Adel im antiken Drama: Eugeneia bei Aischylos, Sophokles und Euripides 9783823369141, 3823369148

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Adel im antiken Drama: Eugeneia bei Aischylos, Sophokles und Euripides
 9783823369141, 3823369148

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I Epos und Lyrik
1 Epos
1.1 Diomedes
1.2 Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς
1.3 Elite bilden
1.3.1 Das Kriterium der Leistung
1.3.2 Das Kriterium der Herkunft
1.3.3 Weitere Kriterien
1.3.4 Exkurs: Der Konflikt zwischen Agamemnon und Achilleus
1.4 Elite erhalten: Herkunft als Verpflichtung
1.5 Zusammenfassung
2 Lyrik
2.1 Theognis
2.1.1 γένος und πλοῦτος
2.1.2 Herkunft als Kriterium
2.1.3 ἀγαθός und κακός
2.1.4 Zusammenfassung
2.2 Pindar
2.2.1 Aristomenes – φυᾷ und ἐκ πατέρων
2.2.2 Wechselhaftigkeit des Schicksals und ihre Überwindung
2.2.3 Die Bedeutung der Herkunft
2.2.4 Zusammenfassung
Teil II Tragödie
3 Aischylos
3.1 Perser
3.1.1 Die persischen Soldaten
3.1.2 Atossa
3.1.3 Exkurs: Kassandra
3.2 Sieben gegen Theben
3.3 Orestie
3.3.1 Klytaimestra
3.3.2 Agamemnon
3.3.3 Zusammenfassung
3.4 Ergebnis der Untersuchung zu Aischylos
4 Sophokles
4.1 Aias
4.1.1 Aias und Tekmessa
4.1.2 Odysseus
4.1.3 Teukros, Agamemnon, Menelaos
4.1.4 Zusammenfassung
4.2 Philoktetes
4.2.1 Neoptolemos und Philoktetes
4.2.2 Neoptolemos und Odysseus
4.2.3 Zusammenfassung
4.3 Ergebnis der Untersuchung zu Sophokles
5 Euripides
5.1 Alkestis
5.1.1 Alkestis
5.1.2 Admetos
5.1.3 Herakles
5.1.4 Zusammenfassung
5.2 Herakliden
5.2.1 Herakles’ Familie
5.2.2 Makaria
5.2.3 Demophon
5.2.4 Alkmene und Eurystheus
5.2.5 Zusammenfassung
5.3 Elektra
5.3.1 Der Bauer
5.3.2 Elektra und Orestes
5.3.3 Zusammenfassung
5.4 Ion
5.4.1 Kreusa und das Königshaus
5.4.2 Der Alte
5.4.3 Ion
5.4.4 Xuthos
5.4.5 Zusammenfassung
5.5 Ergebnis der Untersuchung zu Euripides
Schluß
Anhang: Tabellarische Übersicht über die nicht behandelten Belege bei Aischylos,Sophokles, Euripides
Literaturverzeichnis
Textausgaben, Kommentare, Übersetzungen
Handbücher, Lexika
Sekundärliteratur
Indizes
Glossar griechischer Begriffe
Verzeichnis besprochener Stellen
Namensregister
Sachregister

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Adel im antiken Drama

DRAMA

Neue Serie · Band 16

Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Herausgegeben von Bernhard Zimmermann in Zusammenarbeit mit Juan Antonio López Férez (Madrid), Giuseppe Mastromarco (Bari), Bernd Seidensticker (Berlin), N.W. Slater (Atlanta), Alan H. Sommerstein (Nottingham), Pascal Thiercy (Brest).

Sarah Henze

Adel im antiken Drama Eugeneia bei Aischylos, Sophokles und Euripides

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Humanismus heute.

© 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: [email protected] Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1862-7005 ISBN 978-3-8233-6914-1

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 2013 bei der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereicht habe. Die Arbeit ist über einen Zeitraum von vielen Jahren entstanden; nach dem Eintritt in den Schuldienst geriet die Arbeit an der Dissertation zunächst ins Stocken und lag dann mehrere Jahre brach, bis ich sie im Rahmen eines Freistellungsjahres wiederaufnehmen und fertigstellen konnte. Die Spuren dieses Entstehungsprozesses ließen sich nicht vollständig glätten und sind auch jetzt noch sichtbar. Vielen habe ich zu danken, die am Werden der Arbeit Anteil nahmen. Zuallererst danke ich Prof. Dr. Jonas Grethlein, der mir einen wesentlichen Anstoß bei der Themenfindung gab. Ferner danke ich Prof. Dr. Andrea Bagordo, Dr. Stylianos Chronopoulos, Sybille Glatz, Prof. Dr. Jonas Grethlein, Prof. Dr. Christian Mann, Dr. Christian Orth und Dr. Natalia Pedrique, die eines oder mehrere Kapitel kritisch lasen und mich vor manchen Fehlern bewahrten. Der Stiftung „Humanismus heute“ bin ich dankbar für einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Besonderer Dank gebührt Dr. Stylianos Chronopoulos, der bei fachlichen und technischen Fragen jederzeit mit Rat und Tat half und der auch den Satz besorgte. Prof. Dr. Lefèvre übernahm das Zweitgutachten, obwohl er seit längerem aus den alltäglichen Verpflichtungen des universitären Alltags ausgeschieden ist; dafür sei ihm herzlich gedankt. Mein vorzüglichster Dank gilt meinem verehrten Lehrer und Doktorvater Prof. Dr. Bernhard Zimmermann, der meine Studien stets mit kritischem Blick und großer Geduld begleitete und mit mannigfachen Hinweisen lenkte; in fachlicher wie ideeller Hinsicht verdanke ich ihm vieles. Die Arbeit wäre nicht in dieser Form gediehen und zu einem Ende gelangt ohne die unermüdliche Unterstützung meiner Familie. Ich schulde ihr mehr, als sich in Worten sagen läßt.

Hausen im Wiesental, Oktober 2014

Sarah Henze

Inhaltsverzeichnis Vorwort.................................................................................................................... 5 Einleitung................................................................................................................. 9 Teil I: Epos und Lyrik 1 Epos................................................................................................................... 19 1.1 Diomedes................................................................................................ 20 1.2 Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς.............................. 21 1.3 Elite bilden.............................................................................................. 28 1.3.1 Das Kriterium der Leistung...................................................... 28 1.3.2 Das Kriterium der Herkunft..................................................... 29 1.3.3 Weitere Kriterien........................................................................ 32 1.3.4 Exkurs: Der Konflikt zwischen Agamemnon und Achilleus.............................................................................. 35 1.4 Elite erhalten: Herkunft als Verpflichtung......................................... 39 1.5 Zusammenfassung................................................................................ 40 2 Lyrik.................................................................................................................. 43 2.1 Theognis.................................................................................................. 43 2.1.1 γένος und πλοῦτος................................................................... 44 2.1.2 Herkunft als Kriterium.............................................................. 45 2.1.3 ἀγαθός und κακός.................................................................... 46 2.1.4 Zusammenfassung..................................................................... 50 2.2 Pindar...................................................................................................... 51 2.2.1 Aristomenes – φυᾷ und ἐκ πατέρων...................................... 51 2.2.2 Wechselhaftigkeit des Schicksals und ihre Überwindung.............................................................................. 56 2.2.3 Die Bedeutung der Herkunft.................................................... 59 2.2.4 Zusammenfassung..................................................................... 62 Teil II: Tragödie 3 Aischylos.......................................................................................................... 65 3.1 Perser ....................................................................................................... 65 3.1.1 Die persischen Soldaten............................................................ 65 3.1.2 Atossa........................................................................................... 67 3.1.3 Exkurs: Kassandra...................................................................... 69 3.2 Sieben gegen Theben................................................................................ 69 3.3 Orestie...................................................................................................... 74 3.3.1 Klytaimestra................................................................................ 75 3.3.2 Agamemnon............................................................................... 82

Inhaltsverzeichnis 8

3.3.3 Zusammenfassung..................................................................... 88 3.4 Ergebnis der Untersuchung zu Aischylos.......................................... 90 4 Sophokles......................................................................................................... 95 4.1 Aias........................................................................................................... 95 4.1.1 Aias und Tekmessa.................................................................... 95 4.1.2 Odysseus................................................................................... 100 4.1.3 Teukros, Agamemnon, Menelaos.......................................... 103 4.1.4 Zusammenfassung................................................................... 107 4.2 Philoktetes.............................................................................................. 107 4.2.1 Neoptolemos und Philoktetes................................................ 107 4.2.2 Neoptolemos und Odysseus.................................................. 116 4.2.3 Zusammenfassung................................................................... 120 4.3 Ergebnis der Untersuchung zu Sophokles...................................... 123 5 Euripides ....................................................................................................... 129 5.1 Alkestis................................................................................................... 129 5.1.1 Alkestis...................................................................................... 130 5.1.2 Admetos.................................................................................... 138 5.1.3 Herakles..................................................................................... 146 5.1.4 Zusammenfassung................................................................... 147 5.2 Herakliden.............................................................................................. 150 5.2.1 Herakles’ Familie...................................................................... 150 5.2.2 Makaria...................................................................................... 154 5.2.3 Demophon................................................................................. 164 5.2.4 Alkmene und Eurystheus....................................................... 167 5.2.5 Zusammenfassung................................................................... 173 5.3 Elektra.................................................................................................... 176 5.3.1 Der Bauer................................................................................... 176 5.3.2 Elektra und Orestes.................................................................. 189 5.3.3 Zusammenfassung................................................................... 197 5.4 Ion .......................................................................................................... 200 5.4.1 Kreusa und das Königshaus................................................... 200 5.4.2 Der Alte...................................................................................... 207 5.4.3 Ion............................................................................................... 209 5.4.4 Xuthos........................................................................................ 217 5.4.5 Zusammenfassung................................................................... 220 5.5 Ergebnis der Untersuchung zu Euripides....................................... 221 Schluß................................................................................................................... 227 Anhang: Tabellarische Übersicht über die nicht behandelten Belege bei Aischylos, Sophokles, Euripides........................................................... 237 Literaturverzeichnis............................................................................................ 247 Indizes................................................................................................................... 273

Einleitung Für den modernen Begriff des Adels gibt es im Griechischen keine einzelne Ent­sprechung. Begriffe wie εὐγένεια, ἀρετή, καλοκἀγαθία, οἱ δυνάμενοι beschreiben einzelne Aspekte dessen, was wir mit „Adel” fassen. Ferner gehören zum Selbstverständnis eines Adligen der griechischen Antike Eigenschaften, die wir heute nicht unbedingt mit Adel in Verbindung bringen, z. B. Schönheit. In der vorliegenden Untersuchung gehe ich nicht vom deutschen Wortfeld „Adel“ aus, sondern greife die Begriffe vom Stamm γεν- heraus, und zwar εὐ­ γέ­νεια/εὐγενής, γενναιότης/γενναῖος, δυσγένεια/δυσγενής, außerdem εὐ­ γενέτης, ἀγεννής, νοθαγενής, also diejenigen, die die edle oder niedere Herkunft bezeichnen.1 Der Grund für diese Auswahl liegt in dem auffälligen Befund. Die Zahl der Belege für Begriffe, die die vornehme Abstammung beschreiben, nimmt im Laufe des 5.  Jahrhunderts in bemerkenswerter Weise zu. Bei Homer, Pindar und Theo­gnis findet sich (ohne Berücksichtigung der Fragmente) jeweils nur ein Beleg, obwohl die Herkunft nach dem Bild, das wir aus ihrer Dichtung gewinnen, für die Entwicklung des einzelnen wichtig ist. Im 5.  Jahrhundert nimmt die Verwendung dieser Begriffe immer mehr zu, besonders in der Tragödie. In den vol­lständig erhaltenen Tragödien gebraucht Aischylos die Begriffe vom Stamm γεν- achtmal, Sophokles 34mal, Euripides etwa 130mal.2 Der Verweis auf die hohe Abstammung nimmt in einer Zeit zu, in der die Aristokratie in Athen zunehmend an Einfluß verliert, weil die Demokratie entsteht und sich bald radikalisiert. Das legt die Vermutung nahe, daß beide Entwicklungen zusammenhängen, etwa weil die nachlassende Bedeutung in politischer Hinsicht nach einer vermehrten Rechtfertigung verlangte oder weil traditionelle Erklärungsmuster einer Erneuerung bedürften. Es ist daher zu untersuchen, welche Vorstellungen von Adel den jeweiligen Fundstellen zugrundeliegen und ob oder wie sie sich verändern. Aus althistorischer Perspektive sind Fragen zur Aristokratie im alten Griechenland gut erforscht. Die Untersuchungen behandeln z. B. die Entwicklung der Aristokratie und fragen nach der Veränderung des gesellschaftlich-politischen Einflusses des Adels oder arbeiten unter dem Aspekt des Selbstverständnisses 1

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Der Begriff γένος kommt hier nicht in Betracht, weil er die Herkunft allgemein, nicht die vornehme Herkunft im engeren Sinne bezeichnet. Die Berücksichtigung der Verwendung des Begriffs γένος würde den Befund undeutlich machen. Wo γένος-Stellen für unsere Fragestellung relevant sind, werden sie durch weitere Begriffe ins Blickfeld gerückt und durch den Kontext erhellt. Bei einer günstigeren Quellenlage, wenn wir etwa die kyklischen Epen und die frühgriechische Dichtung vollständig besäßen, stellte sich der Anstieg der Belege unter Umständen weniger steil dar. Die geringe Dichte der fraglichen Begriffe innerhalb der erhaltenen archaischen und die hohe Dichte innerhalb der erhaltenen klassischen Literatur erlaubt es meines Erachtens allerdings, von einem zumindest ähnlichen Befund auch in den nicht erhaltenen Werken auszugehen.

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Einleitung

der Aristokratie heraus, welche Bedeutung die Herkunft im politischen Diskurs hatte, wie man sich ihrer als Argument bediente und ob dies der Karriere förderlich oder schädlich war. Exemplarisch seien folgende Arbeiten genannt: Dondorff (1891) stellt die Entwicklung der Aristokratie dar, indem er Veränderungen der Aristokratie als Verfassungsform durch Veränderungen in der Aristokratie als gesellschaftlicher Schicht begründet. Loenen (1926) nennt Reichtum, Bildung und edle Abstammung als Grundlagen des Adels und untersucht die Einstellung gegenüber dem Adel, die aus den schriftlichen Quellen zu entnehmen ist. Er findet die Betonung eines Adels von Natur aus, die sich aus der Herkunft ergebende Verpflichtung, die Verwendung der Abstammung als Argument im Schlagabtausch mit politischen Gegnern, Kritik am Adel. Ausführlich befaßt er sich mit dem Gedanken eines athenischen Adels durch Autochthonie; im Laufe des 5. Jahrhunderts erkennt er eine ethische Bedeutungsverschiebung aufgrund der Demokratisierung. Diesen letzten Gedanken belegt er vor allem mit Zitaten aus Euripidesfragmenten.3 Stark von der politischen Situation ihrer eigenen Zeit beeinflußt sind die Arbeiten von Bethe (1935) und Haedicke (1937). Bethe untersucht die Bedeutung der Vorfahren für das Selbstverständnis des griechischen Adels, Haedicke geht von den literarischen Zeugnissen aus, stellt jedoch in hohem Maße ideologisch geprägte Fragen an die Texte. Er fragt nach den griechischen Vorstellungen von Vererbung und Rassebildung und versucht, zeitgenössische Zucht- und Rasselehren in der griechischen Antike zu verankern. Nach Art damaliger Forschungen sucht Haedicke des Dichters eigene Anschauung und kommt, gestützt vor allem auf Euripidesfragmente, zu Schlußfolgerungen, die die vorliegende Untersuchung als unhaltbar erweist. Der Adel als soziale Schicht ist das Thema der gänzlich historisch ausgerichteten Arbeit von Gernet (1938), Welskopf (1965) befaßt sich in stark ideologischer Färbung mit Fragen der Elitebildung. Immer wieder hat sich Donlan aus historischer Perspektive mit der Aristokratie und ihrem Selbstverständnis befaßt. Donlan (1973) arbeitet die Funktion des εὐγένεια-Konzepts als einer Legitimation des adligen Führungsanspruchs vor dem Hintergrund egalitärer Tendenzen in der Demokratie heraus. Donlan (1980) untersucht die Entwicklung des Aristokratiebildes, die er in einer Wechselwirkung mit den gesellschaftlich-politischen Veränderungen bis zum Ende des 5. Jahrhunderts erfolgen sieht. Das aristokratische Ideal erhalte von daher defensive Züge. In der Literatur findet er seine zahlreichen Belege, die er thematisch zusammenstellt und für sich sprechen läßt, oft ohne eingehendere Berücksichtigung des Kontexts und Deutung. Arnheim (1977) stellt die Entwicklung der griechischen Aristokratie dar, indem er fragt, wer dazugehört, welchen Einfluß sie hat, in welchem Verhältnis die verschiedenen aristokratischen Familien zueinander stehen, wie sich bei einzelnen Vertretern ihre aristokratische Herkunft politisch äußert. Im engeren Sinne literarische Zeugnisse dienen lediglich als Belege, sind aber nicht Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Wenig Deutung bietet Schulz (1981). Sie fragt nach den Bezeichnungen für Aristokraten in der griechischen Literatur. Schulz läßt sich von der Aristokratie 3

Zu den Fragmenten vgl. unten.

