ADHS - Frühprävention statt Medikalisierung: Theorie, Forschung, Kontroversen 9783666451782, 3525451784, 9783525451786

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ADHS - Frühprävention statt Medikalisierung: Theorie, Forschung, Kontroversen
 9783666451782, 3525451784, 9783525451786

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Schriften des Sigmund-Freud-Institus

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl, Stephan Hau Band 4 ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen

Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Brandl, Gerald Hüther (Hg.)

ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen

Mit 14 Abbildungen und 3 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 10: 3-525-45178-4 ISBN 13: 978-3-525-45178-6 © 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Marianne Leuzinger-Bohleber Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dramatische Zunahme von ADHS: Indikator für »veränderte Kindheiten« und/oder einer »Medikalisierung des Sozialen«? Dieter Mattner ADS – die Biologisierung abweichenden Verhaltens . . . . . . .

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Hartmut Amft ADHS: Hirnstoffwechselstörung und/oder Symptom einer kranken Gesellschaft? Psychopharmaka als Mittel einer gelingenden Naturbeherrschung am Menschen . . . . . .

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Manfred Gerspach Zum Verstehen von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen

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ADHS: Eine der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie Peter Riedesser Einige Argumente zur ADHS-Kontroverse in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Gerd Lehmkuhl und Manfred Döpfner Die Bedeutung multimodaler Therapieansätze bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen . . . . 118

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Inhalt

Klaus-Dieter Grothe und Anke-Maria Horlbeck Warum ich auch mit Medikamenten behandele. Die Sicht eines Kinderpsychiaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Prävention und Frühintervention – Psychoanalytische und neurobiologische Überlegungen zur Verhinderung psychosozialer Desintegration Dieter Bürgin Psychoanalytische Aspekte der Gewaltprävention . . . . . . . . . . 143 Hans von Lüpke Der Dialog in Bewegung und der entgleiste Dialog. Beiträge aus Säuglingsforschung und Neurobiologie . . . . . . . 169 Frank Dammasch ADHS – endlich hat das Kind einen Namen. Psychoanalytische Gedanken zur Bewegung des ruhelosen Kindes und zur Bedeutung von Ritalin® . . . . . . . . . 189 Gerald Hüther Die nutzungsabhängige Herausbildung hirnorganischer Veränderungen bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen. Einfluss präventiver Maßnahmen und therapeutischer Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Brandl, Stephan Hau, Lars Aulbach, Betty Caruso, Katrin-Marleen Einert, Oliver Glindemann, Gerlinde Göppel, Paula Hermann, Pawel Hesse, Jantje Heumann, Gamze Karaca, Julia König, Jochen Lendle, Bernhard Rüger, Alex Schwenk, Adelheid Staufenberg, Sibylle Steuber, Christiane Uhl, Judith Vogel, Christina Waldung, Lisa Wolff und Gerald Hüther Die Frankfurter Präventionsstudie. Zur psychischen und psychosozialen Integration von verhaltensauffälligen Kindern (insbesondere von ADHS) im Kindergartenalter – ein Arbeitsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Inhalt

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Bernd Henke Die Hamburger Frühpräventionsstudie zur psychischen und psychosozialen Integration von Kindern im Alter von 0 bis 3 Jahren. Ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Manfred Cierpka und Andreas Schick Das Fördern von emotionalen Kompetenzen mit FAUSTLOS bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

■ Marianne Leuzinger-Bohleber

Einführung

■ Einige Kinder mit Verdacht eines »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms« Michael, ein sechsjähriges Einzelkind, ist das Enfant terrible der Kindertagesstätte: Ständig in aggressive Auseinandersetzungen verwickelt, absorbiert er während eines großen Teils des Tages die beiden Erzieherinnen seiner Gruppe. Lassen sie ihn einen Moment aus dem Auge, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sich oder ein anderes Kind verletzt: »Oft passiert dies, ohne dass Michael es wirklich will: Er ist ungeschickt und fahrig, kann Situationen nicht einschätzen, wirft Gegenstände um, macht anderen Kindern ihre Basteleien kaputt oder fällt eben – wie letzten Mittwoch – wieder einmal vom Kletterturm und muss am Kopf oder sonst wo genäht werden …« Im intensiven Gespräch mit den Erzieherinnen stellt sich heraus, dass Michael »pflegeleicht« ist, wenn er sich mit einer Bezugsperson allein im Zimmer der Leiterin der Kindertagesstätte aufhält. »Dann kann er ruhig sitzen und sich einer Tätigkeit zuwenden – wenigstens zehn Minuten lang. Er ist eigentlich ein ganz lieber Junge, falls er jemanden ganz allein für sich hat. Aber in der Gruppe scheint er dauernd abgelenkt, von Reizen überflutet und wird im Lauf des Vormittags immer unruhiger, zappeliger und eben auch aggressiver. Er ist für unsere Einrichtung kaum noch tragbar. Wir haben auch noch 21 andere Kinder in der Gruppe zu betreuen …« (Erzieherin A.). Der fünfjährige Dominik besucht seit zwei Jahren die Kindertagesstätte in einem Vorort einer Großstadt. Mit 22 Kindern verbringt er den ganzen Vormittag in einem relativ kleinen Raum. Oft zieht er sich mit seinem Freund unter den großen Tisch inmitten

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des Raums zurück, »um spielen zu können …«, wie er seiner Mutter sagt. Seit einigen Monaten beklagen sich die Erzieherinnen, dass er in den letzten beiden Stunden des Vormittags »unerträglich wird, wild im Zimmer herumspringt, andere schlägt und sich auf keine Tätigkeit konzentrieren kann …« (Erzieherin X.). Oft weigert er sich nun, in den Kindergarten zu gehen: »Ich bleibe lieber zu Hause, da ist es weniger langweilig …« Die Eltern veranlassen eine psychologische Abklärung. Robert, ebenfalls fünf Jahre alt, ist für den Kindergarten kaum tragbar, da er wegen seines aggressiven Verhaltens sozial völlig isoliert ist, sich nicht konzentrieren kann und unter großen Ängsten leidet. Er fällt durch ständige motorische Unruhe auf, ein »klassischer Zappelphilipp: Keine Mahlzeit vergeht, während der er nicht seine Sachen umschmeißt …« Der viereinhalb Jahre alte Jossi wird von den Kindern in seiner Kindertagesstätte nur »der kleine Professor« genannt, weil er für sie oft kaum anzusprechen ist, »tagträumt«, aber auch immer wieder in aggressive Konflikte verwickelt ist, weil er plötzlich das Spiel anderer Kinder unterbricht und sie stört. »Er ist eigentlich ein lieber Junge, aber er scheint auf keine Regeln und Abmachungen zu hören. Es kommt uns oft so vor, wie wenn er nicht verstehen würde, was man ihm erzählt … So vergisst er manchmal seine Jacke auszuziehen und merkt dies erst, wenn wir ihn darauf ansprechen …« (Erzieherin B.). Rahel, ein fünfjähriges Mädchen, fällt ebenfalls durch die Unfähigkeit auf, sich zu konzentrieren. Sie scheint oft in einer anderen Welt zu sein und sitzt dann verloren irgendwo in einer Ecke ihrer Einrichtung. Allerdings kann diese Zurückgezogenheit plötzlich umschlagen in aggressives und hyperaktives Verhalten. Sie wirkt dann ruhelos, gespannt, in ständiger Bewegung und »scheint absichtlich Streit und Unfrieden mit andern Kindern zu suchen …« (Erzieherin C.). Ahib, der dritte, fünfjährige Sohn einer pakistanischen Familie, hat in einem »Ausraster« ein vierjähriges Mädchen so heftig in den Bauch getreten, dass es kinderärztlich versorgt werden musste. Die Erzieherinnen berichten resigniert: »Wir sind am Ende des Lateins – alle drei Brüder waren extrem aggressiv, hyperaktiv und leistungsschwach … doch die Eltern halten daran fest, dass ihre Söh-

Einführung

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ne zu Hause keine Probleme haben, hochbegabt sind und hier Ärzte werden sollen … Wir können nur zuwarten, bis die Schule durchgreift und den Ältesten in die Sonderschule versetzt … Doch schon jetzt ist Ahib bei uns nicht mehr tragbar. Seit seine kleine Schwester geboren wurde, hat er es vor allem auf kleinere Mädchen abgesehen. Fast jeden Tag gibt es Schwierigkeiten mit ihm …« (Erzieherin D.). Alle diese Kinder zeigen Symptome, die nach dem sechsten Lebensjahr vermutlich nach ICD-10 oder DSM-IV zur Diagnose »hyperkinetische Störung« führen würden, zu deren Leitsymptomen ein »Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen, beziehungsweise eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität« (ICD-10 1999, F90) gehören. Auch nach DSM-IV gilt »Unaufmerksamkeit« als diagnostisches Kriterium für eine Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS), in die zudem »Störungen des Sozialverhaltens« im Zuge einer »Antisozialen Persönlichkeitsstörung« einschließen, die sich primär im »Ungehorsam und Widerstand gegen Autoritätspersonen« zeigen (DSM-IV 1998, S. 128).

■ Was bedeutet sie wirklich, die Diagnose ADHS? Schon ein zweiter Blick auf diese Kinder offenbart eines der Grundprobleme dieser Modediagnose. 80 Millionen Kinder werden weltweit, so aktuelle Schätzungen, mit Amphetaminen behandelt, weil sie an ADHS leiden, 400.000 davon in Deutschland. Aktuelle Prävalenzschätzungen zu ADHS gehen von zwei bis sechs Prozent aller Kinder zwischen sechs und 18 Jahren aus (BMGS 2002). Doch was bedeutet sie wirklich, die Diagnose ADHS? In der testpsychologischen Abklärung von Michael fallen vor allem die Werte im Göttinger Formreproduktionstest (G-F-T) auf. Nur zwölf Prozent der Kinder im Alter von Michael ohne hirnorganischen Verdacht weisen schlechtere Ergebnisse in diesem standardisierten Test auf. Im Elterngespräch stellt sich heraus, dass

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Michael während der dramatischen, schweren Geburt (einer »Zangengeburt«, wie seine Mutter sagt) vermutlich einen Sauerstoffmangel erlitt, einen schlechten Aspyxie-Index nach APGAR aufwies und durch schwere Schlaf- und Essstörungen in den ersten Lebensmonaten auffiel. Obschon die Kinderärztin im Zusammenhang mit den Untersuchungen U2, U3 und U4 den Eltern empfahl, das Kind neurologisch untersuchen zu lassen und entsprechende Frühförderungsmaßnahmen einzuleiten, weigerten sich die Eltern, diesen Rat anzunehmen: »Mein Mann war genauso – auch er ein zappeliges Schreibaby – das liegt in der Familie und wird sich auswachsen …« Erst als der Ehemann ein halbes Jahr später plötzlich an einem Herzinfarkt starb, war die Mutter bereit, psychotherapeutische Hilfe für sich und Michael anzunehmen. Rückblickend auf die intensive Therapie nimmt die Therapeutin an, dass bei Michael möglicherweise eine hirnfunktionelle Komponente bei seinem hyperaktiven Verhalten eine Rolle spielte, obschon lediglich anamnestische, testpsychologische und kinderärztliche Informationen (und keine neurologische oder neurobiologische Befunde) ihre Annahme erhärten. Im Zentrum der einjährigen Psychotherapie stand der plötzliche Verlust des Vaters inmitten der ödipalen Entwicklungsphase von Michael. Die Therapie und die damit verbundene therapeutische und stützende Arbeit mit der Mutter, in der es auch um einen adäquaten Umgang mit der hyperaktiven Problematik von Michael ging (Strukturierung und Rhythmisierung des Tagesablaufs durch gut dosierte motorische Spannungs-Entspannungszyklen, Schutz vor Reizüberflutung durch Dosierung der Gruppenkontakte, des Fernsehkonsums, gezieltes Training der Feinmotorik durch psychomotorische Übungen), ermöglichten Michael, aus der Sündenbockrolle seiner Kindergartengruppe herauszufinden. Er konnte normal eingeschult werden und entwickelte sich psychisch und psychosozial relativ unauffällig (Katamnese im 18. Lebensjahr von Michael). In der psychologischen Abklärung von Dominik stellt sich heraus, dass dieser Junge einen IQ von 132 (nach dem Kramer-Intelligenztest) erzielt und der Psychologin durch seine rege Phantasie und Kreativität auffällt. Aufgrund seiner Anamnese liegt kein Verdacht auf eine hirnorganische Problematik vor. Auch entsprechende Testverfahren zeigen keine auffälligen Befunde. Die Psycholo-

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gin rät den Eltern, Dominik in eine private Einrichtung mit weniger Kindern in einer Gruppe und mehr kreativen Entfaltungsmöglichkeiten. In der neuen Einrichtung mit besseren Räumlichkeiten, kleineren Kindergruppen und einem anderen pädagogischen Konzept legen sich die Verhaltensprobleme von Dominik schnell. Er kann sich gut konzentrieren, ist zwar immer noch sehr lebhaft, aber verwickelt sich kaum noch in aggressive Auseinandersetzungen. Er findet einen neuen Freund, mit dem er stundenlang in phantasievoller Weise zusammenspielt. Eine Katamnese ebenfalls im 18. Lebensjahr von Dominik erhärtet den Befund, dass Dominik über eine hohe Intelligenz und kreatives Potenzial verfügt. Er hat ein Schuljahr übersprungen und beginnt nach einem sehr guten Abitur ein Studium der Mathematik. ADHS – Ausdruck einer besonderen Begabung, Vitalität und Kreativität? Die weiteren vier Kinder lernten wir im Rahmen der Frankfurter Präventionsstudie kennen. Im Folgenden einige fragmentarische Informationen zu möglichen, individuellen Determinanten ihrer ADHS-Problematik: Robert ist der uneheliche Sohn einer alkoholkranken, arbeitslosen, nun 21 Jahre jungen Frau. Der Vater von Robert verließ die Mutter nach einer kurzen, dramatischen Beziehung. Die Mutter hat große Vorbehalte gegen Psychologen, weil sie offenbar von einem Psychiater die Diagnose »manisch-depressiv« erhalten hatte und einige Monate in einer Klinik hospitalisiert gewesen war. Sie erzählt, dass sie den Kontakt mit ihren geschiedenen Eltern abgebrochen hat, weil »beide Alkoholiker sind und mich als Kind oft furchtbar verprügelten«. Von Robert sagt sie: »Er ist mein Ein und Alles, der Sinn meines Lebens.« Frau X. lebt von Sozialhilfe, am Rand der Gesellschaft und akut bedroht von Sucht und Verwahrlosung. Nach mehreren Gesprächen ist sie schließlich bereit, professionelle Hilfe anzunehmen. Doch nach den Sommerferien erscheint sie nicht mehr in der Kindestagesstätte: Sie ist mit Robert weggezogen. ADHS – ein Indikator einer Frühverwahrlosung? Jossi, »der kleine Professor«, konnte nach glaubhaften Angaben mehrer Erzieherinnen schon lesen, als er mit dreieinhalb Jahren in die Einrichtung kam. Seine Eltern, offenbar Angehörige einer in-

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tellektuellen Oberschicht, flüchteten mit ihm aus einem afrikanischen Krisengebiet. Sie sind von der Hochbegabung ihres Sohnes überzeugt und überlegten, ihn in eine Einrichtung zur Förderung hochbegabter Kinder zu geben. Als die Erzieherinnen auf die sozialen Probleme von Jossi sowie seine extremen Konzentrationsprobleme hinwiesen, kamen sie von ihren Plänen ab und willigten ein, Jossi psychologisch untersuchen zu lassen. Vermutlich scheint Jossi seine frühe Fähigkeit zu lesen auch kompensatorisch im Sinne einer transgenerativen Traumabewältigung zu nutzen. Seine Tagträumereien kreisen vermutlich oft um die für ihn rätselhaften Traumatisierungen der Eltern (Folter, politische Verfolgung, Emigration), wie dies Ergebnisse psychoanalytischer Studien zur transgenerativen Weitergabe von Extremtraumatisierungen in Überlebendenfamilien des Holocaust nahe legen (vgl. u. a. Grünberg 2000; Kogan 1995; Laub et al. 1995). ADHS – ein kindlicher Bewältigungsversuch erlittener Traumatisierungen? Rahel hat vor kurzem ihre Mutter verloren. Die Mutter erkrankte vor sechs Monaten an Lungenkrebs. Sie unterzog sich mehreren Bestrahlungen und Chemotherapien, ohne Erfolg. Seit ihrer Erkrankung entwickelte Rahel die oben beschriebenen Symptome, die offensichtlich im Zusammenhang mit dem traumatischen Verlust der Mutter stehen. ADHS – eine Manifestation latenter Trauer und Depression? Ahib stammt aus einem für die Erzieherinnen weitgehend fremden östlichen Kulturkreis. Laut Erzählungen der Mutter wachsen die Kinder in ihrem angestammten Dorf weitgehend auf der Straße auf, in Kindergruppen, in denen sich vor allem die Jungen aggressiv durchsetzen und behaupten müssen. »Alle drei Brüder schienen nur eines zu verstehen: ihr Revier durch Schlägereien zu behaupten … Ist dies ihrer kulturelle Herkunft, einer mangelnden Begabung oder beidem zuzuschreiben? Alle drei sprechen jetzt noch kaum deutsch …« ADHS – Ausdruck unverstandener kultureller Auseinandersetzungen? Diese fragmentarischen Beobachtungen einiger Vorschulkinder mögen als Illustration genügen, welch verschiedene biografische oder aktuelle Besonderheiten bei Kindern, die mit ADHS diagnostiziert werden könnten, auffallen. Wir denken hier an das gesamte Spektrum genetischer, hirnorganischer, neurobiologischer, kultu-

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reller, psychosozialer und psychodynamischer Determinanten, sodass einige Autoren und Autorinnen dieses Bandes die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, die »Einheits-Diagnose ADHS« zu verwenden, wie es die beiden Klassifikationssysteme, ICD-10 und DSM-IV nahe legen. Trotz des Versuchs dieser Klassifikationssysteme, das Störungsbild möglichst präzise deskriptiv zu verorten, scheint sowohl für Forscher als auch für Praktiker damit wenig gewonnen. So beklagen etwa Grothe und Horlbeck aufgrund ihrer kinderpsychiatrischen Erfahrungen, dass zuweilen der Eindruck entstehe, »als werde ADHS oder ADS oder hyperaktive Störungen zum Synonym für alle kindlichen Schwierigkeiten im Vorschul- und Grundschulalter. Da werden dann Zahlen genannt, sodass 10 bis 15 Prozent aller Kinder diese Diagnose haben könnten und dass ja vermeintlich mit der medikamentösen Behandlung eine rasche und effiziente Behandlung zur Verfügung stünde, weil diese Störung ja biologisch begründet sei. Andererseits wird auch von manchen bestritten, dass es die Diagnose ADHS überhaupt gibt« (S. 134 in diesem Band). Grothe und Horlbeck plädieren für eine Präzisierung der Diagnose aufgrund einer aufwendigen und genauen Abklärung ohne ideologische und gesellschaftspolitische Vorbehalte, sodass lediglich bei 3 bis 5 Prozent der Kinder die Diagnose ADHS angebracht sei. Eine genaue Diagnose sei auch weiterhin die Voraussetzung für eine professionelle, differenzielle Indikationsstellung, die das breite Spektrum von psychopharmakologischen, psychotherapeutischen (verhaltenstherapeutischen, psychodynamischen und psychoanalytischen) Behandlungen sowie pädagogischen und sozialpsychologischen Maßnahmen berücksichtige. Keiner der Autorinnen und Autoren dieses Bandes würde dieser Grundhaltung widersprechen: Alle sehen die Notwendigkeit einer sorgfältigen professionellen Differenzialdiagnostik und -indikation, um den betroffenen Kindern und ihren Familien adäquate Hilfeleistungen anzubieten. »Unstrittig ist, dass das Erscheinungsbild ADS durch unterschiedliche Ursachen und Entstehungszusammenhänge hervorgerufen werden kann. Es gibt bislang kein einziges Verfahren, mit der eine objektive Unterscheidung mittels naturwissenschaftlicher Methodik zwischen einem hirnstoffwechselgestörten ADS-Kind und einem nicht hirnstoffwechselgestörten

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normalen Kind möglich wäre. Im Einzelfall ist daher immer eine aufwendige psychosomatische Differenzialdiagnostik erforderlich« (Amft, S. 77 in diesem Band). Dennoch motiviert uns dieser leicht zu erzielende Konsens nicht, die Hände in den Schoß zu legen: zu wichtig erscheinen uns gesellschaftliche, politische, medizinische, sozialpsychologische, therapeutische und pädagogische Kontexte, in denen heute um ADHS gestritten wird. Zudem stimmen uns einige Anzeichen nachdenklich, die darauf hindeuten, dass der Dialog zu ADHS zwischen verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen entgleisen könnte und in eine Polarisierung mündet statt in ein gemeinsamen kritischen Versuch, die unbestrittene Zunahme von Kindern, die an dieser Symptomatik leiden, zu verstehen. Daher hoffen wir, mit dieser Publikation zu einem fruchtbaren Dialog zwischen psychoanalytischen, kinderpsychiatrischen, neurobiologischen und weiteren Experten auf diesem Gebiet beizutragen. Die aktuellen Diskurse zu ADHS und ihre Kontexte adäquat und differenziert zu dokumentieren, könnte halbe Bibliotheken füllen. Im Rahmen dieses Bandes müssen wir uns mit einigen Schlaglichtern begnügen, hoffen aber dennoch, unsere Leser dazu anzuregen, sich mit den vielschichtigen und relevanten Facetten heutiger Kindheiten zu befassen, die im Fokus ADHS aufleuchten. Dazu einige einleitende Bemerkungen:

■ Ist die dramatische Zunahme der Diagnose von ADHS sowie der Ritalin®-Vergabe ein Indikator für »veränderte Kindheiten« und/oder eine aktuelle Medikalisierung sozialer Probleme? Bereits 2001 gab das Gesundheitsministeriums eine Mitteilung heraus, wonach der Verbrauch von Ritalin® bei Kindern, die unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) litten, zwischen 1997 und 2000 um 270 Prozent angestiegen sei, für das Ministerium ein Anlass zur Sorge (vgl. dazu Amft et al. 2004; Mattner in diesem Band). Dieter Mattner, Hartmut Amft und Manfred Gerspach skizzieren den größeren historischen und

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gesellschaftlichen Kontext, auf dem dieser enorme Zuwachs der Vergabe von Ritalin und anderen Psychostimulanzien möglicherweise zu sehen und kritisch zu reflektieren ist. Mattner weist darauf hin, dass die Suche nach hirnorganischen oder neurophysiologischen Ursachen abweichenden Sozialverhaltens eine lange Tradition hat: Ende der achtziger Jahre erfreute sich die Diagnose »Minimale Zerebrale Dysfunktion« (MCD) großer Beliebtheit. Sie wurde mit Störungen des Sozialverhaltens (oppositional defiant disorder) in Beziehung gesetzt. Diese Verbindung war auch schon in den fünfziger Jahren charakteristisch und wurde damals mit Begriffen wie »Encephalopathische Psychopathie« (Enke 1953), hirnorganisch-psychisches Achsensyndrom (Göllnitz 1954) und frühkindliches exogenes Psychosyndrom (Lempp 1970) beschrieben. Später sprach man vor allem in der Schweiz vom »frühkindlichen psychoorganischen Syndrom« (POS; Ruf-Bächtiger 1978). Berger (1977) prägte den Begriff der so genannten »Teilleistungsstörungen beziehungsweise Teilleistungsschwächen«. Mattner führt verschiedene Argumente auf, warum schließlich die Diagnose MCD an Bedeutung verlor (vgl. auch von Lüpke 1989, 2004) – unter anderem waren es die mangelnden oder wenig überzeugenden empirischen Belege für biochemischen Störungen der synaptischen Überträgersubstanzen des Gehirns bei diesen Störungen. Doch ist es für Mattner ein interessantes wissenschaftshistorisches Phänomen, dass nicht auf biologistische Argumentationsstrategien verzichtet wurde, obschon sie sich in kaum auflösbare Widersprüche verstrickten. Bis heute wird mit großem Aufwand und unter Nutzung der neuen bildgebenden Verfahren nach normativen und biologischen Erklärungsmustern für sozial abweichendes Verhalten gesucht. Die Sehnsucht, einheitliche, »allgemein gültige«, da für alle Körper geltende, biologische Ursachen für problematisches soziales Denken, Handeln und Fühlen zu finden, scheint nach wie vor eine große Anziehung auszuüben. Wie die wenigen kurzen Fallbeispiele illustrieren, führt eine differenzierte Wahrnehmung der biografischen und kulturellen Besonderheiten dieser auf »ADHS verdächtigen Kinder« unweigerlich zur Einsicht in die Komplexität individuellen und kulturellen Zusammenlebens und damit verbunden in die individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Verantwortung. Jedes Kind als unverwechselbares Indi-

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viduum mit einer eigenen biografischen und kulturellen Geschichte wahrzunehmen, zu verstehen und für sein mögliches abweichendes Verhalten nach idiosynkratischen, passenden Präventions- und Interventionsstrategien zu suchen, ist anspruchsvoll, zeitaufwendig und steht oft im Gegensatz zu einem Zeitgeist der schnellen Machbarkeit, von Effizienz und kostengünstiger Anpassung so genannt schwieriger Kinder an Erfordernisse unserer westlichen Bildungs- und Sozialsysteme. So wurde zwar, wie Mattner dies ausführt, schon Ende der achtziger Jahre erkannt, dass primär psychosoziale Risikofaktoren für die mit dem Etikett MCD versehenen Verhaltensabweichungen der untersuchten Kinder verantwortlich waren, ein Grund, für den allgemeinen Rückgang der Diagnose MCD. Erstaunlicherweise nahm allerdings dadurch das Interesse an neurobiologischen Ursachen sozialen Verhaltens nicht ab, sondern führte dazu, »in einem weit größeren Ausmaß einer anderen biologistischen Etikettierung kindlicher Verhaltensbesonderheiten Platz zu machen […] Gemeint ist die in Anlehnung an die englische Bezeichnung ›Attention Deficit Disorder‹ (ADD) benannte ›Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung‹ (ADHS), die sich umgangssprachlich als ›Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom‹ (ADS) durchgesetzt hat. Bei näherer Betrachtung wird auch hier deutlich, dass im Grunde lediglich das Etikett zur Bezeichnung eines altbekannten, sehr vertrauten Problems ausgetauscht wurde« (Mattner, S. 61 in diesem Band). Daher sucht Mattner nach historischen und gesellschaftlichen Erklärungen für dieses Phänomen und zitiert Autoren wie Crary (1999), die detailliert historisch aufzeigten, dass erst das beginnende Industriezeitalter im 19. Jahrhundert es erforderte, dass Kinder, Aufwachsende und Erwachsene Fähigkeiten wie »disziplinierte Aufmerksamkeit«, »Konzentration« und »gefügige Unterordnung unter einen gemeinsamen Produktionsprozess« (ohne destruktive aggressive Auseinandersetzungen) entwickeln mussten. Mattner äußert daher die Vermutung: »Möglicherweise signalisiert die allseits beklagte epidemische Zunahme von kindlichen Auffälligkeiten gewissermaßen seismographisch die Nöte von Kindern in Zeiten postmoderner Lebensumstände, die in der biologistischen Deutungsperspektive nicht in den Blick genommen werden müssen« (S. 51 in diesem Band).

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Dieser biologistischen Deutungsperspektive einer möglicherweise »kranken Gesellschaft« widmet sich Hartmut Amft in seinem Beitrag. Unbestritten stellt die Behandlung mit Psychopharmaka aus der Gruppe der Psychostimulanzien, also mit Ritalin® oder ähnlichen Wirkstoffen, für Eltern, Lehrer und andere gesellschaftliche Gruppen eine große Verführung dar, weil sie, relativ kostengünstig und schnell, hyperaktiven, konzentrationsschwachen und oft aggressiven Kindern eine Anpassung an den schulischen Alltag in unseren westlichen Gesellschaften ermöglicht. Amft äußert ethische Bedenken: »Die Behandlung von Kindern mit Psychopharmaka ist deshalb so problematisch, weil Dritte, nämlich die Eltern, über deren Einsatz entscheiden. Gegenüber psychopharmakologischer Gewalt zum Zweck der Verhaltensbeeinflussung sind Kinder bislang völlig unzureichend geschützt, insbesondere wenn diese unter dem Deckmantel einer medizinischen Diagnose erfolgt (Amft 2002, S. 119). »Zudem stellt sich die Frage nach den Risiken einer derartigen Behandlung« (S. 71 in diesem Band). Er stellt die These ins Zentrum seines Beitrags, dass die Dominanz des biologistischen Deutungsmusters beim ADS eine Folge davon ist, dass sich die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit unerwünschtem kindlichen Verhalten entscheidend verändert hat. »Bei vielen Eltern, Lehrern und Medizinern ist eine zuvor bestehende ›Hemmschwelle‹ gegenüber dem Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern weggefallen. Es wird dann als normal angesehen, wenn Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten Psycho-Pillen erhalten. […] Den Kindern Ritalin® vorzuenthalten, bedeutet in dieser Logik, ihnen Normalität zu verweigern. Damit wird der Normalzustand dieser Kinder der Zustand unter Drogeneinfluss definiert, während der natürliche Zustand – ohne Psychodroge – als unnormal angesehen wird« (S. 72 in diesem Band). In etwas anderer Form taucht diese Argumentation im Zusammenhang von neueren Untersuchungen mithilfe bildgebender Verfahren auf, die die Hypothese einer hirnorganischen Ursache für ADHS zu bestätigen scheinen. Autoren, die sich auf diese Studien stützen, bezeichnen es als medizinischen Kunstfehler, ADHS Kindern eine Ritalin®-Behandlung zu verweigern (s. a. Sowell et al. 2003). Amft stellt die Frage, warum in diesem Bereich an einem ei-

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gentlich veralteten organpathologischen, medizinischen Modell festgehalten wird, obschon sich inzwischen in der Medizin ein Paradigmenwechsel hin zu einem biopsychosozialen Modell vollzogen hat. »Die Annahme einer Hirnstoffwechselstörung als alleiniges oder vorherrschendes Erklärungsmodell beim ADS stellt eindeutig einen wissenschaftlichen Rückschritt dar, indem es den grundlegenden Fehler beim MCD-Modell, nämlich den einer unzulässigen Generalisierung, wiederholt. Es ist zwar durchaus begründet, wenn als eine mögliche Ursache einer Aufmerksamkeitsdefizitproblematik eine hirnfunktionelle Störung angesehen wird. Aber unbestreitbar dürfte sein, dass unaufmerksames Verhalten ein unspezifisches Symptom darstellt, welches eine Vielzahl von ursächlichen Zusammenhängen aufweisen kann« (S. 73 in diesem Band). Amft und Gerspach vermuten unter anderem, dass die Verführung einer einfachen und »effizienten« Verhaltensbeeinflussung erziehungsschwieriger Kinder eine der wenig reflektierten Quellen für einen biologistischen Erklärungsansatz und einen Einsatz von Psychopharmaka ohne entsprechend sorgfältige Differenzialdiagnostik darstellt. »Das derzeitige Ausmaß der Ritalin®-Verordnungen legt den Verdacht nahe, dass nicht nur Kinder behandelt werden, bei denen eine gesicherte medizinische Diagnose und Indikation vorliegt, sondern dass in großem Umfang Ritalin® symptombezogen eingesetzt wird, um ein erwünschtes (Schul-)Verhalten auf psychopharmakologischem Weg herzustellen. […] Daher besteht Grund zur Annahme, dass bei 90 bis 95 Prozent der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Symptomatik keine medizinische Indikation für eine Ritalin®-Behandlung besteht« (S. 80 in diesem Band). Folglich plädiert Amft für eine differenzierte und kritische sozialmedizinische Perspektive, die die Zunahme einer Diagnose wie ADHS in Zusammenhang mit wichtigen Veränderungen der kindlichen Umweltbedingungen in unseren westlichen Gesellschaften zu sehen versucht. Wie viele Erziehungs- und Sozialwissenschaftler spricht er in diesem Zusammenhang von »veränderter Kindheit« (vgl. u. a. Garlichs u. Leuzinger-Bohleber 1999). Er tritt für einen ehrlichen und offenen Dialog damit verbundener Herausforderungen an heutige Sozialisations- und Erziehungsinstitutionen ein, weil die »Gesellschaft – so die These – […] die Bio-

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logisierung und Tabuisierung des ADS-Phänomens [benötigt], weil sie mit der Wahrheit nicht umgehen kann […] Tabuisiert wird, dass Psychopharmakotherapie – genauso wie die Psychotherapie – zum unverzichtbaren Mittel gelingender sozialer Anpassung geworden ist« (S. 89 in diesem Band). Manfred Gerspach schließt sich dieser Argumentation an. »Die Hypothese Hirnstoffwechselstörung kommt eben ohne Subjekt aus, sie ist objektorientiert« (S. 92 in diesem Band). Daher plädiert er für eine kritische und differenzierte Analyse von multiplen Problemfeldern, wie der Entwicklung kindlicher Lernprozesse in postindustriellen Gesellschaften (vgl. Sennet 1998), dem Kontext Schule und anderen Bildungsinstitutionen in einer »veränderten Kindheit«, dem Bereich organmedizinischer und hirnfunktioneller Befunde. Die Diskussion um ADHS ist auch auf diesem Hintergrund interessant und herausfordernd. Gerade die so genannten ADHS-Kinder verweisen auf das Phänomen, dass sich heutige Bildungs- und Sozialisationsinstitutionen nicht mehr auf reine Wissensvermittlung stützen können (vgl. dazu auch Gerspach 2004). Nicht nur bei diesen Kindern hat sich in den letzten Jahren die Einsicht durchgesetzt, dass sich Lerninhalte nicht vermitteln lassen, wenn nicht gleichzeitig die emotionale Bereitschaft des Lernenden berücksichtigt wird. Eine gelingende Affektabstimmung zwischen Pädagogen und Kind werde zum Motor jeglicher Bildungsbemühungen, so Gerspach (S. 97f. in diesem Band). Gerspach stützt sich in seiner Argumentation auf erziehungswissenschaftliche, psychoanalytische und neurowissenschaftliche Konzepte und versucht, wie andere Autorinnen und Autoren dieses Bandes, eine erste Integration. Zudem berücksichtigt er, wie Mattner und Amft, historische Analysen, wenn er sich in seinem letzten Teilkapitel mit dem bekannten Vorläufer von ADHS-Kindern, dem »Zappelphilipp« von Heinrich Hoffmann, beschäftigt. Er zeigt auf, dass das von Hoffmann beschriebene Verhalten Philipps »als (grund)normale, realitätsbezogene Reaktion eines wütenden und sich alleingelassen fühlenden Kindes« verstanden werden könnte, und plädiert dabei für einen verstehenden, einfühlenden Zugang zu heutigen ADHS-Kindern, die, wie sowohl die klinischpsychoanalytische Erfahrung als auch erziehungswissenschaftliche Beobachtungen nahe legen, oft gravierende Beziehungsabbrüche

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in den vulnerablen ersten Lebensjahren erlebt haben (vgl. u. a. Dammasch und Leuzinger-Bohleber et al., beide Beiträge in diesem Band).

■ ADHS – eine der größten Kontroversen in der Kinderpsychiatrie? Die gesellschaftlichen Dimensionen werden in den heftigen Kontroversen um ADHS im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie eher am Rande diskutiert, obschon sie implizit in die Pro und Kontras einer medikamentösen Behandlung eingehen. Peter Riedesser bezeichnet diese aktuelle Kontroverse als eine der größten in der Geschichte dieser medizinischen Disziplin. In tabellarischer Form präsentiert er übersichtlich die Argumente für beziehungsweise gegen das diagnostische Konstrukt »ADHS«, epidemiologische Daten, Komorbidität, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, Ätiologie sowie mögliche Behandlungsmodalitäten. Er weist abschließend auf Gefahren einer Etikettierung von Kindern mit ADHS hin, vor allem auf die Gefahr einer unzulässigen Vereinfachung komplexer psychischer und sozialer Probleme. Da ein Konsens besteht, dass die Symptome, die unter dem Begriff ADHS beschrieben werden, ein Massenphänomen bei heutigen Aufwachsenden darstellen, aber ein großer Dissens bezüglich der Ätiologie und der Therapie mit dieser Symptomatik besteht, plädiert er für vermehrte Forschungsanstrengungen in diesem Bereich (vgl. Knölker 2001; Steinhausen 2000, 2005; Bundesärztekammer 2005). Gerd Lehmkuhl und Klaus Döpfner gehören zu den bekanntesten empirischen Forschern in diesem Bereich in Deutschland. Auch sie plädieren, unter anderem bezugnehmend auf die Leitlinien der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, für eine sorgfältige professionelle Diagnostik und ein Verständnis der Pathogenese von ADHS, das auf einem biopsychosozialen Modell beruht. Mit einer Graphik illustrieren sie eine multiple Verhaltensund Psychodiagnostik, die für die Kölner Forschergruppe eine notwendige Voraussetzung für die Planung mutlimodaler Therapieansätze darstellt.

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In ihre multimodale Behandlung von Kindern mit ADHS sind vor allem medikamentöse und verhaltenstherapeutische Interventionen eingeschlossen. In der Kölner Mutimodalen Therapiestudie wurden 75 Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren mit der Diagnose einer hyperkinetischen Störung (ICD-10, DSM-IV) untersucht. Die Autoren fassen in ihrem Beitrag die Ergebnisse ihrer Studie zusammen, die die Wirkung sowohl medikamentöser Therapien als auch von Verhaltenstherapien bei diesen Kindern belegen. Die Überlegenheit eines multimodalen Therapieansatzes gegenüber einer reinen Pharmakotherapie konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden. »Hierbei ist der Stellenwert der Verhaltenstherapie noch unklar, insbesondere müssen langfristige Verlaufsstudien zeigen, ob kognitiv-behaviorale sowie familienbezogene Interventionen die Prognose insgesamt verbessern […] Die klinische Erfahrung zeigt, dass eine hohe interindividuelle Variabilität in der Response auf die einzelnen Therapieformen besteht. Dies kann an der bereits erwähnten unterschiedlichen Akzeptanz für bestimmte Interventionsformen liegen, aber auch an intervenierenden Variablen, wie Komorbidität oder familiäre Belastung« (S. 131 in diesem Band). Abschließend weisen die Autoren, bezugnehmend auf Remschmidt und Heiser (2004), auf die Notwendigkeit gezielter Interventionen bei ADHS-Kindern vor dem Eintritt in die Frühadoleszenz hin, da Langzeitstudien auf die enorme Gefährdung dieser Kinder (Schulabbruch: 32 bis 40 Prozent, antisoziale Aktivitäten: 40 bis 50 Prozent, bis hin zu schlechten Leistungen am Arbeitsplatz: 70 bis 80 Prozent) verweisen. »Die Ergebnisse von Frühinterventionen, so Remschmidt und Heiser (2004), seien bei besonders gefährdeten Kindern viel versprechend, sodass Frühinterventionen eine zunehmend wachsende Bedeutung bekommen sollten« (S. 131 in diesem Band). In dem schon erwähnten Beitrag von Klaus Dieter Grothe und Anke Maria Horlbeck wird unter anderem das THOP-Modell von Döpfner – das in empirischen Studien wie der soeben zusammengefassten, entwickelt wurde – in der kinderpsychiatrischen Praxis angewandt. In ihrem Praxisbericht wird allerdings deutlich, welche Unterschiede zwischen der eben geschilderten empirischen Untersuchung (mit kontrollierten Vergleichsgruppen) und der

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Anwendung von empirisch geprüften Behandlungsmodellen besteht. Grothe und Horlbeck diskutieren an zwei ausführlichen Fallbeispielen, wie sie sich um eine sorgfältige Diagnostik, ein Verstehen der individuellen Problematik des betroffenen Kindes und seiner Familie und darauf basierende spezifische Behandlungskonzepte bemühen. Sie orientieren sich dabei einerseits an den Leitlinien der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft, beziehen aber auch »eine dynamische, entwicklungsorientierte Komponente mit ein« (S. 134 in diesem Band). Die Behandlungsbedürftigkeit sehen sie immer vor dem Hintergrund der familiären und sozialen Ressourcen, die darüber entscheiden, welche Bausteine sie einem Kind beziehungsweise seiner Familie anbieten. »Die Behandlung selber muss das Temperament des Kindes, die familiären Beziehungsmuster, die Sozialisationsbedingungen berücksichtigen und damit verschiedene Behandlungsbausteine sinnvoll zusammensetzen. Diese Bausteine bestehen bei uns aus Erziehungsberatung, verhaltenstherapeutisch orientierten Selbstinstruktionstraining, pädagogisch angeleiteten Elterngruppen, medikamentöser Behandlung und bei gravierenden emotionalen Störungen auch aus entsprechenden analytisch orientierten psychotherapeutischen Verfahren. Medikamentöse Behandlung ist aus meiner Sicht dann indiziert und nur dann, wenn mit anderen Methoden keine ausreichende Verbesserung erzielt werden kann und schulische, soziale und/oder familiäre Desintegration die Folge ist« (S. 138 in diesem Band).

■ Anmerkungen zu einer differenziellen Diagnostik und Therapieindikation Grothe und Horlbeck plädieren für einen differenziellen und individuumzentrierten Ansatz bei der Behandlung von ADHS-Kindern. Psychoanalytische Behandlungen fassen sie ins Auge, wenn es sich um »gravierende Störungen« handelt, die kaum mit Kurztherapien (etwa Verhaltenstherapien) erfolgreich zu behandeln sind. Es übersteigt – leider – den Rahmen dieser Einleitung, das

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implizite Modell einer differenziellen Indikation, das diese Autoren vertreten, hier eingehend zu würdigen und zu diskutieren. Sowohl aus klinischen als auch aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Perspektiven scheint mir die Frage der differenziellen Indikation eine hohe Priorität im aktuellen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs einzunehmen und dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu entsprechen (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2003; Leuzinger-Bohleber et al. 2005; Leuzinger-Bohleber et al. 2004). Doch tauchen oft entsprechende Überlegungen weder im öffentlichen noch im wissenschaftlichen Diskurs auf, der – bedauerlicherweise nur zu oft – in den jeweiligen psychotherapeutischen Elfenbeintürmen stattfindet und schulenübergreifende Diskurse vernachlässigt. Zudem fehlen schulenübergreifende Vergleichsstudien etwa zwischen psychopharmakologischen, verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Behandlungen von Kindern und Jugendlichen mit ADHS mit langen Katamnesen noch weitgehend. Allerdings existiert dennoch ein klinisch abgestütztes Wissen (wie es u. a. von Grothe und Horlbeck vertreten wird). Auch in der Frankfurter Präventionsstudie indizieren wir aufgrund unserer klinischen Erfahrungen (sowie wissenschaftlichen Studien im Bereich der Vergleichenden Psychotherapieforschung, vgl. Leuzinger-Bohleber 1987, 1988, 1995) bei einigen der verhaltensauffälligen Kindern sozialpsychiatrische, medikamentöse oder verhaltenstherapeutische Behandlungen. Fragmentarisch zusammengefasst: Manchen Familien scheinen psychodynamische Erklärungskonzepte als »zu weit entfernt« von ihren Alltagsproblemlösungsstrategien: Der Wunsch nach klar nachvollziehbaren Regeln und Verhaltensweisen, wie sie etwa THOP für Eltern anbietet, ist für sie eher akzeptierbar als die psychoanalytische Grundannahme, dass es der Empathie und der Wahrnehmung beziehungsweise dem Verständnis von versteckten (unbewussten) Mitteilungen des Kindes bedarf, die es mithilfe seiner Symptome (etwa aggressivem Verhalten) an seine Bezugspersonen kommunizieren möchte. Ohne ein solches Verständnis ist, so die psychoanalytische These, keine nachhaltige Veränderung des kindlichen Verhaltens möglich. Allerdings gibt es auch andere Eltern, die sich gerade von der verstehenden, ganzheitlichen Zugangsweise zu ihrem Kind angesprochen fühlen und durch die suggestiven Handlungsanwei-

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sungen verhaltenstherapeutischer Programme befremdet fühlen. Solche Familien sind bei psychodynamischen Verfahren gut aufgehoben. – Andere Eltern und Familien sind derart von Vorurteilen oder Vorbehalten gegen jede Form von Psychotherapie geprägt, dass für sie im besten Fall eine kinderärztliche oder kinderpsychiatrische Behandlung für ihr ADHS-Kind in Frage kommt, was oft eine medikamentöse Behandlung bedeutet. – Für diese Familien wäre entscheidend, dass sie in einer ersten Anlaufstelle Personen finden, die ihr Vertrauen gewinnen können. Die können Ärzte, Erzieher, Lehrer oder auch nichtprofessionelle Bezugspersonen sein, die ihnen ihre Lebenserfahrung in einfühlender Weise zur Verfügung stellen und sie ermuntern, sich mit den spezifischen Schwierigkeiten zu befassen, sie zu verstehen versuchen und, falls notwendig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Im Rahmen dieses Bandes müssen wir es dem Leser selbst überlassen, die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Modellen zur Ätiologie, Diagnostik und Behandlung zu erkennen und kritisch zu reflektieren. Da in der aktuellen ADHS-Literatur psychoanalytische Ansätze weit weniger vertreten sind als verhaltenstherapeutische oder psychopharmakologische, legen wir in diesem Band den Schwerpunkt auf diese Verfahren und hoffen, dass die darin vorgestellten Ansätze auch für kinderpsychiatrische und neurobiologisch interessierte Kolleginnen und Kollegen von Interesse sein werden. Die beiden relativ ausführlichen Fallbeispiele von Frank Dammasch sowie der kürzere Therapiebericht aus der Frankfurter Präventionsstudie mögen ansatzweise einen Einblick in psychoanalytische Behandlungen von ADHS-Kindern bieten, die übrigens in der kindertherapeutischen Praxis keineswegs selten sind, ein Grund, warum wir diese klinischen Erfahrungen im Rahmen der Präventionsstudie in einem so genannten Behandlungsmanual festgehalten haben (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. in diesem Band). Zudem leisten vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie die psychoanalytischen Verfahren immer noch weitaus den größten Beitrag (s. Abb. 1).

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Abbildung 1: Zusammenstellung von ambulanten Behandlungsangeboten (fakt KBV 2005) – AP: analytische Psychotherapeuten; TP: tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapeuten; VT: Verhaltenstherapeuten

■ Psychoanalytische Anmerkungen zur Ätiologie von ADHS und der Bedeutung von früher Prävention und Intervention In der psychoanalytischen Fachliteratur wird betont, dass Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität Symptome darstellen, aber keine eigentliche Krankheit darstellen – sogar falls sich herausstellen sollte, dass eine genetische Disposition existiert. Die Grenzen zwischen »normaler« und »pathologischer« Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsproblematik sind fließend. Auch ADHSKinder können sich aufmerksam und konzentriert bestimmten Aufgaben zuwenden, falls diese sie wirklich interessieren. Charakteristisch für eine psychoanalytische Zugangsweise ist daher nicht das »objektive Messen und Evaluieren« von Symptomen der Hyperaktivität und der Aufmerksamkeitsstörung, sondern der Versuch, die unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen zu verstehen, die diesen Symptomen zugrunde liegen, sowie die Dynamik emotionaler Beziehungen in den Familien und Bildungsinstitutionen zu begreifen, die eventuell ADHS mit auslösen. Wir beobachten verschiedenste Strukturniveaus bei den so

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genannten ADHS-Kindern und eine ganze Breite von unterschiedlichen Objektbeziehungen, sodass wir nie von einer monokausalen Ätiologie ausgehen können. So ist zwar oft eine familiäre Häufung von ADHS zu beobachten, doch kann daraus nicht direkt auf eine genetische Disposition geschlossen werden. Viele Genforscher weisen immer wieder darauf hin, dass sogar eine genetische Anlage nicht »linear« einen Phänotyp von Verhalten hervorbringt, sondern erst bestimmte Umweltbedingungen und spezifische Situationen (in unserem Fall in der Regel komplexe, frühe Beziehungserfahrungen) bestimmte Genkonstellationen »triggern« und dadurch aktivieren (vgl. Stassen 2004a, 2004b). Inzwischen gibt es viele empirische Hinweise, dass Temperament und Vitalität des Babys bei der Ätiologie von ADHS eine große Rolle spielt, besonders falls ein Dis-Match mit dem Temperament und der Vitalität der primären Bezugsperson (meist der Mutter) besteht (vgl. Emde u. Fonagy 1997; Stern 1995; Beebe u. Lachman 2002). Trifft ein temperamentvolles, quirliges Baby auf eine Mutter mit einer eher ruhigen Art, ist dies ein Risikofaktor, vor allem weil die Mutter Schwierigkeiten haben wird, sich in die affektive Welt ihres Kindes adäquat einzufühlen und dessen Affekte zu regulieren. Allerdings erweist es sich als sehr schwierig, Temperaments- und Vitalitätsunterschiede empirisch eindeutig zu erfassen, da es sich dabei nicht um isolierbare Variablen der Persönlichkeit handelt. Aus psychoanalytischen, retrospektiven Studien wissen wir, dass bei der Genese von ADHS die Toleranz der primären Bezugsperson für die Affektstürme des Babys sowie die Fähigkeit, diese zu beruhigen, zu halten und zu »containen«, eine zentrale Rolle spielt (vgl. dazu die Beiträge von Bürgin, Dammasch und LeuzingerBohleber et al. in diesem Band). So waren nachgewiesenermaßen bei ADHS-Kindern die komplexen frühen Interaktionen zwischen Mutter und Kind oft durch Unter- oder Überstimulation sowie durch intrusives oder vernachlässigendes mütterliches Verhalten gekennzeichnet. Oft scheinen die Babys keine andere Wahl zu haben, als ihre Mütter durch hyperaktives und überstimuliertes Verhalten zu den notwendigsten Pflegeleistungen zu motivieren, ein Verhalten, das später vermutlich generalisiert wird. In der heutigen Psychoanalyse besteht eine plurale Vielfalt von Theorien (vgl. u. a. Bürgin in diesem Band; Leuzinger-Bohleber et

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al. 2003). Ich-psychologische Autoren sprechen davon, dass in »ADHS-Familien« die primären Bezugspersonen dem Kind zu wenig stabile Hilfs-Ich-Funktionen zur Verfügung stellen können. Das Kind braucht aber eine zuverlässige und kontinuierliche Unterstützung, um sein Verhalten zu regulieren, das heißt seine physiologischen, sensorischen, motorischen und affektiven Prozesse zu modulieren und zu kontrollieren. Können die Eltern dem Kind diese Hilfestellung nur ungenügend zur Verfügung stellen, kann das Kind kaum eine adäquate primäre Regulierung von Triebimpulsen und Affekten entwickeln. Auch das Entwickeln von Aufmerksamkeit ist von solchen Regulationsprozessen abhängig. Aufmerksamkeit ist nach Ich-psychologischer Sicht eine IchFunktion, die die äußere Realität nach potenziellen Situationen absucht, die sich zur eigenen Triebbefriedigung anbieten. Neurophysiologisch ist sie mit dem Such-System verbunden (vgl. u. a. Panksepp 2001). Daher finden wir, nach Auffassung der meisten psychoanalytischen Autoren, sowohl bei der Hyperaktivität als auch bei der Aufmerksamkeitsstörung eine ausgeprägte Schwäche in der Selbst- und Affektregulierung, die sich auch auf die Steuerung fein- und grobmotorischer Aktivitäten auswirkt. Dies mag ein Grund sein, warum ADHS vier- bis zehnmal häufiger bei Jungen als bei Mädchen anzutreffen ist. Vermutlich besteht ein genetisch angelegter Geschlechtsunterschied im Bereich der muskulären Aktivität (vgl. u. a. Bürgin 2005). Mit diesen Prozessen verbunden ist die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit. Eine basale Frustrationstoleranz für scheinbar unerträgliche Affekte und Impulse kann nur in einer vertrauensvollen Beziehung zu einem »Bedeutungsvollen Anderen« entwickelt werden. Bestehen, wie eben erwähnt, zu wenig stabile Hilfs-Ich-Funktionen und eine mangelnde Objektkonstanz, kann sich ein intermediärer Bereich nach Winnicott nur in ungenügender Weise ausbilden – eine Voraussetzung für Symbolisierung und Kreativität. Auch Autoren, die der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie nahe stehen, haben diese frühen Regulierungsprozesse zu konzeptualisieren versucht (vgl. Kernberg 2001). Die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie fokussiert Internalisierungen wichtiger Beziehungen in der frühesten Kindheit, die sie als zentral für

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das Ausbilden psychischer Strukturen, aber auch von Triebbedürfnissen und Persönlichkeitsmerkmalen betrachtet. Neuere – klinische und empirische Studien – haben gezeigt, dass es wichtig ist, zwischen zwei Affektzuständen des Säuglings zu unterscheiden: Zustände mit relativ niedriger Affektaktivierung und Zustände mit heftigen, intensiven Affektzuständen, so genannten »Spitzenaffekten«. Im ersten, »milden« affektiven Zustand können »normale« Internalisierungen unserer Erfahrungen im Kontakt mit anderen Personen stattfinden, die zur Entwicklung normaler IchFunktionen führen. Die Erfahrungen sind mit angenehmen, realitätsadäquaten Körperempfindungen verbunden, die – wie Rolf Pfeifer und ich diskutiert haben, als sensomotorisch – affektive Koordinationen ihren Niederschlag im Gedächtnis finden (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer 2002). Diese sensomotorisch-affektiven Koordinationen dienen in späteren Situationen – mit analogen Informationen, die wir durch die verschiedenen Sinneskanäle (auditiv, visuell, haptisch etc.) aufnehmen – dazu, dass wir »Gedächtnis« produzieren, das heißt uns aufgrund früherer Erfahrungen in der Realität orientieren, Erwartungen an »normales« Verhalten unserer Interaktionspartner entwickeln und diese »adäquat« interpretieren können. Sie werden im Lauf der Entwicklung mit Bildern und Sprache verbunden. – Anders ist es mit der Erfahrung von so genannten »Spitzenaffekten«, das heißt intensiven positiven und negativen Affekten, die die Reizverarbeitungskapazität des Säuglings überfordern. In solchen extremen affektiven Zuständen – der Freude, der Euphorie, des Glücks im Zusammensein mit einem Anderen oder aber von Angst, Schrecken, Wut oder Schmerz – entstehen psychisch problematische, aber äußerst wirksame »embodied« Erinnerungen: Bilder von idealisierten Beziehungen, die sich nach den glücklichen Momenten des Kindes an der Brust ausrichten und sich als Wünsche nach Verschmelzung mit dem Liebesobjekt, des Einsseins und der absoluten Zugehörigkeit psychisch niederschlagen. Die extrem negativen Affekte bewirken – in analoger Weise – extreme Selbstbilder eines hassenden, intensiven Aggressionen ausgesetzten Wesens, das Angriffen von außen hilflos ausgesetzt ist. Je intensiver die Frustrationen und die Schmerzerfahrungen sind, etwa in traumatischen Erfahrungen, desto intensiver sind auch die ausgelösten aggressiven Im-

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pulse, die das kindliche Ich psychisch nicht ertragen oder dem eigenen Selbst zuschreiben kann: Daher projiziert es diese aggressiven Impulse sogleich auf den Anderen und erlebt sich daher zusätzlich als von außen bedroht und verfolgt. Das Resultat ist, dass sich eine Erinnerung an negative und – für das Selbst und das Objekt – gefährliche Beziehungserfahrungen als »psychische Wahrheiten« niederschlagen. In Momenten der Spitzenaffektentladung oder traumatischen Situationen entsteht daher eine psychische Tendenz, Erlebnisse in absolut gute oder absolut schlechte zu kategorisieren: Beziehungen werden in einen idealisierten und in einen verfolgenden Teil aufgespalten. Bei traumatischen Erfahrungen kommt dazu, dass die extremen körperlichen Erfahrungen nicht mit Visualisierungen oder Sprache verbunden werden können. Zurzeit findet eine interessante Diskussion unter Psychoanalytikern und Hirnforscher statt, etwa zu der Hypothese von van der Kolk, dass traumatische Erfahrungen im Gehirn anders gespeichert werden als »normale« (in der Amygdala oder dem limbischen System) und nicht mit neokortikalen Prozessen verbunden werden können (vgl. Fischer u. Riedesser 1999). Unter normalen, nicht traumatischen oder – wie Winnicott sie nennt – »genügend guten« Bedingungen entwickelt sich eine zunehmende Toleranz gegenüber solchen extremen Situationen, sodass die archaisch-primitive Erfahrung eine Spaltung zwischen »gut« und »böse« schließlich psychisch integriert werden kann. Melanie Klein charakterisierte den frühen psychischen Zustand einer Spaltung, die nur Dank projektiver Mechanismen zu bewältigen ist, als »paranoid-schizoid« und das Erinnern einer ersten integrativen seelischen Erfahrung der Ambivalenz, dass das Objekt sowohl »gute« als auch »böse« Anteile besitzt, als »depressive Position«. Die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie hat betont, dass das äußere Objekt – durch Empathie in den Zustand des hilflosen Säuglings – dazu beitragen muss, dass die Spitzenaffekte immer wieder »zuverlässig« und voraussehbar gelindert werden können und daher ein Urvertrauen in ein gutes Objekt vermitteln. Parallel dazu erlebt sich das »auftauchende Selbst« als psychisch in der Lage, zu einem solchen Verschwinden von extremen Frustrationen, von Wut und Hass, selbst beizutragen. Es definiert sich daher als ein basal aktives, potentes und nicht nur als ein passiv aus-

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geliefertes Wesen. Das Selbst kann daher – in der Terminologie der psychoanalytischen Selbstpsychologie – auf archaische primitive Abwehrmechanismen, wie die Phantasie des grandiosen Selbst oder der omnipotenten Elternimago, sukzessiv verzichten und ein tragendes, sicheres, kohärentes Kernselbstgefühl entwickeln (vgl. dazu auch die Arbeiten zur Entwicklung eines »falschen Selbst« sowie der Mentalisierungsfähigkeit der Forschergruppe um Peter Fonagy, etwa Fonagy u. Target 2002, oder zusammengefasst im Beitrag von von Lüpke, in diesem Band). Daniel Stern (1995) hat in eindrücklicher Weise die frühe Interaktion zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern empirisch untersucht. In der Frühentwicklung von schwer depressiv erkrankten Menschen finden wir häufig entweder frühe Traumatisierungen (so im Zusammenhang mit Krieg und Verfolgung, Unfällen, Krankheiten) oder aber Objektbeziehungserfahrungen, die dem Säugling nicht die eben erwähnte basale Erfahrung eines »genügend guten« Objekts vermittelten, das sich zuverlässig in der Lage sieht, Spitzenaffekte des Säuglings zu lindern und milde, angenehme, positive Erfahrungen als die psychisch dominierenden zu vermitteln. Daniel Stern zeigte durch Mikroanalysen von videoaufgezeichneten Interaktionssequenzen zwischen depressiven Müttern und ihren Babys, dass ein Typ dieser Kinder durch hyperaktives Verhalten versucht, die depressiven Mütter »zum Leben zu erwecken« – ein frühes Interaktionsmuster, das vermutlich generalisiert wird und zu hyperaktivem Verhalten führen könnte. Zudem besteht bei diesen Babys zu wenig äußerer und innerer Spielraum, sodass sie die Wahrnehmung eigener Impulse und Regungen als Indikatoren eines »auftauchenden Selbst« nutzen können, sowie zu den für die Selbstentwicklung entscheidenden Erfahrungen der Selbstwirkung (self-agency), Selbst-Kohärenz (selfcoherence), Selbst-Affektivität (self-affectivity) verhelfen, die ihm ein basales Gefühl der Geschichte des eigenen Selbst (self-history) vermitteln, in anderen Worten eine der wesentlichen Voraussetzungen darstellen, um das Fundament eines tragenden Selbst- und Identitätsgefühls zu konstituieren. Dies könnten mögliche Ursachen für die Entwicklung eines »falschen Selbst« sein, die klinisch oft bei ADHS-Kindern zu beobachten ist (vgl. dazu die Falldarstellungen von Dammasch und Henke in diesem Band). Das Kind

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kann diese frühen Stadien der Selbstentwicklung nur »genügend gut« durchlaufen, wenn es die sichere und kontinuierliche Erfahrung macht, dass seine Triebregungen, Impulse und Affekte von seiner primären Bezugsperson richtig verstanden und interpretiert werden. Eine depressive oder sonst wie emotional vernachlässigende Mutter ist dazu nicht in genügend guter Weise in der Lage, weil ihr die empathische Einfühlung in den inneren Zustand des Kindes weitgehend fehlt. Daher teilen die heutigen psychoanalytischen Schulen – trotz aller theoretischer Differenzen – die Grundauffassung, dass die Entwicklung stabiler psychischer Strukturen auf genügend gute, empathische frühe Objektbeziehungen angewiesen sind, die eine gut funktionierende Regulierung von Triebimpulsen und Affekten, den Aufbau sicherer innerer Grenzen zwischen den Selbstund Objektrepräsentanzen sowie die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit ermöglichen. Dabei wird in der jüngeren Fachliteratur neben der Rolle einer feinfühligen, empathischen Mutter immer wieder auf die Relevanz der frühen Vaterbeziehung (im Sinne einer frühen Triangulierung, vgl. Bürgin 1998; von Klitzing 2002) für das Kind sowie die Funktion des Vaters als »Drittem« und als emotionale Stütze für die Mutter hingewiesen (vgl. u. a. Herzog 2001; Metzger 2000; Dammasch 2000). ADHS-Kinder scheinen kaum genügend stabile Primärbeziehungen erlebt zu haben. Sie konnten nur in ungenügender Weise sichere innere Strukturen sowie die Fähigkeit zur Selbstregulation ausbilden (vgl. Fallbeispiele von Dammasch und Leuzinger-Bohleber et al., beide in diesem Band). Zudem standen ihnen nicht in genügend gutem Ausmaß kompensatorische Beziehungserfahrungen zur Verfügung, sodass Mangelerfahrungen oder »Fehler der primären Bezugsperson« im Sinne eines »interactive repair« zu einem entwicklungsfördernden Faktor werden konnten (vgl. dazu von Klitzing 2002, S. 883; Häußler u. Hopf 2002; Heinz 2002; von Lüpke 2004). Die empirische Bindungsforschung hat analoge Befunde und Konzepte vorgelegt. In vielen Studien stellte sich die mütterliche Feinfühligkeit als wichtigste erklärende Kategorie für das Ausbilden der so genannten Bindungstypen im ersten Lebensjahr heraus. Nach Grossmann u. a. (1989) besteht die Feinfühligkeit aus den Merkmalen:

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Wahrnehmung der Verhaltensweisen des Säuglings, zutreffende Interpretation seiner Äußerungen, prompte Reaktion darauf, Angemessenheit der Reaktion.

Ainsworth et al. (1978) haben in ihren Studien empirisch nachgewiesen, dass Mütter, die auf die Signale ihres Kindes im ersten Jahr feinfühlig – das heißt prompt und angemessen – reagieren, Kinder erhalten, die mit einem Jahr in der so genannten Fremden Situation (einer standardisierten Situation zur Untersuchung des Bindungsverhaltens) sicher gebunden sind; »solche, die manchmal angemessen, manchmal aber zurückweisend oder überbeschützend (also insgesamt inkonsistent) reagieren, haben eher ambivalente Kinder; eine dritte Gruppe von Müttern, die mit Kummer und Trostbedürfnissen eher zurückweisend umgehen, haben vorwiegend vermeidende Kinder« (Dornes 1999, S. 165; Hervorh. M. L.-B.). Sicher gebundene Kinder entwickeln, wie bereits erste Studien nachweisen, seltener ein ADHS im Grundschulalter (Literatur dazu zusammengefasst im Beitrag von von Lüpke in diesem Band).

■ Prävention und Frühintervention: psychoanalytische und neurobiologische Überlegungen zur Verhinderung psychosozialer Desintegration Viele der eben skizzierten psychoanalytischen Konzepte zur Ätiologie von ADHS sowie der enormen Bedeutung von Präventionen und Interventionen in den ersten Lebensjahren erhalten durch neuere neurobiologische Erkenntnisse eine interdisziplinäre Ergänzung oder teilweise sogar eine extraklinische Abstützung, was auch kinderpsychiatrische Leser interessieren mag. Bekanntlich bilden Gehirn und Geist eine Einheit. Daher liegt es auf der Hand, dass der Dialog zwischen Psychoanalyse und den Neurowissenschaften interessant sein kann: Die Psychoanalyse, als Wissenschaft unbewusster seelischer Aktivitäten, ging immer schon davon aus, dass zwischen den psychischen Prozessen und den

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Vorgängen im Gehirn ein enger Zusammenhang besteht. Auch in der neurowissenschaftlichen Literatur steht dieser Zusammenhang oft im Zentrum des Forschungsinteresses. Freud hat sein Leben lang an der Hoffnung festgehalten, psychoanalytische Forschungsergebnisse könnten schließlich auch mit naturwissenschaftlichen Methoden nachgewiesen werden. Der englische Neurologe und Psychoanalytiker Mark Solms hat in vielen historischen und theoretischen Beiträgen ausgeführt, dass sich Freud – angesichts des Standes der neurowissenschaftlichen Methoden seiner Zeit – von dieser Vision abwandte und daraufhin die Psychoanalyse als ausschließlich psychologische Wissenschaft des Unbewussten definierte. Auch viele Psychoanalytiker und Wissenschaftstheoretiker nach ihm haben darauf hingewiesen, dass Psychoanalyse und Neurowissenschaften es in der Praxis mit unterschiedlichen Forschungsgegenständen zu tun haben, dass sie mit unterschiedlichen Methoden an die Erforschung dieser Gegenstände herangehen und die gewonnenen Daten mit unterschiedlichen Modellen zu interpretieren versuchen (vgl. dazu Koukkou et al. 1998; Leuzinger-Bohleber et al. 1998). Daher kann das Wissen, das in der einen Disziplin gewonnen wurde, nicht ohne weiteres zur Erklärung von Phänomenen, mit denen sich die andere beschäftigt, beigezogen werden. Dennoch ist es für eine zunehmende Zahl heutiger Forscher reizvoll, die Wissenscorpora der beiden Disziplinen miteinander in Verbindung zu bringen. 1999 erschien zum ersten Mal die internationale Zeitschrift »Neuro-Psychoanalysis«, in der namhafte Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Themen wie Emotion und Affekt, Gedächtnis, Schlaf und Traum, Konflikt und Trauma sowie bewusste und unbewusste Problemlösungsprozesse detailliert und kontrovers diskutierten. Das interdisziplinäre Verständnis von Gedächtnis und Erinnern mag im Folgenden als ein konkretes Beispiel dienen, wie sich die Wissenscorpora der Neurowissenschaften und der Psychoanalyse ergänzen und auch für die Praxis der Psychoanalyse neue Verstehenshorizonte eröffnen. Die Neurowissenschaften bieten der Psychoanalyse objektive und detaillierte Erkenntnisse zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns an, mit denen sich psychoanalytische Theorien als »external kohärent« erweisen müssen. Doch auch für Neurowissenschaftler mag der Dia-

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log mit der Psychoanalyse interessant sein. Die Psychoanalyse bietet aufgrund ihrer nun hundertjährigen spezifischen »Feldforschung« – der intensiven und minutiösen Arbeit mit seelisch kranken Menschen – den Neurowissenschaftlern Theorien an, die auf einer komplexen Ebene seelische Integrationsprozesse beschreiben und dabei – trotz aller Generalisierungen – die unverwechselbare Subjektivität und den persönlichen und biografischen Kontext eines Individuums berücksichtigen. Die grundlagenwissenschaftlichen, interdisziplinären Studien zum Gedächtnis (zusammen mit Prof. Dr. Rolf Pfeifer, Institut für Informatik, Universität Zürich) waren für die Konzeptualisierung unserer Frankfurter Präventionsstudie, von der wir in diesem Band berichten, von besonderem Interesse. Immer schon hat die Psychoanalyse postuliert, dass schon früheste Erfahrungen unbewusst späteres – »gesundes« und »krankes« – Verhalten prägen, das heißt unbewusste Erinnerungen unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Seit 25 Jahren beschäftigen wir uns mit der grundlagentheoretischen Frage, welche Gedächtnismodelle diese klinisch-psychoanalytischen Erfahrungen am adäquatesten abbilden, beziehungsweise welche psychoanalytischen Erklärungen und Gedächtnistheorien die geringsten Widersprüche zu Gedächtnistheorien aus den Neurowissenschaften aufweisen, obschon diese auf anderen Daten beruhen. – Gerade die Gedächtnismodelle der »klassischen« Psychoanalyse mussten aufgrund neuerer neurowissenschaftlicher Studien in den letzten Jahren stark modifiziert werden, da sie sich als nicht mehr kompatibel mit diesem Wissen erwiesen. Auch in der Cognitive Science hat sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel bezüglich des Verständnisses von Gedächtnis vollzogen (vgl. dazu Pfeifer u. Scheier 1999; Pfeifer u. Bogart, in Vorb.). Dabei werden Ergebnisse der biologisch orientierten Gedächtnisforschung berücksichtigt, die belegen, dass die Computermetapher, die noch heute vielen Gedächtnistheorien und auch dem psychoanalytischen Repräsentanzenmodell zugrunde liegt, grundlegend falsch ist (etwa wenn wir von »Speichern« sprechen, die im Langzeitgedächtnis enthalten sind und aus denen Wissen ins »Kurzzeitgedächtnis« transferiert wird). Lebende Systeme sind zu einer ständigen Adaptation an eine dauernd sich verändernde Umwelt gezwungen.

