuliert hatte. Es wurde den Physikern klar, daß es bei der Zuordnung physikalischer Ereignisse viel hesser und einfacher ist, ein vierdimensionales pseudo-euklidisches Raum1

A. Eimtl'in. Sit7.tmgshl'richte Preuß. Akad. Wis •. (1917). S. 142-t52.

179

Leopold Infeld

Zeit-Kontinuum als den Rahmen anzusehen, in dem sich diese Ereignisse abspielen. Im Jahre 1914 mußten dann die Physiker, um die Phänomene der Gravitation zu verstehen, ihre Begriffe wiederum verallgemeinern. Iit der allgemeinen Relativitätstheorie wird das Weltall durch eine vierdimensionale Mannigfaltigkeit dargestellt, ihre Metrik wird durch die Massell geprägt, sowie deren Bewegung und Strahlung. Fern von den Massen und Energiequellen nähert sich dieses Riemannsche Raum-Zeit-Kontinuulll mehr und mehr dem pseudo-euklidischen Raum-Zeit-Kontinuum der SP('ziellen Relativitätstheorie. In der theoretischen Physik werden neue Ideen durch das Genie und ditO Phantasie von Männern geschaffen, die ein altes Problem von einem völlig neuen und überraschenden Gesichtspunkt aus ansehen. Genau so ist dito spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie entstanden. Auf dem gleichen Wege fand auch die Quantentheorie Eingang in die Physik. J 11 Einsteins Arbeit über die Kosmologie finden wir die gleiche Fähigkeit, alte Probleme auf eine neue Weise anzupacken. Aber es ist da doch, wie wir heute wissen, ein wesentlicher Unterschied. Während die spezielle und dip allgemeine Relativitätstheorie heute noch fast so frisch und in sich geschlossen vor uns steht wie zur Zeit ihrer Aufstellung, während in den letzten 30 Jahren nichts wesentlich Wichtiges dem Aufbau Einsteins hinzugefügt wurde, erweist sich das Problem der Kosmologie heute als recht verschieden von der Art, wie es Einstein in seiner berühmten Arbeit erörtert hatte. Wenn man das Weltall als ein Ganzes betrachtet, so tut man dwas ähnliches wie ein Kind, das einen Globus betrachtet. Es wird mit der allgemeinen Gestalt der Erde vertraut, es kümmert sich nicht um die Berge und Täler, Häuser und Städte, sondern betrachtet die Erde als eine glatte Oberfläche, macht sich also ein höchst idealisiertes Bild von ihr. Mit einem solchen kann es nichts anfangen, wenn es sich um die Dimensionen seines Hinterhofes handelt, durch den es seinen \Veg finden muß, aber es ist ihm durchaus nützlich, wenn es den Weg eines Flugzeugs verstehen will, in dem es um die Welt reist. Ähnlich ist es bei den kosmologischen Problemeli. Wenn wir unser Weltall als ein Ganzes betrachten, müssen wir uns ein höchst idealisiertes Bild von ihm machen und die kleineren Störungen und örtlichen Massenkonzentrationen ignorieren. Wir glätten dann die Unregelmäßigkeiten und untersuchen die Geometrie unseres als ein Ganzes betrachteten \Veltalls. Nach Einstein müßte in einem so vereinfachteJl Bild des Weltalls die Materie in einem geeigneten Koordinatensystem im Ruhezustand sein und die wirklichen Entfernungen der Nebel vom Beobachter dürften im Laufe der Zeit nicht Veränderungen unterliegen. Beobachtungen zeigten später, daß einem solchen Postulat das Gesetz der Rotverschiehung widerspricht, welches einige Jahre nach dem Erscheinen VOll Einsteins Arbeit entdeckt wurde. Es berührt geradezu merkwürdig, 180