Einleitung

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als Standesbegriff leiten und spricht von „Klassen“ und „Klassenhaß“.4 Zitate aus den Dichtern bleiben ohne ausreichende Berücksichtigung des Kontexts, als Materialsammlung ist die Arbeit gleichwohl hilfreich. Stein-Hölkeskamp (1989) analysiert und beschreibt den Adel mit seinem wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Umfeld. Sie untersucht die Handlungsspielräume für Aristokraten im archaischen Griechenland und in der athenischen Demokratie bis Perikles und fragt nach dem Verhältnis von Aristokraten und Demos. Dabei stützt sie sich im wesentlichen auf die Zeugnisse Homers, der Lyriker, Herodots und Thukydides’. Einen historisch-soziologischen Zugriff auf die griechische Gesellschaft wählt Ober (1989). Er setzt sich zum Ziel, die sozialen Wurzeln und die interne Wirkungsweise eines antiken Stadtstaates zu erklären. Ober untersucht das Verhältnis von Elite und Masse anhand moderner soziologischer Modelle, verknüpft mit einer Kommunikationstheorie, die die Sprache als ein System von Symbolen versteht, das den „Diskurs der athenischen Demokratie“ ermögliche. So möchte er zeigen, wie die demokratische politische Kultur in Athen entstand und Bestand hatte.5 Dabei stützt er sich im wesentlichen auf die Redner des 4.  Jahrhunderts. Im Kapitel „Status: Noble Birth and Aristocratic Behavior“6 stellt Ober die statusbildenden Faktoren für einen athenischen Aristokraten des 4.  Jahrhunderts dar, unter denen er Geburt und Verhalten die größte Bedeutung bei­mißt. Er behandelt die Demokratisierung des Geburtsprivilegs im Autochthoniekonzept7 und arbeitet heraus, wie die Redner die eigene Herkunft und die der Gegner in ihrer Argumentation verwendeten und welche Vorteile sie sich davon erhoffen konnten. Fouchard (1997) untersucht das aristokratische Selbstverständnis, das sich unter dem Eindruck der demokratischen Forderungen gegen Ende des 5. Jahrhunderts verändert und schließlich mit der demokratischen Polisideologie gebrochen habe. Das habe den aristokratischen Einfluß auf die Politik im 4. Jahrhundert nachhaltig geschwächt. Ein fundiertes Kapitel zur εὐγένεια findet sich bei Mann (2007).8 Er untersucht die verschiedenen Argumentationsmechanismen der athenischen Demagogen im 5.  Jahrhundert, darunter auch die Herkunft. Mann zeigt, daß eine politische Karriere grundsätzlich an die Abstammung gebunden war, die εὐγένεια jedoch eine geringe Bedeutung für die Bestimmung der politischen Macht eines Demagogen hatte, da mit der Betonung der eigenen εὐγένεια keine Sympathien beim athenischen Demos zu gewinnen waren. Anders verhielt es sich vor Gericht, wo der Verweis auf die Vorfahren in defensiver Absicht topisch war. In den vergangenen Jahrzehnten ist eine Reihe von Begriffsuntersuchungen zur griechischen Literatur entstanden. Hier sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Die eine geht von einem neusprachlichen Wortfeld aus, dessen verschiedenen 4

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Schulz (1981) passim, z. B. 69 über die homerische Gesellschaft, 109–111 über den Verfasser der pseudo-xenophontischen Verfassung der Athener. Ober (1989) 11–43. Ober (1989) 248–292. Ober (1989) 261–266. Mann (2007) 124–141.

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Einleitung

Aspekten die Arbeiten anhand einer größeren Zahl unterschiedlicher griechischer Begriffe nachgehen. Hier sind etwa die Arbeiten von Latacz (1966) oder Bernsdorff (1992) zu nennen, die Wortfelder bei Homer behandeln; einen linguistischen Ansatz verfolgt Kloss (1994). Die andere Gruppe von Begriffsuntersuchungen geht von einem griechischen oder lateinischen Begriff aus und fragt nach dessen Bedeutung und Relevanz, wie sie sich aus den antiken Texten ergeben. Beispiele sind hier Zieske (1972) mit dem lateinischen Begriff der felicitas, der stärker linguistisch operiert, eine Abgrenzung gegen Synonyme vornimmt und die Arbeit systematisch gliedert, oder Origa (2007), die über das Sophia-Konzept bei Euripides arbeitet, vor allem in Zusammenhang und Wechselwirkung mit der Sophistik. Einen besonders weiten inhaltlichen und chronologischen Horizont eröffnen Fisher (1992) zu Hybris- und Cairns (1993) zu Aidos-Vorstellungen. Die vorliegende Arbeit gehört zur zweiten Gruppe von Untersuchungen. Nicht ein modernes Konzept setzt den Rahmen, in dem die antiken Texte betrachtet werden, vielmehr bildet der griechische Begriff im Kontext den unmittelbaren Ausgangspunkt der semantischen Überlegungen. Die Überlegungen zu Homer bilden die Grundlage. In der Ilias taucht γενναῖος einmal auf. Diomedes spricht aus, was für ihn in der konkreten Situation γενναῖον ist; daraus ergibt sich für ihn nur ein mögliches Verhalten. Der Kontext der Ilias-Stelle evoziert das epische Heldenideal, dessen Werte in den folgenden Jahrhunderten immer wieder mit dem Begriff der εὐγένεια verknüpft sind. Es zeigt sich, daß dieser episch-heroische oder aristokratische Wertekanon bis zum Ende des 5. Jahrhunderts der Bezugspunkt ist, dem sich die untersuchten Begriffe in ihrer Verwendung annähern oder von dem sie sich absetzen. Das Kapitel zur Ilias ist daher verhältnismäßig ausführlich gehalten. Theognis und Pindar nehmen den Begriff auf je eigentümliche Art auf, verschieden aufgrund des unterschiedlichen Sitzes im Leben: Theognis befindet sich in einer Rechtfertigungssituation, Pindar dichtet ein Epinikion. Gemeinsam ist beiden die Betonung der Vorzüge, die in bedeutenden Familien von Generation zu Generation weitervererbt werden. Im Lauf des 5. Jahrhunderts nimmt die Anzahl der Belege deutlich zu. Deshalb mußte hier eine Auswahl getroffen werden. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der attischen Tragödie des 5. Jahrhunderts. Über die Verwendung der untersuchten Begriffe bei Herodot, Thukydides und Pseudo-Xenophon gebe ich unten einige Hinweise, über den Gebrauch bei Aristophanes und im 4. Jahrhundert im Schlußteil der Arbeit. Der methodische Zugriff auf die Belegstellen erfolgt über den Kontext. Es wird versucht, die Bedeutung und die Implikationen der Begriffe aus dem Ganzen der jeweiligen Tragödie zu erarbeiten, um anschließend zu einer Gesamtdeutung der einzelnen Tragödie unter dem Blickwinkel der εὐγένεια zu gelangen. Das thematische Zitieren einzelner Verse oder kleiner Versgruppen aus verschiedenen Tragödien, wie man es in älteren oder historisch ausgerichteten Arbeiten findet, führt meines Erachtens in die Irre. Zu wenig wird in der Regel nicht nur der Kontext berücksichtigt, sondern auch Sprecher, Adressat, Situation. Dadurch geht nicht nur manche Nuance verloren, auch Hinweise zur Ein-

Einleitung

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schätzung bestimmter Aussagen werden übersehen. Dergleichen Defizite sollen durch die Behandlung ganzer Dramen vermieden werden. Das hat Konsequenzen für Gliederung und Auswahl. Eine systematische Gliederung, die verschiedene Bedeutungsrichtungen der untersuchten Begriffe zur Grundlage nimmt, muß notwendigerweise die Belege einer Tragödie in verschiedenen Kapiteln behandeln; die Folge sind vereinzelte Szenen statt ganzer Dramen. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich dagegen nach Autoren und Werken. Sinnvollerweise muß die Besprechung einer Tragödie wiederum eine gewisse Ausführlichkeit besitzen; deshalb können nicht alle 28 Tragödien (einschließlich Kyklops), in denen Begriffe vom Stamm γεν- vorkommen, besprochen werden. Um dennoch eine möglichst große Zahl von Belegen zu untersuchen, habe ich die Auswahl vor allem nach numerischen, in Einzelfällen nach inhaltlichen Gesichtspunkten getroffen.9 Die notwendige Berücksichtigung des Kontexts wirft inbesondere bei der Deutung von Fragmenten Probleme auf. Durch zwei Kapitel bei Stobaios περὶ εὐγενείας und περὶ δυσγενείας (Stob. 4, 29–30) kennen wir zwar eine große Zahl von Fragmenten mit den Begriffen um εὐγένεια, aus den dargelegten Gründen erschien es aber sinnvoll, auf vollständig erhaltene Werke zurückzugreifen.10 Belege, die nicht ausführlich besprochen werden, sind in der Tabelle im Anhang zusammengefaßt. Historisch ausgerichtete Untersuchungen zur Aristokratie fragen, wie sich die Aristokratie als gesellschaftliche Schicht oder in ihrem Selbstverständnis entwickelt hat und warum dies auf ihre bestimmte Art und Weise geschah. Mit unterschiedlichen Gewichtungen erklären die Arbeiten beispielsweise, daß der Adel sich gegenüber dem erstarkenden Demos behaupten mußte; verweist ein Aristokrat in einer antiken Quelle auf seinen Adel, wird das als eine Rechtfertigung seines Anspruchs auf gesellschaftlich-politischen Einfluß verstanden.11 Die antike Literatur dient als „Steinbruch“, aus dem Belege nach Bedarf entnommen werden. Die althistorische Forschung dient meiner Arbeit als wertvoller Hintergrund; die Fragestellung ist allerdings eine andere. Die vorliegende Untersuchung fragt nicht, wie sich die Aristokratie gegen einen zunehmenden Machtverfall wehren konnte, sondern nimmt die Perspektive der Dichung ein und sucht mit ihr nach der Bedeutung der εὐγένεια. Ein erster Durchgang durch die Texte zeigt, daß die Begriffe bald unhinterfragt gebraucht, bald hinterfragt werden, bald von verschiedenen Sprechern verschie9

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So erfahren etwa Aischylos’ Sieben gegen Theben eine Behandlung, obwohl sie nur einen einzelnen Beleg enthalten; der Gedanke der Autochthonie ermöglicht jedoch eine Verknüpfung mit Euripides’ Ion. Dagegen wird Sophokles’ Oidipus auf Kolonos nicht ausführlich behandelt, obwohl sich darin sieben Belege finden; die Verwendung der Begriffe εὐγενής und γενναῖος ist jedoch zu wenig prägnant, um zu substantiellen Ergebnissen zu führen. Meist werden die Begriffe ganz nebensächlich gebraucht, als Anrede oder beiläufiges Lob oder Dankeswort, wenn einer sich freundlich verhält oder zu verhalten verspricht. Im Gegensatz zum Aias und zum Philoktetes wird die Bedeutung von εὐγένεια im Oidipus Koloneus nicht diskutiert; im Mittelpunkt des Dramas stehen andere Motive wie z. B. Asylsuche, Rache oder Tod. Die Stellen sind in der Tabelle im Anhang aufgeführt. Auch Fragmente vor dem 5. Jh. bleiben deshalb unberücksichtigt, etwa Phokylides, Sappho, Pindar. So z. B. Donlan (1973) 63–66.

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Einleitung

den ausgelegt werden, bald zu Widersprüchen führen. Es ist offensichtlich, daß die Begriffe in ihrer Semantik als zunehmend unklar oder unzureichend empfunden werden. Zunächst weniger, dann immer expliziter fragen die Texte – und wir mit ihnen –, was εὐγένεια heißt, ob dies den Ansprüchen genügt, ob das Verständnis von εὐγένεια verändert oder erweitert werden muß. Ausgangspunkt der Überlegungen sind stets die antiken Texte. Diese Beobachtungen und der auffallende Anstieg von Belegstellen im Verlauf des 5. Jahrhunderts führen zu der vorläufigen Hypothese, daß der Wert der εὐγένεια in seiner traditionellen Bedeutung unter dem Einfluß der Sophistik in Frage gestellt worden sei. Unter Sophistik fasse ich in diesem Zusammenhang die intellektuelle Bewegung, die unter anderem den Gegensatz von Nomos und Physis herausstellte, die Lehrbarkeit von Haltungen postulierte und Werte hinterfragte.12 Daraus habe sich, so die Ausgangshypothese, eine Diskussion des Begriffs entwickelt, die zu einer Verschiebung der Bedeutung geführt habe, weg von einer Betonung der biologischen Abstammung hin zu einer stärkeren Gewichtung der ethischen und charakterlichen Qualitäten des Trägers. Die Texte des „modernen“ Euripides scheinen den besten Nährboden abzugeben. Die hier vorgelegten Ergebnisse zeichnen jedoch ein anderes Bild. Die Untersuchung der Begriffe um εὐγένεια im Kontext erfordert eine kontinuierliche Bezugnahme auf die Handlung und die Akteure. Nur so kann der Gebrauch der Begriffe in seiner Bedeutung und Wertung beurteilt werden. Gegenüber Deutungen, die allgemein-menschliche Konstanten in den Tragödien betonten und deshalb auf und in die antiken Helden mit modernen Augen blickten, wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder Bedenken geäußert.13 Der Charakter der Handelnden im Drama wurde dem dramatischen Effekt, der Handlung, dem Plot mitunter rigoros untergeordnet, ferner wurde auf dramatische Konventionen wie den Gebrauch von Masken verwiesen, die eine Charakterzeichnung von vornherein reduzierten oder ausschlössen.14

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Vgl. hierzu beispielsweise Nestle (1901), Jaeger (1936), Heinimann (1945), Guthrie (1969). Exemplarisch für eine allgemein-humanistische Lesart der griechischen Tragödie sei Vickers (1973) genannt; ein früher Vertreter der entgegengesetzten Haltung ist etwa (Tycho) von Wilamowitz (1917). Scheinbar universale Konstanten menschlichen Erlebens sind kulturell geprägt, vgl. Goldhill (1990a) 100–105. So z. B. Gould (1978). Dem ist entgegenzuhalten, daß Konventionen zwar den Unterschied zwischen Illusion und Wirklichkeit markieren, das Publikum dem Geschehen jedoch in ähnlicher Weise folgt; Konventionen mögen fremd sein, sind aber erlernbar, vgl. Easterling (1990) 86–88. Seidensticker (2009) 207–215 nimmt ausführlich zu den Argumenten, die gegen eine charakterorientierte Interpretation vorgebracht werden, Stellung. Den Argumenten, nur männliche Schauspieler spielten verschiedene Rollen, standardisierte Kostüme und Masken verhinderten eine Charakterisierung, hält er die Professionalität der Protagonisten entgegen, die durch ein Modulieren der Stimme den Worten Gewicht und Emotionen verleihen könnten; dem Argument, die Größe des Theaters verhindere die individualisierte Charakterisierung, hält er die neuen archäologischen Erkenntnisse zum Dionysostheater in Athen entgegen, das deutlich kleiner war als lange angenommen; dem Argument, die hochstilisierte, homogene Kunstsprache schränke die Charakterisierungsmöglichkeiten erheblich ein, hält er entgegen, daß dies auch für die abendländische Tragödie gelte, ohne ein Hinderungsgrund für die Gestaltung komplexer Figuren zu sein.

Einleitung

15

Dem muß der Interpret griechischer Tragödien Rechnung tragen, indem er einige grundlegende Unterscheidungen berücksichtigt.15 Beide Positionen müssen sich nicht ausschließen. Die Handlungsträger der Dramen sind Bühnenfiguren, die keine Persönlichkeit mit einer Vergangenheit, einer Seele, einer Familie jenseits ihrer Rolle haben.16 Das bedeutet, daß Schlüsse über ihre Motive oder Einstellungen nur aus den Dramen entnommen und nicht gegen eine externe Wahrheit ihres „wirklichen“ Charakters überprüft werden könnten. Easterling (1990) spricht daher vom „Konstruieren von Charakteren“ auf der Seite des Rezipienten. Daraus ergibt sich, daß die Charaktere der Bühnenfiguren kein statisches, sondern ein dynamisches Wesen haben und sich im Verlauf des Dramas aus Handlungen und Dialogen entwickeln, die ihrerseits von der Metaphorik der jeweiligen Tragödie17 und der literarischen Tradition einer mythischen Figur18 bestimmt sind. Die Worte und Handlungen der Bühnenfiguren ermuntern immer wieder, nach ihren Motiven zu suchen und ihren Charakter zu konstruieren; Handlung und Charakter lassen sich nicht sauber trennen, weil das Innere anderer Menschen, seien sie real oder fiktiv, flüchtig ist.19 Herodot gebraucht εὐγενής/γενναῖος in einigen Passagen. Er verwendet den Begriff im Zusammenhang mit dem Krieg, in dem junge Männer Ruhm erwerben wollen (Hdt. 1, 37, 2) oder in dem sie nach tapferen Taten ruhmvoll sterben (Hdt. 7, 139, 3). Als εὐγενεῖς bezeichnet er ferner in Bezug auf verschiedene Völker die Vertreter einer gesellschaftlich hochgestellten Schicht (Hdt. 1, 173, 5; 2, 167, 1; 5, 6, 2; 7, 41, 1), einmal klingt der Gedanke der Blutreinheit mit (Hdt. 1, 146, 2). Eine deutliche Verbindung zum aristokratischen Wertekanon weist auch die Anrede des Dareios an einen Wohltäter als γενναιότατος auf; im selben Zusammenhang fällt der Begriff der χάρις. Auf demonstrative Art nennt Herodot die Meinung eines Persers γενναιοτάτη (Hdt. 8, 26, 2). Dieser äußert Achtung für die Gewohnheit der Griechen, ihre Wettkämpfe um den Preis eines Kranzes auszufechten; diese Äußerung wird ihm vom Perserkönig als Feigheit (δειλίη) ausgelegt. Der Gegensatz suggeriert eine andere Auffassung von ἀρετή bei Griechen und Persern und eine andere Einstellung gegenüber der materiellen Demonstration von Status, ein Gegensatz, der in der Ost-West-Dichotomie des herodoteischen Werkes immer wieder aufscheint. Der Sprecher beweist damit in griechischen Augen eine besondere Einsicht. Thukydides bezeichnet als εὐγενεῖς Angehörige der Oberschicht, etwa einen alten Olympiasieger, der in Athen einen Putschversuch unternimmt (Th. 1, 126, 3), oder den Adel im Umkreis des Königs (Th. 2, 97, 3). Auch heißt der mannhafte Kampf für das eigene Land, in dem man sich seiner Vorfahren als würdig erweist, γενναῖον, desgleichen der Tod auf dem Schlachtfeld (Th. 2, 41, 5; 4, 92, 7). In der Pathologie des Krieges steht das Verhalten, das γενναῖον oder 15 16

17 18 19

Vgl. hierzu Easterling (1990), Goldhill (1990a), Seidensticker (2009). Die scheinbare Realität ergibt sich aus der höheren Konzentration und bedeutungsvollen Formung der Bühnenfiguren, Easterling (1990) 89–90. Zum unterschiedlichen Charakterbegriff vgl. Seidensticker (2009) 216. Gould (1978) 60–62. Goldhill (1990a) 108–111. Easterling (1990) 93–99 macht dies am Beispiel von Sophokles’ Antigone anschaulich.