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Wissen aus früheren Situationen wird dabei benutzt, muss aber immer wieder umgeschrieben und an die neue Situation angepasst werden. Daher wird Gedächtnis heute verstanden als ein aktiver, kreativer Vorgang des gesamten Organismus, der auf sensomotorisch-affektiven Koordinationsprozessen und damit in Zusammenhang stehenden »automatischen«, sich ständig adaptierenden Rekategorisierungsprozessen beruht. Gedächtnis beinhaltet also kein vorwiegend kognitives Geschehen, sondern ist immer »embodied« (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer 2002). Interessant ist nun, dass Gerald Hüther als Neurobiologe und Hirnforscher Konzepte zur Bedeutung früher Regulationsmechanismen sowie der Entwicklung des Gehirn vorgelegt hat, die sich mit den eben skizzierten exzellent verbinden lassen. Hüther zeigt in seinem Beitrag in diesem Band auf, dass sein Verständnis der Funktionsweise des Gehirns viele Parallelen aufweist, sowohl zu den erwähnten Konzepten der Embodied Cognitive Science als auch zur Psychoanalyse. Wir teilen die Auffassung, dass die Computermetapher der »klassischen Cognitive Science« oder manche Verkürzungen des klassischen psychoanalytischen Repräsentanzenmodells sowie immer noch verbreitete Gedächtnismodelle in der akademischen Psychologie irreführend sind: Das Gehirn funktioniert nicht wie eine Maschine, deren Defekte sinnvollerweise durch »Tricks« oder durch ein Medikament funktional auszugleichen sind. Vielmehr ist das Gehirn ein lebendiges, biologisches System, das sich nur in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt weiterentwickelt und – wie Gerald D. Edelman in seinen beeindruckenden Arbeiten gezeigt hat – ohne interagierende, sensomotorisch-affektive Koordinationen nicht dazu in der Lage ist, Kategorien zu entwickeln, das heißt, sich selbst und die Umwelt inmitten aller Veränderungen zu verstehen. In diesem Sinne gibt es auch kein vom Körper losgelöstes Denken: Alle seelischen und geistigen Prozesse sind »embodied«, das heißt an Informationsaufnahme und -verarbeitung des gesamten Körpers gebunden (vgl. dazu auch Passolt 2004). Diese Konzeptualisierungen führen zu spannenden theoretischen Debatten, zum Beispiel zu der These von Antonio Damasio, dass der klassische Descartsche Dualismus hier Körper – da Seele in diesem Sinne überholt ist: Körper und

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Seele bilden eine untrennbare Einheit. Daher irrte Descartes, so Damasio (vgl. Damasio 1994). Wie Gerald Hüther und unsere Forschungsgruppe in ihren Beiträgen in diesem Band diskutieren, sind diese Konzeptualisierungen aber auch für den praktischen Umgang mit Kindern als Eltern, Erzieher und Therapeuten entscheidend. So konnte die Forschungsgruppe von Hüther, Darwis, Moll et al. zeigen, dass die Ausreifung der dopaminergenen Projektionen im sich entwickelnden Gehirn bis zur Pubertät nicht abgeschlossen ist (Moll et al. 2000) und diese durch psychosoziale, pädagogische und therapeutische Einwirkungen relativ gut beeinflussbar sind. In anderen Worten können fehlgelaufene Entwicklungen – neurobiologisch und psychisch – durch geeignete, adäquatere Beziehungs- und Umwelterfahrungen noch weitgehend korrigiert oder wenigstens abgemildert werden. Diese Chance wird durch eine ausschließlich medikamentöse Behandlung, die aufgrund des veralteten »Maschinenmodells« des Gehirns einen postulierten Defekt pharmakologisch auszugleichen versucht, weitgehend vergeben. Hüther folgert nach der Zusammenfassung vieler neurobiologischer Studien mit seiner Forschungsgruppe: »Diese Verhaltensauffälligkeiten der unter überstarker Stimulation (Überreizung) aufgewachsenen Versuchstiere gleichen in vieler Hinsicht den bei ADHS-Kindern beschriebenen Symptomen. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Kinder aufgrund ungünstiger Entwicklungsbedingungen (mangelnder Reizschutz, unsichere Bindungsbeziehungen, Über- oder Unterforderung, psychosoziale Schwierigkeiten) ein zu stark ausgebildetes, antriebssteuerndes dopaminerges System entwickeln (übermäßiger Antrieb ›sensationseeking-behavior‹, unzureichende Ausreifung exekutiver frontokortikaler Kontrollfunktionen). Diese Fehlentwicklungen müssten durch geeignete Frühinterventionsmaßnahmen (verbesserter Reizschutz, sichere Bindungsbeziehung, Strukturierung des Tagesablaufs etc.) vermeidbar sein« (S. 12 des gemeinsamen Forschungsantrags). Genau dies versuchen wir in der Frankfurter Präventionsstudie. Statt möglichen neurobiologischen oder psychischen Defiziten ausschließlich mit medikamentösen Behandlungen zu begegnen, versuchen wir mithilfe pädagogischer und psychoanalytischer Be-

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ziehungsangebote, dem betroffenen Kind (beziehungsweise seinem Gehirn) die Chance zu geben, fehlgeleitete Bindungs- und Beziehungserwartungen durch neue, adäquatere Erfahrungen zu korrigieren und dadurch der Selbst- und Identitätsentwicklung des Kindes eine andere Richtung zu geben. Nehmen wir Hüthers Forschungsergebnisse ernst, bedeutet dies gleichzeitig, neurobiologisch fehlgeleitete Verknüpfungen in den neuronalen Netzwerken der Kinder zu schwächen und stattdessen neue, adäquatere neuronale Verknüpfungen zu unterstützen. Solche Chancen können verpasst beziehungsweise nicht optimal genutzt werden. Diese Gefahr haben wir im Auge, wenn wir von einer »Medikalisierung1 sozialer Probleme« sprechen (vgl. Amft 2003 und die Beiträge von Amft, Gerspach und Mattner in diesem Band). Eine medikamentöse Behandlung kann, wie viele Autoren und Autorinnen dieses Bandes betonen, oft eine wichtige Maßnahme sein, um psychische und psychosoziale Eskalationen 1 Damasio (1994, S. 351f.) thematisiert diese Gefahr ebenfalls, wenn er schreibt: »Ich denke, die Neurobiologie und die Medizin müssten höchste Anstrengungen unternehmen, um Leiden der oben beschriebenen Art zu lindern. Ein ebenso wichtiges Anliegen der biomedizinischen Bemühungen müssten die Leiden bei Geisteskrankheiten sein. Doch was man gegen das Leid tun kann, das aus persönlichen und sozialen Konflikten außerhalb des medizinischen Sektors erwächst, ist eine ganz andere und völlig offene Frage. Gegenwärtig ist der Trend zu beobachten, überhaupt keinen Unterschied zu machen und jeglichem Unbehagen mit medizinischen Mitteln zu Leibe zu rücken. Die Vertreter dieser Richtung führen ein bestechend klingendes Argument ins Feld. Wenn beispielsweise ein Anstieg der Serotoninkonzentration nicht nur Depressionen lindert, sondern auch Aggressionen dämpft, die Schüchternheit reduziert und das Selbstbewusstsein stärkt, warum soll man sich dann diesen Umstand nicht zunutze machen? Muss man nicht ein schlimmer Spielverderber und Puritaner sein, um einem Mitmenschen die Vorzüge aller Wundermittel vorzuenthalten? Das Problem liegt natürlich darin, dass die Situation aus vielen Gründen nicht so eindeutig ist. Erstens sind die langfristigen biologischen Wirkungen der Medikamente unbekannt. Zweitens wissen wir nicht, welche Folgen eine gesellschaftlich so verbreitete Medikamentenverwendung hätte. Drittens und vielleicht am wichtigsten: Wenn die vorgeschlagene Lösung für individuelles und soziales Leiden die Ursachen für individuellen und sozialen Konflikt außer acht lässt, dann dürfte sie nicht lange Bestand haben. Vielleicht behandelt sie ein Symptom, aber an den Wurzeln der Krankheit verändert sie nichts.«

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zu unterbrechen und soziale Stigmatisierungen bis hin zum Ausschluss des Kindes aus dem Kindergarten oder der Schule zu verhindern (vgl. Aussagen der Erzieherinnen der anfangs erwähnten Kinder, sie seien für die Einrichtungen »nicht mehr tragbar«). Allerdings wird aus psychoanalytischer und neurobiologischer Sicht dem Kind dadurch keine Möglichkeit der Entwicklung innerer Selbststeuerungsprozesse zum Umgang mit seinen Affekten, Impulsen und Konflikten gegeben: Dies kann nur durch einen verstehenden Zugang zum Kind in empathischen, tragfähigen emotionalen Beziehungen geschehen. Wir wissen, dass dies ein anspruchsvolles, zeitaufwendiges und immer wieder neu ins Bewusstsein von uns allen zu hebendes Faktum ist. Viele empirische und klinische Erfahrungen scheinen dafür zu sprechen, dass sich dieser Aufwand lohnt. Die kindliche Seele und das kindliche Gehirn sind noch derart plastisch, anpassungs- und lernfähig, dass auch schwere frühinfantile Traumatisierungen durch korrigierende emotionale Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensjahren in ihrer Wirkung relativiert und die weitere Entwicklung in eine progressive Richtung gelenkt werden kann. Dabei ist der Aufwand, verglichen mit Verhaltensänderungen bei Erwachsenen, relativ gering, eine enorme Chance für Frühpräventionen und -interventionen! Um dies nochmals pointiert auszudrücken: Medikamente stellen eine letzte Notlösung dar, sie bieten aber, so unsere Auffassung, keine kausale Lösung des psychischen Entwicklungsdefizits an. Zudem vermitteln sie dem Kind, wie ebenfalls verschiedene Autoren dieses Bandes ausführen, eine zentrale Botschaft: »Du bist für dich und deine soziale Umgebung nur zu ertragen, wenn du Medikamente nimmst und auf diese Weise einen Defekt in deinem Gehirn ausgleichst« (vgl. dazu Dammasch in diesem Band). Was bedeutet eine solche Stigmatisierung für die betroffenen Kinder und ihr Vertrauen in sich und unsere gemeinsame Zukunft? Prävention ist – wie Bürgin und viele andere in diesem Band aufzeigen – zu einem vordringlichen Problem in unseren globalisierten, multikulturellen Industriegesellschaften geworden. Die Jugendunruhen in den Pariser Vorstädten im Jahr 2005 gemahnen uns in dramatischer Weise daran, welche Auswirkungen eine nicht gelingende Integration von Einwanderern und Verlierern der ge-

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sellschaftlichen Entwicklungen haben können. Daher berichten wir in diesem Band von konkreten, noch laufenden Projekten der Frühprävention. Hans von Lüpke fasst in seinem Beitrag die theoretischen Grundlagen aller dieser Frühpräventionsbemühungen nochmals aus einer etwas anderen Perspektive zusammen, als dies hier einführend skizziert wurde, bezieht sich allerdings dabei vorwiegend auf analoge empirische und klinische Arbeiten zu frühen Objektbeziehungen. Er hebt vor allem die Relevanz früher Präventionen hervor, um entgleisende Dialoge zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen zu verhindern. So sieht er das ADHS-Verhalten vieler Kinder unter anderem als Folgeprobleme nicht gelungener dialogischer Erfahrungen: »das von sozialer Wechselseitigkeit abgekoppelte und durch hyperaktive Selbstbestätigung charakterisierte Verhalten vieler Kinder mit der Diagnose ›AD(H)S‹ kann als Hinweis auf einen entgleisten Dialog verstanden werden. Hyperaktivität wäre ein verzweifelter Versuch, den Stillstand nach dem Entgleisen durch Bewegung aufzuheben. Vermehrtes und schwer beeinflussbares Schreien in der Säuglingszeit als Ausdruck von Dialogproblemen scheinen frühe Warnhinweise auf das Risiko für ein späteres ›AD(H)S‹ zu sein […] Prospektive Studien […] haben bei Überprüfung von 40 auf das Kind bezogenen Untersuchungskriterien ergeben, dass allein die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion beim sechs Monate alten Säugling verlässliche Vorhersagen für das Risiko eines AD(H)S ermöglicht. Die entscheidenden Kriterien waren dabei ein überstimulierendes und eindringendes (intrusive) Verhalten bei den Eltern (vgl. Spitz: überbehütendes Elternverhalten!) sowie Beziehungsprobleme und mangelnde Unterstützung der Eltern (der alleinstehenden Mutter). Die Bedeutung dieser Faktoren zeigte sich auch daran, dass Unterstützung der Eltern und Verbesserung der Beziehungssituation zugleich die sicherste Vorhersage für eine Veränderung der Problematik beim Kind darstellten« (S. 184f. in diesem Band). Bernd Henke schildert die Anlage und erste Ergebnisse des Hamburger Frühpräventionsprojekts, das sich einer solchen Zielsetzung widmet. Er arbeitet mit Problemfamilien und versucht vor allem die psychische Situation der Eltern und ihre Beziehungssitu-

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ation zu verstehen und dadurch zu verbessern. Zudem entwickelt er in seinem Beitrag eine eigene Sichtweise charakteristischer Merkmale psychodynamischer Konflikte in den so genannten ADHS-Familien. An einem ausführlichen Fallbeispiel fasst er die dafür relevanten klinischen Beobachtungen zusammen. Unsere eigene Forschungsgruppe berichtet in ihrem Beitrag von dem Design, der Basiserhebung und psychoanalytisch begründeten Bausteinen eines Präventions- und Interventionsprogramms, wie sie in der noch laufenden Frankfurter Präventionsstudie zur Anwendung kommen (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. in diesem Band). Auch sie widmet sich dem Versuch, durch ein Angebot an so genannte Problemfamilien entgleisende Dialoge innerhalb der Familie selbst, aber auch zwischen der Familie und den Kindertagesstätten – und damit befassten Fachleuten – zu erkennen und entsprechende Unterstützungen anzubieten. In dieser Studie kommt auch das wohl bekannteste Gewaltpräventionsprojekt auf psychoanalytischer und familientherapeutischer Basis – FAUSTLOS – zur Anwendung und wird mit den anderen, psychoanalytisch orientierten Präventionsmaßnahmen auf neue Weise verbunden. Meist wird sonst FAUSTLOS als eigenes zweijähriges Gewaltpräventionsprogramm in Kindergärten und Grundschulen eingesetzt, wie Manfred Cierpka in seinem Beitrag zeigt. Er beschreibt die Entstehung dieses Programms sowie die empirische Überprüfung seiner Wirksamkeit, die vor allem in US-amerikanischen Studien vorgelegt wurde. In der Frankfurter Präventionsstudie setzen wir bewusst FAUSTLOS erst im zweiten Projektjahr ein, nachdem durch die regelmäßige Supervisionen der Erzieherinnen und die anderen Bausteine des Projekts die Sensibilität für einen verstehenden, ganzheitlichen (psychoanalytischen) Zugang zu so genannten Problemkindern und ihrer Familien gefördert wurde. Wir denken, dass auf dieser Grundlage ein mechanistischer Einsatz von FAUSTLOS, im Sinne einer »Technik der Verhaltensbeeinflussung«, verhindert werden kann, wie er in manchen Praxisfeldern zu beobachten ist, die aber der Anlage dieses Gewaltpräventionsprogramms widerspricht (vgl. dazu Cierpka et al. in diesem Band). In all den erwähnten Präventionsprojekten finden sich Umsetzungen der psychoanalytischen Konzeptionen, die – in etwas an-

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derer Weise als Hans von Lüpke – Dieter Bürgin in seinem Beitrag zur Gewaltprävention als Übersicht präsentiert und mit einem Beispiel eines hyperaktiven, aggressiven Jungen sowie anhand des Theaterstück »Die Gerechten« von Camus illustriert. So zeigen alle Fallbeispiele dieses Bandes exemplarisch die Vielzahl bedeutsamer Faktoren im komplexen Zusammenspiel genetischer, (neuro)biologischer und früher Beziehungseinflüsse in den individuellen Biografien jedes einzelnen Kindes. Weiter sind es Spezifika in der aktuellen Familiensituation, den Bildungsinstitutionen und gesellschaftlichen Realitäten der »veränderten Kindheit«, die alle zusammen beim Zustandekommen der Symptome von ADHS beteiligt sein mögen. Die unbestrittene Zunahme von Kindern, die an solchen Symptomen heute leiden, fordert zu neuem Verstehen und Deuten ihrer vielschichtigen psychischen und psychosozialen Situation heraus. Wird diese Einsicht als gemeinsame Verantwortung gegenüber der heranwachsenden Generation – unserer aller Zukunft – verstanden, mag sie dazu beitragen, fruchtlose konfrontative Debatten zwischen Disziplinen zu überwinden und über den ärztlichen und psychotherapeutischen Rahmen hinaus auch die Kooperation mit anderen beteiligten Berufsgruppen – insbesondere Erziehern und Lehrerinnen – zu suchen, wie wir dies in der »Frankfurter Präventionsstudie« versuchen. Wir hoffen, zu einem produktiven Dialog zwischen verschiedenen Berufs- und Expertengruppen im Umgang mit den so genannten ADHS-Familien beizutragen und drohenden Entgleisungen professioneller Dialoge durch falsche Polarisierungen entgegenzuwirken. Allerdings dürfen diese wünschenswerten Dialoge und erforderlichen Kooperationen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und wissenschaftlichen Disziplinen nicht zur Verleugnung von wesentlichen Unterschieden in ihren erkenntnistheoretischen, wissenschaftlichen und praktischen Grundannahmen und darauf basierenden Konzeptualisierungen und Zugangsweisen führen. Klarheit muss vor allem über die Zielsetzung von Diagnose, Prävention und Intervention bei Kindern und Jugendlichen, die an ADHS-Symptomen leiden, bestehen: Geht es lediglich um optimale Anpassung an die Erwartungen der Familie, der Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft im Allgemeinen oder steht die in-

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dividuelle Hilfe für ein Kind und seiner Familie in einer belasteten Lebenssituation und die Linderung seiner psychischen Not im Zentrum des Bemühens? Geht es um den Blick für die Gefährdung seiner psychischen Entwicklung, der Entfaltungsmöglichkeiten seines unverwechselbaren Selbst, seiner einzigartigen kindlichen Persönlichkeit und um die Sorge einer drohenden sozialen Isolation und Stigmatisierung, als einer Quelle späterer Gewalt gegen das Selbst oder andere? Soll schnelle Abhilfe für Unbequemes, Anstrengendes und sozial Abweichendes geschaffen werden oder wird die immer größer werdende Vielfalt und Diversifizierung des Aufwachsens in unserer multikulturellen, globalisierten Welt als gemeinsame Herausforderung von uns allen verstanden? Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Autoren dieses Bandes ist ihre gemeinsame Botschaft, wie wichtig und Erfolg versprechend Frühprävention und -intervention bei Kindern mit ADHS-Symptomen ist. Ebenfalls geteilt wird die Auffassung, dass ein verstehender Zugang zu den einzelnen Kinderschicksalen für eine solche früher Verhinderung oder Behandlung von ADHS unverzichtbar ist. Psychoanalytisch orientierte Präventions- und Interventionsansätze stehen paradigmatisch für einen solchen verstehenden Zugang. Doch finden sich auch in den anderen in diesem Band vertretenen Zugangsweisen Ansätze davon. So unterscheidet sich zum Beispiel eine medikamentöse Therapie, die lediglich die Korrektur einer Hirnstoffwechselstörung im Auge hat und das Medikament analog zum Insulin bei Diabetes einsetzt, wesentlich von einer Medikamentengabe, die im Kontext der ärztlich- therapeutischen Beziehung aus dem Verständnis für eine Notsituation heraus verschrieben wird, wie sie verschiedene Autoren dieses Bandes vertreten. Medikamente stellen für sie zuweilen die einzige im Augenblick wirksame Hilfe dar, die eine Eskalation oder Patt-Situation vorerst einmal durchbrechen und einen Spielraum eröffnen kann, der daraufhin zu einer sorgfältigen Analyse der komplexen psychischen und psychosozialen Situation eines bestimmten Kindes und seiner Familie – und darauf aufbauende nichtmedikamentöse, therapeutische oder pädagogische Hilfestellungen – befähigt. Entscheidend bei diesem dialogisch- verstehenden Zugang ist dabei übrigens nicht das »richtige«, »eindeutige« und »abschließende« Verstehen, sondern die Bereitschaft, sich in

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der Beziehung zum Kind immer wieder auf neue Fragen einzulassen und sich der damit verbundenen Unruhe auszusetzen – jener Unruhe, die eine verborgene Triebfeder auch jener Kinder sein könnte, die wir mit der Diagnose ADHS etikettieren. Mit der Hoffnung, dass ein solcher dialogisch-verstehender Umgang mit ADHS-Kindern bei verschiedenen Berufsgruppen verstärkt werden kann, verbindet sich auch die Zusammenstellung des breiten Spektrums der Beiträge. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die sich mit ihren Beiträgen zu diesem individuell, institutionell und gesellschaftlich aktuellen und brisanten Thema an diesem Band beteiligen. Unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Sigmund-Freud-Institut, vor allem Renate Stebahne, Marion Ebert-Saleh und Herbert Bareuther, danken wir ganz herzlich für die professionelle und freundschaftliche Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Publikation. Zudem danke ich Prof. Dr. Ariane Garlichs, Dr. med. Hans von Lüpke sowie meinen beiden Mitherausgebern, Dr. Yvonne Brandl und Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther für die kritische Lektüre erster Fassungen dieser Einleitung. Doch vor allem danke ich den Eltern und Erzieherinnen und Erziehern der 14 Frankfurter Kindertagesstätten, den Mitarbeiterinnen des Städtischen Schulamts, Monika Berkenfeld und Elke Kronenberger, sowie der Schuldezernentin, Jutta Ebeling, für das Vertrauen, dass sie uns die Türen zur ihren Bildungsstätten geöffnet haben und mich – in vielen Supervisionen und nachdenklichen Gesprächen – an vielen berührenden Kinderschicksalen hier in Frankfurt teilnehmen ließen. Zudem könnten wir ohne die professionelle Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichentherapie und ohne das enorme Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Frankfurter Präventionsstudie diese anspruchsvolle Untersuchung nicht durchführen.

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■ Dramatische Zunahme von ADHS: Indikator für »veränderte Kindheiten« und/oder einer »Medikalisierung des Sozialen«?

■ Dieter Mattner

ADS – die Biologisierung abweichenden Verhaltens

■ Das »Andere der Normalität« aus biologistischer Perspektive Anfang der achtziger Jahre mehrten sich Hinweise darauf, dass Kinder insbesondere in institutionellen Zusammenhängen zunehmend typische Verhaltensstörungen wie einen Überschuss an motorischen Bewegungen (Hyperaktivität) und spezifische Aufmerksamkeitsstörungen zeigten, die weitere Begleitstörungen im psychosozialen Bereich zur Folge haben sollten (vgl. Steinhausen 1982, S. 11ff.; Oehler 1990, S. 145ff.). Das Hauptproblem schien darin zu bestehen, wie allenthalben beklagt wurde, dass betroffene Kinder aufgrund der vermuteten zerebralen Steuerungsinsuffizienz daran gehindert würden, sich in Lernsituationen auf den anzueignenden Lernstoff zu konzentrieren, worauf die im Zusammenhang des »Hyperkinetischen Syndroms« (HKS) genannten Symptome hinweisen. Dieser Bezug wird besonders im Zusammenhang mit den in der international gebräuchlichen »Klassifikation psychischer Störungen« (ICD-10) genannten Abweichungen deutlich. Dort werden unter dem Begriff »hyperkinetische Störungen« Leitsymptome aufzählt, wie ein »Mangel an Ausdauer bei

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Dramatische Zunahme von ADHS

Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen, beziehungsweise eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität« (Dilling et al. 1992, F90). Noch deutlicher wird dies im »Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen« (Sass et al. 1996) der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung, wenn dort als diagnostisches Kriterium für »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung« unter dem Stichwort »Unaufmerksamkeit« unter anderem folgende schulleistungsbezogene beziehungsweise behaviorale Normverstöße aufgezählt werden: »(a)beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten, (b) hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten, (c) scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen, (d) führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig aus und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder Verständnisschwierigkeiten), (e) hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren, (f) vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben)« (Sass et al. 1996, S. 122). Als weiteres differenzialdiagnostisches Kriterium einer nicht näher bezeichneten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung werden dort unter dem Unterpunkt »Störungen des Sozialverhaltens« im Zuge einer »Antisozialen Persönlichkeitsstörung« die so genannten »Störungen mit Oppositionellem Trotzverhalten« genannt, die sich primär im »Ungehorsam und Widerstand gegen Autoritätspersonen« äußerten (Sass et al. 1996, S. 128). Der aufgezeigte Symptomkatalog (Syndrom) zeigt sehr deutlich das Hauptvergehen betroffener Kinder auf. Sie scheinen nicht in

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der Lage, die Grundbedingungen zur adäquaten Aneignung des institutionell geforderten Lernstoffs bereitstellen zu können. Der beschriebene Symptomkomplex offenbart im Umkehrschluss allerdings auch ein implizites Normalitätsverständnis, das auf das spezifische Kompetenz- beziehungsweise Persönlichkeitsprofil des »gesunden Normalschülers« verweist, der sich durch optimale Steuerung des Verhaltens auszeichnet und sich eben nicht durch »unvorhersehbare Affektschwankungen« in Lernsituationen irritieren lässt. Bis Ende der achtziger Jahre wurde diese Verhaltensproblematik meist auf eine so genannte »minimale zerebrale Dysfunktion« (MCD) zurückgeführt, der im Lauf der Jahre ein anwachsender Symptomkomplex zugeordnet wurde. Eine Mitte der achtziger Jahre durchgeführte Untersuchung zeigte sehr deutlich, wie der im Zuge des MCD-Konzepts anwachsende sekundäre Symptomkomplex im so genannten affektiv-emotionalen Bereich geradezu inflationäre Ausmaße annahm (vgl. Bauer 1986, S. 66). Unter anderem wurde dort das so genannte Oppositionsverhalten genannt, das auch in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten durch die WHO als »oppositionelles, aufsässiges Verhalten« (oppositional defiant disorder) im Bereich der »Störungen des Sozialverhaltens« gefasst ist. Als primäre Ursache (Primärstörungen) der genannten Verhaltensproblematik wurde eine zerebral bedingte innere Steuerungsinsuffizienz angenommen. Diese Hypothesen waren nicht neu. Sie wurden im Grunde lediglich mit einem anderen Namen versehen, und man suchte damit, wie dies immer wieder geschah, andere terminologische Zuschreibungen abzulösen beziehungsweise inhaltlich neu zu fassen, wie: »Encephalopathische Psychopathie« (Enke 1953), »Encephaloperoma infantum«, »hirnorganisch-psychisches Achsensyndrom« (Göllnitz 1954), »frühkindliches exogenes Psychosyndrom« (Lempp 1970), »frühkindliches psychoorganisches Syndrom« (POS) (Ruf-Bächtiger 1987), »Teilleistungsstörung« beziehungsweise »Teilleistungsschwäche« (Berger 1977) oder, wie in jüngerer Zeit, ein so genanntes »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom« (ADS). Das MCD-Konzept wurde im Zuge der benannten Verhaltensproblematik am häufigsten bemüht und meist synonym zum Hyperkinetischen Syndrom gebraucht, beziehungsweise wurde das

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HKS-Problem auf eine minimale zerebrale Dysfunktion zurückgeführt. Man bediente sich hier gewissermaßen eines semantischen Tricks, indem man konnotativ auf eine diffuse insuffiziente zerebrale, eben »dysfunktionale« hirnorganische Basis verwies, die ätiologisch nicht (mehr) näher zu verifizieren war. Man bezog sich damit auf den in den vierziger Jahren festgestellten Zusammenhang von hyperkinetischem Verhalten und einer damit verbundenen neurologischen Verursachung im Sinne einer »minimalen Zerebralschädigung«, wie sie in den vierziger Jahren bei postenzephalitischen Kindern festgestellt wurde (vgl. Esser u. Schmidt 1987, S. 1f.). Aufgrund des fehlenden Nachweises einer mit der Symptomatik korrelierenden Hirnschädigung wurde 1966 ein Begriffswechsel vollzogen. Man sprach nun nicht mehr von einer »minimaler Zerebralschädigung«, sondern von der »minimalen zerebralen Dysfunktion«. Neurophysiologische Untersuchungsmethoden konnten die angenommenen zerebralen Funktionsstörungen weder bestätigen noch ausschließen. Es zeigte sich vielmehr, dass EEG-Anomalien bei so genannten MCD-Kindern nicht häufiger als bei anderen Diagnosegruppen nachweisbar waren. Dies wurde ausdrücklich von kinder- und jugendpsychiatrischer Seite auch für das so genannte Hyperkinetische Syndrom bestätigt (vgl. Steinhausen 1982, S. 15; Esser u. Schmidt 1987; Oehler 1990). Insbesondere fehlt hier bis heute der empirische Beleg der seit den siebziger Jahren postulierten Theorie einer vorliegenden biochemischen Störung der synaptischen Überträgersubstanzen des Gehirns. Trotz dieser fehlenden Belege hielt sich bislang – besonders in populärwissenschaftlichen Publikationen zum ADS-Konzept – weiterhin die Hypothese einer primären hirnorganischen Verursachung. Hauptverantwortlich für diese Störung bleibt in dieser Logik meist eine diffuse hirnorganische Funktionsstörung beziehungsweise ein durcheinander geratener Dopamin-Stoffwechsel im Synapsenraum, der schließlich zu einer psychologischen Fehlsteuerung führen soll, die sich in einer dem Syndrom zuzuordnenden Verhaltensstörung äußere. Darauf schien besonders die Annahme einer genetischen Disposition aufgrund des überproportional hohen Anteils von hyperkinetischen Jungen hinzuweisen. Dies wurde unter anderem darin begründet, dass in Familien

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mit hyperkinetischen Kindern andere Familienmitglieder ebenfalls von diesem Problem betroffen waren oder dass bei diesen Familien eine erhöhte Anzahl von Alkoholikern, dissozialen Persönlichkeiten und bei Frauen hysterische Störungen festgestellt werden konnten. Besonders interessant war und ist nach wie vor der in diesem Zusammenhang konstatierte Hinweis, dass HKSKinder besonders in »sozial benachteiligten Schichten« anzutreffen seien (vgl. Eichlseder 1992, S. 82ff.).

■ Das biologistische Normalitätsverständnis Auffällig an diesen neurobiologischen Konzeptionen bleibt bis heute, dass innerhalb der diagnostischen Blickreduzierung dieser Konzeptionen die oftmals als problematisch erkannten psychosozialen Lebenshintergründe von betroffenen Kindern als mögliche primäre Verursachungen der Verhaltensprobleme weitestgehend bewusst ausgeblendet bleiben. In der biologistisch-monokausalen Argumentationslogik haben diese Verursachungsfaktoren lediglich »verstärkende Wirkung«, wie dies übrigens auch immer wieder im Zusammenhang des ADS-Konzepts betont wird (vgl. Eichlseder 1992, S. 97; Aust-Claus u. Hammer 1999). Das heißt konkret: Der als problematisch erkannte psychosoziale Lebenshintergrund dient hier paradoxerweise als diagnostischer Beleg einer hirnorganischen Funktionsstörung, da generell von einer Dunkelziffer von diagnostisch nicht erfassten Kindern mit entsprechenden hirnorganischen Dispositionen ausgegangen wird, die in »Normalfamilien« mit optimaler psychosozialer Versorgung unauffällig bleiben sollen. Demnach gibt es in dieser Logik gewissermaßen eine größere Anzahl von Kindern mit (diagnostisch nicht feststellbaren) hirnorganisch bedingten Verhaltensdispositionen, die »normalgesunden« Kindern ähneln, aber im eigentlichen Sinne nicht gesund sind. Die biologistische Argumentationsstrategie verstrickt sich hier in kaum auflösbare Widersprüche, da sie offensichtlich aufgrund der paradigmatischen Fixierung bezüglich menschlicher Konstituierungsprozesse stringent auf ein mehr oder weniger insuffizientes

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Organsubstrat verweisen muss, wodurch es kaum noch möglich scheint, »normales« Verhalten zu definieren, weshalb auf diese Weise sämtliche unerwünschten Verhaltensweisen in die organpathologische Blickperspektive zu geraten drohen. Im MCDKonzept erschienen zum Beispiel Umwelteinflüsse als alleinige Verursachung schon deswegen möglich, »weil ungünstige und deprivierende Sozialisationsbedingungen nachweislich zu Auffälligkeiten führen können, die denen einer MCD entsprechen oder sehr ähnlich sind« (Bauer 1986, S. 37). Zudem sollten bei bereits vorherrschender MCD-Problematik ungünstige sozioökonomische Faktoren wie »Schichtzugehörigkeit, Beruf, Familienverhältnisse« und damit verbundene Erziehungsstile den Verlauf der Krankheit ungünstig beeinflussen, andererseits sollte sich auch hier ein MCD-Kind »in einer harmonischen und entwicklungsfördernder Umwelt […] völlig unauffällig entwickeln« können (S. 36f.). Wie sollen soziale Einflüsse, so muss man sich fragen, eine zerebrale Dysfunktion, die, wie allenthalben eingeräumt wurde, diagnostisch nicht zu belegen ist, beeinflussen können? Und – so muss man sich weiter fragen – was ist unter einem »völlig unauffällig entwickelten MCD-Kind« zu verstehen? Oder bedeutet dies, dass es nach diesem Verständnis »unauffällig« entwickelte MCD-Kinder gibt, die »normalen« Kindern ähneln, beziehungsweise »auffällig« entwickelte MCD-Kinder, die, weil sich die Verhaltensauffälligkeiten gleichen, sozial deprivierten Kindern ähnlich sind? Demnach konnten mit dem MCD-Konzept alle Verhaltensbesonderheiten bis hin zum so genannten unauffällig-normalen Verhalten »auf Grund der oftmals nur geringen Ausprägung« und der dadurch bedingten fließenden Übergänge zum Normalen auf eine minimale zerebrale Dysfunktion zurückgeführt werden (Bauer 1986, S. 75). Bei näherer Analyse des impliziten Menschenbildes der genannten biologistischen Konzeptionen offenbart sich eine spezifisch biologistische Vorstellung menschlicher Subjektivität, mit der im Zuge der beobachtbaren Verhaltensabweichungen (Syndrom) generell davon ausgegangen wird, eine innere (zerebrale) Regulations- beziehungsweise Steuerungsinsuffizienz verarbeite die äußeren Stimuli (Input) fehlerhaft und veranlasse den betroffenen

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Menschen zu inadäquaten Verhaltensantworten (Output). Verantwortlich ist dort lediglich eine organisch bedingte »Aktivitäts- und Antriebsstörung« beziehungsweise »Affektkontrolle« im Sinne einer mangelnden Anpassung zentralnervöser Prozesse an situative Gegebenheiten (vgl. Lempp 1970, S. 112ff.; Bauer 1986, S. 57f.). Aus dieser biologistischen Normalitätsperspektive sind Verhaltensbesonderheiten und Lernbeeinträchtigungen tendenziell ein Indiz für Abweichungen von einer adäquat funktionierenden biologischen Norm. Es offenbart sich damit ein Subjekt- und Normalitätsbegriff, mit dem davon ausgegangen wird, Menschen mit einer »gesunden« zerebralen Ausstattung passten sich »adäquat« an die Gegebenheiten (Stimuli) der Realität an, verhielten sich demgemäß mehr oder weniger ähnlich (eben »normal«), womit im Umkehrschluss vermutet werden darf, Verhaltensabweichungen von dieser Norm seien auf pathologische Veränderungen im menschlichen Gehirn zurückzuführen. Mit diesem Normalitätsbegriff wird gleichzeitig ein reduktionistisches Verständnis menschlicher Wahrnehmungsvorgänge transportiert, wonach der Mensch gewissermaßen neutrale Stimuli einer objektiv gegebenen Welt empfängt, auf die er quasi reflektorisch antwortet. Wahrnehmungsempfindungen sind in diesem empiristischen Verständnis bloße Abbildungen einer objektiv gegebenen Realität, die im Inneren des Wahrnehmungssubjekts kausal-linear verarbeitet werden. Der Mensch erscheint hier als ein informationsverarbeitendes Aggregat, das sich mit objektiv gegebenen Informationen laden lässt, die jederzeit als objektiv richtige, eben adäquate Antworten abrufbar sind. Auf dem Hintergrund dieses impliziten Menschenbildes kann man dann vom beobachtbaren anderen Umgang mit der Welt (scheinbares Desinteresse, Verhaltensbesonderheiten, Stereotypien, Tics etc.) generell auf eine zerebral bedingte pathologische Wahrnehmungsverarbeitung betroffener Menschen schließen. Und dies, obwohl seit den Erkenntnissen des Konstruktivismus bekannt sein müsste, dass das menschliche Wahrnehmungsgeschehen mehr als reine Datenerfassung einer objektiv gegebenen Realität beziehungsweise bloße Rezeption von Sinnesdaten ist (vgl. Mattner 1997, S. 62ff.). Die Grundproblematik des biologistisch-materialistischen Normalitätsverständnisses liegt jedoch darin, das Problem Verhaltensauf-

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fälligkeit lediglich monokausal, eben biologistisch zu erfassen, womit sich eine medikamentöse Behandlung des ungesteuerten, »Un-Sinn« produzierenden Kindes geradezu aufdrängt, um über die pharmakologische Korrektur der scheinbar insuffizienten zerebralen Steuerungsmechanismen einen wünschenswerten normalen, »adäquaten« Verhaltenszustand erreichen zu wollen. Insofern ist es eine logische Schlussfolgerung, dass die medikamentöse Behandlung zur Steuerung kindlichen Verhaltens heute eine immer breitere Anwendung findet. So wurde bereits in einem im Jahr 2001 erschienenen Zeitungsartikel mit dem Titel »Hyperaktive Kinder bekommen immer häufiger Psycho-Pillen« darauf hingewiesen, dass nach Mitteilungen des Gesundheitsministeriums der Verbrauch von Ritalin® bei Kindern, die unter dem »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)« litten, zwischen 1997 und 2000 auf 270 Prozent angestiegen sei, was seitens des Ministeriums als äußerst bedenklich eingeschätzt wurde (vgl. Amft et al. 2002). Es hat den Anschein, dass eine der wesentlichen Bemühungen dieser biologistischen Konzeptionen zur Erklärung individueller menschlicher Lebenserscheinungen primär darin besteht, an der einmal gewählten monokausalen biologistischen Argumentationslogik unbedingt festhalten zu wollen, obschon allenthalben eingeräumt wird, dass der Nachweis einer hirnorganischen Verursachung nach wie vor nicht erbracht ist. Dennoch ist mittlerweile eine kaum noch zu überschauende Flut von wissenschaftlichen Veröffentlichungen erschienen, in denen über bestimmte Veränderungen einzelner neurobiologischer Parameter berichtet wird, die für das auffällige kindliche und mittlerweile erwachsene Verhalten verantwortlich sein sollen. Dabei erliegen viele Autoren immer wieder der Versuchung, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen neuropsychologischen Parametern und der spezifischen Verhaltensstruktur zu konstatieren, obwohl bisher keinerlei stichhaltigen Belege hierfür vorliegen, wie dies erst wieder kürzlich am Beispiel eines so genannten ADHS-Jungen zu belegen versucht wurde (vgl. Hüther u. Bonney 2002; Fallgatter 2004). Offensichtlich liegt eine der meist unberücksichtigten Hauptschwierigkeiten dieser neurowissenschaftlichen Bemühungen darin, dass ein komplexes psychisches Geschehen, das sich in seiner Gesamtheit nicht

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neurologisch lokalisieren, verifizieren und auf ein eindeutiges funktionales Geschehen reduzieren lässt, mittels entsprechender exakter neuro-wissenschaftlich Forschungsmethoden aufgespürt werden soll. Es wird dabei allerdings übersehen, dass das psychische Geschehen einer anderen Bedeutungssphäre angehört als physikalisch-chemische Funktionsprozesse, weshalb psychische Phänomene in ihrer spezifischen Wesenheit und individuellen ontogenetischen Bedeutsamkeit offensichtlich naturwissenschaftlich unzugänglich sind (vgl. Mattner 1997). So lassen sich zwar die neurologischen Korrelate zu emotionalen Empfindungen und Sensationen nachweisen, aber sie sagen allein für sich betrachtet noch nichts darüber aus, wofür sie stehen und wodurch sie ausgelöst wurden, da die Auslöser für diese Empfindungen sehr vielfältig sein können und sich teilweise dem betroffenen Menschen selbst entziehen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass die Funktionsweise des menschlichen Gehirns nicht lokalistisch, sondern holistisch begründet ist, und es wohl zu vermuten ist, dass innerhalb des neurologischen Geschehens beim Menschen ein »selbstbewusster Geist«, wie Eccles die neurale Intentionalität im Gegensatz zu neueren deterministischen Modellvorstellungen charakterisiert, gewissermaßen selbst darüber entscheidet, was für ihn mehr oder weniger bewusst zur Bedeutung gelangt oder nicht (vgl. Eccles 1987, S. 428; Leuschner 2002, S. 111ff.; Singer 2002, 2003). Abhilfe aus der diagnostischen Notlage scheint hier der Syndrom-Begriff zu schaffen, mit dem ganz offensichtlich der Verzicht auf eine klare Ursachenforschung verbunden ist. Die unter dem Terminus »Syndrom« zusammengefassten abweichenden Verhaltensmerkmale ermöglichen es, im Sinne einer »Summationsdiagnose« hypothetisch, das heißt ohne nachweisbaren Befund, von einer zerebralen Verursachung ausgehen zu können, wenn sich diesem vorab definierten Abweichungskatalog bestimmte Verhaltensbesonderheiten eines Kindes zuordnen lassen. Das heißt: Mit der Verwendung des Terminus »Syndrom« wird durch die gewählte medizinische Semantik eine somatische Semantik assoziiert, ohne darauf explizit verweisen zu müssen. Damit bleibt die Beurteilung des kindlichen Verhaltens allerdings der diagnostischen Willkür des Betrachters ausgesetzt, der je nach subjektiver Ein-

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schätzung und legitimierter Deutungsmacht das Abweichende der Normalitätserwartung als pathologischen »Un-Sinn« abtun kann. Aus dieser Blickperspektive wird das Abweichende einer Erwartungs-Normalität als Symptom zum pathologischen »Un-Sinn«, der therapeutisch in seine normalisierenden Schranken zu verweisen ist. Im Gegensatz dazu wäre aus einer anthropologisch-sinnerschließenden Perspektive das »Andere der Normalität« vor jeglicher psychopathologischer Zuordnung etwas vorübergehend Unverstandenes, das heißt eben kein bedeutungsloses »Symptom« ohne individuellen Sinn, sondern möglicherweise ein individuellsymbolhaftes Bedeutungsphänomen, das auf den Lebenshintergrund betroffener Personen verweist. Das Symptom als das unverstandene Andere der Normalitätserwartung müsste hier als potenzielle »Selbstmitteilung« und damit als grundsätzlich sinnvolle Äußerung des betroffenen Kindes begriffen werden. Dieses Andere wäre demnach zunächst lediglich als eine Differenz zwischen einer Erwartungshaltung einer zur Definition Störung berechtigten Person zu begreifen, die sich der hermeneutisch-sinnverstehende vorgehende Diagnostiker im dialogischen Verstehensprozess sinnhaft zu erschließen hätte (vgl. Mattner 1997, S. 90ff.). Im anderen Fall würde die vorschnelle pathologische Zuschreibung, die von der »Bedeutungslosigkeit« eines gezeigten Verhaltens ausgeht, lediglich aus dem »Vor-Urteil« eines um Objektivität bemühten Diagnostikers resultieren, der dazu legitimiert ist, das für ihn Unverständliche als »Sinn-los« oder »krank« zu bezeichnen, es einem definierten Katalog des Un-Sinnigen zuzuordnen und schließlich mit einem jeweiligen Etikett (MCD, HKS, ADS etc.) zu versehen, auf das sich eine scientific community vorab einigte.

■ Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom Gegen Ende der achtziger Jahre zeichnete sich eine generelle Skepsis insbesondere gegenüber dem MCD-Konzept ab. Ein wesentlicher Grund hierfür war die inflationär anwachsende Diagnose »MCD«, die mittlerweile bis zu 70 Verhaltensauffälligkeiten zu

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dieser Syndromzuordnung erlaubte. Dies bedingte eine allgemeine diagnostische Unsicherheit, die es kaum noch erlaubte, »normales« Verhalten zu definieren, wodurch die Grenzziehung zwischen MCD und Nicht-MCD lediglich der individuellen Entscheidung des Klinikers überlassen blieb. Kinderpsychiatrische Untersuchungen, die Ende der achtziger Jahre an so genannten MCD-Kindern durchgeführt wurden, führten schließlich zum Resultat, dass die Hauptursachen der mit dem Etikett MCD versehenen Verhaltensabweichungen der untersuchten Kindern primär in psychosozialen Risikofaktoren zu suchen waren. Dies war wohl einer der Hauptgründe dafür, dass es in der Folge zu einem allgemeinen Rückgang der Diagnose MCD kam, um allerdings in einem weit größeren Ausmaß einer anderen biologistischen Etikettierung kindlicher Verhaltensbesonderheiten Platz zu machen (vgl. Biermann et al. 1981; Esser u. Schmidt 1987). Gemeint ist die in Anlehnung an die englische Bezeichnung »Attention Deficit Disorder« (ADD) benannte »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung« (ADHS), die sich umgangssprachlich als »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom« (ADS) durchgesetzt hat. Bei näherer Betrachtung wird auch hier deutlich, dass im Grunde lediglich das Etikett zur Bezeichnung eines altbekannten, sehr vertrauten Problems ausgetauscht wurde. Die primäre Ursache bleibt auch hier eine hirnorganisch verursachte Wahrnehmungs- beziehungsweise Informationsverarbeitungsstörung. ADSKinder sollen, wie gehabt, aufgrund einer hirnorganisch verursachten Verarbeitungsstörung beziehungsweise einer latenten biologischen Vulnerabilität, für die das betroffene Kind und sein soziales Umfeld nicht verantwortlich ist, nicht in der Lage sein, sich den Gegebenheiten ihrer (schulischen) Realität adäquat anzupassen und sich normal zu verhalten (vgl. u. a. Barkley 2002). Da die betroffenen Kinder nicht ruhig sitzen könnten, unkonzentriert seien, sich leicht ablenken ließen und keine Sache zu Ende bringen könnten, wirke sich das Problem insbesondere in schulischen Institutionen negativ aus. Eines ist allerdings neu: die Erweiterung des ADS-Syndroms um das Symptom Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, wodurch auch Kinder ohne Hyperaktivität (»Träumer«) darunter subsumiert werden können. Auf diese Weise ist das Syndrom inzwischen so weit aufgebläht, dass es die in-

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flationäre Symptomatik des MCD-Konzepts bei weitem übersteigt, wobei das ausufernde Syndrom des so genannten »ErwachsenenADS« hier noch nicht berücksichtigt ist (vgl. Aust-Claus u. Hammer 1999; Claus et al. 2002). Das Grundproblem der Kinder blieb demzufolge trotz neuer Etikettierung das gleiche: Sie verhalten sich nicht in der Weise, wie man es von ihnen seitens des Elternhauses und der Schule erwartet, und man macht dafür nach wie vor eine innere zerebrale Regulierungsinsuffizienz verantwortlich, den erwünschten »normalen« beziehungsweise »adäquaten« kindlichen Verhaltenszustand nicht abrufen zu können. Auch hier zeichnet sich im Zuge eines impliziten biologistischen Menschenbildes ein problematischer Normbegriff im Sinne einer Normalitätserwartung ab, dem die Prämisse zugrunde gelegt ist, dass Menschen, die sich im gesellschaftlichen Rahmen mehr oder weniger ähnlich verhalten, normal beziehungsweise gesund seien. Normalität ist hier völlig unkritisch als anthropologische Konstante biologistisch begründet und als solche mit der Forderung nach Normerfüllung verknüpft. Ein anderer Zugang zum Problemfeld Normalität als Anpassungsprozess an gesellschaftlich vorgegebenen Normen, der im Zuge der (Selbst-)Normalisierung vom jeweiligen Subjekt – unter Umständen zum Preis einer möglichen »Normalitäts-Pathologie« – zu leisten ist, bleibt hier paradigmatisch ausgeblendet (vgl. Link 1997, S. 29f.; Fromm 1955, S. 20ff.). Normalität im Sinne einer erwünschten Verhaltensnorm von Mitgliedern moderner Gesellschaften lässt sich, wie dies biologistische Konzeptionen zur menschlichen Subjektivität suggerieren, keinesfalls als naturhaft gegeben darstellen. Sie ist vielmehr eine perspektivische Größe, die im Zuge zivilisatorischer Prozesse hergestellt werden muss (vgl. Link 1997, S. 425). Wie Foucault darauf hinweist, ist die Konstituierung des »Normalen« einer »Normalisierungsgesellschaft«, die Internalisierung von gesellschaftlich erwünschten Normstrukturen, die Produktion der rational abwägenden normalisierten Subjektivität seit Beginn der Aufklärung in besonderen Disziplinarinstitutionen zu gewährleisten (vgl. Foucault 1981). Die Produktion der erwünschten Verhaltensstruktur der Mitglieder moderner Gesellschaften wird seither in dafür vorgesehenen Trainingszentren der staatlichen Institutionen (Kinder-

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garten, Schule) von frühester Kindheit an eingeübt und im günstigsten Fall auf Dauer verfestigt. Zur Erreichung dieser zivilisatorischen Ziele bedarf es hierzu spezifischer institutionalisierter Trainings-Räume beziehungsweise »Monopolinstitute«, die den heranwachsenden Menschen von Anfang an ein beständiges »Ansich-Halten« gewöhnen, um damit im günstigsten Fall per Introjektion die Umwandlung von äußeren Fremdzwängen in innere Eigenzwänge zu erreichen. Das ursprünglich angelegte Projekt der Aufklärung trifft hier auf das Bedürfnis eines differenzierten Gesellschaftssystems der Moderne, dem es offensichtlich immer wichtiger geworden ist, menschliches Verhalten kalkulierbar zu machen und in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht nach abstrakten Prinzipien zu ordnen. Ein sozialer Zwang zur Selbstbeherrschung, die Notwendigkeit der innerpsychischen Ausbildung einer stabilen, automatisch arbeitenden »Selbstkontrollapparatur« zur Beherrschung der ungezügelten Triebe, wurde so Bedingung des sozialen Miteinander (vgl. Elias 1977, S. 319ff.). Kinder, insbesondere Schulkinder, deren »Selbstkontrollapparatur« in diesem zivilisatorischen Prozess mehr oder weniger bewusst den Dienst versagt, geraten unter der biologistischen Perspektive sehr leicht in den Verdacht, aus pathologischen Gründen den zivilisatorischen Normalitätsansprüchen nicht genügen zu können. Vorbei scheinen die Zeiten, als aus der subjektiven Bewertungsperspektive die von der institutionellen Normerwartung abweichende Schülerreaktion noch als zum Beispiel »renitentes« Verhalten beurteilt werden durfte, wofür sich der jeweilige Schüler selbst zu verantworten hatte. Unter der biologistisch-objektiven Blickperspektive erscheint diese Schülerreaktion als pathologisches »oppositionelles Problemverhalten« und damit tendenziell als ein Symptom des »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms« oder »Hyperkinetischem Syndroms«, womit der betroffene Schüler und sein soziales Umfeld aufgrund der vermuteten hirnorganischen Verursachung der Verantwortung für sein Verhalten enthoben und ein spezifisches »Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten« (Döpfner et al. 2002) indiziert ist. Hier zeichnet sich eine Tendenz ab, die Becker so beschreibt: »Früher hat man das Verhalten derjenigen, die sich mit den un-

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terrichtlichen Bedingungen schwerer taten als die anderen, als Flegelei, Vorwitz, Aufmüpfigkeit, Rüpelei bezeichnet. Heute hat sich die Semantik der pädagogischen Normalitätskontrolle gewandelt. Einbezogen sind Begriffe wie Verhaltensstörung, Schulphobie, Problemschüler, Schulstress, Kontaktstörung, psychische Labilität und so weiter. Wer die institutionellen Regeln nicht gleich akzeptiert, scheint nicht normal zu sein. Er ist gar Opfer eines hyperkinetischen Syndroms (HKS) beziehungsweise einer Minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD)« (Becker 1999, S. 38).

■ Phänomen: Aufmerksamkeit In der umfangreichen Literatur zur ADS-Problematik fällt ins Auge, dass das Phänomen Aufmerksamkeit dort kaum differenziert, geschweige denn überhaupt definiert wird. Es wird dort lediglich betont, dass ADS-Kindern die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsleistung besonders in Lernsituationen nur rudimentär zur Verfügung steht. Aber wie ist dann der Umstand zu beurteilen, der in trivialwissenschaftlichen Publikationen immer wieder betont wird, dass so genannte ADS-Kinder sehr wohl aufmerksam (»recht gut gesteuert«) seien beziehungsweise »gut funktionierten«, wenn »ein Sachverhalt interessant, neu oder herausfordernd oder eine Person sympathisch« sei? Schwierig werde es erst, so beispielsweise Neuhaus, wenn dies nicht der Fall sei und zum Beispiel ein schwieriger oder langweiliger Text gelesen werden müsse. Nach ihr besteht in diesem Fall die Ursache dieser Aufmerksamkeitsschwäche darin, dass das Frontalhirn betroffener Kinder nicht genügend Informationen aus den Stammhirnbereichen bekomme (vgl. Neuhaus 2004, S. 58). Wie kann man, so muss man sich fragen, von einem aufmerksamkeitsgestörten Kind sprechen, das doch, wie allenthalben betont wird, in bestimmten Situationen sehr wohl über Aufmerksamkeitsfähigkeiten verfügt (vgl. hierzu auch Aust-Claus u. Hammer 1999). Ganz offensichtlich ist diese konzentrative Aufmerksamkeitsfähigkeit doch wohl generell von der Attraktivität einer jeweiligen Situation abhängig ist, in der sich ein Mensch einem

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bestimmten Sachverhalt mit Interesse widmet oder nicht. Insofern ist jeder Mensch in Situationen in seinen Aufmerksamkeitsfähigkeiten irritiert, in denen von ihm bestimmte definierte Aufmerksamkeitsleistungen abverlangt werden, die aus den unterschiedlichsten Gründen – zum Beispiel durch Müdigkeit oder anstehende Probleme – nicht auf sein Interesse stoßen. Wir haben demnach bei der Definition und Beurteilung des menschlichen Aufmerksamkeitsphänomens eine (z. B. institutionell) geforderte (normalisierte) und willkürliche von einer vom subjektiven Interesse geleiteten unwillkürlichen-spontanen Aufmerksamkeit zu unterscheiden, was innerhalb einschlägiger ADS-Publikationen völlig unberücksichtigt bleibt. Das heißt, wenn von einer Aufmerksamkeitsproblematik im Zusammenhang mit ADS gesprochen wird, ist primär die »normalisierte«, zivilisatorisch-wirksame Aufmerksamkeit gemeint, die Waldenfels in seiner »Phänomenologie der Aufmerksamkeit« als das »Aufmerksammachen« im Sinne einer »Herstellung von Aufmerksamkeit« bezeichnet (Waldenfels 2004, S. 235). Besonders Crary zeigt in seinen wissenschaftshistorischen Untersuchungen zur Aufmerksamkeit auf, wie die Aufmerksamkeit als eine quantifizierbare Kategorie menschlicher Wahrnehmungsvorgänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem fundamental neuen Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie wurde, aufgrund dessen zu Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein explosionsartiges Anwachsen der Forschungen und Diskussionen zu diesem Thema zu verzeichnen ist. Mit dieser (natur-)wissenschaftlichen Erfassung wurde dieses menschliche Konstituierungsmerkmal zur quantifizierbaren Größe, die von außen gemessen oder beobachtet werden konnte (vgl. Crary 1999, S. 21ff.). Für Crary ist diese wissenschaftliche Reduzierung menschlicher Empfindungen – gefasst und definiert als willentliche Aufmerksamkeit – letzthin eine Erfindung des beginnenden Industriezeitalters, in dem diese Form disziplinierter Wahrnehmung seitens der Arbeiter im industriell-maschinellen Produktionsprozess moderner Arbeitsbedingungen absolut notwendig wurde. Deren Tätigkeiten wurden im Produktionsprozess durch den Rhythmus der zu bedienenden Maschinen bestimmt. Im Sinne eines reibungslosen Produktionsprozesses und im Interesse ih-

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rer eigenen Sicherheit konnte kein Nachlassen der nun existenziell notwendig gewordenen zentrierten Aufmerksamkeit zugelassen werden; völlig abgesehen davon, ob den Arbeiter das Produkt seiner Tätigkeit interessierte oder nicht. Dies war nun das Neue in jener Epoche: einen Menschen mit eben jenen Fähigkeiten zu schaffen, der jenseits gewohnter Arbeitsvollzüge im kleinbäuerlichen beziehungsweise handwerklichen Milieu in der Lage sein konnte, diese ab nun existenziell notwendig gewordenen Eigenschaften auf Dauer bei sich abrufen zu können. Damit wurde die normierte Aufmerksamkeit zum kalkulierbaren und beherrschbaren menschlichen Konstituierungsmerkmal, durch das sich der Mensch der Kontrolle und Vereinnahmung durch externe Instanzen aussetzte. Die Entdeckung dieser spezifischen Aufmerksamkeit im beginnenden Industriezeitalter des 19. Jahrhunderts setzte also gewissermaßen mit der Entdeckung der Un-Aufmerksamkeit ein, die sich im genormten maschinellen Produktionsprozess als äußerst hinderlich und gefährlich erwies. Das heißt: Erst im 19. Jahrhundert wird die willkürliche Aufmerksamkeit zur Notwendigkeit und damit gleichzeitig zum Problem. Ein Versagen der Aufmerksamkeit wurde schon damals mit soziopathischem Verhalten in Zusammenhang gebracht, womit über die Definition »normaler Aufmerksamkeit« gleichzeitig die Vorstellung einer Pathologie der Aufmerksamkeit entstand, die, wie man zu glauben meinte, zu falschen Urteilen über die Welterscheinungen beziehungsweise zu bedeutungslosen Träumereien anstelle von kohärentem Denken führe. Diese Form disziplinierter Aufmerksamkeit wurde demnach im 19. Jahrhundert zu einer wirtschaftlich notwendigen Fähigkeit des Menschen, »gewisse Inhalte eines sensorischen Felds auf Kosten anderer im Interesse des Festhaltens an einer geordneten und produktiven Welt selektiv zu isolieren« (Crary 1999, S. 25). Damit wurde diese Form willkürlicher Fixierung des menschlichen Interesses dem Charakter nach »eine repressive und disziplinäre Verteidigung gegen alle potentiell zersetzenden Formen freier Assoziation« (S. 25). Nach Crary erfordert gerade die subjektive Leistung des Subjekts der Moderne eine flexible Anpassungsleistung, ein Management der Aufmerksamkeit an die Medien der Informationsgesellschaft (vgl. Crary 1999, S. 36). Für ihn entlarvt sich insbesondere mit der zuneh-

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menden Pathologisierung und Etikettierung von Kindern mit so genannten Aufmerksamkeitsstörungen (ADS) die erfundene Kategorie Aufmerksamkeit bis in die Gegenwart hinein als normative Kategorie der institutionalisierten Macht: »Dass die Aufmerksamkeit nach wie vor eine normative Kategorie der institutionalisierten Macht ist, ist uns in den letzten Jahren durch die dubiose Etikettierung einer bestimmten Störung, von der schwierige Schulkinder und andere betroffen sein sollen, als ›Attention deficit disorder‹ (oder ADD) vor Augen geführt worden. Vor der Frage der sozialen Konstruktion von Krankheit überhaupt ganz abgesehen, fällt hier auf, wie die Aufmerksamkeit nach wie vor als eine normative und implizit natürliche Funktion angenommen wird, deren Verminderung eine Anzahl von Symptomen und Verhaltensweisen hervorruft, die auf verschiedene Weise den sozialen Zusammenhang zerreißen« (Crary 1999, S. 37). Die Kategorie Aufmerksamkeit als willentliche Wahrnehmungsfixierung wäre demnach keine dem Menschen generell zuschreibbare »natürliche« Eigenschaft im Sinne einer »anthropologischen Kategorie«, wie dies zum Beispiel mit dem »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom« des ADS-Konzepts suggeriert wird, wonach diese Form der Wahrnehmung gewissermaßen eine biologisch vorbestimmte menschengemäße Wesenheit ist, sondern vielmehr eine sozial-ökonomisch notwendig gewordene normative Kategorie der Moderne, die seither in spezifischen institutionellen Trainingszentren eingeübt werden muss. Die Kinder, die diesen Anforderungen insbesondere in institutionellen Zusammenhängen mit geforderter disziplinatorischer Aufmerksamkeit nicht genügen (können), leiden demnach wohl kaum an einem hirnorganisch begründeten Aufmerksamkeitsdefizit, sondern sie sind aus den unterschiedlichsten Gründen lediglich nicht bereit oder nicht in der Lage, die institutionell erwünschte Normalitätserwartungen zu erfüllen. Möglicherweise signalisiert die allseits beklagte epidemische Zunahme von kindlichen Auffälligkeiten gewissermaßen seismographisch die Nöte von Kindern in Zeiten postmoderner Lebensumstände, die in der biologistischen Deutungsperspektive nicht in den Blick genommen werden müssen.

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■ Hartmut Amft

ADHS: Hirnstoffwechselstörung und/oder Symptom einer kranken Gesellschaft? Psychopharmaka als Mittel einer gelingenden Naturbeherrschung am Menschen

■ Zur Kritik des biologistischen Deutungsmusters Biologistische Deutungsmuster erklären Unterschiede im Verhalten, in der Entwicklung oder im Sozialstatus von Menschen durch eine angeblich andere biologische Beschaffenheit. Sie besitzen eine legitimatorische Funktion, sei es, wie in vorbürgerlichen Gesellschaften, um feudale oder patriarchale Herrschaft und Ausbeutung zu begründen, sei es, wie beim Rassismus, um die angebliche Superiorität und Inferiorität von bestimmten Teilen der Menschheit zu belegen, sei es, um ein gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten, wie bis vor kurzer Zeit die Homosexualität, als krank oder pervers zu klassifizieren und gegebenenfalls sogar strafrechtlich zu verfolgen. Mit der Zuschreibung einer biologischen Andersartigkeit werden das Recht und/oder die Notwendigkeit zu einer Andersbehandlung dieser Menschen begründet. Damit stehen wir inmitten der ADHS-Thematik.1 Die Vertreter eines organpathologischen Modells sehen unaufmerksames Verhalten als Folge einer Hirnstoffwechselstörung. Wenn Kinder ein unaufmerksames Verhalten zeigen, dann führen sie dieses auf eine organische Andersartigkeit 1 Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) und Hyperkinetisches Syndrom (HKS) werden in der Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zusammengefasst, einmal als Symptomatik, welche beide – Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität – enthält, wie auch als Sammelbezeichnung, der sowohl aufmerksamkeitsgestörte wie auch hyperkinetische Kinder zugeordnet werden können, ohne dass beide Symptome zugleich ausgeprägt sein müssen. In diesem Beitrag werden – wie meist üblich – ADS und ADHS synonym gebraucht.

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zurück, welche – aus ihrer Sicht – die Indikation zu einer medizinischen Behandlung mittels Psychopharmaka stellt. Damit ergibt sich folgende Trias: Biologisierung des Verhaltens, Pathologisierung des Kindes und Legitimierung eines auf die Veränderung der angeblich gestörten Organfunktion abzielenden therapeutischen Vorgehens. Im Mittelpunkt der Kontroversen um das ADS-Phänomen steht insbesondere die Frage der Behandlung mit Psychopharmaka aus der Gruppe der Psychostimulanzien, also mit Ritalin® oder ähnlichen Wirkstoffen.2 Die Behandlung von Kindern mit Psychopharmaka ist deshalb so problematisch, weil Dritte, nämlich die Eltern, über deren Einsatz entscheiden. Gegenüber psychopharmakologischer Gewalt zum Zweck der Verhaltensbeeinflussung sind Kinder bislang völlig unzureichend geschützt, insbesondere wenn diese unter dem Deckmantel einer medizinischen Diagnose erfolgt (Amft 2004, S. 119). Zudem stellt sich die Frage nach den Risiken einer derartigen Behandlung. Werfen wir einen kurzen Blick auf die jüngste Geschichte der Kinderpsychiatrie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Kinderpsychiatrie hat in ihrer Psychopathologie kindlicher Verhaltens- und Entwicklungsstörungen – das sollte man sich bewusst machen – bis in die achtziger Jahre hinein eine Irrlehre vertreten, weil sie von einer vorwiegend hirnorganischen Genese ausging. Mittels des MCD-Modells wurden aus Kindern mit psychosozialen Problemen »Hirngestörte«. Das MCD-Modell selbst war nicht falsch, sondern falsch war die Annahme, dass diese Ätiologie die häufigste sei. Sie war jedoch nicht die Regel, sondern die Ausnahme (vgl. Amft 2004, S. 66). Dieser Rückblick zeigt, dass Wissenschaft, insbesondere dort, 2 Klassisches Präparat ist das Ritalin®, welches als Wirkstoff Methylphenidat enthält. In den letzten Jahren sind in Deutschland weitere Präparate mit dem gleichen Wirkstoff auf dem Markt gekommen (Concerta®, Equasym®, Medikinet®, Methylphenidat HEXAL®). In den USA hat 2003 eine Wirksubstanz namens Atomoxetin (Strattera®) die Zulassung erhalten, welche auf dem deutschen Arzneimittelmarkt seit 2005 verfügbar ist. Da Atomoxetin nicht – wie das Methylphenidat – unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, kann es von jedem Arzt auf normalem Rezept verordnet werden.

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wo sie sich mit menschlichem Verhalten und menschlicher Entwicklung befasst, keineswegs frei ist von Vorurteilen, Irrtümern, Ideologien oder Moden. Die Dominanz des biologistischen Deutungsmusters beim ADS ist – so meine These – eine Folge davon, dass sich die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit unerwünschtem kindlichem Verhalten entscheidend geändert hat. Bei vielen Eltern, Lehrern und Medizinern ist eine zuvor bestehende »Hemmschwelle« gegenüber dem Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern weggefallen. Es wird dann als normal angesehen, wenn Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten Psycho-Pillen erhalten. Die veränderte Praxis bedarf einer (pseudo)wissenschaftlichen Legitimation. Diese wird mit dem Modell eines Neurotransmitter-Mangels als Ursache des kindlichen Problemverhaltens in idealer Weise angeboten. Denn die Logik des Substitutionsmodells impliziert, dass der Normalzustand der Kinder jener sei, der durch Drogeneinnahme hervorgerufen wird. Den Kindern Ritalin® vorzuenthalten, bedeutet in dieser Logik, ihnen Normalität zu verweigern. Damit wird als Normalzustand dieser Kinder der Zustand unter Drogeneinfluss definiert, während der natürliche Zustand – ohne Psychodroge – als unnormal angesehen wird. Beim Vorliegen eines unerwünschten Verhaltens – hier: von Unaufmerksamkeit – wird nicht mehr gefragt, ob es sich möglicherweise um die Äußerung eines Subjekts auf seine Lebensumstände handelt, sondern das erwünschte Funktionieren wird mittels Psychopharmaka hergestellt und bei Erfolg im Nachhinein (!) als Ausgleich eines stofflichen Mangels interpretiert. Nach dieser Pseudo-Logik könnten Angstzustände als Valium-Mangel und Schlafstörungen als Schlafmittelmangel interpretiert werden, wenn diese nach Einnahme dieses Medikaments nicht mehr vorhanden sind. Auf den ersten Blick mag es erstaunlich sein, dass das Modell einer Hirnstoffwechselstörung als der Ursache von unaufmerksamem kindlichen Verhalten auf so wenig Widerspruch in der Kinderpsychiatrie stößt. Erstaunlich deshalb, weil gerade im Bereich des psychosomatischen Verständnisses von Krankheiten und Störungen die Medizin in den vergangenen Jahrzehnten ganz erhebliche Fortschritte gemacht hat. In der Medizin hat ein Paradigmenwechsel vom organpathologischen zum biopsychosozialen Modell

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stattgefunden. Die Annahme einer Hirnstoffwechselstörung als alleiniges oder vorherrschendes Erklärungsmodell beim ADS stellt eindeutig einen wissenschaftlichen Rückschritt dar, indem es den grundlegenden Fehler beim MCD-Modell, nämlich den einer unzulässigen Generalisierung, wiederholt. Es ist zwar durchaus begründet, wenn als eine mögliche Ursache einer Aufmerksamkeitsdefizitproblematik eine hirnfunktionelle Störung angesehen wird. Aber unbestreitbar dürfte sein, dass unaufmerksames Verhalten ein unspezifisches Symptom darstellt, welches eine Vielzahl von ursächlichen Zusammenhängen aufweisen kann (vgl. Amft 2004, S. 56f.). Unaufmerksamkeit allein ist genauso wenig – wie beispielsweise Müdigkeit – als Zeichen eines Krankheitsgeschehens zu werten. Vielmehr ist Unaufmerksamkeit lediglich als ein »Störungssymptom«, das heißt als ein Hinweis auf ein Problem, anzusehen. Ob diese Störung überhaupt Krankheitswert besitzt, ob deren Ursache im Kind oder im Umfeld – im sozialen System – liegt, muss diagnostisch abgeklärt werden. So sind beispielsweise schulische Überoder Unterforderung häufig nur Ausdruck eines »Misfits«. In diesem Fall ist der Schüler weder krank noch gestört, sondern benötigt einen Unterricht, der seinem Entwicklungs- und Leistungsstand angepasst ist. Es besteht Konsens in der wissenschaftlichen Lehrmeinung, dass es Kinder mit ADHS-Symptomatik gibt, die eine Behandlung mit Ritalin® benötigen. Mir ist kein anerkanntes Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannt, welches die Stimulanzien-Therapie grundsätzlich in Frage stellen würde. Insofern ist es als ein ärztlicher Kunstfehler anzusehen, Kindern, die es benötigen, Ritalin® vorzuenthalten. Denn bei zwei Dritteln einer kleinen Teilgruppe von betroffenen Kindern, und zwar jenen mit hirnfunktionell bedingten Aufmerksamkeitsstörungen, ist ohne eine effektive Therapie – Pharmako- und/oder Psychotherapie – eine Chronifizierung zu befürchten. Allerdings sprechen Fakten dafür, dass deren Prävalenz nur im Promillebereich liegt (vgl. Amft 2004, S. 70, S. 93 u. S. 111). Eine Position, die grundsätzlich eine Ritalin®-Behandlung ablehnt, ist unverantwortlich, weil schädlich für jene Kinder, die dieses Medikament benötigen, um eine Chance auf eine möglichst normale Entwicklung zu erhalten.

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Festzuhalten ist: Wenn von einem »AufmerksamkeitsdefizitSyndrom« die Rede ist, dann handelt es sich in der Regel um die Etikettierung eines Verhaltens, welches völlig unterschiedliche Ursachen besitzen kann und daher – entsprechend der jeweiligen Ätiologie – auch unterschiedliche Lösungen benötigt. ADS ist eine Sammelkategorie, vergleichbar mit einer großen Kiste, welche die Aufschrift »unaufmerksames Verhalten« trägt und in die alles hineingeworfen wird, ganz unabhängig davon, ob es sich um eine Hirnstoffwechselstörung oder um das erziehungsschwierige Verhalten eines gesunden Kindes handelt. Damit stellt sich die Frage nach den diagnostischen Möglichkeiten.

■ Zum Problem der Diagnostik Unaufmerksames Verhalten ist ein Symptom. Man könnte es mit Kopfschmerzen vergleichen, welche die verschiedensten Ursachenund Entstehungszusammenhänge besitzen können. Der Kopfschmerz besitzt den Stellenwert eines Warnsignals und zeigt an, dass eine Störung oder ein Problem vorliegt, wobei die Ursachen im organischen und/oder psychischen Bereich liegen können. Allerdings wäre es falsch, wenn man beim ADS – in Analogie zum Kopfschmerz – generell von einer Störung ausgehen würde. Denn nicht jedes Kind, welches beispielsweise ein unaufmerksames Verhalten in der Schule aufzeigt, ist »gestört«. Möglicherweise wird es von der Unterrichtssituation über- oder unterfordert. Kinder, welche noch nicht in ausreichendem Maß die Affektkontrolle erlernt haben, sind nicht in der Lage, ihre Bewegungsimpulse so zu beherrschen, dass sie längere Zeit stillsitzen können. Die in der Schule geforderte Konzentrationsleistung setzt den Erwerb entsprechender psychischer Strukturen voraus. Mitscherlich (1963, S. 30f.) spricht in diesem Zusammenhang von Affekt- und Sozialbildung. Hinter einer Aufmerksamkeitsdefizitsymptomatik können sich folglich auch Erziehungs- und Entwicklungsdefizite oder eine unangemessene Schulsituation verbergen. Ätiologisch lassen sich Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-

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symptomatik in drei Gruppen differenzieren (ausführlich: Amft 2004, S. 67ff.): – hirnfunktionell (mit)bedingte Störungen, – Störungen von Psychostruktur und -dynamik, – Erziehungs- und schulbedingte Probleme. Hierbei handelt es sich keineswegs nur um ätiologische Modelle, sondern um unterschiedliche Ursachen- und Entstehungszusammenhänge, welche dem Erscheinungsbild »unaufmerksames Verhalten« zugrunde liegen können. In Diskussionen und in der Literatur ist häufig von »unterschiedlichen Sichtweisen« des ADSPhänomens die Rede, so als handele es sich beim ADS um ein einheitliches Phänomen, welches je nach Sichtweise unterschiedlich gedeutet werden könnte. Tatsächlich liegen unterschiedliche Sachverhalte vor, welche unterschiedliche pädagogische und/oder therapeutische Konsequenzen erfordern. Befürworter der Ritalin®-Behandlung greifen im Rahmen ihrer Substitutionshypothese nicht selten auf das Beispiel der InsulinSubstitution zurück: So wie der Diabetiker das Insulin benötige, um einen Mangel auszugleichen, so benötigen die ADS-Kinder das Ritalin®, um einen Transmittermangel auszugleichen. Aber ist dieses Insulin-Beispiel zutreffend? Beim Diabetiker können sowohl der Blutzuckerspiegel wie auch das vorhandene Insulin laborchemisch bestimmt werden. Mittels einer objektiven, naturwissenschaftlichen Methodik lassen sich folglich Diabetiker und Nicht-Diabetiker unterscheiden. Gibt es eine wissenschaftliche Methodik, mit der eine objektive Unterscheidung zwischen einem hirnstoffwechselgestörten ADS-Kind und einem nicht hirnstoffwechselgestörten normalen Kind möglich wäre? Die Antwort ist eindeutig: Es gibt derzeit keine objektive Methode. Wenn vom Modell einer Hirnstoffwechselstörung als alleinigem oder vorherrschendem Deutungsmuster des ADS-Phänomens ausgegangen wird, dann wird damit ein hypothetisches Konstrukt als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis postuliert, mit welcher einer gesellschaftlichen Praxis der psychopharmakologischen Beeinflussung von kindlichem Störverhalten eine pseudo-wissenschaftliche Legitimation verschafft wird. Vor einem ähnlichen diagnostischen Dilemma steht jene Argu-

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mentation, welche das ADS-Phänomen als im Wesentlichen psychosozial bedingt ansieht. Auch sie verfügt über keine Methodik, welche eine einfache empirische Beweisführung ermöglicht. Psychisches ist nicht unmittelbar beobachtbar. Konflikte auf der Ebene der Psychodynamik oder defizitäre Psychostrukturen lassen sich mit keinem bildgebenden Verfahren oder Labortest nachweisen. Die Tiefenpsychologie konstruiert daher Modelle von psychischen Strukturen und Prozessen, um Nichtbeobachtbares mittels einer dialektisch-hermeneutischen Methodik quasi »sichtbar« zu machen. Ein Problem dabei ist, dass in der wissenschaftlichen Psychologie die tiefenpsychologische Modellbildung und Methodik nicht obligat ist. Wer jedoch darüber nicht verfügt, kann die Tiefenstrukturen nicht erkennen. Das ist ähnlich wie in der Physik: Um atomare Prozesse »verstehen« zu können, werden Atommodelle benötigt. Einige ärztliche Kollegen und Kolleginnen aus Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinken, darunter auch Universitätskliniken, berichteten von einer Praxis der Indikationsstellung aus dem Behandlungseffekt. Die Kinder erhalten nach Art eines Doppelblindversuchs3 eine Zeit lang Ritalin® oder Placebo, und wenn unter Ritalin®-Medikation die Störsymptomatik deutlich verbessert wird, dann wird Ritalin® verordnet (Amft 2004, S. 133f.). Wenn Methylphenidat im erwünschten Sinne wirksam ist, dann bestätigt dies jedoch nicht das Vorliegen einer Hirnstoffwechselstörung. Denn eine Diagnosestellung »ex juvantibus«, also im Nachhinein vom Wirkeffekt her, ist nicht möglich, weil Methylphenidat auch bei gesunden Kindern ähnlich wirkt (vgl. Klicpera 1982). Die Evidenz der Wirkung ist kein Beweis für die Gültigkeit einer Wirkhypothese. Diese Annahme ist ein gängiger Trugschluss. Der positive Effekt einer Methylphenidat-Behandlung beweist doch nur, dass diese psychoaktive Droge wirksam ist. Ob dadurch tatsächlich ein Mangel an Neurotransmitter, wie behauptet wird, ausgeglichen wurde, ist damit keineswegs nachgewiesen. Genauso wenig wie die Wirkung einer Schlaftablette einen Mangel an Schlafmittel belegt. Zudem ist immer der Placeboeffekt zu berück3 Weder Arzt noch Patient wissen, ob und wann ein wirksames oder ein Scheinmedikament (Placebo) verabreicht wird.

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sichtigen. Klicpera weist darauf hin, dass unter Placebo etwa bei einem Drittel der Kinder kurzfristig eine Besserung im Verhalten eintritt (Klicpera 1982, S. 78). Festzuhalten ist: Unstrittig ist, dass das Erscheinungsbild ADS durch unterschiedliche Ursachen und Entstehungszusammenhänge hervorgerufen werden kann. Es gibt bislang kein einziges Verfahren, mit der eine objektive Unterscheidung mittels naturwissenschaftlicher Methodik zwischen einem hirnstoffwechselgestörten ADS-Kind und einem nicht hirnstoffwechselgestörten normalen Kind möglich wäre. Im Einzelfall ist daher immer eine aufwendige psychosomatische Differenzialdiagnostik erforderlich. Welche Ätiologie ist die häufigste? Welche der beiden gegensätzlichen Kausalhypothesen – Hirnstoffwechselstörung versus psychosoziale Genese – stellt beim ADS-Phänomen die Regel, welche die Ausnahme dar? Ist diese Frage überhaupt wissenschaftlich beantwortbar?

■ Zur Epidemiologie des ADS-Phänomens und der Methylphenidat-Verordnungen Aktuelle Prävalenzschätzungen zur ADHS in Deutschland »gehen von 2 bis 6 Prozent betroffenen Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren aus« (BMGS 2002). Eine Untersuchungsmethode, die das Vorliegen eines ADS eindeutig belegen oder ausschließen könnte, gibt es nicht. Empirische Untersuchungen, in denen die Häufigkeit des ADS nach Ursachen- und Entstehungszusammenhängen differenziert dargestellt wird, sind mir nicht bekannt. Ein Literaturvergleich zeigt, dass sich die Annahmen hinsichtlich des psychopharmakologischen Behandlungsbedarfs von Kindern mit HKS beziehungsweise ADS grundlegend verändert haben. Nach Elliger und Nissen (1989, A-3941) wurde 1985 in Deutschland eines von 10.000 Kindern mit Ritalin® behandelt, während Skrodzki (2000) heute von einer Behandlungsbedürftigkeit mit Ritalin® von einem Prozent der Kinder ausgeht. Dazwischen liegen 15 Jahre und zwei Zehnerpotenzen.

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Die Statistik des Arzneimittelforschungsinstituts der Gesetzlichen Krankenkassen belegt, dass die Zahl der Verordnungen von Methylphenidat, gemessen in durchschnittlichen Tagesdosen, in nur elf Jahren um den Faktor 61 zugenommen hat (vgl. Lohse et al. 2003, S. 641f.). Wird die Entwicklung der Verordnung in Deutschland betrachtet, so scheint sich der Trend zur psychopharmakologischen Verhaltensmodifikation ungebremst fortzusetzen. Seit einigen Jahren verdoppelt sich die Verordnungshäufigkeit im ZweiJahres-Rhythmus. Wird das gegenwärtige Wachstum der Methylphenidat-Verordnungen extrapoliert, so ist zu erwarten, dass 2003 circa 100-mal soviel Schulkinder Ritalin® oder ein wirkstoffgleiches Präparat erhalten wie 1990. Wird für 1990 – rechnerisch – ein Zahl von 800 Kindern zugrunde gelegt, dann entspricht dies für 2003 einer Zahl von 100.000 Kindern (s. Abb. 1).

Abbildung 1: Verordnung von Methylphenidat nach Tagesdosen

Bei der Angabe der Behandlungsprävalenz handelt es sich um eine rechnerische Größe, welche eine kontinuierliche Medikation über einen Jahreszeitraum zugrunde legt. Da kürzere Behandlungsintervalle häufig sind, ist die tatsächliche Zahl der mit Methylphenidat behandelten Kinder wesentlich höher anzusetzen (vgl. von Ferber et al. 2003; Glaeske u. Janhsen 2003). In Deutschland liegt derzeit die Behandlungsprävalenz noch deutlich unter jener in den USA (vgl. von Ferber et al. 2003). Gäbe es in Deutschland eine analoge Entwicklung, so bedeutete dies eine Steigerung um den Faktor 330 gegenüber 1990.