Lher die Struktur uesWeltalls

daß Einstein ein allgemeines Bild vom 'Veltall schaffen wollte, in dem sich die Materie nicht ausdehnt. Aber die berühmten Beobachtungen über die Rotverschiebung der Nebel überzeugen uns, daß sich die Materie so verhält, als ob sie flieht. Somit erscheint die fundamentale Annahme Einsteins als zu eng, um die Tatsachen zu erklären, wie man sie später beobachtet hat. Die nächsten Annahmen, die Einstein machte, waren die der Isotropie und der Homogenität. Zum Unterschied von der ersten Annahme haben sich die beiden letzteren (die allerdings nur indirekt formuliert waren) bis heute behauptet. Aber es ist durchaus nicht sicher, ob nicht künftige Beobachtungen mit neuen und stärkeren Teleskopen ihre Änderung nötig machen werden. Jedoch hauptsächlich wegen ihrer Einfachheit bilden diese beiden Annahmen die Grundlage für alle modernen Kosmologien. Was bedeuten diese Annahmen? Isotropie bedeutet ganz einfach, daß in einem geeigneten Koordinatensystem ein Beobachter, der nach verschiedenen Richtungen blickt, nie bemerken wird, daß eine VOll ihnen eine Vorzugsstellung einnimmt. In einem richtig gewählten Koordinatensystem erscheint das geglättete und idealisierte Weltall in allen Richtungen als das gleiche, oder, wie wir sagen, es ist isotrop. Dic Annahme der Homogenität bedeutet, daß Beobachter, die an verschiedenen Punkten des Weltalls stehen und seine Geschichte in verschiedenen, aber geeignet gewählten Koordinatensystemen beschreiben, diese Geschichtsbilder inhaltlich als identisch erkennen werden; d. h., daß es unmöglich ist, auf diese Weise eine Stelle im Weltall von einer anderen zu unterscheiden. Ahnlich könnten zweidimensionale Bewohner einer vollkommenen Kugel oder Ebene einen Punkt ihrer Oberfläche nicht von einem anderen unterscheiden. In dieser Form sind die heiden Postulate der Isotropie und Homogenität implizit in Einsteins Arbeiten enthalten. Diese beiden Annahmen überlebten Einsteins ersten Versuch, eine kosmologische Theorie zu formulieren. Sie sind ausgesprochen oder unausgesprochen in allen modernen Kosmologien zu finden. 'ViI' könnten nun fragen: Ist unser 'Weltall wirklich isotrop? Ist unser Weltall wirklich homogen? Der Sinn dieser Fragen ist: können wir eine Theorie formulieren, die unter der Annahme der Homogenität und der Isotropie mit den beobachteten Tatsachen übereinstimmt? Gegenwärtig können unsere Beobachtungen nur in einem kleinen Bereich unseres Weltalls vordringen. Möglicherweise zwingen uns aber künftige Beobachtungen, diese einfachen Annahmen aufzugeben. Immerhin sind sie die einleuchtendsten, und wir werden sie nur unter dem Zwang neuer Entdeckungen ändern. Außer der Isotropie und der Homogenität nahm Einstein an, wie wir hereits sagten, daß in pinem geeignetf~n Koordinatensystem die gesamten