16

Einleitung

γενναιότης heißt, für die Aufrichtigkeit und das Vertrauen, das den gegenseitigen Umgang in der alten Zeit prägte (Th. 3, 82, 7; 3, 83, 1). Ähnlich ist der Begriff in der Hikesie des Themistokles gebraucht, der den ritterlichen Gedanken vorbringt, man dürfe sich nur von gleich zu gleich, nicht an Schwächeren rächen (Th. 1, 136, 4). Der Verfasser der pseudo-xenophontischen Schrift über die Verfassung der Athener gebraucht den Begriff γενναῖοι zur Bezeichnung der gesellschaftlichen Schicht, die dem Demos gegenübersteht. οἱ γενναῖοι und οἱ πλούσιοι sind ὁ δῆ­μος und οἱ πένητες gegenübergestellt (X. Ath. 1, 2). Da der Demos die Schiffe rudere und der Stadt so ihre Macht verschaffe, sei es recht und billig, daß er auch mehr politischen Einfluß habe. Während ein κωμῳδεῖν des Demos nicht geduldet werde, sei das Verspotten der πλούσιοι, γενναῖοι und δυνάμενοι erlaubt (X. Ath. 2, 18). Die Schrift stammt vermutlich aus konservativ-oligarchischen Kreisen in Athen; der Autor macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung der demokratischen Verfassung, stellt ihre Ausführung jedoch erstaunlich ausgewogen dar.20 Die zitierten Stellen begründen Eigentümlichkeiten der athenischen Demokratie, nämlich daß das Volk politische Entscheidungen treffe und daß es den gesellschaftlichen Diskurs in der Komödie kontrolliere. Der Zustand wird jeweils aus der Sicht des Volkes formuliert; in der ablehnenden Haltung der γενναῖοι durch das Volk ist eine ironische Brechung erkennbar. Der kurze Überblick über die Prosaschriften des 5. Jahrhunderts, in denen die untersuchten Begriffe auftauchen, zeigt einen weitgehend einheitlichen Gebrauch. εὐγένεια wird vorwiegend in gesellschaftlich-politischem Zusammenhang gebraucht, ferner werden der Krieger und sein Tod auf dem Schlachtfeld εὐγενής genannt. Diese Verwendung begegnet auch in der Tragödie regelmäßig, erscheint dort allerdings als einer Modifizierung bedürftig.

20

Vgl. Scardino/HGL I (2011).

Teil I Epos und Lyrik οὐ γάρ μοι γενναῖον καταπτώσσειν

1

Epos

Der erste Beleg für εὐγενής/γενναῖος in der überlieferten griechischen Literatur steht bei Homer.1 Die Ilias beschreibt Ereignisse, die in mykenischer Zeit spielen, die Tradition der mündlich komponierten und tradierten Epen reicht mindestens in die sogenannten dunklen Jahrhunderte, die schriftliche Fassung unserer Ilias stammt wahrscheinlich vom Beginn des 7. Jahrhunderts. Die Frage ist unumgänglich, welche Welt wir im Text vorfinden, welche Gesellschaft mit ihren Sitten und Gewohnheiten tatsächlich beschrieben ist, ob es ein Konglomerat verschiedener historischer Gesellschaften ist, ein rein literarisches Produkt, oder ob es mehr oder weniger die Welt einer der genannten Epochen ist. Die vorliegende Untersuchung geht nicht der Frage nach der Historizität der homerischen Gesellschaft nach, noch weniger der nach der Historizität des von der Ilias geschilderten Trojanischen Krieges. Vielmehr ist es die Suche nach den sozialen und ethischen Grundlagen, welche die Handlungen, ihre Ursachen und Begründungen ermöglichen und begreiflich machen.2 Im folgenden wird davon ausgegangen, daß die Ilias uns die Gesellschaft zur Zeit des Dichters vor Augen stellt, archaisierend freilich, so wie sich der Sänger des 8., 7. Jahrhunderts die Welt des Trojanischen Kriegs vorstellte.3 1

2

3

Wo nicht anders angegeben, zitiere ich die Ilias nach der Ausgabe von West (1998/2000), die Odyssee nach der Ausgabe von Allen (²1917). – „Homer“ sollen hier stellvertretend der bzw. die Sänger und Autoren heißen, durch die und in deren Nachfolge Ilias und Odyssee entstanden und schließlich in der uns überlieferten Form niedergeschrieben wurden. Damit stellt sich für die homerischen Epen die Frage ihrer Datierung freilich nicht im Sinne einer „Erfindung“, sondern als Bestimmung eines Zeitraums, in dem ihre schriftliche Fixierung wahrscheinlich ist. Für eine zunehmend späte Datierung vgl. Kullmann (1958) 546, (1992) 264, (2002a) 75–76, (2002b) 98–104, West (1966) 46–47, (1995), Burkert (1976), Taplin (1992), 33–35, van Wees (1994), Crielaard (1995), Dickie (1995), Raaflaub (1998) 187–188, Reichel/HGL I (2011) 28–29. Der Abstand zur beschriebenen Zeit wird bei einer späteren Datierung größer, was dem Effekt des „epic distancing“ zugute kommt (vgl. West (1995) 211–218, Kullmann (2002b) 101–104, Raaflaub (1998) 187–188). Als wahrscheinlich erscheint danach eine Niederschrift in den Jahren nach 680 oder 670. Episches und lyrisches Zeitalter fielen damit weitgehend zusammen. Für ihre Bewertung und Deutung ist zu fragen, aus welcher Zeit sie stammen. Zu den Unterschieden zwischen mykenischer und homerischer Gesellschaft vgl. Heubeck (1979) 233–245, zu Reminiszenzen der dark ages in den homerischen Epen vgl. Finley (1965) 41– 42, dagegen Raaflaub (1998), Assmann (1997) 48–51. Vgl. Austin/Vidal-Naquet (1973) 37–39, Latacz (1984) 26–29, Andreev (1988) 69, Stein-Hölkeskamp (1989) 15, van Wees (1992) 58, Kullmann (1995), Morris (1997) 558. Zur Archäologie vgl. z. B. Whitley (1991). – Die Rekonstruktion gesellschaftlicher Vorstellungen aus den Epen ist ein heikles Unterfangen. Ilias und Odyssee sind Dichtung. Der Dichter wählt nach dramatischen, nicht theoretischen oder informativen Gesichtspunkten aus, was er berichtet. Das Bild, das er uns zeichnet, ist in einem objektiven Sinne nicht vollständig, und nicht alles, was nicht erwähnt oder betont wird, können wir deshalb als nichtexistent oder unwichtig ansehen. Wir dürfen uns auch nicht dazu verleiten lassen, anhand des Werks eine Gesellschaftsordnung zu rekonstruieren, um das Bild, das wir im Werk vorfinden, anschließend an unserer Rekonstruktion zu messen. Allzu schnell sind wir in einem

20 Epos

1.1

Diomedes

Der Begriff der εὐγένεια fehlt bei Homer, doch findet sich ein Beleg für γεν­ ναῖος, das später synonym verwendet wird. Nachdem Pandaros, von Athena ver­leitet, mit einem Pfeil gegen Menelaos den vereinbarten Waffenstillstand gebrochen hat (Il. 4, 93–147), entbrennt der Kampf von neuem (Il. 4, 221). Agamemnon ermahnt seine Kämpfer (Il. 4, 230–421). Sein Vorwurf der Feigheit und Laschheit (Il. 4, 370–400) veranlaßt Diomedes, seine Stärke im Kampf zu beweisen, und mit dem 5. Gesang beginnt seine Aristie. Als Diomedes’ Wagenlenker Sthenelos sieht, wie sich Aineias und Pandaros nähern, rät er zum Rückzug (Il. 5, 239–250). Doch das weist Diomedes weit von sich: τὸν δ’ ἄρ᾿ ὑπόδρα ἰδὼν προσέϕη κρατερὸς Διομήδης· μή τι ϕόβονδ’ ἀγόρευ’, ἐπεὶ οὐδέ σε πεισέμεν οἴω· οὐ γάρ μοι γενναῖον ἀλυσκάζοντι μάχεσθαι οὐδὲ καταπτώσσειν· ἔτι μοι μένος ἔμπεδόν ἐστιν, ὀκνείω δ’ ἵππων ἐπιβαινέμεν. ἀλλὰ καὶ αὔτως ἀντίον εἶμ’ αὐτῶν· τρεῖν μ’ οὐκ ἐᾶι Παλλὰς ᾿Αθήνη. (Il. 5, 251–256) Da sah ihn von unten herauf an und sagte zu ihm der starke Diomedes: Rede mir nicht von Flucht, da ich nicht glaube, daß ich dir folge. Denn es ist für mich nicht γενναῖον, mich fernzuhalten vom Kampf oder zu ducken. Noch ist mir die Kraft beständig. Μir widerstrebt, auf den Wagen zu steigen. So wie ich hier bin, trete ich ihnen entgegen: nicht läßt mich zittern Pallas Athena.4

Diomedes sagt, es sei für ihn nicht γενναῖον zu weichen, noch fühle er Kraft, und Athena erlaube keine Furcht. Zanker übersetzt γενναῖος mit „befitting a noble“.5 Das ist bereits eine Deutung, und wie vorsichtig man mit ihr sein muß, wird sich noch erweisen. Um die Bedeutung von γενναῖος zu erfassen, wollen wir vom umgebenden Text ausgehen. Diomedes will keine Feigheit zeigen. Die Nachdrücklichkeit, mit der er diese Einstellung verteidigt, ist im Kontext der vorangehenden Szenen zu lesen. Agamemnon hatte Diomedes vorgehalten, er bleibe weit hinter seinem Vater Tydeus zurück, der immer unter den Vordersten gekämpft und sich nie feige gezeigt habe, der allein gegen viele angetreten und ihnen überlegen gewesen

4

5

Circulus vitiosus gefangen. Der Begriff der „epischen Distanz“ impliziert einen gewissen Vorbehalt gegenüber der historischen Faktizität. Durch die zeitliche Distanz des Erzählten erhält das Geschehen seine Würde. Die Ilias ist Kunst, der Gesang erhält einen eigenen Wert. Das Publikum will die Gesänge nicht nur deshalb hören, um etwas über den Trojanischen Krieg und die Vergangenheit zu erfahren, sondern auch, um sich am Gesang, an der Kunst zu erfreuen. Dadurch entstehe, so Redfield, quasi eine Verkehrung der Verhältnisse. Es scheint, als hätten die Ereignisse stattgefunden, damit Epen darüber gesungen werden könnten. Die Welt des Trojanischen Krieges wird zum Eigentum der Sänger, denen sie zu Diensten steht. So verliert sie gewissermaßen ihre Wirklichkeit, vgl. Redfield (1975) xi, Raaflaub (1998) 176–177 und 183, Haubold (2000) 6–7. Zum Begriff der „epischen Distanz“ vgl. Redfield (1975) 35–39. Die Übersetzungen der Stellen bei Homer beruhen auf den Übertragungen von Schadewaldt (1958) und (1975). Von mir vorgenommene Änderungen sind nicht eigens bezeichnet. Zanker (1994) 38.

Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς

21

sei, der Athenas Beistand genossen habe. Der Vater, einer der sieben Helden vor Theben, ist Vorbild und Maßstab für den Sohn. Bezeichnend sind die entgegengesetzten Reaktionen von Sthenelos und Diomedes. Sthenelos, ebenfalls Nachkomme eines der Sieben gegen Theben, Kapaneus’ Sohn, ist empört über den Vergleich, denn die Väter hätten Theben ja nicht besiegt, dies sei vielmehr den Söhnen gelungen. Dagegen akzeptiert Diomedes Agamemnons harsche Worte aus Scheu vor dem König (Il. 4, 402).6 Er begreift die Intention der mahnenden Anrede, das νεῖκος ist Konvention.7 Agamemnon als oberster Feldherr trägt die Verantwortung für den Ausgang des Krieges, ihm muß vor allem daran liegen, die Kampflust seiner Krieger zu wecken. Diomedes ermahnt Sthenelos, Agamemnon nicht zu widersprechen, und fordert ihn auf, tapfer zu kämpfen (Il. 4, 418). Agamemnon ist allerdings weniger aus Sorge um seine Leute an einem für die Griechen positiven Ausgang des Krieges interessiert, Diomedes nennt einen anderen Beweggrund. Es ist „sein“ Unternehmen, Agamemnon ist es, der am Ende den Ruhm, κλέος, oder eben die Ruhmlosigkeit davonträgt. Mit dem Streben nach Ruhm ist die legitime, allseits anerkannte und freimütig geäußerte Motivation für, insbesondere mutiges, Handeln im Epos genannt. Nach κλέος streben alle, die vor Troja kämpfen, auch Sthenelos und Diomedes. Die Behauptung, Tydeus sei der Bessere, ist gleichfalls Ausdruck dieses Ruhmesstrebens. Nur das κλέος, das nach seinem Tod bei den Menschen fortlebt, erlaubt ein solches Urteil über Tydeus. Will Diomedes die Unrichtigkeit des Urteils erweisen, hilft kein Argumentieren, wie Sthenelos es versucht, sondern nur, den Vater durch die Tat zu übertreffen und so seinen Ruhm in den Schatten zu stellen.

1.2

Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς

Einige der Helden vor Troja werden entweder regelmäßig oder in Situationen besonderen Heldentums mit Göttern verglichen oder als göttlich bezeichnet.8 Was sie jedoch ausnahmslos von den Göttern trennt, ist ihre Sterblichkeit. Die Besten unter den Griechen mögen übermenschliche Kräfte besitzen, und im Kampf mag ihnen gegen Götter ein Treffer gelingen.9 Doch keiner von ihnen ist unsterblich, und damit läuft jeder von ihnen Gefahr, bedeutungslos zu werden.10 Nur wenn er zu Lebzeiten genügend Heldentaten vollbracht hat, die 6

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Il. 4, 403–410 Sthenelos’ Reaktion. Beide reagieren innerhalb des homerischen Wertesystems, Sthenelos mit Blick auf seine persönliche τιμή, Diomedes geleitet von seiner αἰδώς gegenüber Agamemnon, vgl. Cairns (1993) 96–97. Vgl. Andersen (1978) 33–46. Achilleus z. B. Il. 9, 199; Diomedes 5, 183; Agamemnon 11, 251; Hektor 11, 66; Aineias 11, 58. Z. B. verwundet Diomedes durch Athenas Eingreifen Aphrodite und Ares, vgl. Il. 5, 334– 339 und 855–859. Die Existenz der Schatten im Hades tritt in Od. 11 vor Augen. Sie macht den Schrecken begreiflich, der das Erringen von unsterblichem Ruhm für den epischen Kämpfer zu einem wesentlichen Ziel werden läßt. Die Nichtigkeit der Toten drückt sich einerseits darin aus, daß sie für Odysseus nicht faßlich sind. Sein Versuch, die Mutter zu umarmen, scheitert (Od. 11, 204–208). Die Hoffnungslosigkeit der Situation spricht andererseits Achilleus in seinem bekannten Diktum aus: μὴ δή μοι θάνατόν γε παραύδα, φαίδιμ’ Ὀδυσσεῦ. /

22 Epos

der Überlieferung wert sind, kann er hoffen, dem Vergessen zu entgehen. Die Aussicht auf Ruhm bietet sogar Anreiz, auf ein langes Leben zu verzichten. So steht Achilleus vor der Wahl, heimzukehren und ein langes Leben in Ruhmlosigkeit zu verbringen oder noch vor Troja zu sterben, dafür aber bei nachfolgenden Generationen ewigen Ruhm zu erlangen: μήτηρ γάρ τέ μέ ϕησι θεὰ Θέτις ἀργυρόπεζα / διχθαδίας κῆρας ϕερέμεν θανάτοιο τέλοσδε· / εἰ μέν κ’ αὖθι μένων Τρώων πόλιν ἀμϕιμάχωμαι, / ὤλετο μέν μοι νόστος, ἀτὰρ κλέος ἄϕθιτον ἔσται· / εἰ δέ κεν οἴκαδ’ †ἵκωμαι ϕίλην† ἐς πατρίδα γαῖαν, / ὤλετό μοι κλέος ἐσθλόν, ἐπὶ δηρὸν δέ μοι αἰών  / {ἔσσεται, οὐδέ κέ μ᾿ ὦκα τέλος θανάτοιο κιχείη} (Il. 9, 410–416). Denn die Mutter sagt, die Göttin, die silberfüßige Thetis, / daß mich zwiefache Lose führen zum Ziel des Todes: / Wenn ich hierbleibe und kämpfe um die Stadt der Troer, / ist mir verloren die Heimkehr, doch wird unvergänglich der Ruhm sein. / Wenn ich aber nach Hause gelange ins eigene väterliche Land, / ist mir verloren der gute Ruhm, doch wird mir lange das Leben / dauern und mich nicht schnell das Ziel des Todes erreichen.11 Im Gegensatz zu den Helden selbst kann der

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βουλοίμην κ’ ἐπάρουρος ἐὼν θητευέμεν ἄλλῳ, / ἀνδρὶ παρ’ ἀκλήρῳ, ᾧ μὴ βίοτος πολὺς εἴη, / ἢ πᾶσιν νεκύεσσι καταφθιμένοισιν ἀνάσσειν (Od. 11, 488–491). Suche mich nicht über den Tod zu trösten, strahlender Odysseus! Wollte ich doch lieber als Ackerknecht Lohndienste bei einem anderen, einem Manne ohne Landlos, leisten, der nicht viel Lebensgut besitzt, als über alle die dahingeschwundenen Toten Herr sein. Aus seinem Munde klingt die Aussage besonders hart, weil er den Ruhm gewählt hat und nun andeutet, daß er nicht in der erwarteten Weise davon zehren kann. Das Dasein im Hades überlagert den irdischen Ruhm und läßt ein ruhmloses Leben auf Erden erstrebenswert erscheinen. Das κλέος ἄϕθιτον, das Achilleus erwartet, ist der unsterbliche Ruhm, der ihm in der Dichtung, durch das Epos zuteil wird, vgl. Nagy (1999) 102, 135, 184. Griffin (1995) 125 wendet sich gegen diese Selbstreferentialität: „the reader must decide whether so selfconscious and modern a self-reference is really to be seen in the line. Do we really believe that Achilles, at such a moment, is presented as talking about himself as a figure in literature?”. Eine solche Deutung ist meines Erachtens denkbar, ohne daß die Szene an Größe verlöre. Wir vernehmen, daß Achilleus beim Erscheinen der Gesandtschaft eben die κλέα ἀνδρῶν besingt und sich selbst auf der Harfe begleitet (Il. 9, 185–189). Achilleus entscheidet sich bewußt gegen das Leben ohne Ruhm und für den Tod mit unsterblichem Ruhm. Wenn wir aber eine solche Distanz zu seinem irdischen Dasein bei ihm erkennen, daß er den fortdauernden Ruhm, von dem er nichts mehr wissen wird, anstelle des Lebens wählt, so liegt es nahe, bei ihm auch ein Bewußtsein dafür anzunehmen, auf welche Art und Weise der Ruhm, den er sich wünscht, überhaupt bei den Menschen existieren und tradiert werden wird. Er bekräftigt die Entscheidung für den Tod in dieser Szene, nachdem er sich gerade in der Form des Gesangs der κλέα anderer, früherer Helden erinnert und sich damit getröstet hat. Warum sollte er also nicht hoffen, einmal selbst der Gegenstand solcher Lieder zu sein? Doch selbst, wenn man zögert, eine derartige Bewußtheit bei Achilleus vorzufinden, ist immer noch damit zu rechnen, daß der Dichter mit dem singenden und Ruhm erhoffenden Achilleus auf der Rezeptionsebene einen Bezug zu seiner eigenen Tätigkeit als Sänger oder Rhapsode herstellen wollte. Die Dichter waren sich ihrer Bedeutung im Schaffen und Erhalten von Ruhm durchaus bewußt, man denke nur an die Gestalt des Sängers Demodokos in der Odyssee. Zur poetologischen Reflexion in Ilias und Odyssee vgl. Zimmermann (2004a) 213–215, zur „Literarisierung“ des Ruhms, die ihn wie in einem Monument bewahrt, vgl. auch das Proöm zu Herodots Historien. Jaeger (1936) 78 sieht in der „bewußt vollzogenen Wahl“ den Gipfel von Achilleus’ Heroismus, in ihr zeige sich seine ethische Größe. Vgl. außerdem Nagy (1999) 102 und 175–177. Anders Susanne Gödde bei einem Vortrag am 08. 04. 2010 in Freiburg, die die These vertritt, daß Achilleus sich nicht aktiv für seinen Tod entscheide, sondern von seiner μῆνις fortgerissen werde und

Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς

23

Ruhm unsterblich sein, κλέος ἄϕθιτον. Als Lohn für den Einsatz des Lebens winkt unvergänglicher Ruhm. Der Nachruhm ermöglicht den Helden eine Art von Unsterblichkeit, er ist eine Kompensation für den Tod und die Sterblichkeit überhaupt.12 Im Verlaufe seiner Aristie trifft Diomedes auf Glaukos. Auf Diomedes’ Frage nach seiner Identität antwortet Glaukos zunächst mit einer Gegenfrage „war­ um?“ und schließt das bekannte Blättergleichnis an. Wie die Geschlechter der Blätter seien auch die der Menschen, die einen kommen, die anderen gehen (Il. 6, 145–149). Was sind wir im Vergleich zur Ewigkeit? Wie altersweise, beinahe resigniert klingt sein abgeklärtes, dem Irdischen enthobenes Urteil über das menschliche Geschlecht. Auf den ersten Blick möchte man meinen, aus den Versen spräche die Einsicht eines, der die Bedeutungslosigkeit alles menschlichen Strebens, die Wertlosigkeit alles menschlichen Ruhmes, die Hinfälligkeit all unseres Tuns erkannt hat. Doch wo wir aufgrund der menschlichen Vergänglichkeit glauben, den Blick auf Höheres richten zu müssen, setzt Glaukos dem Blättergleichnis einen 62 Verse langen Bericht über seine Herkunft und den Ruhm seiner Vorfahren entgegen. Die Flüchtigkeit stellt dem Menschen die Forderung, sie zu überwinden und dem Vergessen entgegenzuwirken, durch Großtaten aus der namenlosen Menge hervorzuleuchten. Der Nachruhm hebt den Menschen aus seiner Menschlichkeit heraus und gibt ihm Anteil an der Zukunft.13 κλέος erlangt, wer besondere ἀρετή an den Tag legt. ἀρετή ist in der Ilias meistens kriegerische Leistung.14 Die Ilias zeigt uns eine Welt im Kriegszustand, in der das höchste Ziel beider Parteien der Sieg über die Gegenseite ist. Wer dazu einen überragenden Beitrag leistet, ist der Erwähnung wert und wird geehrt, indem er nicht vergessen wird.15 Ein Kämpfer bewährt sich und kann hoffen, daß dies gebührend zur Kenntnis genommen wird, wenn er möglichst häufig unter den πρόμαχοι kämpft. 16

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den Tod als notwendige Konsequenz in Kauf nehme; sie verweist u. a. auf die konditionaltemporalen Gefüge in Il. 18, 114–121. Ganz deutlich spricht Sarpedon Il. 12, 322–328 den Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und Ruhm aus: Wenn er unsterblich wäre, sähe er keine Veranlassung, sich dem unbequemen Kampf auszusetzen. So aber will er zumindest Ruhm und damit eine gewisse Unsterblichkeit erwerben. Zur Deutung des Gleichnisses vgl. Stoevesandt (2008) 59 (ad 146–149). Zum Verhältnis von vegetabilen Gleichnissen und dem κλέος vgl. Susanetti (1999) 100–105, zur Sterblichkeit des Menschen und Unsterblichkeit des Ruhmes vgl. auch Schein (1984) 68–70. Einen ähnlichen Gedanken bringt Haedicke (1937) 8–10 zum Ausdruck, wenn er feststellt, daß das κλέος Ahnen schaffe. So z. B. Il. 11, 90; 13, 275–278. Vgl. Jaeger (1936) 25–30, Latacz (1977) 153–155, Ulf (1990) 13. Zur ἀνδρεία in der nachhomerischen Literatur vgl. Rosen/Sluiter (2003). Vgl. Il. 13, 460–461; 16, 271–272 oder negativ ausgedrückt 5, 531–532. Vgl. z. B. van Wees (1992) 69, Lévy (1995) 190–191. Mit den πρόμαχοι sind die Kämpfer in der ersten Reihe gemeint, die nicht im Schutze der dichten Heeresmasse mit Fernwaffen agieren, sondern die aus dem Glied heraustreten und in Einzelkämpfen mit den πρόμαχοι der Gegner einzelne Feinde töten, vgl. Latacz (1977) 141–149. Die Frage, wer als πρόμαχος kämpfen kann und wer nicht, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Latacz (1977) 149–153 oder van Wees (1988) 1–14 beispielsweise meinen, daß es einem jeden freisteht, zum Einzelkampf hervorzuspringen

24 Epos

Nicht nur der Nachruhm, das κλέος, das erst nach dem Tode winkt, ist Anreiz, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.17 Wer erfolgreich kämpft, wird auch zu Lebzeiten geehrt. Der Wert eines Menschen drückt sich in der Ehre, τιμή, aus, die ihm die Gesellschaft zuteil werden läßt. Die Ehrbezeigungen bestehen im Respekt, der einem von anderen entgegengebracht wird, im Recht, das Zepter zu halten und in der Versammlung das Wort zu ergreifen, in besonderen Stücken, die vor der allgemeinen Verteilung der Beute zuerkannt werden, in einem immer vollen Becher Wein beim Mahl und dergleichen. Die τιμή einer Person ist somit Ausdruck ihrer Position innerhalb der Gesellschaft.18 Durch Engagement in der Schlacht kann folglich jeder seinen gesellschaftlichen Status beeinflussen. Der bekannte Vers αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων (Il. 11, 784) immer Bester zu sein und überlegen zu sein den anderen erhält so einen ganz praktischen, konkreten Sinn.19 Der Vater empfiehlt seinem Sohn, sich stets hervorzutun, weil er damit seine Position in der Gesellschaft bestimmen kann. Zeichnet er sich aus, wird er für seine Mühe nicht nur in unserem ideellen Sinne geehrt, sondern wird Reichtum und eine einflußreiche Stellung erlangen. Der Erfolgreichere ist der Angesehenere, Mißerfolg wird in erbarmungsloser Weise gebrandmarkt. Lohn für den, der dem höchsten Wert, der ἀρετή, entspricht, ist das Prädikat ἀγαθός als höchstes Lob. Gemessen wird am Erfolg, den die Gesellschaft von einem ἀγαθός erwartet.20 Bei der Bewertung von

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und seine ἀρετή unter Beweis zu stellen, und jeder bald vorn, bald hinten kämpft, während z. B. Singor (1995) 186–189 verschiedene Klassen von Kämpfern annimmt. Die den Angriff stimulierende Aussicht auf Ruhm kann auch auf einen kollektiven Ruhm gerichtet sein – auf persönlichen Ruhm können sich nur wenige Hoffnung machen, vgl. van Wees (1996b) 23–25. Vgl. van Wees (1992) 32–35, Adkins (1997) 703. Zur Ideologisierung dieser Maxime vgl. Weiler (1975). Die Wettbewerbssituation haben die Jugendlichen bereits durch ihre Sozialisation in ihrer „peer group“ kennengelernt, vgl. van Wees (1996a) 8–9. Vgl. Adkins (1960) 31–34. Es ist Adkins’ Verdienst, auf die Bedeutung der „kompetitiven“, leistungsbezogenen Werte hingewiesen zu haben (vgl. Adkins (1960) 30–60). Seine bedingungslose Unterordnung der „kooperativen“ Werte unter die kompetitiven ist zu Recht auf Widerspruch gestoßen, doch die Kritik richtete sich in der Regel gegen die Radikalität, die Adkins im homerischen Wertesystem zu finden glaubte, und der Befund ist anders gewichtet und bewertet worden. Die Eigenständigkeit der kooperativen Tugenden, denen Adkins nur in Verbindung mit kompetitiven Werten überhaupt eine Bedeutung zumaß, wurde betont, so z. B. der Aspekt der ϕιλότης. Doch auch wenn man gelegentlich liest, Adkins’ Buch sei inzwischen so überholt, daß man es eigentlich gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen müsse (vgl. Cairns (1993) 50, der diese Auffassung jedoch nicht teilt), ist es noch nicht grundlegend ersetzt worden. Wo das versucht wurde, ist das Ergebnis noch weniger befriedigend, vgl. Finkelberg (1998). Nach Finkelberg stehen ἀρετή und τιμή in keinem inneren Zusammenhang, sondern sind einander ausschließende Konzepte. Während Achilleus sich vom Kampf fernhalte, sei seine ἀρετή nichtig, gleichwohl steige seine τιμή. Dies ist jedoch kein Widerspruch. Es ist richtig, daß Achilleus, während er zürnt, keine ἀρετή im Kampf beweist und sich also keinen neuen Anspruch auf Ehre erwirbt. Der Anspruch auf Anerkennung bereits erbrachter Leistungen muß aber deshalb nicht verfallen. Achilleus ertrotzt sich die längst erworbene τιμή, die ihm entzogen worden war und am Ende wieder zugesprochen wird. Obwohl ἀρετή und τιμή nicht völlig zeitgleich erfüllt werden, stehen sie dennoch in einem ursächlichen Zusammenhang und stellen keine einander ausschließenden Konzepte dar. Vgl. unten zu Sophokles’ Aias. – Die neuere Forschung hat

Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς

25

Leistung spielen auch in der homerischen Welt moralische Gesichtspunkte und kooperatives Verhalten eine Rolle; unbestritten ist jedoch, daß der Wille, Leistung zu erbringen, durch die man sich τιμή und κλέος erwirbt, einen entscheidenden Handlungsmotor der Helden vor Troja darstellt. Dieser Helden- oder Ehrenkodex hat eine ausreichend hohe Stellung, daß die besten Krieger, um ihm zu genügen und zu denen zu gehören, welche als ἀγαθοί oder ἄριστοι bezeichnet werden, sich ohne zu zögern ins Kampfgetümmel stürzen.21 Der Wunsch, τιμή zu erwerben, steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem in der homerischen Gesellschaft einflußreichen Schamgefühl, der αἰδώς.22 Die αἰδώς ist ein kraftvolles Handlungsmotiv. Hektor etwa widersteht den Bitten dreier Frauen, nicht in die Schlacht zu gehen, und begibt sich aufs Schlachtfeld, „die Troer scheuend“, d. h. aus Scheu vor ihrem Vorwurf, den er für den Fall, daß er sich feige verhielte, erwartet (Il. 6, 441–443). Bei einem ermüdenden Heer genügt häufig ein αἰδώς-Ruf, um neue Kampfeslust zu wecken; die Scheu, feige zu wirken, ist Antrieb genug, wieder frischer weiterzukämp-

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gezeigt, daß auch unter moralischen Gesichtspunkten bewertet wird. Beispielsweise kann das Unziemliche die Handlungsweise beeinflussen, auch kooperative Werte können Motiv sein, zu kämpfen und sich nicht feige zu zeigen, ein Mißerfolg macht einen vorher erfolgreichen Krieger nicht schlagartig zu einem κακός, er muß sich allenfalls den Vergleich mit den κακοί, der feigen Masse des Heeres gefallen lassen. Diese ausgewogenere Gewichtung der homerischen Bewertungsmaßstäbe wurde von Adkins zwar als eine Reihe von Mißverständnissen scharf zurückgewiesen, ist aber zur Grundlage für die weitere Forschung über die heroische Ethik geworden, vgl. Long (1970), Adkins (1971), zur weiteren Auseinandersetzung mit Adkins vgl. Lloyd-Jones (1971) 12–20, Schofield (1986), Cairns (1993) 50–146 passim, Williams (1993) 81–84, Zanker (1994) 1–45. Der Vergleich verschiedener Heldenepen zeigt, daß der „Held“ überall dieselben Charakteristika aufweist, vgl. Bowra (1952) 91–131. In der Ilias fällt allerdings auf, daß die Helden keine angeborene kriegerische Disposition aufweisen und die Kinder nicht von Anfang an auf den Krieg hin erzogen werden, sondern in familiärem Schutz aufwachsen. Und auch von bewährten Helden wird nicht erwartet, daß sie gegen Schmerz unempfindlich sind, Verletzte verlassen das Schlachtfeld und werden ohnmächtig, vgl. Il. 5, 692–698; 11, 354–356 u. a. „...equanimity in the face of death may be ideal in Homer, but it is not imperative“, vgl. van Wees (1996a) 4 und (1996b) 7–11 (Zitat S. 11). Hierzu paßt Hektors Verhalten in Il. 22: Während Achilleus die Ebene durchquert und näherkommt, hat Hektor Zeit nachzudenken und ergreift die Flucht, bis er seine Contenance wiedergefunden hat und sich dem Kampf stellt. Hätte er weniger Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre er, so Holokas Vermutung, vielleicht nicht weggelaufen, „with his heroic persona more fully intact“, weil seine heroische Handlungsweise automatisch erfolgt wäre, vgl. Holoka (1999) 149. Dodds hat als erster die Begriffe der „Scham-“ und „Schuldkultur“ auf die homerische Welt angewendet (vgl. Dodds (1951) 1–27). Die Erwartung einer bestimmten Reaktion durch die Gesellschaft setzt die Existenz allgemeiner, verbindlicher Maßstäbe voraus. Die Erwartung ihrer Anwendung und das Ausrichten des eigenen Handelns an ihnen lassen wiederum vermuten, daß der Handelnde diese auch selbst internalisiert und zu den seinen gemacht hat. So entsteht eine Ethik, die nicht – mit dem Gewissen als Maßstab – vornehmlich innerlich begründet ist, vielmehr handelt es sich um eine eher äußerlich begründete Ethik, der die Scham vor den anderen als erstes Kriterium dient. Doch geht man von einer gewissen Verinnerlichung der ethischen Grundsätze aus – und daß diese unterbleiben kann, ist kaum vorstellbar – , so muß man weiterhin annehmen, daß ein Mensch, auch wenn er unbeobachtet ist, ganz wie in einer vom Gewissen bestimmten Kultur, den Grundsätzen, die er gelernt hat, treu bleibt, vgl. Cairns (1993) 27–47, Williams (1993) 81–84, vgl. auch Hooker (1987).

26 Epos

fen.23 In diesen Situationen dient die Scham dazu, den rechten Kampfesmut zu wecken, der verhindert, daß der Krieger als unmännlich und feige erscheint, und ihm den nötigen Mut einflößt, um ruhmbringende ἀρετή an den Tag zu legen. Ein anderer Aspekt der Scham ist der Respekt vor Ranghöheren. Diomedes entgegnet nichts auf Agamemnons wenig schmeichelhaften Vergleich mit seinem Vater Tydeus, „aus Scheu vor dem Tadel des zu scheuenden Königs“, um also den Tadel der Feigheit von Seiten des Oberfeldherrn, dem man Ehrfurcht erweisen muß, zu vermeiden (Il. 4, 401–402). In all diesen Fällen ist die mißbilligende Reaktion der anderen enthalten, sei sie explizit ausgesprochen oder nur implizit mitgedacht. Der Gedanke der αἰδώς ist eng verknüpft mit der νέμεσις. Diese kann dabei entweder als hindernde Warnung vor einer möglichen Handlung fungieren oder die negative Reaktion auf eine bereits ausgeführte Handlung sein. In beiden Fällen hat sie eine αἰδώς-auslösende und damit handlungsbestimmende Funktion.24 Diomedes antwortet auf Agamemnons Tadel mit besonderer Kampfeswut. Er stürmt vernichtend über das Schlachtfeld (Il. 5, 87–94). Wenn er im Gefecht Höchstleistungen vollbringt, kann er hoffen, dem Vergleich mit seinem Vater beim nächsten Mal standzuhalten. Deshalb verwirft er Sthenelos’ Rat kehrtzumachen. Diomedes will sich nicht nur einfach im Kampf bewähren, sondern er will seinem Vater gleichkommen und zu seinem eigenen Ruhme an ihm gemessen werden. Zeigte sich sein Vater nie feige, darf es der Sohn erst recht nicht, will er nicht hinter dem Vater zurückstehen. Auf diesem Hintergrund ist die Bedeutung von γενναῖος zu finden: οὐ γάρ μοι γενναῖον wehrt Diomedes sich gegen Sthenelos’ Ansinnen, „es ist mir nicht meinem γένος entsprechend“. Die früheren Vertreter seines γένος haben keine Feigheit an den Tag gelegt, es entspricht nicht seiner Herkunft, seiner ererbten Art, dem vom Vater gegebenen, als verbindlich empfundenen Vorbild. Durch ἐγγενές, πάτριον wird γενναῖον auch in den Scholien glossiert, doch vorsichtig und als fremde Ansicht. Auch Eustathius erklärt γενναῖον in diesem Sinne als προγονικόν, συγγενές, ἔμϕυτον und weist eigens darauf hin, daß nicht Stärke, sondern Herkunft Grundlage für γενναῖον sei. Dem folgen auch die meisten modernen Kommentare und verbinden γενναῖον mit γένος.25 Für ἀλυσκάζειν und πτώσσειν gibt es nur wenige weitere Belegstellen in der Ilias. Das Verb ἀλυσκάζειν tritt nur ein weiteres Mal auf, nämlich als Hektor der Bitte seiner Frau, in der Stadt zu bleiben, widerspricht (Il. 6, 441–446). Hektor argumentiert wie Diomedes. Er müßte Scham vor den Troern empfinden, wenn er der Bitte entspräche und nicht zum Kampf vor die Stadt zöge, und er will vorne kämpfen, um Ruhm zu erwerben und den des Vaters nicht zu 23 24

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Il. 13, 95; 15, 502; 16, 422 u. a. Vgl. Cairns (1993) 68, van Wees (1996b) 21–23. Vgl. die ausführliche Besprechung der einschlägigen Stellen zur αἰδώς bei Cairns (1993), Lévy (1995). Cairns (1993) 48 glaubt, daß sich die αἰδώς nur auf Zukünftiges beziehe, also hindernd wirke, doch Lévy (1995) 196–197 zeigt, daß sie auch die Scham über schon Getanes bezeichnen kann. Diese Bedeutung schwingt auch bei Ermahnungen oder Hektors Überlegungen in Il. 22, 104 mit. Ebenso wirkt die νέμεσις nicht nur retrospektiv, sondern kann auch αἰδώς erregen, so z. B. in Il. 17, 91–96, vgl. Lévy (1995) 204. Vgl. z. B. Willcock (1978) 234, Kirk (1990) 85–86.