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■ Wie ist die »Ritalin®-Welle« seit Mitte der neunziger Jahre zu erklären? Hat der Anteil der »unaufmerksamen« Kinder so zugenommen? Oder hat sich die Diagnostik verändert? Fakt ist, dass sowohl das zugrunde liegende Störungsbild wie auch das medikamentöse Behandlungskonzept seit Jahrzehnten bekannt sind. Das Erscheinungsbild des HKS beziehungsweise des ADS ist so auffällig und für die betroffene Umwelt, insbesondere Eltern und Lehrer, so störend, dass es keiner besonderen Diagnostik bedarf, um die Symptomatik wahrzunehmen. Die Kriterien gemäß den Diagnoserichtlinien der WHO sind für die »Hyperkinetische Störung« (ICD-10 F90) unverändert geblieben (vgl. Dilling et al. 1992). Auch bezüglich der medizinischen Indikation hat sich nichts geändert, das heißt, es hat keine Ausweitung der Stimulanzientherapie auf andere Störungsbilder stattgefunden. In Erwägung zu ziehen wäre die Frage, ob in der Vergangenheit eine unzureichende Therapie vorlag? Selbst wenn im Gedankenexperiment hypothetisch von einer extremen Unterversorgung im Jahr 1989 ausgegangen und angenommen wird, dass neun von zehn der behandlungsbedürftigen Kinder kein Ritalin® erhalten hätten, so wäre maximal eine Erhöhung um den Faktor 10 medizinisch gerechtfertigt, jedoch nicht um den Faktor 60. Dieses Gedankenexperiment zeigt, dass der massive Anstieg der Methylphenidat-Verordnungen nicht mit einer zuvor bestehenden medikamentösen Unterversorgung erklärt werden kann. Ist es möglich, dass sich die Zahl der behandlungsbedürftigen Kinder stark erhöht hat? Eine medizinische Indikation der Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizitsymptomatik ist nur gegeben, wenn ursächlich vom Vorliegen einer Hirnstoffwechselstörung ausgegangen wird, welche zu Problemen in der zentralen Informationsverarbeitung führt. Läge beim ADS, wie von einigen Wissenschaftlern behauptet, in der Regel eine genetisch (mit)bedingte Organstörung vor, so müsste die Zahl der betroffenen Kinder konstant bleiben beziehungsweise sich bei einem Geburtenrückgang sogar ver-

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ringern. Genetisch bedingte Krankheiten weisen eine relativ konstante Prävalenz und Inzidenz4 auf. Kein wissenschaftliches Modell kann die Hypothese einer genetischen Bedingtheit von ADS bei einer Steigerung der Prävalenz um den Faktor 60 in nur einem Jahrzehnt plausibel machen. Festzuhalten ist: Das derzeitige Ausmaß der Ritalin®-Verordnungen legt den Verdacht nahe, dass nicht nur Kinder behandelt werden, bei denen eine gesicherte medizinische Diagnose und Indikation vorliegt, sondern dass in großem Umfang Ritalin® symptombezogen eingesetzt wird, um ein erwünschtes (Schul-)Verhalten auf psychopharmakologischem Weg herzustellen. Selbst wenn – in einer hypothetischen Modellbetrachtung – davon ausgegangen wird, dass in Deutschland bis Anfang der neunziger Jahre eine extreme Unterversorgung in der MethylphenidatBehandlung vorgelegen hat und eine Erhöhung um den Faktor 5 bis 10 indiziert ist, dann bedeutet dies, dass bei einer tatsächlichen Steigerung der Verordnungsmenge um den Faktor 100 nur bei fünf bis zehn Prozent der Kinder mit AufmerksamkeitsdefizitSymptomatik die Medikation medizinisch indiziert ist. Daher besteht Grund zur Annahme, dass bei 90 bis 95 Prozent der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Symptomatik keine medizinische Indikation für eine Ritalin®-Behandlung besteht.

■ Ritalin® als Mittel der Verhaltensmodifikation Wie soll Ritalin® bei unruhigen, zappeligen und/oder oppositionellen Kindern verhaltensmodifizierend eingesetzt werden können, wenn es sich vom Wirkstoff her um ein Stimulans, also ein Aufputschmittel, handelt? Einen weit verbreiteten Irrtum stellt die Annahme dar, Stimulanzien würden bei hyperaktiven Kindern paradox – also anders als bei Gesunden – wirken. Diese wurde experimentell widerlegt 4 Die Prävalenz macht eine Aussage über den Anteil von Krankheiten, Störungen, Behandlungen in der Bevölkerung usw. Die Inzidenz gibt an, wie viele Neuerkrankungen in einem bestimmten Zeitraum aufgetreten sind.

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(vgl. Klicpera 1982 S. 74f.). Weil Ritalin® eine »Speed-Pille« ist, wird angenommen, dass die motorische Aktivität dadurch verstärkt wird. Aus den Erfahrungen mit dieser Substanz hätte diese Annahme bereits in Frage gestellt werden können. Die Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg, die Amphetamine einnahmen, wurden nicht zappeliger. Ansonsten wäre es ihnen auch schwer gefallen, das Flugzeug zu lenken und sicher zu landen. Amphetamine puschen zwar »innerlich« auf, führen aber normalerweise nicht zu psychomotorischen Erregungszuständen. Damit bricht der zentrale Grundpfeiler des Argumentationsgebäudes der Ritalin®-Befürworter zusammen. Mit der angeblich paradoxen Wirkung von Ritalin® wird nämlich von ihnen nach wie vor die Hypothese eines anderen Funktionierens des Gehirns aufgrund von angeblichen Störungen, wie eines »Transmittermangels«, einer »Gehirnstoffwechselstörung«, einer »Dysfunktion kortikaler Regelsysteme« und so weiter, aufrechterhalten. Hinsichtlich der psychischen Hauptwirkungen ist auszuführen, dass Ritalin® – ähnlich wie Kokain – das subjektive Leistungsempfinden und positive Selbsterleben stärkt. Andererseits wurde auch beobachtet, dass die Kinder unter Stimulanzienbehandlung weniger von sich aus spontan Kontakt aufnehmen und Dinge vernachlässigen. Diese Verhaltensänderung kann meines Erachtens interpretiert werden als Ausdruck einer gewissen Zwangssymptomatik. Ein solches maschinenhaftes Verhalten findet sich als eine (Neben-) Wirkung von Neuroleptika, also Psychopharmaka, die auch als »chemische Zwangsjacke« missbraucht werden können. Diese quasi-neuroleptische Wirkkomponente des Ritalin® verdient meines Erachtens größte Aufmerksamkeit. Das würde auch das »Zombie-Phänomen« erklären, wenn Kinder sich unter Ritalin® emotional wie Roboter verhalten. Die unterschiedliche Wirkung von Stimulanzien lässt sich mit der bekannten Tatsache erklären, dass Psychopharmaka in Abhängigkeit zu jenem psychophysischen Zustand wirken, in dem sich ein Individuum befindet. Festzuhalten ist: Die Betrachtung der Wirkeffekte von Methylphenidat zeigt, dass dieses Psychopharmakon – auch bei gesunden Kindern – zum Zweck einer Verhaltensmodifikation effektiv eingesetzt und auch missbraucht werden kann (ausführlich: Amft 2004, S. 101f.).

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■ Die sozialmedizinische Perspektive Wenn innerhalb einer menschheitsgeschichtlich relativ kurzen Zeitspanne – einigen Jahrzehnten – Krankheiten oder Störungen massenhaft auftreten oder verschwinden, die vorher selten oder häufig waren, dann spricht dies in erster Linie für eine Veränderung der Umweltbedingungen und nicht etwa für genetische Mutationen. Es sei denn, der Nachweis für genetische Veränderungen könnte erbracht werden. Und selbst diese Veränderungen können nicht allein durch Spontanmutationen, sondern müssten durch das Einwirken von Umweltfaktoren, wie Strahlung, Chemie oder Infektionen, erklärt werden. Das entscheidende Argument für die Annahme von umweltbedingten Veränderungen ist folglich das epidemiologische, nämlich der empirische Nachweis von gravierenden Veränderungen in der Prävalenz und Inzidenz von Krankheiten und Störungen. Festzuhalten ist: Wenn sich, wie beim ADS-Phänomen, die Häufigkeit des Auftretens des Störungsbildes in einer Zeitspanne von nur 10 bis 15 Jahren um eine oder zwei Zehnerpotenzen ändert, dann ist dies aus wissenschaftlicher Sicht als Hinweis auf den Einfluss von Umweltbedingungen auf die Entwicklung dieser Kinder zu suchen. Und eine nur individualpathologische Betrachtung ist schlicht und einfach: falsch.

■ ADS als »Sozialisationsunfall« Lässt sich das ADS-Phänomen aus dem Vorliegen von speziellen Entwicklungsbedingungen erklären? Häufig wird die Annahme vertreten, das auffällige oder störende Verhalten des Kindes sei von besonderen individuellen Entwicklungsbedingungen verursacht worden. Tatsächlich liegen bei so genannten ADS-Kindern meist Normalbiografien vor (ausführlich: Amft 2002, S. 136f.). Die von der Normalität abweichende Entwicklung muss keineswegs ihren Grund in besonderen biografischen Umständen haben. Denn »normale« Lebensbedingungen können bereits so ungünstig sein, dass mit ihnen ein hohes Risiko der Entwicklung von schwer-

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wiegenden Störungen und Krankheiten einhergeht. Eine risikoreiche Entwicklungskonstellation erhöht zwar die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Störungen, führt aber nicht zwangsläufig dazu. Das erklärt, warum beispielsweise fünf Kinder unter ähnlich ungünstigen Bedingungen aufwachsen, aber nur ein Kind eine Entwicklungspsychopathologie entwickelt. Die Modellbildung zur Entwicklung kindlicher Störungen muss daher eine Antwort auf die Frage geben, warum nur ein Teil der Kinder manifeste Störungen aufweist. Um erklären zu können, warum unter ähnlichen Umweltbedingungen nur ein Teil der Kinder manifeste Störungen aufweist, habe ich ein Modell entwickelt, in dem die psychosoziale Genese des ADS im Rahmen einer Risikokonstellation betrachtet wird (Amft 2004, S. 137f.). ADS wird darin als eine Art »Sozialisationsunfall« verstanden. Als Beispiel für das Modell soll das Unfallrisiko im Straßenverkehr genommen werden. Wird der Straßenverkehr als Ganzes betrachtet, so ist der einzelne Unfall Resultat einer risikoreichen Gesamtkonstellation: Jeder Verkehrsteilnehmer kann in einen Unfall verwickelt werden. Was nicht heißt, dass im Einzellfall das Verhalten des einzelnen Fahrers keine Rolle spielt. Mit der Zunahme des Straßenverkehrs steigt für alle Verkehrsteilnehmer das individuelle Unfallrisiko, das heißt die statistische Wahrscheinlichkeit einer Unfallbeteiligung. Wird das Auftreten einer ADS-Symptomatik im Rahmen eines Risikomodells betrachtet, so wird deutlich, dass eine ungünstige kindliche Umwelt das Risiko der Entwicklung einer Störung erhöht, aber diese keineswegs zwangsläufig eintreten muss, weil jedes Kind mehr oder weniger Bewältigungsressourcen besitzt. Daher entwickelt unter ähnlichen Umweltbedingungen nur ein Teil der Kinder manifeste Entwicklungsstörungen. Festzuhalten ist: Wenn die Normalität kindlicher Alltagsbedingungen eine risikoreiche Entwicklungskonstellation darstellt, kann das Modell des »Sozialisationsunfalls« erklären, warum unter ähnlichen Umweltbedingungen nur ein Teil der Kinder manifeste Verhaltens- und Entwicklungsstörungen entwickelt.

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■ Veränderte Kindheit Ausgehend vom Risikomodell wird nun die These aufgestellt, dass gravierende Veränderungen in den kindlichen Entwicklungsbedingungen während der letzten 30 Jahre das Risiko, eine Entwicklungspsychopathologie zu entwickeln, erheblich erhöht haben. Nachfolgend möchte ich wichtige Veränderungen der kindlichen Umweltbedingungen auflisten (ausführlich: Amft 2004, S. 127f. u. S. 140f.): – Die gravierendste Veränderung im familiären Kontext ist, insbesondere in den Mittelschichten, die Erhöhung des Volumens der Erwerbsarbeit pro Familie. Das Problem – dies sei hier betont – ist nicht die Berufstätigkeit der Frau. Denn die Berufstätigkeit der Frau ließe sich problemlos mit einer Teilzeitarbeit beider Ehepartner realisieren, doch die heutige familiäre Erwerbsrealität ist nicht »Job-Sharing«, sondern »Job-Verdoppelung«. – Die familiären Strukturen haben sich verändert, es gibt hohe Scheidungsraten und einen hoher Anteil von Alleinerziehenden. – Die gesellschaftlichen Anpassungszwänge im Sinne der Herstellung eines »flexiblen Menschen« (Sennett 1998) werden immer größer. – Neue Strukturen in der Arbeitswelt, wie Dynamisierung des Arbeitsmarkts (Arbeitslosigkeit), Flexibilität, Mobilität (Pendler, Umzüge), führen zu Diskontinuitäten und Brüchen im sozialen Kontext. Die Freisetzung von Arbeitskräften in Form von Massenentlassungen ist heute zu einem Instrument der betriebswirtschaftlichen Optimierung geworden (vgl. Sennett 1998). Arbeitslosigkeit ist eine »Profitmaschine«: Die Menschen werden entlassen, um sie später wieder zu schlechteren Arbeitsbedingungen einstellen zu können, das heißt, sie müssen für weniger Lohn mehr arbeiten. – Die Menschen sind nicht mehr Subjekte ihrer individuellen und kollektiven Geschichte (Entsubjektivierung). Es entwickelt sich eine »vaterlose Gesellschaft« (Mitscherlich 1963). Die Gesellschaft ist – wie hypnotisiert – gefangen in einem »TINASyndrom« (»There is no alternative!«5). Die Zukunft erscheint für die Menschen als nicht mehr durch Menschen gestaltbar.

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– Die kindlichen Entwicklungsbedingungen werden heterogener. Die Kinder finden sehr unterschiedliche Beziehungen (Familie, Verwandtschaft, Freunde), Erziehungssituationen, hemmende und förderliche Umwelten (Wohnen, Spielen, Entdecken) vor. – Die Kindheit wird zunehmend zur »Medienkindheit« (Fernsehen, Computerspiele, Internet). – Die Kinder wachsen in einer Umwelt auf, in denen die Erziehung weitgehend durch Dienstleistungsberufe erfolgt (Pädagogisierung der Kindheit). Männer bilden eine Minorität in der Erziehung und im Primarschulbereich (Feminisierung der Pädagogik). – Das Leben wird von psychologischer Manipulation (Werbung, behaviorale Erziehungstechniken) beherrscht. – Der Staat zieht sich aus seiner sozialen Garantenstellung zurück (Deregulierung, Tendenz zu Re-Privatisierung von Erziehung, Bildung und existenziellen Sicherungssystemen). – Risikoreiche Umwelteinflüsse – wie Informationsüberflutung, Nahrungsmittel (Hormone, Antibiotika, Insektizide), Strahlung (UV, Elektromagnetismus, Radioaktivität), Schadstoffe (zum Beispiel in der Luft oder Kleidung), Medikamente, Lärm – können sich in unterschiedlicher Weise negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken. Negative Auswirkungen von Umweltnoxen sind epidemiologisch belegt (z. B. auf die kognitive Entwicklung). – Armut ist eindeutig ein Risikofaktor für die kindliche Entwicklung, wie zahlreiche epidemiologische Studien belegen. Neben der faktischen Armut ist die Angst vor sozialem Abstieg und vor Armut ein gravierender Risikofaktor. – Die Migration als Risikofaktor betrifft einen nicht unerheblichen Teil der Kinder in unserer Gesellschaft. Nicht selten sind Migration und Armut miteinander gekoppelt. – Ein besonderes Risiko für die kindliche Entwicklung ist die Schule. Die Schule möchte nach wie vor ein »schulgerechtes Kind«, anstatt den Kindern eine »kindgerechte Schule« anzubieten.

5 Ein Ausspruch der »Eisernen Lady« Margaret Thatcher.

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■ Die menschliche Natur als Störfaktor – Psycho-Drogen als Mittel der Normalisierung Die von der Kapitalverwertung geforderte grenzenlose Anpassung und Flexibilisierung des Menschen stößt auf Grenzen in der menschlichen Natur. Die natürliche Beschaffenheit des Menschen wird zu einer Störgröße in der Ökonomie. Wenn die »Naturbeherrschung am Menschen« (Lippe 1974, 1981) bei immer mehr Menschen an psychophysische Grenzen stößt, dann muss das Funktionieren im sozioökonomischen System zunehmend mittels psychotroper Substanzen hergestellt werden. Der Soziologe und Drogenexperte Günther Amendt (2000 S. 60) meint, dass »in der globalisierten und deregulierten Welt von morgen […] psychoaktive Substanzen nicht nur als Genussmittel […], sondern auch als Instrumente der sozialen Steuerung unverzichtbar sein« werden. Psychotrope Substanzen – Alkohol, Medikamente, illegale Drogen – sind heute für Millionen von Menschen ein alltägliches Mittel zur Herstellung von Wohlbefinden und soziofunktionaler Anpassung geworden. In diese Logik passt das Substitutionsmodell, welches von vielen Ritalin®-Befürwortern vertreten wird. Denn aus ihrer Sicht verändert das Psychopharmakon nicht die Funktionsweise des Menschen, sondern normalisiert sie. Gemäß dieser Logik müssen nicht die Lebensumstände der Natur des Menschen angepasst werden, sondern der Mensch gleicht seinen »Anpassungsmangel« durch die Substitution mit psychoaktiven Substanzen aus.

■ Die Tabuisierung gesellschaftlicher Realität Seit über einem Vierteljahrhundert nimmt das Volumen der familiären Erwerbsarbeit zu. Auch in den Mittelschichten ist die doppelte Berufstätigkeit der Eltern zur Regel geworden. Zugleich sinkt kontinuierlich der Lebensstandard. Aus soziologischer Perspektive handelt es sich um den Prozess einer zunehmenden »Proletarisierung« von Mittelschichten und einer zunehmenden »Pauperisierung« von Teilen der Bevölkerung.

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Die Verwahrlosung der Kinder durch eine unzureichende Beziehungs- und Erziehungsumwelt mit der Folge einer defizitären psychostrukturellen Entwicklung muss als ein zentraler Aspekt des ADS-Phänomens angesehen werden. Der zweite Aspekt ist, dass die Anpassung des Menschen an die herrschenden Bedingungen dieser Gesellschaft mit immer mehr psychischen und psychosomatischen Störungen und Krankheiten verbunden ist (vgl. Amft 2004, S. 146f.). Da sich die gesellschaftlichen Bedingungen für die Mehrheit der Eltern und Kinder ständig verschlechtern, werden kindliche Verhaltens- und Entwicklungsstörungen weiter zunehmen. Zugleich verfügt die Gesellschaft nicht über die Möglichkeiten, ausreichende kompensatorische pädagogische und therapeutische Maßnahmen für die zunehmende Zahl von Kindern mit Verhaltens- und Entwicklungsproblemen anzubieten. In Zukunft werden daher psychoaktive Substanzen im Alltag der Kinder zunehmend zur Normalität werden. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass diese Tendenzen einzig und allein durch die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie bedingt sind. Die Menschen müssen – trotz und wegen des technischen Fortschritts – im gegenwärtigen System immer mehr und immer länger bei immer geringerem Reallohn arbeiten. Um eine profitable Kapitalverwertung aufrechtzuerhalten, wird die Ausbeutung der Lohnarbeitenden forciert und zugleich werden die staatlichen Leistungen für Erziehung, Bildung, Gesundheit und Altersversorgung reduziert. Es handelt sich um ein klassisches Krisen- und Niedergangsszenario des kapitalistischen Systems.6 In einem menschenfreundlichen ökonomischen System hingegen würde der technische Fortschritt zum entgegengesetzten 6 Der Kapitalismus ist ein »falsches System«. Zunächst kann er durch die Entfaltung der Produktivkräfte und der Märkte den Wohlstand der Bevölkerung mehren, aber ab einem gewissen Stadium kommt es zu einer Kapitalverwertungskrise. Das System »kippt«, und es entsteht eine Abwärtsspirale. Die (Super-)Reichen werden zwar nach wie vor reicher, aber die Bevölkerung verarmt und verelendet zunehmend. Dieser »Systemfehler« ist seit über 150 Jahren bekannt: »In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine

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Resultat führen, nämlich zu einer Senkung der Arbeitszeit bei steigendem Wohlstand der Gesamtbevölkerung.7 Das ADS-Phänomen ist somit primär als ein Symptom einer »kranken Gesellschaft« (Fromm 1955) anzusehen. Sowohl der massive Anstieg der Zahl »unaufmerksamer« Kinder wie auch die gesunkene Hemmschwelle zum Einsatz von Psychopharmaka zum Zweck der Normalisierung kindlichen Verhaltens sind als Symptome einer tiefgreifenden Zivilisationskrise zu begreifen. Dies erklärt auch die Emotionen beim Thema ADS und Ritalin®. Die Menschen spüren, dass hier etwas nicht Geheueres, ja Schreckliches, mit den Kindern passiert, wenngleich das Bewusstsein meist noch nicht die Oberfläche der Phänomene durchdringen kann. Mit der Biologisierung des ADS-Phänomens durch das Hirnstoffwechselmodell wird die Psychopharmakabehandlung legitimiert. Zugleich entsteht damit ein Tabu, welches verbietet, diese Behandlung kritisch in Frage zu stellen. Denn ohne die Legitimation durch das Hirnstoffwechselmodell geriete die Psychopharmakabehandlung in den Widerspruch zum Selbstbild und zu den ethischen Handlungsmaximen in dieser Gesellschaft. Auch wenn es bereits gängige Praxis ist, Psychopharmaka zur Herstellung ei7 Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen« (Marx u. Engels 1848, S. 468). 7 Anstatt gesellschaftliche Strukturreformen ins Auge zu fassen, um ein neues ökonomisches System zu etablieren, kommt es zu einem aktivistischen Kurieren an Symptomen. Seit einem Vierteljahrhundert wird auf einen wirtschaftlichen Aufschwung gewartet, der endlich ausreichendes Wachstum bringen soll. Das Ganze erinnert sehr an die Durchhalte- und Endsiegparolen während des Zweiten Weltkriegs. Je mehr der gesellschaftliche Niedergang manifest wird, umso mehr wird er verdrängt und verleugnet.

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nes erwünschten kindlichen Verhaltens einzusetzen, muss daher diese Realität umgedeutet, verdrängt und geleugnet werden. Die Gesellschaft – so die These – benötigt die Biologisierung und Tabuisierung des ADS-Phänomens, weil sie mit der Wahrheit nicht umgehen kann. Sie benötigt das Ritalin®, weil sie auf andere Weise das Anpassungsproblem nicht mehr systemimmanent lösen kann. In der Diskussion um das ADS- und Ritalin®-Phänomen fehlt es vor allem an Ehrlichkeit. Niemand befürwortet den Einsatz von Psychopharmaka mit dem pragmatischen Argument, dass damit bestimmte Kinder einfach besser funktionieren. Und dass hierdurch nicht nur Eltern und Lehrer entlastet werden, sondern dass dieses bessere Funktionieren auch im Interesse der Kinder liegt, weil ihnen die Teilnahme am Schulunterricht ermöglicht und soziale Desintegration vermieden wird. Tabuisiert wird, dass Psychopharmakotherapie – genauso wie die Psychotherapie – zum unverzichtbaren Mittel gelingender sozialer Anpassung geworden ist. Eine gute Erziehung erfordert Liebe, Wissen, Zeit und Geld. Nur wäre es völlig illusionär zu glauben, dass in diesem ökonomischen System die Eltern jemals ein kostendeckendes Kindergeld und einen angemessenen Erziehungslohn erhalten würden. Im Gegenteil, das System ist nicht bereit, auf die profitable Verwertung der Arbeitskraft der Eltern zu verzichten und die Erziehungsarbeit zu bezahlen, sondern fordert sogar eine ständige Verlängerung der Arbeitszeit. So kommt es, dass unter diesen Bedingungen immer mehr Kinder verwahrlosen und Entwicklungsstörungen aufweisen. Kompensatorische Erziehungsangebote sind teuer, Psychopharmakabehandlung ist relativ billig und effektiv. Wenn immer mehr Kinder Psychopharmaka erhalten, so zeigt dies, dass auch hier die Gesetze der Marktwirtschaft funktionieren. »Was wir brauchen, ist eine neue Haltung, fast möchte ich sagen, eine Kombination von zynischem Realismus und Glauben, ein Vermeiden aller Sentimentalität, aller Irrationalität, verbunden mit dem Glauben an die realen Möglichkeiten« (Fromm 1970, S. 257).

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■ Manfred Gerspach

Zum Verstehen von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen

■ Die Betrachtung multipler Problemfelder Das Problem spitzt sich darauf zu, dass Abweichungen von sozialund vor allem schulverträglichen Verhaltenserwartungen mit Organpathologien erklärt werden. Die aktuell zu beobachtende Ausklammerung der psychosozialen Dimension reduziert die Betrachtungsweise auf eine rein biologische (vgl. Literaturservice ADHS 2004); Der Nervenarzt 2004 Suppl. 2; Neuro-Psychiatrische Nachrichten 2004). Nun ist es beileibe nicht so, dass dieser Einwand eine vernichtende Kritik an einer normativen Pädagogik signalisiere. Die Kritik richtet sich gegen die mittlerweile gängige Praxis, dass diese Normen gesetzt, aber nicht mehr reflektiert werden. Insofern auch gelten unsere Bedenken einer positivistischen Beweisführung, die eine psychosoziale oder psychodynamische Herangehensweise ins Reich der Mythologie verweist und dabei unzutreffenderweise vor dem Hintergrund des derzeit favorisierten Hirnstoffwechselmodells etwas für messbar erkennt, was so nicht messbar ist. Sicherlich lassen sich neurochemische Korrelate für bestimmte Gemütsverfassungen nachweisen. Entgegen aller anderen Behauptungen gibt es aber keinen Beleg, dass die positivistische Beweisführung hinsichtlich monokausal aufgefasster zerebraler Ursachen über den Stellenwert einer Hypothese hinauskommt. Allein aufgrund der massenhaften Zunahme des Phänomens ADHS verbietet es sich bei eingehender und abwägender Prüfung von selbst, aus dieser Vorgehensweise einen allgemeingültigen Anspruch abzuleiten. Nichtsdestotrotz macht der Begriff vom ADHS-Kind die Runde, so als fuße er auf validen medizinischen Studien. Im ersten

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Band des Zeit-Lexikons steht unter AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung geschrieben: »Für die Entstehung dieser Symptome kommen ursächlich konstitutionelle und biologische Faktoren in Betracht […] Zur Behandlung gehört unter anderem die Verhaltenstherapie; zur Steigerung der Aufmerksamkeit können Arzneimittel gegeben werden« (vgl. Zeit-Lexikon 2005, S. 455f.). Diese populärwissenschaftliche Definition spiegelt eine nivellierende Einheitsbetrachtung, die unbewiesene Behauptungen des mainstream transportiert und jede Möglichkeit einer subjektorientierten Differenzierung unterschlägt. Eine Bemerkung: Selbst die Diagnose »autistische Störung« macht keinerlei Aussage über die pädagogischen Konsequenzen. Im Gegenteil ist hier nach besonders empathischer Beziehungsgestaltung verlangt und nicht nach instrumentellen Trainingsprogrammen unter Bezug auf einen in diesen Fällen falsch gewählten normativen Parameter. Die Hypothese Hirnstoffwechselstörung kommt eben ohne Subjekt aus, sie ist objektorientiert. Subjektorientiert wird es aber darum gehen, Plausibilitätserklärungen für eine kindliche Unaufmerksamkeit zu finden, die selbst auf der Ebene ihrer deskriptiven Beschreibung kein einheitliches Bild vermittelt, sondern sehr deutlich den jeweiligen Toleranzrahmen des institutionellen Rahmens spiegelt. So können unter anderem die Kompromissbildung aus Widerborstigkeit und Angst vor Strafe oder Enttäuschung der Eltern, innere Strukturdefizite bei Kindern mit einem labilen Aufbau ihrer affektiven und kognitiven Schemata oder Vermeidungstendenzen gegenüber ungewohnten frustranen Situationen aufgrund sehr permissiv erlebter familiärer Bindungen über den gezeigten Konzentrationsmangel abgebildet werden. Und eines muss angesichts der sich epidemisch ausbreitenden Aufmerksamkeitsstörung als sicher gelten: Das Thema ragt weit ins Normale hinein, das hirnorganisch Pathologische bildet die Ausnahme. Wir stehen vor der Schwierigkeit, dass Lehrer und andere Fachvertreter offensichtlich eine Zunahme kindlicher Auffälligkeit bemerken, dass es aber keinen allgemeinen Konsens über Genese, Verlauf und Stellenwert dieses Phänomens gibt (vgl. Gerspach 2004). Weder dürfen wir gesellschaftliche und institutionelle Faktoren ausblenden, die den Referenzrahmen von ADHS abgeben, noch können wir mit dem Hinweis auf diese Einflussgrößen päd-

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agogische Hilfestellungen als reine Anpassungsstrategien verweigern. Der Ausweg liegt darin, sich dem Erleben von Kindern – als Basis ihrer Handlungsweisen – zuzuwenden. Denn selbst unter normalen Bedingungen sind Kinder gezwungen, belastende Situationen zu ertragen und daraus eigenaktive Wege zur Lösung zu entwickeln, was nicht immer sogleich gelingen will. Hierzu brauchen sie angemessene Hilfestellungen und konfliktfähige Beziehungspartner. Problemfelder, in denen Menschen sich bewegen, wirken stets im Hintergrund. Dies reicht vom Einfluss gesamtgesellschaftlicher Interaktionsformen über das Klima in den Institutionen bis hin zur Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen. Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen: Die Entwicklung kindlicher Lernprozesse findet unter veränderten gesellschaftlichen Lebens- und vor allem Beschäftigungsanforderungen in der postindustriellen Gesellschaft statt. Nach Sennett (1998) benötigt die kapitalistische Ökonomie heute vor allem den »flexiblen Menschen«. Die Wirtschaft ist auf unmittelbare Leistung und kurzfristige, auf die Bilanz durchschlagende Resultate abgestellt. Wer sich diesem Tempo nicht anpasst, der droht abgehängt zu werden. Eltern haben Angst, dass dies einmal ihren Kindern passieren wird und unterwerfen sie kritiklos diesen neuen Bedingungen des Arbeitsmarkts. Es nimmt nicht wunder, dass mit einer dergestalt beschleunigten Kindheit in der Tempogesellschaft Hyperaktivität zum Normalzustand wird. ADHS kann nur im Kontext Schule besser verstanden werden. Vor dem Hintergrund verschärfter ökonomischer Rahmenbedingungen sind vor allem Eltern der Mittelschicht verunsichert und möchten eine Karriereplanung für ihre Kinder betreiben, die diesem Ansinnen nicht immer anstandslos Folge leisten. Es kommt zu Störungen, die in vielen Fällen als eine Art Kompromissbildung zwischen dem Wunsch nach Verweigerung und der Angst vor Konsequenzen offener Rebellion zu lesen sind. Das störende Verhalten des Kindes führt zu Konflikten mit den Lehrern und ruft bei seinen Eltern (eigene) Versagensängste und Schuldgefühle wach. In der Folge verstärken die Eltern – in der Regel die Mütter – ihre Anstrengungen um den schulischen Erfolg, und so geraten nachmittägliche Hausaufgabensituationen gerne zu regelrechten

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Erziehungsschlachten. Aus dieser Hilflosigkeit heraus kommt es dann schnell zu einem unbewussten Zusammenspiel von Eltern, Lehrern und Medizinern, wobei gemeinsam geteilte Normalitätserwartungen eine unheilige Allianz eingehen. Man einigt sich auf die Diagnose ADHS und die vermeintlich positiven Wirkungen durch Ritalin®. Kindheit heute beinhaltet massive Veränderungen gegenüber den Sozialisationsbedingungen früherer Generationen. Hier kommen eine Reihe von Risikofaktoren in Betracht, die das Aufwachsen erschweren und (Mit-)Auslöser von Verhaltensstörungen sein können. Notabene kommt dem lebensgeschichtlichen Kontext eine pathogene Bedeutung zu. Wenn wir einmal von der sehr kleinen Gruppe von Kindern mit hirnfunktionell (mit)bedingten Störungen absehen wollen, auf die als einzige eine klare medizinische Indikation zutrifft, so kann eine instabile Aufmerksamkeit auf eine Beeinträchtigung der Erlebnis- und Konfliktverarbeitung verweisen, selten jedoch als singuläres Symptom. Schließlich greifen wir mehrheitlich auf einen Bildungsbegriff zurück, der sich von der Verklammerung an die humanistischen Ansprüche der Aufklärung – und zwar im Dienst des Gemeinwohls – verabschiedet hat und sich auf akkumulierbare und quantifizierbare Wissensbestände kapriziert. Bildung ist ursprünglich als Auftrag zur Selbstbestimmung, zur Mitbestimmung und zur Solidarität konzipiert gewesen (vgl. Krüger 1999, S. 169), wir begnügen uns mit einer rationalistischen Halbierung, die sich in der Aneignung von naturwissenschaftlichen und mathematischen Kompetenzen ergeht. Seit dem Obsiegen einer obrigkeitsstaatlichen Bildungspolitik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist jegliches kritisches Bewusstsein lautlos, umfassend und nachhaltig daraus verdrängt worden. Insofern verwundert es nicht, dass deutsche Schülerinnen und Schüler Probleme haben, zusammenhängend und sinnverstehend zu denken, und die in aller Hektik entstandenen Vorschläge zur Abhilfe in Form von weiterhin zusammenhanglosen und bedeutungsentleerten Nachhilfeprogrammen spiegeln diese Malaise. Da fällt es ihnen wahrlich schwer, aufmerksam zu bleiben und sich nicht ermüdet abzuwenden. In der modernen westlichen Gesellschaft können »die Resultate

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der Bildung nicht anders als problematisch sein […] Die vorrangige Funktion der Bildung ist es, die Produktion von Personen sicherzustellen, die in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen passen« (vgl. Miedema u. Wardekker 1999, S. 93). Mit Adorno könnte man da argumentieren, dass allein mit einer fundamentalen Kritik an jenen bestehenden Verhältnissen, die ein sinnerfülltes Leben durch ihre totalen Entfremdungstendenzen nicht zulassen, sondern eher verhindern, der Anspruch auf Bildung zu retten sei. Mit seinem Verweis auf eine selbstreflexive Vergewisserung zeigt Adorno einen Weg, mit den aus der Kritik erwachsenden Visionen beharrlich an einem Umbau der Erziehungs- und Bildungswirklichkeit festzuhalten. Allein Bildung erhilft uns in einem schmerzlichen Selbsterkenntnisprozess zum Bewusstsein der eigenen Beschädigung (vgl. Tenorth 1999, S. 150). Insofern auch stimmt Adornos Bemerkung, dass darin das »Versöhnende am Unversöhnlichen« aufgehoben ist (vgl. Adorno 1966, S. 314; Gerspach u. Mattner 2004, S. 53). Der Widerspruch des Bildungsprozesses besteht darin, dass das lernende Subjekt im Erziehungsprozess zur Ware verdinglicht wird und dies nicht einmal mehr bewusst spüren darf. Erst in der Bildung – als einem schmerzlichen Selbsterkenntnisprozess – kann das Subjekt zu sich selbst kommen (vgl. Tenorth 1999, S. 152f.). Denn Bildung zielt auf die Mündigkeit und Urteilsfähigkeit der Menschen und ihre Erziehung zur Widerständigkeit. Was aber bleibt von Bildung noch übrig, wo dies vergessen geht, wo der schmerzliche Weg der Selbstvergewisserung verbaut ist? Allerdings geht die Debatte in die entgegengesetzte Richtung. Nur demjenigen Lernen, das durch Stress bestimmt ist, wird noch Gültigkeit zuerkannt. So regiert ein falscher Begriff vom Lernen: »Mit ›Streng dich an‹, ›Bemühe dich noch mehr‹ werden wir angetrieben, mit dem Ergebnis, dass wir eine ganz fundamentale, aber unbewusste Lebenseinstellung lernen: Das, was wir ohne Anstrengung lernen, kann nicht wichtig, nichts wert sein« (vgl. Gruen o. J., S. 29). Dieses unsägliche Zusammenwirken der Vorherrschaft eines einseitig rationalistisch ausgelegten und ausgelebten Lernmodells mit der gleichzeitigen Entwertung des spielerisch Gelernten zeitigt dann fatale Folgen: Die Kinder passen nicht mehr auf. Ihnen wird die Neugier auf und das eigenaktive Konstruieren von

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Welt mit Nachdruck ausgetrieben. Und weil wir dies nicht verstehen wollen, bleibt uns nichts als sie dann zu pathologisieren – wir erklären sie zu hirnphysiologischen Mängelwesen. Noch einmal Arno Gruen: »Wir können nicht begreifen, was wir unserem Bedürfnis nach Freiheit angetan haben, wenn wir die Versager unter uns nicht beachten. Die Menschen, die versagt haben beim Lesen, Schreiben, Zählen, Laufen, Stehen und im Leben. Durch ihr Versagen sind sie paradoxerweise noch in Kontakt mit ihren Bedürfnissen, während wir ›Erfolgreichen‹ diesen Kontakt wahrscheinlich verloren haben. Sicher können diese Menschen keinen Gebrauch von dem machen, was sie empfinden. Aber sie können uns helfen aufzuspüren, auf welche Art wir unsere Bedürfnisse versanden ließen, als wir uns dem Leistungsdiktat beugten« (Gruen o. J., S. 33f.).

■ Die erschwerte Begegnung mit Welt Dies alles zusammen ergibt ein eher düsteres Szenario. Eine große Zahl von Erziehungs- und Anpassungsproblemen wird wohl nur vor dem skizzierten Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen plausibel. Abgesehen davon, dass wir auch problematische Erfahrungen wie frühen Objektverlust kennen, liegen bei einer Vielzahl so genannter ADHS-Kinder »Normal-«Biografien vor. Zuweilen lässt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der familiären Situation und dem Verhalten des Kindes vermuten. Beispielsweise spürt man, dass das Kind durch die Scheidung belastet ist oder eine alleinerziehende und berufstätige Mutter nicht genügend Zeit und Energie für die Erziehung ihres Kindes aufbringen kann. Aber wir kennen auch Kinder, die sich in einer ähnlichen Situation befinden und keine offenkundige ADHS-Problematik entwickeln. Ungünstige Umstände gehören zur Normalität der modernen Kindheit. Offensichtlich kennen wir alle zunehmend Anpassungsprobleme, die nur deshalb nicht als solche evident werden, weil wir Erwachsenen sie kollektiv für normal halten. (Grundschul-)Kinder befinden sich in einem Entwicklungsstadi-

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um, in dem die Zwänge des Alltags noch Widerstand hervorrufen. Insofern auch verschwinden viele Verhaltensweisen, die wir vorschnell zu Syndromgruppen zuordnen möchten, nach einiger Zeit wieder. Zudem wird ein depressiver Rückzug – ebenfalls die »Lösung« eines Konflikts – viel leichter übersehen, weil er im institutionellen Gepräge eines Klassenverbands dem Lehrer weniger Probleme bereitet als ausagierendes Verhalten. Die dargestellte Gemengelage zeigt die Vielzahl an Einzel- und Wechselwirkungen, die Kindheit heute ausmacht und sicherlich einen unguten Nährboden abgibt für Anfälligkeit und Verletzlichkeit. Deshalb ist vor vereinfachenden und monokausalen Zuschreibungen zum Phänomen ADHS zu warnen. Kann sich angesichts der Vielschichtigkeit der Probleme Schule noch guten Gewissens allein auf ihr Privileg der Wissensvermittlung berufen? Jedenfalls wird in der behavioral gewirkten Lehrerausbildung dieser Aspekt monopolartig betont, dialogische Momente pädagogischer Interventionen kommen kaum vor. Das Stillsitzenkönnen wird apodiktisch vorausgesetzt, bleibt dies aus, ist man ratlos. Wenn aber Impulskontrolle und Integration der triebhaften Anteile ins Ich nicht durchgängig gelingen, muss dies nicht zwangsläufig zu einer hirnfunktionellen Pathologisierung gereichen, geschweige denn zu einer projektiven Delegation an Experten jenseits der Schulmauern. Hier ist Schule direkt gefragt, – Orientierung zu vermitteln, wo Kinder nur mehr meinen, verhandeln zu können, – Emotionales und Sachliches so zu vermitteln, dass Lern- und Gemeinschaftsfähigkeit wachsen können, kurz: – eine affektregulierende Beziehung anzubieten, die kognitives Arbeiten erst möglich werden lässt. Erst in jüngster Zeit ist die Wechselwirkung von affektiver und kognitiver Entwicklung überhaupt ins Bewusstsein der Pädagogen gedrungen. Der Abschied von der Möglichkeit, Lerninhalte ohne Rücksicht auf die emotionale Bereitschaft der Lernenden zu vermitteln, hat weitreichende Auswirkungen auf die pädagogische Praxis. Es macht eine gelungene Affektabstimmung zwischen Pädagogen und Kind zum Motor jeglicher Bildungsbemühungen (vgl. Ciompi 1997; Leber 1995).

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Die Begegnung mit Welt veranlasst das Kind, nach der Bedeutung des darin Wahrgenommenen zu suchen. Lernen ist nicht, wie oft fälschlich unterstellt, passive Reizaufnahme, sondern ein aktiver Vorgang der Informationssuche, und zwar, und das wird ebenfalls gerne übersehen, immer mit emotionalen Begleiterscheinungen verkoppelt (vgl. Weiß 1986). Bildung kennt daher mehrere Dimensionen: Zunächst gilt es, einen Sachbezug und die Bedeutung, die die Wirklichkeit für das Subjekt hat, zusammenzudenken (vgl. Schäfer 2003a, S. 29). Darüber hinaus sind Sozialbildung und Affektbildung hinzuzunehmen, so wie es Mitscherlich verlangt hat. Bildung ist demnach nichts Statisches im Sinne von Wissensbesitz, sondern im dynamischen Sinne eine Suchbewegung. Ein gebildeter Mensch will wissen, »wer er ist, wie er sich verhält, wenn er erregt ist; er will auch in der Erregung ein Gefühl für sich und ein Gefühl für den Partner behalten« (vgl. Mitscherlich 1963, S. 36). Bildung beinhaltet also das Bemühen um Selbsttransparenz, um Aufrichtigkeit und um das Erkennen von Selbsttäuschungen. Es geht um die Überwindung von Vorurteilen und die Befreiung von Autoritätshörigkeit. Kurzum: Bildung bedeutet, eine »innere Toleranz für den Umgang mit Konflikten« zu entwickeln, die wir erleben. Und Mitscherlich folgert: »Die Kultur der Affekte ist das eigentlich schwerste Bildungsziel« (Mitscherlich 1963, S. 40; vgl. Göppel 2003a, S. 259; Göppel 2003b). Gerade die moderne Hirnforschung offenbart uns, dass sich die Art der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung stets mit den jeweiligen lebensgeschichtlichen Erinnerungen, die naturgemäß sehr affektgebunden sind, verknüpft (und damit anfällig für Störungen, Fälschungen und Ausblendungen ist). Alle über die Sinne einlaufenden Informationen werden von unserem Zentralnervensystem bewertet und entsprechend dieser Bewertung weiterverarbeitet. Bewertung aber heißt immer, durch eine subjektive »Sinn-Brille« zu schauen. Die Entwicklung von Lernen und Gedächtnis wäre ohne die Herstellung von Sinnzusammenhängen nicht denkbar. Art und Ausmaß der emotionalen Konflikte, die ein Mensch zeit seines Lebens erlebt, haben einen entscheidenden Einfluss auf seine Informationsverarbeitung beziehungsweise neuronale Verrechnung im Gehirn (vgl. Leuschner et al. 1998).

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Das emotionale Gedächtnis, in dem von frühester Zeit an die Beziehungserfahrungen aufbewahrt sind, kann als Kern unseres Erkennens angesehen werden: »Was der Kopf weiß, hat eine enorme Wirkung auf das, was der Kopf lernt und woran er sich erinnert« (Flavel, zit. n. Orange 2004, S. 150f.). Seit den bahnbrechenden Arbeiten von Ledoux oder Damasio auf dem Gebiet der Hirnforschung wissen wir, dass sich Denken und Emotionen überschneiden (vgl. Schäfer 2003b, S. 78ff.). Ohne Gefühle gibt es keine Bewertung einer Situation. »Gefühle sind nicht kognitivistisch zu reduzieren (etwa auf Verstandesdeutungen …), sondern sind eigenständige Verarbeitungsformen der sozialen Wahrnehmung, zugleich aber mit der Verstandestätigkeit derart verflochten, dass Gefühle ohne Vernunft (Intentionalität, Analysieren, Schlussfolgern) unmöglich sind wie Vernunft ohne Gefühle (Wertungen, Entscheidungsfindungen)« (Schmid Noerr 2003, S. 48). Wenn die Fähigkeit zur Selbstregulation den Kern der Intelligenzentwicklung ausmacht, dann erscheint es notwendig, den affektiven Erfahrungen des Kindes Aufmerksamkeit zu schenken, um Vorankommen wie Stockungen von Lernprozessen verstehen und angemessen intervenieren zu können. Immerhin stellen die Bezugspersonen für das lernende Kind nicht nur die äußere Quelle seiner zu bildenden inneren Schemata dar, sondern übernehmen eine vermittelnde Funktion zur Außenwelt (vgl. Dohmen-Burk 1992). Die affektiven Erfahrungen des Kindes im Umgang mit seinen nächsten Bezugspersonen haben entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung seines Denkens. Erst die wachsende Fähigkeit des Kindes, sein Getrenntsein von den frühen Bezugspersonen zu akzeptieren, gibt ihm Gelegenheit, mit den äußeren Bedingungen ohne deren Hilfe zurande zu kommen. Die zentrale Aufgabe der Kindheit liegt wohl in dem Umstand begründet, die Getrenntheit zu erfassen, zu akzeptieren und eigene Kräfte zu mobilisieren, mit den Verhältnissen »draußen« allein zurande zu kommen (vgl. Leber 1995). Der Ausgleich des Mangels der abwesenden Mutter ist die erste große gedankliche Leistung des Menschen – sie bildet das Fundament seines intelligenten Fortkommens. Nur wer imstande ist,

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diesen Mangel zu kompensieren und sich im Sinne Piagets auf neuer, höherer Ebene zu äquilibrieren, wird sich als lernfähig erweisen. Kinder, die ohne ausreichende Erfahrung von Affektregulierung aufwachsen oder extremen Gefühlsschwankungen ausgesetzt sind, haben große Probleme, sich äußeren Objekten zuzuwenden (vgl. Dohmen-Burk 1992). Unzureichende oder brüchige frühe Beziehungserfahrungen führen bei Kindern zu inneren Strukturdefiziten. Bei ihnen ist der Prozess der affektiven und kognitiven Dezentrierung erschwert. Weil sie nie ausreichend Sicherheit im Umgang mit ihren primären Beziehungspartnern erlebten, bleiben sie in einer gewissen Beziehungslosigkeit affektiv auf sich selbst konzentriert. Sie entwickeln antisoziale Tendenzen, haben kein Gespür dafür, was sie anderen antun. Weil sie die Abwesenheit des geliebten Objekts nie angstfrei zu denken wagten, bleibt gleichzeitig ihre kognitive Vorstellungskraft eingeschränkt. Sie entwickeln Lernstörungen. Nur wer das abwesende Objekt, das ihn liebt und beschützt, zu denken vermag, ohne sich dadurch zerstört zu sehen, ist zur abstrakten Lernfähigkeit imstande (vgl. von Uexküll et al. 1996; Löchel 1996). Wenn also Familie als sozialer Heimathafen ausfällt, wie es Giesecke (1996) formuliert hat, und Schule diese Aufgabe auch nicht übernimmt, entsteht ein entwicklungshemmendes Vakuum, das dann medikamentös geschlossen wird. Zum einen steht natürlich die Krankheitsdiagnose für eine Entlastungsfunktion der Eltern – sie sind nicht schuld am Versagen ihres Kindes – und auch die des Kindes – es kann nichts dafür und deshalb darf man ihm auch keinen Vorwurf machen. Insofern kann am Anfang therapeutischer und/oder pädagogischer Interventionen der Einsatz von Ritalin® durchaus zu einer deutlichen Spannungsminderung führen – was ins Stocken gekommene Entwicklung erst wieder aus ihrem Bann zu lösen mag. Schon die Säuglingsforschung zeigt uns, dass Kinder am aufnahmefähigsten sind, wenn sie sich in einem mittleren Spannungszustand befinden. Sattgetrunkene Säuglinge oder solche, die verzweifelt schreien, weil niemand zu Hilfe kommt, lernen nicht. Aber dieser Eingriff sollte nicht zur Korrektur ursächlich pathologischer Hirnstoffwechselprozesse verklärt werden. Zum andern hat die Diagnose Auswirkungen auf das Selbsterle-

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ben des betroffenen Kindes. Es erlebt sich anders und krank, womöglich fürchtet es, ohne Ritalin® sein inneres Monster nicht mehr im Griff zu haben (vgl. Dammasch 2003, S. 175f.), vielleicht auch wird das Medikament wie das Substitut eines ansonsten nicht ausreichend verfügbaren guten Selbstobjekts phantasiert (vgl. Rauchfleisch 1999, S. 113). Vor allem aber werden eigenaktive Lernprozesse unterbunden – denn dem Kind wird die Möglichkeit genommen, sich ohne medikamentöse Hilfe in Lernsituationen im Sinne Piagets neu zu äquilibrieren. Vielfach finden sich Kinder nach Absetzen des Medikaments auf eben jener Stufe wieder, die sie vorher eingenommen hatten. Darüber hinaus ist immer wieder zu beobachten, wie Eltern zu einer massiven Beschimpfung all jener ansetzen, die nicht widerspruchslos die Diagnose liefern, die sie zu hören wünschen. Sie fühlen sich schnell angegriffen, selbst wenn vorsichtige Abwägungen mit Bedacht vorgebracht werden. Sofort ist das Schuld-Thema virulent, das jetzt projektiv abgewehrt werden muss. Im Sinne des Bionschen Containing-Konzepts steht zu vermuten, dass hier ein Mangel an negativer Kapazität aufscheint (vgl. Bion 1992). Containing meint die Aufnahme unbewusster Ängste und Zustände im Anderen sowie die Fähigkeit, sie miterleben und aushalten zu können. Die Mutter als Behälter/Container »verdaut« die noch unverdaulichen Elemente des Kindes und hilft ihm damit, sie zunehmend eigenständig in verdauliche Elemente zu verwandeln. Über die Empathie hinaus wird damit aber ein Moment des Nachdenkens eingeführt, eine »negative Kapazität«, um Gefühlszustände aufzunehmen, ohne sie zu beurteilen oder nach schnellen Lösungen zu suchen. Diesem Verständnis nach wird eine Mutter die projektiv vermittelten Gefühlszustände ihres Kindes nicht abwehren, sondern über dessen Erleben solange emotional nachdenken, bis in ihr eine Ahnung über sein Befinden aufkommt. Das Containing ist zentraler Teil früher strukturbildender Interaktionserfahrungen und damit, wenn man so will, die Basis früher Bildungsprozesse. Die Verinnerlichung der mütterlichen Container-Funktion markiert nach Bion eine entscheidende Phase in der Entwicklung des Denkens. Versagt die Mutter in dieser Funktion, kommt es zu keiner Transformation von Affekten in Gefühle, die mit der Ein-

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führung von Bedeutungen einherginge (vgl. Böhme-Bloem 2002, S. 382). Von diesem Mangel wird die Entwicklung des Denkens massiv beeinträchtigt. Ein Kind wird »keinen eigenen inneren Raum in sich ausbilden, der Selbstwert, Ich-Funktionen, aber auch Phantasie, Kreativität und die Fähigkeit zum Denken und Symbolisieren enthält, wenn es keinen Raum im Inneren der Mutter findet« (Hirschmüller 2000, S. 421). Fonagy und Target (2001, S. 969) formulieren für diesen Fall: »Wenn Eltern für das Kind affektiv unerreichbar sind, verhindern sie, dass das Kind in den Eltern eine mentale Abbildung seiner eigenen inneren Welt etabliert, die es dann wiederum internalisieren könnte als Kristallisationspunkt eines eigenen Kern-Selbst.« Die besagten Eltern können die vermeintliche Kritik nicht aushalten noch verdauen und müssen sich sogleich entlasten. Wie aber, so frage ich mich, sollen Kinder Belastungen aushalten und bewältigen lernen, wenn ihre Eltern selbst kaum eine ContainingFunktion aufweisen? Dass aber das Kind auch und in erster Linie ein sinnliches Subjekt ist, wird stillschweigend unterschlagen. Solange wir uns mit unseren objektiven Wissensvorstellungen einem körperlosen »reinen Denken« verpflichtet zeigen, wird der affektive Zugang zum Lernen unmöglich. So verhindern wir geradezu systematisch, dass Lernen als Ausdruck einer sinnlich unmittelbaren Erfahrung lebendig werden darf. So kommt die Unaufmerksamkeit in die Welt (vgl. Lehmann-Rommel u. Ricken 2004, S. 22ff.). Gar nicht mehr thematisiert wird der Grundwiderspruch von Kindheit: Das (zunehmende) Oszillieren zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Weder sind Kinder per se lernvergnügt und bildungsbeflissen – eine Pädagogik vom Kind aus, so eine frühe Forderung von Ellen Key, greift da undialektisch zu kurz: Lernen ist immer mit Mühe verbunden –, noch darf man ihre infantile Widerborstigkeit erwachsenenorientiert abqualifizieren – Kinder genießen das Privileg, enger ihren lustvollen Affekten, damit dem Spielerischen und Phantasmatischen verhaftet zu sein. Der Gefahr einer weiteren Beschleunigung von Kindheit sollte daher entgegengetreten werden, denn sie bedeutet: Abwertung der kindlichen Entwicklungslangsamkeit. Empirisch gesehen ist das neue »›hochmo-

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dern-individualisierte‹ Kind eher Konstrukt als Tatsache« (vgl. Winterhager-Schmid 2002, S. 15ff.).

■ Gedanken zum Zappelphilipp Aus der Gemengelage eines vielschichtigen Problems möchte ich abschließend einen Aspekt herausgreifen: den psychodynamischen. Wie reagieren Kinder in Situationen, da sie intellektuell und sozial gefordert oder gar überfordert sind? Ich möchte noch einmal betonen, dass es angesichts einer ausufernden Problematik nicht mehr darum gehen kann, Kinder zu pathologisieren. Wenn wir mehrperspektivisch vorgehen, werden wir sehen, dass das wirkliche oder vermeintliche Scheitern nur in Ausnahmefällen einer dominanten pathogenen Ursache entspringt. Generell sind die Anforderungen an alle Kinder, Realität zu bewältigen, in den Blick zu nehmen. Die Konfliktfelder eines jeden Kindes der heutigen Zeit sind vielfältig, ganz zu schweigen von einem strukturell sich abzeichnenden gesellschaftlichen Hintergrund beschädigender Lebens- und Erziehungsverhältnisse. So möchte ich auf die bemerkenswerte Schrift von Eckhard Schiffer (1999) »Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde« verweisen, in der deutlich wird, dass Kinder, die ihre Träume auszuleben vermögen, gesunde Kinder sind, und die anderen, die das nicht können, oft schmerzliche Wege gehen müssen. Wenn wir es nicht schaffen, über solidarisches und mütterlich-fürsorgliches Handeln die nicht geträumten Träume wahr werden zu lassen, wird uns wahrscheinlich nur ein weiteres flächendeckendes Pathologisieren und anschließende »Heilung« bleiben. Am Beispiel des Zappelphilipp möchte ich meine Fragestellung und Sichtweise erläutern (vgl. Gerspach 2002). War dieser Zappelphilipp ein pathologischer Fall oder nicht? Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf einige lebensgeschichtlich interessante Momente seines literarischen Erfinders Heinrich Hoffmann zu werfen, um Philipp besser verstehen zu lernen. So wie Heinrich Hoffmann den Zappelphilipp beschrieb, ist er der Prototyp des hyperaktiven Kindes. Allgemein wird so getan,

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als käme die Unruhe wie ein Gewitter über das Kind. Aber Hoffmann schildert jene häusliche Situation, in der das hyperaktive Verhalten seinen Ursprung findet: Philipp und seine Eltern haben sich zum Essen um den Tisch versammelt, aber Philipp will nicht stillsitzen. Wir vernehmen, dass der Vater ihn beständig ermahnt, während die Mutter, was zweimal erwähnt wird, nur stumm blickt. Am Ende fällt der mit seinem Stuhl schaukelnde Junge um, nicht ohne das Tischtuch mitsamt dem Essen mitzureißen. In meiner Betrachtung des Themas möchte ich mich zunächst auf einige aufschlussreiche Anmerkungen des Kinderarztes Eduard Seidler (2004) zum Zappelphilipp beziehen. Zunächst skizziert Seidler die Geschichte der Diagnose der Hyperaktivität. Es ist die Geschichte einer latenten oder unverblümt offenen Psychiatrisierung von als unruhig und unkonzentriert bezeichneten Kindern. Allerdings wird punktuell schon Mitte des 19. Jahrhunderts die zunehmende Nervosität mit einer sich immer rascher industrialisierenden Gesellschaft in Verbindung gebracht. Vor allem der aufkommende Imperialismus verlangt nach soldatischen Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Mäßigung, Selbstbeherrschung und Subordination und trifft zunehmend auf Kinder, die diesen Anforderungen nicht entsprechen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bringt die an der Pawlowschen Physiologie orientierte Pädiatrie ein gut trainiertes Nervensystem und ihr Gegenstück, die neuropathische und dann die psychopathische Persönlichkeit, ins Spiel. Tiefenpsychologische Bemühungen um das unruhige Kind werden konsequent abgelehnt. Gegen die neurotischen Unarten, so der Wiener Ordinarius für Kinderheilkunde, Franz Hamburger, müsse man einschreiten, um einen freudigen Gehorsam zu erlangen. Am Ende wird der Hirnschaden und dann dezenter die Hirnfunktionsstörung in Anschlag gebracht. Seit 1937 setzt man gegen die Hyperaktivität als häufigste Verhaltensstörung Ritalin® ein. Darüber hinaus zeigt Seidler auf, dass Hoffmann verschiedene Versionen von Abbildungen verwendet hat. Eingangs erwähnt er, dass ein befreundeter Maler ein Bild mit dem Titel »Die unterbrochene Mahlzeit« anfertigte, das Hoffman sicher gekannt hat. Es zeigt eine ähnliche Szene, mit dem Unterschied, dass noch zwei Geschwisterkinder zu sehen sind: eines am Busen der Mutter, ein

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etwas größeres eng an den seinen offensichtlich ältesten Sohn schimpfenden Vater geschmiegt. Hoffmanns 1845 wenig später entstandene Urfassung zeigt eine bürgerliche Einkindfamilie mit einem deutlich spürbaren eskalierenden Vater-Sohn-Konflikt, den der Vater geradezu heraufbeschwört. Während hier das Kind noch gegen den Tisch tritt und den Arm gegen den Vater erhebt, umfasst es in der späteren Fassung nur mehr sein Knie, schaut nach unten und zappelt vor sich hin. Auch der eher trotzige Blick wird durch einen eher ängstlichen in Richtung Vater ersetzt. Die Rolle der Mutter wechselt ebenfalls auf bemerkenswerte Weise: Während sie in der ersten Fassung blass und in ihrer Haltung sehr zurückhaltend gezeichnet ist, wirkt sie in der letzten Fassung von 1859 vital. Sie versucht, mit einer Handbewegung den am Ende wütenden Vater zurückzuhalten. Seidler unterstreicht, dass aus seiner Sicht Hoffmann einen klassischen Vater-Sohn-Konflikt darstellen wollte, aber kein Krankheitsbild. Es sei daher unzulässig, die Diagnose »ZappelphilippSyndrom« auf ihn zurückzuführen. Dennoch bleiben zwei interessante Fragen offen: 1. Welcher latente Sinn verbirgt sich womöglich hinter dem manifesten Verhalten Philipps? 2. Warum hat Hoffmann die Darstellung der Szene zeichnerisch so entscheidend verändert? Anita Eckstaedt bietet uns für den ersten Punkt eine Interpretation an, die sich auf die Biografie von Hoffmann selbst bezieht (vgl. Eckstaedt 1998, S. 117ff.). Der kleine Heinrich verlor seine leibliche Mutter, als er noch nicht ein Jahr alt war. Drei Jahre später heiratete der Vater die leibliche Schwester seiner verstorbenen Frau. Die Geschichte vom Zappelphilipp birgt dieses Geheimnis: Es ist die Geschichte des kleinen Heinrich, seines Vaters und seiner neuen Stiefmutter. Diese hat noch keine Beziehung zu ihm entwickelt – signalisiert durch ihr Unbeteiligtsein an der Szene. Heinrich ist wütend und eifersüchtig – ein starker Auslösereiz für seine Zappeligkeit, die ja zunächst noch als deutlich gegen den Vater gerichtet erscheint. Er ist das »verlassene, einsame und unverstandene Kind«, unfähig, sein Gleichgewicht in dieser veränderten Situation zu finden. Die Liebe des Vaters gilt jetzt seiner neuen Frau, Hein-

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rich muss sich einen anderen Platz suchen. Der Junge will das nicht. Also stört er die Idylle. Eine weitere Überlegung bietet sich an, wenn man die Geschichte näher anschaut und Hofmanns Biografie in Betracht zieht. Vielleicht ist nicht die Hochzeit der Anlass für Philipps Zappeligkeit, sondern die Schwangerschaft der Stiefmutter. Bei genauerem Hinsehen erkennt man auf dem letzten Bild der Urfassung, auf welchem sie aufgestanden ist, ihren gerundeten Bauch. (In der Regel sind die Frauen, die Hofmann im »Struwwelpeter« gezeichnet hat, schlank geraten.) Eckstaedt erwähnt, dass Hofmanns Stiefmutter in der Tat noch drei Kinder bekam. Wut und Eifersucht fanden beim kleinen Heinrich demnach reichlich Nahrung. So wäre auch zu verstehen, warum der gemalte Philipp älter als ein Dreijähriger aussieht, der er nach der Deutung Eckstaedts sein müsste. Wenn man nun an dieser Stelle das ursprüngliche Gemälde ins Spiel bringt, auf dem drei Geschwister zu sehen sind und eines – nämlich der Übeltäter – davon deutlich isoliert –, so findet man ein mögliches Motiv, warum Hoffmann nur ein Kind für seine Geschichte genommen hat: Das Gemälde musste ihn sehr schmerzlich an seine eigene Situation erinnert haben, und chronologisch gesehen war es sinnvoll, die Situation des in seiner Einmaligkeit bedrohten Einzelkindes zu skizzieren. Damit zum zweiten Punkt. Hat der Wechsel der Zeichnungen eine Bedeutung oder nicht? Wir wissen es nicht, aber im Sinne Lorenzers halte ich es für legitim, »lebenspraktische Vorannahmen« einzusetzen, um einen fremden Lebenszusammenhang verstehen zu wollen (vgl. Lorenzer 1974, S. 159f.). Zunächst einmal wird deutlich, dass Hofmann die Geschichte allmählich entschärft. Die geradezu offene Feindseligkeit des Vater-Sohn-Konflikts wird durch die Veränderung der Gesten und Blicke verschleiert, aus einem offenen Affront von Philipp wird nur mehr ein scheinbar kontextloses Zappeln. Die Mutter dagegen ergreift am Ende Partei für den Jungen, indem sie mit einer Handbewegung den erzürnten Vater abwehrt. In der ersten Version von 1845 ist die Mutter leblos, blass und passiv, in der späteren Version von 1859 drall, lebendig und aktiv. Auch die Blumenrankungen sind bunter gehalten.

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In einer persönlichen Mitteilung an mich vom September 2005 hat Eduard Seidler dankenswerterweise auf die Umstände dieser Veränderungen aufmerksam gemacht. Um 1848 sei in St. Petersburg eine Ausgabe des »Struwwelpeter« in russischer Sprache erschienen, die sich stark an Hoffmanns Urfassung anlehnte, aber abweichende Illustrationen aufwies. Hoffmann gelangte nachweislich in den Besitz eines dieser Exemplare und übernahm einiges daraus für seine eigene Fassung, unter anderem die »pralle russische Matka«. Damit seien nun viele Interpretationsversuche hinfällig. Seidler schließt sein Schreiben mit den Worten: »Das Ganze ist ein ikonographisches, kein ›paläodiagnostisches‹ Problem«. Für diese Erläuterungen bin ich dem Kollegen Seidler sehr dankbar. Nun geht es mir aber beileibe nicht um eine Pathologisierung Heinrich Hoffmanns. Im Gegenteil möchte ich verstehen, auf welche Weise alltäglicher Konfliktstoff Kindern eine bestimmte, zunächst von heftigen Affekten getragene Reaktion abverlangt. Insofern mag gerade die Tatsache seiner veränderten Darstellung weitere Aufklärung über Lebensszenario und Triebschicksale liefern. Selbst wenn Hofmann auf die Arbeiten eines anderen Künstlers zurückgegriffen und seine Urversion revidiert hat, so mögen es doch durch diese Vorlagen angeregte persönliche Beweggründe gewesen sein, die ihn dazu veranlassten. Gemahnte die offen sichtbare Aggression gegen den Vater doch auf Dauer an die frühere Angst, dessen Liebe zu verlieren und bestraft zu werden? Spielt sich am Ende vielleicht der unbewusste Wunsch eines verwaisten Jungen nach einer stabilen Beziehung zu seiner neuen und lebendigen Mutter in den Vordergrund, die ihm auch gegen den Vater beisteht? Die Zensur eines zunächst unumwunden geschilderten Vater-Sohn-Konflikts und der Wunsch nach mütterlicher Liebe und Anerkennung trotz der nahenden Ankunft von Halbgeschwistern könnten hier ohne weiteres zusammengewirkt haben. Wenn dem so wäre, so kann man das gezeigte Verhalten Philipps als (grund-)normale, realitätsbezogene Reaktion eines wütenden und sich allein gelassen fühlenden Kindes verstehen – wie übrigens eine Reihe von so genannten ADHS-Kindern frühe Beziehungsabbrüche aufweisen. Was wäre uns mit einem solchen Vorgehen, das nach dem mög-

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licherweise Sinnhaften fragt, geholfen? Nun, wir könnten zunächst besser verstehen, dass es einen realen Grund für die Unruhe beziehungsweise Unaufmerksamkeit gibt und es sich nicht primär um eine zerebrale Fehlschaltung handelt. Das Kind hat etwas noch nicht verdaut und bedarf dazu unserer Hilfe. Wir könnten dieses Unbewältigte zur Sprache bringen und auf diese Weise einen Weg zeigen, es symbolisch so zu bearbeiten, dass es besser im Bewusstsein aufgehoben ist. Und Seidler merkt in seinem Aufsatz an, dass Kinder schon zu allen Zeiten die Elemente des heutigen Syndroms gezeigt hätten, die Theoriediskussion aber aktuell über die eingeführten neurobiologischen Erklärungsmuster eine neue, verschärfte Qualität bekommt (vgl. Seidler 2004, S. 242f.). Insofern besteht real die Gefahr einer verkürzten Re-Biologisierung.

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■ ADHS: Eine der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie

■ Peter Riedesser

Einige Argumente zur ADHS-Kontroverse in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Der Streit um die Diagnose ADHS und um die Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen hat sich zu einer der größten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgewachsen. Dieser Beitrag will einigen der wichtigsten Argumente für die Stellung der Diagnose ADHS und die Behandlung mit Methylphenidat Gegenargumente gegenüberstellen mit dem Ziel, die Diskussion, die oft polemisch und einseitig geführt wird, zu versachlichen (s. Tab. 1). Werden Kinder mit dem Etikett »ADHS« versehen, kann dies folgende Konsequenzen haben: – unzulässige Vereinfachung komplexer psychischer und sozialer Probleme, – auf Medikation ausgerichtete Sichtweise des Problems, – Stigmatisierung des Kindes, – Behinderung eines differenzierteren Forschungsprozesses. Es besteht Konsens, dass die Symptome, die unter dem Begriff ADHS beschrieben werden, bei Kindern und Jugendlichen ein Massenphänomen sind. Dissens besteht über das Ausmaß, den möglichen Krankheitswert, über die Ätiologie sowie über die Therapie.

Tabelle 1: Gegenüberstellung der Argumente für und wider die Diagnosestellung ADHS und Methylphenidatbehandlung

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Aus meiner Sicht ergeben sich folgende Forderungen an zukünftige Forschungen in diesem Gebiet: – differenzierte Einzelfallstudien zur Verbesserung des Verständnisses der komplexen Konstellationen, unter denen die ADHSSymptome auftreten können; zum Beispiel des Zusammenhangs von Aufmerksamkeit, Beziehungsentwicklung und Motivation (Warum kann sich ein in der Schule hyperaktives und unaufmerksames Kind stundenlang mit dem Computer oder mit Harry Potter beschäftigen?) oder des Übergangs von einem hyperkinetischen »state« zu einem hyperkinetischen »trait«; – differenzierte Längsschnittuntersuchungen mit entwicklungspsychopathologischen Fragestellungen im Kontext der ElternKind-Beziehung; – Erforschung der Inzidenz dieser Störung; – Verlagerung des Schwerpunkts der Therapieforschung von den Psychopharmaka auf andere Ansätze, zum Beispiel die intrapsychische Erlebensdynamik und die Familiendynamik; – Untersuchung von Kontraindikationen und Fehlindikationen von Psychopharmakotherapie, Verhaltenstherapie, psychodynamischer Therapie; – Erarbeitung neuer, nicht trivialer Modelle für dieses komplexe Gebiet der kindlichen Entwicklung jenseits traditioneller Polarisierungen als Basis für weitere Forschungsdesigns.

■ Gerd Lehmkuhl und Manfred Döpfner

Die Bedeutung multimodaler Therapieansätze bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen

In einer kritischen Übersicht stellte Abikoff (1991) fest, dass trotz einer offensichtlichen Effektivität kognitiver Interventionen bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen nur geringe empirische Hinweise für ihre klinische Nützlichkeit vorliegen. Auch die notwendige Generalisierung auf alltägliche Situationen ließe sich nicht in gewünschtem Ausmaß belegen. Kritisch merkt Abikoff (1991) an, dass in keiner Studie belegt werden konnte, dass die kognitiven Therapieansätze den positiven Effekt von Psychostimulanzien verstärken oder ihn gar ersetzen können. Dennoch empfehlen die Behandlungsstandards der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (1991, 1997) sowie die deutschsprachigen Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2003) ein multimodales Vorgehen. Dies lässt sich mit der Vielzahl von gestörten Funktionen und beeinträchtigten Lebensbereichen ebenso begründen wie mit der mangelnden Bereitschaft vieler Eltern, eine psychopharmakologische Behandlung ihres Kindes zu akzeptieren. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass ein isolierter Behandlungsansatz häufig nicht die gewünschten Effekte erzielt und die Kombination verschiedener Interventionsansätze der zumeist vielschichtigen Symptomatik am ehesten gerecht wird. Dabei findet die Entwicklung von therapeutischen Leitlinien in einem Spannungsfeld statt, das einerseits von der Sorge um die Einschränkung der individuellen Anwendung und Wahl des therapeutischen Vorgehens und andererseits von der Gefahr rechtlicher Konsequenzen bei Nichteinhaltung entsprechender Vorga-

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ben geprägt ist. Qualitätssicherung und Standards in der kinderund jugendpsychiatrischen Diagnostik und Therapie verlangen die Entwicklung und Anwendung von empirisch abgesicherten Handlungskonzepten und damit einen Orientierungsrahmen, der das aktuelle theoretische wie praxeologische Wissen integriert (Lehmkuhl u. Döpfner 2002, 2003). In diesem Sinne trägt die Entwicklung von Leitlinien dazu bei, dass diagnostische und therapeutische Standards in einer engen Beziehung stehen und Ausgangspunkt für eine differenzielle Indikationsstellung und Verlaufsbeurteilung sind. Die Leitlinien der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry gliedern sich in fünf übergreifende Bereiche (1991, 1997): – Sie beschreiben die notwendigen diagnostischen Erhebungsmethoden, – geben Hinweise auf Aspekte, die bei der Formulierung der Diagnose(n) unter Einbeziehung vor allem differenzialdiagnostischer Abgrenzungen und Berücksichtigung von komorbiden Störungen zu berücksichtigen sind, – definieren Behandlungsmethoden und psychosoziale Interventionen einschließlich der Indikation für einzelne Interventionen, – spezifizieren die Art der notwendigen Verlaufskontrollen und – listen Aspekte auf, die bei der Diagnose und Behandlung spezifischer Patientengruppen beachtet werden sollten. Um die häufig beklagten diagnostischen Unschärfen auszuräumen, ist eine multiple Diagnostik notwendig und unumgänglich. Nur so lässt sich die multifaktorielle Ätiologie angemessen abbilden, und man begegnet der Gefahr vereinfachter Erklärungskonzepte und sich daraus ableitender therapeutischer Maßnahmen.

■ Die Notwendigkeit einer differenziellen Diagnostik Die empirischen Ergebnisse zur Pathogenese der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung lassen sich am besten in einem biopsychosozialen Modell zusammenfassen (Döpfner et al.

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2000; s. Abb. 1). In einem solchen Modell verstärken sich biologische und psychosoziale Faktoren, bedingen neurologische und interaktionelle Defizite und führen zu den Kernsymptomen der ADHS sowie begleitender komorbider Symptome. Demzufolge lassen sich die Symptome auf verschiedenen Ebenen definieren und mit ihren Auswirkungen auf die Selbstregulation, auf soziale Kompetenzen und Interaktionsmuster erfassen. Geht man von einer multifaktoriellen Ätiologie aus, leitet sich hieraus zwangsläufig eine multiple Verhaltens- und Psychodiagnostik ab, die in ein multimodales Therapiekonzept mündet (Döpfner u. Lehmkuhl 1997; s. Abb. 2). Die Komponenten einer multiplen Verhaltens- und Psychodiagnostik beziehen unterschiedliche Methoden und situationsspezifische Aspekte ein, gehen individualisiert vor und erfassen mehrere Ebenen des Verhaltens und Erlebens (Döpfner u. Lehmkuhl 1997). Dieses diagnostische Vorgehen sollte schließlich konkrete Hinweise für therapeutische Entscheidungen liefern und eine Erfolgskontrolle ermöglichen. Eine multimodale situationsspezifische und individualisierte Diagnostik verfolgt vor allem das Ziel, behandlungsbezogene Ansatzpunkte zu liefern und trägt damit zu einer differenziellen Therapieindikationsstellung bei. Eine multiple Verhaltens- und Psychodiagnostik stellt eine notwendige Voraussetzung für die Planung multimodaler Behandlungsansätze dar, in der Interventionen auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlichen Situationen und Lebensbereichen des Kindes oder Jugendlichen unter Anwendung verschiedener therapeutischer Methoden kombiniert werden. In den letzten Jahren wurde im Rahmen großer Studien die Effektivität eines multimodalen Vorgehens bei Kindern mit ADHS überprüft. Die Ergebnisse der Multimodal-Treatment-Study of Children with Attention-Deficit-Hyperactivity-Disorder, kurz MTA-Study genannt, umfassen inzwischen einen mehrjährigen Beobachtungszeitraum (MTA Cooperative Group 1999a, 1999b, 2004). In die Studie wurden in sechs amerikanischen Zentren 579 Kinder im Alter von sieben bis neun Jahren eingeschlossen. 20 Prozent der Patienten waren Mädchen, alle erfüllten die Diagnose einer ADHS vom Mischtyp nach DSM-IV und hatten einen IQ über 80.

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Abbildung 1: Biopsychosoziales Modell der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (aus Döpfner et al. 2000)

Die Patienten wurden per Zufall einer von vier Behandlungsbedingungen zugewiesen (MTA Cooperative Group 1999a): – Medikamentöse Behandlung einschließlich Beratung (medical management),

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– Verhaltenstherapie mit eltern-, schul- und kindzentrierten Interventionen, – kombiniertes Vorgehen aus Medikation und Verhaltenstherapie, – Standardtherapie (community care).