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Leopold Infeld

\lasseu, die das \Veltall bilden, im Ruhezustand sind und daß die durchschnittliche Dichte der Materie konstant ist. Passen diese drei Annahmen wirklich zusammen? Wir wollen uns darau erinnern, daß Einstein in der allgemeinen Relativitätstheorie neue Gravitationsgleichungen aufstellte, denen jedes Gravitationsfeld genügen müßte. Wir fragen: Ist es möglich, daß die Postulate der Isotropie und der Homo~enität einerseits und die der konstanten Dichte ruhender Massen anderseits gleichzeitig gelten? Eine konsequente Untersuchung führt zu der Antwort: Nein! Diese drei Postulate, gleichzeitig gefordert, widersprechen Einstcins ursprünglichen Gravitationsgleichungen. Somit muß irgendetwas geändert werden, um die allgemeine Relativitätstheorie mit Einsteins kosmologischen Überlegungen in Übereinstimmung zu bringen. In seiner Arbeit hatte Einstein vorgeschlagen, dies zu tun, indem man die Gravitationsgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie abändert. Die Änderung ist nur klein und wird durch das Auftauchen einer zusätzlichen kleinen kosmologischen Größe charakterisiert. \Vo auch immer die allgemeine Relativitätstheorie bisher durch das Experiment bestätigt wurde, da wird es ebenso der Fall sein, wenn wir diese kleine kosmologische Größe hinzufügen. Ihr Erscheinen macht wenig aus, wenn wir die PhänomeJu' Hur in unserem Sonnensystem oder auch nur in unserer Milchstraße befrachten. Aber diese kosmologische Größe wird wichtig, sobald wir unseI' Weltall als Ganzes untersuchen. Es ist die Größe, die es ermöglicht, Einsteins kosmologischen Postulaten in dem nun generalisierten Rahmen der Relativitätstheorie zu genügen. Man könnte nun argumentieren, daß die zusätzliche Einführung einer ueuen Größe, die wir den kosmologischen Term nennen werden, etwas künstlich erscheint und daß eine befriedigende Theorie keine neuen Konstanten einführen darf, deren zahlen mäßige Bestimmung sie dem Experiment überläßt. Zweifellos sind solche Einwände ernst zu nehmen. Denn die Einführung einer kosmologischen Konstante ohne theoretische Spezifizierung ihres Zahlenwertes trägt den Charakter einer "ad hoc" geschaffenen Hypothese. Trotz allem aber spielte Einsteins Arbeit wegen der OrigilIalität ihrer Ideen und ihrer phantasievollen Formulierung eines neuen Problems von einem neuen Gesichtspunkt aus eine grundlegende Rolle in der Entwicklung unserer Kenntnis über die Struktur des Weltalls. Fügen wir unserer Erörterung eine Skizze ihrer mathematischen Formulierung hinzu. Das sog. Einstein- Universum ist durch dip folgende metrische Form gekennzeichnet:

eo

ds 2 = R2 [dr 2 - de 2

-

e,

s,:n2e(df)2

+ sin 26J dq;2) ~ .

iI, 1'I

Darin ist r die Zeitkoordinate, q;, 6J sind die Raumkoordinaten, wobei .Iie Lichtgf'schwindigkeit c gleich Eins gesetzt ist. R ist eine Konstante, 182

Über die Struktur des \\'cltalls

die als "der Radius des Einstein-Universums" bezeichnet wird. Wenn sehr klein ist, können wir durch Einführung von

T

=

ct/ R; (c

=

e=

e

rlR

Lichtgeschwindigkeitl

,lie obige Gleichung in folgender Form schreiben: (I, 2)

Das ist die übliche Form des Minkowskischen oder pseudocllklidischen Raum-Zeit-Kontinuums, wenn der auf den Raum beziigliche Teil in ('inem polaren Koordinatensystem niedergeschrieben wird. Der auf den Raum bezügliche Teil in der Formel (1,1) stellt eine isotrope und homogene dreidimensionale ?'vIannigfaltigkeit dar, deren Geometrie eine Verallgemeinerung der Geometrie einer zweidimensionalen Kugel bedeutet. Man kann von der quadratischen Form von (1,1) vieles ableiten, ohne auf die dynamischen Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie einzugehen. Nun wollen wir die möglichen Topologien einer durch die Formel (I, 1) repräsentierten Mannigfaltigkeit untersuchen. Das ist ein" Punkt, dem man wenig Aufmerksamkeit schenkte, als Einstein seine kosmologische Theorie formulierte, der aber, wie ich glaube, für das Verständnis der kosmologischen Probleme von großer Bedeutung ist. Die Winkel qJ und e, die die gleiche Bedeutung haben wie in einem polaren Koordinatensystem, he sitzen auch die gleichfm Wertehereiche : O-::;qJ< 2;z:

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