Handlungskriterien: ἀρετή, κλέος, τιμή, αἰδώς

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mindern. (κατα)πτώσσειν wird noch neun weitere Male in der Ilias verwendet. Immer drückt πτώσσειν ein Sich-vor-dem-Kampf-Drücken aus, in sechs Fällen handelt es sich um einen Vorwurf.26 Diomedes versteht Sthenelos’ Rat sichtlich als Empfehlung zu Feigheit, eine Konnotation, gegen die er sich entschieden wehrt. Diomedes hat sich in seiner Aristie tapfer gezeigt und damit Agamemnons Vorwurf der Feigheit entkräftet. Darauf bezieht er sich in Il. 9, als er es wagt, in der Heeresversammlung das Wort zu ergreifen (Il. 9, 32–35). Als einziger widerspricht er Agamemnon, der, durch die Verluste in den eigenen Reihen mürbe geworden, unverrichteter Dinge nach Griechenland zurückkehren will. Diomedes aber möchte nicht abreisen, sondern kämpfen, und macht damit erneut deutlich, daß er eben nicht feige ist (Il. 9, 49–50). Nestors Reaktion zeigt, daß tatsächlich seine kriegerische ἀρετή als Legitimation für Diomedes’ Auftritt gewertet wird (Il. 9, 53–56). In Il. 14 ergreift der junge Diomedes erneut das Wort, im kleineren Kreise, nur Agamemnon, Nestor und Odysseus gegenüber. Obwohl er jung ist, kann er es wagen, denn er hat in der Schlacht ἀρετή bewiesen. Er hat nun eine Stellung inne, die es ihm erlaubt, ratend aufzutreten. Er glaubt gleichwohl, sich rechtfertigen zu müssen, und verweist auf seine Herkunft vom Vater her – die ihm kurz vorher noch in Form eines Vorwurfs vorgehalten worden war (Il. 14, 109–127). Gute Herkunft und Stärke sind Kriterien, aufgrund deren man in der Versammlung gehört wird. Antrieb, im Kampf besondere Tapferkeit an den Tag zu legen, ist für die Helden ihr Streben nach Ehre, die sich einerseits in materiellen Gütern ausdrückt, andererseits in der Achtung, die man genießt. Da die τιμή also dem Status entspricht, den einer in der Gesellschaft innehat, wird eine Verletzung, Einschränkung oder Mißachtung als schwere Beleidigung empfunden. Sie ist mehr als gekränkter Stolz, weil sie die bestehende Ordnung in Frage stellt,27 und ist Grund genug, das Leben von Kampfgefährten aufs Spiel zu setzen und Rückschläge der eigenen Seite in Kauf zu nehmen, um die Wiederherstellung der τιμή zu erzwingen.

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Die ersten drei Belege finden sich in der Szene in Il. 4, als Agamemnon vor dem ersten großen Kampf mahnend durch das Heer geht. Agamemnon selbst will sich nicht drücken, sondern verlangt nach dem Kampf und schimpft andere Drückeberger, etwa Menestheus und Diomedes (Il. 4, 224; 340; 371). In Il. 5 müssen sich Kämpfer der troischen Seite den Vorwurf der Feigheit gefallen lassen. Sarpedon muß – wie vorher Diomedes – hören, er sei seines Vater nicht würdig (Il. 5, 476; 633–637). Auch in Il. 7, wo kein Grieche auf Hektors Angebot eines Zweikampfs eingeht, ist das Sichducken mit der mahnenden Erinnerung an die Herkunft der angesprochenen Helden verknüpft (Il. 7, 124–131). Achilleus fordert Hektor mit der Mahnung, nicht mehr voreinander auszuweichen, zum Kampf auf (Il. 20, 427). Schließlich verstecken sich fliehende Troer vor Achilleus (Il. 21, 14; 26). Vgl. Jaeger (1936) 31–33. Den egoistischen Aspekt des Handelns der homerischen Gestalten betonen Donlan (1980) 8–9, Schmitt (2000) 31. – Vgl. auch unten zu Sophokles’ Aias.

28 Epos

1.3

Elite bilden

ἀρετή generiert einen privilegierten Status. Wer der Gemeinschaft durch herausragende Kampfleistungen gedient hat, hat sich τιμή verdient. So entsteht eine Gruppe von Geehrten, eine Elite,28 die sich durch militärische Leistungen gebildet hat. Und wo individuelle Leistung das Kriterium für sozialen Aufstieg ist, finden wir eine grundsätzliche Offenheit der Gruppe. Gründet sich τιμή auf ἀρετή, d. h. bei Homer: militärische ἀρετή, steht der Zugang jedem offen und die so Geehrten bilden keinen nach unten abgeschlossenen Stand.29

1.3.1 Das Kriterium der Leistung Wodurch wird die Elite konstituiert, worin zeigt sie sich als solche?30 Die Betonung der neueren und neuesten Forschung liegt auf der individuellen Leistung. Wer sich im Kampf hervortut, der wird geehrt und als ἀγαθός oder ἄριστος angesprochen.31 ἀγαθός beschreibt seinen Träger umfassend als ökonomisch, militärisch und sozial „gut“, wie dies auch der Begriff „edel“ tut, der dem spezifischeren „adlig“ etymologisch verwandt ist.32 Ein ἀγαθός ist reich und tapfer, 28 29

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Zum Begriff der Elite vgl. Ober (1989) 11. Die gesellschaftliche Form, in der wir uns die homerische Welt denken müssen, ist in den vergangenen Jahrzehnten viel diskutiert worden. Nachdem die Existenz eines Geburtsadels und einer tiefen Kluft zwischen den Schichten in der älteren Forschung als ein über jeden Zweifel erhabenes Faktum festgestanden hatte, stellte Calhoun (1934) das Vorhandensein einer adligen Oberschicht überhaupt in Frage und legte dar, daß es eigentlich keine sozialen Unterschiede innerhalb der homerischen Gesellschaft gegeben habe, ähnlich Starr (1992) 7–8. Calhouns These blieb einige Zeit relativ unbeachtet. Von einer deutlichen Scheidung zwischen Volk und Adel gehen z. B. Finley (1965) 47, Arnheim (1977) 15, Schulz (1981) 68–69 aus. Strasburger (1954) 234 sieht den Adel im Bauerntum verwurzelt, das Rustikale nehme aber von den Haupt- zu den Nebenfiguren zu. Das Ideal des Adels sei es also gewesen, sich von den ländlichen Wurzeln zu lösen und sich „auf eine abstrakte Vornehmheit hin“ zu entwickeln, vgl. Strasburger (1953) 102–111. Auch für Andreev (1988) 59–60 ist die homerische Gesellschaft von Natur aus in ἀγαθοί und κακοί geteilt, die aber nicht durch offene „Ausbrüche aristokratischer Demophobie“ zerrissen werde. Die Thersitesszene sei eine Ausnahme und stehe in der Ilias isoliert, vgl. Andreev (1975) 281–284. Die Existenz einer Elite wird heute grundsätzlich bejaht, Unterschiede zeigen sich vor allem in der Beschreibung des trennenden Moments. Die gebrauchte Terminologie ist aussagekräftig. Wo mit Begriffen wie Klasse oder Schicht operiert wird, läuft man Gefahr, moderne, anachronistische Vorstellungen in die antike Welt hineinzutragen, denn dergleichen Begriffe sind im 19. und 20. Jh. in charakteristischer Weise geprägt worden. Wer beispielsweise von einer Klassengesellschaft spricht, verstellt sich möglicherweise den Weg zur unvoreingenommenen Deutung der verfügbaren Zeugnisse. Es ist deshalb wichtig, da ganz neutrale Termini nicht zur Verfügung stehen, sich beim Gebrauch von Begriffen wie „Oberschicht“ oder „Elite“ immer darüber im klaren zu sein, daß sie lediglich die Form sind, deren Inhalt erst noch bestimmt werden muß. Vgl. Raaflaub (1997) 635. Besonders vehement hat diesen Ansatz Ulf (1990) 4–29 vertreten. Er legt dar, daß es in der homerischen Welt wohl nicht die Vorstellung eines Geburtsadels gab. Dafür gibt es keinerlei Belege. Nur wer voraussetzt, daß ἀγαθός und κακός Standesbegriffe sind, wird auf einen Geburtsadel schließen. Denn dann steht unverrückbar fest, daß der Adlige ein tapferer Held ist, während der Niedriggeborene sich als feige erweist. Doch ἀγαθός ist kein Terminus, der die Adligen als abgegrenzte Gruppe bezeichnete. Vgl. Kluge s. v. edel und Adel1.

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nimmt eine hohe gesellschaftliche Stellung ein und gehört damit zu den Mächtigen. Entsprechend wird als κακός derjenige bezeichnet, der nicht begütert, feige, von niederer sozialer Position ist und so politisch und gesellschaftlich ohne Einfluß bleibt.33 Die Herkunft von einem πατὴρ ἀγαθός macht den Sprößling nicht automatisch selbst zu einem ἀγαθός. τιμή-bringende ἀρετή kann und muß jeder selbst erringen, sie ist nicht für eine bestimmte soziale Gruppe reserviert. Maßstab sind die Fähigkeiten des einzelnen.34 Leistung im Kampf und das damit verbundene Maß an τιμή, das einer erwirbt, bestimmt seinen Status in der Gesellschaft. Die durch ἀρετή erworbene τιμή wird auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen. Auch bei nichtmilitärischen Anlässen tritt die militärisch definierte Elite als eine von den anderen abgehobene Gruppe in Erscheinung. Beispielsweise ergreifen in der Versammlung nur die ἄριστοι ungescholten das Wort, beim gemeinsamen Mahl erhalten sie die besten Fleischstücke, und ihr Becher ist stets gefüllt.35 Den besten Kämpfern werden auch die besten sittlichen Qualitäten zugesprochen.36

1.3.2 Das Kriterium der Herkunft Das γένος bezeichnet die Herkunft, die Familie im engeren Sinn, nicht einen größeren Clan, der, nur die Angehörigen fördernd, die Macht in Händen hielte oder zu gewinnen suchte. Diese Erkenntnis schwächt die Bedeutung der Herkunft, der man in der Forschung lange Zeit außerordentliches Gewicht beimaß, erheblich ab. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten γένος ist kein hinreichender Grund für eine einflußreiche Stellung in der Gesellschaft, vielmehr ist 33

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Vgl. Stein-Hölkeskamp (1989) 54–56, Ulf (1990) 15–29, Adkins (1997) 706. Gut ist, was den Einfluß des einzelnen erweitert, vgl. Latacz (1984) 29. Z. B. Il. 5, 534–536; 9, 302–303; 16, 237. Vgl. Ulf (1990) 4–24, Rose (1997) 186. Thersites greift Agamemnon mit scharfen Worten an. Darauf wird er von Odysseus mit ebenso deutlichen Worten zurechtgewiesen und mit dem Zepter geschlagen, Il. 2, 224–269. Kritik am Heerführer allzu unverblümt zu äußern gehört sich nicht, schon gar nicht für einen Mann aus der großen Menge. Auch ehrwürdige Ratgeber wie Nestor formulieren Vorschläge vorsichtig, vgl. z. B. Il. 9, 96–113. Ehe er seinem Unmut über Agamemnons frühere Handlungsweise Ausdruck verleiht und ihm den unangenehmen Rat gibt, den ersten Schritt zu einer Versöhnung mit Achilleus zu tun, findet er ehrende Worte für ihn (Il. 9, 96–102). Odysseus rät Agamemnon, Eingeständnisse von Schwäche und Versagen nicht offen vor dem Heer zu äußern, vgl. Il. 14, 90–94. Polydamas entschuldigt sich für seinen Wagemut, das Wort zu ergreifen, mit dem guten Rat, den er in dieser schwierigen Situation geben zu müssen glaubt. Immer wieder werde er von Hektor angefahren, wenn er es sich als einfacher Mann erlaube, in der Versammlung zu widersprechen, wo es doch Pflicht eines jeden sei, Hektors Macht zu mehren, vgl. Il. 12, 211–214. Ob gemeine Soldaten in der Versammlung überhaupt sprechen durften, ist umstritten. Gerügt wird in der Ilias stets vom Volk geübte Kritik und von einem einfachen Mann gegebener schlechter Rat. Dadurch bleibt unentschieden, ob er Mißfallen erregt, weil er als einfacher Mann sich äußert, oder deshalb, weil er Unangenehmes oder Unkluges vorbringt. Jedenfalls gibt in der Ilias, bezeichnend genug, nie ein Gemeiner einen guten Rat. Thersites (Il. 2, 225–242) greift Achilleus’ Worte (Il. 1, 161–171, 242) auf und wird dafür gezüchtigt. Zur Hierarchie beim Mahl vgl. z. B. Il. 7, 321–322; 12, 310–311, Baudy (1983). Vgl. Strasburger (1954) 238. Ulf (1990) 106–117 nennt dies lediglich „Ansätze zur Institutionalisierung“.

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Adel eine Sache der persönlichen Überlegenheit.37 Termini für hohe Abkunft fehlen bei Homer.38 Das Epos preist, zumal in der Kriegsituation vor Troja, seine Helden nicht in erster Linie für ihre Herkunft. Höchste Ehre verdient naturgemäß der am meisten, der in der Schlacht höchste Leistung erbracht hat. Doch Agamemnons Aufforderung an Diomedes, einen geeigneten Gefährten für die nächtliche Erkundung ins feindliche Lager auszuwählen, zeigt, daß die Herkunft im Umgang mit anderen durchaus beachtet und respektiert werden muß (Il. 10, 237–239). Wäre nicht anzunehmen, daß Diomedes einen Höherrangigen einem Besseren vorzöge, was zwar der Etikette entspräche, dem Unternehmen aber schadete, müßte Agamemnon ihm nicht eigens Mut zusprechen, von dieser Konvention einmal abzusehen. Offensichtlich gilt es als schwerer Lapsus, gegen die Forderungen der Hierarchie zu verstoßen. Und die Bemerkung ist gleichzeitig ein Hinweis darauf, daß Status und Leistung sich nicht immer proportional zueinander verhalten und diese Tatsache durchaus bewußt ist. Die Genealogien zeigen die Rolle der Herkunft für das Selbstverständnis der Krieger. Genealogien sind auf Individuen bezogen und umfassen in der Regel nur ein bis zwei Generationen, ohne daß sie alleine statuskonstituierende Funktion hätten. Die Genealogie ist nie alleinige Legitimation für eine Handlung, sondern ist stets mit anderen Kriterien verbunden, die durch die ehrenvolle Abkunft größeres Gewicht erhalten.39 Gleichwohl sind die Fälle bezeichnend, in 37

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1976 zeigten Bourriot und Roussel unabhängig voneinander und auf verschiedene Weise, daß die γένη im archaischen Griechenland keine organisierten Geschlechterverbände darstellten, sondern der οἶκος die entscheidende Organisationsform der Gesellschaft bildete, vgl. Bourriot (1976), Roussel (1976). Zur Bedeutung von γένος als „Geburt, Herkunft“ vgl. Bourriot (1976) 212 und 216 sowie Stein-Hölkeskamp (1989) 24–27, zum individuellen Charakter des Adels vgl. Roussel (1976) 29–31. Das griechische γένος ist von der römischen gens zu trennen, bezeichnenderweise tragen die Griechen keine Gentilnamen, vgl. Welwei (1981) 8. Andrewes (1961) zeigt für ϕῦλον, daß es nicht die Bedeutung eines organisierten Stammes trägt, Verwandtschaft ist bei Homer stets die Beziehung zu einer bestimmten Person, nicht Organisationsprinzip, vgl. Andrewes (1961) 132 und 137. Zwar empfehle Nestor Il. 2, 362, die Mannen nach Phylen einzuteilen, doch das habe keine Auswirkungen im Epos. Auch Donlan (1985) 297–300 betont den informellen Charakter von Phylen und Phratrien und verweist auf den οἶκος als grundlegende Sozialform. Vgl. Calhoun (1934) 196–198. Eine Ausnahme bildet der homerische Aphroditehymnos, in dem Themis einmal im Rahmen einer Götteranrufung als ἠϋγενής bezeichnet wird, h. Ven. 94. (Zur Datierung der Homerischen Hymnen vgl. Strauss Clay (1997) 490, wo für den Aphroditehymnus eine Datierung um 675 oder später angenommen wird.) – Es mag methodisch riskant sein, von dem Fehlen einer Begrifflichkeit auf das Fehlen des Gedankens selbst zu schließen, aber es ist doch bezeichnend, daß der Iliasdichter ohne diese Begrifflichkeit auskam. Schofield (1986) 6 rät mit Blick auf den Gedanken der εὐβουλία bei Platon in der genannten Weise zur Vorsicht: „It is normally rather dangerous to draw an inference from the absence or rarity of a word to the absence or rarity of the ideas expressed by the word“. Man wird einwenden können, daß der Bewußtseinsstand eines Dichters gerade in mündlicher Tradition fortgeschritten sein kann, während die Formelsprache noch frühere Vorstellungen bewahrt hat, vgl. Kullmann (1958) 546. Doch der altmodische Formelschatz war offensichtlich modern genug, die gesellschaftlichen Vorgänge für das zeitgenössische Publikum plausibel darzustellen. Vgl. Stein-Hölkeskamp (1989) 23–24, Ulf (1990) 115–116 legt dar, daß das γένος nur dann von Bedeutung sei, wenn die Verglichenen sonst gleichgestellt sind, vgl. Il. 5, 467–468; 20,