Abbildung 2: Multimodale Behandlung von Kindern mit ADHS (aus Döpfner u. Lehmkuhl 1997)

Bei der medikamentösen Behandlung einschließlich Beratung und dem kombinierten Ansatz wurde zunächst über einen Zeitraum von vier Wochen eine exakte Titrierung mit Methylphenidat durchgeführt, um eine optimale Dosismenge zu erreichen. Im täglichen Wechsel wurden per Zufall Placebo, 5 mg, 10 mg, 15 mg oder 20 mg morgens und mittags sowie am Nachmittag noch einmal die Hälfte der entsprechenden Dosis verabreicht. Die Titrierungsphase wurde von 89 Prozent der dieser Gruppe zugewiesenen Patienten durchlaufen, bei den anderen verweigerten die Eltern eine medikamentöse Einstellung. Bei weiteren 15 Kindern wurde die Titrierung abgebrochen, darunter bei vier Kindern wegen erheblicher Nebenwirkungen. Bei 26 Kindern war wegen unzureichender Wirkung eine Umstellung auf Dextraamphetamin notwendig. Bei den Kindern, die auf Methylphenidat eingestellt wurden, betrug die durchschnittliche optimale Tagesdosis 30,5 mg. Nach erfolgreicher medikamentöser Einstellung bestand die Beratung in monatlichen halbstündigen Kontakten mit dem Arzt, der auch praktische Ratschläge gab und bei Bedarf Selbsthilfemanuale empfahl. Somit war die medikamentöse Therapie in eine

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kontinuierliche niederschwellige Beratung eingebettet. Nach 14 Monaten erhielten von den Kindern, die ursprünglich für die medikamentöse Therapie oder Kombinationsbehandlung vorgesehen waren, 53 Prozent Methylphenidat, 10 Prozent D-Amphetamin, 1 Prozent Pemolin, 0,3 Prozent Imipramin, 0,3 Prozent Buproprion und 18 Prozent keine Medikation. Das verhaltenstherapeutische Vorgehen war umfassend und intensiv und bezog eltern-, schul- und kindzentrierte Interventionen ein: – Elterntrainings in Elterngruppen mit sechs Eltern (Paaren), pro Gruppe mit insgesamt 27 Sitzungen und zusätzlich acht Einzelsitzungen. Das Training wurde anfangs wöchentlich, zum Ende einmal pro Monat durchgeführt. – Interventionen in der Schule mit insgesamt 10–16 Beratungssitzungen mit dem Lehrer sowie an insgesamt 60 Schultagen eine direkte Unterstützung des Kindes während des Unterrichts durch einen Trainer einschließlich täglicher Beurteilung des Schulverhaltens durch den Lehrer mit kombiniertem TokenSystem. – Kindzentrierte Interventionen im Rahmen eines 8-wöchigen Sommerferienprogramms mit Freizeitpädagogik, Kompetenztrainings, Problemlösungstrainings und Sport. In dieses Programm waren operante Verfahren (Token-Systeme, Time-Out, soziale Verstärkung) integriert. In der Standardtherapie wurden die Eltern über die Ergebnisse der Eingangsdiagnose aufgeklärt und es wurde die Aufnahme einer Behandlung vor Ort empfohlen. Aus dieser Gruppe erhielten 67 Prozent der Kinder eine medikamentöse Behandlung, der Umfang der erhaltenen Beratung sowie therapeutischer Maßnahmen wurde bislang nicht spezifiziert. Erfolgsparameter wurden aus folgenden Bereichen ausgewählt: hyperkinetische Symptomatik in der Schule und in der Familie, aggressive Symptomatik in der Schule und in der Familie, internale Symptomatik, soziale Kompetenzen sowie Eltern-Kind-Beziehungen. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Veränderungen in den Kardinalsymptomen der hyperkinetischen Störung

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zeigen sich sowohl im Lehrer- als auch im Elternurteil und in der Verhaltensbeobachtung, wobei die Medikation mit Beratung in drei von fünf Parametern wirksamer war als die Verhaltenstherapie. Die kombinierte Behandlung erwies sich in drei von fünf Parametern effektiver als die Verhaltenstherapie. Im Lehrerurteil und in der Verhaltensbeobachtung im Klassenzimmer unterscheiden sich diese Behandlungsformen nicht voneinander. Medikamente mit Beratung erwiesen sich auf allen Parametern als ebenso wirksam wie eine kombinierte Vorgehensweise. In fast allen Bereichen wurde deutlich, dass die kombinierte Behandlung ebenso wie die medikamentöse Therapie plus Beratung bessere Effekte erzielt als eine Standardtherapie, die überwiegend aus Stimulanziengabe bestand. Hervorzuheben sind jedoch differenzierte Effekte. Bei aggressivem Verhalten ist Medikation plus Beratung ebenso wirksam wie Verhaltenstherapie und die kombinierte Behandlung ist der Einzeltherapie nicht überlegen. Die Kombinationsbehandlung ist jedoch effektiver als die Standardbehandlung, das gleiche gilt für die Verhaltenstherapie. Zu ähnlichen Resultaten führt die Betrachtung bei einer begleitenden internalen Symptomatik. Bei den sozialen Kompetenzen ergeben sich durch kombinierte Therapieansätze bessere Effekte als durch das Standardvorgehen, ebenso wirkt sich diese Vorgehensweise auf die Erziehungskompetenzen der Eltern am günstigsten aus. Insgesamt spiegelt sich in diesen ersten Analysen ein sehr gemischtes Bild wider, das hinsichtlich der Effekte einer kombinierten Therapie eher enttäuschend ausfällt, hatte man sich doch eine bessere Wirkung der Kombinationsbehandlung gegenüber der medikamentösen Therapie plus Beratung versprochen (vgl. Döpfner u. Lehmkuhl 2002). Allerdings zeigte sich schon in diesen Analysen, dass die Kombinationsbehandlung auf den meisten Parametern die wirkungsvollste Intervention war, wenngleich diese Effekte statistisch nicht ausreichend abgesichert werden konnten. Connors und Mitarbeiter (2001) konnten in einer Reanalyse der primären Ergebnisse zeigen, dass die kombinierte Behandlung insgesamt gesehen auch der medikamentösen Therapie statistisch signifikant überlegen war. Fasst man nämlich die Indikatoren des Behandlungserfolgs zu einem globalen Erfolgsparameter zusammen und beachtet dabei nicht nur die Kernbereiche von Hyperak-

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tivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit, sondern bezieht alle Verhaltensauffälligkeiten mit ein, dann wird die Überlegenheit des multimodalen Ansatzes gegenüber der medikamentösen Therapie plus Beratung deutlich. Mehrere Analysen gehen auch der Frage von differenziellen Therapieeffekten bei komorbider Symptomatik nach. Bereits in den ersten Analysen (MTA Cooperative Group 1999b) wurde deutlich, dass bei Kindern ohne komorbide Angststörung die Effekte den Ergebnissen in der Gesamtgruppe entsprachen. Bei Kindern mit Angststörungen ergaben sich jedoch durch die Verhaltenstherapie signifikant bessere Ergebnisse als in der Standardbehandlung sowohl hinsichtlich ADHS als auch der internalisierenden Symptome. Jensen und Mitarbeiter (2001) konnten bei einer weitergehenden Analyse der Subgruppenergebnisse herausarbeiten, dass Kinder mit ADHS und Angststörungen (aber ohne aggressive Symptome) gleich gut auf Verhaltenstherapie und medikamentöse Therapie ansprechen. Kinder mit ausschließlich ADHS oder mit zusätzlicher aggressiver Störung (aber ohne Angststörung) reagieren besser auf medikamentöse Therapie (mit und ohne zusätzliche Verhaltenstherapie). Kinder mit multiplen komorbiden Störungen (Angst und aggressive Störung) profitieren optimal von einer kombinierten Behandlung aus Medikation und Verhaltenstherapie. Die bisherigen Analysen zeichnen somit ein sehr differenziertes Bild der Wirksamkeit der untersuchten Therapieformen mit folgenden Hauptergebnissen ab: Bei allen überprüften Interventionen (einschließlich Standardbehandlung) haben sich auf den Erfolgsparametern erhebliche (Prä-Post-)Veränderungen nachweisen lassen, die nach den Kriterien von Cohen (1977) durchweg als große Effekte einzuschätzen sind. Eine sehr umfassende und präzise medikamentöse Therapie inklusive Beratung ist der ebenfalls sehr intensiven Verhaltenstherapie auf Eltern- und Lehrerbeurteilungen von Aufmerksamkeitsstörungen und auf Lehrerbeurteilungen von Hyperaktivität überlegen, aber nicht auf den anderen 16 Erfolgsparametern. Auf einem Gesamtmaß aller Erfolgsparameter zeigt sich eine geringe Überlegenheit des medikamentösen Ansatzes (ES = 0,26) gegenüber Verhaltenstherapie.

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Die medikamentöse Therapie und die Kombinationsbehandlung sind der Standardtherapie überlegen, in der ebenfalls medikamentös behandelt wurde. Die Verhaltenstherapie ist etwa genauso wirkungsvoll wie Standardbehandlung. Die kombinierte Behandlung ist auf keinem der Einzelmaße der medikamentösen Therapie statistisch signifikant überlegen. Auf einem Erfolgsmaß, das viele Teilaspekte berücksichtigt, erweist sich die kombinierte Therapie jedoch als wirkungsvoller, werden hingegen nur hyperkinetische und oppositionelle Auffälligkeiten berücksichtigt, steigt die Erfolgsrate der kombinierten Therapie gegenüber der medikamentösen Therapie von 56 Prozent auf 68 Prozent. Die besseren Effekte der Kombinationsbehandlung werden bei geringerer Dosis erzielt. In Abhängigkeit von der Komorbidität wirken verschiedene Interventionsformen unterschiedlich gut. Kinder mit ADHS und Angststörung (aber ohne aggressive Störung) sprechen gleich gut auf Verhaltenstherapie und medikamentöse Therapie an. Kinder mit ausschließlich ADHS oder mit zusätzlicher aggressiver Störung (aber ohne Angststörung) reagieren besser auf medikamentöse Therapie, während Kinder mit multiplen komorbiden Störungen (Angst und aggressive Störung) optimal von einer kombinierten Behandlung (Medikation und Verhaltenstherapie) profitieren. Die katamnestischen Ergebnisse nach zwei Jahren verdeutlichen, dass diejenige Gruppe von Kindern, bei denen die Medikation beendet wurde, eine deutliche Verschlechterung ihrer Symptomatik aufwies. In der Beobachtung des naturalistischen Verlaufs wurde deutlich, dass eine konsequente Stimulanzientherapie auch über einen längeren Zeitraum die positiven Effekte stabilisiert. Eine begleitende verhaltenstherapeutische Unterstützung erwies sich für die Langzeitentwicklung als unterstützend und hilfreich. Abikoff und Mitarbeiter (2004) berichten über längerfristige Behandlungseffekte bei Kindern, die mit Methylphenidat sowie einem multimodalen Behandlungsprogramm behandelt wurden. In die Studie aufgenommen wurden Kinder, die positiv auf Stimulanzien ansprachen. In dieser speziellen Gruppe kam es durch eine begleitende psychosoziale Intervention zu keiner weiteren Verbesserung der ADHS-Symptomatik sowie einer komorbiden Störung

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des Sozialverhaltens. Unter der Medikation blieben die Methylphenidat-Effekte über zwei Jahre stabil.

■ Die Kölner Multimodale Therapiestudie Die Kölner multimodale Therapiestudie versucht, einzelne Behandlungskomponenten einer multimodalen Therapie in Abhängigkeit von dem Erfolg anderer Behandlungskomponenten ergänzend zu überprüfen. Es geht also um die individuelle Anpassung an die jeweiligen Erfordernisse des Kindes sowie der Familie (Döpfner et al. 2004). In die Kölner Studie wurden 75 Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren mit der Diagnose einer hyperkinetischen Störung (ICD-10/DSM-IV) ambulant einbezogen (Döpfner et al. 2004). Nach einer sechswöchigen Phase der Psychoedukation und des Beziehungsaufbaus wurden die Patienten initial entweder verhaltenstherapeutisch (n=45) oder medikamentös mit Psychostimulanzien (n=28) behandelt (bei zwei Kindern wurde nach der initialen Psychoedukation die Behandlung abgebrochen). Die weiteren Interventionen richten sich nach dem individuellen Behandlungsverlauf – bei teilweise erfolgreicher Stimulanzientherapie wurde mit Verhaltenstherapie kombiniert, bei nicht erfolgreicher Stimulanzientherapie wurde auf Verhaltenstherapie gewechselt und bei sehr erfolgreicher Stimulanzientherapie wurde keine weitere Therapie durchgeführt (bei initialer Verhaltenstherapie wurden entsprechende Strategien durchgeführt). Dieses Vorgehen erlaubte eine individualisierte, multimodale Therapie entsprechend dem jeweiligen Therapieverlauf. Insgesamt konnten bis zu fünf Behandlungsphasen mit jeweils sechs Sitzungen mit den Eltern und/oder dem Kind sowie begleitenden Lehrerkontakten durchgeführt werden. Die Ergebnisse zu den Veränderungen während der individualisierten multimodalen Therapie insgesamt (entweder nur Verhaltenstherapie oder nur Stimulanzientherapie oder kombinierte Therapie) lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Die Abbrecherquote ist gering (10 %) und die Zufriedenheit der Eltern mit der Behandlung ist insgesamt sehr hoch.

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– Bei 40 Prozent der Patienten werden die Verhaltensauffälligkeiten von den Eltern bei Behandlungsende so gering eingeschätzt, dass die Kriterien für die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (nach DSM-IV) oder einer Störung des Sozialverhaltens nicht mehr erfüllt sind. – Bei 57 Prozent der Patienten werden die Verhaltensauffälligkeiten von den Lehrern bei Behandlungsende so gering eingeschätzt, dass die Kriterien für die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder einer Störung des Sozialverhaltens nicht mehr erfüllt sind. – Die therapierelevanten individuellen Verhaltensprobleme des Kindes in der Familie reduzieren sich im Verlauf der multimodalen Therapie deutlich. Der Anteil der Kinder mit geringen Problemen steigt nach Einschätzung der Eltern von 22 Prozent bei Behandlungsbeginn auf 64 Prozent bei Behandlungsende. – Die therapierelevanten individuellen Verhaltensprobleme des Kindes in der Schule reduzieren sich im Verlauf der multimodalen Therapie ebenfalls deutlich. Der Anteil der Kinder mit geringen Problemen steigt nach Einschätzung der Lehrer von 13 Prozent bei Behandlungsbeginn auf 62 Prozent bei Behandlungsende. – Im Verlauf der multimodalen Therapie nehmen auch emotionale Auffälligkeiten ab. Bei den Kindern, die initial oder ergänzend verhaltenstherapeutisch mit dem Therapieprogramm THOP (Döpfner et al. 2002) behandelt wurden, konnten folgende Ergebnisse erzielt werden: – 28 Prozent der initial mit Verhaltenstherapie behandelten Kinder wurden aufgrund klinischer Kriterien ergänzend mit Stimulanzien behandelt, weil Verhaltenstherapie nicht hinreichend wirksam war; bei 72 Prozent wurde keine zusätzliche Stimulanzientherapie in der Intensivphase durchgeführt. – 60 Prozent der Kinder, die ausschließlich mit Verhaltenstherapie behandelt wurden, zeigen bei Behandlungsende nur noch minimale Verhaltensauffälligkeiten in der Familie (therapierelevante individuelle Verhaltensprobleme in der Familie oder keine Diagnose einer hyperkinetischen Störung/Störung des Sozialverhalens).

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– 58 Prozent der Kinder, die ausschließlich mit Verhaltenstherapie behandelt wurden, zeigen bei Behandlungsende nur noch minimale Verhaltensauffälligkeiten in der Schule (therapierelevante individuelle Verhaltensprobleme in der Schule). – Zusätzliche Effekte von Verhaltenstherapie nach vorausgegangener Stimulanzientherapie lassen sich nur teilweise nachweisen. Bei den Kindern, die initial oder ergänzend mit Stimulanzien behandelt wurden, konnten folgende Ergebnisse erzielt werden: – 82 Prozent der Kinder, die initial Stimulanzien erhielten, werden aufgrund klinischer Kriterien ergänzend mit Verhaltenstherapie behandelt. Die überwiegende Mehrzahl dieser Kinder wurde mit einer einzigen Stimulanziengabe am Morgen eingestellt. Eine zusätzliche Medikamentengabe wurde entweder von den behandelnden Therapeuten als nicht indiziert angesehen (entweder weil allein die Morgengabe zur hinreichenden Problemminderung führte oder sich die Verhaltensprobleme in der Familie durch Verhaltenstherapie relativ gut vermindern ließen) oder sie wurde von den Eltern nicht gewünscht. – 66 Prozent der Kinder, die mit Stimulanzien und Verhaltenstherapie behandelt wurden, zeigen bei Behandlungsende keine oder nur noch minimale therapierelevante individuelle Verhaltensprobleme in der Familie. – 76 Prozent der Kinder, die mit Stimulanzien und Verhaltenstherapie versorgt wurden, zeigen bei Behandlungsende keine oder nur noch minimale therapierelevante individuelle Verhaltensprobleme in der Schule. – Die Kombination von Stimulanzientherapie und Verhaltenstherapie war bei der Verminderung der Verhaltensauffälligkeiten in der Schule der ausschließlichen Verhaltenstherapie überlegen. – Bei Kindern, die mit Verhaltenstherapie nicht hinreichend verbessert werden konnten, wurden durch eine zusätzliche Stimulanzientherapie deutliche Symptomminderungen erzielt.

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■ Fazit Die im amerikanischen und deutschen Raum vorhandenen klinischen Leitlinien für die Diagnostik und Therapie hyperkinetischer Störungen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2003; Taylor et al. 2004; American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 1997, 2002) verlangen ein systematisches Vorgehen, das verschiedene Behandlungskomponenten integriert. Angesichts der Vielzahl an gestörten Funktionen und an beeinträchtigten Lebensbereichen liegt nahe, dass bei diesem Störungsbild nicht ein Behandlungsansatz allein die gewünschten Effekte erzielt, sondern eine multimodale Therapie, das heißt die Kombination von mehreren Behandlungsansätzen, als notwendig erachtet wird. Auch wenn die empirischen Ergebnisse nur einen begrenzten ergänzenden Effekt multimodaler Maßnahmen zur Medikation belegen, ist davon auszugehen, dass die Behandlungsmotivation und der längerfristige Verlauf, insbesondere bei komorbiden Störungen, verbessert werden kann. Bei der Planung eines solchen multimodalen Ansatzes und der Auswahl der entsprechenden Interventionsformen sollte darauf geachtet werden, dass die Therapie dort ansetzt, wo die Probleme auftreten – beim Kind, in der Familie, in der Schule, bei den Aufmerksamkeitsschwächen, der Impulsivität, der Hyperaktivität oder der Aggressivität. Dieses Prinzip ist deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil eine Generalisierung von Therapieeffekten von einem Lebensbereich auf den anderen oder von einer Störungsform auf die andere bestenfalls unvollständig, häufig aber nur unzureichend gelingt (Döpfner et al. 1996; Döpfner u. Lehmkuhl 1998, 2002). Die Ergebnisse der kontrollierten Studien, verbunden mit konsensfähiger klinischer Evidenz, lassen folgende globale Schlussfolgerungen zu (Lehmkuhl u. Döpfner 2002, 2003): – Sowohl medikamentöse Therapie als auch Verhaltenstherapie sind wirkungsvoll, jedoch zeigt ein hoher Anteil der Kinder weiterhin eine Restsymptomatik, sodass therapeutische Interventionen über einen langen Zeitraum anzuwenden sind. Die Notwendigkeit einer Fortführung der medikamentösen Therapie kann nur in (mindestens jährlich durchgeführten) individuellen Auslassversuchen geprüft werden.

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– Die Überlegenheit eines multimodalen Therapieansatzes gegenüber einer reinen Pharmakotherapie ist nicht durchweg belegt worden. Hierbei ist der Stellenwert der Verhaltenstherapie noch unklar, insbesondere müssen langfristige Verlaufsstudien zeigen, ob kognitiv-behaviorale sowie familienbezogene Interventionen die Prognose insgesamt verbessern. Auch Fragen der Compliance und Bereitschaft, bestimmte Interventionsformen und Behandlungsstrategien zu akzeptieren, sind gegenwärtig noch nicht hinreichend geklärt. – Die klinische Erfahrung zeigt, dass eine hohe interindividuelle Variabilität in der Response auf die einzelnen Therapieformen besteht. Dies kann an der bereits erwähnten unterschiedlichen Akzeptanz für bestimmte Interventionsformen liegen, aber auch an intervenierenden Variablen, wie Komorbidität oder familiäre Belastung, sowie an diagnostischen Unschärfen. Gezielte Interventionen sind nach Remschmidt und Heiser (2004) deswegen von großer Bedeutung, weil die zeitliche Erkennung der Symptomatik und der Behandlungsbeginn möglichst erfolgen sollten, bevor die Störungen sich vollständig in der Frühadoleszenz entwickelt haben. Denn die durch Verlaufsstudien begründbaren Prognosen reichen von Schulabbruch (32 bis 40 %) über antisoziale Aktivitäten (40 bis 50 %) bis hin zu schlechten Leistungen am Arbeitsplatz (70 bis 80 %). Die Ergebnisse von Frühinterventionen, so Remschmidt und Heiser (2004), seien bei besonders gefährdeten Kindern viel versprechend, sodass Frühinterventionen eine besondere Beachtung zukommt.

■ Literatur Abikoff, H. (1991): Cognitive training in ADHD children. Less to it than meets the eye. Journal of Learning Disabilities 24: 205–209. Abikoff, H.; Hechtman, L.; Klein, R. G. et al. (2004): Symptomatic improvement in children with ADHD treated with long-term methylphenidate and multimodal psychosocial treatment. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 43: 802–810.

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■ Klaus-Dieter Grothe und Anke-Maria Horlbeck

Warum ich auch mit Medikamenten behandele Die Sicht eines Kinderpsychiaters

■ Kinderpsychiatrisches Konzept zur Behandlung von ADHS: ein Praxisbeispiel Der provokativen Formulierung »Medikalisierung sozialer Probleme« (vgl. Einleitung zu diesem Band) setzen wir in diesem Beitrag eine ebenso provokative Formulierung entgegen, nämlich: »Warum ich auch mit Medikamenten behandele – die Sicht eines Kinderpsychiaters«. Es ist schon etwas merkwürdig, dass man als jemand, der seinen ganz überwiegenden Schwerpunkt in der (analytischen) Psychotherapie hat, nun eine psychiatrische Vorgehensweise in den Vordergrund stellt, doch ich (K.-D. Grothe) plädiere beim Thema ADHS für eine differenzierte, eine unideologische und eine pragmatische Vorgehensweise: Unser Konzept orientiert sich einerseits an den Leitlinien der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft, bezieht aber auch eine dynamische, entwicklungsorientierte Komponente mit ein. Das erste Problem im Umgang mit ADHS ist aus unserer Sicht das Problem der Diagnose, genauer gesagt: das Durcheinander von Begrifflichkeiten. Man hat manchmal den Eindruck, als werde ADHS oder ADS oder hyperaktive Störungen zum Synonym für alle kindlichen Schwierigkeiten im Vorschul- und Grundschulalter. Da werden dann Zahlen genannt, sodass 10 bis 15 Prozent aller Kinder diese Diagnose haben könnten und dass vermeintlich mit der medikamentösen Behandlung eine rasche und effiziente Behandlung zur Verfügung stünde, weil diese Störung ja biologisch begründet sei. Andererseits wird auch von manchen bestritten, dass es die Diagnose ADHS überhaupt gibt. Sie wird in Anfüh-

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rungszeichen gesetzt und letztlich allein als neurotische Störung, als Beziehungsstörung, verstanden. Das heißt, wir stehen vor dem Problem, das einerseits in manchen Kreisen die Diagnose überhaupt bestritten wird und sie andererseits in anderen Diskussionszusammenhängen als Erklärung für fast alle kindlichen problematischen Verhaltensweisen aufgefasst wird. Deshalb soll hier unsere Sichtweise dargestellt werden. ADHS ist keine Modediagnose, sondern ein Phänomen beziehungsweise ein Krankheitsbild, das schon lange bekannt ist und in Gestalt des Zappelphilipps schon vor über 150 Jahren beschrieben wurde. Es wird heutzutage nach den diagnostischen Kriterien des ICD-10 oder des DSM-IV als spezifische Störung von Krankheitswert verstanden und als Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung von Störungen des Sozialverhaltens oder emotionalen Störungen unterschieden. Es gibt dafür klare diagnostische Leitlinien, die man am besten anhand der Definition des DSM-IV erläutern kann. In einer dynamischen entwicklungsorientierten Sichtweise handelt es sich um Kinder, die von früh an durch ihre Lebhaftigkeit, Unruhe, Sprunghaftigkeit, Impulsivität, aber auch durch ihr lebhaftes Interesse und ausgeprägte Neugier auffallen. Diese Kinder sollte man unterscheiden von Kindern, deren Unruhe durch unsichere und/oder desorganisierte Bindungsmuster, mangelhafte Sozialisation oder Verwicklung in innerfamiliäre Konflikte bedingt ist. Diese diagnostische Unterscheidung ist schlicht und einfach wichtig für die Wahl des geeigneten therapeutischen Vorgehens. Das heißt, es geht hier um eine Temperamentsvariante von Kindern, die zu sozialen Desintegrationsstörungen führen kann, aber nicht gleichbedeutend mit Desintegrationsstörungen ist. Das heißt auch: Die Diagnose Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung hat eine tiefe biologische Basis und ist kein Produkt unsicherer Bindungen oder fehlerhafter Erziehung. Die Erziehung dieser Kinder ist von Beginn an schwierig und belastet die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Deshalb können verschiedene Formen unsicherer Bindung, entsprechend mangelhaft verinnerlichte Subjekt- und Objektrepräsentanzen und Formen sozialer Desintegrationsstörungen hinzukommen, müssen aber nicht. Die Diagnose setzt eine gründliche psychiatrische und psycho-

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therapeutische Untersuchung des Kindes und seines Umfeldes voraus: Anamnese- und Befunderhebung, Exploration und Beobachtung seines Sozialverhaltens in Familie, Kindergarten und Schule, sonstigem sozialen Umfeld und Untersuchungssituation; dazu kommt die Untersuchung seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit, seiner Beziehungsstruktur, der familiären Beziehungsdynamik, seiner biologischen und psychosozialen Entwicklung sowie entwicklungsfördernden und -hemmenden Bedingungen. Aus dieser Aufzählung wird ersichtlich, dass ein Hauptproblem die Diagnosenstellung ist, die einiges an Erfahrung und auch einiges an Aufwand erfordert. Voraussetzung für die Diagnose ist ein ausführliches Gespräch mit den Eltern und dem betroffenen Kind. Nicht nur die direkte Beobachtung des Kindes in der Untersuchungssituation ist notwendig, sondern auch eine weitere Anamnese und Erhebung von Informationen aus dem gesamten psychosozialen Umwelt des Kindes, in optimaler Weise aus der Familie, aus der Schule und aus dem Freizeitverhalten. Dies muss fremdanamnestisch bestätigt werden und nicht nur aus einer Sichtweise, etwa der Eltern. Das Typische ist nämlich, dass diese Kinder, die so reizoffen sind und dadurch sprunghaft und ablenkbar, in einer üblichen Sprechstundensituation beim Arzt oder Therapeuten häufig überhaupt nicht auffällig sind, falls nicht zusätzliche Beziehungs- und Bindungsstörungen dazugekommen sind. Sie werden erst auffällig in einer Situation, die eine größere offene Strukturierung und Reizoffenheit bildet. Vereinfacht könnte man sagen: Bei Kindern, die in einer typischen reizarmen Sprechstundensituation auffällig sind, zum Beispiel auch in einer analytischen Therapie, besteht eher der Verdacht, dass es sich nicht um eine hyperaktive Störung handelt, zumindest nicht alleine. Nach dieser Erstuntersuchung und der ausführlichen Anamneseerhebung aus den verschiedenen Feldern halte ich eine Untersuchung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und vornehmlich die Fragestellung, ob eine schulische Über- oder manchmal auch Unterforderung vorliegt, für notwendig. Wir ergänzen das Bild noch durch einzelne exploratorische Sitzungen mit dem Kind, die mit der Durchführung von projektiven Testverfahren verbunden sind, um uns ein Bild über Beziehungs-

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struktur und emotionale Situation des Kindes zu machen. Ebenso ist die Abklärung von körperlichen Faktoren (Schilddrüsenprobleme, EEG, Einnahme von Asthma-Medikamenten) wichtig. Unter diesen Bedingungen können nach allen mir bekannten seriösen Angaben circa drei bis fünf Prozent aller Kinder mit dieser Diagnose versehen werden. In unserer Praxis stellen sich die Zahlen so dar: Von den 107 mir im dritten Quartal 2004 erstmals vorgestellten Kindern wurden 28 mit der Verdachtsdiagnose »ADS« vorgestellt, nach den oben dargestellten Kriterien habe ich sechs davon als »Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung« entsprechend der Kriterien der ICD-10 beziehungsweise des DSM-IV diagnostiziert. Aus dieser Diagnose ergibt sich aus meiner Sicht nicht automatisch eine Behandlungsbedürftigkeit oder -notwendigkeit, erst recht nicht medikamentöser Art. Es kann ja sein, dass sowohl Familie als auch Schule mit dieser Eigenart des Kindes, mit seiner Unruhe, mit seiner Sprunghaftigkeit, aber auch seinem lebhaften Interesse und seiner Neugier gut umgehen können, sich darauf einstellen können, weil sowohl die emotionalen und personellen als auch sozialen Ressourcen in Familie und Schule vorhanden sind. Dann kann eine Beratung der Eltern oder der Schule über die Natur der Störung, über pädagogische Maßnahmen zum Beispiel, völlig ausreichend sein. Wenn die Situation aber so ist, dass das Kind zum Beispiel in der Schule überhaupt nicht mehr seiner Begabung entsprechende Leistungen vollziehen kann, es nur noch in negativer Interaktion mit Lehrerinnen und Lehrern und anderen Schülern verstrickt ist, immer mehr zum sozialen Außenseiter wird oder/und es in der Familie nur noch zu negativen Auseinandersetzungen kommt und das Kind zum Sündenbock für alles mögliche wird, dann ist aus unserer Sicht dringend eine Intervention geboten. Führt nämlich diese Temperamentsvariante des Kindes zu sozialen Desintegrationsstörungen und gravierenden familiären Interaktionsstörungen und wird dadurch im Lauf des Grundschulalters das Selbstwertgefühl des Kindes, seine Fähigkeit, Stimmungen zu modulieren und befriedigende Beziehungen einzugehen, gravierend beschädigt, ist dieses Kind in Pubertät, Frühadoleszenz und frühem Erwachsenenalter aufgrund seiner Impulsivität in hohem

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Maß von Abgleiten in dissoziales Handeln und Drogenabusus bedroht. Die Behandlungsbedürftigkeit ist also immer vor dem Hintergrund der familiären und sozialen Ressourcen zu sehen. Die Behandlung selbst muss das Temperament des Kindes, die familiären Beziehungsmuster, die Sozialisationsbedingungen berücksichtigen und damit verschiedene Behandlungsbausteine sinnvoll zusammensetzen. Diese Bausteine bestehen bei uns aus Erziehungsberatung, verhaltenstherapeutisch orientierten Selbstinstruktionstraining, pädagogisch angeleiteten Elterngruppen, medikamentöser Behandlung und bei gravierenden emotionalen Störungen auch aus entsprechenden analytisch orientierten psychotherapeutischen Verfahren. Medikamentöse Behandlung ist aus meiner Sicht dann indiziert und nur dann, wenn mit anderen Methoden keine ausreichende Verbesserung erzielt werden kann und schulische, soziale und/oder familiäre Desintegration die Folge ist. Vor diesem Hintergrund und bei Beachtung der individuellen und familiären Ressourcen und genauer Beobachtung der medikamentösen Einstellung, die individuell erfolgen muss, kann eine medikamentöse Behandlung äußerst effektiv und hilfreich sein und eine positive Entwicklung des Kindes weiter fördern. In Anbetracht der unbehandelt gravierenden Spätfolgen halte ich die Nebenwirkungen für vertretbar, zumal sie kurz- und mittelfristig nicht schwerwiegend sind und zu keinen Störungen führen, die nicht nach Absetzen des Medikamentes wieder verschwinden würden. Zu beachten ist immer, was geschehen würde, wenn wir das Kind nicht behandeln und es keine anderen Möglichkeiten gibt, sein Temperament so zu verändern oder die sozialen, familiären und schulischen Ressourcen darauf abzustellen. Unser Vorgehen kann auch mit den neurobiologischen Hypothesen von Herrn Hüther gut begründet werden: Wir versuchen, das »überaktive« beziehungsweise »überreizte« dopaminerge System so weit mit Medikamenten »herunterzufahren«, damit Erfahrungen von Überschaubarkeit, Strukturierung und emotionaler Sicherheit wieder möglich sind. Diese bilden dann das psychologische Grundgerüst für die Reifung des Systems.

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So ist die Gabe von Medikamenten immer vor dem Hintergrund der psychosozialen Entwicklung des Kindes und des familiären Systems zu verstehen. Über die Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung, Art, Dauer und Höhe ist ein Diskurs mit dem Patienten und seinen Eltern herzustellen, um verschiedene Vorgehensweisen miteinander abzustimmen. Die Gabe von Medikamenten, die ja (nur) symptomatisch helfen können, ist zwingend in die Psychotherapie der Familie und des Kindes einzubinden und immer wieder mit der familiären Dynamik in Verbindung zu bringen. Es handelt sich hier um einen »Aushandlungsprozess« zwischen Patient, Familie, Arzt/Therapeut und sozialem Umfeld, der am sinnvollsten analytisch-systemisch reflektiert werden sollte. In dieser Sichtweise ist die häufig geübte Praxis der Verschreibung von Medikamenten durch den Kinderarzt und die gleichzeitige psychotherapeutische Behandlung durch die Kinder- und Jugendlichentherapeutin nicht sinnvoll, wenn nicht zumindest eine regelmäßige gemeinsame Absprache oder Supervision erfolgt.

■ Fallbeispiele Anhand von zwei exemplarischen Fällen sollen unsere Überlegungen und Positionen illustriert werden. Wir stellen bewusst keine abgeschlossenen Behandlungen vor, sondern Fallbeispiele aus der Praxis. Zunächst ein aus unserer Sicht unkompliziertes Beispiel, danach eine sehr komplexe Problematik. Dennis ist ein zwölfjähriger Junge, den wir seit anderthalb Jahren betreuen. Er fiel schon im Kindergartenalter durch seine Unruhe und Lebendigkeit auf, die sich auch das Grundschulalter durchzog. Es kam aber nicht zu Schwierigkeiten; verstärkte Unruhe sowie mangelnde Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistungen wurden erst mit Besuch der fünften Klasse in der Schule deutlich, weshalb die Eltern eine kinderpsychiatrische Praxis aufsuchten. Wir diagnostizierten eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. Aufgrund der hohen Intelligenz des Jungen (IQ circa 120) und einer offensichtlich warmherzigen und positiv-

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akzeptierenden Beziehung zwischen Eltern und Kind war es dem Jungen gelungen, bis dahin keine weiteren Verhaltensstörungen zu entwickeln, und auch seine Schulleistungen waren ausreichend gut. Seine Kontakte zu Gleichaltrigen waren unkompliziert und altersentsprechend. Der Junge hat dann bei uns ein verhaltenstherapeutisch orientiertes Selbstinstruktionstraining absolviert (orientiert am Marburger Konzentrationstraining nach Krowatschek). Die Eltern haben an einer Elterngruppe teilgenommen, die auf dem THOPModell von Döpfner basiert. Diese Hilfestellung hat sich bis vor kurzem als ausreichend erwiesen. Seit dem Wechsel in eine siebte Gymnasialklasse einer Gesamtschule kommt es jedoch zu großen schulischen Problemen: Es gelingt dem Jungen nicht mehr, sich ausreichend im Unterricht und insbesondere bei Klassenarbeiten zu konzentrieren, er wird auch immer panischer, weil es ihm nicht gelingt, innerhalb der Schule das zu reproduzieren, was er zu Hause gelernt hat und dort (unter ruhigen Bedingungen) imstande ist zu leisten. Er versucht, sich in eine Ecke des Klassenraums zurückzuziehen, hält sich teilweise im Unterricht die Ohren zu, aber es gelingt ihm nicht und die Leistungen fallen immer mehr ab. Im häuslichen und familiären Bereich gibt es weiterhin keine Schwierigkeiten, die Beziehung zwischen Eltern und Kind bleibt warmherzig-zugewandt, der Junge verfügt über altersentsprechende soziale Kontakte und fühlt sich dort auch wohl. Wir gehen davon aus, dass inzwischen die Kompensationsmöglichkeiten des Jungen vor dem Hintergrund gestiegener Leistungsanforderungen ausgeschöpft sind, und sind mit der Familie in Gespräch darüber, ob jetzt eine zusätzliche medikamentöse Behandlung sinnvoll wäre, um ein schulisches Leistungsversagen und damit einhergehende zunehmende Selbstwertproblematik zu vermeiden. Steven ist ein sechsjähriger Junge, der jetzt im ersten Schuljahr stark auffällt durch unruhiges, impulsives und sprunghaftes Verhalten, mangelnde Aufmerksamkeit und schnelle Ablenkbarkeit. Auch zeigt er ein schwieriges Sozialverhalten: mangelndes Anpassungsvermögen in der Gruppe, häufige Rangeleien, offene Frechheiten gegenüber der Lehrerin. Die Schule erwägt den Verweis auf

K.-D. Grothe/A.-M. Horlbeck · Die Sicht eines Kinderpsychiaters

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eine Sonderschule, sieht kaum noch Möglichkeiten, ihn im Regelunterricht zu beschulen. Steven war schon im Kindergartenalter auffällig, seine Unruhe sei dort den Erzieherinnen aufgefallen, auch sein mangelndes Anpassungsvermögen. Eine kinderpsychiatrische oder psychotherapeutische Intervention wurde jedoch nicht für notwendig gehalten. In der Vorklasse zeigte der Junge auch schon ein sehr unruhiges Verhalten. Durch die kleinere Gruppe und viel Zuwendung der dortigen Lehrerin entwickelte der Junge aber eine positiv getönte Beziehung zu ihr; die jetzt beschriebenen oppositionellen Verhaltensstörungen wurden dort nicht so gesehen, wohl aber seine motorische Unruhe und Sprunghaftigkeit. Aus unseren diagnostischen Untersuchungen ergab sich folgendes Bild: Die familiäre Situation ist durch große Unruhe und Unsicherheit geprägt. Der Vater hatte sich zunächst von der Familie getrennt, sucht aber seit acht Monaten wieder Kontakt, ist derzeit fast jeden Nachmittag in der Familie, um bei Hausarbeiten zu helfen, wohnt aber nicht dort. Das Elternpaar ist in Eheberatung und hat noch keinen klaren Weg für die Zukunft. In der Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion (die zwischen Vater und Kind konnten wir nicht beobachten) fielen distanzierte Kühle und mangelnder affektiver Austausch auf. Die Mutter erschien uns auch erschöpft und ausgebrannt, der Vater impulsiv, sprunghaft, unstrukturiert. Es gibt noch einen jüngeren Bruder und zwei ältere Schwestern, die nicht die Auffälligkeiten von Steven zeigen. In der Einzelexploration und im projektiven Verfahren (CAT) zeigten sich deutliche Hinweise auf die gravierenden Bindungsunsicherheiten des Jungen und die vielen Fragen, die er sich für die familiäre Zukunft stellt. Bei der neurologischen Untersuchung fiel eine nicht altersentsprechend entwickelte Motorik auf, insbesondere eine mangelnde fein- und grobmotorische Koordination. Dies korrespondierte mit den Hinweisen aus dem durchgeführten Intelligenztest mit einem Gesamtwert im unteren Durchschnittsbereich (Prozentrang von ca. 20) und Hinweisen auf eine visuomotorische Koordinationsstörung. So bleibt nun bei diesem komplexen Störungsbild die Frage, wo

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und wie man anfangen sollte. Wir gehen von folgender Hypothese aus: Steven mag ein Kind sein, das »von Natur aus« eine größere Lebendigkeit und Reizoffenheit zeigt als zum Beispiel seine Geschwister. Diese wurde und wird sicher verstärkt durch seine emotionale Unsicherheit und ungenügende Bindungserfahrung. So scheint er eine hyperaktive Störung entwickelt zu haben, die jetzt im ersten Schuljahr bei der nur knapp durchschnittlichen Intelligenz des Jungen und den entwicklungsneurologischen Handikaps in der Regelschule in oppositionellen Störungen des Sozialverhaltens weiter dekompensiert. Wir haben uns zu folgendem Vorgehen entschlossen: Wir empfahlen zunächst den Eltern dringend die Fortsetzung der schon begonnenen Paartherapie und wiesen darauf hin, dass ohne eine Klärung der familiären Situation der Junge »nicht zur Ruhe kommen« könne. Des Weiteren verordneten wir eine Ergotherapie zur Verbesserung der Motorik und der Wahrnehmungsverarbeitung. Wir haben uns zusätzlich zu einer medikamentösen Behandlung entschlossen. Dies erschien uns notwendig, um den schulischen Bereich vorerst zu stabilisieren, bevor der Verweis auf eine Sonderschule erfolgt, von der eine Rückversetzung kaum möglich ist. Da wir nicht gleichzeitig eine ergotherapeutische Behandlung und spieltherapeutisch-psychotherapeutische Behandlung durchführen (dies führt nach unserer Erfahrung aufgrund der Ähnlichkeit der benutzten Materialien zur Verwirrung beim Kind), haben wir eine Einzeltherapie für das Kind zunächst zurückgestellt, werden diese aber als Option im laufenden Behandlungsprozess im Auge behalten.

■ Prävention und Frühintervention – Psychoanalytische und neurobiologische Überlegungen zur Verhinderung psychosozialer Desintegration

■ Dieter Bürgin

Psychoanalytische Aspekte der Gewaltprävention Prävention ist im eigentlichen Sinne kein psychoanalytischer Begriff. Dennoch haben viele Elemente des psychoanalytischen Prozesses eine gewisse präventive Wirkung. Jegliche Prävention setzt voraus, genaue und überschaubare Ursachen-Wirkungszusammenhänge zu kennen. Je komplexer und plurikausaler diese aber sind, desto schwieriger ist es, einen präventiven Effekt zu erzielen oder den Nachweis einer präventiven Wirkung einer Maßnahme zu erbringen. Je differenzierter ein Mobile, desto schwieriger das Ausbalancieren oder desto größer die Bewegungen in vielen Teilbereichen bei einem Einfluss an nur einer Stelle. Prävention versucht, in der Zukunft etwas Negatives zu verhindern. Die Psychoanalyse arbeitet aber stets in der Nachträglichkeit, die mittels der Übertragung »gegenwärtig« wird, und ist damit ziemlich weit von gerichteten präventiven Aktionen entfernt. Allerdings erkannten die Psychoanalytiker bereits früh, dass Tabus (zum Beispiel gegen Inzest) eine gesellschaftlich-präventive Aufgabe gegen intrafamiliale Rivalität oder familiären Zerfall erfüllen. Sie engagierten sich in vielen Formen angewandter Tätigkeit, zum Beispiel in der Erziehung, der Früherfassung von Störungen und der Prävention. Die Prinzipien präventiven Handelns wurden abgeleitet aus den psychoanalytischen Konzepten über die Kinderentwicklung, die vielfach vor allem als retrograde Konstrukte erarbeitet worden waren. Psychoanalytisches Konzipieren ging zumeist da-

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von aus, dass gerade mittels angemessener Erziehung präventive Effekte, nämlich die Verhinderung unnötigen Unglücklichseins und eine Neurosenprophylaxe, erzielt werden könnten. Solche Anstrengungen stammten aus einer idealistisch-optimistischen Phase, als man noch annahm, die neurotischen Entwicklungen seien vorwiegend die Folge einer Fehlerziehung. Inzwischen ist man bescheidener geworden, sucht eher nach einer Förderung von Gesundheit als nach einer sicheren Krankheitsprävention. Bestenfalls sollen ungünstige Abläufe und Funktionen präventiv angegangen werden. So bestehen auch heute noch immer mehr oder weniger erfolgreiche Bestrebungen, präventiv gegen Traumata, Fragmentierungen, Desintegrationen, Regressionen, Spaltungen oder Dissoziationen vorgehen zu können. Die erzielten Ergebnisse sind aber längst nicht eindeutig. Ziemlich weitgehender Konsens besteht mittlerweile hingegen aber darüber, dass psychische Funktionen umso besser veränderbar sind, je früher an ihnen gearbeitet wird. Die moderne Säuglingsforschung hat uns in den vergangenen zwanzig Jahren viele beobachtbare Elemente geliefert, die ein neues Licht auf die Lust-/Unlust-Entwicklung werfen. Ihre Beachtung im Alltag und ihre psychoanalytische »Nutzung« könnten möglicherweise etwas dazu beitragen, um den aus intrapsychischen oder interpersonalen Konflikten erwachsenen Hass und die oft damit vergeschwisterte Gewaltentwicklung zu verringern. Die differenzierte Beachtung des psychoanalytischen Prozesses liefert weitere Anhaltspunkte dazu. Und schließlich finden wir in der Literatur noch zusätzliche Hinweise. Gewalt kann sich gegen Lebloses (Gegenstände) richten oder gegen Lebendiges. Gewalt gegen Menschen ist nur innerhalb einer Objektbeziehung zu verstehen. Sie manifestiert sich vor allem dort, wo es keine virtuelle, intrapsychische Innenräume oder keine interpersonale Spielräume hat. Denn nur in solchen Übergangsräumen ist ein »Aushandeln« beziehungsweise eine Subjektivierung konflikthafter Strebungen möglich. Bestehen keine solche Räume oder sind sie kollabiert, so kommt es, ohne jede Verzögerung, zur gewaltsamen, direkten Trieb- oder Impuls-Einwirkung von ursprünglicher Heftigkeit. Wie entstehen solche Räume? Wir gehen davon aus, dass zu Beginn der persönlichen Entwicklung die Selbst- und Objektreprä-

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sentanzen noch nicht klar (oder nicht andauernd) getrennt gehalten werden können. Der Säugling macht die Erfahrung, dass ein äußeres Agens, ein menschliches Gegenüber, ihm bei der allmählichen Verzögerung helfen kann. Eigenaktivität, die zunehmende Differenzierung zwischen Innen und Außen, das Spiel projektiver und introjektiver Aktivitäten und die identifikatorischen Prozesse kennzeichnen die psychische Entwicklung. Die Reifung fördert die Expression der genetischen Anlagen innerhalb eines gegebenen sozio-kulturellen, historischen und familialen Kontextes. Reifung und Entwicklung unterstützen das Ich bei seiner Differenzierung, der »Personalisierung« seiner Aktivitäten und dem Aufbau organisierter psychischer Strukturen. Differenzierung des Ich heißt auch Erwerb eines Regulationsvermögens von Besetzungen. Je mehr das Ich an regulativen Fähigkeiten erwirbt, desto weniger steht dieses sich selbst regulierende System einerseits in intrapsychischer Abhängigkeit und umso geringer sind andererseits auch die reale Abhängigkeit, das äußere Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit. Zwischen dem Säugling und den primären Betreuungspersonen bestehen – bei entsprechender Grundbezogenheit – von beiden Seiten her Nähebedürfnisse (nach Hautkontakt, Beruhigung, Blickkontakt, Nahrungsspende und -aufnahme, Geben und Empfangen, Schutz, Wärme etc.), die einer zunehmenden Differenzierung bedürfen, um in gemeinsamen Regulationsaktivitäten eine Art homöostatisch-dynamischer Balance zu erreichen und die Bedürfnisse aller beteiligter Interaktionspartner zufrieden zu stellen.

■ Einige entwicklungspsychologische Wegmarken und psychoanalytische Beurteilungspunkte, die bezüglich Gewaltentwicklung und -anwendung relevant sein können. Das blickerwidernde Lächeln (Spitz 1969), das rund um den dritten Lebensmonat (plus/minus etwa sechs Wochen) auftritt, füllt interpersonale Räume aus, ist eine soziale Geste, die einen zeitlichen Ablauf und damit eine Kontur kennt, das heißt einladend, aber

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nicht verpflichtend, auf beiden Seiten mit einer milden, leicht steuerbaren Affektintensität verknüpft und somit für beide Teilnehmer mit vergnüglichen Affekten verbunden ist. Es wird durch den allgemeinen Signalreiz »Augenbrauen/Nasenwurzel« ausgelöst und signalisiert den Wunsch nach einer Kontaktaufnahme freundlicher Art. Es antagonisiert das Faszinosum der Gewalt zugunsten einer sorgfältigen, wechselseitigen Erkundung der Emotionalität des Gegenübers. Das emotionale Wahrgenommen-, das heißt Besetzt-Werden durch ein bedeutungsvolles Gegenüber hat eine grundsätzliche Komponente (gleichsam die Tonart) und durch die episodische Zuwendung einen variablen Teil (gleichsam die Melodie). Ich nehme wahr, kann die Wahrnehmung emotional besetzen; aber: Ich werde auch wahrgenommen, also bin ich. Indem ich vom Gegenüber als eigene Person gesehen und akzeptiert werde, kann ich auch – im Sinne einer Personalisierung oder Subjektivierung – zum Autor meines eigenen Innenlebens werden. Eine durch Aggressivität und Destruktivität des anderen dem Subjekt aufgenötigte Wahrnehmung des Gegenübers erzeugt bei diesem Angst, ein angemessen libidinöser Austausch hingegen Lust und Zuwendung. Die schizoide Position (im Sinne von Klein 1997) kennt noch keine solchen Übergangsräume, ist durch schnelle und unmittelbare Triebaktivitäten gekennzeichnet. Die depressive Position hingegen berücksichtigt den Rhythmus des Gegenübers und damit auch dessen Grundbedürfnisse. Sie verhilft, neben reparativen, wiederherstellenden Impulsen, auch zur Umwandlung von Sekundenlust in Minutenvergnügen. Die Imitation, eine angeborene Fähigkeit, die sich bereits sehr früh, das heißt in den ersten Lebenswochen, nachweisen lässt, stellt einen grundsätzlich wichtigen Vorgang für die menschliche Entwicklung dar. Gelingt es zum Beispiel, mittels der Übernahme eines mimischen Ausdrucks, den Affekt des Gegenübers zu imitieren, so wird dieser zum verbindenden gemeinsamen Dritten, zu einem lustvollen Experimentierfeld. Die Imitation erhält eine wichtige Funktion für die Wiedererkennung und Wiederherstellung des Kontakts mit einem bedeutungsvollen Gegenüber (Meltzoff 1994). Sie kann gleichsam die Eintrittspforte für die Internalisierung gewaltsamer Beziehungsformen wie auch lustvoller

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Interaktionen sein. Durch sie wird die Bedeutung von spezifischen affektiven Ausdrucksformen direkt gelernt. Schließlich ermöglicht sie auch das (zumeist vorbewusste) Kopieren von Interaktionsmustern, die wie spezifische Erkennungsmerkmale in dyadischen, triadischen und/oder polyadischen Beziehungen eingesetzt werden können. Sowohl gewaltsames als auch liebevolles Verhalten kann imitiert und assimiliert werden. Das Pointing, eine Fähigkeit des noch averbalen Kindes, die nach etwa zwölf Lebensmonaten sehr gut zu beobachten ist und mit der das Kind die Aufmerksamkeit einer erwachsenen Person auf einen bestimmten Punkt lenkt, weist bereits in der averbalen Phase auf die Kapazität hin, ein gemeinsam geteiltes Drittes zu schaffen. Hier stellt sich stets die Frage, was gezeigt werden will. Die Zeigefunktion durchzieht das ganze Nervensystem und auch die seelischen Funktionen. Oft wirkt die affektive Partizipation des Gegenübers am Gezeigten als verstärkender oder drosselnder Faktor für die weitere Entwicklung zum Beispiel der Form oder des Inhalts dessen, worauf (mit dem imaginären oder realen Zeigefinger) hingewiesen wird. Bei Gewaltakten gibt es kein antizipierendes, hinweisendes Zeigen mehr. Direktes Handeln ist an seine Stelle getreten. Das Holding und das Containment bezeichnen ein körperlich optimales Gehalten-Werden (Winnicott 1974) und ein psychisches Getragen-Werden (Bion 1962) eigener Affekte und Impulse durch ein Gegenüber, für die der Platz im eigenen Innern (noch) zu klein ist. Beide Funktionen eines bedeutungsvollen anderen vermitteln der Person, die Gehalten-Werden und AufgenommenSein erfährt, unmittelbar wohlige Gefühle, erleichtern die Vertiefung der Beziehung und damit die Entwicklung einer Rücksicht auf das Gegenüber, die mit wenig direkter Aggressivität und Gewalt, dafür mit Wiedergutmachungsimpulsen verknüpft ist. Spaltet ein Kind unerträgliche Affekte ab und »deponiert« sie bei seinen Beziehungspersonen, so ist es auf eine Limitierungsfunktion des Gegenübers (»bis hierher und nicht weiter«) angewiesen, um dessen »Fassungs- und Verarbeitungskapazität« wahrzunehmen. Das lustvolle Nein-Sagen dient der spielerischen Abgrenzung (Spitz 1969) und ist eine Voraussetzung, um überhaupt Ja-Sagen zu können, ohne sich fusionär zu verlieren. Als dosierte Rückwei-

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Prävention und Frühintervention

sung kann es zwar einen aggressiven, nicht aber einen gewaltsamen Charakter haben. Die »Rêverie«, eine von Bion (1962) herausgearbeitete Fähigkeit, auf ein Gegenüber bezogen zu sein und gleichzeitig die damit verknüpften eigenen Tagträume entstehen zu lassen, ist kein autistischer oder narzisstisch-gekränkter Rückzug, sondern entspricht dem Vermögen, gleichzeitig auf das Gegenüber bezogen und bei sich zu sein. Sie lässt eine simultane, spielerische Oszillation der Aufmerksamkeit auf innere szenische Vorgänge und äußere Interaktionen zu und trägt, auf der intrapsychischen Bühne, zur Differenzierung aggressiver oder destruktiver Impulse bei. Bei der Rêverie bleiben die Pforten zur Handlung gleichsam geschlossen. Die »capacity to be alone«, eine von Winnicott beschriebene Fähigkeit, umfasst etwas Ähnliches aus dem Bereich paradoxer Befindlichkeiten, nämlich einen Zustand, bei dem ein Individuum gleichzeitig bei sich und mit anderen zusammen ist (Bürgin 1984). Die »Subjektivierung« wie auch die »Personalisierung« entsprechen einer Fähigkeit, sich als Ursprung der eigenen psychischen Aktivitäten und Erfahrungen wahrzunehmen, das heißt, sich die gemachten Erfahrungen als eigene subjektiv anzueignen (im Sinne von: »Ich bin es, der …«), sich persönliche unbewusste Elemente symbolisch zu eigen zu machen, die eigene Subjektivität und Geschichtlichkeit zu erkennen und anzuerkennen und das Erkannte zum Existieren zu bringen. Damit verknüpft ist auch die Notwendigkeit, ein (mögliches) Subjekt für den Anderen zu werden. Nur wenn das gelingt, kann das Individuum auch für sich selbst ein Subjekt sein und Verantwortung übernehmen, was zur Differenzierung von Gewaltimpulsen weiter Anlass gibt. »Social referencing« (Emde 1988) als Versuch, emotionale Information, über die jemand selbst nicht verfügt, beim Gegenüber abzurufen beziehungsweise sich eine Vorstellung darüber auszuformen, ist eine interaktive Tätigkeit, die den Menschen von Geburt an begleitet. Auch beim Fremdeln oder bei der Acht-MonatsAngst des Säuglings im ersten Lebensjahr sind zum Beispiel einerseits das direkte Verhalten der Mutter, andererseits aber auch ihre nichtbewussten Signale bezüglich dessen, ob das Fremde von Interesse ist und neugierig exploriert werden darf oder aber Angst macht, gemieden beziehungsweise gehasst werden soll, von zen-

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traler Bedeutung. Bei der Gewaltanwendung fällt jegliches sich um die Befindlichkeit des anderen kümmernde »social referencing« aus. Als »affect attunement« (Stern 1984) wird die Fähigkeit eines bedeutungsvollen anderen bezeichnet, sich auf die emotionale Gestimmtheit eines Säuglings oder Kleinkindes einzustimmen. Diese Gefühlseinstimmung hinterlässt, wenn der Versuch gelingt, das beglückende Gefühl, emotional gefunden worden zu sein. Üblicherweise gelingt die Abstimmung nicht total. Sie bewirkt gerade dadurch ein Gefühl von Differenz und Andersartigkeit, welches die Neugierde und das Interesse des Säuglings für die Weiterführung der Interaktion und die Klärung des Unbekannten stimuliert. Die gemachten Erfahrungen können – als Ablaufkonturen der verschiedenen Sinneswahrnehmungen – innerhalb der verschiedenen Arten von Sinnesmodalitäten verschoben werden (Inter- oder Transmodalität). Gewalt kümmert sich nicht um den Gefühlszustand des anderen, stellt sich schon gar nicht darauf ein. Der Aufbau von Bindungen, vor allem von sicheren Bindungen, hat einen gewissen präventiven Charakter, weil kein Interesse besteht, das als weitgehend förderlich empfundene Objekt zu attackieren oder zu schädigen. Allerdings genügt diese Fähigkeit allein noch nicht, sondern es muss damit gleichzeitig auch das Vermögen erworben werden, sich angemessen zu trennen, um neue Erfahrungen machen zu können. Es bedarf eines beidseitigen Begrenzungswunsches der Bindung (Adieu-Sagen), damit eine (vielleicht auch nur kurzfristige) Separation mit Öffnung auf die Zukunft zustande kommen kann. Anderenfalls fühlt sich der eine Teil nicht losgelassen oder befreit und entwickelt eine narzisstische Verletzung und Wut, die gewaltauslösend sein kann. Trianguläre Beziehungen werden bereits beim Aufbau von Grundbeziehungen entwickelt und zeigen im Verlauf der Entwicklung eines Individuums sehr unterschiedliche Erscheinungsformen. Auf dem Niveau von Beziehungen zwischen ganzen Subjekten und Objekten, das heißt auf der Ebene der ödipalen Triade, entspricht der Ausschluss des Dritten einer symbolischen Elimination beziehungsweise Tötung. Je mehr Fähigkeit entwickelt wird, triadische Beziehungen sowohl auf der symbolischen und der phantasmatischen als auch auf der realen Ebene in einer gewissen

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Ausgewogenheit zu halten, das heißt die dritte Person nicht völlig auszuschließen, sondern die Ambivalenzspannung ihr gegenüber auszuhalten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Impulse zur Gewalt differenziert und verfeinert werden (Bürgin u. Klitzing 1995). Die Regulation von Nähe und Distanz innerhalb einer innerseelischen Organisation kann sich leichter vollziehen, wenn psychische Mechanismen auch ihren eigenen Ort erhalten. Bei Beziehungsrepräsentanzen, die Selbst- und Objektrepräsentanzen und die mit ihnen verbundenen Affekt- und Triebkonstellationen umfassen, kann auch von Nähe und Distanz dieser Repräsentanzen zueinander gesprochen werden. In gleicher Weise lässt sich auch eine Nähe beziehungsweise Distanz zwischen dem Ich und dem Über-Ich, dem Ich und dem Es, dem Ich und der Wahrnehmung von Sinneseindrücken, dem Vorbewussten und dem Bewussten, dem Affektiven und dem Kognitiven et cetera benennen. Eine flexible Regulation sowohl der intrapsychischen Näheformen als auch der interpersonalen Nähe- und Distanzpositionen ermöglicht einen spielerischen Umgang mit Impulsen und erschwert einen ungehinderten Durchbruch gewaltsamer Strebungen. Erfordert bereits die Balance zwischen Fusion und autistischem Rückzug im Bereich von Beziehungen viel psychische Arbeit, so das Gesamt der Regulationsvorgänge noch umso mehr. Die Bewahrung eines dynamisch-flexiblen Gleichgewichts zwischen Geben und Nehmen und zwischen der Besetzung des Selbst (Narzissmus) und der von Objekten (Liebe): Der emotionale Austausch zwischen Figuren in der Innenwelt (auf der Ebene der Phantasie) oder zwischen dem Individuum und realen anderen in der Außenwelt kann wie ein intrapsychischer beziehungsweise interpersonaler Metabolismus konzipiert werden. Selbstfürsorge und Sich-Kümmern um das Gegenüber stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Extrempositionen (wie übermäßige Selbstbezogenheit oder ein zwanghafter Helferwunsch) sind zwar verhältnismäßig stabil, aber – bei plötzlich einschießenden Gewaltimpulsen – wegen der fehlenden Balance- und Regulationsarbeit auch anfällig für massive, unerwartete Destabilisierungen. Klare Grenzen zwischen Innen und Außen sowie zwischen Selbst und Nicht-Selbst bilden eine Voraussetzung für geordnete Aus-

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tauschvorgänge. Der Übergang zwischen Innen und Außen ist somit weder ein rein gradueller noch ist er in Form einer Membran vorhanden. Handlungsimpulse stammen von Innen und sind nach Außen gerichtet. Gewaltsame intrapsychische Phantasien sind, wegen der unterschiedlichen Reversibilität der Aktionen, etwas qualitativ Anderes als gewaltsames Handeln in der Außenwelt. Ist die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt nicht diffus und nebulös, sondern klar und kontinuierlich, so ist auch ein gleichzeitiges Für-Sich- und auf den anderen Bezogen-Sein möglich. Aggressive oder gewaltsame Impulse erfahren durch die Grenzen an den Übergängen zwischen innen und außen und zwischen Selbst und Nicht-Selbst eine Dämpfung und Modifizierung, einerseits aus Vergeltungsangst, andererseits, weil ihre ungefilterte Realisierung wegen des Wunsches, Beschädigung zu vermeiden, erschwert wird. Ein seltener Gebrauch von archaischen Abwehren wie zum Beispiel Projektionen, horizontalen Spaltungen oder Dissoziationen als vertikale Spaltungen erleichtert psychisches »Funktionieren«. Wenn sich also frühe, unbewusste, intrapsychische Abwehrmodalitäten mit der vielfach ebenso unbewussten Externalisation, das heißt einer Verschiebung in die Außenwelt, verbinden, so ist eine Steuerung von gewalttätigen Impulsen stark erschwert, da die übrigen regulativen Ich-Funktionen außer Kraft gesetzt sind. Menschen mit solchen innerseelischen Strukturen sind bezüglich Gewaltausübung (auch in verbaler Form durch Entwertung, Verhöhnung, Demütigung etc.) in einer gefährdeten Position. Ein Über-Ich, das vorwiegend als Leitlinie und nicht als verurteilendes Tribunal wirksam wird, ist auch bei der Regulation von Impulsen gewaltsamer Art mit einbezogen. Die inneren Werte eines Menschen wirken nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch durch ihre Einwirkungsform organisierend. Sind sie starr und unverrückbar, so resultieren entweder innere Unterwerfung oder Opposition. Diese Haltungen können sich in Symptombildungen oder im äußeren Verhalten zeigen. Je flexibler – aber gleichzeitig nicht unverbindlicher – ein Wertesystem ist, desto eher werden sich Bestrafungsimpulse, im Sinne einer gewaltsamen Einwirkung auf die eigene Person oder auf andere, nicht unmodifiziert, sondern vielfach differenziert zeigen.

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Identifizierungen als primäre, globale, unbewusste und automatisierte Abläufe bieten scheinbare Auswege aus der Komplexität heterogener Gefühle an. Sie tragen aber die Gefahr eines Versinkens in eine undifferenzierte kollektive Ich-Masse mit sich, bei dem, den Gesetzen der Massenpsychologie folgend, oft die individuellen Regulationen und Handlungsweisen über Bord geworfen werden. Selektiv wirksame, sekundäre Identifikationen im Rahmen einer Subjektivierung ermöglichen ein individuelles So-undnicht-anders-Sein, das einen Verzicht auf die Phantasie der »Allesist-möglich-Haltung« erfordert, aber ein eigentliches Wir-Gefühl in Gruppen erlaubt, das den Weg für einen befruchtenden Austausch mit anderen Gruppen und für die Sublimierung gewaltsamer Impulse bahnt. Die Entwicklung der Fähigkeit zum Bitten, zum Warten und zum Schutz des Objekts: Das ursprünglich aus der Triebwelt stammende Bedürfnis und die daraus abgeleiteten Wünsche wandeln sich, unter der Einwirkung eines zwischenmenschlichen Dialogs, allmählich zu Bitten. Auf diesem Weg wird die Unbedingtheit des Primärimpulses verloren. Bereits sehr früh gibt ein Säugling bedeutungsmäßig interpretierbare Zeichen hinsichtlich dessen, was er möchte. Seine Art, einen Wunsch zu signalisieren, ist in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahrs bereits ziemlich »sozialisiert«, hat die Form eines ritualisierten Schreiens angenommen, das häufig durch Pausen unterbrochen wird, in welchen das Baby wahrzunehmen versucht, ob sein Schreien die für es bedeutungsvollen Erwachsenen »erreicht« hat. Mit dem fordernden Schreien soll nicht nur signalisiert werden, dass etwas gewünscht wird, sondern auch was. Es muss dabei den Weg vom bloßen Signalisieren des Bedarfs bis zur Erfüllung der Bedingungen des Bittens zurücklegen. Die Konventionalisierung des Bittens macht schnelle Fortschritte, selbst wenn hierzu oft längere »Verhandlungen« nötig sind. Die Säuglinge lernen während dieser Vorgänge die Kultur kennen, in der sie sich vorfinden, und wie in dieser Kultur Begehrtes durch Sprache erreicht werden kann. Die Definition von BittFormaten ist eines der wichtigsten Mittel einer Gemeinschaft oder Kultur, die Interaktion ihrer Mitglieder und insbesondere auch das Bitten zu steuern. Ist ein Format einmal konventionalisiert, so hat es auch für die anderen Mitglieder einer Symbol- (zum Beispiel

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Sprach-)Gemeinschaft den Charakter von etwas Gültigem und gemeinsam Geteiltem. Dass Bitten Fragen und nicht Zwingen bedeutet, das heißt dem Gegenüber einen Spielraum offen lässt und den Wunsch in seiner ursprünglichen Wildheit domestiziert, wird dem Kind im Verlauf seiner persönlichen Entwicklung immer deutlicher (Bruner 1993). Die Umwandlung von gewaltsamem Fordern zu einem das Gegenüber und seine Bedürfnisse berücksichtigenden Bitten gründet in der äußeren Interaktion und wird allmählich internalisiert, das heißt zu einem Teil der Selbst-Organisation eines Individuums. Auf diese Weise erfolgt eine vom Individuum mehr oder weniger assimilierte Akzeptation kultureller Interaktionsformen, welche die Möglichkeit der Verzögerung (aber nicht der Blockierung) eines Impulses wie auch diese der interpersonalen Reparation in sich trägt.

■ Fall-Vignette Die folgende Gesprächsstudie möchte zeigen, wie Strukturen, die einem äußerst gewaltsamen Verhalten zugrunde liegen, in einem analytisch geführten Gespräch erkennbar werden. Sie handelt von einem neun Jahre und vier Monate alten Knaben, den ich Peter nenne und den ich für ein diagnostisch-therapeutisches, videoaufgezeichnetes Erstinterview sehe. Er ist wegen einer seit dem Kindergarten bestehenden, zunehmenden, sadistisch gefärbten Aggressivität und Destruktivität mit heftigen Wutausbrüchen hospitalisiert. Von schulischer Seite her wurde zuerst eine Gefährdungsmeldung vorgenommen und danach ein Schulausschluss beschlossen, da er in keiner der staatlichen Schulen mehr tragbar war. Bis zum Klinikeintritt war über ein Jahr ohne Schulbesuch vergangen. Gleich zu Beginn des Interviews erzählt Peter bereits spontan davon, dass er in der Schule andere Kinder geschlagen habe. Die im Verlauf des Interviews aufkommende Thematik aber weist darauf hin, dass hinter dem gewaltsamen Verhalten eine tiefgreifende, verunsichernde Störung in der Selbst- und Beziehungsentwicklung vorhanden (und zum Teil für die Gewalttätigkeit ursächlich wirksam) sein dürfte.

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Einige Minuten nach der ersten Kontaktnahme schlage ich Peter ein Squiggle-Spiel (Winnicott 1973) vor, das er annimmt. Er ergänzt meinen ersten Kritzel (s. Abb. 1a) und meint (s. Abb. 1b): »Ein Faden. Der ist einfach da.«

Abbildung 1a, b

Ich mache Peter darauf aufmerksam, dass die beiden Figuren nichts miteinander zu tun hätten, er ein vorsichtiges Kind zu sein scheine. Als Einfall zu meinem Kommentar kommt ihm in den Sinn, dass er sich zu Hause oft im Hochbett festhält, um nicht hinunterzufallen. Er berichte mir also von einer Angst zu fallen, das heißt nicht gehalten zu sein, füge ich hinzu. Jetzt ergänze ich seinen Kritzel (s. Abb. 2a, b).

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Abbildung 2a, b

Peter kommentiert: »Zwei Menschen, die spazieren. Sie stürzen in einen Sumpf. Mit viel Schwimmen gelingt es ihnen, heraus zu kommen. Sie stürzen später, in einem Treppenhaus, nochmals hinunter. Dann sind sie nicht mehr zusammen. Auf der Straße werden sie von einem Auto überfahren. Sie kommen schließlich in den Himmel!« Ich füge hinzu: »Das Motiv des Fallens kommt nochmals, du hast gleichsam nachgedoppelt. Alle Anstrengung ist vergebens. Zusammensein ist nicht besonders hilfreich. Als hätte das alles nicht genügt, werden die Personen schließlich noch von einem Auto zu Tode gebracht.« Peter nickt. Er komplettiert meinen Kritzel (s. Abb. 3a, b).

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Abbildung 3a, b

Er sagt: »Der Mann trug ein rotes T-Shirt. Er wurde durch einen Stier erschreckt und von ihm verfolgt, konnte sich aber durch geschicktes Wegrollen in Sicherheit bringen.« Ich halte fest: »Gleichsam durch Zufall ist plötzlich Gefahr da. Schreckhafte Verfolgungsängste zeigen sich. Eigenes Geschick bewirkt aber Sicherheit. Es ist, als würdest du sagen: wenn es hier plötzlich ganz gefährlich werden sollte, so habest du dich versichert, dass du dich in Sicherheit bringen könntest.« Seinen nächsten Kritzel (s. Abb. 4a) führe ich weiter (s. Abb. 4b).

D. Bürgin · Psychoanalytische Aspekte der Gewaltprävention

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Abbildung 4a, b

Peter gibt folgenden Kommentar: »Der Mann schaut zu einem Fenster hinaus. Er sieht ein Auto, möchte auch eines. Er arbeitet und erhält Geld dafür, sodass er sich ein Auto kaufen kann. Dann geht er nicht mehr zur Arbeit, weil er mit dem Auto umherfährt, hat dann auch kein Geld mehr. Schließlich arbeitet er wieder, sodass er seine Miete bezahlen kann.« Ich bemerke: »Er hat eigene Wünsche und gestaltet sein Schicksal selbst. Ohne eigene Arbeit keine eigene Behausung. Hier scheint sich – im Gegensatz zu vorher – Anstrengung doch zu lohnen.« Nun vervollständigt Peter meinen Kritzel (s. Abb. 5a, b).

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Abbildung 5a, b

Er erklärt: »Eine Achterbahn. Der kleine Wagen steht am Ende seiner Fahrt. Mir fällt keine Geschichte dazu ein.« »Das ist verständlich, wenn unklar bleibt, wie die Fahrt weitergehen könnte«, sage ich. Daraufhin beginnt Peter am gleichen Bild weiterzuzeichnen (s. Abb. 6):

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Abbildung 6

»Hier geht es wieder hinauf, da ist die Kasse. Unten hat es Leute, die warten. Einer geht hinein, andere lachen. Der zieht den Bügel hinunter, um sich zu halten. Jetzt gehts hinauf. Ich hatte mal sehr Angst auf der Achterbahn. Hier hinten gibt es kleine Kameras, damit die Kinder nicht umfallen. Hier oben hat es einen Unfall, da ist die Kamera hinausgefallen, alles ist in Teile zerfallen und stürzt ab. Der hatte eine Schraube hinausgenommen. Die lacht noch, dabei ist das gar nicht lustig.« Ich sage: »Mitten im lustigen Geschehen passiert plötzlich etwas ganz Gefährliches. Schon wieder berichtest du von einem Absturz, nun noch mit Zerfall von allem. Diese Person scheint das Schlimme noch gar nicht zu realisieren. Kameras könnten, wie vielleicht auch hier, behilflich sein, dass nichts Schlimmes passiert.« Peters nächsten Kritzel (s. Abb. 7a) vervollständige erneut ich (s. Abb. 7b):

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Abbildung 7a, b

Er meint: »Eine Blume. Die war anfänglich ganz winzig. Dann wuchs sie, wurde unten wie ein Herz.« Nun malt er ein lachendes Gesicht in den Blumenkopf hinein (s. Abb. 8a).

Abbildung 8a

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Dann zeichnet er, neben der ersten, eine zweite Blume (s. Abb. 8b).

Abbildung 8b

»Jetzt hat es zwei!«, werfe ich ein. »Beide lachen, sie sahen etwas Lustiges. Die lachen den ganzen Tag. In der Nacht kam aber ein Hund; da hatten sie sehr viel Angst. Sie zauberten und wurden ganz winzig klein.« Worauf ich bemerke: »Du erzählst mir von einer Methode, mit der diese Personen – und in einem weiteren Sinne wahrscheinlich auch du – sich schützen können, wenn Gefahr droht: nämlich ganz klein werden – eine eigentliche Zauberei!« Nachdem wir darüber gesprochen haben, dass der nächste, wieder von Peter zu produzierende Kritzel (s. Abb. 9a) der letzte sei, ergänze ich diesen (s. Abb. 9b).

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Abbildung 9a, b

Und Peter meint: »In Australien gibt es ein Tier, das geht mit dem Kopf unter die Erde.« »Du meinst den Vogel Strauß?« »Ja«. Ich füge hinzu: »Man sagt, das täten diese Vögel, wenns gefährlich wird; im Sinne von ›was ich nicht sehe, macht mir nicht heiß‹. Schon wieder eine Zauberei, aber diese reduziert die Gefahr nicht. Die Frage bleibt also offen: Was darf ich und was du selbst von dir sehen?« Bevor Peter das Zimmer verlässt, ist es ihm ein Anliegen, mir noch einmal deutlich zu machen, er habe auf dem Riesenrad – oder hätte auch in einem Helikopter oder Flugzeug – eine extreme Angst, hinunterzustürzen, worauf ich ihm entgegne: »Ich habe von dir klar gehört, wie wichtig es dir ist, gehalten zu werden!« Die archaischen Fallängste wie auch die Verfolgungsängste dieses Latenzkindes weisen auf eine tiefe Verunsicherung im Selbst hin, die durch magisches Abwehren auszugleichen versucht wird. Damit verknüpft scheint eine Gewalttätigkeit zu sein, die im Kollektiv schnell in Erscheinung tritt. Es ist, als sage der Patient: »Ohne Holding und sanfte Desillusionierung, ohne ein konstant verfügbares Gegenüber, das meine aus der narzisstischen Rage stammenden, paranoid gefärbten, impulsiv-destruktiven Impulse

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zu modifizieren hilft, kann ich nur zu magischen Mitteln Zuflucht nehmen oder aber gewalttätig-destruktiv handeln.« Als Arbeitshypothese kann man somit auf ein Defizit oder Manko in der Selbstentwicklung und auf die Repräsentanz einer ungenügenden Primärbeziehung schließen. Die Frage, ob, aus analytischer Sicht, eine eigentliche primäre Prävention durch eine kind- und entwicklungsgerechte Präsenz und Interaktion der primären Betreuungspersonen erfolgen kann, scheint, aufgrund vieler solcher interaktiver Erfahrungen mit Kindern und Erwachsenen, bejaht werden zu können.

■ Ein Beispiel aus der Literatur Albert Camus (2003) ist in seinem Drama »Die Gerechten« der Gewaltproblematik, das heißt der Frage nach Berechtigungs- und Blockierungsmotivationen für Tötungsimpulse, konsequent nachgegangen. Es wurde 1949 in Paris uraufgeführt. Dieses über 50 Jahre alte Stück ist von höchster Aktualität, da es von Terroristen und tiefster Verzweiflung handelt. Eine Gruppe radikaler Terroristen (vier Männer und eine Frau) will den Großfürsten töten, um die Tyrannei zu stürzen. Sie fühlen sich von einem Sendungsbewusstsein und vom Gefühl, für eine gerechte Sache zu kämpfen, erfüllt. Sie töten planmäßig, nach eigener Überzeugung für einen guten Zweck, möchten aber nicht als übliche Mörder, sondern als Krieger fürs Gute verstanden werden, die mit ihrem eigenen Leben bezahlen. Suizid wird zwar erwogen, aus den genannten Gründen aber verworfen. Das Ethos der Gerechtigkeit gilt mehr als das Leben. Täter einer radikalen Tat müssen in ihren Tod einwilligen, wenn sie um eines Ideals willen zu Tötenden werden. Es wird die offizielle Hinrichtung der Tötenden, das heißt das Aufwiegen des Gewaltakts mit dem eigenen Leben, gesucht. Vernichtung von Tyrannei, Konformität mit der reinen Idee und eine ideale Zukunft werden als Ziele angestrebt. Der erste, der die Bombe werfen will, bringt es nicht zustande, da auch Kinder im Wagen saßen und er Kinder nicht umbringen kann und will. Er fühlt sich als Feigling und Versager. Dem zweiten

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gelingt es, den Großfürsten allein zu töten. Die vor der Tat gerade aufgekeimte Liebschaft zwischen ihm und der Frau in der Gruppe kommt durch seine Verurteilung und seinen Tod zum Erliegen. Er sucht keine Begnadigung, sondern Verurteilung und Hinrichtung, durch welche seine Tat Anerkennung und Rechtfertigung findet. Welche Motive können solche Täter leiten, wie lässt sich aus dem Text die Entstehung solcher Persönlichkeitsstrukturen verstehen? Sie kamen nichts als Mörder auf die Welt. »Ich schwöre Ihnen, dass ich nicht zum Töten geschaffen war.« Aber: Sie sind hasserfüllt und ihre Liebesfähigkeit ist stark eingeschränkt. Dennoch gibt es Ansätze von Sehnsucht, die eine Ahnung vom Wunsch, lieben zu können, erkennen lassen, aber sofort von Rache und Vergeltung durchsetzt werden. »Wir, die wir nicht an Gott glauben, haben die ganze Gerechtigkeit nötig, sonst müssen wir verzweifeln […] Ich jedoch kenne keine Liebe, sondern nur den Hass, ich hasse meine Mitmenschen« (S. 215). »Wo sollte ich die Kraft zum Lieben hernehmen? Es verbleibt mir wenigstens die Kraft zum Hasse. Das ist immer noch besser als völlige Fühllosigkeit« (S. 216). »Mit Gottes Hilfe wird im rechten Augenblick der Hass mich übermannen und blind machen« (S. 198). »Ich glaubte, töten sei leicht, ein Ideal und Mut genügten. Aber … ich weiß jetzt, dass im Hass kein Glück zu finden ist. All das Böse, all das Böse in mir und in den anderen! Mord, Feigheit, Ungerechtigkeit […] ich muss, ich muss ihn töten […] ich werde über den Hass hinausgehen« (S. 212). »[Es] überfällt mich zuweilen Angst. Vielleicht werden andere kommen, die sich auf uns berufen, um zu töten, und die nicht mit ihrem Leben bezahlen werden […] Aber die dreckige Ungerechtigkeit klebt an uns wie Leim […] Wir sind dazu verurteilt, größer zu sein als wir selber. Die Menschen … sie möchte man lieben. Liebe statt Gerechtigkeit […] Nein […] Vorwärts. […] Ich jedoch kenne keine Liebe, sondern nur den Hass, ich hasse meine Mitmenschen« (S. 230). »[…] wenn man nur eine Stunde lang das fürchterliche Elend der Welt vergessen und sich endlich gehen lassen dürfte. Ein einziges Stündchen Sehnsucht […] liebst du [das] Volk mit […] Hingabe und […] Weichheit, oder liebst du es vielmehr mit dem Feuer der Rache und der Empörung?« (S. 213).

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Sie bekamen zu wenig zwischenmenschliche Wärme, erfuhren schwerste narzisstische Verletzungen (später wiederholt durch Gefoltert-Werden), haben das Kind in ihnen aber mit aller Anstrengung noch »gerettet«, und versuchen ihm, mit aller Gewalt, ein entwicklungsfreundliches Umfeld zu schaffen, indem sie das in die Außenwelt projizierte Schlimme (personifiziert in der Person des Großfürsten) dort zu eliminieren versuchen, durchlebten aber kaum eine Adoleszenz. »Wir gehören nicht in diese Welt, wir sind Gerechte. Es gibt eine Wärme, die uns versagt bleibt […] Erbarmen mit den Gerechten!« (S. 214). »Eine Idee kann einen Großfürsten ermorden, aber sie bringt es nur schwer fertig, Kinder zu töten« (S. 222). »Ich hatte keine Zeit, jung zu sein« (S. 224). Der Wundsch zu Handeln und mit den negativen Affekten ehrlich sein zu können, ist groß. »Ich war am Ersticken. Handeln, endlich handeln zu können […] wir werden ihn töten« (S. 189). »[…] ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, mich zu verstellen […] gut lügen, darauf kommt es an« (S. 191). »Ich habe begriffen, dass es nicht genügt, das Unrecht an den Pranger zu stellen, sondern dass man sein Leben hingeben muss, um es zu bekämpfen […] Am Tage, da ich die Bombe werfe, werde ich aufrichtig sein« (S. 192). Sie fanden Halt und Sicherheit – als Reaktionsbildung auf empfundene Ungerechtigkeit und in bedingungsloser Identifikation mit einer politischen Idee (der Gerechtigkeit/die Gerechten; es könnte genau gleich auch eine religiöse sein) die Gleichgesinnte vereint. Sie haben ihre Individualität zu Gunsten einer unbedingten Zugehörigkeit zu einer organisierten Bruderschaft und einer Adhärenz zu einem Ideal aufgegeben und können sich kaum mehr anders als durch Verachtung wahrgenommen fühlen. »Ich habe eingewilligt, zu töten, um die Gewaltherrschaft zu stürzen. [Denn ich] sehe eine Gewaltherrschaft, die […] einen Mörder aus mir macht, während ich versuche, Rechtsvollstrecker zu sein« (S. 205). »Wir, die wir nicht an Gott glauben, haben die ganze Gerechtigkeit nötig, sonst müssen wir verzweifeln« (S. 215). »Gott vermag nichts. Die Gerechtigkeit ist unsere Sache« (S. 218). »Ich liebe nicht das Leben, sondern die Gerechtigkeit, die höher steht als das Leben« (S. 195). »Um der Organisation willen habe ich alles aufgegeben. Und zudem töten wir, um eine Welt zu bauen, in der keiner

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mehr töten wird. Wir nehmen es auf uns, Verbrecher zu sein« (S. 196). »Für die Idee zu sterben ist die einzige Art, ihrer würdig zu sein. Das ist die Rechtfertigung« (S. 197). »Ich hatte es nötig, wieder Verachtung zu spüren« (S. 227). »[…] möge der Tod mein Werk durch die Reinheit der Idee krönen […] welch entsetzliche Krönung!« (S. 229). Wäre, aus psychoanalytischer Sicht, bei solchen Konstellationen eine Prävention möglich? Libidinös besetzte Beziehungsstrukturen, das heißt solche mit liebevollem Austausch und fehlender Elimination des Dritten, würden wahrscheinlich keine solche Leere hinterlassen, die durch Projektion der eigenen Rage und des eigenen Hasses nach außen – den Versuch einer Tötung des Gewaltig-Mächtigen in der Außenwelt – und durch die Plombierung der Leerstelle durch ein selbsternanntes Ideal (die Gerechtigkeit) zu verändern versucht wurde. Zärtlichkeit, Liebesfähigkeit, Aus-Einander-Setzung und individuelle Verantwortung in der Filiationslinie (zum Beispiel durch »Erziehen« eines eigenen Kindes) würden eine so geartete Beziehungswelt kennzeichnen. Der Respekt und die Achtung vor dem Leben und den Eigenbedürfnissen der Anderen scheinen wichtige Bestandteile möglicher Aktivitäten zu sein, die zum Ziel haben, präventiv auf die Gewaltentwicklung und -ausübung einzuwirken. Allgemeine präventive Maßnahme-Möglichkeiten sind: die Vermeidung unnötiger langer, die altersentsprechende Toleranzgrenze überschreitender Trennungen und überflüssiger Belastungen (insbesondere ohne adäquate Substitutspersonen), die Abstimmung von Frustrationen auf den vorhandenen seelischen Entwicklungsstand eines Kindes, angemessene Hilfeangebote bei Verlusterlebnissen, schließlich spezifische Hilfeangebote (etwa der Aufbau einer Beziehung zu möglichen Substitutspersonen), Unterstützung und Behandlung von depressiven, psychotischen oder suchtstoffabhängigen primären Betreuungspersonen. Mögliche Präventionsfelder bei Kindern und Familien sind: Kinder, die schweren Belastungen ausgesetzt sind (Hospitalisationen, chirurgischen Eingriffen, Misshandlungen, Eltern mit schweren Krankheiten); Kinder mit chronischen Krankheiten; Familien mit mehr Kindern, als für sie zu bewältigen sind; mit behinderten Kindern; Kinder, die in großer Armut leben, mit wiederkehrenden

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körperlichen, seelischen oder sexuellen Misshandlungen, mit problematischen Rollenaufteilungen (Adoption, Stiefeltern, Alleinerziehenden), mit schweren Konflikten (Gewalt, Suchtstoffabusus, Trennung); Familien in pathologisch verlaufenden normativen Krisen (Geburt des ersten Kindes, Kindergarten-/Schuleintritt, Adoleszenz, Klimakterium, Pensionierung) und Familien mit Verlust eines Mitglieds; Frauen mit Risikoschwangerschaften (vor allem solche aus unteren sozialen Schichten oder solche mit vorgängigen Psychosen im Wochenbett). Mögliche Präventionsfelder bei Adoleszenten sind: Jugendliche, die chronisch weglaufen, die eine vorzeitige Elternschaft durchlaufen, therapiebedürftigen Probleme aufweisen (vor allem solche mit schizophrenen Psychosen, schweren Depressionen, schweren Beziehungsstörungen oder hirnorganischen Beeinträchtigungen), mit schweren Schulproblemen, mit einer Suchtstoff-Abhängigkeit oder mit suchtstoffabhängigen Eltern, aus Elendsvierteln oder Jugendliche mit dissozialem oder delinquentem Verhalten. Eine übergreifende Haltung zur Prävention würde vielleicht dem Satz von Brecht (1954) am Schluss des »Kaukasischen Kreidekreis« entsprechen: »Ihr aber […] nehmet zur Kenntnis die Meinung der Alten, dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind, also die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen, die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird, und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt« (S. 95).

■ Literatur Bion, W. (1962): A theory of thinking. International Journal of Psycho-Analysis 43: 306–310. Brecht, B. (1954): Der kaukasische Kreidekreis. Berlin. Bruner, J. (1993): Wie ein Kind sprechen lernt. Bern. Bürgin, D. (1984): Aspekte der Entwicklung des Kindes nach D. W. Winnicott. München. Bürgin, D.; Klitzing, K. von (1995): Prenatal representations and postnatal interactions of a threesome (mother, father, baby). In: Bitzer J.; Stauber, M. (Hg.): Psychosomatic Obstetrics and Gynaecology. Bologna, S. 185–191. Camus, A. (2003): Dramen: Die Gerechten. Hamburg.

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Emde, R. (1988): Development terminable and interminable. I: Innate and motivational factors from infancy. International Journal of Psycho-Analysis 69: 23–42. II: Recent psychoanalytic theory and therapeutic considerations. International Journal of Psycho-Analysis 69: 283–296. Klein, M. (1997): Gesammelte Schriften. Stuttgart. Meltzoff, A. N.; Moore, M. K. (1994): Imitation, memory and the representation of persons. Infant Behavior and Development 17, 83–99. Spitz, R. (1969): Vom Säugling zum Kleinkind. Stuttgart. Stern, D. (1984): Affect attunement. In: Call J.; Galenson, E.; Tyson, R. (Hg.): Frontiers of Infant Psychiatry, Vol. II. New York, S. 3–13. Winnicott, D. W. (1974): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München. Winnicott, D. W. (1973): Die therapeutische Arbeit mit Kindern. München.

■ Hans von Lüpke

Der Dialog in Bewegung und der entgleiste Dialog Beiträge aus Säuglingsforschung und Neurobiologie

»Dialog wird definiert als ein emotionsgeladener Kreisprozess von Aktion und Antwort innerhalb einer Eltern – Kind – Dyade, ein kontinuierlicher wechselseitiger Feedback Kreislauf« (Spitz 1963, S. 152). Spitz bringt die Vielzahl der Dialogkonzepte auf diese Formel. Sie wirkt so plausibel, dass kein Bedarf für weitere Ausführungen zu bestehen scheint. Damit könnte sie – vergleichbar mit Begriffen wie »Ganzheitlichkeit« – zu einer Leerformel werden, die zugleich alles und nichts besagt und lediglich das Gefühl vermittelt, auf der richtigen Seite zu stehen. Ziel dieses Beitrags soll es sein, durch Bezugnahme auf Modelle und Befunde aus Säuglingsforschung und Neurobiologie konzeptionelle und praktische Aspekte des Dialogkonzepts zu diskutieren, um den leeren Raum scheinbarer Klarheiten als einen SpielRaum für vielfältige dynamische Prozesse erkennbar werden zu lassen. Forschungsansätze werden dabei bewusst als wandelbare Perspektiven, als Bilder behandelt. Damit ist gemeint, dass in diesen Bezügen keine übergeordnet gültigen »Erklärungen« gesucht werden – eine Erwartung, die sich nicht selten an die Hirnforschung richtet und von dieser aufgegriffen wird. Jeder Forschungsbereich ist – wie bei der Bestimmung von Welle und Teilchen – durch die Grenzen seiner Methodik bestimmt. Als Analogie sei Bezug genommen auf eine Szene, in der ein Pianist Mozart spielt. Eine der möglichen Perspektiven sei zunächst die Untersuchung der musikalischen Qualität unter ästhetischen Gesichtspunkten sowie der Frage, ob der Pianist dieser gerecht wird. Eine weitere Perspektive wäre die Betrachtung der Mechanik des Klaviers, deren materieller und technischer Voraussetzungen sowie schließlich eine physikalisch – akustische Analyse der mit dem

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Spiel verbundenen Schallwellen, ihrer Frequenzen, Amplituden und so weiter. Jede dieser Untersuchungen hat ihre eigene Methodik, die auch bei beliebiger Verfeinerung keine Aussage über die Bewertungskriterien der anderen zulässt. Die musikästhetische Betrachtung wird niemals über die mechanischen und physikalischen Aspekte etwas aussagen können. Die physikalische Analyse wiederum kann keine Kriterien dafür aufstellen, warum dem Zuhörer die Sonate von Mozart vielleicht mehr bedeutet als ein Stück von Salieri. Gleichzeitig sind alle Aspekte voneinander abhängig: Ohne funktionierende Mechanik gäbe es keine musikalische Ästhetik, ohne diese wiederum keinen Anlass zur Entwicklung der Mechanik. Eine Aussage wie: »Die Mechanik macht die Musik von Mozart« ist daher zugleich zutreffend und falsch. Es geht um wechselseitige Bedingtheit und nicht um einfache Kausalität – um etwas »Ganzes«, das nur durch die Bedingtheiten der methodischen Zugänge in unterschiedliche »Daten« aufgeteilt wird. Gleichzeitig können Resultate der einen Methodik dazu anregen, unter einer neuen Perspektive genauer hinzusehen und im bereits Vertrauten Entdeckungen zu machen. In diesem kreativen Sinn soll hier die Wechselseitigkeit der Bezüge zwischen dialogischem Konzept, Säuglingsforschung und Neurobiologie verstanden und analog zu musikalischen Strukturen als Thema mit Variationen durchgespielt werden. Das »Thema« bildet das aus der Praxis der Integration behinderter Kinder entwickelte Dialogmodell von Milani Comparetti (1996). Im Gegensatz zum geschlossenen Kreis des neurologischen Reflexmodells, bei dem Stimulus und Respons sich in jeweils vorgegebenen festen Bahnen bewegen, wird im Dialog das Wechselspiel zwischen dem Vorschlag des einen Partners und dem Gegenvorschlag des anderen unter dem Bild einer aufsteigenden Spirale gesehen. Dabei ist mit »Gegenvorschlag« nicht gemeint, dass dieser »gegen« den des Partners gerichtet ist, sondern lediglich, dass er sich von diesem unterscheidet. Aus dieser Differenz ergibt sich statt des geschlossenen Kreises die nach oben offene Spirale, deren Bewegung von beiden Partnern, ohne sich in einer vorgegebenen und damit bereits bekannten Bahn zu bewegen, jeweils neu gestaltet wird. Das Ergebnis überrascht, gibt Anlass zur Neugier auf die weitere Entwicklung und hat damit eine kreative Dimension. Jeder

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Beitrag antwortet auf den Beitrag des Partners und stellt zugleich einen neuen Vorschlag dar. Die Differenz ist also keine Störung, sondern essenzielle Voraussetzung für die kreative und damit entwicklungsfördernde Dimension. Darüber hinaus wird der Dialog nicht als Aufforderung zur bedingungslosen Enthüllung der Partner verstanden. Milani Comparetti spricht vom Geheimnis, von der »Nische der Subjektivität«, von der Begrenzung des Mitgeteilten – nicht aus Mangel an Kommunikationsmöglichkeiten, sondern als Bestandteil des Dialogs. Bemerkenswert ist dabei, dass Milani Comparetti beide Partner als gleichberechtigt ansieht, den Behinderten also nicht als defizitär, sondern durch sein Anderssein auch für die Nichtbehinderten bereichernd. In Anwendung dieses Modells auf den Säugling und seine erwachsene Betreuungsperson wären die Beiträge des Säuglings ebenso ernst zu nehmen wie die des Erwachsenen. Es bleibt jedoch die Tatsache, dass einer der Partner in stärkerem Maß die Bedingungen dafür schaffen muss, dass der andere sich entwickeln kann. Obwohl auch der Erwachsene sich durch das Kind weiter entwickelt, bleibt hier eine Asymmetrie, die in der Säuglingsforschung thematisiert wird. So gehen Fonagy et al. (2002) – auf der Grundlage der Bindungsforschung – davon aus, dass es für die Selbstentwicklung und dabei den Aspekt der Affektregulation von besonderer Bedeutung ist, dass die Gefühlszustände des Säuglings vom Erwachsenen in der Weise widergespiegelt werden, dass für den Säugling der Bezug zum eigenen Gefühl erkennbar wird, zugleich aber auch der Unterschied zum Gefühl des Erwachsenen. Der Erwachsene bewirkt dies durch »Markieren« seines Gefühls, einem Abkoppeln aus dem Kontext des eigenen Erlebens, das die Äußerung dieses Gefühls »nichtsequenziell« erscheinen lässt. Dem entspricht ein übertriebener Ausdruck dieser Gefühle, ein Als-obSpiel im Sinne eines »pretended play«. Auf diese Weise ist der Säugling davor geschützt, das eigene Gefühl mit dem des Erwachsenen zu verwechseln. Wird der Säugling beispielsweise vom Gefühl existenziell bedrohlicher Angst überflutet, so kann er durch die modifizierte Spiegelung des Erwachsenen erleben, dass dieser sich nicht gleichermaßen bedroht fühlt. Dadurch vermittelt sich ihm die Botschaft, dass die Angst überlebt werden kann. Jene beim Erwachsenen beobachtete Variante des eigenen Gefühlszustands

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wird für diesen zu einer inneren Repräsentanz, die es ihm ermöglicht, den überflutenden Affekt einzudämmen, auszubalancieren und auf diese Weise zu regulieren. Zusätzlich entwickelt sich daraus die Möglichkeit einer Reflexion über sich selbst und den Anderen als getrennte Person mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Absichten (Mentalisierung, »theory of mind«). Für den Säugling ist weiterhin bedeutsam, dass er sich als wirksam handelnd empfindet. Beim Vergleich dieses Konzepts mit dem Dialogmodell zeigen sich Unterschiede. Die Rückwirkung auf den Erwachsenen wird nicht thematisiert. Wie bereits angedeutet, verändert sich in diesem Wechselspiel auch der Erwachsene. Er wird nicht ohnmächtig und aggressiv, sondern fühlt sich handlungsfähig, wenn er das Kind beruhigen kann. Diese Erfahrung macht es ihm möglich, die eigene »Mentalisierung« zu nutzen, um über das Kind zu reflektieren, unterschiedliche Möglichkeiten der Verhaltensinterpretation durchzuspielen und auf diese Weise die Beziehung zum Kind und damit den eigenen Handlungsspielraum zu verändern. Darüber hinaus enthält das Konzept von Fonagy et al. 2002 (wie auch Fonagy u. Target 2002) Unstimmigkeiten, die durch ein dialogisches Verständnis überbrückt werden könnten. Die Autoren gehen beim Säugling lediglich von »angeborenen Automatismen von Basisemotionen« aus (Fonagy u. Target 2002, S. 848). Gleichzeitig betonen sie, dass der Als-ob-Modus der Kommunikation sich erst im Verlauf des zweiten Lebensjahrs allmählich entwickelt. Wie geht es dem jungen Säugling beim »pretended play«? Werden neben den gespielten auch ungewollt die authentischen Gefühle des Erwachsenen vermittelt? Bestünde bei diesem »pretended play« mit dem Säugling nicht die Gefahr, dass dieser in seiner Wahrnehmung die authentischen Gefühle mit den gespielten vermischt und dadurch jenes »Irrewerden« an der Verlässlichkeit einer Person sich entwickelt, von dem Ferenczi in seinem klinischen Tagebuch von 1932 sagt: »Irrewerden ist: sich geirrt haben; es wurde einem mit Benehmen und Rede eine bestimmte Gefühlsbeziehung ›vorgespielt‹« (Milch 2003, S. 280)? Im Gegensatz zur Still-face-Situation bei einer unerreichbar in die Depression zurückgezogenen Mutter, die den Säugling mit dem Gefühl eigener Ohnmacht konfrontiert, macht er hier die Erfahrung, als Ergebnis seiner Initiative etwas

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bewirkt zu haben, das ihn verwirrt, ihn »irre« machen kann. Um sich davor zu schützen, versuchen Säuglinge in solchen Situationen, durch »Rückfrage« eine neue Orientierung zu finden. Stern (1985, S. 216f.) beschreibt bei seiner Untersuchung zur Affektabstimmung (affect attunement) folgende Szene: »Als die Mutter auf unseren Wunsch die Tonhöhen-Kontur, das Zeit- und Betonungsmuster ihrer Standard-Äußerung – verglichen mit der erkennbaren Erregung des Kindes – über- oder untertrieb, bemerkte der Junge es und schaute sie an, als ob er auf eine weitere Erklärung warte.« Affektabstimmung im Sinne von Stern kann als Element des Dialogs verstanden werden. Sie ist durch bewusste Kontrolle eher zu stören als zu fördern. Die dabei benutzten Kommunikationskanäle sind noch im Erwachsenenalter weitaus vielfältiger als die über Sinnesorgane definierten und nur teilweise der bewussten Kontrolle verfügbar. Wir sprechen vom »sechsten Sinn« – woher weiß ich, welches Auto vor mir ausscheren wird? Von Bedeutung ist auch die Frage, ab wann von dialogischer Kommunikation gesprochen und damit eine Erfahrung gebildet werden kann, die auf spätere Erfahrungen einwirkt und sich von diesen wiederum modifizieren lässt. Vieles spricht dafür, dass diese Kommunikation nicht erst zu einem Zeitpunkt X beginnt (etwa bei der Geburt), sondern schon von Anfang an zur Entwicklung des Menschen gehört. Die Bewertung der hierzu verfügbaren Befunde ist schwierig und bleibt eine Frage der Interpretation – doch auch die Modelle der Säuglingsforscher beruhen letztlich auf der Interpretation von Beobachtungen. Die heutige Vorstellung eines von Geburt an sozial kompetenten Säuglings setzt erst recht die Annahme einer darauf vorbereitenden Entwicklung voraus. Vor der Geburt ist die Mutter immer anwesend – das Kind kann also kaum als monadisch abgekapselt und erst nach der Geburt Kontakt aufnehmend vorgestellt werden. Auch Fonagy et al. (2002) nehmen auf die Untersuchungen von DeCasper und Fifer (1980) Bezug, wonach sich bereits Föten an die Stimme der Mutter habituieren und diese nach der Geburt wieder erkennen. Das Neugeborene dürfte daher nicht nur über »angeborene Automatismen von Basisemotionen« verfügen, sondern über Erfahrungen mit dialogischen Strukturen (von Lüpke 2003a). Milani Comparetti geht davon aus, dass es

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schon pränatal einen dialogischen Austausch zwischen Mutter und Kind geben muss. So schwer dieser methodisch zugänglich ist, so deutlich sind doch manche Hinweise in diese Richtung: so das Alternieren zwischen maximaler Bewegungsaktivität des Fötus und REM-Schlaf der Mutter (Sterman u. Hoppenbrouwers 1971). Auch die jeder Schwangeren geläufige Wechselseitigkeit von Kindsbewegungen und »Antworten« über die Hand der Mutter (oder des Vaters) kann als Dialog verstanden werden. Ohne solche vorangehenden Erfahrungen wäre auch kaum vorstellbar, was von Klitzing (2002, S. 880) zu seinen Untersuchungen über frühe Triangulierung abschließend feststellt: »Die Ergebnisse unserer Studien unterstützen weitgehend die psychoanalytischen Konzepte, in denen psychische Entwicklungen von Kindern von Anbeginn an als Triangulierungsprozesse verstanden werden.« Er distanziert sich von der Bindungsforschung und erweitert das Dialogkonzept, indem er fortfährt: »Im Gegensatz zu Fonagy und Target sehen wir die Bildung mentalisierender Prozesse im Kind nicht nur als Konsequenz der Bindungssicherheit und Erfahrung mütterlicher Sensitivität an. In der psychoanalytischen Denkweise entwickeln sich Objekt-Repräsentanzen nicht einfach nur infolge der dauernden und Bedürfnisse befriedigenden Anwesenheit eines sensitiven, nährenden mütterlichen Objekts. Vielmehr ist der Wechsel zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Bedürfnisbefriedigung und Frustration das eigentliche Agens, das die Präkonzeption von inneren Objekten sich zu inneren Konzepten entfalten lässt. Die Beziehungssituation in einer von den Eltern lebendig gelebten Triade scheint uns für die Entwicklung besonders stimulierend zu sein, weil das Kind in der triadischen Beziehung nicht nur die Abwesenheit der Beziehungsperson, sondern auch die Abwesenheit in der Anwesenheit eines anderen Dritten erlebt. Das Erleben von Unterschieden zwischen den wichtigen Beziehungspersonen, Unterschieden in ihren Interaktionsstilen, ihrem Umgang mit den Bedürfnissen des Kindes et cetera, führen dazu, dass das Kind sich nicht einfach nur im Gegenüber spiegelt, sondern im Umgang mit den unterschiedlichen Beziehungspersonen sich selber findet.« Mit Hinweis auf Väter, die »manchmal auch disruptive Spielelemente einbrachten«, fährt von Klitzing fort: »Das Hin und Her zwischen verschiedenen Spielstilen, solange die Eltern untereinan-

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der nicht in Rivalität und aggressiven Ausschlusstendenzen fixiert waren, führte oft zu einer lebendigen und kreativen Antwort des Kindes. Dass viele Kinder immer wieder fasziniert von einem zum anderen Elternteil schauten, ließ uns vermuten, dass gerade die Unterschiede der Beziehungsangebote von Vater und Mutter das Kind in seiner reflexiven Funktion förderte« (Klitzig 2002, S. 883f.). Der Bezug zum Konzept der »now moments« von Stern et al. (2002) bietet sich an: Auch hier geht es um die entwicklungsfördernde Bedeutung einer vorübergehenden Störung, diesmal im therapeutischen Prozess. Diese Vorstellung führt zurück zu Milani Comparetti und variiert den Aspekt der Differenz um den der Störung. Dies trifft sich mit jenen Vorstellungen in der Säuglingsforschung, die im Verlieren und Sich-wieder-Finden, im »loss and repair« oder »interactive repair« nicht nur tolerierbare Frustrationen, sondern einen Anreiz für Entwicklung sehen. Schließlich zeigen von Klitzings Resultate, dass dialogische Strukturen nicht auf die Dyade beschränkt bleiben – was nach dem Spiralenmodell angenommen werden könnte –, sondern dass in der komplexeren Struktur der Triade die wesentlichen Elemente des Dialogmodells sogar deutlicher hervortreten: der konstruktive Aspekt der Differenz auch bei unzureichender Befriedigung von Bedürfnissen (»Fehler«) unter der Voraussetzung, dass dies von den Beteiligten wahrgenommen, benannt oder auf anderen Wegen im Dialog thematisiert wird. Darüber hinaus müssen Fehler nicht ängstlich vermieden werden, wenn ihnen eine Funktion in der wechselseitigen Abstimmung zugestanden wird. Es bedarf keiner Übertreibung mit dem Risiko des »Irrewerdens«, eher eines authentischen Verhaltens – der »lebendig gelebten Triade« bei von Klitzing. Untersuchungen von Fonagy und Target (2002, S. 854) über Mütter und ihre Fähigkeit, ein sechs Monate altes Kind rasch zu beruhigen, könnten in diesem Sinne verstanden werden: »Die Mütter jener Kinder, die schnell beruhigt werden konnten, zeigten etwas mehr Angst, etwas weniger Freude, aber in der Regel gleichzeitig ein ganzes Spektrum anderer Affekte als Angst und Trauer. Durchschnittlich zeigten sie weit mehr verschiedene affektive Verfassungen, zum Beispiel auch komplexe Affekte, in denen Ironie und Trauer oder Furcht und Skeptizismus kombiniert waren.« Die Komplexität der Affekte

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entspricht vermutlich deren Authentizität. Natürlich sprechen Eltern mit ihren Säuglingen in erhöhter Stimmlage und mit übertriebener Mimik (jenen aufgerissenen Augen des Vaters in den frühen Arbeiten der Papouseks), aber sie tun es spontan, authentisch (als Teil des »intuitiven Elternverhaltens«) und nicht als bewusstes Als-ob. Auch ist dies im Verlauf des Alltags nicht die Normalität. Hier dürfte der Unterschied zwischen Untersuchungen im Labor und der häuslichen Situationen methodisch von Bedeutung sein. Interessant ist auch der Hinweis auf Anteile von Skeptizismus und Ironie. In reiner Ausprägung sind diese Affektäußerungen mit dem Säugling vermutlich nicht kommunizierbar, in der beschriebenen Kombination mit Trauer oder Furcht können sie in einem bestimmten Augenblick die jeweils authentische Mischung darstellen. Damit wird der Unterschied zu den Affekten des Säuglings deutlich. Es besteht daher kein Anlass zur bewussten Übertreibung, um den Säugling vor einer Verwechslung zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu schützen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Erwachsene mit seinen Gefühlen anders umgeht als der Säugling und Möglichkeiten einer Balance, einer Affektkontrolle entwickelt hat. Damit kann er den Gefühlen des Säuglings jenes »containing« bieten, von dem Bion spricht. Authentizität allein genügt nicht. Kann ein Erwachsener seine Gefühle genau so wenig balancieren wie der Säugling, so verstärkt er diese – auch dessen Angst. Darüber hinaus kann der Säugling über die Zuordnung eines Gefühls nun wirklich in Verwirrung geraten: welches ist sein eigens, welches das des Erwachsenen? Fonagy et al. (2002) sehen in dieser Konstellation ein Risiko zur Entwicklung von Borderline-Strukturen. Damit sollen Bindungsforschung und Dialogkonzept nicht als Gegensätze, eher als »Kontrapunkte« behandelt werden. Die enge Beziehung zwischen beiden Modellen zeigen Untersuchungen von Beebe et al., die Brisch (2003, S. 54) mit dem Hinweis zitiert, »dass eine feine dialogische Abstimmung, die durchaus nicht perfekt sein muss, sondern auch Missverständnisse erkennt und korrigiert, am wahrscheinlichsten zu einer sicheren Bindung des Säuglings beiträgt. Dagegen korreliert ein übermäßig synchroner Dialog […] eher mit einer unsicher ambivalenten Bindung«. Für die Praxis im Umgang mit Eltern und Professionellen in der Ent-

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wicklungsförderung könnte das hier diskutierte Dialogmodell die Chance bieten, durch seine Ermutigung zu Fehlern den mit uneingeschränkter Forderung nach Feinfühligkeit und richtigem Handeln verbundenen Druck zu mindern. Entscheidend ist letztlich die Affektabstimmung, jenes »affect attunement«, das die Bedeutung der jeweiligen Handlung bestimmt. So kann auch mit einem zehn Monate alten Säugling ein symbolisches Spiel gelingen und mit einem Dreijährigen scheitern, wenn dieser eine Spiegelung als Nachäffen empfindet. Jede Abstimmung bedarf einer Vorverständigung, die ein strukturiertes, zur Kommunikation fähiges Es voraussetzt, das nicht – wie bei Anna Freud – bis zur »Zähmung« durch das Ich als wild um sich schlagender Orang-Utan vorzustellen ist. Eine solche Strukturierung könnte das Ergebnis der bereits vorgeburtlich beginnenden Dialogerfahrungen sein. Es entstünde dabei jenes »implicit knowing«, dem Stern et al. (2002) auch im therapeutischen Prozess eine entscheidende Rolle zuschreiben und das nicht durch Verdrängung unbewusst wird, sondern seiner Struktur nach gar nicht bewusst werden kann – eine Variante zum »Geheimnis« bei Milani Comparetti. Das Konzept eines nicht bewusstseinsfähigen, aber Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen maßgeblich steuernden Unbewussten findet seine Entsprechung in neueren Konzepten der Säuglingsforschung. So geht Lyons-Ruth (1999, S. 759) davon aus, dass »Entwicklung nicht allein oder ursprünglich durch eine Bewegung von prozeduralem zu symbolischem Kodieren (oder vom Primär- zum Sekundärprozess oder von präverbalen zu verbalen Formen des Denkens) fortschreitet. Prozedurale Formen der Repräsentation sind nicht infantil, sondern in jedem Alter ein Bestandteil menschlichen Denkens (intrinsic to human thinking) und bilden die Grundlage für zahlreiche Formen von erlernten Handlungsweisen, einschließlich sozialer Interaktion«. Die Vorstellung, dass auch wesentliche Entscheidungsprozesse auf der unbewussten Ebene bereits stattgefunden haben, bevor sie als solche wahrgenommen werden, findet sich in der Hirnforschung (Roth 2001) und hat zu einer Debatte über die Willensfreiheit geführt. Philosophen sehen moralische Grundwerte in Gefahr, wenn menschlicher Wille neurobiologisch vorprogrammiert sein soll

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und Roth den bewussten (kortikalen) Anteilen nur noch die Funktion eines Regierungssprechers zuschreibt, »der Dinge interpretieren und legitimieren muss, deren Gründe und Hintergründe er gar nicht kennt« (Roth 2001, S. 370). Werden jedoch auch die unbewussten Prozesse als Teil des Selbst und über Dialogerfahrungen vorstrukturiert verstanden, so erübrigt sich diese Debatte: Die unbewusst getroffenen Vorentscheidungen wären dann nicht weniger das Ergebnis einer Auseinandersetzung der Persönlichkeit mit ihrer Umwelt als die bewussten. Die strukturierende Funktion von frühen Dialogerfahrungen erhielte damit einen hohen Stellenwert. Nach Roth (2001) kann sogar die Sprache nur dann zur Kommunikation zwischen Partnern dienen, »wenn diese sich aufgrund interner Prozesse der Bedeutungserzeugung oder der nichtsprachlichen Kommunikation mit uns bereits in einem konsensuellen Zustand befinden« (S. 452f.). Bei Roth (1999) finden sich noch weitere Bilder, die den intersubjektiven Spielraum illustrieren, ohne ausdrücklich auf ein Dialogkonzept Bezug zu nehmen. Wahrnehmungen sind für ihn kein Abbild der Umwelt, sondern werden als »Hypothesen über die Umwelt« verstanden. Interindividuelle Wahrnehmung wie auch die intraindividuelle Reflexion darüber sind das Ergebnis einer Konstruktion von Bedeutung auf der Basis von Erinnerungen und deren Bewertung – ohne die Beteiligung einer als real klassifizierbaren Instanz. Für das Dialogkonzept erscheint die Vorstellung von der Wahrnehmung als Hypothese besonders hilfreich, da sie jene Beweglichkeit schafft, die der Spirale von Milani Comparetti die Öffnung nach oben und damit ihre kreative Dimension ermöglicht. Es kommt nicht darauf an, dass die Partner reales benennen und den anderen »richtig« verstehen, sondern darauf, dass sie offen sind für die wechselseitige Modifikation (die Modulation) ihrer Vorstellungen. Dies hat zur Voraussetzung, dass sie die eigenen Bilder lediglich als Ausdruck der eigenen Überzeugung und nicht als allgemein gültige »Wahrheiten« behandeln. Auch im psychotherapeutischen Dialog enthält dann jede Deutung zugleich eine Frage, ein sokratisches Nicht-Wissen. Auf der anderen Seite wäre die Verständigung durch »Hypothesen über die Umwelt« ohne eine dialogische Struktur kaum vorstellbar. Die Öffnung als Ausdruck der kreativen Kompetenz führt zum

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»potential space« von Winnicott (1971). Für Winnicott bedeutet dies eine Erweiterung seines früheren Konzepts vom intermediären Raum als Ort der Übergangsphänomene. Wittenberger (2000, S. 402) betont die Unübersetzbarkeit des Begriffs: »In ›potential‹ ist sowohl die Möglichkeit als auch die Kraft (Potenz) enthalten, die der Raum bietet.« Ermann als Übersetzer der deutschen Ausgabe benutzt »je nach Zusammenhang« die Begriffe »Spannungsbereich« und »potentieller Raum« (Winnicott 1971, S. 116). Der »potential space« ist für Winnicott »ein Raum, der zu einem unbegrenzten Bereich der Trennung werden kann, den das Kleinkind, das Kind, der Jugendliche und Erwachsene kreativ mit Spiel erfüllen kann, aus dem sich später die Freude am kulturellen Erbe entwickelt« (Winnicott 1971, S. 125). Damit erweitert sich der »Spiel-Raum« bis zur kulturellen Dimension, die hier (im Gegensatz zu Freud) nicht als Ergebnis einer Sublimation verdrängter Triebinhalte, sondern als Ausdruck lustvoller Kreativität verstanden wird. Sie entwickelt sich aus Erweiterungen des Spiels mit den Möglichkeiten der Symbolik sowie spielerischer Übertreibung und damit – anders als im Säuglingsalter – vielfältigen Varianten für ein »pretended play«. Missverständnisse, Fehler, aber auch Kritik, Aggressionen und Angst können gestaltet und ohne Gefahr kommunizierbar werden. In der Darstellung von Davies und Wallbridge (1981) zeigt sich die Nachbarschaft zum Dialog-Modell, wenn diese von der Rolle des »potential space« für die Entwicklung von »persönlichen Beziehungen zwischen getrennten Individuen« sprechen: »Kommunikation findet dort statt, wo sich die potentiellen Räume überschneiden: Diese Überschneidung ist die gemeinsame Grundlage zärtlicher Beziehungen, bei denen Triebspannung nicht die Hauptrolle spielt, Beziehungen, die durch die Erfahrung der mütterlichen Beziehung zum eigenen Ich in der frühen Kindheit ermöglicht werden. Hier entsteht Kommunikation durch ›Gegenseitigkeit der Erfahrung‹ oder durch die Überschneidung potentieller Räume, und zwischenmenschliche Beziehungen ›können einen Reichtum und eine Leichtigkeit aufweisen, die jene flexible Stabilität mit sich bringt, die wir Gesundheit nennen‹ (Winnicott 1971)« (Davies u. Wallbridge 1981, S. 106). Winnicott sieht diesen Prozess jedoch nicht von Beginn an dia-

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logisch. Er geht noch von einer Phase der »völligen Verschmelzung mit der Mutter« aus (Winnicott 1971, S. 124). Die allmähliche Trennung ist das Werk der Mutter: Sie »passt sich an die Bedürfnisse ihres Kindes an, das allmählich Persönlichkeit und Charakter entwickelt; diese Anpassung gibt ihr ein bestimmtes Maß an Verlässlichkeit« (Winnicott 1971, S. 126). Durch die Trennung entwickelt sich der »potential space«, der – wie oben bereits erwähnt – »mit kreativem Spiel, mit Symbolen und dem, was allmählich das kulturelle Erbe ausmacht, erfüllt ist« (Winnicott 1971, S. 127) und damit nie zur völligen Trennung führt. Winnicott benennt einen »Widerspruch«, der »hingenommen werden« muss, wenn er die Frage stellt: »Wie soll sich Trennung vollziehen, wenn Trennung unmöglich ist?« (Winnicott 1971, S. 125). Die Vorstellung von einer Mutter, die durch ihre Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes diesem das Gefühl von Verlässlichkeit gibt, erinnert an die feinfühlige, sichere Bindung schaffende Mutter der Bindungsforscher. Der Aspekt einer Vertrauen bildenden Verlässlichkeit verweist noch einmal auf die Gefahr des »Irrewerdens« durch verwirrende Botschaften. Mit dem Hinweis auf einen unauflösbaren Widerspruch benennt Winnicott die verborgene Dialektik des Dialogs. Sie findet ihren Ausdruck im Modell vom gemeinsamen Dritten. Es ist Teil eines jeden Partners, verbindet diesen jedoch gleichzeitig mit dem anderen und veranlasst ihn zu einem Verhalten, das über die Orientierung an den eigenen Bedürfnissen hinausgeht. Benjamin (2002, S. 49) vergleicht die Betreuung des Säuglings mit einem Dialog und in ihrer Notwendigkeit der Abstimmung »eines jeden mit dem anderen und mit tieferen Strukturen« mit der Struktur von Musik. Sie betont dabei die »Mühelosigkeit« (effortless) dieses Prozesses: Das System »hat die Qualität von etwas Vorgegebenem, obwohl man daran teilnimmt, es zu erschaffen – eine Übergangsqualität (transitional quality), in der keine Aussage darüber möglich ist, ob es gemacht oder gefunden wurde« (Benjamin 2002, S. 48). Hier geht es also nicht um etwas Drittes im Sinne eines äußeren Objekts (wie etwa bei Sterns [1998] gemeinsam von Kind und Mutter beobachtetem LKW und dessen Benennung), sondern um die Gemeinsamkeit einer Struktur, die analog zum Rhythmus oder anderen Elementen der Musik zugleich vorgegeben ist und in

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jedem Augenblick von den Beteiligten neu geschaffen wird. Auch die dialogische Struktur könnte also in diesem Sinne als »Drittes« beschrieben werden: als die dialektische Aufhebung von Handeln und Reagieren (analog zu Winnicotts Vereint- und Getrenntsein) – oder, wieder mit Benjamins Worten: »Ein Gefühl von Handeln, aber zugleich auch ein Gefühl von Fließen oder Freiheit jenseits von Handeln«. Mit der Dialektik von Handeln und Reagieren im Dialog wird die weiter reichende Dialektik von Identität berührt: Gerade die Wahrnehmung und bestätigende Wertschätzung durch andere lässt eigenes Handeln und Fühlen erst als eigenes empfinden und verbindet es mit dem Gefühl von Identität. Der Dialog als Modell für die Vielzahl von Wahlmöglichkeiten führt zu einem weiteren Konzept der Hirnforschung: der Theorie der Selektion neuronaler Gruppen (Edelman u. Tononi 2002). Das von der Entwicklung der Immunität abgeleitete Konzept geht davon aus, dass auch im Gehirn zunächst ein vielfältiges Repertoire an Schaltkreisen entsteht (»Entwicklungsselektion«), das im Lauf der Entwicklung durch Umwelteinflüsse teils verstärkt und weiterentwickelt sowie in anderen Bereichen bis zum Zelluntergang abgebaut wird (»Erfahrungsselektion«). Schließlich ist die Vielfalt reziproker Verknüpfungen in und zwischen einzelnen Hirnkarten von Bedeutung für die zeitliche und räumliche Koordination von Hirnaktivitäten – ebenfalls unter dem Aspekt der ständigen Veränderbarkeit aller zellulären Strukturen und Verknüpfungen unter den jeweiligen Umweltbedingungen (»Reentry«). Edelman und Tononi (2002, S. 118) weisen diesem »Reentry« besondere Bedeutung für spezifisch menschliche Entwicklungsmöglichkeiten zu und betonen den Unterschied zur Rückkopplung mit dem Hinweis, dass beim Reentry – im Gegensatz zur »fest verkabelten Schleife« der Rückkopplung – »multiple parallel geschaltete Wege« bestehen, »bei denen keine Information vorgegeben ist«. Der Vergleich mit der über Stimulus und Respons festgelegten Reflexschleife und ihrer Gegenüberstellung zur offenen Bewegung in der Dialog-Spirale bietet sich an. Im Kontext der bisherigen Darstellung ergibt sich die Frage, ob die Unterscheidung zwischen einer rein biologisch bestimmten Entwicklungsselektion und einer Erfahrungsselektion weiterhin sinnvoll erscheint, wenn Erfahrungen über den pränatalen Dialog

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bereits in den frühesten Entwicklungsphasen für die Hirnentwicklung wirksam werden – eine zeitliche Vorstellung, die sich auch bei Hüther in diesem Band wiederfindet. Sein Beitrag zeigt darüber hinaus, dass auch genetische Informationen erst über Umwelteinflüsse in der Hirnentwicklung wirksam werden. Für das Dialogmodell bedeutsam erscheint vor allem das Konzept des »Reentry« als Bild für die Möglichkeit einer Korrespondenz zwischen unterschiedlichen Modalitäten, wie sie in der Säuglingsforschung als anfangs amodale (ganzheitliche) und später – mit zunehmender Reflexionsfähigkeit – als trans- oder kreuzmodale Wahrnehmung thematisiert werden. Nur durch den wechselseitigen Bezug zwischen optischer, akustischer, taktiler, vestibulärer und olfaktorischer Wahrnehmung sowie denen des »sechsten Sinnes« ist ein kohärentes Empfinden des eigenen Selbst und der Umwelt möglich. Edelman und Tononi (2002, S. 118f.) nennen als Beispiele die Verknüpfung von Farb- und Bewegungswahrnehmung als Voraussetzung zur Gestalterkennung. Die transmodale Wahrnehmung stellt damit eine Grundlage für Lernprozesse sowie für Gedächtnisleistungen im Sinne des Episodengedächtnisses (Stern 1985) dar. Möglicherweise spielen transmodale Verschiebungen auch bei der Kontinuität zwischen pränataler Erfahrung und dem Erleben nach der Geburt eine Rolle: etwa dann, wenn manche Kinder unmittelbar nach der Geburt konzentriert das Gesicht der Mutter betrachten, als ob sie es schon lange kennen. Mit der Möglichkeit, dass vorangegangene, auf dem jeweils verfügbaren Enwicklungsstand gemachte Erfahrungen transmodal weitergeleitet werden können, relativiert sich auch die Frage, wann ein Kind welche Erfahrungen gemacht haben kann. Die Bedeutung transmodaler Phänomene für dialogische Strukturen wird bei Beobachtungen von Mutter-Kind-Interaktionen deutlich, wie sie Stern (1985, S. 211) im Kontext der wechselseitigen Abstimmung (affect attunement) beschreibt: »Die Mehrzahl der Abstimmungen erfolgt transmodal. Wenn der Säugling sich stimmlich äußerte, war die Abstimmung der Mutter in der Regel gestischer oder mimischer Art. Umgekehrt galt das gleiche.« Stern kommt zu dem Ergebnis, dass bei seinen Beobachtungen 87 Prozent zumindest teilweise transmodaler Art waren. Der bereits erwähnte Wechsel zwischen dem Bewegungsmaximum des Fötus und REM-Phasen der Mutter

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könnten ebenfalls als transmodale Korrespondenz verstanden werden. Für die Entwicklung dürfte in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein, dass hier jene modifizierte Spiegelung stattfindet, die dem Kind das Erleben seiner selbst (seiner Gefühle) ohne Verwirrung über die jeweilige Zugehörigkeit zur einen oder anderen Person bestätigt. Spiele mit Kindern wie »Kommt ein Mann die Treppe hoch …« oder »Hoppe hoppe Reiter …« leben von der Korrespondenz zwischen gemeinsam gespürter Bewegung, Sprache, Melodie und einem (immer wieder leicht variierten!) Rhythmus. Stern verweist in diesem Zusammenhang auf jenes Gesellschaftsspiel, bei dem Personen durch Ähnlichkeiten mit Gegenständen, Getränken, Gerüchen et cetera geraten werden sollen. Auch der kulturelle Bereich wird von transmodalen Phänomenen bestimmt, etwa in Kunstformen wie Tanz, Oper, Film. Sie finden sich in der Lyrik – »Les parfums, les couleurs et les sons se répondent« – »Die Gerüche, die Farben und die Töne antworten sich« (Baudelaire 1861) – und bilden ein konstituierendes Element der Musik. Hier sind es die ständig neuen Variationen im Zusammenspiel von Melodie, Rhythmus, Klangfarbe. All diese Phänomene finden sich gleichermaßen als Spiel und Kreativität mit »Freude am kulturellen Erbe« in Winnicotts »potential space« und in dialogischen Strukturen. Wie im Zusammenspiel von Säugling und Erwachsenem bewirkt auch hier die transmodal variierte Antwort (der »Gegenvorschlag« im Sinne von Milani Comparetti) eine bestätigende Verstärkung der anfänglichen Mitteilung (des »Vorschlags«). Dabei geht es nicht um Übereinstimmung, sondern um Zustimmung zur Andersartigkeit. Nach allem, was bisher über den Dialog gesagt wurde, stellt sich nun die Frage nach dessen Grenze. Hass und Kämpfe schließen ihn nicht aus. Selbst bei zeitweiliger Abwesenheit eines Partners kann er über dessen verinnerlichte Repräsentanz fortgeführt werden. Als entscheidender Aspekt erscheint nach dem bisher Dargestellten – je nach der verwendeten Metapher – ein Verlust der Aufwärtsbewegung und Öffnung der Spirale, des »potential space« oder eines gemeinsamen »Dritten«, der »Hypothesen«, des »Reentry« mit der Entwicklung transmodaler Verbindungen. Ohne diesen »Spielraum« sind die Wahrnehmungen vom An-

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deren und alle daraus resultierenden Bilder und Handlungen unkorrigierbar festgelegt und durch diesen nicht beeinflussbar. Statt »Hypothesen über die Umwelt« geht es um »Wahrheiten« und daraus resultierende feste Erwartungen ohne Möglichkeiten der Einflussnahme des Partners, der Modulationen und damit der Entwicklung. Hier ist der Dialog entgleist. Schon Spitz (1976) hat vom entgleisten Dialog gesprochen, wenn Mütter durch überbehütendes Verhalten dem Kind keine Chance zur Wirksamkeit eigener Botschaften und Initiativen lassen. Entwickeln kann sich daraus entweder ein von Umweltbezügen (zumindest scheinbar) abgekoppeltes Verhalten wie bei autistischen Stereotypien oder die aus der Borderline-Struktur bekannte Wut als Resultat der enttäuschten Erwartung, dass der andere sich nicht zugleich wunschgemäß und spontan verhält. Hier liegt ein Gewaltpotenzial, das in privaten Beziehungen wie im religiösen und politischen Fundamentalismus zur Wirkung kommen kann. Dahinter steht die Angst, im offenen Spiel des Dialogs nicht genügend Sicherheit zu finden und diese in festen Bildern oder aggressiven Aktionen zu suchen – eine Angst, bei der frühe Erfahrungen von einem Mangel an wechselseitiger Abstimmung und damit an dialogischen Strukturen vermutet werden können. Neben den erwähnten Stereotypien lassen sich Wahngewissheit und Halluzinationen in diesem Sinne verstehen. Milch (2003, S. 281) weist darauf hin, dass länger bestehende Halluzinationen zu »wiederkehrenden stabilisierenden Erfahrungen« werden können, nach denen der Patient trotz möglicher quälender Eigenschaften ein großes Bedürfnis verspürt. Der Dialog kann aber auch vorübergehend während einer Krise entgleisen, wenn die ganze Welt als feindlich empfunden und die Fliege an der Wand zum Schuldigen wird. Damit stellt sich die Frage nach Voraussetzungen, zeitlichem Verlauf und Korrekturmöglichkeiten eines solchen Entgleisens. Dies soll abschließend mit einigen skizzenhaften Hinweisen am Beispiel der AD(H)S-Problematik diskutiert werden. Auch das von sozialer Wechselseitigkeit abgekoppelte und durch hyperaktive Selbstbestätigung charakterisierte Verhalten vieler Kinder mit der Diagnose »AD(H)S« kann als Hinweis auf einen entgleisten Dialog verstanden werden. Hyperaktivität wäre ein verzweifelter Versuch, den Stillstand nach dem Entgleisen durch

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Bewegung aufzuheben. Vermehrtes und schwer beeinflussbares Schreien in der Säuglingszeit als Ausdruck von Dialogproblemen scheinen frühe Warnhinweise auf das Risiko für ein späteres »AD(H)S« zu sein (Papousek 2000; Wolke 2002). Prospektive Studien (Carlson et al. 1995; Sroufe 1997) haben bei Überprüfung von 40 auf das Kind bezogenen Untersuchungskriterien ergeben, dass allein die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion beim sechs Monate alten Säugling verlässliche Vorhersagen für das Risiko eines AD(H)S ermöglicht. Die entscheidenden Kriterien waren dabei ein überstimulierendes und eindringendes (intrusive) Verhalten bei den Eltern (vgl. Spitz: überbehütendes Elternverhalten!) sowie Beziehungsprobleme und mangelnde Unterstützung der Eltern (der alleinstehenden Mutter). Die Bedeutung dieser Faktoren zeigte sich auch daran, dass Unterstützung der Eltern und Verbesserung der Beziehungssituation zugleich die sicherste Vorhersage für eine Veränderung der Problematik beim Kind darstellten (Sroufe 1997). Eine Diskussion dieser Zusammenhänge wird jedoch oft durch die dabei ausgelöste Schuldproblematik erschwert (von Lüpke 2003b). Hinweise auf eine Dialog-Problematik ergeben sich auch aus Psychotherapie-Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen. »Die Überschreitungen im Sozialverhalten zeigen den fehlenden Raum zwischen Subjekt und Objekt, die Patienten scheinen gleichsam ihre Umwelt als ihrem Ich zugehörig zu erleben« (Staufenberg et al. 2004, S. 24). Wieder geht der entgleiste Dialog mit einem Mangel an »Spielraum«, an Bezug auf das »Dritte« einher. Die eingangs geschilderte Affekt-Kontrolle über eine Internalisierung der modifizierten Spiegelung durch den Erwachsenen ist unzureichend. »Die Kontrollverluste verweisen auf den unzulänglichen inneren Raum, der den Patienten erlauben würde, ihre Gefühle zu ertragen und zu verarbeiten und sich entsprechend in Beziehungen zu verhalten« (Staufenberg et al. 2004, S. 24). Der Mangel an Wechselseitigkeit führt zu den bekannten eskalierenden Konflikten. Die besondere Chance des Dialogkonzepts zeigt sich nicht nur im Hinblick auf prophylaktische Möglichkeiten für eine Verbesserung der Dialogstrukturen bei schwierigen Konstellationen in der frühen Kindheit, sondern auch auf den Umgang mit der späteren Problematik. Die konsequente Entwicklung eines dialogischen

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Zusammenspiels könnte de-eskalierend wirken, etwa durch die Schaffung eines Spielraums (potential space), in dem provozierendes Verhalten nicht auf verurteilende, bereits erwartete Sanktionen auslösende Gegenmaßnahmen trifft, sondern auf das Angebot zu einem Spiel, das den »Vorschlag« auch einmal mit einem übertriebenen (unter Umständen paradox absurden) »Gegenvorschlag« beantwortet. Möglichkeiten dazu wurden unter anderem im Rahmen psychomotorischer Praxis (auch an Schulen!) entwickelt (Passolt 2003; Köckenberger 2001). Nicht nur beim AD(H)S spiegelt sich die Problematik der Störung auch in der Diskussion der Fachleute wider. Die Auseinandersetzung mit dem Dialogmodell könnte dazu beitragen, den fachlichen Austausch im »potential space« mit Bildern aus Säuglingsforschung und Neurobiologie zu füllen und einen Stillstand durch Entgleisen zu verhindern. Diese unterschiedlichen Bilder würden dann in einer »transmodalen« Wechselwirkung dazu beitragen, konkurrierende Erklärungsmodelle durch wechselseitig sich ergänzende Perspektiven zu ersetzen.

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■ Frank Dammasch

ADHS – endlich hat das Kind einen Namen Psychoanalytische Gedanken zur Bewegung des ruhelosen Kindes und zur Bedeutung von Ritalin ®

■ Diagnose und Individuum In der Ambulanz des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie in Hessen werden wir immer häufiger schon am Telefon von anmeldenden Eltern mit einer vorab feststehenden Diagnose ihrer Kinder konfrontiert: ADS/ADHS. Diese apodiktisch vorgetragene Reduzierung des Subjekts Kind auf drei oder vier Buchstaben einer rein deskriptiven psychiatrischen Diagnose irritiert uns als analytische Kinderpsychotherapeuten. Wir sind es gewohnt, unseren psychoanalytischen Blick auf die jeweils einzigartigen aus der individuellen Biografie heraus begründeten Ursachen psychischer Störungen zu richten. Was uns als Psychoanalytiker bei dieser im Moment großzügig verteilten pauschalen KurzDiagnose beunruhigt, wirkt scheinbar beruhigend auf eine Vielzahl von Eltern, die sich im Kampf mit ihren unruhigen Kindern und den negativen Resonanzen der Umwelt verunsichert fühlen. Die medizinisch deklarierte Zusicherung, zu einem bekannten Diagnose-Typ zu gehören, macht aus dem verwirrend unverständlichen Verhalten ihres Kindes etwas medizinisch Bekanntes und dadurch letztlich als somatische Krankheit auch sozial Anerkanntes. Ein Vater sagte mir: »Ich bin froh, dass das Kind jetzt einen Namen hat. Ich weiß nicht, ob das der richtige Name ist, aber ich kann mich jetzt selbst besser unter Kontrolle bekommen. Wenn mein Kind sich wieder mal unmöglich benimmt, sage ich mir, es hat ADS, es ist krank, es kann ja nichts dafür und dann schaffe ich es manchmal wieder, mich zu beruhigen.« Wir sehen hier, dass die vereinfachende Diagnose ADS/ADHS schon als solche auf manche Eltern beruhigend Einfluss nehmen kann und den Zirkel von Ag-

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gression und Gegenaggression zumindest für einen Augenblick unterbrechen hilft. Das beunruhigend chaotisch unverständliche bekommt einen Angst vermindernden Namen. Es befreit darüber hinaus bisweilen von Gefühlen der Ohnmacht auch der ohnmächtigen Wut und insgesamt von elterlichen Schuldgefühlen, bei der Erziehung des eigenen Kindes nicht genügend gut gewesen zu sein. Es ist kein Zufall, dass bei »ADS-Kindern« vor allem unter Kinderpsychiatern die pharmakologische und die verhaltenstherapeutische Behandlung zumeist in einem so genannten multimodalen Ansatz als Methode der Wahl gelten. Denn beide Methoden sind prinzipiell antiindividuell ausgelegt und entsubjektivieren den Patienten durch standardisierte Zuschreibungen und Wirkmechanismen. Aus dem Patienten als Individuum mit einzigartiger Lebensgeschichte, mit individueller Erlebnis- und Beziehungsstruktur wird ein personales Kategoriensystem, das mit standardisierten Mess- und Beobachtungsverfahren zu erfassen und mit erlernbaren Techniken zu behandeln ist. Im Rahmen einer so verstandenen objektiven Wissenschaft wird in den entsprechenden Forschungsansätzen der Mensch auf das messbare Zusammenwirken seiner operationalisierbaren Daten reduziert. Psychiatrische Vorstellungen von Krankheitsbildern zeichnen sich denn auch durch eine vordergründig beeindruckende Fülle von Statistiken und quantitativen Messverfahren aus. Kurz gesagt: Traditionelle Psychiatrie im Verbund mit Pharmakologie und Verhaltenstherapie führen uns schmerzlich oder beruhigend vor Augen, dass wir nur einer unter vielen sind und infolgedessen durch standardisierte Verfahren prinzipiell zu unserem eigenen Wohl manipulierbar sind. Wenn wir als analytische Kindertherapeuten die Möglichkeit haben, mit Eltern intensiver über ihre hintergründigen Motivationen ins Gespräch zu kommen, so wird bald klar, dass der Wunsch nach eindeutiger ADS-Diagnose häufig auf der Angst basiert, bei der Ausleuchtung von individuellen Hintergründen schmerzhaft mit eigenen erzieherischen Schwächen und mit entsprechenden Schuldgefühlen konfrontiert zu werden. Selbst etwas falsch gemacht zu haben ist eine beunruhigende Vorstellung, die bei gewissenhaften Eltern ja leicht wachgerufen wird, wenn die Kinder Auffälligkeiten zeigen, die scheinbar von der Norm abweichen. Es ist mein Eindruck, dass diejenigen Eltern, die aufgrund eigener Moti-

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vation den Weg in eine dezidiert kinderanalytische Praxis finden, letztlich die psychischen Fähigkeiten besitzen, dieses Schuldgefühl zu ertragen. Die prinzipielle Fähigkeit der Anerkennung eigener Schuld (ob phantasierte oder reale) ist Voraussetzung psychischer Entwicklung. In der psychotherapeutischen Praxis sehen wir die unterschiedlichsten Störungsbilder von Kindern, die in die deskriptiv-psychiatrische Diagnose-Schublade ADS/ADHS hineingepfercht werden. Als Psychoanalytiker bemühen wir uns dann, das einzelne Kind in seiner ganz speziellen Entwicklungs- und Beziehungsgeschichte mit diesen Eltern zu verstehen. Dies machen wir deshalb, weil wir davon ausgehen, dass die frühen Erfahrungen des Kindes mit seinen Betreuungspersonen sich in Interaktionsformen, in Handlungsmustern niederschlagen, die das spätere Verhalten des Kindes bewusst und unbewusst prägen. Leider ist festzustellen, dass selbst auf psychoanalytischen Kongressen die Theorieentwicklungen, die sich aus der hermeneutischen Auseinandersetzung mit dem Subjekt bilden, zunehmend in den Hintergrund geraten. Die Bedeutung des Subjekts mit seinen einzigartigen, die psychische Struktur bildenden bewussten und unbewussten Erinnerungsspuren aktueller und vergangener Beziehungserfahrungen wird vernachlässigt. Dies ist vor allem deshalb bedauerlich, weil die Überzeugungskraft psychoanalytischer Persönlichkeitstheorien seit Freud gerade darauf beruht, dass sie von Fall zu Fall entlang der konkreten analytischen Arbeit in der Beziehung mit dem Leiden eines unverwechselbaren Menschen entwickelt werden. In meinem kasuistischen Aufsatz versuche ich zu zeigen, welche komplexen psychodynamischen Ursachen sich hinter der beschreibenden Oberflächendiagnose ADS verbergen können. In psychoanalytischer Tradition werde ich meine Gedanken dazu aus der Psychoanalyse eines Falles, eines siebenjährigen Jungen, den ich Tom nennen werde, herausarbeiten. Tom wurde von einer psychiatrischen Klinik als »typischer« Patient mit »Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität« diagnostiziert und wird im Lauf der Behandlung auf eine Medikation mit dem Psychopharmakon Ritalin® eingestellt. Bevor ich aber zu Tom komme, möchte ich zunächst die achtjährige Elvira vorstellen, um einen Eindruck

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davon zu vermitteln, wie leichtfertig die Diagnose ADS bisweilen vergeben wird, und erste Gedanken zur Psychodynamik der Bewegung zu entwickeln.

■ Einzelfall Elvira – Bewegung als Abwehr der Wahrnehmung des Verlustes Die achtjährige Elvira wird mir aufgrund der dringenden Empfehlung der Schule von ihrer Mutter mit dem Verdacht auf ADHS vorgestellt. Mutter und Tochter sind in einem aufgelösten Zustand, als ich sie kennen lerne. Zwei junge Vögel, die aus dem Nest gefallen sind und nun wild mit den Flügeln schlagen. Der Vater hatte beide plötzlich und unerwartet verlassen, war in einen weit entfernten Ort zu einer Freundin gezogen und hatte damit der Restfamilie den Boden unter den Füßen weggezogen. In den ersten Behandlungsstunden springt die altersangemessen entwickelte Elvira auf und ab, beginnt etwas zu basteln, was sie bald unvollendet beendet, um sich dann verschiedene Spielsachen anzuschauen, erzählt schnell und viel von verschiedenen Dingen, die keine Verbindung miteinander zu haben scheinen. Sie wirkt hektisch getrieben, und zwischen den schnell ausgeführten Handlungen und Basteleien fehlt ein roter Faden. Während sie bei all ihren schnellen Bewegungen und Handlungen fröhlich wirkt, fühle ich mich überfordert von ihrer Hektik und bleibe nach den Stunden ernsthaft verwirrt zurück. Wenn ich mein Gefühl der Überforderung und der Verwirrung als etwas nehme, das von ihr ausgelöst ist, also eine Gegenübertragung darstellt, so kann ich unmittelbar verstehen, wie es ihr innerlich geht, wie die Trennung vom Vater die Kontinuität des familiären Seins und ihren inneren Halt abrupt unterbrochen hat. Im Lauf der Behandlung zeigt sich immer stärker, dass das innere Durcheinander des Mädchens nicht allein auf der Trennung vom Vater basiert, sondern auch mit einer basalen Schwierigkeit der Mutter im Zusammenhang steht, ihrer Tochter einen verstehenden, Halt gebenden Rahmen zur Verfügung zu stellen. Die immer wieder feststellbare Orientierungslosigkeit der Mutter hat tie-

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ferliegende, aus der eigenen traumatischen Biografie herstammende Ursachen. Elvira kann jedenfalls ihrer Mutter keine zusätzlichen Sorgen zumuten, ist mit ihren Problemen ganz auf sich gestellt. Sie bemüht sich, den inneren Bedrohungen und Ängsten durch radikale Verleugnung der Bedeutung der Innenwelt und durch Flucht in die Außenwelt zu entkommen. So ist sie immer in Bewegung, immer mit der Produktion neuer Außenreize, neuer Objekte beschäftigt und immer bemüht, Zusammenhänge, die einen Zugang zu ihren inneren Gefühlen ermöglichen können, zu unterbrechen. In den Behandlungsstunden mit mir ist sie bestrebt, die Kontrolle über mich und den Rahmen zu behalten. So kommt sie häufig zu spät zu den Stunden, weigert sich am Ende wiederum, pünktlich zu gehen, sodass die Stunden regelmäßig erheblich überzogen werden. Zwischendurch lässt sie auch abrupt Stunden ausfallen. Ihr ist es anscheinend wichtig, den Rahmen und den Inhalt der Stunden zu bestimmen um nicht mit dem Gefühl konfrontiert zu werden, von jemandem abhängig zu sein. In einer Sitzung baut sie mithilfe des Szenokastens eine Situation auf, in der eine Familie in den Ferien ist. Jeder Erwachsene trägt ein Kind. Plötzlich stehen alle an einem Abgrund und fallen den Abgrund hinunter. Ich spreche sie darauf an, dass sie sich so vielleicht wirklich fühle, ein fallengelassenes Mädchen. Sie beginnt im Raum herumzulaufen, Kissen zu werfen und sagt: »Was nutzt es, wenn die Erwachsenen das Kind halten und selbst abrutschen!« Da muss ich ihr Recht geben. Wenn die Erwachsenen selbst abrutschen, dann muss sich ein Kind selbständig machen um nicht mit in die Tiefe gezogen zu werden. Sie läuft weiter herum, ignoriert das Ende der Stunde. Ich deute ihren Wunsch, vielleicht hier bei mir einen sicheren Halt zu finden, den sie bei anderen nicht finden kann. Sie geht, besser gesagt, springt, läuft schließlich aus dem Zimmer und ruft auf der Schwelle: »Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst, mir passiert sowieso etwas.« Elvira beeindruckt mich im Lauf der Behandlung mit ihrem zunehmend verzweifelten Bemühen, die manisch wirkende Abwehrkonstellation durch permanente körperliche Bewegung aufrechtzuerhalten. Zwischendurch setzt sie sich kurz an den Tisch, beginnt etwas zu bauen, zum Beispiel ein Haus, dass dann aber so wackelig ist, das es gleich wieder einstürzt. Sie macht sofort aktiv

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ein Spiel daraus, baut Häuser, die sie absichtlich zum Einsturz bringt. Ich sage ihr schließlich, dass es leichter zu ertragen ist, etwas selbst zusammenbrechen zu lassen, als hilflos mit ansehen zu müssen, wie etwas zusammenbricht. Sie nickt, ohne weiter darüber sprechen zu wollen, läuft wieder im Raum herum und macht eine Sportstunde aus der Therapiesitzung. Im Lauf der Behandlung wird ihr Bemühen, durch Bewegung, eine tiefere Beziehung zu mir und damit einen tieferen Zugang zu ihren Wünschen und Ängsten zu vermeiden, immer brüchiger. Schließlich kommt es zum kurzzeitigen depressiven Zusammenbruch. Am Boden liegend, in einer Ecke kauernd sagt sie leise: »Ich mache immer so viel und immer mehr und am Ende bleibt gar nichts.« Ich fühle mit ihr, aber als ich ihre traurige Stimmung und ihre Verzweifelung darüber, dass alle ihre Aktivität nicht zu dem führt, was sie sich eigentlich wünscht, richtig besprechen kann, ist sie schon wieder vom Boden aufgesprungen und will nichts mehr hören. Elvira hat offensichtlich Angst bekommen, weil sie sich in dem Eingestehen ihrer Schwäche ihrem Wunsch nähert, bei mir Hilfe und Schutz zu finden. Und das bereitet ihr ein unerträgliches Unbehagen, sie muss sich schnell wieder wegbewegen von dieser Angst vor Abhängigkeit. Die geheimen inneren Wünsche werden durch die aktive Flucht in die Körperbewegung verleugnet. Warum hat sie aber eine solche panische Angst davor, sich ihren Wünschen nach Geborgenheit und Halt zu stellen? Elvira selbst, der es immer besser gelingt, ihre Gefühle in Worte zu fassen, gibt uns Hinweise darauf, warum sie immer in Bewegung sein muss und nicht stillstehen darf, keine Pause des Innehaltens zulassen darf. Nachdem ich mich in einer Stunde wieder einmal bemühe, Verbindungen zwischen ihren aktuellen Handlungen und dem Verlusterlebnis vom Vater herzustellen, platzt es aus ihr heraus: »Sie immer mit Ihren Zusammenhängen. Überall wollen Sie Zusammenhänge sehen, wo es keine gibt. Ich mache immer, was mir gerade einfällt, da ist keine Verbindung.« »Verbindungen können ja auch schmerzlich sein!« »Quatsch, jetzt versuchen Sie es schon wieder. Ich will nicht nach hinten gucken. Immer nach vorne schauen.« Inzwischen hat Elvira angefangen, energisch mit dem Seil zu hüpfen.

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»Bewegung ist besser als Stillstand!?«, sage ich fragend. »Ich erkläre Ihnen das mal. Schauen Sie, wenn Sie dreimal den Berg heruntergefallen sind, dann wollen Sie doch wieder nach oben kommen. Was nutzt es Ihnen da, wenn sie unten liegen bleiben und überlegen?« »Naja, es wäre doch gut zu wissen, warum man den Berg heruntergefallen ist, damit es einem dann beim nächsten Mal nicht mehr passiert.« Elvira läuft jetzt im Kreis und macht Seilhüpfen dabei. »Unten bleiben bringt nichts. Überlegen bringt nichts. Man muss immer vorwärts gehen, immer vorwärts.« »Ohne Überlegen fällt man immer wieder vom Berg.« Sie überlegt und findet schließlich einen Kompromiss zwischen ihrem Vorwärtsdrang und meinem rückwärtsgewandten Blick: »Man kann doch auch hochklettern und dabei überlegen!« In der Behandlung ist es immer besser möglich, ihren motorischen Vorwärtsdrang anzuhalten und mit ihr gemeinsam zu ihrem inneren Gedankenraum Zugang zu finden. Im Zuge eines wachsenden Vertrauens und der Sicherheit, dass ich sie nicht gleich verlassen werde, wenn sie ihre Wünsche wahrnimmt, gelingt es ihr zunehmend, ihren unaufhörlichen Bewegungsdrang durch das Entwickeln und den Gebrauch von Worten abzulösen. Sie kann mir schließlich anvertrauen, dass sie in der Schule immer unkonzentriert sei, weil sie an ihren Vater denke, sie denke immer, dass er sich amüsiere, sich mit jemand anderem amüsiere, sie wolle dabei sein und nicht für die Schule arbeiten. Und da ihr der Vater immer überall dazwischenkomme, kann sie sich nicht richtig konzentrieren. Und sie wolle Spaß haben, immer Spaß haben, das sei das Wichtigste. Wir sehen, dass der überschießende Bewegungsdrang vor allem der Verleugnung der Realisierung des Verlustes einer zentral wichtigen Bezugsperson gilt: des Vaters. Jede Gefahr, an den traumatisch erlebten Verlust erinnert zu werden, wird durch hektisch impulsive Bewegungen abgewehrt. Die Motorik wird in den Dienst einer manischen Abwehr depressiver Gefühle genommen. Der Bewegungsdrang von Elvira stellt dabei auch einen Widerstand dar, eine haltende Verbindung zu mir herzustellen. Neben der Abwehr ödipaler Ängste dient die Bewegung im Kern dabei

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dem Aufrechterhalten der Illusion, unabhängig zu sein, kein Objekt zu brauchen und jederzeit gehen zu können. Wenn man unabhängig ist, kann man auch nicht wieder verlassen werden. Kurz gesagt: Elvira ist aus Angst vor dem Wunsch, sich bei mir einzunisten, permanent in Bewegung. Eine Angst, die sie mit ihrer Mutter teilt, was die therapeutische Aufrechterhaltung des Rahmens im weiteren Lauf der Behandlung noch teilweise vor schwere Prüfungen stellt. Die Tochter zeigt sich in der Form der Abwehr vor weiterer inniger Beziehung sehr mit ihrer Mutter identifiziert. Zwei Vögel, die aus dem Nest gefallen sind, aber nun alles daran setzen, niemals wieder in die Situation zu kommen, sich einzunisten und dann wieder hinauszufallen. Elvira ist ein Mädchen, deren Ich-Fähigkeit insgesamt gut ausgebildet ist. Sie kann symbolische Darstellungen für ihr Innenleben finden und hat letztlich eine gute Sprachfähigkeit zur symbolischen Transformation von Beziehungserlebnissen entwickelt. So steht ihr Bewegungsdrang vor allem im Dienst einer neurotischen Abwehr der Angst vor der Wiederkehr von traumatisch erlebten Abhängigkeits- und Verlusterfahrungen. Die Trennung vom Vater wird zwar traumatisch erlebt, trifft aber auf einen bereits genügend gut entwickelten psychischen Innenraum. Aufgrund des Verlusterlebens ist der Eingang zu diesem Raum durch eine traumatisch aktivierte Angst vor Abhängigkeit und der erwarteten Wiederholung des Verlustes versperrt gewesen. Im Zuge der gemeinsamen psychoanalytischen Bearbeitung der Übertragungsbeziehung konnte Elvira sich ihrer Abhängigkeit bewusst werden und auch einen Zugang zu ihren traurigen Seiten finden. In dem Maß, in dem nach einem längeren therapeutischen Prozess Elvira in Kontakt mit ihrer Trauer kam, reduzierte sich der Drang, durch Bewegung den schmerzhaften Verlustgefühlen zu entkommen. Das Ich wurde mithilfe der Therapie in die Lage versetzt, die Abwehr des Verlusterlebens durch manischen Bewegungsdrang zugunsten altersentsprechender sprachlicher Bewältigungsformen aufzugeben. Das Mädchen Elvira galt zwar zu Beginn der Behandlung in der Außenwelt als unruhig, aber ihr fehlte etwas, was vor allem Jungen auszeichnet und von Eltern wie von Lehrern und Ärzten als ernsthafte Bedrohung des schulischen beziehungsweise familiären Zu-

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sammenlebens angesehen wird: offen agierte Aggression. Wahrscheinlich war dieses Fehlen ausagierter Destruktivität auch das entscheidende Argument, das den Kinderarzt davon abgehalten hat, bei Elvira eine pharmakologische Behandlung zu empfehlen.