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denen Genealogien genannt werden. Sthenelos begründet seinen Rat an Diomedes, vor Aineias und Pandaros zurückzuweichen, nicht einfach mit den herausragenden Qualitäten der beiden als Kämpfer, sondern nennt auch Vater bzw. Eltern, was der einschüchternden Wirkung der Söhne offensichtlich Gewicht verleihen soll (Il. 5, 244–248). In dem Treffen von Glaukos und Diomedes berichtet jener als Antwort auf die Frage nach seiner Identität über sechzig Verse hinweg seine Familiengeschichte, ohne am Ende seinen Namen zu nennen (Il. 6, 152–211).40 Vielmehr schließt er, nachdem er von den Ruhmestaten seiner Vorfahren erzählt hat, mit der stolzen Feststellung, aus diesem berühmten Hause zu stammen (Il. 6, 211). Seine Genealogie ist gewissermaßen seine Identität. Diomedes führt seine Genealogie an, als er im Begriff ist, trotz seines jugendlichen Alters einen militärischen Rat zu erteilen (Il. 14, 109–127). Die Herkunft von einem bedeutenden Vater dient ihm als Legitimation zu sprechen. Das Nennen von Genealogien ist nur sinnvoll, wenn man von der Vererbung guter (und schlechter) Eigenschaften ausgeht.41 Wer die vorteilhafteren Anlagen geerbt hat, hat es später leichter, ἀρετή an den Tag zu legen und τιμή zu erwerben. Die Herkunft wird immer mit einem gewissen Stolz genannt.42 Ein anderes Anzeichen für die Bedeutung der Herkunft sind die Patronymika. Die Identität eines Menschen wird durch die Nennung des Vaters beschrieben. Aber die Patronymika können nicht nur unterscheidende Funktion haben, da es nur einen Helden Diomedes, Achilleus oder Agamemnon vor Troja gab.43 Wieder ist die Nennung nur sinnvoll, wenn von einer Ähnlichkeit von Vater und Sohn zumindest ausgegangen wird, unabhängig von graduellen Un-

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178–183; 22, 110. Dagegen bekräftigt Andreev (1988) 64–66 die traditionelle Meinung, daß der Stammbaum bei Homer der wichtigste Maßstab für den Wert eines Menschen sei. – Im Verhältnis zwischen Patroklos und Achilleus werden Herkunft, Alter und Stärke abgewogen, Il. 11, 786–790. Achilleus ist von höherer Abstammung und kräftiger, Patroklos dagegen älter. Das genügt, um ihn zum Wortführer der beiden zu machen. Er soll sagen, was geschieht, und Achilleus wird gehorchen, vgl. Ulf (1990) 117. Patroklos selbst sieht sich als Achilleus’ θεράπων, vgl. Il. 23, 90. Vgl. Andersen (1978) 103, Stoevesandt (2008) 58 (ad 145). Ulf (1990) 29 mahnt, der Gedanke der Vererbbarkeit lasse keinen direkten Schluß auf einen Geburtsadel zu. Das ist richtig. Der Gedanke der Vererbbarkeit steigert jedoch die Bedeutung der Herkunft nicht unwesentlich. Besonders fällt dies beim Treffen von Achilleus und Aineias auf. Beide kennen einander, der Bericht über die Herkunft ist reine Demonstration von Überlegenheit (Il. 20, 203–204 und 213–214), vgl. Susanetti (1999) 107. Zur Rolle der Genealogien in der Ilias vgl. auch Grethlein (2006) 65–84. Die einzigen Helden, die immer wieder gemeinsam in Erscheinung treten und denselben Namen tragen, sind die Aiante. Meist werden sie durch Angabe des Vaters kenntlich gemacht, doch selbst zu ihrer Unterscheidung bedürften wir ihres Vatersnamens nicht, denn sie lassen sich auch durch ihre unterschiedliche Körpergröße und ihre Fähigkeiten eindeutig benennen. Im Schiffskatalog werden Aias, Telamons Sohn, als groß und Aias, Oileus’ Sohn, als klein, aber schnell charakterisiert, vgl. Il. 2, 527–529. Entsprechend wird jener gelegentlich einfach durch μέγας (Il. 9, 169 und 16, 358), dieser durch ταχύς (Il. 10, 110 und 175) definiert. Als Priamos Helena nach dem „großen“ Mann fragt, antwortet sie nur, der sei Aias – ohne nähere Bestimmung, vgl. Il. 3, 225–229. Außerdem trägt der telamonische Aias, und nur er, bestimmte Epitheta wie ϕαίδιμος (z. B. Il. 7, 187; 11, 496) und διογενής (Il. 4, 489; 7, 249).

32 Epos

terschieden in der konkreten Leistungsfähigkeit. Die Präsenz des Vaters ist bei Diomedes ungewöhnlich groß.44 In auffallender Häufigkeit wird ihm Tydeus’ leuchtendes Vorbild vorgehalten, um ihn wissen zu lassen, daß er weit hinter dem Vater zurückbleibe.45 Die ἀρετή eines Kämpfers hat also mit seiner Herkunft zu tun. Genealogien und Patronymika zeigen, daß man einen Zusammenhang zwischen der Leistung eines Kriegers und seinen Vorfahren herstellte.

1.3.3 Weitere Kriterien Es gibt Situationen, in denen die Leistung offensichtlich nicht oder nicht allein das Kriterium bei der Verteilung der Ehre ist: Achilleus beklagt sich in Il. 9 darüber, daß τιμή nicht konsequent nach Leistung vergeben werde. Ohne Rücksicht darauf, wie tapfer und erfolgreich sich einer in der Schlacht bewähre, werde er nicht höher geschätzt als ein durchschnittlicher Kämpfer. Achilleus behauptet, er habe nach seinen Beutezügen stets alles bei Agamemnon als dem Ranghöchsten vor Troja abgeliefert und nur einen Bruchteil davon als Beute zugesprochen bekommen, während Agamemnon das meiste für sich behalten habe, obwohl doch er, Achilleus, die eigentliche Arbeit geleistet habe.46 Eine ähnliche, von der erbrachten Leistung weitgehend unabhängige Verteilung der Ehre bemerken wir in Il. 23. Bei den Leichenspielen für Patroklos 44

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Vgl. Andersen (1978) 34. Diomedes’ Aussage, er sei besser als seine Vorfahren, die ἀγαθοί gewesen seien, spricht nach Ulf (1990) 112 dafür, daß die Qualität der Vorfahren keine Rolle spiele. Der Vergleich mit den Vorvätern zeigt aber doch gerade, daß von dem Sohn eines ἀγαθός erwartet wurde, daß er sich gleichfalls als ἀγαθός bewähre. Daß die Väter als Maßstab genommen werden, zeigt auch, daß es offensichtlich Familien gab, in denen man sich etwas darauf zugute hielt, seit Generationen viele tüchtige Männer hervorgebracht zu haben. Tydeus ist als Exempel auch besonders geeignet, denn er ist allen vor Troja fern. Diomedes hat keine Erinnerungen an ihn, auch Agamemnon kennt ihn nicht (Il. 6, 222–223 und 4, 374–375), vgl. auch Andersen (1978) 34. Je weiter der Vater entfernt ist, desto heldenhafter erscheint er und um so leuchtender ist das Vorbild, denn in Generationen vor dem Trojanischen Krieg waren die Helden noch größer und stärker und tapferer, vgl. Il. 1, 260–272; 11, 632–637, vgl. auch Il. 16, 140–144; 19, 387–391 und 5, 302–304; 12, 445–449; 20, 285–287. Zu kurz ist Achilleus freilich nicht gekommen. Schon bei der Gefangennahme kann Patroklos die verängstigte Briseis damit trösten, daß sie Achilleus gehören werde, der sie gut behandeln werde. Achilleus hat also durchaus nach Gutdünken ausgewählt bzw. den nötigen Einfluß auf die Heeresversammlung ausüben können, daß sie ihm seine Wünsche erfüllte (Il. 19, 295–299), vgl. Link (1995) 150–151. Bislang, bis zu seiner Auseinandersetzung mit Agamemnon, hatte Achilleus von der besonderen Ehrung der Kriegshelden profitiert, die sich beispielsweise in der Beuteteilung zeigte. Wer gut gekämpft hatte, bekam besondere Ehrenstücke vom Beutehaufen, ehe das Übrige unter das Heer verteilt wurde. Erst jetzt, wo Achilleus in seiner Ehre angegriffen ist, erkennt er die bestehende Praxis als ungerecht. Offensichtlich war der Bezug zur im konkreten Fall erbrachten Kampfleistung nicht immer ausreichend erkennbar, so daß die Ehrungen als unverhältnismäßig oder willkürlich erschienen, weil immer dieselben mit besonderen Stücken geehrt wurden. – Die Helden wählen zuerst: Il. 9, 129–130 und 139. Das Volk fühlt sich zu kurz gekommen: Il. 1, 231; 2, 225–231. Ähnlich Il. 9, 318–335, vgl. auch van Wees (1992) 87, Link (1995) 157–160. Würde Ehre konsequent nach dem Leistungsprinzip verteilt, wäre zu erwarten, daß ein Krieger wie Thersites, wenn er Gefangene gemacht hat, dafür mit Vermehrung seiner τιμή belohnt würde. Statt dessen muß er die Beute abliefern, damit sich die βασιλῆες bedienen können.

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soll ein Teilnehmer einen zweiten Preis erhalten, obwohl er als letzter ins Ziel gekommen ist, und ein fünfter Preis geht an einen, der überhaupt nicht teilgenommen hat.47 Angesichts solcher Gepflogenheiten kann man nicht von einem rein leistungsbezogenen Wertesystem sprechen. Immer wieder treffen wir die Besten der Achaier fern des Kampfgetümmels, und doch bleiben sie die Besten. Offensichtlich sammelt sich ein gewisses „Guthaben“ an τιμή-würdiger ἀρετή an, wenn einer sich häufig hervorgetan hat. Kämpft ein Krieger vor aller Augen tapfer und besiegt einen oder mehrere Feinde, kann er sich nach Belieben wieder zurückziehen, ohne daß dies als Feigheit aufgefaßt würde.48 Daher geht auch Achilleus’ Anspruch auf τιμή während seiner Enthaltung vom Kampf nicht unmittelbar verloren.49 Er hat tags zuvor noch seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt, und er weiß, daß die anderen Griechen bald merken werden, was ihnen mit ihm fehlt. Mit Agamemnons Affront ist die öffentliche Erweisung von τιμή verschwunden, nicht aber sein Anspruch auf Ehrerweisung. Von allen wird anerkannt, daß Achilleus τιμή verdient hat. Hierin liegt auch eine Voraussetzung für Agamemnons und Achilleus’ Auseinandersetzung in der Ilias.50 Sie ist nur so zu erklären, daß Agamemnons Status sich anders als durch akut bewiesene kämpferische Fähigkeiten begründet, denn er ist zwar kein schlechter Kämpfer – auch er hat eine Aristie (Il. 11, 91–180 und 218–279) –, aber Achilleus ist unbestritten der bessere Krieger. Agamemnons 47

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Vgl. Il. 23, 532–539 und 615–652. Nestor rühmt sich in seinen Dankesworten seiner früheren Leistungen. Die Ehrenstellung, die er innehat, ist durch die ἀρετή der Jugend begründet, durch Taten allerdings, die lange vergangen sind und deren ἀρετή er schon lange nicht mehr erneuert und unter Beweis gestellt hat. Zu seiner Ehrenstellung mögen auch die Weisheit, die mit seinem Alter verbunden ist, und seine ϕιλότης mit Menelaos beitragen, vgl. van Wees (1992) 85–86. Es ist bezeichnend, daß nur βασιλῆες an den Wettkämpfen teilnehmen, vgl. van Wees (1992) 94–95. Anders wirkt sich freilich ein fluchtartiges Verlassen der Schlacht aus, feiges Verhalten entehrt. Wer als Ranghoher unter den πρόμαχοι versagt, verfällt der Mißachtung, z. B. Il. 3, 39–51; 13, 116–122. Vgl. Latacz (1977) 151–153. Anders Finkelberg (1998) 24, der die Auffassung vertritt, daß Achilleus’ ἀρετή während seiner Enthaltung vom Kampf nicht existiere und damit auch sein Anspruch auf τιμή verfalle. Grundsätzlich ist das richtig. Mit fehlender ἀρετή geht auch die τιμή verloren. Nestor beispielsweise hat damit zu kämpfen und beruft sich deshalb immer wieder auf seine früheren Leistungen. Die Frage ist jedoch, in welchem zeitlichen Abstand zum Nachlassen der ἀρετή auch die Ehrerweisungen zu Ende gehen. Nestor ist sehr alt, und seine Heldentaten liegen – anders als bei Achilleus – lange zurück. Auch nachdem Agamemnon ihm das Mädchen genommen hat, erhebt Achilleus Anspruch auf die ihm zustehende, durch gezeigte ἀρετή verdiente τιμή. Während Achilleus nicht kämpft und keine neue ἀρετή an den Tag legt, erwirbt er sich keine neue τιμή, aber verliert auch nicht zugleich das Recht auf die bereits erworbene. Außerdem sind die fälligen Ehrerbietungen nicht deshalb ausgeblieben, weil Achilleus nicht mehr kämpfte und die ἀρετή fehlte, sondern bereits vorher, mit Agamemnons Aneignung von Briseis. Achilleus’ Enthaltung vom Kampf ist bereits die Reaktion auf die fehlende Ehrbezeigung. Gelegentlich wurde im Zuge der Deutung der homerischen Gesellschaft als einer Schamkultur die Auffassung vertreten, die homerischen Menschen besäßen nur die τιμή, die ihnen ihre Gesellschaft zuteil werden lasse. Dann könnte sich allerdings niemand gekränkt fühlen – Kränkung impliziert, daß man eine sehr konkrete Vorstellung vom einem zustehenden Maß an Ehre besitzt. Vgl. Cairns (1993) 72–73 mit Blick auf Diomedes; die Rücksicht auf die öffentliche Meinung setzt eine hohe Selbsteinschätzung voraus.

34 Epos

Anspruch auf τιμή ist beachtlich. Er ist der oberste Befehlshaber aller vor Troja versammelten Streitkräfte. Dieser Status muß entweder aus früher erworbener und ihm daher zustehender τιμή resultieren oder ganz andere Ursachen haben, etwa die, daß er das größte Kontingent von Schiffen befehligt (Il. 2, 576–580), daß er der Bruder des Geschädigten ist und dergleichen. So prallen unterschiedliche, nicht nur militärisch begründete τιμή-Ansprüche aufeinander. Eine Elite, die sich durch erbrachte Leistungen definiert, ist grundsätzlich offen und kein nach unten abgeschlossener Stand. Zur privilegierten Gruppe gehört man nicht durch Geburt, sondern durch Verdienst. Einem jeden ist es möglich, vorn zu kämpfen, durch Erfolge auf sich aufmerksam zu machen und sich so den Zugang zu den besonders Geehrten zu eröffnen. Aber es ist auffallend, daß sich immer wieder dieselben Kämpfer mit Heldentaten hervortun. Faktisch treten nur wenige als mögliche Träger der ἀρετή auf. Kaum einer, der nicht auch Anführer einer Abteilung ist, wird als besonderer Kämpfer genannt. Homers Helden sind sämtlich βασιλῆες.51 Das entspricht einerseits dem Grundmuster, daß die Leistung den Status bestimmt, denn weil sie gute Kämpfer sind, haben sie eine hohe Position inne. Andererseits würden wir erwarten, daß in einer Gesellschaft, die durch soziale Mobilität geprägt ist, gelegentlich auch einmal eine unerwartete Kampfesleistung erbracht würde. Wir werden aber nicht Zeuge irgendeines durch kämpferische Leistung erlangten Aufstiegs.52 Statt dessen beweisen nur immer wieder die, die bereits einen hohen Rang innehaben, daß sie ihre Position zurecht einnehmen. Letztlich ist die Entscheidung, ob die Helden vor Troja βασιλῆες, ἄριστοι sind, weil sie am besten kämpfen, oder ob sie gut kämpfen, weil sie βασιλῆες sind, wohl eine Frage nach „Henne oder Ei“.53 Auch ästhetische Gesichtspunkte spielen eine Rolle; wer einen hohen Rang in der Gemeinschaft einnehmen will, muß auch gewissen äußerlichen Kriterien genügen.54 Daneben finden sich im engeren Sinne moralische Forderungen: 51

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Vgl. van Wees (1992) 78–79. – Auf der literarischen Ebene sind die Einzelkämpfe von großer Bedeutung, weil sie die Tapferkeit einzelner aufleuchten lassen. Ein einzelner Kämpfer wie Achilleus kann das Blatt wenden. Zur historischen Bedeutung der Einzelkämpfe gegenüber den großen, geschlossen agierenden Heeresteilen vgl. Andrewes (1961) 128, Latacz (1977), van Wees (1988),(1994),(1996b). Vgl. außerdem Hellmann (2000), zu den πρόμαχοι 157–159. Diomedes scheint auf den ersten Blick ein solcher Aufsteiger zu sein, der sich durch Kampfesleistung zum Ratgeber emporarbeitet. Aber auch Diomedes ist nicht irgendein Krieger des Heeres. Er beginnt seine Emanzipation nicht aus der Namenlosigkeit der großen Masse heraus, sondern ist bereits Anführer des Kontingents aus der Gegend um Argos (Il. 2, 559–568) und Sohn des Tydeus; er wird von Agamemnon namentlich angesprochen und höflich ermahnt, sich tapfer zu zeigen, denn er sei der Sohn eines großen Vaters, und er wird nicht, als Agamemnon seine Mannen zum Kampf treibt, wie die einfachen, feigen Kämpfer mit dem Stock vorwärtsgetrieben. Militärische Leistung als Ursache der sozialen Stellung stellen z. B. Latacz (1977) 153, Ulf (1990) 4–15 fest, militärische Leistung als durch Definition mit hohem Rang verbunden und Legitimation desselben z. B. van Wees (1992) 78–79. Thersites ist das bekannteste Beispiel. Er weiß sich nicht angemessen zu verhalten und wird vor aller Augen gezüchtigt und gedemütigt. Er ist der häßlichste Grieche vor Troja, während bei den Helden stets ihre herausragende Schönheit betont wird. Thersites’ ungehöriges Benehmen und sein häßliches Äußeres werden wortreich beschrieben (Il. 2, 212–219). Dagegen ist z. B. Agamemnon der Schönste, den Priamos je sah (Il. 3, 169), und

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Wenn Achilleus in Il. 24 Priamos aufnimmt und ihm Hektors Leiche herausgibt, tut er dies aus Mitleid.55

1.3.4 Exkurs: Der Konflikt zwischen Agamemnon und Achilleus Der Konflikt entsteht daraus, daß das Kriterium zur Bestimmung der Rangordnung innerhalb der τιμή nicht eindeutig und allgemeingültig festliegt. Uneinigkeit besteht darüber, ob dem κάρτερος oder dem ϕέρτερος die höhere Po-

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Odysseus oder Aias werden wegen ihrer breiten Schultern und ihrer stattlichen Erscheinung gerühmt (Il. 3, 194 und 226–227), Achilleus tut es selbst (Il. 21, 108). Schönes Aussehen und besondere Kampfesleistung gehören in den Augen der homerischen Menschen zusammen (Il. 3, 44–45). In der Ilias empfinden fast nur die Götter Mitleid. Zeus empfindet z. B. Mitleid mit Sarpedon, Il. 16, 431–438, mit Achilleus’ Pferden 17, 443–447, mit Hektor 22, 168–176, Hektor seinerseits bemitleidet Andromache, sollte sie im Falle seines Todes in griechische Gefangenschaft geraten, Il. 6, 450–458. Die Fähigkeit, mitleidig zu handeln, erweist also Achilleus’ besondere Größe. Daß das Mitleid in der Ilias ansonsten keine große Rolle spielt, ist durch die Kriegssituation zu erklären. Wo das eigene Leben auf dem Spiel steht, wird das Flehen unterlegener Gegner nicht erhört. In Il. 24 liegt allerdings eine andere Situation vor. Der Unterlegene ist bereits tot, der Vater des Unterlegenen bittet nicht um das Leben, sondern um den Leichnam seines Sohnes. Einem unterlegenen Feind das Leben zu schenken hieße, die Kampfkraft der Feinde zu stärken und damit das eigene Leben und das der Verbündeten zu gefährden. Von dergleichen Überlegungen ist Achilleus bei Priamos’ Bitte frei, die Auslieferung der Leiche ist vielmehr eine Frage der Menschenwürde, vgl. auch Dietz (2000) 190–192. Die Klage des alten Vaters berührt Achilleus, weil er an seinen eigenen Vater erinnert wird, der einst ebenfalls seinen Sohn wird beweinen müssen, fern der Heimat begraben, vgl. Burkert (1955) 99–107. Auch Achilleus’ Liebe zu Patroklos schwingt, wenn auch nicht explizit, in seinem Verhalten gegen Priamos mit, vgl. MacLeod (1982) 26. Unter dem Eindruck der vorangegangenen dreiundzwanzig Gesänge mag diese Regung unheroisch scheinen, als stünde sie im Widerspruch zu den vorher genannten Tugenden, doch eine Fülle von strukturellen Bezügen und Parallelen zeigt, daß die Ilias durchaus auf dieses Ende hinkomponiert ist, vgl. Reichel (1994) 192–197. Das Mitleid liegt damit im Bereich des homerischen Wertekanons, vgl. auch Burkert (1955) 69–70, MacLeod (1982) 8–35. „And it is pity which is at the heart of Homer’s conception of poetry“ (MacLeod (1982) 14). Dieser Gedanke beleuchtet auch Achilleus’ Mißhandlung der Leiche, die der genannten Szene vorangeht. Obwohl er als Sieger aus dem Kampf mit Hektor hervorgegangen ist, wird seine Mißachtung des toten Gegners von Göttern und Menschen mißbilligt. Agamemnon macht seinerseits keine Anstalten, den Troern die Bestattung ihrer Toten zu verweigern, denn ihre Besänftigung sei ohne Aufschub notwendig (Il. 7, 408–410), die Götter schützen Leichname, um sie vor Mißhandlung zu bewahren (Il. 16, 677–683 Sarpedon; 17, 268–273 Patroklos; 23, 184–191 Hektor). – Nach Postlethwaite (1998) 100 lebt Achilleus seine Animosität gegen Agamemnon weiter aus, wenn er Priamos aufnimmt, nachdem er Agamemnons Versöhnungsangebot vorher abgewiesen hatte. Diese Auffassung stellt m. E. eine unzulässige Funktionalisierung und Reduktion von Achilleus’ Handeln dar. Dazu ist die Angelegenheit, in der Priamos zu Achilleus kommt, zu ernsthaft. Die Szene ist nicht die Verlängerung eines bereits in Il. 19 beigelegten Streits, vielmehr sind die Forderungen, die das Wertesystem in Il. 24 an Achilleus stellt, von Ansprüchen auf durch Tapferkeit erkämpfte Ehre unabhängig. Achilleus vernimmt Priamos’ Bitten in einer ganz anderen emotionalen Verfassung, als er sie zu Beginn der Ilias zeigt. In Il. 24 werden seine Emotionen nicht vom Zorn dominiert und überlagert, er fühlt sich an seinen eigenen alten Vater erinnert und empfindet Mitleid. In dieser Situation erfüllt Achilleus die gesellschaftlichen Normen. – Zu anderen möglichen Handlungsmotiven, die von der Forschung erwogen wurden, vgl. Brügger (2009) 200 (ad 560–562).

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sition zukomme (Il. 1, 281–282).56 So stehen militärische und soziale Kriterien einander gegenüber. Achilleus ist stärker, ist der Bessere im Kampf, Sohn einer Göttin, Agamemnon ist Oberbefehlshaber und führt ein größeres Kontingent an. Das Abwägen der erhobenen Ansprüche ist eine Ermessensfrage. Beide haben ihre Berechtigung, die nicht bestritten wird.57 Agamemnon ist derjenige, der am Ende einlenkt.58 Er will Achilleus nicht nur Briseis zurückgeben, sondern ihm außerdem noch eine große Anzahl anderer Frauen schenken, darunter eine seiner Töchter, Städte und wertvolle Gegenstände. Da Reichtum als Ausdruck einer hohen Ehrenstellung gewertet wird, kann eine verletzte τιμή ihrerseits durch materielle Güter wiederhergestellt werden.59 Daß Achilleus nicht nach56

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Vgl. Latacz/Nünlist/Stoevesandt (2000) 109–110 (ad 275–284). Der Konflikt zwischen Agamemnon und Achilleus spricht gegen Finleys These, der homerische Ehrenkodex sei vollständig und eindeutig, vgl. Finley (1965) 120–121. Nach Rose (1997) 184 ist das Thema der Ilias eben die Gerechtigkeit der sozialen und politischen Hierarchie, eine Frage, die sich ohne derartige Wertkonflikte gar nicht stellte. Nestor bewertet Agamemnons Berechtigung höher (Il. 1, 277–279). Agamemnon sei der höchste, der zeptertragende βασιλεύς vor Troja, er müsse sich nicht mit einem Ehrenplatz zufriedengeben, den auch andere einnähmen, ihm habe Zeus Ruhm verliehen. Es entspricht nach Nestor also dem göttlichen Willen, daß sich alle Agamemnon unterordnen und allfällige Herabsetzungen widerspruchslos ertragen. Dagegen schätzt Thersites, der ewige Nörgler, Achilleus’ Anspruch auf den Sieg in dieser Auseinandersetzung größer ein (Il. 2, 239–240). Achilleus sei der Bessere, für Agamemnons Vorgehen findet er deutliche Worte. Er spricht von ἀτιμεῖν und λωβεῖσθαι (Il 2, 240 und 242). Ähnlich argumentiert Fisher (1992) 151–156; Agamemnons Verhalten gegenüber Achilleus sei eine überlegte, öffentliche Erniedrigung und damit moralisch und sozial anstößig. – Gleichwohl mißbilligt auch Nestor Agamemnons Verhalten ganz unmißverständlich. Zwar sei Agamemnon ἀγαθός, zwar habe er einen besonders hohen Anspruch auf τιμή, doch solle er sich hüten, anderen ihre τιμή zu verkleinern, zumal Achilleus, wie Nestor betont, militärisch unentbehrlich sei (Il. 1, 284). Auch Phoinix sieht in seiner Rede, die er als Teilnehmer der Gesandtschaft in Il. 9 hält, Achilleus im Recht (Il. 9, 523). Der Vers wird von West mit Berufung auf van Leeuwen athetiert. Die Billigung von Achilleus’ Verhalten ist in ihm besonders deutlich ausgesprochen, doch auch wenn man sich zur Tilgung des Verses entschließt, fehlt der Gedanke in Phoinix’ Rede nicht. Implizit ist Achilleus’ Berechtigung zu zürnen auch in den Versen Il. 9, 515–518 enthalten. Ohne Geschenke hielte Phoinix es für angemessen, wenn Achilleus nicht einlenkte. Das bedeutet, daß er Achilleus’ Zorn und seine Art zu zürnen richtig findet, jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Gesandtschaft. Bereits in der Versammlung in Il. 2 gibt er zu, daß er den Streit begonnen habe, ohne daß jedoch dem Eingeständnis Taten folgten. Zwar spricht er von der Zeit nach der Versöhnung und stellt den Untergang der Troer in Aussicht, aber es kommt ihm offensichtlich nicht in den Sinn, den ersten Schritt zu tun (Il. 2, 377–380). Erst als das griechische Heer bis zu den Schiffen zurückgedrängt wird, ist er dazu bereit. Auch heute noch wird heftig über die Frage gestritten, ob Agamemnon berechtigt war, sich Briseis zu nehmen, oder ob Achilleus zu Recht zürnt. Die Frage ist, wie ἀγαθός περ ἐών (Il. 1, 275) aufzufassen ist, ob als Begründung (wie z. B. Adkins (1960) 50–52) oder als Einschränkung (wie z. B. Long (1970) 126–128, Lloyd-Jones (1971) 12–15, Schofield (1986) 29, Cairns (1993) 101) von Agamemnons Rechten. Rät Nestor Agamemnon einzulenken, obwohl er ἀγαθός sei und also das Recht habe, nach Gutdünken über sein Heer zu verfügen, oder leitet er aus Agamemnons Status als ἀγαθός eine moralische Verpflichtung ab, seine Gefolgsleute zu respektieren? Nestors Kritik an Agamemnons Verhalten (Il. 1, 276; 9, 106– 111) muß keine moralische Bewertung sein, es kann auch bedeuten, daß der Tadelnde das Verhalten für unklug, diplomatisch ungeschickt hält. Und ob Agamemnon die moralische Fragwürdigkeit seines Verhaltens einsieht, ist insofern sekundär, als er das Versöhnungs-

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gibt, hat nichts mit den Geschenken oder ihrem Umfang zu tun, sondern einzig mit der Heftigkeit der Emotion, der Größe seines Zorns, den er nicht bezwingen kann. Sein Zorn ist nicht ungewöhnlich, er entspricht dem, was von früheren Helden bekannt ist.60 Bis zur Gesandtschaft in Il. 9 haftet Achilleus’ Verhalten nichts Übertriebenes an. Seine Reaktion ist auf eine Ehrverletzung, wie er sie durch Agamemnon erleidet, nicht anders zu erwarten. Eine Einschränkung seiner τιμή kann er nicht hinnehmen, da das seine Position grundlegend in Frage stellte. Aber mit seiner anschließenden Hartnäckigkeit setzt er sich ins Unrecht.61 Denn die ἀρετή hat auch eine soziale Komponente: die anderen sollen von ihr profitieren, und Aias’ Rede an Achilleus zeigt, daß kameradschaftliches Verhalten als normal vorausgesetzt wird.62 Mit den angebotenen Geschenken wäre seine τιμή eigentlich wiederhergestellt. In den Augen aller Beteiligten – mit Ausnahme von Achilleus selbst – sind die von Agamemnon in Aussicht gestellten Schätze eine angemessene Kompensation für die erlittene Beleidigung.63 Aber Achilleus empfindet die Kränkung als noch nicht abgebüßt und erhebt damit

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angebot jedenfalls nicht vor der akuten militärischen Bedrängnis der Griechen macht. Beide Kontrahenten sind bis in den 9. Gesang hinein stur und sehen sich im Recht. Letztlich ist die Frage der Berechtigung wohl nicht zu entscheiden. Zwei Ansprüche prallen aufeinander, beide im Rahmen des homerischen Wertesystems, wie wir es gemeinhin aus dem Text erschließen, begründbar. Es ist bezeichnend, daß Nestor einen Vermittlungsversuch unternimmt. Keinem von beiden allein läßt sich der Streit anlasten, keiner muß eindeutig die Konsequenzen tragen, und es gibt kein Mittel, den Konflikt zu lösen, als an beide zu appellieren und auf ihre Einsicht zu hoffen. In eindeutigen Situationen ist Nestor nicht um klare Worte verlegen (vgl. z. B. seine Ermahnungen Il. 2, 337–349 und 360–368; 7, 124–130 sowie seine Ratschläge Il. 7, 327–343; 14, 61–63), doch hier macht er keinen klaren Lösungsvorschlag. Der Heldenkodex ist zur Lösung dieses Konflikts ungeeignet – vielmehr hat er ihn gerade hervorgerufen, weil die verschiedenen möglichen Bewertungsmaßstäbe nicht eindeutig hierarchisiert sind – , damit eskaliert die Auseinandersetzung zur Machtprobe. Yamagata (1994) 130–131 bemerkt, daß Agamemnon Briseis zwar an sich nehmen konnte, sich Achilleus damit aber zum Feind machte. Wollte er sich Achilleus als Freund erhalten, mußte er dessen τιμή achten. Vgl. Griffin (1980) 73–76. So z. B. van Wees (1992) 132. Anders Redfield (1975) 17 und 107–108, wonach Achilleus’ fortgesetzte Weigerung eigentlich erst die Erfüllung des Heldenethos sei, auch Gill (2004) 12 sieht Achilleus im Recht, denn Agamemnon sei der, der den Wertekontext zerstört habe. Wiederum anders Reichel (Vortrag am 11. 03. 2003 in Freiburg), der der Auffassung ist, daß Achilleus bereits mit seiner Haltung in Il. 1 gegen den heroischen Wertekanon verstoße. Wenn Achilleus Il. 18, 101–104 selbst beklagt und Nestor Il. 11, 762–764 rügt, daß er, Achilleus, nutzlos herumsitze und sich alleine seiner Tapferkeit freue, impliziert dies, daß er mit seiner ἀρετή eigentlich der Allgemeinheit dienen sollte. In Il. 9, 630 tadelt Aias Achilleus’ mangelnde ϕιλότης, eben weil dieser kooperative Wert als verpflichtend empfunden wird. Kooperatives Versagen wird kritisiert, vgl. Cairns (1993) 64, Zanker (1994) 17 und 20–21, Lévy (1995) 184, Gill (2004) 10–15. Im gemeinsamen Kampf entsteht eine Gemeinschafts­ ethik. Gleichwohl ist der Krieg vor Troja kein Krieg im Dienste einer Polis. Die griechischen Heerführer sind, gebunden durch einen persönlichen Eid, nach Troja gezogen, nicht zum Wohle der Allgemeinheit. Der in der Schlacht erlittene Tod bleibt etwas Furchtbares, denn er wird nicht zu einem um der Gemeinschaft willen erlittenen Heldentod, was ihm einen höheren Sinn geben und ihn damit erträglicher machen könnte, vgl. Kullmann (1992) 264–268. Ein aufs Gemeinwohl ausgerichtetes Verhalten lege Diomedes an den Tag; damit werde er zum Gegenbild zu Achilleus, vgl. Erbse (2005) 3–5. Il. 9, 164 Nestor, 260–261 Odysseus, 515–520 Phoinix. Vgl. Schein (1984) 105.

38 Epos

eine unerfüllbare Forderung. Er bricht in Il. 9 mit dem Wertesystem der Ilias. Als er in Il. 19 in den Kampf zurückkehrt, tut er dies nicht, weil er in seinem Innersten versöhnt wäre, sondern aus ganz persönlichen Gründen, nämlich um Patroklos zu rächen.64 Obwohl Agamemnon einen Versöhnungsversuch einleitet und Achilleus reich beschenkt, bleibt er insgesamt im Besitz seiner Ehren. Außer daß er Briseis zurückgibt und damit in dieser Streitigkeit formal unterlegen ist, erleidet er keinen nennenswerten Ansehensverlust. Er bleibt in seiner Position und erfährt keinen Tadel und keine Respektlosigkeit von Seiten der Griechen.65 Alle reagieren erleichtert auf die Beilegung des Streits (Il. 19, 74–75).66

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Nach Held (1987) nimmt Achilleus das Angebot in Il. 19 auch innerlich an, der 24. Gesang zeige seine Wandlung. Zum Mitleid in Il. 24 vgl. aber oben. Agamemnon hat durchaus gewisse Autoritätsprobleme, doch unabhängig von dem Streit mit Achilleus. Zu seiner gelegentlichen Führungsschwäche vgl. beispielsweise Easterling (1989). Anders Postlethwaite (1998) 100, der bemerkt, Agamemnon sei nach der Versöhnung subaltern, Achilleus treffe Entscheidungen und gebe Befehle. Agamemnon erleidet seinen Imageverlust jedoch weniger auf der Handlungsebene, sondern allenfalls auf der Rezeptionsebene. Es ist richtig, daß Achilleus Anweisungen gibt, die dann von den anderen, z. T. auch von Agamemnon ausgeführt werden. Doch sie betreffen sämtlich Patroklos’ Bestattung und Ehrung. Sein Begräbnis und seine Leichenspiele richtet Achilleus jedoch nicht deshalb aus, weil er das Kommando über das Heer übernommen hätte, sondern weil kein anderer Grieche ein so enges Verhältnis zu Patroklos hat, daß er wie Achilleus die Pflicht fühlte, diese Aufgabe zu übernehmen, vgl. z. B. Il. 22, 385–390 oder 23, 65–92. Patroklos’ Erscheinung fordert von Achilleus als seinem engsten Gefährten die Bestattung. Ferner nennt Achilleus ausdrücklich Agamemnon den, dem das Heer gehorcht: Il. 23, 156– 157. Er sieht sich demnach selbst nicht in der Position des Ranghöchsten. Der Streit zwischen Achilleus und Agamemnon ist eine Spiegelung der Auseinandersetzung zwischen Griechen und Trojanern. Einer nimmt sich unrechtmäßig des anderen Frau, der fühlt sich in seiner Ehre verletzt und ertrotzt sie sich auf militärischem Wege zurück (Achilleus durch Enthaltung von den allgemeinen militärischen Aktivitäten; die Parallele wird auch von Achilleus selbst angesprochen: Il. 9, 335–341). Auch die Beurteilung der Ursache ist sehr ähnlich. In beiden Auseinandersetzungen wird der Anlaß von nicht unmittelbar Betroffenen für zu gering gehalten, um eine solche Ausdauer im Kampf um den Sieg zu zeigen und derartige Verluste dafür hinzunehmen. Über den von Agamemnon angeführten Feldzug gegen Troja äußert sich Achilleus in dieser Weise. Er selbst bekommt ein solches Urteil noch deutlicher z. B. von Aias zu hören (Il. 1, 152–160 und 9, 636–638). Das zeigt, wie sich die Beurteilung einer Situation verändert, je nachdem, ob einer als Dritter zusieht oder selbst als Beleidigter bzw. Beleidiger involviert ist. In Agamemnons Krieg urteilt Achilleus ganz nüchtern und distanziert und sieht mit großer Klarheit die, in seinen Augen, Nichtigkeit des Anlasses und die Sinnlosigkeit des Krieges, vgl. Griffin (1980) 99–100. Doch als er selbst betroffen ist, ist er ebenso entschlossen wie Menelaos und Agamemnon, seine Ehre wiederherzustellen.