■ Einzelfall Tom – Bewegung als Dauererektion Die Eltern wenden sich an mich, weil ihr siebenjähriger Sohn Tom zu Hause und in der Schule nicht mehr zu ertragen sei und alle Symptome eines hyperkinetischen Kindes zeige: erhebliche motorische Unruhe, gepaart mit der Unfähigkeit, von außen gesetzte Grenzen zu akzeptieren, und heftige Aggressivität, »wenn es nicht nach seinem Kopf geht«. Er entwertet andere, besonders die Mutter, benutzt dabei exzessiv unflätige Schimpfwörter. Kleine Misserfolgserlebnisse führen zu heftigen »Ausrastern«. Bei Verletzungen zeigt er kaum Schmerzempfinden. Fremden gegenüber ist er relativ distanzlos und mit jedermann schnell im Kontakt, ohne dass daraus eine länger haltende Beziehung entsteht. Er lebt von Moment zu Moment. Sein unberechenbares, impulsives Verhalten führt in der Schule dazu, dass er keine Freunde hat und als sozial isoliert bezeichnet werden kann. Außerdem sind in letzter Zeit ausgeprägt exhibitionistische Impulse hinzugekommen. Er zieht sich unvermittelt aus, zeigt seinen Penis, pinkelt am liebsten im hohen Bogen. Seine Mutter gibt an, dass er sie einerseits bei kleinen Begrenzungsversuchen unerträglich beschimpfe, andererseits regelmäßig eine kleine Katze spiele, die von ihr gestreichelt werden wolle. Immer wieder wolle er mit ihr schmusen, sich mit ihr ins Bett legen, wogegen sie sich kaum wehren könne. Die Mutter erzählt unter Tränen, dass sie in dem Jungen nichts Bekanntes wieder finde, er manchmal richtig fremd wirke. Sein grenzenloses Verhalten deutet sie für sich so: »Er weiß nicht, wo er anfängt und wo er aufhört!« Wenn es nicht zu aggressiven Auseinandersetzungen kommt, hält er die Eltern mit hektischen Bewegungen und Drehungen in Atem. Auch beim Essen kenne er keine Grenzen, er sei immer hungrig. Schon seit dem vierten Lebensjahr frage er immer wieder mal, warum er lebe, und ob sie ihn nicht

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totschlagen könnten. Jeden Tag will er bestätigt bekommen, dass Mutter oder Vater ihn lieb haben. Die Falldarstellung ist mir nicht leicht gefallen, wurde ich doch im Verlauf der Behandlung häufig mit Gefühlen therapeutischer Inkompetenz konfrontiert. Vor allem die permanente Wiederholung des Gleichen und die Unmöglichkeit, einen gemeinsamen Beziehungs- und Verstehensprozess in Gang zu setzen, nährten abwechselnd Zweifel an meiner analytischen Fähigkeit oder an der psychotherapeutischen Behandelbarkeit dieser Symptomatik überhaupt. Während die Behandlungsstunden zeitweise eher Sportstunden glichen und ich mir wie ein pädagogischer Betreuer vorkam, waren die Möglichkeiten des verstehenden Dialogs auf ein Minimum reduziert. Im Vergleich mit Elvira hatte Tom keinen inneren Raum bilden können, in dem Gedanken, Erinnerungen an Objektbeziehungen, Welterfahrung schlechthin aufgehoben und in einem gemeinsamen psychoanalytischen Prozess besprochen werden konnten. Tom kommt anfangs recht unwillig zur Behandlung. Das Spielmaterial in meinem Zimmer ist für ihn bald alles »Babykram«. Erst als er eine Armbrust mit Zielscheibe entdeckt, will er »1.000 Wochen« kommen. Mit der Armbrust zielt er auf die Baby-Puppe aus dem Szenotest-Baukasten, sodann auf alles Mögliche, will allen in den »Arsch« oder in die »Fotze« schießen. Nachdem alle Puppen und Objekte im Raum mehrfach abgeschossen und getötet worden sind, entdeckt er wie schon in den Erstinterviews das Arztspiel. Diesmal soll ich der Arzt sein, der ihn wegen Krebs behandelt. Aber als Arzt bekomme ich keine Chance, heilend tätig zu werden. Der Krebs wuchert, und der Arzt wird ebenso von ihm erschossen wie die Krankenschwester, die er als zweite hilfreiche Rolle geschaffen hat. In der ersten Phase der Therapie kommt es zu häufig wechselnden Rollenspielen, bei denen ich immer die unterlegene Rolle zugewiesen bekomme. Er beschäftigt sich mit dem »schlechtesten Menschen der Welt«. Tom wird zum Massenmörder Hitler, ich soll der Polizist sein, der ihn gefangen nimmt, aber in Wirklichkeit dann keine Chance bekommt, denn Hitler ist stärker und ermordet die ganze Menschheit. Die Figur Hitler wird sozusagen zum personalisierten Krebsgeschwür, das alles tötet und nicht gestoppt werden kann. Dann ist er der strenge Lehrer, der

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mich als Kind schlägt, weil ich nicht mache, was er will. In einer anderen Stunde will er der Mutter einen Liebesbrief schreiben. Er nennt sie mit Vornamen: Tom liebt Lisa. Auch wenn dem Analytiker bei den geschilderten Situationen viele Bedeutungsmöglichkeiten durch den Kopf gehen, so ist das Vordringliche in den Stunden das Dranghafte von Tom, das es unmöglich macht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Die Körpernähe ist ihm wichtig, und da er mich drängt, seinen Spielanweisungen sofort Folge zu leisten, ist es fast unmöglich in der Interaktion, über ihn nachzudenken. Ich lasse mir Rollen von ihm zuschreiben in der Hoffnung, irgendwann etwas verstehen und im Dialog formulieren zu können. Immer wieder bemühe ich mich erfolglos, aus einer verstehenden Position heraus, insbesondere seine Dringlichkeit zu kommentieren, mit der er darauf besteht, der Überlegene zu sein. Auch nahe liegende Formulierungen, dass er immer der größte Böse der Welt sein muss, weil er sich selbst so böse und zerstörerisch fühle, hemmen in keiner Weise seinen mich bedrängenden Aktionismus. Meine Worte verhallen ungehört im Raum. Mir wird schnell klar, dass Sprache für Tom keine kommunikativ verbindende Bedeutung zu haben scheint, wenn sie über das konkrete Rollenspiel hinausgeht und ihre eigentliche symbolische Funktion einnimmt. Immer direkter kommt es zu unmittelbar körperlichen Handlungen. Beispielhaft greife ich eine Sitzung aus dieser Behandlungsphase heraus. Tom kommt in mein Zimmer, beginnt sofort, mich zu bedrängen, ich solle mich auf den Boden setzen. Meine Versuche, zunächst einen gemeinsamen Gedankenraum zu gewinnen, kann er nicht akzeptieren. Er wird unruhig, wälzt sich auf dem Boden, springt auf, fordert mich zwingend auf, mit ihm zu spielen. Meine Idee, zunächst mal zu überlegen, was wir spielen könnten, fällt auf taube Ohren. Ich solle mich auf den Boden setzen und würde dann schon sehen, wie das Spiel gehe. Ich sage ihm, dass es wohl sehr dringend sei, dass ich tun müsse, was er sagt. Unwirsch folge ich seinen Anweisungen. Er läuft um mich herum, lässt sich dann von hinten auf meinen Kopf fallen. Ich soll ihn dann über mich hinweg nach vorne ziehen. Offensichtlich genießt er den Moment, wenn ich ihn nach vorne auf meinen Schoß wirbele. Dort bleibt er dann für einen Moment liegen, gibt Babylaute von sich. Ein Mo-

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ment der Nähe entsteht, in dem ich wohl als ein gutes haltendes Objekt erlebt werde. Ich sage, dass wir uns jetzt sehr nahe sind und es ihm wohl gefalle, so auf meinem Schoß zu liegen. Der Augenblick der Nähe wird sofort durch sein abruptes Aufspringen abgebrochen. Plötzlich wird er zum Kämpfer, greift mich an, das zuvor überwältigende aber auch libidinös geprägte Körperspiel wandelt sich zum Kampf und schlägt genauso schnell wieder um in eine weitere Runde des »Schmusens«. Ich wundere mich laut über den schnellen Wechsel zwischen unserem »Schmusen« und dem plötzlichen Kampf, vermute, dass ihm die große Nähe zu mir und das Babysein in meinen Armen plötzlich Angst gemacht habe und er dann schnell zum Kämpfer geworden sei. Aber Tom hasst es, wenn ich beschreibend oder kommentierend spreche. Er springt auf, das »Spiel« kippt und Tom greift mich real an. Er will mit einer Decke meinen Kopf zuhängen. Ich soll nichts mehr sehen, nichts kommentieren, nicht laut denken. Schließlich schlägt er mit einem Lineal auf mich ein. Ich breche das Spiel, das keines mehr ist, ab und setze mich wieder an den Tisch. Aber der Zug zu einer symbolischen Kommunikation scheint abgefahren. Er bewirft mich mit Mikado-Stäben, tritt mich. Ich nehme ihm das Lineal aus der Hand, mit dem er mich schlagen will. Das erhöht seine Wut. Empört läuft er aus dem Zimmer, geht ans Haustelefon und ruft nach draußen, kommt wieder rein, löscht das Licht und klettert unter meinen Sessel. Ich würde stinken und furzen, sagt er. Dann klingelt es. Die Stunde ist um, seine Mutter kommt, er läuft raus und ruft zu mir zurück: »Leck meine Fotze!« Wie können wir die Szenen dieser Sitzung verstehen? Es ist sicherlich anschaulich geworden, dass ich während des zweiten Teils der Stunde hauptsächlich damit beschäftigt bin, zu überleben, das heißt, nicht aggressiv gegenzuagieren, was nicht eben leicht ist. Man könnte sagen, Tom hat es geschafft, mich in eine aggressiv getönte Auseinandersetzung hineinzuziehen und meine Fähigkeit zum Denken zu zerstören. Ich war gerade noch in der Lage, den Schaden zu begrenzen. Wie ist es dazu gekommen? Was hat die Wut von Tom ausgelöst und mich als Analytiker schachmatt gesetzt? Zunächst scheint es etwas Drängendes in ihm zu geben, etwas Triebhaftes, das keinen Aufschub duldet. Überstimuliert, von Es-

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Impulsen gesteuert, kann er den Therapeuten nicht als Hilfs-Ich benutzen und lehnt es massiv ab, etwas gemeinsam zu entwickeln. Im Gegenteil, der Therapeut soll sich seinem Trieb körperlich konkret unterordnen, Erfüllungsgehilfe seiner Impulse werden. Es entsteht quasi eine sadomasochistische Konstellation. Der Junge unterwirft zunächst den Therapeuten. Dann kann er überraschenderweise eine nahe – zu nahe – Beziehung entstehen lassen, wird konkret körperlich zum Baby auf dem Arm des Therapeuten, der dadurch zu einer Art Mutter wird, die ihren Säugling auf dem Arm hält. Diese innige regressive Situation macht ihm aber nach kurzer Zeit Angst, konfrontiert ihn möglicherweise mit frühen Wünschen nach Geborgenheit, bringt ihn in Kontakt mit seinem Baby-Anteil. Die passiven Abhängigkeitswünsche müssen sofort abgewehrt werden, als der Therapeut sie in Sprache fasst. Die Verbalisierungsversuche des Therapeuten erlebt er nicht als hilfreichen Halt, sondern als Weggestoßenwerden, als Trennung, als einen Angriff auf das unmittelbar erlebende Selbst. Es bleibt für ihn nur noch die Wahl zwischen Angriff oder Verteidigung, Kampf oder Flucht. Hinzu kommt, dass seine passiven Abhängigkeitswünsche in Konflikt geraten mit einer äußerst fragilen männlichen Identität. Er wird folgerichtig zum aktiv männlichen Kämpfer, der die mütterlichen Anteile im Therapeuten überwältigen muss, um nicht selbst von der Mutter überwältigt zu werden. Wie direkt für ihn Passivitäts- und Abhängigkeitswünsche mit bedrohlicher Weiblichkeit – Kastration – verbunden sind und wie unsicher er dabei ist, ob er wirklich ein Junge ist, zeigt er am Ende der Stunde, als er den Therapeuten auffordert, seine Fotze, das entwertete weibliche Genital zu lecken. Im Unbewussten sind seine schwachen, bedürftigen Seiten direkt mit kastriert sein, weiblich sein, wie die Mutter sein verbunden und müssen daher aufs Schärfste abgewiesen werden. So kann er ja in der Interaktion mit der Mutter auch nur im Rollenspiel als Katze seine bedürftigen Anteile zeigen und sich streicheln lassen. Aber auch hierbei muss er Regie führen. Die dargestellten um die Kastrationsangst und Urszenenphantasien kreisenden Themen können in den Therapien vieler Jungen wieder gefunden werden. Das besondere, das Tom von anderen Jungen unterscheidet, ist die Unfähigkeit, seine inneren Impulse symbolisch darzustellen. Weder zeichnet oder bastelt er, noch er-

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zählt er außerhalb von Spielanweisungen. Alles muss körperlich agiert werden, muss seiner Stimulation dienen. Die Beziehung zum Therapeuten scheint für Tom nur real zu sein, wenn sie konkret körperlich erfahrbar ist. Wie in der beschriebenen Sitzung dargestellt, handelt es sich bei Tom aber nicht um eine einfache Entwicklungsstörung, einen Mangel in der Fähigkeit zur Symbolbildung, sondern es geht hier um den aktiven Angriff auf die symbolbildenden Funktionen. Toms destruktive Selbstanteile attackieren das Denken und die Fähigkeit des Therapeuten, das konkretistische Spiel in sprachliche Form zu übersetzen. Er sucht das körperlich Unmittelbare, das Ausleben des Triebs. Kein störender Dritter soll die Bedeutung dieser pervers anmutenden Inszenierungen zur Sprache bringen. Denken entsteht letztlich aus der Fähigkeit, im begrenzten Innenraum die eigenen Objekte miteinander kreativ in Verbindung zu bringen. Gedanken werden als verbindendes Drittes aus der Interaktion innerer Objekte mit dem Selbst erzeugt. Das ruhelose Kind kann diese Verbindung innerlich nicht gefahrlos herstellen, und schlimmer noch: Weil es mit Ausschluss und Objektverlust assoziiert ist, kann es nicht ertragen, dass das Gegenüber innere Verbindungen zu einem anderen Objekt herstellt. Sobald der Therapeut aus der konkreten Funktion eines manipulierbaren Spielpartners heraustritt und seine Funktion als Analytiker wahrnimmt, in die dritte Position wechselt und Bedeutungsmöglichkeiten des Spiels benennt, bricht Tom das Spiel ab und greift die Denkfähigkeit des Analytikers und dessen Fähigkeit, innere Verbindungen herzustellen, körperlich an. Der Angriff gilt in der beschriebenen Szene ganz konkret dem Denkzentrum. Er bedeckt den Kopf des Analytikers, damit der nichts mehr sehe und höre, nichts mehr sage. Die triangulierende Funktion des Dritten als Beobachter und Denker im Analytiker muss zerstört werden. Aus der therapeutischen Triade soll eine Dyade der unmittelbaren Stimulation gemacht werden. Es scheint, dass Tom sich gar nicht vorstellen kann, dass sein Selbst im reflektierenden Innenraum des Analytikers gut aufgehoben ist. Vielleicht hat er nie die Erfahrung gemacht, dass jemand anderes über ihn nachdenkt und trotzdem im emotionalen Kontakt mit ihm bleibt.

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■ Zur Entwicklung des Selbst im Spannungsfeld von Neurologie und Sozialität Die aktuellen neurobiologischen Forschungen zeigen, dass sich auch die Entwicklung des Gehirns in einem interaktiven Spannungsfeld von Natur und Kultur, von biologischem Erbe und sozialer Interaktion vollzieht. Das dialektische Zusammenwirken von körperlicher Reifung und psychischer Entwicklung lässt sich inzwischen auch konkret für die Gehirnentwicklung nachweisen. Alles, was auf die Sinnesorgane des Kindes einwirkt, nimmt Einfluss auf die Gehirnreifung. Wolf Singer (2001) geht von einer erfahrungsabhängigen Ausreifung von Hirnstrukturen aus, die erst am Ende der Pubertät abgeschlossen ist. »Die Nervenzellen sind zum Zeitpunkt der Geburt im Wesentlichen alle angelegt, aber in bestimmten Bereichen des Gehirns noch nicht miteinander verbunden. Dies gilt vor allem für die Großhirnrinde. Viele Verbindungen wachsen erst jetzt aus, aber ein erheblicher Anteil wird nach kurzer Zeit wieder vernichtet. Es vollzieht sich ein stetiger Umbau von Nervenverbindungen, wobei nur etwas ein Drittel der einmal angelegten erhalten wird. Welche bleiben, hängt von der Aktivität ab, die sie vermitteln. Das bedeutet, dass die Ausbildung der funktionellen Architektur der Großhirnrinde in erheblichem Umfang von Sinnessignalen und damit von Erfahrung beeinflusst wird. Genetische und epigenetische Faktoren kooperieren in untrennbarer Wechselwirkung, weshalb eine strenge Unterscheidung zwischen Angeborenem und Erworbenem unmöglich ist« (Singer 2001, S. 4). Die inneren Verbindungen des Gehirns entwickeln sich also erfahrungsabhängig im Zusammenwirken von genetischem Potenzial und sozialem Erleben. »Im heranreifenden Gehirn sind die undifferenzierten neuronalen Systeme entscheidend von umweltund mikroumweltbedingten Hinweisen (zum Beispiel Neurotransmittern, zellularen Adhäsionsmolekülen, Neurohormonen, Aminosäuren, Ionen) abhängig, um ihre noch undifferenzierten, unreifen Formen angemessen organisieren zu können« (Perry et. al. 1998, S. 283). Aus diesen Befunden aktueller Forschungen kann man folgern, dass die frühen Interaktionserfahrungen auch verändernd auf die Struktur der dopaminergen Systeme einwirken, die

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im medizinisch-physiologischen Kontext verantwortlich gemacht werden für die kindliche Hyperkinese. Pointiert können wir sagen, das Selbst bildet sich im Kern aus der ererbten körperlichen Grundausstattung einschließlich des primären Bedarfs im interaktiven Wechselspiel mit den Antworten der frühen Umwelt des Kindes. Die positiv gestaltbildenden Antworten der Umwelt werden im Wesentlichen von der Fähigkeit der primären Bezugspersonen bestimmt, die Affekte des Säuglings in sich aufzunehmen, zu verarbeiten und in reflektierter Art und Weise dem Säugling zurückzugeben. Die mütterliche Modulation der kindlichen Erfahrung durch ihre reflexive Fähigkeit strukturiert das Selbst. Die Verinnerlichung der von der Mutter verstandenen kindlichen Affekte bildet die Kernidentität des Säuglings und die Basis für dessen symbolbildende Fähigkeiten. Bezogen auf Tom gehe ich davon aus, dass seine Ich-Entwicklung in Abhängigkeit von frühen Interaktionserfahrungen mit einer physisch anwesenden und psychisch abwesenden Mutter neuronale Verbindungen als Organisationssysteme des Gehirns gebildet haben, die eine Selbst- und Objektstimulation zur Abwehr existenzieller Ängste notwendig machte. Die psychische Abwesenheit der Mutter und ihre Schwierigkeiten, eine konstante innere Bindung zu ihrem Sohn herzustellen, werden wesentlich von ihrer eigenen traumatischen Kindheitsgeschichte bestimmt. Diese ist von einer sie vernachlässigenden Mutter, einem früh verstorbenen Vater und vielen Heimaufenthalten und Fremdunterbringungen gekennzeichnet, deren traumatische Bedeutung und Auswirkungen auf ihre eigene Mütterlichkeit ihr nie richtig bewusst geworden sind. Im Familienkontext zeigt sich der traumatische Hintergrund konkret symptomatisch durch tagelange Phasen des Rückzugs in ihr Bett aufgrund von Migräneanfällen. Hinzu kommt, dass die Mutter in Toms erstem Lebensjahr eine Tante bis zum Tod pflegte und damit auch real häufig abwesend war. Tom musste sozusagen durch Stimulation das mütterliche Objekt für sich lebendig halten und hat andererseits aufgrund einer sich zurückziehenden Mutter schnell das Selbstbild entwickelt, ein großer Zerstörer zu sein. Nur die permanente Objektstimulation hat in frühester Zeit die Überschwemmung mit existenzieller Angst vor dem Fallen im grenzenlosen Raum reduzieren können. So sind

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sich wiederholende frühe sinnliche Interaktionsmuster mit einer anwesend-abwesenden Mutter als Engramme im Gehirn gespeichert worden und haben sich aufgrund des fehlenden Containments nicht zu symbolischen Interaktionsformen weiterentwickelt. Dies hat den Aufbau einer Objektkonstanz verhindert und eine durchgehende Notwendigkeit der Anwesenheit eines stimulierten äußeren Objekts verfestigt. Phasen der Unterstimulation, der Ruhe sind so unabdingbar mit Beziehungsmustern von Isolation in einem grenzenlosen Raum assoziiert. Die damit verbundene primäre unerträgliche Angst muss sofort durch Stimulation von Selbst und Objekt und der dadurch hervorgerufenen Erfahrung körperlicher Begrenzung abgewehrt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Mutter große Probleme beim Umgang mit Aggressionen zeigt. Der Rückzug in die Migräne ist auch ein Rückzug vor den eigenen destruktiven Gedanken. Es ist zu vermuten, dass die Mutter eigene Aggressionen abgespalten hat und ihr Sohn zum Container ihrer destruktiven Impulse wurde. Hierbei ist wahrscheinlich vorrangig ihr depressiver Rückzug in die Migräne gestaltbildend, der phasenweise zum Abbruch der Beziehung führte und das Selbstbild des Kindes mit der unbewussten Phantasie ausgestattet hat, ein mächtiger Zerstörer zu sein. Tom muss sich in den Augen der Mutter schon früh als bedrängend männlich triebhaft erlebt und dies zum Bestandteil seines Selbstbildes gemacht haben. Die Mutter sieht sich nicht in der Lage, ihn altersadäquat von ihrer stillenden Brust zu trennen. Die ungewöhnlich lange Stillzeit von mehr als zwei Jahren weist auch darauf hin, dass die Mutter Konflikte mit der vermuteten Trennungsaggression des Säuglings hatte. Und hier wird ein weiteres Problem deutlich. Der Vater kann nicht hilfreich in die Mutter-Kind-Dyade als trennender Dritter einbezogen werden. Das väterliche Nein ist im Inneren der Mutter in Form eines haltenden, strukturierenden Vaterbildes nicht präsent. Und so fehlen ihr die intrapsychischen Voraussetzungen, um den leiblichen Vater hilfreich in ihre Beziehung zum Sohn einzubinden. Dies hat fatale Konsequenzen für die Fähigkeit des wachsenden Selbst, etwas Drittes zu erschaffen, Übergangsobjekte zu kreieren, mithin Symbole zu bilden. Tom bleibt in einer sowohl erregenden wie entwicklungshemmenden konkretistisch körperlichen, triebaufge-

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ladenen Zweierbeziehung gefangen und hat die Stufe der Entwöhnung bis heute nicht erreicht. In der phallisch-ödipalen Phase aktiviert diese inzestuöse Beziehung zur Mutter erhebliche Kastrationsängste, bedroht seine männliche Identität insgesamt, was im hypermännlichen Agieren und in der Entwertung des weiblichen Genitals kompensatorisch abgewehrt werden muss. In der mütterlichen Zuschreibung: »Er weiß nicht, wo er anfängt und wo er aufhört!«, wird deutlich, dass es um ein basales Begrenzungs-Problem geht. Ein Begrenzungsproblem, dass nun nicht nur ihren Sohn allein betrifft, sondern eine Kennzeichnung der ganzen Mutter-Kind-Beziehung darstellt; ein Mutter-Kind-Beziehungsmuster, das die Basis für die Entwicklung des Selbst des Patienten gebildet haben mag.

■ Das ruhelose Kind, sein Vater und das Elternpaar Aufgrund meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Konzepten zur Bedeutung des Dritten in der Entwicklung des Kindes und aufgrund eigener Forschungen in diesem Bereich (Dammasch 2000, 2006) bin ich dazu gekommen, die Triangulierung als zentralen Meilenstein sowohl im Symbolbildungsprozess als auch im Prozess der Identitätsentwicklung zu erkennen. Die Mutter-Kind-Dyade und deren Verinnerlichung als Grundlage des »Urvertrauens« und damit als Basis-Baustein des kindlichen Selbst muss in sich über die Innenwelt der Mutter bereits den Keim zur Triangulierung und zur Einbeziehung des Vaters tragen. Der Vater fördert als Dritter die Separation von der primären Identifikation mit der Mutter und leistet damit schon früh einen wichtigen Beitrag zur Individuation des Subjekts. In den Elterngesprächen kam ich immer mehr zu der Vermutung, dass Toms Vater in der Familie bisweilen zum Klischee eines autoritär aufgeblasenen Popanz geworden ist, auch deshalb, weil Mutter und Sohn stillschweigend eine Koalition gegen den vermeintlichen Unterdrücker hergestellt haben. Herr K. kann aufgrund eigener biografischer Erfahrungen die Rolle eines Vaters phasenweise nur in zwanghaft autoritärer Version spielen, ohne

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wirklich zu wissen, was ein Vater ist. Immer adrett und akkurat gekleidet, wirkt er ausgesprochen höflich und nimmt willfährig die Gedanken des Therapeuten auf, als ob er hoffe, der Therapeut könne den Mangel eines hilfreichen inneren Vaterbildes ausfüllen helfen. Trotz allem wirkt Herr K. strukturiert und ist immer bemüht, seine Familie in Ordnung zu halten. Vater und Mutter haben bei der Erziehung ihres Sohnes auseinander laufende Vorstellungen. Es zeigt sich, dass der Vater zu Hause mit resoluter Strenge versucht, Grenzen durchzusetzen. Er fordert, dass das Zimmer seines Sohnes jeden Tag aufgeräumt wird. Der Ordnungssinn der Mutter steht dem väterlichen aber konträr gegenüber. Sie lässt die eigenen Sachen wie auch die Sachen des Sohnes und das Essen in der Wohnung herumliegen und ist keineswegs der Meinung, dass das Zimmer des Kindes aufgeräumt sein müsste. So verschwinden mit der täglichen arbeitsbedingten Abwesenheit des Vaters auch gleich seine Ordnungs- und Strukturierungsvorgaben aus der Familie. Bei seiner Rückkehr kämpft er dann wieder autoritär um das Einhalten seiner Prinzipien – ein ebenso verzweifelter wie vergeblicher Kampf. Denn das väterliche Gesetz kann nur Bedeutung erlangen, wenn es innerlich gefüllt ist und von der Mutter auch in Abwesenheit des Vaters prinzipiell mitgetragen wird. Umgekehrt kann der Vater vom Kind auch nur angenommen werden, wenn das Kind in ihm mütterliche Anteile wieder finden kann. In der Familie von Tom herrscht aber eine äußerst maligne Entwertungsdynamik. Der Vater entwertet die Mutter massiv, weil sie den Haushalt seiner Meinung nach nicht ordentlich führe, dem Sohn keine Grenzen setzen könne und wegen ihrer Migräne ewig im Bett liege. Die Mutter entwertet den Vater, weil er nur auf seinen Ordnungsprinzipien beharre und autoritär und heftig impulsiv aggressiv andere »runterputzt«. Tom kann weder in der Mutter väterliche Anteile wieder finden noch im Vater mütterliche Anteile. Aus Toms Perspektive sieht man, dass das Bild des Mannes und das Bild der Frau sich bei seinen Eltern unvereinbar gegenüberstehen. Es herrscht kein Klima gegenseitiger Anerkennung unter den Eltern. Der Mann und die Frau leben auf unterschiedlichen Planeten, zwischen denen es kaum Brücken gibt. Die Mutter, die einen starken entwerteten Selbstanteil in sich trägt, wird vom Mann des

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Hauses entwertet. Der Mann in seinen zwanghaft-autoritären Bemühungen, der Familie seinen Ordnungssinn aufzudrücken, wird von der Mutter im stillen Einvernehmen mit dem Sohn unterschwellig verspottet. Ein väterliches Gesetz kann sich so in dieser Familie als Halt gebender Rahmen gegen das Ausleben impulsiver Triebmanifestationen nicht bilden. So ist es kein Wunder, dass Tom im Klima gegenseitiger elterlicher Entwertung kein tragendes Über-Ich ausbilden kann, das sich den inzestuösen und aggressiven Triebforderungen des Es entgegenstellt. Toms Identifikation mit dieser vom Vater entwerteten Mutter, die gleichzeitig für Passivität und Depression steht, bringt ihn unweigerlich in Konflikt mit seiner labil ausgebildeten männlichen Identität. Der Vater als autoritärer Popanz mit Zwangsphänomenen von der Mutter immer wieder bloßgestellt, kann als männliche Identifikationsfigur für Tom und als Möglichkeit, den inzestuösen Strebungen mit der Mutter zu entkommen, nicht ernst genommen werden. Der ödipale Triumph ist für Tom bei seiner Mutter kampflos zu erringen, was die Inzestdynamik natürlich erheblich verstärkt. Die ganze Familie zeigt sich im Lauf der Zeit als eine Art polymorph perverses Triebbündel ohne väterlich strukturierendes Gesetz. So ist es üblich, dass Tom nachmittags seine Mutter auffordert, mit ihm ins Bett zu gehen. Die Mutter erfüllt den Wunsch ihres Sohnes, und beide schmusen zusammen im elterlichen Ehebett. Obwohl diese Szene ins Auge springende ödipale Komponenten aufweist, so werden hier in Wahrheit frühe dyadische Beziehungsmuster von Sohn und Mutter sekundär sexualisiert und in einen inzestuösen Kontext eingebettet. Dies führt zur fortlaufenden diffusen körperlichen Überstimulation von Tom. Obwohl die Stimulation der Mutter durch ihren Sohn auch tendenziell wie ein Mittel gegen ihre depressive Strukturlosigkeit wirken mag, so erscheint es mir eher so, als ob die Mutter mit ihrem Sohn schmust, um eigentlich in Ruhe gelassen zu werden. Aufgrund ihrer depressiv bedingten partiellen inneren Abwesenheit ist die körperliche Nähe wohl oft der einzige Kontakt, den sie herstellen kann. Zudem weicht sie damit den notwendigen Auseinandersetzungen um die Begrenzungen – die Entwöhnung – des Sohnes aus. Ihre unbewusste, masochistische Botschaft lautet mithin: »Mach alles mit

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mir, aber lass mich in Ruhe!« Dieses paradoxe Beziehungsmuster lässt im Jungen keinen Raum entstehen, in dem er mit seiner Mutter verbunden ist. Beziehungslosigkeit und Inzest sind hier aufs Engste miteinander verbunden. Tom zeigt in den Behandlungsstunden ein hyperphallisches Verhalten. Pointiert könnte man sagen, sein ganzer Körper ist ein permanent in Erregung versetzter Penis. Margaret S. Mahler zeigt auf, dass es ein zeitliches Zusammentreffen zwischen der Wahrnehmung des Penis und der Wahrnehmung des Körpers gibt. »Es scheint, dass der kleine Junge sich der unwillkürlichen Bewegung seines Penis zur gleichen Zeit bewusst wird, wie er die Bewegungen seines Körpers in der aufrechten Position meistern lernt« (Mahler 1980, S. 136). Dies ist ein Hinweis auf einen anderen Aspekt seiner Ruhelosigkeit. Er muss sich immer erregen, seinen Körper als überlegenen Phallus inszenieren, um sicher zu sein, dass seine männliche Identität nicht verloren geht. So muss er dann in den Rollenspielen immer der größte phallische Mann sein. Supermänner sind seine klischeehaften Idole, in deren Haut er sadistisch andere unterwerfen und klein machen muss, um sich als männliches Wesen spüren zu können. Eine Ebene dieser Interaktionsformen basiert auf der Identifikation mit dem Aggressor als unbarmherziger Kastrator. Als solchen wird er seinen Vater wohl erleben, wenn dieser in unkontrollierter Wut von ihm die Unterwerfung unter sein Diktat von Sauberkeit und Ordnung fordert. Beim Vater ist anstelle eines reifen Über-Ich der Zwang getreten. Dennoch möchte ich betonen, dass die Identifikation mit großen Aggressoren (Hitler, Cassius Clay, Kriegsgeneralen) und deren körperlich konkrete Imitation im Rollenspiel nur vordergründig ein Abwehrmechanismus im Sinne der Identifikation mit dem Aggressor darstellt. Die Grundlage dieser Imitationen stellt die Suche nach einer unverletzbaren männlichen Haut dar, einer Art phallisch muskulären Zweithaut, die das Selbst zusammenhalten soll.

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■ Grenzerfahrungen Die Behandlung von Tom konfrontiert mich immer wieder mit den Grenzen meiner analytischen Möglichkeiten. Insbesondere sein sich ständig wiederholender Zwang, in omnipotenter Weise die Gestaltung der Stunde und damit meine Affekte und Gefühle bestimmen zu wollen, gepaart mit der Unfähigkeit, einen gemeinsamen Erkenntnisprozess herzustellen, erzeugen in mir lange Phasen hindurch ein schwer zu ertragendes Insuffizienzgefühl. In diesen Zeiträumen der Stagnation zweifle ich an der primär psychodynamischen Genese der Störungen von Tom. Insbesondere das Gefühl, im Grunde austauschbar zu sein und als Objekt nur in der stimulierenden Aktion situativ Bedeutung zu erlangen, erschwert das kontinuierliche Aufrechterhalten meines therapeutischen Beziehungsangebots und meiner analytischen Kompetenz erheblich. So komme ich im Behandlungsverlauf zu der Überzeugung, mit Tom ein »wirkliches ADHS-Kind« im psychiatrisch definierten Sinne vor mir zu haben. Ich rate den Eltern zu einer kinderpsychiatrischen Abklärung. Da ich bei Toms Symptomatik inzwischen von einer Wechselwirkung zwischen physiologischen und psychologischen Faktoren ausgehe, betrachte ich auch eine parallele Medikation zu diesem Zeitpunkt der Behandlung nicht als eine Bedrohung der psychotherapeutischen Beziehung. Ich verspreche mir vielmehr eine Erleichterung der psychotherapeutischen Arbeit – vor allem auch eine Reduzierung meiner Gegenübertragungsgefühle der grundlegenden Hilflosigkeit – und bin einigermaßen neugierig, wie die Medikation auf Tom, seine Eltern und auf unsere gemeinsamen Sitzungen Einfluss nimmt. In der diagnostischen Einschätzung der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird festgestellt, dass bei dem Jungen das »typische Bild eines hyperkinetischen Syndroms (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität) vorliegt«. Es wird eine pharmakologische Einstellung auf zentrale Stimulanzien mithilfe des Medikaments Methylphenidat-Retardpräparat Ritalin®-SR empfohlen. Ritalin® retard wirkt circa sechs Stunden lang, erhöht die Stimulation der dopaminergen Systeme, sodass eine motorische Selbststimulation weniger notwendig ist. Die Eltern geben Tom morgens und mittags eine Tablette. In

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beeindruckender Weise bewirkt das Medikament zunächst eine allgemeine Reduzierung des Zwangs zur Selbststimulation.1 In der Schule wirkt Tom konzentrierter und kann dem Unterricht nun länger folgen. Entsprechend steigert er zu seinem und zum Wohlgefallen der Eltern seine Schulleistungen. Auch zu Hause reduzieren sich seine »Ausraster« bei kleinen Frustrationserfahrungen. In den Therapiesitzungen wirkt er etwas ruhiger, sodass wir vereinbaren können, in der ersten Hälfte der Stunde miteinander zu reden. Sehr schnell zeigt sich allerdings, dass Tom zwar ruhiger geworden ist, aber seine Fähigkeiten, erlebte Erfahrungen symbolisch oder sprachlich zu transformieren, sind – wie zu erwarten war – in keiner Weise gestiegen. Es scheint so, als sei er jetzt in gewissem Sinne – zumindest zeitweise – an meine Erwartungen angepasst und bemüht, mit mir zu reden. In der Gegenübertragung sind diese Gespräche von einer inneren Langeweile begleitet, was mir bald klar macht, dass es sich hierbei um eine Art verbaler Pseudokommunikation ohne emotionale Beteiligung handelt. So fällt ihm bald auch nicht mehr ein, worüber er denn eigentlich reden könne. Da es für ihn keinen inneren Raum gibt, in dem Erlebnisse und Objekterfahrungen als bedeutungsvolle Geschichte repräsentiert sind, hat er auch nie etwas Bedeutungsvolles zu erzählen, was über konkrete Schilderungen von Begebenheiten hinausgeht. Kurz gesagt: Die Medikamente reduzieren die Heftigkeit der Affektivität in den Sitzungen, aber das Selbst von Tom gleicht nun in einigen Aspekten der Beschreibung des »Falschen Selbst« von Winnicott (1960). Es tritt nun klarer hervor, dass er außerhalb seines von ihm produzierten körperlich konkreten Stimulationszusammenhangs sein Selbst nicht als lebendiger Schöpfer von Affekten, Gefühlen und Gedanken begreifen kann. Ich frage ihn, was er denn glaube, was die Tabletten bewirken. »Sie helfen mir, lieb zu sein. Durch die Tabletten bin ich nicht mehr böse!« Die Anfangserfolge in der Schule bleiben im Leistungsbereich erhalten, zeigen sich aber im sozialen Bereich von nur kurzer Dauer. 1 Möglicherweise ist die schnelle Wirkung von Ritalin® auf das sichtbare Verhalten des Kindes auch ein unbewusster Grund für die wachsende euphorische Verschreibung des Medikaments durch Ärzte. Die eigene Wirkmächtigkeit erfahren zu können, ist nicht nur bei kleinen Kindern die Voraussetzung eines stabilen Selbstwertgefühls.

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In der Therapie entwickelt sich eine Dynamik, die ich erst im Nachhinein mit der Einnahme von Ritalin® in Zusammenhang bringen kann. Während Tom also am Anfang der Stunde pseudoangepasst mit mir sprechen will, drängt er im zweiten Teil auf das Durchsetzen seiner Spielidee. Ein typisches »Spiel«: Er geht im Kreis herum, und ich soll ihm ein Bein stellen. Wenn ich das tue, dann werde ich sofort zum Objekt seiner brutalen Rache. Er schlägt mich nieder, sticht mir in Augen, Arme und Beine, zerstückelt meine Gliedmaßen. Bisweilen zielt er absichtlich auf meinen Penis, macht mich zum Opfer seiner sadistischen Qual. Er genießt es, mich zu quälen. Nach einigen Wiederholungen wird mir klar, dass sich die Notwendigkeit, durch Selbst- und Fremdstimulation einen Kontakt herzustellen, um das Alleinsein, die Trennung vom Objekt nicht ertragen zu müssen, nun – wenn auch scheinbar noch spielerisch – in ein Ich-syntones sadistisches Muster verwandelt. So werde ich gewahr, dass nun die ernste Gefahr besteht, dass sich chemisch unterstützt eine perverse Struktur ausbildet. Während er in der ersten Hälfte den braven Tom spielt, geht im aggressiven Spiel der zweiten Hälfte der Sitzung die innere Instanz, die seine Aggression begrenzt, völlig verloren. War zwar von Beginn der Behandlung an eine deutliche Über-Ich-Defizienz erfahrbar, so scheint nun das Ausleben destruktiver Impulse geradezu gerechtfertigt zu werden. Meine These lautet: Die Einnahme von Ritalin® hat sein ohnehin vorhandenes Selbstbild unbewusst bestätigt, dass er ein destruktiv-sadistisches Monster in Menschengestalt ist, das nur durch Medikamente im Zaum gehalten werden kann. Unbewusst ist das Ritalin® an die Stelle der Gewissensinstanz getreten. Die Tabletten sorgen dafür, dass er nicht böse ist. Die Funktion eines Über-Ich ist nun völlig von der Chemie ersetzt worden. Tom – besser gesagt: sein Es – kann machen, was es will. Dem grenzenlosen Ausleben polymorph perverser Triebimpulse sind nun keine Grenzen mehr gesetzt. Folglich zeigt sich Tom in der Ritalin®-freien Zeit unbeherrschter und ungebärdiger denn je. Das Zubettgehen wird für die Eltern zu einem »Horrortrip«, weil er mache, was er wolle. Der von mir angeregte Versuch der Eltern, das Ritalin® in den Ferien abzusetzen, wird nach einem Vormittag sofort gestoppt. Ohne Ritalin® wird Tom quasi Über-Ich frei nur noch von

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seinen vornehmlich aggressiven Impulsen gesteuert. Sein Verhalten ist fast schwerer zu ertragen als vor der Therapie. Auf der Seite der Eltern kommt hinzu, dass sie durch die ADHS-Diagnose und die Gabe von Ritalin® nun medizinisch bestätigt bekommen haben, dass ihr Sohn körperlich krank ist. Folglich begrenzen sie sein Verhalten weniger als vorher, denn jetzt ist klar: Er ist krank und kann nichts für seine Ausraster, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt. Tom nutzt die medizinisch legitimierte Laisser-faire-Haltung der Eltern weidlich zu Ich-syntonen Triebdurchbrüchen. Es wird nun für mich Zeit, als Therapeut energischer als zuvor auf den Mangel eines begrenzenden Über-Ich aufmerksam zu machen. Praktisch komme ich gar in die Rolle, als väterliche Instanz Über-Ich-Funktionen zu übernehmen. Ich rede mit Tom über das Schmusen mit der Mutter und mache klar, dass ich es in seinem Alter für nicht angebracht halte und dass es ihn zu sehr errege. Wieso es denn verboten sein könne, fragt er, wenn die Mutter das Schmusen doch möge und sein Vater es ihm nicht verbiete. Eine berechtigte Frage, die die Bedeutung der Familiendynamik für die Hyperaktivitätsstörung in den Mittelpunkt rückt. In den Elterngesprächen dränge ich nun aktiv darauf, die Aggressions- und Grenzsetzungs-Probleme der Mutter einerseits und die »Ausraster« des Vaters andererseits als entwicklungsbehindernde Momente zu verdeutlichen. Insbesondere die Stimulation durch das Schmusen von Mutter und Sohn problematisiere ich ernsthaft immer von Neuem.2 2 Ich vermute, dass die bei der Behandlung von »ADS-Kindern« so weit verbreitete Verhaltenstherapie nichts anderes als eine standardisierte fokussierte Erziehung des Kindes zur Einhaltung von äußeren Grenzen darstellt. Im günstigen Fall auf der Basis einer lang dauernden positiven Beziehung zum Verhaltenstherapeuten kann dadurch über Identifikationsprozesse die Über-Ich-Entwicklung des Kindes gefördert werden. Im ungünstigen Fall führt das Verhaltenstraining zum Aufbau eines Systems von oberflächlichen Anpassungszwängen, dass zwar kurzfristig die soziale Auffälligkeit des Kindes reduzieren mag, aber keinesfalls Bestandteil eines reifen ÜberIch wird. Solch ein antrainiertes Zwangssystem im Kind bleibt letztlich immer vom Bestehen eines festen Rahmens abhängig. Das Ich entwickelt dabei nicht aus sich heraus die Fähigkeit, die eigenen Triebimpulse zu neutralisieren oder zu sublimieren.

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Tom wird wütend darauf, dass ich ihm das Schmusen mit der Mutter verbiete. Er rät seiner Mutter, sich von mir nichts sagen zu lassen, denn schließlich sei ich nicht ihr Vater. In den Stunden will er mit mir kämpfen. Aber ich spiele nicht mehr mit. Er droht mir, dass er bald 1.000 Prozent Wut in sich haben werde und ich ja aufpassen solle. Jetzt sei er erst zehn Prozent wütend. Er legt Schaumstoffteile übereinander und tritt abwechselnd mit dem Fuß und den Armen dagegen. Ich sage, dass er seine Wut jetzt gegen die Matratzen lenke, vielleicht um mich zu schützen. Das sei nur, um für mich zu üben, gibt er grimmig zurück. Intensiv baut er längere Zeit an einem neuen Matratzen-Ziel, um es sodann mit einem Karate-Tritt kaputtzumachen. Er gäbe sich soviel Mühe, etwas aufzubauen, und dann trete er es in einem Moment kaputt, sage ich. Ich sei allerdings sicher, dass unsere Freundschaft, die sich jetzt aufgebaut habe, nicht so schnell durch seine Wut zerstört werden kann. Es gelingt ihm, in der gesamten Stunde seine 1.000 Prozent Wut zu kontrollieren und zum Schutze des Objekts, das inzwischen wirkliche Bedeutung für ihn bekommen hat, auf ein unzerstörbares materiales Objekt zu verschieben. Den Eltern gegenüber zeigt er seinen Ärger über den neuen Verlauf der Stunden. Ich würde nicht mehr mit ihm spielen, nur noch »plappern« wollen. Aber die Atmosphäre in den Stunden ist verändert. Irgendwie ernsthafter. Wie mir scheint, sieht er mich nun tatsächlich wie ein väterliches Objekt. Das Therapiezimmer wird zu einem bedeutungsvollen Innenraum für ihn. Er befestigt ein Stück Holz an einem Seil, dann dreht er sich damit im Raum. Meine Deutung, er drehe sich um sich, um die Begrenzungen des Raums zu spüren, hört er reaktionslos. Als ich ihm sage, dass er bitte aufpassen möge, mit dem Holz nicht an meine Möbel zu stoßen, wird er bei seinen Drehungen tatsächlich vorsichtig. Schließlich bindet er sich mit dem Seil fest und gibt mir das andere Ende des Seils. Ich soll ihn festhalten, an der kurzen Leine halten, während er versucht, wegzukommen. Er erzählt mir zum ersten Mal, dass der Druck des Seils am Bauch ihn schmerzt. Er überlegt, wie er seinen Schmerz mindern kann. Dann legt er sich vor mich und wünscht sich, dass ich ihn mit dem Seil hochhebe. Er will sehen, wo es ihm wehtut. Dann will er wieder, dass ich ihn mit dem Seil festhalte, während er versucht, auf allen vieren wegzukrabbeln. Er

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spürt meine Stärke, kann sie akzeptieren und scheint es wortlos zu genießen, dass ich ihn festhalten kann. Ich deute, dass er heute testen möchte, ob ich ihn halten kann, vielleicht wolle er auch sehen, ob ich ihn von etwas abhalten kann, zum Beispiel dem Schmusen mit seiner Mutter. Er nimmt seinen Stuhl und setzt sich mir gegenüber in den Raum. Er möchte, dass wir Seilziehen. Er legt seine ganze Kraft hinein und scheint nun zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen und zulassen zu können, dass ich stärker bin. In den nächsten Stunden wirkt Tom sowohl ernsthaft wie deprimiert. Die Eltern erzählen, dass er gegen mich grolle, aber trotzdem gern zu mir komme. Er sei zu Hause irgendwie gefasster, spiele auf einmal auch allein im Zimmer, und es gäbe nicht mehr die unerträglichen Auseinandersetzungen. Die Eltern wundern sich über die Entwicklung. Sie erzählen, dass er merkwürdigerweise nun »nachtragend« sei. Ein Spielfreund habe ihn geärgert, und Tom sei wütend von ihm weggegangen. Am nächsten Tag wollte dieser Spielfreund Tom abholen, und überraschenderweise sagt er diesem Freund, er habe sich gestern so über ihn geärgert, dass er heute erst mal nicht mit ihm spielen wolle. Dies sei das erste Mal gewesen, dass Tom einen Ärger in sich aufbewahrt hätte. Ansonsten war es immer so, dass am nächsten Tag alles vergessen gewesen sei. Tom beginnt also damit, Interaktionserfahrungen auf einer Zeitachse wahrzunehmen und als Beziehungsgeschichte zu verinnerlichen. Seine Selbstwahrnehmung verändert sich. Er kann nicht nur wahrnehmen, dass andere Einfluss auf sein Selbstgefühl ausüben, sondern er kann sich zunehmend als handelndes und Wirkung erzeugendes Subjekt in Abhängigkeit von der ihn umgebenen Objektwelt erfahren. So gelingt es ihm zum Beispiel, erste Anzeichen von Wiedergutmachungen zu zeigen. Als er seine Mutter mal wieder geärgert hat, beginnt er danach damit, ihr in seinem Zimmer, in das er geschickt worden war, heimlich ein Geschenk zu basteln, das er ihr dann feierlich überreicht. In dieser Behandlungsphase wird Tom zur Überraschung der Eltern zum ersten Mal in seinem Leben krank. Zum ersten Mal müssen auch zwei Behandlungssitzungen abgesagt werden. Die Eltern sind beeindruckt, dass er richtig krank und schwach mit Fieber im Bett liegt, sich versorgen und pflegen lässt, wie ein hilfloses Baby. Nach der Krankheit bemüht sich Tom, an frühere Stunden

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anzuknüpfen, will über die Schwächephase nicht gerne reden. Er müsse sich nun wieder aufbauen, meint er. So schwach zu sein, sei ein schreckliches Gefühl. Er malt auf ein Blatt Papier eine Art Oszillogramm, wo er die Schwingungen seiner Erregung darstellt. Er erklärt mir, dass er nun am Anfang der Erregungskurve sei. Um sich aufzubauen und sich gut zu fühlen müsse, er zu den großen, heftigen Ausschlägen am Ende der Zeichnung kommen. Mit diesem Bild hat Tom zum ersten Mal einen Versuch unternommen, das direkt körperliche Empfinden zeichnerisch zu begreifen. Auch wenn dieses Bild noch keine symbolische Produktion im engeren Sinne darstellt, so ist doch hier das Bild zur Vermittlungsinstanz seines inneren Erlebens geworden und insofern zwischen sich und die Körperlichkeit getreten. Im Innenleben von Tom hat sich etwas geändert. Die Beziehung zum Therapeuten bekommt eine Bedeutung, die über das interaktive Ausagieren von Triebimpulsen hinausgeht. Das langsam ins Blickfeld geratende Ende der Therapie beschäftigt ihn ernsthaft. Bei einer Ferienunterbrechung kann er in der vorletzten Stunde zeigen, dass es ihm gar nicht recht ist, allein gelassen zu werden. Natürlich muss er in der folgenden Stunde wieder der unbesiegbare Supermann sein. Ich werde beworfen und beschossen, dabei aber mit einem Kissen zum Schutz ausgestattet. Als ich seine Wut darüber anspreche, dass wir uns längere Zeit nicht mehr wieder sehen, hält er mit seinem Beschuss inne, erinnert sich an die ersten Stunden, als er Arzt gespielt hat und mir etwas abgeschnitten habe. Ich erinnere ihn an die Penisoperation. Aber die sei natürlich für ihn ja nicht schlimm gewesen. Wir lachen beide, wohl wissend, dass er immer den »starken Mann« spielen muss, weil er sich sonst so hilflos fühlt. In der Endphase der Behandlung ist es möglich, ihn mit seinem Supermann-Gehabe auf die »Schippe zu nehmen«. Es hat sich so etwas wie Humor zwischen uns entwickelt. Das Aufkommen von Humor und Selbstironie sind ja wesentliche Anzeichen für die wachsende Fähigkeit des Selbst, einen Perspektivenwechsel einzunehmen und in libidinös distanzierter Form auf sich selbst in Beziehung zu einem anderen zu schauen. So kann ich mit Tom dann augenzwinkernd darüber reden, dass so ein Supermann natürlich unverletzlich und unabhängig ist und dass er vor allem niemanden braucht, schon gar nicht so ein »Weichei« von Thera-

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peuten, wenn der auch noch in den Urlaub fährt und ihn verlässt. Die Stunden der Abschlussphase sind entspannt und finden am Ende in Form von sprachlichen Dialogen mit Schweigephasen in richtigen Sitzungen statt. Seine entwickelte Fähigkeit zum Alleinsein in Gegenwart eines anderen, zeigt an, dass sich ein Raum in seinem Inneren gebildet hat, der mit genügend guten Objekterfahrungen angefüllt ist. Tom gestattet so auch mir das Denken und erlebt es nicht mehr als einen unüberwindbaren Beziehungsabbruch, den er durch aggressive Aktionen rückgängig machen muss. Obwohl Tom seinen Drang zur motorischen Abfuhr und der Libidinisierung des motorisch-muskulären Systems als Gesamtpenis beibehalten wird, hat er in der Behandlung zusätzliche Möglichkeiten der symbolischen Verarbeitung von Erfahrungen gewonnen. Die Beziehung der Eltern hat im Rahmen dieser Langzeittherapie einen eigenen Prozess durchlaufen, der schließlich die Reflektionsfähigkeit von Vater und Mutter als Elternpaar gesteigert hat. In dem Maß, in dem das Verhalten ihres Sohnes weniger anstrengend wird, geraten die Konflikte zwischen den Eltern und die familiendynamische Funktion, die Tom für sie einnimmt, in den Fokus der begleitenden Psychotherapie. Zum Abschluss scheinen mir die Eltern innerlich gereift und nun deutlich besser in der Lage, ihrem Sohn sowohl verstehenden wie Grenzen setzenden Halt zu geben. Die ADHS-Diagnose hatte in einer bestimmten Phase der Behandlung eine wichtige beruhigende Funktion für die Eltern, nicht allein an der scheinbar unbeherrschbaren Aggressivität von Tom schuld zu sein. Dies ermöglichte ihnen vorübergehend quasi einen Ruheraum, von dem aus sie sich in der Elterntherapie langsam den eigenen Verwicklungen mit der Symptomatik ihres Sohnes konfrontieren konnten. Die reale Wirkung von Ritalin® auf Toms Drang zum Ausagieren von Triebimpulsen weckte in der Tat auch Hoffnung, dass Veränderungen möglich sind, und unterbrach insofern den Kreislauf der elterlichen Hilflosigkeit. Ob dies auch ohne die Gabe des Medikaments möglich gewesen wäre, kann ich nicht einschätzen. Zumindest erleichterte die Gabe von Ritalin® die Behandlung zunächst, bevor es dann im weiteren Verlauf von Tom und den Eltern in die Abwehr der eigenen Verantwortlichkeit für das Handeln eingebaut wurde und zum Über-Ich Ersatz wur-

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de. Toms Eltern waren schließlich in der Lage, sich der eigenen Verantwortung und Schuldthematik zu stellen und in der Folge die Ritalin®-Einnahme kritisch regulieren zu wollen. Es steht allerdings zu befürchten, das weniger gut strukturierte und weniger psychotherapeutisch aufgeschlossene Eltern den sekundären Krankheitsgewinn von Ritalin® zur Zementierung der Vorstellung, das kindliche Verhalten sei hirnorganisch festgelegt, benutzen könnten. Dies könnte dann zu einem unüberwindlichen Widerstand gegen Veränderung bei einer psychoanalytisch orientierten Psychotherapie werden. Am Ende bleibt bei mir allerdings eine Skepsis hinsichtlich der Langzeitwirkungen der psychotherapeutischen Veränderungen bei einer solch frühen Störung, die im Kern auf einem Mangel symbolbildender Kapazität aufgrund mangelhaften Containings mit perversen Komponenten basiert. Auch wenn ich insgesamt denke, dass die erreichten Veränderungen dazu beitragen werden, dass das gereifte Ich von Tom den Triebwirrungen der bevorstehenden Pubertät standhalten, kann erst eine Katamnese-Untersuchung in einigen Jahren zeigen, ob die psychoanalytisch erarbeiteten Veränderungen insbesondere der Symbolisierungsfähigkeit von nachhaltiger strukturbildender Qualität sind.

■ Zusammenfassende Thesen Die Diagnose ADS/ADHS wird zu leichtfertig gegeben. Die verbreitete falsche Verteilung und Annahme des Diagnose-Etiketts ADS verweist zum einen auf eine Abwehr der Eltern, die Genese der Störungen ihres Kindes in einem beziehungsdynamischen Kontext zu sehen, zum anderen verweist es auf den Wunsch nach kollektiver organmedizinischer Beruhigung bei einem individuell beunruhigenden Kind. Auf der Seite der Medizin scheint die Verortung der kindlichen Hyperaktivität im genetischen Erbe des Patienten einer biologistischen Komplexitätsreduktion zu entsprechen, die es auf professioneller Ebene ermöglicht, die kinderpsychiatrische und psychotherapeutische Unterversorgung der Kinder pharmakologisch zu verdecken.

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Wie insbesondere bei Elvira gesehen werden konnte, basieren Symptome der Hyperaktivität häufig auf manischen Abwehrversuchen früher Verlust- oder Trennungserfahrungen. Die körperliche Bewegung hat hier einerseits die Funktion, das Weiterleben durch die körperliche Aktivierung der Vitalitätsaffekte zu sichern, und andererseits wird in der permanenten Vorwärtsbewegung die Angst vor der regressiven Wiederholung des traumatischen Verlusterlebnisses im Zaum gehalten. Die ADHS-Diagnose mit Medikation wird in der großen Mehrzahl auf Jungen angewendet. Hierbei könnte die Bedrohung, die durch die nach außen gerichtete typisch männliche Verbindung von Motorik und Aggression als zentral störendes Element erlebt werden, das eine pharmakologische Ruhigstellung erfordert. Die latente Gleichsetzung der Stimulation von Penis und Körper zur Abwehr der als weiblich empfundenen Passivität scheint hierbei eine Rolle zu spielen. Während das gewaltsame Eindringen in andere Räume bei Jungen mit Hyperaktivitätsstörungen besonders ausgeprägt scheint, lenken Mädchen ihre Aggressivität in weniger sozial auffälliger Weise häufiger direkt gegen den eigenen Körper. Der aktuelle Disput, ob bei ADHS eine physiologische oder eine psychologische Genese angenommen werden muss, entkräftet sich durch die neurobiologische Hypothese, dass ähnlich der Entwicklung des psychischen Apparats die neuronalen Strukturen des Gehirns sich auch nachgeburtlich aufbauen, im interaktiven Wechselspiel von physiologischem Erbe und Umwelterfahrung. Baut sich zum Beginn des Lebens die Organisationsstruktur des Gehirns gebrauchsabhängig auf, so werden die neuronalen Bewegungen auch im späteren Leben durch Beziehungserfahrungen beeinflusst. Dies bedeutet, dass letztlich auch eine langfristig verändernde Psychotherapie Einfluss auf die Struktur der chemischen Prozessabläufe im Gehirn haben wird. Der Mensch ist gleichzeitig ein biologisches und soziales Wesen. Die Gabe von Ritalin® kann im gut diagnostizierten Einzelfall die von den Eltern empfundene Spirale des hilflosen Ausgeliefertseins an das unerträgliche Ausagieren ihres Kindes, die reaktiven Bestrafungen und das darauf folgende Schuldgefühl unterbrechen helfen. Dies kann wieder Hoffnung entstehen lassen, dass positive Veränderungen möglich sind. In einer Psychotherapie geht es dar-

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um, die phasenweise notwendige Beruhigungsfunktion des Ritalin® durch den Aufbau der Mentalisierungsfähigkeiten des Ich wieder zu ersetzen. Insbesondere sollte der Therapeut auf den sekundären Krankheitsgewinn und den Einbau der Medikation in die Abwehr von Patient und Eltern achten. Die psychotherapeutischen Veränderungsmöglichkeiten hängen bei diesem Störungsbild insbesondere von der Fähigkeit der Eltern zur Mitarbeit ab. Die Genese der Störungen des ruhelosen Kindes sehe ich in einem frühen spezifischen Defizit beim mütterlichen Containment bei fehlenden Kompensationsfähigkeiten durch den Vater. Im beschriebenen Fall hat die unberechenbare diffuse emotionale Abwesenheit der Mutter ein Beziehungsmuster im Patienten gebildet, das durch die Notwendigkeit der permanenten Stimulation von Selbst und Objekt gekennzeichnet ist. Nur das stimulierte Objekt ist ein anwesendes Objekt. Die Stimulation des Körpers selbst wird quasi zum primären Mutterersatz. Der stimulierte phallische Körper hilft dabei, depressive Ängste und die Angst vor dem Fallen im unbegrenzten Raum abzuwehren.

■ Literatur Dammasch, F. (2000): Die innere Erlebniswelt von Kindern alleinerziehender Mütter. Frankfurt a. M. Dammasch, F.; Metzger, H.-G. (Hg.) (2006): Die Bedeutung des Vaters. Frankfurt a. M. Mahler, M. (1980): Die psychische Geburt des Menschen. Frankfurt a. M. Perry, B. D.; Pollard, R. A.; Blakeley T. L. et al. (1998): Kindheitstrauma, Neurobiologie der Anpassung und gebrauchsabhängige Entwicklung des Gehirns: Wie Zustände zu Eigenschaften werden. Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie 29, Heft 99: 277–307. Pozzi, M. E. (2001): Ritalin® für wen? Wie können wir das Bedürfnis nach Ritalin® in der psychodynamischen Beratung von Familien mit Kindern unter fünf Jahren verstehen? Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie 32, Heft 112: 519–541. Singer, W. (2001): Was kann ein Mensch wann lernen? Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags am 12.6.2001 anlässlich des ersten Werkstattgespräches der Initiative »Mc Kinsey bildet« in der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. M.

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Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart. Winnicott, D. W. (1960): Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Selbst. In: Ders.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt a. M., 1984, S. 182–199.

■ Gerald Hüther

Die nutzungsabhängige Herausbildung hirnorganischer Veränderungen bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen Einfluss präventiver Maßnahmen und therapeutischer Interventionen

■ Das alte neurobiologische Modell Die Medizin ist eine anwendungsorientierte Disziplin. Wie in allen anderen anwendungsorientierten Disziplinen entwickeln daher auch die Mediziner ihre handlungsleitenden Modellvorstellungen aus dem, was in der Praxis funktioniert. Was sie unter einer Krankheit verstehen, wie sie entsteht und wie sie zu therapieren ist, wird also immer in erster Linie aus den Erfolgen und Misserfolgen abgeleitet, die Ärzte bei ihren Heilungsbemühungen erzielen. Im Fall von hyperkinetischen und aufmerksamkeitsgestörten Kindern führten diese Bemühungen immer dann zu einem besonders raschen und spürbaren Erfolg, wenn den Kindern ein Mittel aus einer Substanzgruppe verabreicht wurde, die als Psychostimulanzien bezeichnet wird, also Methylphenidat (Ritalin®), D-Amphetamin (Aderall®) und natürlich auch, wenngleich selten öffentlich gemacht, Kokain. Psychostimulanzien, das wussten die Mediziner schon lange und das steht auch in jedem pharmakologischen Lehrbuch, erhöhen den Dopaminspiegel im Gehirn. Wenn sich durch eine erhöhte Dopaminfreisetzung eine derartig dramatische Verbesserung der Symptomatik von hyperaktiven und/oder aufmerksamkeitsgestörten Kindern erreichen lässt, so musste im Gehirn der Betreffenden eine unzureichende Dopaminsynthese oder -freisetzung für die Entstehung und Aufrechterhaltung des gestörten Verhaltens verantwortlich sein. Diese Schlussfolgerungen war jedermann so einleuchtend und logisch, dass heute nur noch schwer nachvollziehbar ist, wer diese »Dopaminmangelhypothese« als Ursache von Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung zuerst formuliert hat. Als diese Modellvorstellung entstand, galten

G. Hüther · Hirnorganische Veränderungen bei Hyperaktivität

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beide Verhaltensauffälligkeiten noch als Hauptsymptome eines Krankheitsbildes, das bis dahin als Minimal Cerebral Dysfunction (MCD) bezeichnet worden war. Nicht nur der Nachweis, dass bei vielen Kindern mit MCD keine Anzeichen einer Hirnschädigung vorlagen, sondern auch der erfolgreiche Einsatz und die Ausbreitung der Psychostimulanzien-Behandlung bei Kindern mit diesem Störungsbild, und nicht zuletzt das aus der Wirkung dieser Medikamente abgeleitete »neurobiologische (hirnorganische) Modell« zur Erklärung dieses Störungsbildes bildeten die entscheidenden Voraussetzungen für den Entschluss der American Psychiatric Association, die Bezeichnung »Attention Deficit Hyperactivity Disorder« (ADHS) für diese Störung einzuführen und sie in den Katalog psychischer Erkrankungen (ICD-10, DSM-IV) aufzunehmen. Innerhalb weniger Jahre kam es nachfolgend zu einem dramatischen Anstieg der mit dieser Erkrankung diagnostizierten und mit Psychostimulanzien behandelten Kinder und Jugendlichen, zunächst in den USA und dann auch in Europa. Inzwischen werden nach Schätzungen des International Narcotics Control Board, der Drogenüberwachungsbehörde der UNO, weltweit circa zehn Millionen Kinder und Jugendliche mit Psychostimulanzien behandelt. ADHS/ADS ist inzwischen das von allen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen mit Abstand am intensivsten erforschte Krankheitsbild. Trotz dieser intensiven Forschungsanstrengungen ist es bis heute jedoch nicht gelungen, das ursprünglich allein aus der Medikamentenwirkung abgeleitete Dopamindefizit im Gehirn der betreffenden Patienten auch wirklich nachzuweisen. Unabhängig und weitgehend unbemerkt von dieser so genannten ADHS-Forschung sind Psychopharmakologen bei ihrer Suche nach den Wirkungen und Wirkungsmechanismen von Psychostimulanzien einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Mithilfe neuer, in vivo einsetzbarer Verfahren zur Messung der Dopaminfreisetzung (Mikrodialyse) konnten sie im Gehirn von Versuchstieren zeigen, dass die nach Verabreichung von Amphetamin, Methylphenidat oder Kokain in den Zielgebieten dopaminerger Projektionen messbaren Veränderungen der Dopaminfreisetzung ganz entscheidend von der Dosierung und der Art der Anflutung der betreffenden Substanzen abhängen. Bei hoher Dosierung und rascher Anflutung führen Ampheta-

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mine, auch Kokain und Methylphenidat, zu der bereits bekannten, massiven und Impuls-unabhängigen Dopaminfreisetzung. Unter diesen Bedingungen, also in hoher Dosierung entweder injiziert oder geschnupft, kommt es auch zu den bekannten antriebssteigernden und die Umsetzung innerer Impulse verstärkenden Effekten. Die damit einhergehenden Allmachtsgefühle, Potenzsteigerungen und Größenfantasien bilden die Grundlage für das Abhängigkeitspotenzial, das bei dieser Einnahmeform von Psychostimulanzien ausgeht. In geringen Dosierungen und – wie zur medikamentösen Behandlung von ADHS – oral eingenommen, werden dieselben Substanzen jedoch wesentlich langsamer und in niedrigen Konzentrationen im Gehirn angeflutet. Unter diesen Bedingungen bewirken sie lediglich eine Hemmung der Dopamin-Wiederaufnahme und eine daraus resultierende, leichte Erhöhung der extrasynaptischen Dopaminkonzentration. Diese Erhöhung des extrazellulären Dopaminspiegels ist im Vergleich zu der durch höhere Dosierungen und rasche Anflutung ausgelösten, impulsunabhängigen Dopaminfreisetzung recht moderat (2- bis 10-fach gegenüber 100- bis 1000-fach). Sie ist aber ausreichend, um die an den dopaminergen Präsynapsen lokalisierten Dopamin-Autorezpetoren zu aktivieren und auf diese Weise jede weitere, impulsgetriggerte Dopaminfreisetzung zu unterbinden (Übersicht in: Seeman u. Machias 1998; Solanto 1998). Im Gegensatz zu den älteren und noch bis heute weit verbreiteten Vorstellungen einer durch Psychostimulanzien hervorgerufenen vermehrten Dopaminfreisetzung muss nach diesen neueren Erkenntnissen also von einer Hemmung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung nach oraler Einnahme von Amphetaminen, Methylphenidat oder Kokain ausgegangen werden. Das dopaminerge System von hyperkinetischen und aufmerksamkeitsgestörten Kindern und Jugendlichen würde so durch die orale Einnahme von Psychostimulanzien gewissermaßen »stillgelegt«. Neue äußere Stimuli oder innere Impulse führen dann zwar noch zu einer Aktivierung der dopaminergen Neurone, an deren Fortsätzen in den distalen Zielgebieten wird jedoch kein Dopamin mehr freigesetzt. Normale Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche können sich nach dieser Art der Einnahme von Psychostimulanzien

G. Hüther · Hirnorganische Veränderungen bei Hyperaktivität

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besser auf auszuführende Aufgaben konzentrieren, sind weniger ablenkbar und leichter führbar. Ähnlich geht es auch Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Hyperaktivitäts- beziehungsweise Aufmerksamkeitsstörung, nur dass die dann sichtbaren Veränderungen des bisherigen Verhaltens wesentlich deutlicher und beeindruckender zutage treten. Ein überstark entwickeltes oder besonders leicht aktivierbares dopaminerges System ist nach neueren Erkenntnissen der Suchtforschung assoziiert mit ausgeprägtem »novelty-seeking« beziehungsweise »sensation-seeking behaviour« und scheint ein wichtiger prädisponierender Faktor für die Ausbildung stoffgebundener und psychischer Abhängigkeiten zu sein. Umgekehrt wird ein nur schwach ausgeformtes beziehungsweise schwer aktivierbares dopaminerges System für affektflaches, wenig Neugier- und Belohnung-suchendes, anhedonisches Verhalten verantwortlich gemacht.

■ Ein neues neurobiologisches Paradigma In zahlreichen Untersuchungen ist die schrittweise Anpassung der sich herausformenden synaptischen Verschaltungsmuster an die während der weiteren Hirnreifung immer komplexer werdenden Anforderungen und Nutzungsmuster inzwischen nachgewiesen worden (Übersicht in: Joseph 1999). Ihr genetisches Programm versetzt die sich entwickelnden Nervenzellen lediglich in die Lage, sich zu teilen, solange die äußeren und inneren Bedingungen (das lokale Mikroenvironment) dafür günstig sind, entlang bestimmter Signalstoffgradienten zu wandern und Fortsätze auszuwachsen, dendritische (postsynaptische) Angebote zu machen und axonale Präsynapsen auszubilden. Es handelt sich also um ein Programm von Optionen, das lediglich festlegt, was unter gewissen Bedingungen möglich ist, und was zu geschehen hat, wenn sich diese Gegebenheiten ändern, entweder als zwangsläufige Folge der eigenen Wachstumsdynamik (Gradienten von Nährstoffen, Metaboliten, Signalstoffen, Adhäsionsmolekülen etc.) oder durch äußere Faktoren (sensorische Eingänge, äußere Störungen des inneren Bedingungsgefüges).

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Prävention und Frühintervention

Die fortwährende Anpassung synaptischer Verschaltungen an sich die zwangsläufig während der Hirnentwicklung verändernden Nutzungsbedingungen ist ganz offensichtlich für die Aufrechterhaltung der funktionellen Integrität des reifenden Gehirns von grundlegender Bedeutung (Mattson u. Kater 1989; Vaughn 1989; Dawirs et al. 1992). In zahlreichen tierexperimentellen Untersuchungen konnte inzwischen gezeigt werden, dass unterschiedlich strukturierte Umweltbedingungen während der vor- und nachgeburtlichen Entwicklung wesentlichen Anteil an der Determinierung adulter Verhaltensrepertoires, adulter neurophysiologischer Ausprägungen sowie insbesondere auch neuromorphologischer Differenzierungsprozesse haben. Im Rahmen von so genannten »cross-fostering«-Experimenten ließ sich sogar nachweisen, dass schon natürliche Unterschiede des mütterlichen Aufzuchtsverhaltens, wie sie bei verschiedenen Müttern innerhalb eines Rattenstamms auftreten, die Hirnentwicklung der Nachkommen und deren späterem Verhalten in messbarer Weise verändern (Liu et al. 1997). Eines der am besten untersuchten Systeme, dessen Entwicklung stark von Umwelteinflüssen beziehungsweise Erfahrungen abhängt, ist das neuroendokrine Stress-sensitive System, das seinerseits wiederum entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung beziehungsweise Plastizität des Gehirns hat (Hüther 1998). Eine längere Trennung von der Mutter führt bei neugeborenen Nagern zu einer unkontrollierbaren Stressreaktion. Im frontalen Kortex deprivierter Ratten lässt sich, wie auch in anderen Hirnarealen, durch wiederholte derartige Erfahrungen (»maternal separation«) eine erhöhte Apoptose- als auch eine verminderte Zytogeneserate beobachten (Zhang et al. 2002). Im erwachsenen Alter zeigen diese Tiere bereits bei geringer Belastung eine überschießende Kortisolausschüttung und Veränderungen ihres dopaminergen Systems (Anand u. Scalzo 2000). Sie sind ängstlicher und finden sich in neuen Umgebungen schlechter zurecht. Besonders den bei Stress und neuartigen Reizen vermehrt ausgeschütteten biogenen Aminen werden im zentralen Nervensystem neben einer Funktion als Neurotransmitter im eigentlichen Sinne neuromodulatorische und trophische Funktionen zugeschrieben. Monoaminerge Projektionen besitzen eine organisie-

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rende und kontrollierende Funktion bei der axonalen Aussprossung und der Synaptogenese (Buznikow et al. 1999), und selbst im erwachsenen Gehirn sind sie in die Stabilisierung und Reorganisation neuronaler Verschaltungen involviert (Matsukawa et al. 1997). Die sehr plastischen monoaminergen Projektionen reifen noch lange nach der Geburt und entwickeln charakteristische, ebenfalls nutzungsabhängig herausgeformte Projektionsmuster, wobei die Dichte efferenter Nervenfasern und Präsynapsen durch frühe Erfahrungen beeinflussbar ist, so zum Beispiel durch psychosoziale Stimulation, psychosozialen Stress und mangelnde frühe Bindung (Clarke et al. 1996; Hall et al. 1998). Aber auch bereits pränatal kann Stress die Ausreifung der monoaminergen Systeme verändern (Peters 1984, 1986). Ihre maximale Innervationsdichte erreichen die nigrostriatalen, mesolimbischen und mesokortikalen dopaminergen Projektionen erst mit dem Eintritt in die Adoleszenz, sowohl bei Nagetieren (Restani et al. 1990; Moll et al. 2000) als auch bei Primaten (Goldman-Rakic u. Brown 1982; Lewis et al. 1998). Anschließend kommt es zu einer altersabhängigen Regression der dopaminergen Innervationsdichte in den jeweiligen Zielgebieten. Im Striatum ist diese progressive Degeneration auch beim Menschen mit bildgebenden Verfahren nachweisbar (von Dyck et al. 1995). Aktiviert wird das dopaminerge System immer dann, wenn etwas Neuartiges wahrgenommen wird, neue assoziative Verknüpfungen hergestellt werden, wenn unerwartet auftretende Reize eine Aktivierung Stress-sensitiver neuronaler Netzwerke auslösen (Bedrohung) oder wenn diese Aktivierung durch eine erfolgreich eingesetzte Bewältigungsstrategie abgestellt werden kann (Belohnung, Übersicht in: Ljungberg et al. 1992). Die mit einer solchen phasischen Aktivierung einhergehende Dopaminfreisetzung in den distalen Projektionsgebieten führt zu einem massiven Anstieg des extrazellulären Dopaminspiegels (von 4 nM auf circa 250 nM, Garris et al. 1994). Die Aktivierung von Dopaminrezeptoren benachbarter Neuronen und Astrozyten führt zur Induktion von so genannten »early immediate genes« (c-fos, CREB etc.) und damit einhergehend zu einer vermehrten Synthese und Freisetzung neurotropher Peptide. Diese Wachstumsfaktoren stimulieren nicht nur das Neuritenwachstum benachbarter Neurone, sondern för-

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Prävention und Frühintervention

dern auch das Auswachsen axonaler Fortsätze der betreffenden dopaminergen Afferenzen. Je häufiger es also während der Ausreifung dopaminerger Projektionen zur Aktivierung der dopaminergen Neuronen im Mittelhirn kommt, desto stärker wird das weitere Wachstum und die Ausbreitung dopaminerger Axone in den distalen Zielgebieten, insbesondere im frontalen Kortex stimuliert. Veränderungen der dopaminergen Innervationsdichte lassen sich tierexperimentell erzeugen, indem Versuchstiere unter Bedingungen aufgezogen werden, die entweder besonders wenig neuartige Stimuli bieten (die nur selten zur Aktivierung des dopaminergen Systems führen) oder die als so genannte »enriched environments« eine Vielzahl von neuartigen (eine häufige Stimulation dopaminerger Aktivität auslösender) Reizen enthalten. Unter ersteren Bedingungen kommt es zur Ausbildung einer dopaminergen Hypoinnervation, unter letzteren zu einer dopaminergen Hyperinnervation des präfrontalen Kortex (Winterfeld et al. 1998; Neddens et al. 2001) beziehungsweise des Striatums (Lehmann et al. 2002). Neben seiner Funktion als Neurotransmitter und Neuromodulator ist Dopamin aufgrund seiner Wirkungen auf die Genexpression von Astrozyten und Neuronen und der damit einhergehenden vermehrten Bereitstellung neurotropher Faktoren entscheidend an der Regulation struktureller Umbau- und Reorganisationsprozesse neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungen im Kortex von Primaten beteiligt (Übersicht in: Walters et al. 2000). Die insbesondere bei Primaten auffallend stark entwickelten mesokortikalen dopaminergen Projektionen besitzen aufgrund ihrer trophischen Wirkungen auch beim Menschen eine besondere Bedeutung für nutzungsabhängige Anpassungsleistungen und die Verankerung neuer Erfahrungen. Gleichzeitig sind dopaminerge Afferenzen insbesondere des präfrontalen Kortex an der Regulation von Kognition und Aufmerksamkeit und an der Verstärkung intentionaler Reaktionen und deren Umsetzung in entsprechende Handlungen beteiligt (Übersichten in: Arnsten 1998; Nieoullon 2002). Die Entwicklung des präfrontalen Kortex ist ein äußerst komplizierter und daher höchst störanfälliger Prozess, dessen Verlauf

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und Ergebnis beim Menschen im Wesentlichen durch die während der Kindheit gemachten eigenen Erfahrungen bestimmt wird. Genetisch gesteuert ist hierbei lediglich der während der pränatalen und postnatalen Entwicklung ablaufende Prozess der Herausbildung eines Überangebots an axonalen und dendritischen Fortsätzen und Verbindungen sowie eines Überschusses entsprechender »synaptischer Angebote« (»experience expectant connectivity and synaptic offerings«, Übersicht in: Joseph 1999). Beim Menschen wird das Maximum synaptischer Angebote und die höchste Synapsendichte im präfrontalen Kortex etwa im sechsten Lebensjahr erreicht. Bis zu diesem Alter sollten Kindern vielfältige Gelegenheiten geboten werden, möglichst viele dieser vorläufigen Angebote nutzungsabhängig zu stabilisieren, das heißt, unter Anleitung durch geeignete Vorbilder diejenigen synaptischen Aktivierungsmuster wiederholt aufzubauen und dadurch auch strukturell zu festigen, die später als innere Repräsentanzen zur Organisation und Planung von Verhaltensreaktionen benutzt werden. Gelingt es einem Kind während dieser Entwicklungsphase nicht, diese hochkomplexen Aktivierungsmuster in seinem Frontalhirn herauszubilden, so fehlt ihm später die Möglichkeit, seine Verhaltensreaktionen »autonom« unter Zuhilfenahme innerer handlungsleitender Muster zu steuern. All jene neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen, die während dieser Entwicklungsphase nicht in funktionelle innere »Repräsentanzen« integriert und auf diese Weise nutzungsabhängig stabilisiert werden können, gehen zugrunde und werden wieder abgebaut (»pruning«). Tierexperimentell lässt sich durch Modulation der postnatalen Entwicklungsbedingungen (Einengung oder Erweiterung des Spektrums früher Erfahrungen, das jungen Versuchstieren durch mehr oder weniger komplexe Aufzuchtbedingungen geboten wird) nicht nur die synaptische Dichte, die Ausbreitung dendritischer Fortsätze und das Maß an neuronaler Konnektivität im präfrontalen Kortex erhöhen oder verringern, sondern sogar die Dicke des Kortex und seine vaskuläre Versorgung (Rosenzweig u. Bennet 1996; Morgensen 1991). Als besonders ungünstig für die Herausbildung synaptischer Angebote und für die Stabilisierung komplexer Verschaltungsmuster im frontalen Kortex haben sich all jene Bedingungen erwiesen, unter denen Versuchstiere Irritationen, Stress

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Prävention und Frühintervention

und psychischen Belastungen während ihrer frühen Phase der Hirnentwicklung ausgesetzt waren. Die sich unter diesen Bedingungen ausbreitende unspezifische Erregung verhindert selbst bei Erwachsenen den Rückgriff auf bereits etablierte innere handlungsleitende Repräsentanzen. Während der Phase der Hirnentwicklung wird unter derartigen Irritationen und Belastungen jedoch bereits der Aufbau und die Stabilisierung entsprechender Muster verhindert. Eine entscheidende Rolle spielen hierbei die unter Bedingungen von Stress, Überreizung und emotionalen Belastungen vermehrt ausgeschütteten Katecholamine (Arnsten 1998). Sie wirken destabilisierend auf die im präfrontalen Kortex erzeugten Aktivierungsmuster und behindern auf diese Weise den Rückgriff auf innere handlungsleitende und Orientierung bietende Repräsentanzen. Aufgrund seiner neurotrophen Wirkungen fördert insbesondere eine übermäßig starke Dopaminausschüttung immer neue Reorganisationsprozesse und verhindert so den Aufbau stabiler Verschaltungsmuster. Die entscheidenden protektiven Faktoren, die vor der Ausbreitung derartiger übermäßiger unspezifischer Erregungen schützen, sind Sicherheit bietende Bindungsbeziehungen (Übersicht in: Gebauer u. Hüther 2001) und Orientierung bietende Vorbilder (Übersicht in: Gebauer u. Hüther 2002).

■ Wie kann ADHS entstehen? Wenn man die hier beschriebenen bisher vorliegenden Erkenntnisse über den Einfluss der jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen auf die Ausreifung des antriebsstimulierenden dopaminergen Systems und der antriebslenkenden und handlungsleitenden präfrontalen und kortikolimbischen Verschaltungsmuster zusammenführt, so lässt sich folgende Modellvorstellung zur Entstehung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen ableiten: Bereits während früher Phasen der Hirnentwicklung, also lange vor der Manifestation des Störungsbildes, scheint es durch überhäufige Aktivierung des sich entwickelnden dopaminergen Systems zu einer übermäßigen Stimulation von axonalen Wachs-

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tum und »axonal sprouting« der in striatale, limbische und insbesondere frontokortikale Projektionsgebiete einwachsenden dopaminergen Projektionen zu kommen. Als mögliche Ursachen für die zu starke Stimulation dopaminerger Neurone im Mittelhirn spielen frühe Reizüberflutung und/oder unzureichende Reizabschirmung eine besondere Rolle. Unsichere Bindungsbeziehungen, fehlende Strukturen und Rituale, inkompetente Erziehungsstile und Überlastung der Eltern und daraus resultierende übermäßige Reizexposition dürften hierfür aufseiten der primären Bezugspersonen maßgeblich sein. Aufseiten der Kinder wären angeborene Störungen verschiedenster Genesen, frühe Traumatisierungen, eine besondere Sensibilität und Reizoffenheit und ein »mismatch« zwischen elterlichen Erwartungen und kindlichen Reaktionen Faktoren, die zu einer Überstimulation des dopaminergen Systems führen. Wie neuere Untersuchungen mittels »embryo-transfer« und »cross-forstering« bei Mäusen gezeigt haben, können besonders empfindliche Verhaltensweisen bereits intrauterin erworben werden (Crabbe u. Phillips 2003; Francis et al. 2003). Unabhängig davon, wodurch die zu häufige Aktivierung des dopaminergen Systems und die damit einhergehende Stimulation des Wachstums dopaminerger Projektionen ausgelöst wird, in jedem Fall hätte die dopaminerge Hyperinnervation insbesondere des präfrontalen Kortex für dessen weitere strukturelle Ausreifung eine fatale Konsequenz: Zu häufig kommt es durch die neurotrophen Wirkungen des vermehrt ausgeschütteten Dopamins zur Stimulation von Wachstums- und Reorganisationsprozessen innerhalb der in diesem Bereich noch nicht endgültig stabilisierten neuronalen Netzwerke und synaptischen Verschaltungen. Gleichzeitig verhindern die genannten Störfaktoren (Inkonsequenz elterlicher Erziehungsstile, wenig Sicherheit bietende Bindungsbeziehungen, elterlicher Erwartungsdruck, Überreizung und mangelnde Reizabschirmung) den Aufbau und die Konsolidierung innerer handlungsleitender Repräsentanzen. Die Angebote an neuronalen Verschaltungen und synaptischen Kontakte können unter diesen Bedingungen nur unzureichend genutzt und stabilisiert werden, und es kommt zu einem übermäßig starkem »pruning«-Effekt (Rückbildung nicht nutzungsabhängig stabilisierter Angebote). Die da-

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Prävention und Frühintervention

mit einhergehende unzureichende Entwicklung exekutiver Frontalhirnfunktionen führt ihrerseits (über Defizite auf der Ebene von Impulskontrolle, Aufmerksamkeitsfokussierung, Handlungsplanung und Folgenabschätzung) wiederum zu einer Überstimulation und einer übermäßig häufigen Aktivierung dopaminerger Neurone im Mittelhirn. Damit gerät das betreffende Kind in einen Teufelskreis von überstark entwickeltem Antrieb und unzureichend entwickelter Antriebskontrolle, der nur schwer von Außen zu durchbrechen ist. Eine Vielzahl anderer Funktionen und Ausreifungsprozesse wird dadurch in einer Weise beeinflusst, sodass es im Zuge nutzungsabhängiger Anpassungsprozesse nachfolgend zu Veränderungen auf unterschiedlichen funktionellen und strukturellen Ebenen und in verschiedensten Bereichen innerhalb des ZNS kommen kann (Übersicht in: Hüther 2001).

■ Was kann Therapie bewirken? Inzwischen ist mithilfe funktioneller bildgebender Verfahren am Beispiel verschiedenster psychiatrischer Störungen nachgewiesen worden, dass psychotherapeutische Interventionen ebenso wie medikamentöse Behandlungen sogar noch im adulten Gehirn zu nutzungsabhängigen Umstrukturierungen neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungen führen können. Aus entwicklungsneurobiologischer Perspektive ist davon auszugehen, dass derartige strukturelle Reorganisationsprozesse umso leichter auslösbar sind, und umso besser gelingen, je früher sie initiiert werden, das heißt, je jünger der Patient ist und je plastischer die in seinem Gehirn angelegten neuronalen und synaptischen Verschaltungsmuster noch sind. Die nachhaltigsten Veränderungen bisheriger Nutzungsmuster lassen sich bei Kindern durch Veränderungen des jeweiligen sozialen Beziehungsgefüges erreichen, das das bisherige Denken, Fühlen und Verhalten der betreffenden Kinder ermöglicht, bestimmt und gefestigt hat. Welche psychotherapeutische, psychosoziale oder pädagogische Intervention sich hierfür am Besten eignet und die nachhaltigsten Veränderungen auszulösen imstande ist, muss für jedes Kind unter Berücksichtigung sei-

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ner bisherigen Entwicklung und seines sozialen und familiären Umfelds individuell entschieden werden. Wenn all diese Versuche scheitern und auf diesem Weg keine Besserung erreichbar ist, so mag eine medikamentöse Behandlung im Einzelfall in Betracht gezogen werden. Die neurobiologischen Auswirkungen einer langfristigen oralen Einnahme von Psychostimulanzien während der Kindheit sind allerdings bisher kaum untersucht und daher gegenwärtig schwer abschätzbar. Die dauerhafte Unterdrückung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung kann einerseits dazu führen, dass es langfristig zu einer unzureichenden Stimulation des weiteren Wachstums dopaminerger Fortsätze in den Projektionsgebieten kommt. Hierfür gibt es erste tierexperimentelle Hinweise (Moll et al. 2001). Klinisch lässt sich jedoch selbst nach jahrelanger Methylphenidat-Einnahme keine stabile Besserung der Symptomatik nach Absetzen der Medikation verzeichnen. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass es während des Behandlungszeitraums offenbar nicht zu einer Normalisierung des überstark entwickelten, antriebssteigernden dopaminergen Systems im Gehirn der betreffenden Kinder und Jugendlichen kommt. Besonders schlecht abschätzbar sind die langfristigen Auswirkungen einer Psychostimulanzien-Behandlung von Kindern und Jugendlichen, deren dopaminerges System nicht überstark, sondern normal entwickelt ist. In diesen Fällen könnte die dauerhafte Unterdrückung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung zu einer unzureichenden Ausreifung der dopaminergen Projektionen führen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die medikamentöse Unterdrückung der impulsgesteuerten Dopaminfreisetzung auch Auswirkungen auf die Herausformung und Stabilisierung innerer, handlungsleitender Repräsentanzen in Form frontokortikaler und frontolimbischer Verschaltungsmuster hat. Würden vor der Behandlung durch eine überstarke Dopaminfreisetzung in diesen Projektionsgebieten zu intensive neurotrophe Effekte die Stabilisierung handlungsleitender Verschaltungsmuster behindern, so käme es durch eine unterdrückte Dopaminfreisetzung und die damit einhergehende unzureichende Bildung neurotropher Faktoren zu einer möglicherweise zu stark eingeschränkten Fähigkeit, neue Erfahrungen in Form innerer Repräsentanzen strukturell zu ver-

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Prävention und Frühintervention

ankern. Fraglich ist zudem, ob die Verankerung von Erfahrungen eigener Effizienz bei der Bewältigung von Herausforderungen, bei der Impulskontrolle und der Fokussierung der Aufmerksamkeit überhaupt in Form innerer Repräsentanzen erfolgen kann, solange das Kind diese Leistungen nicht sich selbst, sondern der Wirkung des eingenommenen Medikaments zuschreibt.

■ Was kann Prävention verhindern? Die enormen Forschungsanstrengungen, die bisher zur Aufklärung der mit dieser Störung assoziierten neurobiologischen und molekulargenetischen Auffälligkeiten und der insbesondere durch medikamentöse Behandlungen auslösbaren therapeutischen Effekte bei ADHS/ADS-Patienten gemacht wurden, stehen in eklatantem Missverhältnis zu den bisherigen Bemühungen, geeignete präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Manifestation dieses Störungsbildes zu erarbeiten, einzusetzen und im Rahmen präventiver Interventionsprogramme wissenschaftlich im Hinblick auf ihre Effizienz zu überprüfen. Ursache hierfür ist einerseits das klassische alte Reparaturdenken, das bisher die Praxis, die Forschung und die Theoriebildung in der Medizin bestimmt hat und noch immer weitgehend bestimmt. Andererseits wurde die Vorstellung eines »Dopamindefizits« im Hirn hyperkinetischer und aufmerksamkeitsgestörter Kinder automatisch mit der Annahme verbunden, dass diese Veränderung des dopaminergen Systems nur genetisch bedingt sein könne. Solange aber eine genetisch verursachte »Stoffwechselstörung« für die Ausbildung dieses Störungsbildes auf der Verhaltensebene verantwortlich gemacht wurde, musste jeder Versuch, die Manifestation dieser Verhaltensstörungen durch präventive Maßnahmen zu verhindern, als nutzloses Unterfangen erscheinen. Das einmal entwickelte Bild über die Ursache der Störung war also zu einer denk- und handlungsleitenden inneren Orientierung geworden, die nun selbst alle weiteren Forschungsstrategien und therapeutischen Bemühungen bestimmte. Das Ziel all dieser Anstrengungen war die Bestätigung des betreffenden Bildes, ihr Resultat konnte nur die mehr oder

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weniger effizient und kostengünstig zu erreichende Reparatur der vermeintlich zugrunde liegenden Störung sein. Wenn also in Zukunft verstärkt nach geeigneten präventiven Maßnahmen gesucht werden soll, die zur Verhinderung der Manifestation von hyperkinetischen und Aufmerksamkeitsstörungen führen, so wird das nur gelingen, wenn wir uns von dem bisherigem Bild über die organisch, genetisch oder neurobiologisch begründeten Ursachen dieser Verhaltensstörungen verabschieden. Erst wenn ein neues, entwicklungsneurobiologisch orientiertes Konzept die alten Modelle abgelöst hat, kann auch gezielt nach Möglichkeiten gesucht werden, die in diesen Kindern liegenden Potenziale, ihre Begabungen und besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen. Erst dann kann die Umsetzung erfolgreicher Präventivmaßnahmen in den Mittelpunkt der Anstrengungen um das Wohl und Wehe von auffälligen Kindern gerückt werden, bevor diese eine ADHS-/ADS-Symptomatik ausbilden.

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Prävention und Frühintervention

■ Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Brandl, Stephan Hau, Lars Aulbach, Betty Caruso, Katrin-Marleen Einert, Oliver Glindemann, Gerlinde Göppel, Paula Hermann, Pawel Hesse, Jantje Heumann, Gamze Karaca, Julia König, Jochen Lendle, Bernhard Rüger, Alex Schwenk, Adelheid Staufenberg, Sibylle Steuber, Christiane Uhl, Judith Vogel, Christina Waldung, Lisa Wolff und Gerald Hüther

Die Frankfurter Präventionsstudie Zur psychischen und psychosozialen Integration von verhaltensauffälligen Kindern (insbesondere von ADHS) im Kindergartenalter – ein Arbeitsbericht 1

Es ist nicht einfach, aus einer noch laufenden Studie zu berichten: Eine Publikation bekommt leicht einen endgültigen Charakter, obschon explizit erst vorläufige Ergebnisse und Eindrücke berichtet werden. Dennoch wollen wir die Frankfurter Präventionsstudie skizzieren, die wir seit 2003 durchführen. Sie wurde erstmals an der in der Einleitung erwähnten internationalen Tagung ausführlich in verschiedenen Foren dargestellt, um die Diskussion mit Experten und Praktikern zu suchen und daraus sich ergebende neue Gesichtspunkte oder Anregungen bei der weiteren Durchführung der Studie berücksichtigen zu können. Die Frankfurter Präventionsstudie wird von einer großen Forschungsgruppe getragen. Der gesellschaftliche Kontext, in dem die Studie steht, sowie die interdisziplinären Überlegungen, die zur 1 Eine erste Publikation, die sich in einigen Abschnitten mit diesem Beitrag überschneidet, aber andere inhaltliche Fokusse setzt, ist in der Zeitschrift für Analytische Kinder und Jugendlichenpsychotherapie erschienen (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2005).

M. Leuzinger-Bohleber et al. · Die Frankfurter Präventionsstudie

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Wahl des Designs führten, wurden bereits ausführlich in der Einführung zu diesem Band von Marianne Leuzinger-Bohleber geschildert. Daher beginnen wir gleich mit einem kurzen Überblick über Stand der Studie. Darauf berichten Bernhard Rüger, Yvonne Brandl, Oliver Glindemann und Jochen Lendle von ersten statistischen Auswertungen der Basiserhebung, die zwischen September und Dezember 2003 in 114 Städtischen Kindertagesstätten durchgeführt wurde, um eine repräsentative Stichprobe für unsere Studie ziehen zu können. Schließlich geben Christina Waldung, Gerlinde Göppel und Lisa Wolff einen exemplarischen Einblick in eine analytische Kindertherapie, die mit einem fünfjährigen Jungen in einer der beteiligten Kindertagesstätten durchgeführt wird.

■ Zum Stand der Frankfurter Präventionsstudie im Kindergarten ■ Ziele und Fragestellung Hauptziel der Studie ist die empirische Untersuchung der folgenden Fragestellung: Kann ein zweijähriges, psychoanalytisch begründetes Präventions- und Interventionsprogramm zur Verhinderung psychischer und psychosozialer Desintegration bei Kindergartenkindern die Anzahl von mit ADHS diagnostizierten Kindern sowie von Kindern mit anderen psychosozialen Anpassungsstörungen im ersten Schuljahr statistisch signifikant verringern? Damit verbunden sind folgende Teilziele: A) Die psychischen, sozialen und ökonomischen Vorteile integrativer Präventionsangebote für sozial auffällige Kindergartenkinder werden herausgearbeitet und dokumentiert. B) Differenzialdiagnostische Erhebung: Welche unterschiedlichen psychodynamischen Diagnosen, Verhaltensstörungen, soziale Desintegrationsprozesse et cetera verbergen sich hinter der Symptomdiagnose ADHS? Die Studie soll einen Beitrag zu Differenzialdiagnostik im Kindergartenalter leisten.

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Prävention und Frühintervention

C) Schon während ihrer Durchführung kann die Studie durch Supervisionen, gezielte Präventions- und Interventionsangebote für sozial auffällige Kinder und ihre Eltern eine professionelle Unterstützung von Erzieherinnen in sozialen Brennpunkten darstellen. Dadurch dient die Studie gleichzeitig der Forschung und der sozialen Integration von Kindergartenkindern in städtischen Krisengebieten.

■ Theoretischer Hintergrund der Studie und Vorarbeiten Neben den aktuellen Debatten zu ADHS motivierten uns grundlagentheoretische Überlegungen sowie Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zur Durchführung der Frankfurter Präventionsstudie. So wiesen zum Beispiel die Einsichten aus der DFG-Studie zu nicht beschulbaren Jugendlichen von von Freyberg und Wolff (vgl. ihren Beitrag in Leuzinger-Bohleber, Haubl u. Brumlik 2006) auf die enorme Bedeutung früher Präventionen in unserer Gesellschaft hin. Außerdem flossen in die Konzeptualisierung der Studie Ergebnisse eines interdisziplinären Dialogs zwischen Psychoanalytikern und Neurowissenschaftlern (gefördert durch die Köhler Stiftung 1992–1998) ein, das heißt neuere Forschungsergebnisse aus beiden Disziplinen zur Entwicklung des Gehirns, zu Gedächtnis und Traum sowie zu möglichen Einflüssen von psychoanalytischen Therapien auf Veränderungen der Informationsverarbeitung im Gehirn (s. Koukkou et al. 1998; Leuzinger-Bohleber et al. 1998). Die Ergebnisse dieses Austausches führten unter anderem zum Kontakt zwischen Gerald Hüther und Marianne LeuzingerBohleber, eine Voraussetzung für einen produktiven Dialog und eine gute Kooperation in diesem Projekt (vgl. den Beitrag von G. Hüther in diesem Band).

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■ Das psychoanalytisch begründete Präventions- und Interventionsangebot zur Verhinderung psychischer und psychosozialer Desintegration Charakteristische Symptome von Kindern mit psychosozialen Desintegrationen (insbesondere von ADHS) werden psychoanalytisch verstanden als Ausdruck einer innerpsychischen Notlage im Zusammenhang mit einem Entwicklungsdefizit im Bereich der psychischen Regulationsmöglichkeiten, stabiler, »haltender« innerer Objekte, stabiler Selbst- und Objektgrenzen sowie der Fähigkeit zu symbolisieren und zu mentalisieren. Das Kind weist in seinem auffälligen Verhalten auf diese Entwicklungsdefizite und seinen Versuch hin, mit dieser Notsituation umzugehen. Daher ist es aus psychoanalytischer Sicht problematisch, die für das Kind in seiner aktuellen Situation notwendigen Symptome durch ein effizientes Trainingsprogramm oder eine medikamentöse Behandlung zu eliminieren, ohne gleichzeitig zu verstehen zu versuchen, welche Mitteilung zum individuellen psychischen Zustand des betreffenden Kindes in den Symptomen enthalten sind. Ziel des therapeutischen Prozesses und eines verstehenden Umgangs mit dem Kind ist daher, seine individuelle und komplexe aktuelle Lebenssituation sowie biografische, familiäre (und eventuell neurobiologische) Hintergründe zu entschlüsseln, um ihm daraufhin ebenso individuelle und gezielte Förderungsmöglichkeiten anzubieten, um die Entwicklungsdefizite auszugleichen und die selbstregulativen Fähigkeiten zu stärken. Sowohl im pädagogischen als auch im therapeutischen Umgang mit diesen Kindern wird versucht, dass durch eine langsame Veränderung ihrer inneren Situation (vor allem durch neue Beziehungserfahrungen) die Symptome nach und nach entbehrlich werden. Obwohl eine solche Herangehensweise anspruchsvoll und zeitintensiv ist, zeigen viele klinische und pädagogische Erfahrungen, dass sich der Aufwand lohnt, weil er zu nachhaltigen Veränderungen bei diesen Kindern führt. Diese These mithilfe unterschiedlicher methodischer Zugangsweisen empirisch zu belegen, gehört zu den Zielsetzungen dieser Studie. Das Präventionsangebot der Frankfurter Studie stellt eine Modifikation der von Yecheziel Cohen auf psychoanalytischer Grundlage entwickelten Prinzipien des »Residential Treatments« dar, das

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Prävention und Frühintervention

er 25 Jahre lang in einem Heim für Borderlinekinder in Jerusalem praktiziert hat (vgl. Cohen 1984, 1991, 2004). Alle diese Kinder litten aufgrund traumatischer früher Beziehungserfahrungen an einer Störung des Selbst, die zu einer Differenzierungsschwäche zwischen Selbst und Objekt, zwischen Realität und Phantasie und zwischen den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führte. Ein inneres Kontroll- und Regulationssystem, das symbolische Denken und die Mentalisierungsfähigkeiten waren nur mangelhaft entwickelt: Eine starke Stimmungslabilität und häufige Affektdurchbrüche gehörten zu den Folgen. Zudem zeigten diese Kinder Störungen in der Fein- und Grobmotorik, was unter anderem zu häufigen Selbst- und Fremdverletzungen führte. ADHS-Kinder leiden unter analogen Schwierigkeiten. Durch ein komplexes Ineinanderwirken von vermutlich genetischen und psychophysiologischen Faktoren einerseits (vgl. Risikogeburten, Temperamentsforschung, Emde 1988; Stern 1985, 1995) und psychischen und psychosozialen Determinanten andererseits (vgl. frühe Traumatisierungen, depressive Mütter, vgl. Stern 1995; Leuzinger-Bohleber 2001; Hoppe u. Scriba 2005; von Lüpke u. Bürgin in diesem Band) konnten sie zu wenig stabile psychische Strukturen im Bereich des Selbst und der inneren Objekte aufbauen, eine Voraussetzung für eine altersgemäße Regulation von Stimmungen und Affekten. Viele dieser Kinder konnten kein sicheres Bindungsverhalten entwickeln (vgl. u. a. Amft, Gerspach, Mattner und von Lüpke in diesem Band; Bovensiepen et al. 2002; Garlichs u. Leuzinger-Bohleber 1999). Zudem fehlt ihnen weitgehend die Fähigkeit zur inneren und äußeren Triangulierung, das heißt zur Möglichkeit, auf ein stabiles, tragendes und konfliktregulierendes inneres Objekt, den »Dritten«, zurückzugreifen und daher eine adäquate Distanz zur aktuellen Situation zu gewinnen, oft eine der Voraussetzungen zu einer erfolgreichen Affektregulierung und Problemlösung. In dem an Cohen anlehnenden psychoanalytisch begründeten Präventions- und Interventionsprogramm wird versucht, die Defizite der Frühsozialisation zu mildern und die schwach ausgebildeten inneren Regulationssysteme »nachzuentwickeln« und zu stärken. Das Kind soll Vertrauen in seine Selbststeuerung, seine Affektkontrolle und seine soziale Beziehungsfähigkeit entwickeln.

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Kurz zusammengefasst basiert das Präventions- und Interventionsprogramm im Kindergarten auf folgenden Überlegungen: Sensibilisierung der Bedeutung der emotional tragfähigen Beziehung zwischen Kind und Erzieherin in den Kindertagesstätten: Sozial auffällige Kinder haben meist in ihren Familien zu wenig emotional tragfähige Beziehungen erlebt. Oft sind sie daher schon im Kindergarten misstrauisch und erwarten Unzuverlässigkeit, Affektdurchbrüche oder anderes unberechenbares Verhalten vonseiten der Erwachsenen. Daher ist für solche Kinder ein professionell empathischer, warmer und für das Kind berechenbaren Umgang der Erzieherinnen und Erzieher in einer vertrauensvolle Atmosphäre, die dem Kind ein basales Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit vermittelt – wie viele Studien im Bereich der Psychoanalytischen Pädagogik belegen – von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Diese Grundhaltung der Erzieher kann als Haltefunktion (holding function nach Winnicott 1967) charakterisiert werden. Sie ist eine Voraussetzung für die Nachentwicklung der inneren Regulationssysteme des Kindes, die sukzessiv zu einer vermehrten Steuerung und Kontrolle seiner Affekte und Impulse beitragen kann. Das sukzessive Entwickeln eines sozialen Regelsystems, das dem Kind nicht autoritär aufgesetzt, sondern in einem emotional tragenden, sicheren Beziehungsgefüge zusammen mit dem Kind »ausgehandelt« und dem Entwicklungsalter entsprechend gemeinsam »gelernt« und »reflektiert« wird, ist Voraussetzung für Internalisierungsprozesse, die nicht durch eine Unterwerfung, sondern durch eine Stabilisierung von Selbst und Autonomie gekennzeichnet sind (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Garlichs 1993). Stärken und Entwickeln der äußeren und inneren Fähigkeit zur Triangulierung sind Voraussetzung zur Affektregulierung und adäquaten Problemlösung (vgl. von Klitzing et al. 1995; von Klitzing 2002). Die persönliche Zuwendung zum Kind wird ergänzt durch eine Reihe pädagogischer Maßnahmen, die in Kooperation mit den Erzieherinnen und Erziehern in Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse in den einzelnen Kindertagesstätten angeboten werden (Rhythmisierung des Tagesablaufs, sukzessives Einfügen des Kindes in die soziale Gruppe, Förderung der Körperkontrolle

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Prävention und Frühintervention

durch Gymnastik, musikalische Früherziehung, Psychomotorik, kreatives Gestalten etc.) (vgl. dazu Amft et al. 2004). Das Präventionsangebot besteht aus folgenden Bausteinen: – Weiterbildung der Erzieherinnen; – regelmäßige psychoanalytisch fundierte Supervision durch professionelle Supervisoren; – Arbeit mit den Kindergruppen durch psychoanalytisch geschulte Projektmitarbeiterinnen; – bei Einzelfällen: zusätzliche Familien- oder Einzeltherapien durch analytische Kinder- und Jugendlichentherapeuten; – Elternarbeit in Gruppen und eventuell auch einzeln; – falls notwendig: Zusammenarbeit mit dem Sozial- und Jugendamt; – im zweiten Projektjahr: Schulung der Erzieherinnen im Gewaltpräventionsprogramm FAUSTLOS (vgl. Cierpka in diesem Band) und Implementierung des Programms zusammen mit den Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern in den beteiligten Kindertagesstätten.

■ Das Interventionsangebot: Psychoanalytische Einzel- und Familientherapien basierend auf einem »Treatment Manual« Adelheid Staufenberg, Sabine Eckert, Doris von Freyberg-Döpp, Eva Hédervári-Heller, Barbara Reis und Marianne Leuzinger-Bohleber fassten die bestehenden Konzepte für analytische Behandlungen von Kindern mit psychosozialen Desintegrationen in der erwähnten Publikation (Leuzinger-Bohleber et al. 2005) erstmals zusammen. Auf den dort beschriebenen Konzepten beruhen die einzelanalytischen Angebote an die Kinder und ihre Familien, die im Rahmen der Studie in den Kindertagesstätten selbst oder in Privatpraxen durchgeführt werden. Das »Treatment Manual« wird zurzeit weiter überarbeitet und mit der Entwicklung eines »Adherence Manuals« verbunden. Zudem wird eine ausführliche Publikation dazu vorbereitet.

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■ Zum Stand der Durchführung der Studie: Januar 2006 Fragebogenuntersuchungen und Auswertungen quantitativer Daten: Die Daten der Basiserhebung sind inzwischen ausgewertet. Die weiteren bisher erhobenen Fragebogendaten werden zurzeit noch ausgewertet. Qualitative Erhebungen im Rahmen der Studie: Neben diesen gruppenstatistischen Untersuchungen und geplanten Vergleichen stehen bei den psychoanalytischen Betrachtungen qualitative Datenerhebungen, das heißt verschiedene Formen von Einzelfallstudien im Zentrum (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber 1995; Stuhr u. Deneke 1993; Leuzinger-Bohleber, Dreher, Canestri 2003). Dabei geht es um das Verstehen der idiosynkratischen, unbewussten Determinanten von Erleben und Verhalten. Die zehn pädagogischen und psychologischen Mitarbeiter unseres interdisziplinären Forschungsteams sind einmal wöchentlich in den Kindertagesstätten beziehungsweise den einzelnen Kindergruppen anwesend. Im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung werden dabei weitergehende Informationen über einzelne Kinder, über Gruppendynamiken und Entwicklungsverläufe gesammelt und in speziell für diesen Zweck entwickelten Protokollbögen systematisch dokumentiert. Zudem bieten die Mitarbeiter spezifische präventive Angebote an, die auf einzelnen Kinder oder Kindergruppen zugeschnitten sin. In dem ersten Jahr der Studie hat sich gezeigt, dass die Supervisionen durch die erfahrenen psychoanalytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten sowohl für die Erzieherteams der einzelnen Kitas als auch für uns als Forschungsteam von großer Bedeutung sind. Konzeptuell handelt es sich dabei um so genannte fallzentrierte Supervisionen. In den Supervisionen wird ein Raum angeboten, über einzelne Kinder zu sprechen, nachzudenken, eigene Reaktionen und Affekte zu reflektieren und mithilfe der Supervisoren ein »Fallverständnis« für das einzelne Kind zu entwickeln. Für das Forschungsteam stellt die Supervision einen unverzichtbaren Rahmen dar, der es den Nicht-Psychoanalytikern ermöglicht, ihre Beobachtungen zu schulen und ihre Erfahrungen in den Kitas, die häufig von schwer durchschaubaren Dynamiken und heftigen Affekten geprägt sind, zu verstehen.

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Prävention und Frühintervention

Als weiterer entscheidender Baustein des Projekts haben sich für die Kinder die Vorgespräche beziehungsweise Einzeltherapien durch analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten erwiesen, bei denen sich im Gespräch mit Erziehern und Eltern ein Einzelbehandlungsbedarf herauskristallisiert. Oft erweist sich unsere anfängliche Vermutung als richtig, dass durch das Angebot von analytischen Kindertherapien in den Einrichtungen selbst Familien erreicht werden können, für die die Schwelle zu hoch wäre, ihr Kind in eine psychotherapeutische Privatpraxis zu bringen. Zu den Zielen der Arbeit mit und in den Kitas gehört es, dass die Intervention (also die Kombination aus Supervision, unserer Anwesenheit in den Kindergruppen, Gesprächen zwischen den Projektmitarbeitern und Erziehern einschließlich der Rückmeldung ihrer Beobachtungen) den professionellen Umgang mit den Kindern zu unterstützen. Um dies zu verdeutlichen, sollen noch einmal etwas genauer Position und verschiedene Aufgabenbereiche des Forschungsteams (das heißt der Pädagogen und Psychologen, die wöchentlich in den Einrichtungen arbeiten) charakterisiert werden. Ihre zentrale Position im Rahmen des Projekts ist eine der Vermittlung einerseits zwischen der Studie und den Kitas (sie haben den Kontakt aufgenommen, Informationsabende für Kita-Teams sowie Elternabende organisiert, berichten in regelmäßigen Abständen über den Stand der Studie, sind für die Datensammlung zuständig) und andererseits zwischen Erziehern, Eltern, Kindertherapeuten und weiteren Experten (Kinderärzten, Sozialarbeitern, Familienhilfe etc.). Als teilnehmende Beobachter stehen sie in direktem Kontakt zu den Kindern und bieten den Erziehern, abgestimmt auf die jeweiligen Bedürfnisse der Institution und der Kindergruppen, spezifische pädagogische Anregungen an zur Prävention psychosozialer Desintegration und von ADHS. Im zweiten Projektjahr unterstützen sie die Erzieher aktiv bei der Durchführung von FAUSTLOS. Noch eine kurze Bemerkung zu unserer Hypothese der Wirkung des Präventions- und Interventionsprogramms: Alle eben beschriebenen Bausteine dienen, systemtheoretisch betrachtet, dazu, die tragenden und integrativen Kräfte im System »Kindertagesstätte« zu unterstützen. Die Gesamtwirkung des Programms wird daher nicht einer einzelnen Intervention zugeschrieben, son-

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dern beruht auf dem Zusammenwirken der unterschiedlichen Angebote. Teilweise müssen die Bausteine in spezifischer Form auf die jeweilige Einrichtung zugeschnitten werden.

■ Organigramm Die Durchführung dieser Studie erfordert einen hohen organisatorischen Aufwand. Dazu im Überblick: Projektleitung: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt/Main; Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe, Universität Göttingen. Statistischer Berater: Prof. Dr. Bernhard Rüger, Institut für Statistik, Universität München. Psychoanalytische Berater: Angelika Wolff, niedergelassene analytische Kinder- und Jugendlichentherapeutin und langjährige Leiterin des Instituts für Analytische Kinder- und Jugendlichentherapie; Dipl.-Päd. Adelheid Staufenberg, analytische Kinderund Jugendlichentherapeutin, Frankfurt/Main; Prof. Dr. Dieter Bürgin, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Basel; Prof. Dr. Peter Riedesser, Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie, Hamburg; Dr. med. Annette Streeck-Fischer, Kinder- und jugendpsychiatrische Klinik Tiefenbrunn, Göttingen; Dr. Bernd Henke, analytischer Kinder- und Jugendlichentherapeut und -psychiater, Hamburg. Wissenschaftlich-statistische Leitung: Priv.-Doz. Dr. Stefan Hau, Sigmund-Freud-Institut; Dr. Yvonne Brandl, Sigmund-Freud-Institut. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Lars Aulbach, Förderschullehrer; Betty Caruso, M. A.; Katrin Einert, Dipl.Päd.; Gerlinde Göppel, Dipl.-Psych.; Paula Hermann, cand. psych.; Pawel Hesse, cand. päd.; Jantje Heumann, Grundschullehrerin; Gamze Karaca, cand. psych.; Julia König, cand. päd.; Jochen Lendle, Dipl.-Psych.; Alex Schwenk, stud. psych.; Sibylle Steuber, Dipl.-Psych.; Christiane Uhl, Dipl.-Supervisorin, Pädagogin; Judith Vogel, Dipl.-Psych., Lisa Wolff, Dipl.-Psych. Supervisoren für die Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Fallsupervision: Renée Meyer zur Capellen, Lehrana-

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Prävention und Frühintervention

lytikerin der DPV (Fallsupervision); Ulrike Jongbloed (Projektsupervision für das Präventionsprogramm in den Kindertagesstätten). Supervisoren für die 14 beteiligten Kindertagesstätten: Doris von Freyberg, Dr. Eva Hédervári-Heller, Marion Herrmann, Frank Peter Hopf, Ulrike Jongbloed, Walter Kröger, Marianne LeuzingerBohleber, Sevgi Meddur-Gleissner; Angelika Proschwitz, Barbara Reis, Heidi Staufenberg, Angelika Wolff. Planung und Durchführung der Basiserhebung zusammen mit den Mitarbeiterinnen des Städtischen Schulamts in allen städtischen Kindestagesstätten (inklusive Erfassung und Auswertung der Daten durch ein statistisches Team) unter der Leitung von Bernhard Rüger, Oliver Glindemann, Yvonne Brandl und Stephan Hau.

■ Ergebnisse der statistischen Analysen der Basiserhebung ■ Basiserhebung Zur Durchführung der randomisierten, kontrollierten Studie war es notwendig, eine so genannte Basiserhebung durchzuführen. Diese wurde im Herbst 2003 in den 114 städtischen Kindergärten der Stadt Frankfurt/Main (132 Kindertagesstätten, vermindert um 18 reine Kinderhorte) durchgeführt. In diesen 114 Kindergärten befinden sich 4.500–5.000 Kinder, darunter 2.700 bis 3.000 Kinder, die als drei- oder vierjährige im Herbst 2003 neu aufgenommen wurden. An diese richtet sich die Basiserhebung: Für ihre Geburt wurde als Zeitfenster das Intervall August 1998 bis Juli 2000 festgelegt. Die Erhebung umfasst die Daten aus drei Erhebungsbögen: 1) Kindergartenvertrag der Stadt Frankfurt für jedes neu aufgenommene Kind. 2) Erhebungsbogen der Stadt Frankfurt über die Kindergärten. 3) Döpfner-Erzieher-Fragebogen zur Verhaltensbeurteilung eines Kindes.

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Die Daten zu (1) und (2) wurden von der Stadt Frankfurt als (nahezu vollständige) Totalerhebungen zur Verfügung gestellt. Daraus wurden für jeden Kindergarten in die Basiserhebung übernommen: Anzahl der Kinder und Gruppen, Anzahl der Kinder mit Geburtsdatum im Zeitfenster, Anzahl der Fälle mit (teilweise oder vollständiger) Beitragsübernahme durch die Stadt, Anzahl der Ausländer- und/oder Aussiedlerkinder (Letzteres leider mit unscharfer, überlappender Abgrenzung und Mehrfachnennungen). Die Daten zu (3) wurden durch eine eigene Erhebung des Sigmund-Freud-Instituts erfasst, zunächst als 50-prozentige Stichprobe (systematische Zufallsauswahl) aus jedem Kindergarten (bezogen auf die Kinder des Zeitfensters). Um die in den einzelnen Kindergärten sehr unterschiedlichen Rücklaufquoten zu erhöhen, wurde eine Nacherfassung im Frühjahr 2004 vorgenommen, sodass nun ein genügend guter Rücklauf vorliegt. Der Döpfner-Erzieher-Fragebogen umfasst 44 Items (mit den Stufen 0, 1, 2, 3, 4), die auf vier Skalen abgebildet werden; davon wurden drei Skalen ausgewertet. (Die Skala »soziale Kompetenz« war aus verschiedenen Gründen nicht direkt verwendbar.) Die drei ausgewerteten Skalen lauten (eigene Reihenfolge und Bezeichnung): Skala 1: Hyperaktivität (10 Items, Summenscore 0–40, 80 %Staninewert bei 26, kritischer Wert hier bei 25). Skala 2: Aggressivität (12 Items, Summenscore 0–48, 80 %-Staninewert bei 18, kritischer Wert hier ebenfalls bei 18). Skala 3: Ängstlichkeit (12 Items, Summenscore 0–48, 80 %-Staninewert bei 16, kritischer Wert hier ebenfalls bei 16). Zusätzlich enthält der Döpfner-Fragebogen eingangs noch drei Fragen zur globalen Beurteilung nach den drei genannten Skalen, nämlich Globalbeurteilung A: Hyperaktivität (Stufen 0, 1, 2, 3; kritischer Wert hier bei 2). Globalbeurteilung B: Aggressivität (Stufen 0, 1, 2, 3; kritischer Wert hier bei 2). Globalbeurteilung C: Ängstlichkeit (Stufen 0, 1, 2, 3; kritischer Wert hier bei 2).

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Prävention und Frühintervention

Die Basiserhebung dient erstens einer Clusterbildung unter den Kindergärten (als Grundlage einer repräsentativen Stichprobenerhebung) und zweitens einer Eingangsbeurteilung von Kindern und Gruppen (als Grundlage von Prä-Post-Vergleichen) (zu ersten Ergebnissen der statistischen Analysen dieser Daten: vgl. Rüger 2005).

■ Clusterbildung Zur Clusterbildung der Kindergärten wurden einerseits die Sozialstruktur (Daten aus den Kindergartenverträgen) und andererseits die Häufigkeiten psychisch auffälliger Kinder in dem betreffenden Kindergarten zugrunde gelegt. Dazu wurden die folgenden Dichotomisierungen vorgenommen: Die Sozialstruktur wurde nur nach dem Anteil der Kinder mit Beitragsübernahme durch die Stadt gemessen und unterschieden in »eher problematisch« (bei einem Anteil von mehr als 50 %) und »eher unproblematisch« (bei einem Anteil von höchstens 50 %). Weitere sozioökonomische Merkmale (Anteil von Ausländern oder Aussiedlern) wurden hier noch nicht in Betracht gezogen. Die Häufigkeiten psychisch auffälliger Kinder wurde nach allen drei oben genannten Skalen getrennt berücksichtigt: Als psychisch auffällig wurde ein Kind eingestuft, wenn sein Summenscore auf der betreffenden Döpfner-Skala den oben angegebenen kritischen Wert übersteigt; jeder Kindergarten wurde für jede Skala nach »hoch« oder »niedrig« unterschieden, je nachdem, ob sein Anteil psychisch auffälliger Kinder oberhalb des Medians der relativen Häufigkeiten aller Kindergärten liegt oder nicht (zusammen acht Cluster). Die Kindergärten ohne jeden Rücklauf des Döpfner-Fragebogens wurden gesondert gruppiert; sie konnten nur in die beiden Cluster nach ihrer Sozialstruktur eingeteilt werden. Auf diese Weise ergäben sich insgesamt 2 x 8 + 2 = 18 Cluster, etwas zu viele, als dass aus jedem von ihnen wenigstens ein Kindergarten für die Präventionsgruppe ausgewählt werden könnte. Daher wurden die acht Cluster, die sich aus den drei Döpfner-Skalen ergaben, formal in nur vier Cluster zusammengefasst, indem

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zunächst die dritte Skale außer Acht blieb, aber innerhalb dieser vier Cluster mit einem * markiert wurde (oder nicht), ob der betreffende Kindergarten bezüglich der dritten Skala als »hoch« einzustufen ist (oder nicht). Damit erhält man dann noch 2 x 4 + 2 = 10 Cluster. Die dazugehörige Clusterung, wie sie sich aus der Basiserhebung ergeben hat, ist in Tabelle 1 wiedergegeben. Tabelle 1: Die Clusterung der Grundgesamtheit aller Kindergärten (ohne Nennung der einzelnen Kindergärten). Sozialstruktur eher problematisch

Sozialstruktur eher unproblematisch

Summe

Hyperakt. hoch Aggressiv. hoch

Cluster 1: umfasst 11 Kindergärten

Cluster 2: umfasst 10 Kindergärten

21

Hyperakt. hoch Aggressiv. niedrig

Cluster 3: umfasst 11 Kindergärten

Cluster 4: umfasst 8 Kindergärten

19

Hyperakt. niedrig Aggressiv. hoch

Cluster 5: umfasst 4 Kindergärten

Cluster 6: umfasst 14 Kindergärten

18

Hyperakt. niedrig Aggressiv. niedrig

Cluster 7: umfasst 16 Kindergärten

Cluster 8: umfasst 11 Kindergärten

27

Ohne Fragebogenrücklauf

Cluster 9: umfasst 18 Kindergärten

Cluster 10: umfasst 11 Kindergärten

29

Summe

60

54

114

Auch wenn diese Clusterung in erster Linie der Auswahl repräsentativer Stichproben dient, könnte hier die weitergehende Frage aufkommen, ob denn nicht in den Häufigkeiten (Besetzungszahlen) für die Cluster eine Abhängigkeit psychischer Auffälligkeiten von der Sozialstruktur erkennbar wäre. Die Antwort (gegeben durch den Chi-Quadrat-Test) lautet (auch bei Weglassen der beiden letzten Cluster) eindeutig: Nein. Mit anderen Worten: In der hier vorliegenden, relativ groben Verteilung der Kindergärten nach Sozialstruktur und Anzahl psychisch auffälliger Kinder ist keine Abhängigkeit (eher sogar eine Unabhängigkeit) zwischen den beiden Variablen erkennbar. Das gleiche Resultat ergibt sich, wenn man die Variable Sozialstruktur mit jeder der drei Skalen psychi-

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Prävention und Frühintervention

scher Auffälligkeiten einzeln in Beziehung setzt und die drei so entstehenden Vierfeldertafeln testet: In jeder dieser Tafeln erkennt der Test auf Unabhängigkeit.

■ Stichproben: Präventions- und Kontrollgruppe Als Stichprobe für die Präventionsgruppe wurde zunächst aus jedem der zehn Cluster je ein Kindergarten zufällig ausgewählt. Diese zehn (für die Grundgesamtheit repräsentativen) Kindergärten wurden dann um vier weitere (zwei aus Cluster 1 und je einer aus den Clustern 2 und 6), zufällig ausgewählte ergänzt, damit zur späteren Bildung von Fallgruppen genügend viele (in den besonders wichtigen Skalen 1 und 2) psychisch auffällige Kinder untersucht werden könnten. In diesen 14 Kindergärten der Präventionsgruppe wurde die 50-prozentige Basiserhebung auf eine 100prozentige ergänzt. Die Kontrollgruppe, besser: Vergleichsstichprobe wurde nicht von vornherein, sondern erst nachträglich (Anfang 2005) gebildet. Durch die vorgenommene Basiserhebung konnte nämlich die Grundgesamtheit (natürlich abzüglich der Präventionsstichprobe) wie eine Art »potenzielle Kontrollgruppe« auf Vorrat gehalten werden, aus der dann die tatsächliche Kontrollgruppe (mit ebenfalls 14 Kindergärten wie in der Präventionsgruppe) ausgewählt wurde. Dies geschah nach der »matched pairs method«. Zu jedem Kindergarten der Präventionsgruppe wurde ein »möglichst gleicher« Kindergarten ausgewählt: Jeweils beide Kindergärten gehören demselben Cluster an, besitzen dieselbe Ausprägung der Kategorie * und haben auch eine sehr ähnliche Struktur nach Größe und Anteil von Ausländer- und Aussiedlerkindern. In diesen 14 Kindergärten der Vergleichsstichprobe wurde die 50-prozentige Basiserhebung ebenfalls auf eine 100-prozentige ergänzt. Basisvergleiche (»Prä-Vergleiche«) der beiden Gruppen: Die Erhebungen in den Kindergärten der Präventions- und Kontrollgruppe wurden einander gegenübergestellt. Wiederum können wir aus Diskretionsgründen die Daten dazu hier nicht veröffentlichen.

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■ Messinstrumente und Messzeitpunkte Zur Messung der Verhaltensauffälligkeiten der Kinder wird als durchgängiges gemeinsames Instrument in der Präventions- und Kontrollgruppe der Döpfner-Fragebogen für Erzieher (DÖP) eingesetzt, und zwar in beiden Gruppen etwa Ende 2003 (vor Beginn der Interventionen in der Präventionsgruppe) mit einer Nacherhebung im Frühjahr 2004 und danach zur Einschulung im Herbst 2005 und Herbst 2006 jeweils getrennt nach den beiden Einschulungsjahrgängen. Weiterhin werden als Messinstrumente eingesetzt: die beiden Conners-Wells-Fragebögen (CWF) für Eltern (CPRS) beziehungsweise Lehrer (CTRS) und die beiden Child Behaviour Check Lists (CBC) für Eltern (CBCL) und für Lehrer (CTRF). Die betreffenden Messungen wurden/werden an den in Abbildung 1 erkenntlichen Zeitpunkten vorgenommen. Messinstrumente (Abkürzungen wie im Text) CWF CWF CWF CWF CBC CBC CBC CBC DÖP DÖP DÖP Präventionsstichprobe

Präventionsstichprobe

Kindergartenjahr I

Kindergartenjahr II

Kindergartenjahr II

Erstes Schuljahr

Kindergartenjahr I

Kindergartenjahr II

Kindergartenjahr II

Erstes Schuljahr

DÖP

DÖP DÖP CBC CBC CBC CWF CWF CWF Messinstrumente (Abkürzungen wie im Text) Abbildung 1: Messinstrumente und Messzeitpunkte

CWF CBC DÖP Erstes Schuljahr

Erstes Schuljahr

DÖP CBC CWF

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Prävention und Frühintervention

■ Hinweise auf mögliche statistischen Vergleiche Das statistische Design ermöglicht (für die gemeinsam eingesetzten Messinstrumente und übereinstimmenden Messzeitpunkte) Prä-Post-Vergleiche der Präventionsgruppe und/oder Vergleiche zwischen der Präventions- und Kontrollgruppe; in beiden Fällen können die Vergleiche (mit entsprechenden statistischen Tests) auf den folgenden drei Ebenen durchgeführt werden: Globale Gruppenvergleiche: Die Präventionsgruppe wird global in Hinblick auf die Prä-Post-Änderungen ihrer psychischen Auffälligkeiten pro Kindergarten (Anzahl und Ausmaß) untersucht und mit der Kontrollgruppe verglichen. Die Stichprobenumfänge (n=14 Kindergärten in jeder Gruppe) sind zwar relativ klein; da aber die Beobachtungs-»Werte« Mittelwerte sind (gemittelt über die Differenzen von Messwerten der Kinder eines Kindergartens), kann eine sehr kleine Varianz unterstellt werden, sodass die Power der betreffenden Vergleichstests doch noch hinreichend groß zu werden verspricht. Lokale Gruppenvergleiche: Innerhalb der Präventions- und Kontrollgruppe werden verschiedene »Fallgruppen« gebildet (beispielsweise die Fälle der hyperaktiv stark auffälligen Kinder, die »ADHS-Fälle«) und diese dann bezüglich Häufigkeit und Ausmaß erreichter Verbesserungen verglichen. (Auch die »Unauffälligen«, die »Gesunden« könnten als eine solche Fallgruppe gebildet und zum Vergleich herangezogen werden.) Auch bei relativ niedrigen Prävalenzraten von 5 bis 10 Prozent liegen die Stichprobenumfänge für die Fallgruppen (unter anderem wegen der oben angegebenen zusätzlichen Auswahl der vier Kindergärten aus den Clustern 1, 2 und 6) immer noch bei 30 bis 40, sodass eine genügend hohe Testpower erreicht wird. Individuelle Vergleiche: Zu jedem Kind aus der Präventionsgruppe wird ein Kind mit möglichst ähnlicher Eingangsbeurteilung aus der Kontrollgruppe bestimmt (matched pair). Alle so gebildeten Paare bilden eine Stichprobe mit relativ großem Umfang. Die Paare dieser Stichprobe werden nach Häufigkeit und Ausmaß erreichter Verbesserungen untersucht. Die Power der betreffenden Tests für diese verbundene Stichprobe ist (bei einem zu erwartenden Stichprobenumfang von etwa 300) hinreichend hoch. Auch

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hier können noch einzelne Fallgruppen miteinander verglichen werden.

■ Einzeltherapien Eine offene Frage unseres Projekts bestand darin, ob es uns gelingen wird, Kindergartenkinder aus bildungsfernen Schichten, die dringend psychotherapeutische Hilfe benötigen, aber kaum die Schwelle zum niedergelassenen Therapeuten oder einer Ambulanz überwinden, durch unser Angebot zu erreichen. Inzwischen ist es gelungen, bei 13 solcher Kinder eine Therapie einzuleiten. Bei acht Kindern waren die Eltern nicht bereit, angeratene therapeutische Hilfe anzunehmen. Nach den Werten des Döpfner Fragebogens für Erzieher und Eltern, des Conners-Wells-Fragebogen für Eltern und Lehrer und den beiden Child Behaviour Check Lists für Eltern und Lehrer zeigen die meisten dieser Kinder hyperaktive Störungen nach ICD-10, F90.0/F90.1. Die Einzeltherapien werden nach einem Manual psychoanalytischer Behandlungen von Kindern mit hyperaktiven Störungen durchgeführt, das 2004 von einer Gruppe kinderanalytischer Kolleginnen erarbeitet wurde. Die Behandlungen sind noch nicht abgeschlossen.

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Prävention und Frühintervention

■ Christina Waldung, Gerlinde Göppel und Lisa Wolff

Ein Fallbeispiel

Dies ist der erste ausführlichere Fallbericht, der aus der Frankfurter Präventionsstudie mit dem Einverständnis der Eltern veröffentlicht wird. Das darin enthaltene Material stammt hauptsächlich von der behandelnden Kindertherapeutin. Der Junge, um den es hier geht, er wird hier Peter genannt, gehört zu den Kindern, die Symptome des so genannten ADHS aufweisen: Motorische Unruhe gekoppelt mit schneller Ablenkbarkeit und starken Konzentrationsschwierigkeiten. Neben den Informationen von Peters Therapeutin flossen Beobachtungen und Erfahrungen der für die Kindertagesstätte zuständigen Projektmitarbeiterin, Gespräche mit der Kita-Leiterin und den Erzieherinnen, der Supervisorin sowie der Familienhelferin, die in Peters Familie eingesetzt ist, in den Bericht ein. Peter ist ein fünfjähriger Junge, der seit etwa zwei Jahren in der Kita untergebracht ist – einer Einrichtung, deren Einzugsgebiet sich als sozialer Brennpunkt bezeichnen lässt. Bei den ersten Besuchen der Projektmitarbeiterin in der Kita fällt er zunächst durch »hibbelige« Gestik, hyperaktives Umherrennen und mitunter hochaggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern auf. Der Projektmitarbeiterin gegenüber verhält er sich neugierig und auf etwas vereinnahmende Art kontaktfreudig. So möchte er gleich beim ersten Kennenlernen auf ihren Schoß und unterhält sich so intensiv mit ihr, dass sie kaum dazu kommt, sich mit anderen Kindern zu beschäftigen. Er fordert sie häufig zum gemeinsamen Spiel auf, doch kaum wird mit dem Spiel begonnen, ist er schon wieder abgelenkt, wirkt abwesend, hält es nicht aus, still zu sitzen und möchte etwas anderes unternehmen. Zuweilen zeigt er eine verhältnismäßig feminine Gestik, die zunächst unverständlich bleibt. Zudem gerät er immer wieder in »krumme Sachen« hinein, lässt sich dann von anderen Kindern zum Schlagen, Lügen und Stehlen anstiften. In einer beobachteten Szene bearbeitet er gemeinsam

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mit anderen Kindern ein kleineres Kind mit Fußtritten, ein anderes Mal hat er heimlich den Turnhallenschlüssel der Kindertagesstätte entwendet. Die Erzieherin findet den Schlüssel einige Zeit später an seinem Schlüsselbund. Zur Rede gestellt, muss er die Angelegenheit wohl oder übel gestehen. Peter wird zum Thema der ersten Supervisionssitzung der Erzieherinnen. Aktueller Anlass dafür war, dass er seine Lieblingserzieherin angespuckt und ein anderes Kind heftig in den Bauch getreten hatte. Schnell wird deutlich, dass alle Erzieherinnen des Teams mit ihm schon problematische Situationen erlebt hatten. Zwar waren sie über das, was er in seiner, wie sich herausstellte, sehr schwierigen Familie tagtäglich erlebt, betroffen, aber im KitaAlltag hatten sie zuvor selten genügend Zeit gefunden, ausführlich über ein einzelnes Kind zu sprechen. Im Vordergrund stand dann zwangsläufig das störende, zum Eingreifen zwingende Verhalten, das wütend macht und kränkt, wie zum Beispiel das Anspucken. Die Leiterin berichtete, Peter habe der Köchin erzählt, er wolle manchmal nicht mehr leben. Zu Hause war der Satz gefallen, dass er – wie seine beiden älteren Geschwister – eventuell auch ins Heim müsse. In der Supervision wird vermutet, dass Peter durch das Anspucken seiner Lieblingserzieherin seine Angst vor einem potenziellen Verlust inszenierte, indem er in dieser wegwerfenden Geste die eigene Abhängigkeit vom Liebesobjekt verleugnet. Er provoziert durch dieses Verhalten gleichzeitig, dass er wenigstens selbst schuld ist, wenn das Objekt sich abwendet, dass er nicht passiv abwarten muss, bis er »weggeschickt und abgeschoben« wird. Nach und nach wird mehr über den familiären Hintergrund des Kindes bekannt: Die Familienhelferin wurde in der Familie eingesetzt, nachdem die Mutter mehrmals Mann und Kinder verlassen hatte. Obwohl die Eltern sich scheiden ließen, lebt das Paar nun wieder zusammen. Die Mutter stammt aus einer Alkoholikerfamilie. Sie sagt, sie habe keine Berufsausbildung zu Ende bringen können, da sie aufgrund der Alkoholabhängigkeit des Vaters dafür nicht die nötige Energie aufbringen konnte. Sie wurde zeitweilig selbst alkoholabhängig, hat dieses Problem aber mittlerweile in den Griff bekommen. Stattdessen hat sie ein anderes suchtartiges Verhalten entwickelt: Zurzeit surft sie ohne Unterlass im Internet. Der Körperkontakt zu ihren Kindern ist ihr unmöglich, sie kann

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sie nicht anfassen. Während der Schwangerschaft mit Peter erlitt sie einen psychischen Zusammenbruch. Die beiden älteren Kinder wurden daraufhin, zeitlich etwas verzögert, aus der Familie genommen. Beim Reden scheint Peters Mutter assoziativ gelockert, überschüttet ihre Gesprächspartner im Versuch der Kontrolle mit einem Wortschwall und springt von einem Thema zum nächsten. Peters Vater ist aufgrund einer chronischen Krankheit vor kurzem arbeitslos geworden. Offenbar leidet er unter der Angst, seine Frau (wieder) zu verlieren, und ordnet sich in Abwehr der Aggression ihren Wünschen unter – er fügt sich vordergründig allem, hat insgeheim jedoch oft eine andere Position. Das geheime Denken ist möglich in dieser Familie. Seine eigene Kindheit war geprägt durch extreme Trennungserfahrungen: Der Vater starb noch vor seiner Geburt, die Mutter gab ihn zur Großmutter. Als die Großmutter starb, wurde er fremduntergebracht. Er ist in dritter Ehe verheiratet. Ursprünglich übte er einen akademischen Beruf aus. Die Trennungserfahrung von seiner ersten Frau, die an unverarbeitete traumatische Trennungen aus früher Kindheit rührte, führte vermutlich zu einem partiellen psychischen Zusammenbruch. In der Folge gab er seinen Job auf und lebte später von einfacheren Tätigkeiten. Seine zweite Frau starb. Sich wiederholende, schwere Trennungserlebnisse ziehen sich somit durch sein Leben. Die Therapeutin beschreibt die Familie als »labiles Gefüge«. Unverarbeitete eigene psychische Konflikte der Eltern führen zu einer brüchigen, von permanenten Trennungsthemen beherrschten Paarbeziehung – dies führt bei dem Kind zu großen inneren existenziellen Unsicherheiten. Der Separationskonflikt ist nicht ausreichend bewältigt. In Identifikation mit den Eltern erlebt Peter jede Form von Trennung als unerträglich. Wenn man als eigenständiges und damit nicht kontrollierbares Subjekt auftritt, scheint ihm dies Angst zu bereiten. So kann er es nicht ertragen, wenn die Therapeutin sagt: »Ich denke …«, »ich habe den Eindruck …« et cetera, da sie mit ihrer eigenen Meinung eben diese Getrenntheit zum Ausdruck bringt. Eng und ambivalent an die Mutter gebunden, wagt er sich nicht zu separieren. Der Vater wagt es nicht, nachhaltig als trennender Dritter zwischen Mutter und Sohn zu gehen. In der Familie herrschen Zweierbeziehungen vor: entweder eng mit der Mutter verbunden und manchmal, vermut-

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lich eher im Geheimen, eng mit dem Vater verbunden. Der Vater hat nicht die Bedeutung des trennenden väterlichen Dritten, sondern er möchte die bessere mütterliche Mutter sein. Beide Eltern versuchen bei diesem Kind nicht zu scheitern. Peter lebt auch in der Größenphantasie, Mutter und Vater zusammen zu halten, beziehungsweise sie darin zu bestätigen und ihnen die narzisstische Gratifikation zu liefern, dass sie wirklich gute Eltern sind. Manchmal versucht er beim Vater, die bessere und interessantere Frau zu sein, eher seltener vermittelt er seiner Therapeutin in der mütterlichen Übertragung, dass er ihr als ödipaler Junge gefallen möchte. Separation und Integration des symbolischen Dritten, die Triangulierung, sind die Voraussetzung für die Fähigkeit zu symbolisieren und zu denken. Wenn Peter scheinbar unvermittelt von einem Thema zum nächsten springt, setzt er die Brüche in Szene, die er mit der Mutter erlebt. Auch die manische Abwehr seiner Ängste vor Getrenntheit wird damit dargestellt. In dem Bemühen, die Therapeutin zu kontrollieren, die Trennung abzuwehren, ist er auf der Flucht vor dem als verfolgend überwältigend phantasierten Objekt, und überschüttet die Therapeutin mit Spielabbrüchen und Fragmenten. Länger bei einem Thema zu verweilen, birgt vermutlich durch das potenzielle Entstehen intensiver Gefühle eine zu große Gefahr für das schwache Ich des Patienten. Die Angst vor der Brüchigkeit der Abwehr steigt. Als realer Erfahrungshintergrund für diese massiven Ängste darf nicht vergessen werden, dass die beiden älteren Geschwister tatsächlich von der Familie getrennt wurden und ins Heim kamen, und dass die Mutter die Familie mehrfach verließ, und somit die Bedrohung einer erneuten Trennung durchaus real ist. Das heißt, für den Jungen wurden beängstigende Phantasien rund um den altersüblichen Separationskonflikt real, sie wirken somit traumatisch. Darüber hinaus wurden Beseitigungswünsche hinsichtlich der Geschwisterrivalität ebenfalls real. Einige weitere analytische Überlegungen und Hypothesen zum aktuellen psychischen Zustand von Peter: Im Zusammenhang mit der Identifikationsproblematik und der Ausgestaltung seines ödipalen Konflikts könnte unter anderem die feminine Gestik, die der Junge zeigt, verstanden werden. Einerseits versucht Peter damit, seinem Vater die bessere Frau zu sein, andererseits zeigt sich in

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diesem Verhalten eine Identifizierung mit dem Aggressor – wiederum der dominanten Mutter. Zudem versucht er sich massiver Kastrationsängste durch Vorwegnahme der Kastration in eigener Regie zu entledigen. Es wirkt mitunter so, als würde die Mutter den phallischen Mann in der Familie repräsentieren und der Vater eher die weibliche passive Position einnehmen. Peter will sich nicht mit dem Schwächeren identifizieren. So kann er den Vater lieben, ohne sein zu müssen wie er. Die Überzeugung, dass Frauen die größere Macht besitzen, geht dabei auch vom Vater aus. Dieser hatte stets das Gefühl, »wertlos« zu sein. Ein der Mutter ebenbürtiges durchsetzungsstarkes männliches Identifikationsobjekt gibt es für Peter nicht, der Vater hat seine großen inneren Besitztümer entwertet. Die eigene Meinung abgegrenzt vom Gegenüber zu vertreten, bereitet diesem zu große Ängste. Dies führt zum passiven Rückzug, gegebenenfalls zur Unterwerfung und zu geheimen Welten in der Paarbeziehung. Im Spiel mit der Therapeutin will Peter entweder die Mutter oder eine böse allmächtige Hexe sein. Dabei zeigt sich neben der Spaltung in »gut« und »böse« und der Identifikation mit der Mutter ein Omnipotenzerleben, ein Gefühl von Allmacht, das immer bedroht ist, in den Verlust von Selbstwertgefühl umzuschlagen. Dies drückt sich auch in Peters fehlender Frustrationstoleranz und seinem mangelhaften Realitätskontakt aus – oft bleibt er in seinem Größenselbst verhaftet. Sobald er sich im Spiel mit anderen misst, die Realität sich also durch die Spielpartner durchsetzt, ist er sehr leicht kränkbar. So kann er beispielsweise keine Regelspiele spielen, da er es nicht aushält zu verlieren. Wenn der Junge merkt, dass er aufgrund des Realitätskontakts frustriert werden könnte, bricht jegliches Regelgerüst zusammen. In der Folge will er das Regelwerk willkürlich verändern, um sich auf diesem Weg den Sieg zu ermöglichen. Das Gesetz, der Dritte, ist labil verankert. Als Entschädigung für die drohende narzisstische Kränkung der Niederlage nimmt er sich dann alles heraus, zum Beispiel, wenn er stiehlt oder andere Kinder schlägt. Peters Separations- und Selbstwertproblematik sowie der nicht ausreichend gelöste ödipale Konflikt führen also dazu, dass er Situationen, die ihm einen Vergleich mit anderen aufzwingen, nicht ertragen kann. Er wagt sich noch nicht wirklich phallisch aufzurichten und sich in echte Rivalität zu bege-

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ben. Pseudophallisch hebelt er Grenzen aus und versucht, sich mitunter räuberisch für vermeintlich Erlittenes und Entgangenes zu entschädigen. Sein Potenzial bleibt dadurch weitgehend ungenutzt, da er Anforderungen nicht als Möglichkeit erleben kann, die eigenen Fähigkeiten zu erproben, sondern stets als potenziell bedrohliche Situationen des Scheiterns abwehrt. In seinen Aggressionen dominiert eine anale Seite: Es ist ihm nicht möglich, einen Streit direkt auszutragen, er kann also nicht »nach vorn«, um beispielsweise einen Konflikt zu präsentieren, da er Angst vor einem nicht kontrollierbaren und strafenden Objekt hat. Das führt mitunter dazu, dass er aus seiner inneren Not heraus »hinten herum« agiert. Zudem werden abgrenzende Impulse in Peters Familie als Bedrohung erlebt, sie dürfen nicht anerkannt und thematisiert werden. Dies führt dazu, dass sie in Form von Kontrollverlusten ausagiert werden. Auch findet Peter keine adäquate Ausdrucksform für seine starken aggressiven Impulse, wie das im Streit oder Wettkampf möglich wäre, vielmehr zeigen sie sich im »Verpetzen«, Stehlen und Schlagen von Schwächeren. Das real erlebte Trennungstrauma (die Möglichkeit, von der Mutter verlassen zu werden, wenn nicht getan wird, was sie erwartet oder aus der Familie entfernt zu werden wie die Geschwister) inszeniert Peter wiederum in seinem Verhalten in der Kita, wo ein Rausschmiss ebenfalls drohen könnte. Seine Angst vor Trennung zeigt sich als Aggression, besonders deutlich in der Szene mit dem Anspucken, dem Liebesobjekt gegenüber. Seine Hyperaktivität mag als Abwehrprozess gegen Trennungsängste und Ängste rund um den Verlust von Selbstwert, also ebenfalls Ängste vor Verlust und Trennung vom guten Objekt, verstanden werden. Er schreit und strampelt wie ein Kleinkind, da die Fähigkeit des symbolischen Denkens in Krisensituationen zusammen gebrochen ist. Der Denkraum ist dann konkretistisch und eng, die Symbolisierungsfähigkeit ist brüchig. Anstelle des Gedankens: »Ich bin wütend, ängstlich, warum?« bleibt ihm nur das Agieren, die Abfuhr des Unerträglichen, vor allem im Motorischen, nach außen. In der Therapie spielt er lustvoll die allmächtige böse Hexe: Alle sind ihm ausgeliefert. In der Folge erschrickt er, die Sorge um das Objekt birgt verfolgende Schuldgefühle. Er wagt zu fragen: »Bist

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du wütend?« Prognostisch günstig ist seine Suche nach einer Wiedergutmachung am Objekt. Er weiß mittlerweile um seine eigene Wut und Aggression. Im Spiel stellt er seine innere Erlebenswelt dar, so wird er zum Beispiel zur Hexe, die säuft, und die dann zum Kind, der Therapeutin, sagt: »Du musst mittrinken.« In Identifikation mit dem Jungen, versucht die Therapeutin das Spiel, das Peter symbolisch zum Ausdruck bringt, als sein inneres Befinden zu verstehen und zu beschreiben, um ihm einen Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und unbewussten Phantasien zu eröffnen. Bereits nach vier Monaten Behandlung hat sich das Verhalten von Peter im Kindergarten verändert: Er ist weniger häufig in aggressive Auseinandersetzungen mit anderen Kindern verwickelt, kann sich besser und länger konzentrieren und kreativer spielen. Dadurch ist er sozial besser integriert und findet vermehrt Freunde. Aus der Sicht der Therapeutin manifestieren sich seine inneren Veränderungen zurzeit vor allem darin, dass seine weiblichen Identifizierungen, die er in seiner Vorliebe für »Mädchenspiele« ausdrückte, nachlassen und er sich wieder vermehrt »als Junge fühlt«. Doch haben Peter und seine Eltern noch einen langen Weg vor sich.

■ Schlussbemerkungen Wir haben in diesem Beitrag einen ersten Einblick in eine noch laufende Studie gegeben und kurz sowohl den aktuellen gesellschaftlichen Kontext, den theoretischen Hintergrund sowie die methodische Anlage der Studie geschildert. Einige Ergebnisse der Auswertungen der Basiserhebung wurden dargestellt, die die Voraussetzung war, eine repräsentative Stichprobe der Frankfurter Kindertagesstätten sowie von 500 Kindern zu ziehen, in denen wir das zweijährige Frankfurter Präventions- und Interventionsangebot realisieren. Vor allem durch das exemplarische Beispiel von Peter wollten wir einen Eindruck vermitteln, welchen Kinderschicksalen wir in dieser Studie begegnen und dass wir einigen von ihnen und ihren Familie professionelle Unterstützung anzubieten versuchen. Wir hoffen, dass wir dadurch wenigstens für einige

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Kinder die Chance erhöhen, dass sie trotz belastender erster Lebensjahre den Mut und das Vertrauen in ihre persönliche und soziale Zukunft wiedergewinnen.

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■ Bernd Henke

Die Hamburger Frühpräventionsstudie zur psychischen und psychosozialen Integration von Kindern im Alter von 0 bis 3 Jahren Ein Werkstattbericht Die Frankfurter Präventionsstudie steht in Zusammenhang mit einer Präventionsstudie, die zurzeit in Hamburg bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren durchgeführt wird. Beide Studien basieren auf ähnlichen theoretischen Überlegungen, die im Beitrag von Leuzinger-Bohleber et al. und Hüther in diesem Band näher erörtert werden. Sie hat das Ziel, nachzuweisen, dass Eltern durch frühzeitige Interventionen in den Familien in die Lage versetzt werden, bei ihren Kindern eine Entwicklung zu psychosozialer Desintegration zu verhindern und das spätere Auftreten von hyperaktiven Verhaltensauffälligkeiten möglichst zu vermeiden. Es werden nur solche Kinder in das Präventionsprogramm aufgenommen, für die keine Indikation für eine kindliche Psychotherapie vorliegt. Dies kann aufseiten der Kinder damit zusammenhängen, dass das Ausmaß ihrer Auffälligkeiten in Bezug auf Quantität und Qualität unterhalb der Indikationsschwelle liegt. Bei den Eltern ist ein ausreichendes Interesse an einem psychodynamischen Verstehen im weitesten Sinne Grundvoraussetzung zur Aufnahme der Gespräche, wobei eine Therapiemotivation im engeren Sinne nicht vorliegt und gegebenenfalls erst erarbeitet werden muss. Die Prävention wird dabei bevorzugt zwei Gruppen von Familien angeboten. Zur Ersten gehören Eltern mit einem Geschwisterkind, das bereits eine ADHS-Störung aufweist. Die zweite Gruppe bilden entweder a) solche Kinder, die erste Ansätze von für Hyperaktivität und Desintegration typische Verhaltensauffälligkeiten zeigen und/oder b) diejenigen Eltern, die eine charakteristische Psychopathologie aufweisen. Die relevante Psychodynamik lässt sich vor allem aus den sich

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jeweils in den Sitzungen entfaltenden Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen ableiten. In die darauf basierenden Interventionstechniken fließen Erkenntnisse ein, die in analytischen Langzeitpsychotherapien mit Kindern und Jugendlichen gewonnen wurden. In der Studie werden anhand der Einzelfälle die wesentlichen Veränderungen der Psychodynamik, des Verstehens, der Therapiemotivation und des Verhaltens von Eltern und Kindern dargestellt und miteinander verglichen. Die dabei erzielten Ergebnisse werden psychoanalytischen Experten zur Validierung vorgelegt. Sie dienen unter anderem dem Versuch, eine charakteristische Psychodynamik für psychosozial desintegrierte und hyperkinetische Kinder abzuleiten. Außerdem soll nach einem Zeitraum von zwei Jahren ein Konzept für Präventionsmaßnahmen einschließlich ihrer Durchführung erarbeitet werden.

■ Ziele der Studie Das Hauptziel der Studie ist der Nachweis, dass durch frühzeitige Interventionen in Familien das spätere Auftreten von hyperaktiven Verhaltensweisen und psychosozialen Anpassungsstörungen (ADHS) bei ihren Kindern zu verhindern ist. Der Arbeit mit den Eltern und ihren Kindern liegt die Therapieerfahrung zugrunde, dass psychische Verhaltensauffälligkeiten bei ihren Kindern im Wesentlichen durch Erfahrungen ausgelöst werden, die aus der Beziehung mit ihren Eltern stammen. Durch die angewandten Interventionen soll es den Eltern möglich gemacht werden, psychodynamische Zusammenhänge, die zu psychopathologischen Verhaltensweisen ihrer Kinder führen, zu erkennen und zu verändern. Dadurch soll das spätere Auftreten von psychischen Erkrankungen verhindert werden. Aus den gewonnenen psychodynamischen Erkenntnissen sollen differenzialdiagnostische Kriterien entwickelt werden. Die Präventionsmaßnahmen zielen auf die Reduzierung aktueller Symptome ab, und kommen auch Kindern zugute, die in der Gefahr sind, später andere psychische Erkrankungen zu entwickeln.

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Prävention und Frühintervention

Die im Rahmen der Prävention durchgeführten Maßnahmen dienen nicht nur der Gewinnung neuer Kenntnisse und ihrer Vermittlung, sondern stellen zum größten Teil auch gleichzeitig therapeutische Interventionen dar, die der Auflösung von psychopathologischen Wirkzusammenhängen und der Reduktion von aktuellen psychischen Belastungen dienen. Die Studie dient der Entwicklung eines psychoanalytischen Präventionsprogramms, durch welches psychische Erkrankungen und spätere aufwendige Langzeittherapien verhindert werden sollen. Hierdurch lassen sich therapeutische Kapazitäten und Kompetenzen gezielter einsetzen und Kosten einsparen.

■ Zum methodischen Vorgehen Die Daten der Studie werden in psychoanalytischen Erstinterviews gewonnen. Dabei handelt es sich um eine auf langjähriger Erfahrung beruhende, gut überprüfte, heuristische Methode. Der Psychoanalytiker selbst stellt dabei mit seinen über Jahre geschulten Fähigkeiten, in gleichschwebender Aufmerksamkeit zuzuhören, das Instrument dar, mit dem unter Berücksichtigung von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen Erkenntnisse aus dem szenischen Geschehen gewonnen werden. Neben dem Verstehen von unbewussten neurotischen Konfliktanteilen und charakteristischen Persönlichkeitsmerkmalen, vorwiegend der Eltern, ergeben sich auch Einblicke in das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familien. Die Anwendung von Interventionen, die von Behandlungstechniken abgeleitet sind, dient dem Vermitteln von neuen Erkenntnissen, dem Abbau von unbewussten Widerständen und damit dem Bewusstmachen von das Verhalten determinierenden unbewussten Konfliktanteilen. Gleichzeitig werden den Eltern und Kindern in den Sitzungen neue korrigierende Beziehungserfahrungen ermöglicht. Aufgrund von unbewussten Widerständen ist es für die Betroffenen aber nicht leicht, Verdrängtes bewusst werden zu lassen, da es ja gute Gründe für ihre Verdrängung gegeben hatte. So sind häufig erst neue Erfahrungen in den Sitzungen nötig, um in ersten

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vorsichtigen Ansätzen Deutungen zuzulassen und positiv anzunehmen. Auf diese Art und Weise werden, so lautet die These, die Eltern darin unterstützt oder zumindest auf den Weg gebracht, mögliche pathologische, psychische Entwicklungen bei ihren Kindern, zu denen sie unbewusst beitragen könnten, zu durchschauen, um sie vermeiden zu können. Wahrscheinlich wird es auch häufiger zur Aufnahme einer eigenen Psychotherapie von zumindest einem Elternteil kommen, wenn sich für die Betroffenen herausstellen sollte, dass sie zwar zu einem intellektuellen Begreifen, aber nicht ausreichend zu einer selbst gewünschten emotionalen Verhaltensänderung in der Lage sind. Anhand der beabsichtigten Nachprüfungen im Zeitraum von bis zu zwei Jahren soll dann überprüft werden, ob die anvisierten Ziele auch tatsächlich durch die Interventionen erreicht wurden; ob es Abweichungen gab oder Misserfolge und womit diese zusammenhingen. Die erzielten Hypothesen und die Interpretationen der gewonnenen Beobachtungen werden durch unabhängige, psychoanalytische Experten validiert. Insgesamt werden zehn detaillierte Einzelfallstudien durchgeführt.

■ Exemplarisches Fallbeispiel Von seinen Eltern wurde im September 2003 ein elf Monate alter, ausgesprochen netter Junge zusammen mit seiner knapp zweijährigen Schwester vorgestellt. Schon bei der telefonischen Anmeldung hatte die Mutter mitgeteilt, dass L. etwas zu früh geboren worden war und deswegen kurzfristig im Brutkasten versorgt werden musste, ohne dass sich daraus weitere körperliche Komplikationen ergaben. Später wurde bei ihm ein Kiss-Syndrom (Fehlstellung im Grundgelenk von Schädelbasis und Wirbelsäule) festgestellt. Um zu verdeutlichen, wie wichtig dem Vater die Belange seiner Familie sind, war er mitgekommen. Abwechselnd trugen beide Eltern ihre Anliegen vor und versuchten dabei, alle lauten Töne möglichst zu vermeiden: Sie berichteten von L., dass sie völlig genervt seien. Des Öfteren

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Prävention und Frühintervention

könnten sie sein andauerndes, mal wütendes, mal jämmerlich, hilfloses Schreien nicht abstellen. Dies mache sie nicht nur wütend, sondern lasse sie schier verzweifeln. Sie seien auch manchmal ratlos, wüssten einfach nicht mehr, was sie noch machen könnten. Mein Eindruck war, dass diese Eltern endlich einmal jemandem Außenstehenden ihre Daueranstrengung und Verzweiflung mitteilen wollten. Als sie merkten, dass ihnen der Raum für die Schilderung ihrer Erlebnisse gelassen wurde, konnten sie sich mehr und mehr emotional öffnen. Erst danach trugen sie die Vorgeschichte ihres Kindes vor. L. habe bis zur Feststellung der Diagnose des Kiss-Syndroms, aber auch danach immer wieder Schmerzen gehabt, die die Eltern nur wenig durch aktives Handeln lindern konnten. L. hatte seine innere Not durch heftiges lang anhaltendes Weinen zum Ausdruck gebracht. In den Eltern wurden dadurch Ohnmachtsgefühle wachgerufen, wie sie zwischen den Zeilen andeuteten, die ihnen sehr unangenehm waren. Dieses hatte zur Folge, dass sie alles zu vermeiden versuchten, was für ihn ein Anlass zum Schreien hätte sein können. Ohne dass es ihnen richtig bewusst geworden war, hatte dies dazu geführt, dass sie ihm möglichst milde oder weniger Grenzen gesetzt hatten. Dass dies der Fall war, wurde ihnen erst richtig klar, als sie im Gespräch durch Nachfragen darauf aufmerksam gemacht wurden. Da das Kiss-Syndrom inzwischen erfolgreich behandelt worden war, gingen sie voller Hoffnung davon aus, das ihr Sohn sein Weinen nun einstellen würde. Dies war aber zu ihrem Erstaunen nicht der Fall. Dem Vater war nicht nachvollziehbar, warum sein Sohn im Gegensatz zu seinem ersten Kind, der Tochter, Grenzen schlechter bis gar nicht akzeptierte: Er wehre sich »schreiend« dagegen, lasse nicht locker. Es falle ihm schwer, seinen ja doch erst elf Monate alten Sohn mit Härte zur Einhaltung der Grenzen zu zwingen. Die Mutter fand sein Ignorieren ihrer Vorgaben nicht so ungewöhnlich für Kinder, fühlte sich aber ebenfalls nicht selten dadurch genervt. Sie müsse ihn dauernd im Essen begrenzen, weil er »alles an sich reiße« und essen wolle. Beide Eltern warfen sich gegenseitig vor, gelegentlich zu hart auf seine Verstöße zu reagieren. Die meiste Zeit der Stunde spielte L., der hauptsächlich krabbelte und sich nur selten in den Stand hochzog, ruhig vor sich hin,

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nachdem die Eltern beide Kinder ermuntert hatten, sich Spielsachen auszusuchen. Er bezog die Eltern, später auch den Untersucher gelegentlich mit ein, indem er ihnen immer mal wieder kleinere Spielsachen in die Hand gab und mit Namen benannte. Danach zog er sich jeweils wieder zurück und spielte die meiste Zeit der Stunde ruhig vor sich hin. Seine Schwester war mit einem kurzen Anlehnen an die Eltern nicht zufrieden und versuchte, sie in größerem Ausmaß in ihr Spiel mit einzubeziehen. Als sie darin begrenzt wurde, konnte sie es allerdings schlecht akzeptieren und brachte dies in zwar leisen, dafür aber anhaltend geäußerten Forderungen an die Eltern zum Ausdruck. Einerseits versuchte sie, immer wieder durch Auswählen von weiteren Gegenständen ein neues Spiel zu beginnen, was ihr aber andererseits nicht gelang, weil sie nach kurzer Zeit erneute vergebliche Versuche unternahm, die Eltern verstärkt mit einzubeziehen. Dieser sich wiederholende Kreislauf setzte sich bis zum Ende der Stunde unverändert weiter fort. Dies war die einzige Sitzung, an der alle Familienmitglieder teilnahmen. Ich vereinbarte mit den Eltern eine weitere Stunde ohne die Kinder, um ihnen eine freiere Gelegenheit zum Sprechen zu ermöglichen.

■ Erste Überlegungen zur Psychodynamik von ADHS-Familien Die Erfahrungen mit den Familien aus dem Präventionsprogramm haben nach einem Jahr zu folgender psychodynamischer Überlegung geführt: Die auffällige Symptomatik (zum Beispiel Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit), die sich häufig im Kindergarten oder später in der Schule zeigt, legt den Stand einer innerpsychischen Entwicklung offen, die bereits schon in der frühen Kindheit eingesetzt hat. Dabei spielen meiner Meinung nach die psychopathologischen Folgen von in den wesentlichen Charakteristika gleich bleibenden Beziehungserfahrungen eine zentrale Rolle. Neben anderen Faktoren tragen diese mit zu einer Ausgestaltung des sich

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Prävention und Frühintervention

entfaltenden, innerpsychischen Apparats bei. Die daraus resultierende seelische Entwicklung unterliegt gleichzeitig Einflüssen, die sich aus der Entwicklung im körperlichen, intellektuellen und sozialen Bereich ergeben. Besonders in den ersten beiden Lebensjahren ist die Rückmeldung, die ein Kind auf seine Anliegen der Mutter (beziehungsweise seinen ersten Beziehungspersonen) gegenüber von dieser bekommt, von größter Wichtigkeit. Dabei spielt die Fähigkeit der Mutter, sich den Emotionen des Kindes zu öffnen, diese auszuhalten und dem Kind in erträglicher Art und Weise wiederzugeben, eine zentrale Rolle. Im Rahmen dieses Austauschprozesses kommen den Affekten Hilflosigkeit, Unsicherheit und Ohnmacht eine besondere Bedeutung zu. Diese Gefühlserlebnisse sind von Anfang an mit unangenehmen, oft schmerzhaften, als bedrohlich bis gefährlich erlebten körperlichen Missempfindungen verbunden und dadurch besonders schlecht aushaltbar. Um ihr Kind zu verstehen, muss die Mutter es zulassen, dass Gefühle aus diesem Bereich in ihr selbst entstehen, was aber gegebenenfalls eine schwierige Herausforderung darstellt. Je nach Heftigkeit, Dauer und sich wiederholender Häufigkeit dieser Affekte beim Kind und abhängig von den eigenen Vorerfahrungen der Mutter wird diese mehr oder weniger ausreichend in der Lage sein, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wenn die Mutter über genügend eigene Halt gebende Erfahrungen verfügt, wird sie diesem Prozess einen dementsprechend großen inneren Raum zur Verfügung stellen können, ohne die Befürchtung haben zu müssen, den eigenen seelischen Boden unter den Füßen zu verlieren. Daraus ergibt sich das Ausmaß der Übereinstimmung im emotionalen Geschehen zwischen Mutter und Kind mit einer möglichen Schwankungsbreite von rudimentär bis intensiv. Die speziellen Erfahrungen, um die es hier geht, sind für die Entstehung des Selbstwertgefühls von großer Bedeutung: Durch emotionale Rückmeldung ist die Mutter in der Lage, ihrem Kind eine mehr oder weniger große Anteilnahme zu vermitteln. Davon hängt aber ab, wie sehr sich das Kind angenommen, bestätigt und wertgeschätzt fühlt. Ist dies der Fall, so werden hierdurch die vorherigen Unlustempfindungen entscheidend gemildert und zunehmend durch solche des Wohlbefindens ersetzt. Da gerade in den ersten Lebensmonaten Hilflosigkeitsgefühle häufig

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durch körperliche Beeinträchtigungen hervorgerufen werden, führt das Verstehen dieser Zusammenhänge durch die Mutter und ihr daraufhin erfolgtes Eingreifen in der Regel zu einer Milderung oder Beseitigung von belastenden Schmerzzuständen. Äußere Hilfestellung und Abbau von Schmerzen sowie das Herstellen von körperlicher, Geborgenheit vermittelnder Nähe und der Verstehensprozess und seine Folgen auf der inneren Ebene finden gleichzeitig statt. Dadurch, und weil dieses Geschehen nicht einmalig stattfindet, sondern ein sich häufig wiederholender Vorgang ist, wird die entlastende, Wohlbefinden auslösende Wirkung des inneren Prozesses enorm verstärkt. Wenn die emotionale Anteilnahme der Mutter und vielleicht auch die Schmerz mindernde, beruhigende Wirkung auf der äußeren Ebene nicht ausreichend sind, kommt es nur ansatzweise zu der herbeigesehnten Unlustreduktion, vor allem aber nicht zu der in einem solchem Moment entscheidend wichtigen Bestätigung durch die Mutter, angenommen, richtig, wichtig und geliebt zu sein; eine Erfahrung, die im Zustand des Ohnmachtempfindens einen zentral entlastenden Effekt hervorruft. Die daraus resultierenden Folgen können gravierend sein. Durch die fehlende Beruhigung mangelt es dem Kind an der Möglichkeit, differenzierte, intensive Erinnerungsrepräsentanzen aufzubauen, die allmählich zu einem Symbol werden für die Erfahrungen, akzeptiert zu sein und gehalten zu werden. Die für die weitere Entwicklung wichtige Symbolisierungsfähigkeit wird in diesem Bereich beeinträchtigt. Der für das Kind schlecht aushaltbare, nicht akzeptable Zustand mit der darin enthaltenen narzisstischen Kränkung ruft eine archaische Wut und Enttäuschung hervor, was die Mutter wiederum vor eine schwierige Aufgabe stellt. Außerdem wird es dem Kind an der Erfahrung und Sicherheit mangeln, über grundlegende, ausreichende Fähigkeiten in Beziehungen zu verfügen. Es fehlt dann an der Gewissheit, durch das Äußern von Emotionen und Anliegen andere Menschen erreichen zu können. Aus diesem Grund wird es sich einer immer wiederkehrenden Bestätigung seiner guten Introjekte nicht sicher sein können. Was die Angst vergrößert, das gute Objekt könnte aufgrund der gegen dieses gerichteten Wut »verloren gehen« und mit Verfolgung und drohender Vernichtung zurückschlagen. Die Folge

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davon sind früh einsetzende Spaltungstendenzen, die sowohl zu einer Beibehaltung von Teilobjekten als auch der Trennung von »guten« und »schlechten« inneren Objekten führen. Die Angst, die guten inneren und äußeren Objekte zu verlieren und von den bösen bedroht zu werden, führt zu einer lang anhaltenden Verleugnung der Abhängigkeit vom Objekt. Auch aus dieser Tendenz heraus entstehen die Ausbildung eines »grandiosen Ich« und der Druck zu einer zu frühen Verselbständigung. Eine weitere Quelle der Ausbildung von Ich- und Über-Ich-Strukturen stellt die Identifikation mit den Eltern dar. Aus den begrenzten Möglichkeiten heraus, emotional Anteil nehmen zu können, strengen sich die Eltern stattdessen an, ihrem Kind und sich selbst das unliebsame Gefühlserleben zu ersparen. Dies gelingt ihnen durch Affektwechsel (Wut anstelle von Ohnmacht) und äußeres und inneres Handeln, welches darauf abzielt, die Ursachen für das unangenehme, Hilflosigkeit auslösende Geschehen zu beseitigen. Da das Kind mit dem übermäßigen Tragen der emotionalen Last aber überfordert ist, wird es sich der Überlastung entziehen, indem es den elterlichen Vorgaben entsprechend ebenfalls versucht, durch Affektwechsel und Handeln unerträgliche Gefühlszustände abzuwehren. Durch das emotional stärkere Betroffensein und die noch im Aufbau befindlichen Steuerungsstrukturen (Ich-Entwicklung) gelingt diese Abwehr nur unzureichend. Daher erlebt sich das Kind immer wieder als schwach und unzureichend. Es wird sich daher aus Abwehrgründen in der Phantasie überhöhte grandiose Fähigkeiten (grandioses Ich) zuschreiben und in einem separaten inneren Teilbereich auch erhöhte Anforderungen abverlangen (strenges ÜberIch mit hohen Erwartungen). Bis hierher wurde zunächst dargestellt, dass die Beziehung mit nur einer Bezugsperson (Dualbeziehung) bestimmte Folgen nach sich zieht. Aus didaktischen Gründen wurden die daraus resultierenden Besonderheiten und Begrenzungen für den Verlauf der seelischen Entwicklung isoliert dargestellt. Tatsächlich spielt von Anfang an eine dritte Person (der Vater) eine zunehmende Rolle. Je schwerwiegender die Folgen der Defizite der Dualbeziehung sind, umso hilfreicher wirken sich ergänzende Erfahrungen aus, die durch eine außen stehende dritte Person zur Verfügung gestellt werden (triangulierende Funktion). Zu den eigentlich notwendi-

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gen ausgleichenden Beziehungsangeboten sind die Väter dieser Kinder meist nicht in der Lage. Oft fehlen ihnen noch mehr als den Müttern aus eigenem Erleben in dem speziellen Bereich der Ohnmachtsempfindungen entlastende Erfahrungen. Sie wissen häufig, welche Überforderung durch einen unerträglichen Affekt hervorgerufen wird, wenn man diesem allein ausgesetzt ist. Es fehlt ihnen aber meist an der eigenen Erfahrung, dass ein gemeinsames, Halt gebendes Erleben, das dem Betroffenen durch eine verstehende, interessierte, hinzukommende Person ermöglicht wird, zu einer sehr wichtigen Entlastung führt. Daher können sie ihren Kindern als hilfreichen Ausweg aus ihren Überforderungen gar nicht ein emotionales Verstehen anbieten, sondern schlagen ihnen das vor, was ihnen selbst am meisten geholfen hat, einen Affektwechsel und das Ergreifen von Initiativen, um auf der Handlungsebene Abhilfe zu schaffen. Einige Eltern, häufig die Väter, haben aber besonders schmerzliche seelische Verletzungen mit oft andauernder Unsicherheit, Einsamkeitserlebnissen sowie mangelnder Wertschätzung in ihrer eigene Kindheit erfahren, sodass sie aus Abwehrgründen gezwungen sind, jeden aufkommenden Ansatz von Ohnmachtserlebnissen in sich augenblicklich abzuwehren, um sie so von der bewussten Ebene fernzuhalten. Dieses macht sich im Gespräch mit den Betroffenen sehr schnell dadurch bemerkbar, dass sie zwar zu einem intellektuellen Begreifen von diesbezüglichen Problembereichen in der Lage sind, aber nicht zu einem emotionalen. Es kann dann leicht der Eindruck entstehen, als würden zwei verschiedene Sprachen gesprochen. Für die Kinder bedeutet dies eine weiter bestehende Tendenz zu Abspaltungen der unzureichend positiven, unsicheren inneren Objekt- und Selbstrepräsentanzen und mangelnder Symbolisierungsfähigkeit in diesen Bereichen. Die immer wieder erfolgende Zurückweisung der Wünsche nach emotionalem Austausch und Wertschätzung in Bezug auf Hilflosigkeitsgefühle ermöglicht es dem Kind nicht in erforderlichem Maß, ein sicheres Wissen von Geborgenheit und Geschätztsein zu erwerben. Dies ist aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Kind die Fähigkeit erwirbt, später selbst um andere besorgt sein zu können. Das Gefühl, minderwertig und unzulänglich zu sein, führt zu einer schwer erträglichen Scham, die das Kind verdrängt und die auf das spätere Ver-

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Prävention und Frühintervention

halten des Kindes einen großen meist unbewussten Einfluss hat. Des Weiteren fühlt sich das Kind für die emotionale Teilablehnung durch die Eltern wegen der heimlich aufrechterhaltenen, sehnsuchtsvoll, gierig drängenden Wünsche schuldig. Auch diese Affekte müssen verdrängt werden und spielen umso mehr eine wichtige Rolle bei der Gestaltung seiner Beziehungen. Unter dem Druck der Aufrechterhaltung dieser Verdrängungen, aber auch der frühen Verselbständigung steht die Phase des verstärkten Sichselbst-Ausprobierens, die mit den ersten eigenen Schritten beginnt. Die Kinder möchten die sie umgebende Welt erobern, erkunden und damit umgehen lernen. Sie befinden sich in einem ständigen Entwicklungs- und Lernprozess. Es fällt ihnen besonders schwer, mit den ihnen dabei gesetzten äußeren und inneren Grenzen umzugehen. Mit dem Erleben von Begrenzungen werden die Gefühle von Nichtkönnen hervorgerufen, die sie gerade vermeiden möchten. So entsteht ein innerer Druck, sich über Grenzen hinwegzusetzen und besonders viele Aufgaben schnell und möglichst perfekt erledigen zu wollen. Sie setzen sich dadurch aber umso mehr der Gefahr aus, sich durch das Verfehlen von Zielen unsicher und hilflos zu fühlen. So entsteht häufig bei diesen Kindern ein typisches, spezifisches Lernverhalten. Die mit jedem Lernvorgang einhergehende Unsicherheit über das Erreichen der angestrebten Ziele stellt für die Kinder eine belastende Schwierigkeit dar. Entweder kann dies dazu führen, dass sie den Lernvorgang erst gar nicht beginnen oder dazu, ihn auf Kosten einer sorgfältigen Ausführung möglichst schnell zu beenden. Es fehlt ihnen an der Möglichkeit, mit innerer Ruhe und Gelassenheit während des Lernens kleine Irr- und Umwege auszuprobieren und sich dabei allmählich – mit der Zeit auch immer besser – Fertigkeiten anzueignen. Die Ergebnisse solcher Entwicklungs- und Lernvorgänge finden sich in vielfältiger Weise. Es treten die typischen begrenzten Defizite in der Fein- und Grobmotorik, der Körperkoordination und im Gleichgewichtsverhalten auf, die sich von den überwiegend neuropathologisch bedingten gröberen, motorischen Auffälligkeiten unterscheiden. Die Entwicklung dieser Defizite kommt auch dadurch zustande, dass es den Kindern häufig schwer fällt, unter mehreren attraktiven Spielangeboten eines überhaupt auszuwählen. Spielzeuge wer-

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den dann kurz angesehen, schnell wieder beiseite gelegt, um ein weiteres aufzugreifen. So ist ein vertieftes Kennenlernen von neuen Dingen nicht möglich. Manche Kinder zeigen eine erstaunliche, scheinbare Schmerzunempfindlichkeit, die so ausgeprägt sein kann, dass die Bezugspersonen zunächst manchmal eine körperliche Anomalie als Ursache vermuten. In Wirklichkeit zeigt die Verleugnung des Schmerzes, wie sehr sie damit Beziehungen vermeiden müssen, in denen sie sich abhängig, auf Zuneigung angewiesen, schuldig und beschämend unzulänglich fühlen könnten. Die andererseits daraus resultierende Sehnsucht nach Kontakt führt dann aber häufig zu einem hinter einer Fassade von übertriebener Selbstdarstellung und Machtanspruch versteckten Bemühen um andere Spielkameraden. In dem sich nicht selten entwickelnden Streit mit anderen Kindern zeigen sie sich Schlägen gegenüber scheinbar unempfindlich. Wenn sie selbst solche austeilen, sind sie oft auffällig brutal, uneingefühlt, aber häufig auch überbordend anklammernd. In diesem Verhalten offenbaren sie nicht nur ihre Schwierigkeit, Grenzen der anderen Kinder zu akzeptieren. Sie zeigen auch, wie schwer es ihnen fällt, um Andere besorgt zu sein. Zusätzlich äußert sich hier eine durch die Ich-Steuerungsschwäche bedingte, mangelhafte Impulskontrolle und große unausgesprochene Sehnsucht nach Nähe. Während zu Hause durch gemeinsames Schonen und Vermeiden vielfach Schwierigkeiten auslösende Situationen vermieden werden, gelingt dies im Kindergarten nicht so gut. Der Hunger nach Anerkennung, Respekt und Liebe führt zu einem starken Wunsch nach Kontaktaufnahme, löst aber gleichzeitig Ängste aus, etwa dass herauskommen könnte, für wie minderwertig sie sich selbst eigentlich halten, oder wegen motorischer Defizite unterlegen oder unfähig zu sein. Vor allem aber haben die Kinder Angst vor neuen, ihnen unbekannten Situationen, die sie gern zu verstecken versuchen. Da es ihnen häufig gelungen ist, Grenzen von ihnen überlegenen Erwachsenen zu missachten, sind sie sich der Schutzwirkung von Begrenzungen nicht sicher. Sie rechnen damit, dass andere ihre Überlegenheit rücksichtslos ihnen gegenüber einsetzen und sie gefährden könnten. So ziehen sie sich oft zu Anfang im Kindergarten ängstlich vermeidend zurück. Später neigen sie eher dazu, auf die Anderen loszustürmen, gleich einen intensiven

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Prävention und Frühintervention

Machtanspruch einzufordern und sich narzisstisch zur Schau zu stellen. Mit diesem Verhalten ecken sie in der Regel an, werden häufiger vom Spiel der Anderen ausgeschlossen, sind dann wieder die Abgeschobenen. Darauf reagieren sie so, wie sie es gelernt haben, mit Aktionismus, also Hyperaktivität, in einem ständigen Bemühen, Unterlegenheit und Machtlosigkeit zu vermeiden, in quasi ständiger Habachtstellung. Daraus resultiert, dass sie im Kindergarten zu wenige korrigierende Beziehungserfahrungen machen. Nicht selten stellen sie Kindergärtnerinnen gegenüber, wenn ihnen eine Grenze gesetzt wird, »die Ohren auf Durchzug«. Diese raten den Eltern dann oft, die Hörfähigkeit ihres Kindes überprüfen zu lassen. Die Notwendigkeit, eine Mobilisierung innerer Konflikte zu vermeiden, die der Anlass dafür ist, scheinbar nicht zuhören zu können, führt nicht selten dazu, auch die normalerweise synchron ablaufende Kombination von visueller und auditiver Wahrnehmung voneinander zu trennen. Die für diese Kinder unerträglichen Machtansprüche der Erwachsenen, denen sie sich mit allen für sie negativen Folgen unterordnen sollen, stellen für die Kinder, wenn sie sowohl über die visuelle als auch über die auditive Ebene herangetragen werden, eine zu große Überforderung dar. Die Kinder versuchen dann entweder nur, zuzuhören oder zuzusehen. Wobei die Tatsache, dass das Augenverschließen einen größeren Schutz gegenüber äußeren Einflüssen darstellt, als der Versuch, Wörter nicht an sich herankommen zu lassen, dazu führt, dass die visuelle Wahrnehmungsmodalität bevorzugt wird. Im Elternhaus treffen die Kinder aber meist auf ein bisher noch nicht erwähntes, gravierendes Abwehrverhalten mindestens eines Elternteils. Durch sich wiederholende Erfahrungen hat der dringende Wunsch der Kinder nach einem emotionalen Austausch von Unsicherheits- und Hilflosigkeitsgefühlen zu einem schwer wiegenden Konflikt geführt. Sie haben gemerkt, dass sie aus ihrer Sicht ihre Eltern damit überfordern, da diese sich ihrem Anliegen nicht oder nicht ausreichend gegenüber öffnen. Der Wunsch, aus einer inneren Not heraus entwickelt, löst daher Schuld- und Beschämungsgefühle aus. Aus kindlicher Sicht haben sie keine andere Chance, als aus der Ablehnung darauf zu schließen, dass sie etwas Unerlaubtes, Falsches unternommen haben. Dies Erleben verschärft den Konflikt und führt durch die zunächst fehlende

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Lösung nicht nur zu einer enormen emotionalen Überbelastung, sondern immer wieder zu Stressreaktionen, die das gesamte innere Bewältigungspotenzial herausfordern. Die Lösung der Kinder liegt in der Identifikation mit Verhaltensweisen der Erwachsenen. Oft muss aber ein Elternteil, meist der Vater, jegliches Aufkommen von Affekten aus dem Bereich der Ohnmachtsgefühle in besonderer Weise abwehren. Ein den Betroffenen unbewusster Abwehrmechanismus besteht darin, auf der Vorstellungsebene bestimmte Bilder auszuschließen. Um eine gewünschte emotionale Vermittlung einzuleiten, ist es zunächst aufseiten des Subjekts nötig, ein Vorstellungsbild von einem Gegenüber aufzubauen, das an diesem Austausch interessiert ist. Die Herstellung solcher Vorstellungen ist ein subjektiver Vorgang, auf den das Subjekt einen entscheidenden Einfluss hat. Wenn wir beispielsweise jemanden von der Vorstellungsebene verschwinden lassen, ist derjenige für sein Gegenüber wie in Luft aufgelöst. Um jeden Anlass für das Aufkommen ungewünschter Affekte zu unterbinden, lassen die betroffenen Väter keine Vorstellungen von Personen zu, die für eine Anteilnahme an Hilflosigkeitsgefühlen offen sein könnten. Dies fällt ihnen unbewusst nicht besonders schwer, da sie in der Regel über wenig eigene Austauscherfahrungen in diesem Bereich verfügen. Dieser spezielle Abwehrmechanismus – einerseits sehr wirkungsvoll, andererseits die Wahrnehmung manipulierend – ist deswegen erforderlich, weil die eigenen Kinder besonders gut in der Lage sind, die eigene Abwehr zu unterlaufen. Die Kinder laufen also bei diesen Vätern völlig ins Leere, ohne dass diese eine Chance haben, etwas davon überhaupt nur mitzubekommen. Da es dem anderen Elternteil meist nicht gelingt, den Betroffenen ihr Verhalten verständlich zu machen und dadurch zu einer verlässlichen Veränderung zu kommen, bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als sich mit diesem Teil des Vaters zu identifizieren. Dies kann Folgen für das Verhalten in der Schule haben. Auf die Situation, sich in der Schule etwas sagen zu lassen, sich einer bestimmenden Macht unterzuordnen, sind diese Kinder nicht gut vorbereitet. In ihnen drohen die problematischen Gefühle wiederbelebt zu werden, was sie sich aber nicht leisten können, da sie unter anderem die nicht gelösten und daher inzwischen ins Unbewusste verdrängten Konflikte mobilisieren würden. Da ihnen das

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offene Rebellieren – welches auch einen meist misslungenen Versuch darstellt, auf eine überfordernde Schwierigkeit hinzuweisen – in der Regel untersagt ist, greifen manche Kinder auf das von den Vätern übernommene Verhalten zurück. Wie automatisiert, unbewusst gesteuert, »verschwindet« die Lehrperson auf der Vorstellungsebene des Kindes, aber nur in Bezug auf die Funktion, für Ohnmachtserlebnisse offen zu sein. Gleichzeitig schweift das Kind immer wieder in eine von ihm ausgewählte, unproblematische Phantasiewelt ab, um sich so heimlich zu entziehen. In Unkenntnis dessen, was im Inneren des Kindes vor sich geht, kann ein Außenstehender auf die Idee kommen, ein solches Kind könne sich nicht gut konzentrieren. Da das Kind seinerseits zu wenig Hilfestellung von seinen Bezugspersonen erfährt und schließlich auch keine mehr erwartet, wird es von sich aus kaum aus seinem Rückzug herausfinden. Die von außen gesehene, immer wieder auftretende Unkonzentriertheit lässt die Bezugspersonen (Ärzte, Lehrer, Betreuer) schließlich vermuten, es handele sich wohl um ein von den Kindern schlecht steuerbares und daher körperlich verursachtes Problem. Das Symptom »mangelnde Konzentration« ist bedingt durch zwei aus Sicht des Kindes notwendige Abwehrmechanismen. Es ist einerseits ein Ausweichen in eine Phantasiewelt und andererseits ein Nicht-Wahrnehmen einer »unpassenden« Person, die dadurch ins Leere läuft. Prüft man das Konzentrationsvermögen dieser Kinder außerhalb des Konfliktgeschehens, so stellt sich schnell heraus, dass die Hypothese von einer Körperpathologie meist nicht stimmt. Die Kinder können sich dann sehr gut konzentrieren, zum Beispiel, wenn sie durchaus auch in lärmender Umgebung in der Lage sind, sich auf ein von ihnen selbst ausgewähltes Spielzeug zu konzentrieren. Die von den Kindern im Rahmen ihrer Möglichkeiten gefundenen Lösungen für die ihnen in der Schule abverlangten Aufgaben, sowohl auf der äußeren wie auch der inneren Ebene, stellen subjektiv kreative Gestaltungen dar, die aber mit der Bewältigung des Schulalltags kaum im Einklang stehen. Im Gegenteil geraten diese Kinder, da ihre innere Konfliktwelt nicht verstanden wird, entweder in die Rolle der hyperaktiven Störer oder der unaufmerksamen, ungehorsamen, geschmähten Außenseiter. Dies löst häufig viel Kritik und Beschimpfungen aus, die wiederum Schuld-

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und Schamgefühle aufseiten der Kinder, aber auch zum Teil eine trotzige, aggressive Verweigerungshaltung zur Folge haben. So verstärken und verfestigen sich die psychopathologischen Folgen. Besonders für die Kinder und ihre Eltern, aber auch die Lehrer und übrigen Helfer führt dies zu erheblichen inneren und äußeren Belastungen, verzweifeltem Ringen nach Lösungen, aber auch gegenseitigen Anschuldigungen und Angriffen. Den Kindern gelingt es unbewusst, mit ihrem Verhalten immerhin in den Erwachsenen die Gefühlszustände wie Hilflosigkeit hervorzurufen, die ihnen am meisten Schwierigkeiten machen. Aufgrund der bereits beschriebenen Vorerfahrungen und -belastungen führt dies aber zu einer Suche nach Lösungen auf der Außenweltebene.

■ Manfred Cierpka und Andreas Schick

Das Fördern von emotionalen Kompetenzen mit FAUSTLOS bei Kindern

■ Vorteile vorbeugender Maßnahmen in Kindergärten und Schulen Die bei Gewalt in der Familie meistens anzutreffende Überforderung von Familien führte in den letzten Jahren dazu, dass außerfamiliäre Unterstützungsmöglichkeiten immer häufiger genutzt werden. Viele Kinder erhalten so eine zweite Chance in einem anderen für sie wesentlichen Beziehungszusammenhang. Der außerfamiliäre Beziehungsraum wird dabei komplementär zum Familienleben und nicht alternativ gesehen. Dies bedeutet für Kindergärten und Schulen auch, den Erziehungsauftrag genauso ernst zu nehmen wie das Vermitteln von Sachwissen. Die unabhängige Regierungskommission der BRD zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (»Gewaltkommission«) forderte bereits vor über zehn Jahren ein entsprechendes Umdenken. Dort heißt es: »Die Schule muss sich auf ihren Erziehungsauftrag zurückbesinnen. Der Erziehungsaspekt und die Vermittlung gesellschaftlicher Normen müssen gegenüber der Wissensvermittlung wieder stärker in den Vordergrund treten. Lehrer müssen in ihrer Ausbildung wieder besser auf ihre Erzieherrolle vorbereitet werden.« Deshalb fordern die Präventionsforscher die Ausdehnung der Prävention von der Familie auf den (vor)schulischen Bereich, um gerade diejenigen Kinder zu erreichen, die in ihren Herkunftsfamilien nicht auf die notwendigen Ressourcen zurückgreifen können. Kindergärten und Schulen bieten sich aus mehreren Gründen als Ansatzpunkte für vorbeugende Maßnahmen an. In den Schulen können alle Kinder erreicht werden, die Breitenwirksamkeit ist gewährleistet. Die Gruppensituation in einer Klasse erlaubt es au-

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ßerdem, dass sich die primäre Prävention an alle Kinder richten kann und kein Kind durch eine Sonderbehandlung ausgegrenzt wird. Angenommen wird, dass diejenigen Kinder, die soziale und emotionale Defizite aufweisen, von diesen Interventionsprogrammen besonders profitieren. Diese Annahme konnte inzwischen auch durch eine Meta-Analyse zu den Förderprogrammen im emotionalen Lernen (Wilson et al. 2002) gestützt werden. Kindergärten und Schulen sind in der Regel viele Jahre überdauernde Institutionen, sodass die Präventionsprogramme über mehrere Jahre langfristig angelegt werden können. Auch die Beziehungen zwischen den Kindern und den Erzieherinnen beziehungsweise Lehrerinnen entwickeln sich über Jahre, sodass die Erziehenden zu Identifikationsfiguren für die Kinder werden. Schulen und Kindergärten sind ein Raum, in dem viele Konfliktsituationen auftreten, die unmittelbar als Beispiele für die Prävention aufgegriffen werden können. Dies ermöglicht ein direktes und permanentes Umsetzen des Gelernten auf konkrete soziale Situationen. Außerfamiliäre Lern- und Beziehungserfahrungen führen bei Kindern oft zu einem Alternativmodell für den Umgang mit konflikthaften Beziehungen. Wie beim Lernen von zwei Sprachen erwerben die Kinder die Möglichkeit, ihre inneren Beziehungsmodelle (»Arbeitsmodelle«, »Repräsentanzen«) je nach Lebenskontext und Beziehungspartner einzusetzen, um nicht in Konflikt mit ihren Herkunftsfamilien zu geraten. Kindergarten und Schule bestimmen über einen langen und entwicklungspsychologisch entscheidenden Zeitraum das Leben der Kinder und haben dadurch einen starken Einfluss auf Entwicklung, Erleben und Verhalten. Kindergärten und Schulen sind deshalb ein wichtiger Ort für die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen bei Kindern und für die Umsetzung gewaltpräventiver Maßnahmen. Für diese Programme sollten bestimmte Leitlinien gelten. Sie sollten – auf anerkannten Erziehungstheorien basieren, – auf das Alter, auf die pädagogischen und entwicklungspsychologischen Reifestufen des Kindes abgestimmt sein, – Konzepte bereitstellen, die das kindliche Selbstwertgefühl erhöhen, damit die Kinder besser mit den Risiken zurechtkommen und sich schützen können,

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– mehrere Komponenten enthalten, die über Jahre aufeinander aufbauen, – Rollenspiele mit aktiver Beteiligung der Kinder beinhalten sowie – Eltern, Lehrer, Schlüsselinstitutionen und das ganze Umfeld mit einbeziehen. Die Leitlinien zu den Curricula zur Gewaltprävention sind so formuliert, dass es bei der Förderung des sozial-emotionalen Lernens inhaltlich sowohl um die Verhinderung der Täterschaft als auch um den Opferschutz geht. Gehemmte Kinder, die häufiger Opfererfahrungen machen, können so besonders profitieren und konfliktfähiger werden. Sie werden sich in den Konflikten besser behaupten und sich dadurch schützen. Obwohl sich Kindergärten und Schulen aus den genannten Gründen als Orte der Gewaltprävention anbieten, dürfen dies nicht die einzigen Orte sein, von denen Veränderungen ausgehen. Diese Institutionen können nicht zum »Reparaturbetrieb« für Versäumnisse aller anderen gesellschaftlichen Instanzen, insbesondere der Familien werden. Entscheidend ist deshalb eine gelungene Kooperation von Schule, Eltern, Freizeiteinrichtungen und so weiter, also den zentralen Sozialisationsinstanzen für Kinder.

■ Sozial-emotionales Lernen mit FAUSTLOS Weder die Erzieherinnen in den Kindergärten noch die Lehrerinnen in den Schulen sind ausreichend auf die Vermittlung von Beziehungskompetenzen vorbereitet. Sie benötigen zu ihrer Unterstützung spezielle entwicklungspsychologisch fundierte Curricula, verbunden mit Einführung und Schulung. Genau das bietet FAUSTLOS, die deutsche Version des US-amerikanischen Programms Second Step, das vom Committee for Children in Seattle (Beland 1988a; 1988b) entwickelt wurde und seit 15 Jahren in vielen US-amerikanischen Bundesstaaten erfolgreich angewendet wird. Insgesamt 15.000 Schulen haben sich dort bislang entschlossen, das sozial-emotionale Lernen mit Second step zu fördern. In

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den deutschsprachigen Ländern liegt FAUSTLOS als Grundschulversion seit 2001 und als Kindergarten-Version seit 2002 vor. Inzwischen haben fast 2000 Schulen und über 500 Kindergärten in den deutschsprachigen Ländern das Curriculum als festen Bestandteil in ihre Institution aufgenommen. Über acht Jahre lang wurden in Studien1 zusammen mit vielen Erzieherinnen und Lehrerinnen in Göttingen, Heidelberg und Mannheim Vorversionen erarbeitet. Die mehrfachen Überarbeitungen des Materials (auch der Fotos) waren notwendig, um die Originalversion dem hiesigen kulturellen Hintergrund anzupassen und den Stoff so zu gestalten, dass die Lehrkräfte von »ihrem« Curriculum sprechen konnten und auch genügend Freiräume besaßen, um ihren persönlichen Unterrichtsstil einbringen zu können. Dieses basisorientierte Vorgehen stellte sicher, dass die Lehrkräfte die Expertenschaft für das sozial-emotionale Lernen übernahmen. Übergeordnetes Ziel von FAUSTLOS ist die gezielte Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen. Die zu Beginn erarbeiteten emotionalen und kommunikativen Basiskompetenzen werden dabei sukzessive um Handlungskompetenzen ergänzt und erweitert. Kinder lernen durch FAUSTLOS, kompetent mit Gefühlen umzugehen (zum Beispiel das Erkennen und Mitteilen von Gefühlen und damit von persönlichen Grenzen oder den Umgang mit widersprüchlichen Gefühlen, die gerade bei Gewalterfahrungen von großer Bedeutung sind), Probleme konstruktiv und effektiv zu lösen (wie man jemanden effektiv um Hilfe bittet oder wie man mit Druck durch andere Personen umgeht) und konstruktiv mit Ärger und Wut umzugehen (zum Beispiel deutlich und bestimmt aufzutreten und Rechte und Wünsche unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei gewalttätige Mittel zur Konfliktlösung anzuwenden). Das Curriculum fördert somit die Konfliktfähigkeit beziehungsweise Konfliktkompetenz von Kindern und deren Selbstwertgefühl. Die FAUSTLOS-Lektionen sind in drei Einheiten gegliedert 1 Mit finanzieller Unterstützung der Familienministeriums des Bundes, des Kultusministeriums Baden-Württemberg und der Landesstiftung BadenWürttemberg.

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und umfassen die entwicklungspsychologischen Dimensionen der Empathieförderung, Problemlösung und den Umgang mit heftigen Gefühlen. Im Aufbau wurde berücksichtigt, dass für die dialogische Kompetenz des Kindes die Techniken des einfühlsamen Zuhörens und des Erkennens von Gefühlen notwendig sind. In der zweiten Einheit können diese Techniken bei der Problemlösung angewendet werden. Zum Lösen von Problemen werden in dieser Einheit verschiedene Schritte angeboten. Wenn die Konflikte mit heftigeren Gefühlen wie Ärger und Wut verbunden sind, benötigt man noch zusätzliche Strategien, die in der dritten Einheit erarbeitet werden. Die für die Durchführung des Programms benötigten Materialien umfassen ein Handbuch, ein Anweisungsheft und Bildmaterialien (Cierpka 2001; 2004). Im FAUSTLOS-Set für Kindergärten sind zudem die zwei Handpuppen »Wilder Willi« und »Ruhiger Schneck« enthalten, die in vielen Lektionen die Haupttransporteure der Inhalte sind. Die Materialien und Lektionsinhalte sind entwicklungspsychologisch fundiert und den jeweiligen altersspezifischen Ausgangsbedingungen der Kinder angepasst. Im Handbuch ist der theoretische Hintergrund von FAUSTLOS beschrieben, es sind alle Informationen zur Anwendung des Curriculums aufgeführt und es umfasst einen umfangreichen Anhang mit ergänzenden Anregungen zur spielerischen Vertiefung verschiedener Inhalte. Im Anweisungsheft sind alle Lektionen in der Reihenfolge der Durchführung detailliert beschrieben. Die Anweisungen sind durchgängig untergliedert in einen vorbereitenden Teil, eine Geschichte mit Diskussionsfragen und einen vertiefenden Teil mit Rollenspielen und anderen Übungen zur Übertragung des Gelernten. Das Anweisungsheft und die Folien sind die Grundlage für den FAUSTLOS-Unterricht. Auf den Fotofolien sind passend zum Thema der jeweiligen Lektion soziale Situationen dargestellt, die zunehmend komplexer werden. Jeder Unterrichtsstunde liegt ein entsprechendes Foto zugrunde, anhand dessen schrittweise die jeweiligen Lernziele erarbeitet werden. Nach einer ersten kognitiven Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema der Stunde wird das Gelernte anschließend in Rollenspielen praktisch geübt. Abschließend werden Möglichkeiten der Übertragung auf den Lebensalltag der Kinder besprochen.

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■ I. Empathie Empathie lässt sich beschreiben als die Fähigkeit, den eigenen und den emotionalen Zustand eines anderen Menschen bestimmen, die Perspektive einer anderen Person übernehmen und auf eine andere Person emotional reagieren zu können. Die Fähigkeit zur Empathie bildet sich bei Kindern bereits in der frühen Kindheit (1 bis 4 Jahre) aus. Störungen in der Entwicklung der Empathiefähigkeit können vor allem durch das Fehlen einer versorgenden und empathischen Bezugsperson auftreten. Dieser Mangel oder extrem belastende emotionale Erlebnisse, wie zum Beispiel erfahrener Missbrauch oder Vernachlässigung, können dazu führen, dass Kinder zu ihrem Schutz Abwehrmechanismen entwickeln, die ihre Fähigkeit zur Empathie vermindern. Da der Empathiefähigkeit zentrale Bedeutung in der Entwicklung prosozialen Verhaltens und zwischenmenschlicher Problemlösungsstrategien zukommt, bildet die Empathieförderung die Basis von FAUSTLOS. Die Unterrichtsstrategien, die zum Erwerb und zur Steigerung der Empathie entwickelt wurden und die in FAUSTLOS Anwendung finden, basieren auf Untersuchungsergebnissen, die belegen, dass Empathie ein erlerntes beziehungsweise erlernbares Verhalten ist. Dementsprechend lernen Kinder in Grundschule und Kindergarten im Empathietraining … – Gefühle vorherzusagen. Kinder üben vorherzusagen, was andere als ein Ergebnis ihrer Handlungen tun oder sagen könnten: »Wenn ich ihr das wegnehme, wird sie schreien.« Ebenso lernen sie in einfachen und prägnanten Situationen Begründungen für bestimmte Verhaltensweisen zu finden: »Jenny schreit mich an, weil ich ihr Buch weggenommen habe.« – zu verstehen, dass Menschen unterschiedliche Vorlieben und Abneigungen haben. Kinder lernen zu verstehen, dass der zeitweilige Rückzug eines Freundes nicht bedeuten muss, dass er sie nicht leiden mag. – gezielte von ungezielten Handlungen zu unterscheiden. Kinder unterscheiden beabsichtigte von versehentlichen Aktionen, indem sie die Motive untersuchen und identifizieren. – Regeln für Fairness in einfachen Situationen anzuwenden. Über Fairness wird im Zusammenhang des Umgangs mit Gemein-

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schaftseigentum in der Schule diskutiert, und dies ist besonders auch für die Familie wichtig. – Gefühle mitzuteilen, indem »Ich«-Botschaften benutzt werden und anderen Menschen aktiv zugehört wird. Kinder üben einfache Formen des Ausdrucks von Gefühlen und diskutieren und üben, wie sie in ihrer Familie und in ihrer Umgebung anderen zuhören können. – Sorge und Mitgefühl für andere Menschen auszudrücken. Unterschiedliche Ausdrucksweisen von Mitgefühl (helfen, umarmen, zuhören) werden besprochen und mit den Kindern geübt. Zur empathischen Kompetenz gehört ganz wesentlich das Erkennen von Gefühlen. Um herauszufinden, wie es dem anderen geht, kann man auf nichtverbale und körperliche Anhaltspunkte achten. Gefühle lassen sich oft im Gesicht der anderen Person oder an ihren Gesten ablesen. In den ersten FAUSTLOS-Lektionen lernen die Kinder deshalb, verschiedene Gefühle zu unterscheiden. Fotos zeigen Kinder mit verschiedener Mimik, die die unterschiedlichen Gefühle im Gesicht zum Ausdruck bringen. Hinweise auf die Situation, in der sich die Kinder befinden, helfen ebenfalls dabei, die Gefühle von ihnen zu erkennen. Die Fotokarten veranschaulichen sechs Grundaffekte, mit denen Kinder zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr im Allgemeinen vertraut werden: Freude, Traurigkeit, Wut (Ärger), Überraschung, Angst und Ekel. Alle Gefühle sollten von den Kindern sicher erkannt werden. Manchen Kindern, die in ihrer Kindheit Gewalt erlebt haben, fällt es schwer, im Gesicht des Gegenübers Schmerz von Wut zu unterscheiden. Sie haben zum Beispiel den prügelnden Vater erlebt und in dessen Gesicht seine Wut gesehen. Ihr empfundener eigener Schmerz in diesem Moment vermischte sich mit dieser Wut und der eigenen Ohnmacht und wurde als komplexes Beziehungsmuster verinnerlicht. Dies führt dazu, dass diese Kinder später bei anderen Kindern, denen sie Schmerzen zufügen, deren Schmerz nicht sicher wahrnehmen können. Sie verfügen dann über keine »soziale Bremse«, weil sie sich nicht empathisch in die Not des anderen Menschen einfühlen können. Manchmal verwechseln sie sogar den Schmerz im Gesicht des Gegenübers mit Wut und treten nochmals zu.

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Die Affektdifferenzierung ist aus diesen Gründen eine wichtige Grundlage für die Gewaltprävention. Am Beispiel des Gefühls der Traurigkeit kann dies veranschaulicht werden. In der entsprechenden FAUSTLOS-Lektion aus der Grundschule zeigt die Lehrerin den Kindern ein Foto des Gesichts von Alexander, der sehr traurig ist. Sie fragt: »Was denkt ihr, wie fühlt sich Alexander?« Er ist traurig. Sie versucht dann herauszuarbeiten, woran man die Traurigkeit erkennen kann. »Welche Hinweise in Alexanders Gesicht zeigen euch, dass er traurig ist?« Alexanders Mund ist heruntergezogen; sein Kinn ist gerunzelt, und seine Augen schauen nach unten. Die Traurigkeit wird dann mit anderen Gefühlen verglichen, um die Unterschiede zu verdeutlichen. »Alexander ist traurig; er ist nicht …« Ein anderes Foto wird gezeigt. »Menschen zeigen ihre Traurigkeit auf unterschiedliche Art und Weise.« Die Lehrerin demonstriert, wie ihr Gesicht und ihr Körper aussehen, wenn sie traurig ist, und hebt die Anzeichen hervor: »Zeigt eurem Nachbarn oder eurer Nachbarin ein trauriges Gesicht und eine traurige Körperhaltung.« Die Kinder erforschen jetzt im Gesicht und am Körper ihres Tischnachbarn oder ihrer Tischnachbarin Anzeichen von Traurigkeit. Die Lehrerin könnte dann zum Beispiel sagen: »Wenn wir traurig sind, dann sind wir über etwas oder jemanden unglücklich. Verletzt zu sein ist ein ähnliches Gefühl wie Traurigkeit. Manchmal fühlen wir uns durch das, was andere sagen oder tun, verletzt.« Sie kann die Kinder dann nach Situationen fragen, in denen sie sich verletzt und traurig gefühlt haben. Sie achtet darauf, dass die Kinder tatsächlich über die Traurigkeit sprechen. Um den Unterschied zu anderen Gefühlen noch einmal zu verdeutlichen, kann sie die folgende Frage stellen: »Welche anderen Gefühle sind so ähnlich wie die Traurigkeit?« Deprimiert, enttäuscht et cetera. Das Vorgehen im Kindergarten ist sehr ähnlich. Dort eröffnet die Erzieherin die entsprechende Lektion mit dem Satz: »Heute sprechen wir über Gefühle. Wenn Ihr die Gefühle anderer Menschen kennt, könnt ihr besser mit ihnen auskommen. Ich zeige euch jetzt nacheinander die Bilder von drei Kindern. Ihr sollt

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mir sagen, was jedes dieser Kinder fühlt.« Dann spricht sie mit den Kindern über die gezeigten Gefühle.

■ II. Problemlösung und Impulskontrolle Mit der Vermittlung von Problemlösungskompetenzen und mit dem Training sozialer Verhaltensfertigkeiten in Konfliktsituationen verbindet FAUSTLOS zwei Strategien, die Kinder in der Entwicklung von Konfliktfähigkeit und Impulskontrolle fördern. Als sozial-emotionales Lernen werden Möglichkeiten zur Problemlösung in fünf Schritten vermittelt: Schritt 1: Was ist das Problem? Schritt 2: Welche Lösungen gibt es? Schritt 3: Frage dich bei jeder Lösung: Ist sie ungefährlich? Wie fühlen sich die Beteiligten? Ist sie fair? Wird sie funktionieren? Schritt 4: Entscheide dich für eine Lösung und probiere sie aus. Schritt 5: Funktioniert die Lösung? Wenn nicht, was kannst du jetzt tun? Die einzelnen Schritte werden systematisch nacheinander erarbeitet. Im ersten Schritt lernen die Kinder, Probleme anhand mimischer, gestischer und situativer Hinweise zu beschreiben. Dabei kommt es darauf an, die Problemstellung neutral beziehungsweise so zu formulieren, dass die Perspektiven aller an dem Problem beteiligten Personen darin zum Ausdruck kommen. Im zweiten Schritt lernen die Kinder die Methode des »Brainstormings« kennen. Das Brainstorming dient der Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten. Hier ist zunächst nicht die Art oder Qualität der Lösungsvorschläge entscheidend. Wichtig ist, dass die Kinder lernen, möglichst viele Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, ohne diese bereits zu bewerten. Um die Auswertung der gefundenen Lösungen anhand von vier Fragen geht es erst im dritten Schritt. Der vierte Schritt verlangt dann von den Kindern die Entscheidung für

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eine Lösung, die sie auf der Grundlage der Informationen aus ihrer Auswertung treffen sollen. Im fünften Schritt überprüfen die Kinder die Wirksamkeit der jeweiligen Lösung und reflektieren den Problemlösungsprozess. Falls die gewählte Lösung nicht den gewünschten Erfolg zeigt, setzt der Problemlösungsprozess wieder beim zweiten Schritt ein. Um die Anwendung des Problemlösungsverfahrens üben zu können, bieten die Lektionen zur Impulskontrolle eine Reihe von fiktiven Problemsituationen, die die Kinder lösen sollen. Wesentliches Element bei der Problemlösung ist die Technik des »lauten Denkens«. Dabei führen die Kinder einen Dialog mit sich selbst, in dem sie die Fragen des Problemlösungsverfahrens und die Antworten aussprechen. Diese Form des sprachlichen Ausdrucks fördert die Erinnerung, das Bewusstwerden, das Lernen von Unterschieden und die Fähigkeit zur Kontrolle im motorischen Verhalten. Im FAUSTLOS-Curriculum werden auch Möglichkeiten geübt, sich angemessen zu verhalten. Dieses Training soll den Kindern ermöglichen, sich in sozialen Situationen angemessen verhalten zu können. Die entsprechenden Lektionen enthalten Problemsituationen, zu deren Lösung das erlernte Problemlösungsverfahren angewendet werden kann. So soll zum Beispiel in einer Lektion das Problem gelöst werden, das sich einem Kind stellt, wenn es mit einem Spielzeug spielen möchte, mit dem gerade ein anderes Kind spielt. Dazu werden zunächst die Problemlösungsfragen gestellt und beantwortet. Nach der Auswertung der Lösungsvorschläge entscheiden die Kinder sich im vierten Schritt dafür zu teilen. Zusammen mit den Kindern werden nun konkrete Verhaltensschritte für das »Teilen« entwickelt. In einem anschließenden Rollenspiel soll das Gelernte umgesetzt werden.

■ III. Umgang mit Ärger und Wut In dieser Einheit werden Techniken zum Umgang mit heftigen Gefühlen vermittelt. Das für die Interventionsarbeit mit aggressiven Jugendlichen und Erwachsenen entwickelte Verfahren hat sich auch als wirkungsvolle Präventionsform für Kinder erwiesen.

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Die Techniken beinhalten Komponenten zur körperlichen Entspannung und kognitive Strategien zum Problemlösen. Sie zielen darauf ab, die Wahrnehmung der Auslöser von Ärger mit dem Gebrauch positiver Selbst-Verstärkungen und mit Beruhigungstechniken zu verbinden. So können Wutanfälle verhindert werden, und die Kinder haben die Möglichkeit, über den Vorfall nachzudenken, der den Ärger ausgelöst hat. Wie schon bei der Impulskontrolle dient auch hier das »laute Denken« zur Verhaltenssteuerung. Für den Umgang mit Ärger und Wut lernen die Kinder folgendes Verfahren: 1. Wie fühlt sich mein Körper an? 2. Beruhige dich: Hole dreimal tief Luft. Zähle langsam rückwärts. Denke an etwas Schönes. Sage »Beruhige dich« zu dir selbst. 3. Denke laut über die Lösung des Problems nach. 4. Denke später noch einmal darüber nach. Im ersten Schritt lernen Kinder, körperliche Anzeichen für Ärger und Wut zu identifizieren beziehungsweise Ärgergefühle auf der Basis körperlicher Empfindungen zu erkennen und auszudrücken. Der zweite Schritt dient der Reduktion der Ärgergefühle durch vier aufeinander folgende Beruhigungstechniken. Die Ärgerreduktion ist die Voraussetzung für den nächsten Schritt, in dem die Kinder das Problemlösungsverfahren anwenden. Abschließend wird der Prozess reflektiert. Wie beim Problemlösen in der Einheit II eignet sich auch dieses Verfahren zum Umgang mit Ärger und Wut zur Vermittlung spezifischer Verhaltensfertigkeiten. Das sind beispielsweise im Kindergarten die folgenden Lektionen: 1. Lektion: Bin ich wütend? 2. Lektion: Sich beruhigen. 3. Lektion: Umgang mit Verletzungen. 4. Lektion: Umgang mit Beschimpfungen und Hänseleien. 5. Lektion: Umgang damit, etwas weggenommen zu bekommen. 6. Lektion: Umgang mit der Tatsache, etwas nicht zu bekommen, was man will.

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■ Die Implementierung von FAUSTLOS FAUSTLOS wurde sowohl für den Kindergarten als auch für die Grundschule entwickelt, um die unterschiedlichen alters- und entwicklungsabhängigen Fähigkeiten und Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen. FAUSTLOS ist ein sehr praxisorientiertes Curriculum, das sich in seinem didaktischen Aufbau eng an die pädagogischen Anforderungen einer Schulstunde oder einem Spielkreis im Kindergarten anlehnt. Das Curriculum für den Kindergarten vermittelt die oben genannten Einheiten in insgesamt 28 Lektionen. Die insgesamt 51 Lektionen des Grundschul-Curriculums beginnen in der ersten Klasse und werden bis zur dritten Klasse fortgeführt (s. Tab. 1). Tabelle 1: Der Aufbau des FAUSTLOS-Curriculums für die Grundschule im Überblick Einheiten

Lektionen 1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

Einheit I Empathieförderung

1–7

8–12

13–17

Einheit II Impulskontrolle

1–8

9–14

15–19

Einheit III Umgang mit Ärger und Wut

1–7

8–11

12–15

22

15

14

Insgesamt

Zurzeit wird FAUSTLOS für die Sekundarstufe entwickelt. Diese Differenzierung in die Jahrgangsstufen gewährleistet eine altersadäquate, vor allem aber eine kontinuierliche Vermittlung sozialer Fertigkeiten über viele Jahre. Idealiter wird ein Kind im Kindergarten zum ersten Mal in FAUSTLOS unterrichtet und erhält dann von der Grundschule über die Sekundarstufe in jedem Schuljahr weitere, aufeinander aufbauende Lektionen in den dargestellten drei Einheiten. Jede Lektion bezieht sich auf eine Fähigkeit, die die Kinder lernen sollen, und nimmt circa 20 Minuten im Kindergarten, in der Schule zwischen 30 und 45 Minuten in Anspruch. Da die Lektionen aufeinander aufbauen, sollen sie in der vorgegebenen Reihenfolge unterrichtet werden. Für die Durchführung in Schule und

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Prävention und Frühintervention

Kindergarten hat sich das Unterrichten von einer Lektion pro Woche als optimal erwiesen. Bei dieser Frequenz benötigen Lehrerinnen und Erzieherinnen für die vollständige Durchführung des Curriculums im Kindergarten circa 28 Wochen, in der Schule verteilen sich die Lektionen auf die einzelnen Klassenstufen. In der Grundschule wird FAUSTLOS oft erst in der zweiten Klasse begonnen, weil sich die Kinder im ersten Jahr in die Schule eingewöhnen, dann finden die Lektionen meistens alle 14 Tage statt. Das Programm wird nicht von externen Experten, sondern von den Lehrkräften selbst unterrichtet und kann problemlos in verschiedene Stunden des Regelunterrichts integriert werden. Um die hohe Qualität und Effektivität des Curriculums zu gewährleisten, durchlaufen die Lehrkräfte zu Beginn ein eintägiges Fortbildungsseminar durch das Heidelberger Präventionszentrum.2 Zentraler Bestandteil der Fortbildung ist die praktische Übung einzelner Lektionen in intensiver Kleingruppenarbeit und Rollenspielen. Im Idealfall nimmt das gesamte Kollegium an der Fortbildung teil, um so den Transfer der neu erlernten Kompetenzen in den gesamten schulischen Lebensalltag der Kinder nachhaltig zu unterstützen. Des Weiteren sollte gewährleistet sein, dass die durchführenden Personen über einen längeren Zeitraum mit einer Gruppe von Kindern arbeiten und über pädagogische Basiskompetenzen verfügen.

■ Evaluation der Effekte des Curriculums Qualitätssicherung auch im Sinne begleitender Effektivitätsstudien ist ein integrativer Bestandteil von FAUSTLOS beziehungsweise Second step (vgl. den Überblick von Schick, in Vorb.). In den Pilotstudien zum amerikanischen Original-Curriculum konnte bereits gezeigt werden, dass sich Second step förderlich auf die unterrichteten »violence prevention skills« (Beland 1988, S. 3) wie zum Beispiel die Vorhersage von Konsequenzen, Ärger-Management und Brainstorming-Fähigkeiten auswirkte. Auch mit der ersten deutsch2 Ausführliche Informationen unter http://www.faustlos.de

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sprachigen Version des Curriculums verbesserten sich die sozialen Kompetenzen der Kinder und sie lehnten aggressive Verhaltensweisen als Mittel der Konfliktlösung verstärkt ab (vgl. Hahlweg et al. 1998). Grossman et al. (1997) fanden in ihrer Untersuchung, dass die Teilnahme an Second step körperliche und verbale Aggressionen der Kinder verminderte und zu einer Steigerung prosozialer und neutraler Interaktionen führte (vgl. auch Frey et al. 2000). Auch die Studie von McMahon et al. (2000) belegt einen Rückgang verbaler und körperlicher Aggressionen und zeigt, dass Second-step-Kinder andere Kinder weniger häufig ablenkten oder störten, Gefühle besser identifizieren und die Folgen von Handlungen besser vorhersagen konnten als Kinder ohne Second-stepUnterricht. In der deutschen Dreijahres-Studie im Kontrollgruppendesign konnte zudem gezeigt werden, dass FAUSTLOS eine spezifische Angst reduzierende Wirkung hat und in hohem Maß einen Transfer der neu hinzugewonnenen Kompetenzen in den Alltag der Kinder unterstützt (Schick u. Cierpka 2003). Insgesamt zeigten sich in dieser Studie für ein Präventionsprogramm recht große Effekte. Dies ist insofern hervorzuheben, weil mit Präventionsprogrammen im Allgemeinen meist nur geringe Effekte erzielt werden können, da die Mehrheit der unterrichteten Kinder nicht verhaltensauffällig ist und deshalb von vornherein keine dramatischen Veränderungen zu erwarten sind (vgl. Beelmann et al. 1994; Durlak u. Wells 1997). Die beschriebenen positiven Entwicklungen spiegeln sich auch in den qualitativen Rückmeldungen von Lehrkräften wider, die mit FAUSTLOS arbeiten. So beurteilten die Lehrerinnen, die an der Dreijahres-Studie teilnahmen, die Unterrichtsmaterialien und die Rollenspiele durchweg als sehr gut bis gut. Die Eignung des Curriculums zur Verbesserung des Sozialverhaltens und zur Prävention aggressiven Verhaltens schätzten sie ebenfalls als gut ein. Diese Einschätzung zeigte sich aus der Perspektive der Lehrerinnen auch in den tatsächlichen Effekten der FAUSTLOS-Lektionen. So habe sich das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler verbessert, und auch bezüglich deren aggressiven Verhaltens zeigten sich aus der Sicht der Lehrerinnen positive Effekte. Zudem berichten Lehrkräfte immer häufiger von positiven »Nebeneffekten« des Programms, wie einer spürbaren Verbesserung des Klassen-

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und Lernklimas, einem deutlichen Zuwachs an verbalen Kompetenzen der Kinder und positiven Auswirkungen auf ihren eigenen Interaktionsstil. Die erste Studie zur Effektivität des FAUSTLOSProgramms für Kindergärten (im Kontrollgruppendesign) zeigte signifikante Verbesserungen der sozial-kognitiven Gewaltpräventionskompetenzen der Kinder. So konnten die FAUSTLOS-Kinder Gefühle anderer Menschen differenzierter beschreiben und besser identifizieren, sie entwickelten für zwischenmenschliche Probleme mehr Lösungsmöglichkeiten, gaben an, in verschiedenen Konfliktsituationen häufiger sozial kompetent zu reagieren, antizipierten mehr negative Konsequenzen aggressiver Verhaltensweisen und verfügten über ein größeres Repertoire an Beruhigungstechniken. Diese neu erlernten sozial-kognitiven Kompetenzen setzten die Kinder aus der Sicht ihrer Eltern nach einem Jahr FAUSTLOS allerdings noch nicht in sichtbare Verhaltensänderungen um. Nur die Erzieherinnen und auch die objektiven Beobachterinnen und Beobachter konnten einige Verhaltensänderungen der FAUSTLOS-Kinder feststellen. Die Erzieherinnen gaben an, dass die Kinder durch FAUSTLOS häufiger mit anderen Kindern verhandeln, mehr konstruktive Vorschläge machen und beim Spielen häufiger mit anderen abwechseln würden. Objektive Verhaltensbeobachtungen belegten darüber hinaus, dass die FAUSTLOS-Kinder seltener verbal aggressiv reagierten (Schick u. Cierpka 2004).

■ Schlussbemerkung Neben der eingehenderen Untersuchung der Wirkungsweise des »Basisprogramms« sollte auch die begleitende Elternarbeit weiter vorangetrieben, entwickelt und evaluiert werden. In einem ersten Schritt wurde ein Begleitbuch verfasst, das Eltern und Erziehenden Möglichkeiten aufzeigt, wie die Inhalte des Programms außerhalb von Schule und Kindergarten unterstützt und gefestigt werden können (Cierpka 2005). Das Heidelberger Präventionszentrum bietet zudem begleitende FAUSTLOS-Kurse für Eltern an.

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■ Literatur Beelmann, A.; Pfingsten, U.; Lösel, F. (1994): Effects of training social competence in children: A meta-analysis of recent evaluation studies. Journal of Clinical Child Psychology 23(3): 260–271. Beland, K. (1988a): Second Step. A violence-prevention curriculum. Grades 1–3. Seattle: Committee for Children. Beland, K. (1988b): Second Step, grades 1–3: Summary report. Seattle: Committee for Children. Cierpka, M. (2005): FAUSTLOS – Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen. Freiburg. Cierpka, M. (Hg.) (2001): FAUSTLOS. Ein Curriculum zur Prävention von aggressivem und gewaltbereitem Verhalten bei Kindern der Klassen 1 bis 3. Göttingen. Cierpka, M. (Hg.) (2004): FAUSTLOS. Ein Curriculum zur Förderung sozialemotionaler Kompetenzen und zur Gewaltprävention für den Kindergarten. Göttingen. Durlak, J. A.; Wells, A. M. (1997): Primary prevention mental health programs for children and adolescents: A meta-analytic review. American Journal of Cummunity Psychology 25(2): 115–152. Frey, K. S.; Hirschstein, M. K.; Guzzo, B. A. (2000): Second Step: preventing aggression by promoting social competence. Journal of Emotional and Behavioral Disorders 8(2): 102–112. Grossmann, D. C.; Neckerman, H. J.; Koepsel, T. D.; Liu, P.-Y.; Asher, K N.; Beland, K.; Frey, K.; Rivara, F. P. (1997): Effectiveness of a violence prevention curriculum among children in elementary school. Journal of the American Medical Association 277(20): 1605–1611. Hahlweg, K.; Hoyer, H.; Naumann, S.; Ruschke, A. (1998): Evaluative Begleitforschung zum Modellprojekt »Beratung für Familien mit einem gewaltbereiten Kind oder Jugendlichen«. Abschlussbericht. Braunschweig: Technische Universität Braunschweig. McMahon, S. D.; Washburn, J.; Felix, E. D.; Yakin, J.; Childrey, G. (2000): Violence prevention: Program effects on urban preschool and kindergarten children. Applied & Preventive Psychology 9: 271–281. Schick, A.; Cierpka, M. (2004): FAUSTLOS – Ein Gewaltpräventions-Curriculum für Grundschulen und Kindergärten. In Melzer W.; Schwind H.-D. (Hg.), Gewaltprävention in der Schule. Baden-Baden, S. 54–66. Schick, A.; Cierpka, M. (2003): FAUSTLOS: Evaluation eines Curriculums zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen und zur Gewaltprävention in der Grundschule. Kindheit und Entwicklung 12: 100–110. Schick, A. (in Vorb.): Evaluationsstudien zum Gewaltpräventions-Curriculum FAUSTLOS. Praxis der Rechtspsychologie. Wilson, S. J.; Lipsey, M. W.; Derzon, J. H. (2003): The effects of school-based intervention programs on aggressive behavior: A meta-analysis. Journal of Consulting and Clinical Psychology 71(1): 136–149.

Die Autorinnen und Autoren

Hartmut Amft, Prof. Dr. med., Diplom-Motologe, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und Sportmedizin, ist Professor für Sozialmedizin an der Fachhochschule Darmstadt im Fachbereich Sozialpädagogik. Lars Aulbach studiert Lehramt an Sonderschulen an der Universität Frankfurt/Main, arbeitet an der »Dezentralen Förderschule für Erziehungshilfe und Kranke« in Dietzenbach und ist Mitarbeiter bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Sarah Yvonne Brandl, Dr., Psychologin, ist Mitarbeiterin am MaxPlanck-Institut für Hirnforschung, am Institut für Methodenlehre und Evaluation der Universität Frankfurt/Main sowie am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt. Dieter Bürgin, em. ordentlicher Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Basel, ist Ausbildungsanalytiker und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Betty Caruso, B. A. Education, M. A. Psychology/Counseling ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Manfred Cierpka, Prof. Dr. med., Arzt für Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, Familientherapeut, ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Universitätsklinikum Heidelberg.

Die Autorinnen und Autoren

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Frank Dammasch, Dr. phil., Diplom-Soziologe, Diplom-Pädagoge, Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, Kontrollanalytiker und Dozent, war Leiter des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Hessen und ist jetzt Dozent am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt/Main und in eigener psychoanalytischer Praxis tätig. Manfred Döpfner, Prof. Dr. sc. hum., Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist Universitätsprofessor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leitender Diplom-Psychologe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln; Wissenschaftlicher Leiter des Instituts Köln der Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie. Katrin-Marleen Einert, Diplom-Pädagogin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Manfred Gerspach, Prof. Dr. phil, Diplom-Pädagoge, lehrt am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Darmstadt. Oliver Glindemann, Studium der Psychologie an der Technischen Universität in Darmstadt. Gerlinde Göppel, Diplom-Psychologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Studie »Psychische und psychosoziale Integration von verhaltensauffälligen Kindern im Kindergartenalter« im Sigmund-Freud-Institut Frankfurt. Klaus-Dieter Grothe, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, ist in eigener sozialpsychiatrischer Praxis tätig. Stephan Hau, Priv.-Doz. Dr. phil., Psychoanalytiker, ist Professor an der Linköping University, Schweden, und Gastprofessor am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt.

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Die Autorinnen und Autoren

Bernd Henke ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Hamburg. Paula Hermann, cand. psych. an der Technischen Universität Darmstadt, ist Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Pawel Hesse, Student der Pädagogik an der Universität Franfurt, ist Mitarbeiter bei der »Frankfurter Präventionsstudie« und der DPPT-Studie des Sigmund-Freud-Instituts. Jantje Heumann, Grundschullehrerin, cand. päd., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Frankfurter »Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Anke-Maria Horlbeck, Krankenschwester, Sozialpädagogin, Reitlehrerin und Reittherapeutin, ist in Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, arbeitet mit in einer sozialpsychiatrischen Praxis. Gerald Hüther, Dr. rer. nat. Dr. med. habil., Professor für Neurobiologie, ist Leiter der neurobiologischen Forschungsabteilung an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Göttingen. Gamze Karaca, Studentin der Diplom-Pädagogik in Frankfurt/ Main, ist Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Julia König, Studium der Erziehungswissenschaften, ist studentische Hilfskraft am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Frankfurt/Main. Gerd Lehmkuhl, Prof. Dr. med., Diplom-Psychologe, Lehranalytiker, ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln. Jochen Lendle, Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet in eigener Praxis in Wiesbaden.

Die Autorinnen und Autoren

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Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. phil., Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin, ist Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt und Professorin für psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Hans von Lüpke, Dr. med., Kinderarzt, ist Psychotherapeut in eigener Praxis und hat Lehraufträge an den Universitäten Frankfurt/ Main, Mainz, Innsbruck und Erfurt. Dieter Mattner, Prof. Dr. phil., lehrt an der Fachhochschule Darmstadt im Fachbereich Sozialpädagogik. Peter Riedesser, Prof. Dr. med., ist Inhaber des Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Direktor der Klinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bernhard Rüger, Prof. Dr. rer. nat., lehrt am Institut für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter an der Hochschuldidaktischen Arbeitsstelle der Technischen Universität in Darmstadt und Mitarbeiter im ADHS-Projekt des Sigmund-Freud-Instituts. Alex Schwenk, Student der Pädagogik, ist Mitarbeiter bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-Freud-Instituts. Heidi Staufenberg, ist analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis und Dozentin am Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Frankfurt/Main. Sibylle Steuber, Diplom-Psychologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des SigmundFreud-Instituts. Nadine Teuber, Diplom-Psychologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des SigmundFreud-Instituts.

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Die Autorinnen und Autoren

Christiane Uhl, Diplom-Supervisorin, Pädagogin, ist Fortbildnerin, Lehrerin sowie Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« und in einer Praxis für Psychotherapie (HP), Supervision und Beratung in Kassel tätig. Judith Vogel, Diplom-Psychologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sigmund-Freud-Institut bei den Projekten »Developing Psychoanalytic Practice and Training«, der »Frankfurter Präventionsstudie« und der »Frankfurter Depressionsstudie«. Christina Waldung, Ausbildung am analytischen Institut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Frankfurt/Main, ist Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des SigmundFreud-Instituts. Lisa Wolff, Diplom-Psychologin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der »Frankfurter Präventionsstudie« des Sigmund-FreudInstituts.

Zum Weiterlesen Ulrike Schäfer / Wolf-Dieter Gerber AD(H)S – Die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitäts-Störung Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Lehrer 2007. Ca. 100 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46252-2 Der verbreiteten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung bei Kindern und Jugendlichen kann mit mehr Wissen darüber und spezifischen Einflussmöglichkeiten durch die Eltern und Lehrer wirksam begegnet werden.

Gerald Hüther Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn

Manfred Cierpka (Hg.) Möglichkeiten der Gewaltprävention 2005. 249 Seiten mit 6 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 3-525-46209-3 Gewalttätigen Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen, heißt Kinder und Familien in ihren verschiedenen Lebenszusammenhängen gezielt zu unterstützen. »Ein notwendiges Buch für alle an wirkungsvoller Präventionsarbeit interessierten Fachkräfte.« Sozialmagazin

Inge Seiffge-Krenke (Hg.) Aggressionsentwicklung zwischen Normalität und Pathologie

5. Auflage 2005. 139 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-01464-3

2005. 348 Seiten mit 18 Abb. und 22 Tab., kartoniert ISBN 3-525-46233-6

Der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther übersetzt die neuesten, faszinierenden Erkenntnisse der Neurobiologie in eine verständliche Sprache und zeigt dem Leser auf, wie er konkret für sein eigenes Leben daraus profitieren kann.

Aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen hat viele Facetten. Inwieweit gewaltsames Handeln als krankheitswertig anzusehen ist, bedarf einer genauen Analyse der Umstände und individuellen Entwicklung.

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Marianne Leuzinger-Bohleber / Stephan Hau / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung

Klaus Herding / Gerlinde Gehrig (Hg.) Orte des Unheimlichen

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 1. 2005. 353 Seiten mit 17 Abb. und 26 Tab., kartoniert. ISBN 3-525-45164-4

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 2. 2006. Ca. 304 Seiten mit ca. 70 Abb., kartoniert ISBN 3-525-45176-8

Stephan Hau / Hans-Joachim Busch / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 2. 2005. 254 Seiten mit 17 Abb., kartoniert. ISBN 3-525-45163-6

Marianne Leuzinger-Bohleber / Ilka von Zeppelin (Hg.) Ulrich Moser Psychische Mikrowelten – Neuere Aufsätze Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 1. 2005. 498 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 3-525-45165-2

Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst

Marianne Leuzinger-Bohleber / Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.) Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 3. 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 3-525-45177-6