Elite erhalten: Herkunft als Verpflichtung

1.4

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Elite erhalten: Herkunft als Verpflichtung

Die Herkunft von einem berühmten Vater und Großvater ist freilich keine Wertgarantie, jeder epische Held muß seinen Ruhm selbst verdienen.67 Dabei ist die Herkunft ein erheblicher Faktor.68 Die Lektüre der Ilias zeigt deutlich, daß die vornehme Herkunft von den Helden als eine Verpflichtung verstanden wird. Zwei jungen Kämpfern gab der Vater den berühmten Rat αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων immer Bester zu sein und überlegen zu sein den anderen mit ins Feld (Il. 6, 208 und 11, 784). Diese Maxime ergibt sich aus dem Wunsch, dem Geschlecht keine Schande zu machen, sondern den Heldentaten der Vorfahren neue, mindestens gleichwertige hinzuzugesellen (Il. 6, 209–210).69 Beide haben bedeutende Vorfahren und leiten sich letztlich von einem Gott her. Glaukos ist Bellerophontes’ Enkel, ein Nachkomme des Sisyphos, der wiederum ein Sohn des Aiolos ist – eine Ahnenreihe, die die Forderung erhebt, sich ihrer würdig zu erweisen. Achilleus kann sich von Vater und Mutter her seiner Abstammung rühmen. Er ist ein Enkel des Aiakos, womit er ein Nachkomme des Zeus ist, und der Sohn der Meergöttin Thetis.70 Die Herkunft ist somit Ruhm und Antrieb. Man sonnt sich im Glanz der Väter, in dem Bewußtsein, dieselben Anlagen zu haben, und fühlt sich verpflichtet, dem Anspruch, den man selbst, die Eltern, die Umwelt an einen stellen, gerecht zu werden. 67

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So schon Haedicke (1937) 22–24, in neuerer Zeit fast unbestritten, vgl. z. B. Donlan (1980) 15–17, Ulf (1990) 112–117, Whitley (1991) 351, van Wees (1992) 83. Stellte ein heldenhafter Vater eine Heldengarantie für den Sohn dar, brauchte Hektor nicht zu den Göttern zu beten, sein Sohn möge einst eine vergleichbare Tapferkeit und Stärke erlangen (Il. 6, 476– 479). Gleichwohl kann der Sohn mit göttlicher Hilfe dasselbe erhoffen wie der Vater (Il. 5, 125–126). – Zahllose Menschengenerationen kommen und gehen, in der Namenlosigkeit verschwindend. Es ist Aufgabe eines jeden einzelnen, sich über diese Vergänglichkeit zu ewigem Ruhm zu erheben, vgl. Lévy (1995) 100. Historisch betrachtet bietet die Herkunft aus einem alten Haus, aus einer Familie, deren Vertreter seit Generationen einflußreiche Positionen einnehmen, in erster Linie bessere Möglichkeiten, sein Können unter Beweis zu stellen, vgl. Donlan (1980) 18–19. Stein-Hölkeskamp (1989) 43–52 betont vor allem die Rolle des Reichtums, der erforderlich ist, um einen adligen Lebensstil mit Sport, Gastmählern und Geschenken zu führen. Er erlaubt es Sprößlingen reicher Häuser in ganz anderem Maße, Eingang in die Oberschicht zu finden. Doch die Herkunft leistet mehr als das. Der Gedanke der Vererbung legt nahe, daß es nicht nur die Eltern und das Milieu waren, die den jungen Leuten aus mächtigem Hause die Gewinnung eines hohen Status erleichterten, sondern daß ihnen wohl auch von der Gesellschaft ein gewisses Vorrecht auf diese Positionen zuerkannt wurde. Vgl. Jaeger (1936) 28–30, Stein-Hölkeskamp (1989) 23. Überhaupt zeichnet göttliche Herkunft den Nachkommen in besonderer Weise aus. Hektor kann nicht dieselbe Ehre erwarten wie Achilleus, Il. 24, 55–66, vgl. Ulf (1990) 6, Adkins (1997) 710. Aineias vergleicht den Rang seiner göttlichen Mutter mit dem von Achilleus’ göttlicher Mutter. Aphrodite steht höher als Thetis, also stuft sich auch Aineias höher ein als Achilleus, Il. 20, 104–107; 203–209, vgl. auch Haedicke (1937) 19–20. Entschieden werden die Zweikämpfe freilich durch die Leistung der beiden Kämpfer, nicht durch ihre Herkunft. Bei der göttlichen Herkunft wird weniger die bessere Erbanlage betont als vielmehr die göttliche Hilfe, die den Nachkommen zuteil wird, z. B. Il. 21, 192–193, vgl. Haedicke (1937) 21–22. Aineias führt das Ausmaß der ἀρετή eines Kriegers auf den Willen bzw. die Willkür der Götter zurück (Il. 20, 242–243).

40 Epos

Diese Verpflichtung wird auch rückwirkend gefühlt. So sieht sich Sarpedon mit gewissen Privilegien ausgestattet, die er im nachhinein legitimieren zu müssen glaubt (Il. 12, 310–321). Sarpedon und Glaukos halten bereits die Macht in Händen, werden geachtet, mit besonderen Fleischstücken geehrt und sind begütert. Deshalb, so Sarpedon, müßten sie in vorderster Reihe kämpfen, damit das Volk es für gerechtfertigt halte, daß sie solch eine herausragende Position einnähmen.71 Bewähren sie sich nicht, müssen sie freilich um ihre Position fürchten.72 Der Kampf selbst erscheint in den Beschreibungen der Ilias nicht als egalitär; nie tötet ein namenloser Mann aus dem Volk einen Helden, Ruhm bringt nur der Kampf mit mindestens Gleichrangigen.73

1.5

Zusammenfassung

Die Bedeutung des Leistungsgedankens legt die Vorstellung nahe, daß τιμή jedem zuteil werden und jeder Krieger ein Höchstmaß an τιμή erreichen könne. Denn wer unter den Vorderen kämpft, gewinnt τιμή (Il. 24, 55–66; 23, 616–650; 5, 535–536). Die Ilias vermittelt jedoch ein anderes Bild: Wir sehen, daß zwar jeder nach Ehre strebt, aber nicht jeder einen nennenswerten Teil der verfügbaren Ehre erlangt. Wir sehen eine Gruppe von Anführern, die sich im Kampf hervortut und sich von der Masse der namenlosen Krieger unterscheidet.74 Die Leistung ist – und das wird von den handelnden Personen anerkannt – nicht alleiniges Kriterium. Achilleus kommt wegen seiner göttlichen Mutter mehr τιμή zu als Hektor, Nestor erhält, ohne an den Wettkämpfen teilgenommen zu haben, ein Geschenk. Wir sehen ferner Konflikte, die bei einer ausschließlichen Berücksichtigung der kriegerischen Leistung nicht oder nicht in so scharfer Form aufbrächen, wie sie es in der Ilias tun. Im Handeln der Menschen kommen verschiedene Kriterien zum Tragen, die unterschiedlich stark gewichtet werden. Die Herkunft ist einer dieser Gesichtspunkte. Den Dichter interessieren die Anführer, ihr γέρας ist wichtig. Verlieren sie ihre τιμή, hat dies Auswirkungen auf das ganze Heer und den Verlauf des Krieges überhaupt. Von den einfachen Soldaten ist wenig die Rede, ihre geringe τιμή ist unerheblich. Und ihr Unmut über ungerechte Verteilung wird durch eine kleine Züchtigung seitens der Herrscher flugs unterbunden. Ihre τιμή wird nicht geleugnet, sie ist dem Dichter aber auch nicht sonderlich erwähnenswert.

71

72 73 74

Vgl. Griffin (1980) 14. Van Wees (1992) 88 und 99 geht sogar so weit zu sagen, daß ἀρετή im Kampf bei den βασιλῆες nur von ideologischer Wichtigkeit sei. Die βασιλῆες erhielten in jedem Falle ihre Ehren, Tapferkeit werde dem βασιλεύς ohnehin zugeschrieben, und wo er dem Ideal nahekomme, diene dies nur der Legitimation, vgl. auch Singor (1995) 188. „… decisiveness in battle is claimed for those who are in power, rather than power claimed for those who are decisive in battle…“ (van Wees (1988) 23). Hektor verhöhnt Diomedes mit eben dieser Drohung, vgl. Il. 8, 161–163. Diese sind durch ihre Rüstung kenntlich, vgl. van Wees (1996b) 31–34. Der Historiker fragt nach der Existenz einer Oberschicht und nach der Rolle, die weitere Faktoren – bei prinzipieller Offenheit der Gesellschaft – in der Praxis gespielt haben mögen. So konnte etwa nur ein Reicher sich die Rüstung leisten, die für den ruhmbringenden Kampf in vorderster Linie Voraussetzung war.

Zusammenfassung

41

Diejenigen, die sich als ἀγαθοί erwiesen haben, bilden eine Elite. So entsteht unter den Mitgliedern der Wunsch, auch die Söhne als zugehörig zu wissen, und bei den Söhnen ein entsprechendes Bemühen. Die Gestalt des Diomedes zeigt, daß der homerische Held stets im Bewußtsein seiner Herkunft handelt und von den anderen im Lichte seiner Herkunft gesehen wird. Eine rühmliche Herkunft, die Abstammung von heldenhaften Vorfahren,75 bringt zwar nicht in erster Linie Rechte mit sich, wohl aber Ehre und eine Verpflichtung, dem Vorbild der Familie gerecht zu werden. Der Vergleich mit dem Vater ist zunächst Tadel, dann Ruhm für den Sohn. Die Genealogie unterstreicht nur sein Recht, als Ratgeber aufzutreten. Allein würde sie ihn dazu wohl nicht berechtigen; die Position, anderen zu raten, hat er sich im Kampf erworben. Aber die ruhmvolle Abstammung nimmt der Dreistigkeit ihre Spitze, daß Diomedes als Jüngster es unternimmt, das Wort zu ergreifen. Der Schluß liegt nahe, daß er es ohne respektable Vorfahren auch bei besonderer Tüchtigkeit im Kampf nicht gewagt hätte, aus seiner Tapferkeit das Recht auf Meinungsäußerung abzuleiten. Er ist zwar jung, aber eben kein Niemand. Durch seine Herkunft kann er ernstgenommen werden. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß in der Ilias nur der Begriff der εὐγένεια selbst fehlt, nicht aber das Bewußtsein der Bedeutung, die die Herkunft für das eigene Handeln hat, als Ansporn und Maßstab. Die Herkunft steht damit in einem engen Zusammenhang mit der Leistung, und die Ehre, die einer dadurch erlangt, gibt ihm seinen Platz in der Gesellschaft. Erbringt man hohe Leistung, findet man Eingang in die Elite. Die Zugehörigkeit zu ihr muß immer wieder unter Beweis gestellt werden, der Vergleich mit den Vorfahren immer wieder bestanden werden. Die heroischen Werte des Handelns und der Anerkennung, die aus den Epen zu entnehmen sind, bilden kein widerspruchs- und konfliktfreies System. Beide, Agamemnon und Achilleus etwa nehmen einen plausiblen Standpunkt ein; beide, Diomedes und Sthenelos, reagieren im Einklang mit den Werten ihrer Welt. Dennoch vertreten sie entgegengesetzte Auffassungen. Eine Lösung kann nur gefunden werden, wenn einer von beiden seine Position aufgibt. Darin zeigt sich eine strukturelle Schwäche des heroischen Wertekanons und sein inhärentes tragisches Potenzial. Diomedes lehnt Sthenelos’ Vorschlag, angesichts von Aineias und Pandaros den Rückzug anzutreten, mit den Worten οὐ γάρ μοι γενναῖον ἀλυσκάζοντι μάχεσθαι / οὐδὲ καταπτώσσειν denn es entspricht nicht meinem Geschlecht und der ererbten Art und den damit verbundenen Ansprüchen, mich fernzuhalten vom Kampf / oder zu ducken in umfassendem Sinne ab (Il. 5, 253–254). Diomedes darf nicht feige sein, will er im Kampf ἀρετή zeigen und τιμή erlangen. Schon sein Vater war ein Held vor Theben, jetzt empfindet Diomedes es als Verpflichtung, dem gerecht zu werden. γενναῖος ist ihm der Anspruch, mutig zu kämpfen und Ehre zu gewinnen. Ein Verhalten, dem das Prädikat γενναῖος zukommt, orientiert sich an den Taten des γένος, der Vorfahren. Wer nicht hinter dem väterlichen Ruhm zurückbleiben will, muß auf ihn als Maßstab blicken. 75

Die Vorfahren, deren sich die Krieger vor Troja rühmen, waren allesamt kämpferische Helden, vgl. beispielsweise Il. 6, 178–190; 14, 124–125.

2

Lyrik

Aus der lyrischen Poesie finden im Rahmen dieser Untersuchung zwei Belege unsere Aufmerksamkeit. Es handelt sich um je eine Passage aus Theognis’ Elegien und Pindars Epinikien.1 Bei einer großen grundsätzlichen Ähnlichkeit der Auffassungen lassen sich gleichwohl spürbare Unterschiede feststellen.

2.1

Theognis

Der erste lyrische Beleg für εὐγενής, der besprochen werden soll, findet sich bei Theognis. Seine Person und die Datierung seiner Gedichte sind umstritten.2 Von den datierbaren Gedichten weist ein großer Teil ins 6. Jahrhundert.3 1

2

3

Theognis’ Werk ist freilich nicht der Lyrik im engeren Sinne zuzurechnen, sondern ist als elegische Spruchdichtung zu charakterisieren. Die Einordnung hier erfolgt aus Gründen der Übersichtlichkeit; sowohl die zeitliche Verortung als auch die Verwendung der Begriffe vom Stamme γεν- legen es nahe, Theognis und Pindar in einem Kapitel zusammenzufassen. Wo nicht anders angegeben, zitiere ich Theognis nach der Ausgabe von West (1989). Die früheste Datierung setzt die Anfänge von Theognis’ Schaffen um die Mitte des 7. Jh. an, die späteste sieht ihn zu Beginn des 5. Jh., vgl. beispielsweise West (1974) 65–71 für die frühe, Harrison (1902) 285–286 für die späte Datierung. Untrennbar mit der zeitlichen Einordnung ist die Frage nach der Person des Autors verbunden. Entweder sind alle Verse in ihrer überlieferten Form von Theognis verfaßt (so z. B. Harrison (1902) 100–133), oder es gibt Theognis überhaupt nicht (so z. B. Wendorff (1909) 30–33). Der Sammlungscharakter der unter Theognis’ Namen überlieferten Gedichte (zur Entstehung der Sammlung vgl. West (1974) 40–43) gibt den Antworten freilich einen größeren Spielraum. Eine Spruchsammlung begünstigt den Eingang fremder gleichgearteter Dichtung. So beziehen sich einzelne Gedichte eindeutig auf unterschiedliche historische Ereignisse in großem zeitlichem Abstand. Für eine größere Anzahl von Gedichten der Sammlung wird die erste Hälfte des 6.  Jh. als zeitlicher Rahmen genannt, vgl. Hudson-Williams (1903) 3–7 und (1910) 6–12, Jacoby (1931) 143, Murray (1980) 274, von der Lahr (1992) 10, Lane Fox (2000) 37–40, CobbStevens/Figueira/Nagy (1985) 1 geben einfach den gesamten in der Forschung diskutierten Zeitraum an: 640–479, eine ausführliche Besprechung bei Selle (2008) 229–246. – Die Frage der Authentizität ist mit einigen Versen zu Beginn der Sammlung verknüpft. In Thgn. 19– 26 spricht Theognis von einem Siegel für seine Gedichte. Ob darunter ein „Plagiatschutz“ zu verstehen ist, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Für Kyrnos als Siegel treten beispielsweise ein Hudson-Williams (1903) 1 und (1910) 1–4, Jacoby (1931) 122, Steffen (1967/68) 33, Patzer (1981) 201, dagegen z. B. Pohlenz (1932) 417–421, Jaeger (1936) 255–258, Kroll (1936) 48–87, v. a. 50–58, Carrière (1948) 12, Fränkel (1962) 457, Ford (1985), unklar ist die Position von West (1974) 40 zustimmend, 149–150 ablehnend. Es leuchtet unmittelbar ein, daß „Kyrnos“ ein wenig sicheres Siegel ist. Andere Deutungen schlagen vor, Stil und Qualität oder den Autorennamen für die sphragis zu halten, wie es üblich war, vgl. RE s. v. Sphragis 1757 mit Verweis auf Theognis’ „Künstlerinschrift“ in Thgn. 22–23. Ein non liquet äußern z. B. Fränkel (1962) 456, ausführlich Selle (2008) 289–311. Für die vorliegende Arbeit sind Authentizitätsfragen irrelevant, da einer Begriffsuntersuchung mentalitätsgeschichtliche Fragen zugrundeliegen und es darum geht, die Auffassung einer Epoche herauszuarbeiten. Ob gewisse Verse vor der megarischen Tyrannis verfaßt wurden oder später, ob kurz vor oder erst nach Einführung der Demokratie, ist dann entscheidend, wenn man beispiels-

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Lyrik

2.1.1 γένος und πλοῦτος Die V. 19–254 werden in der Forschung weitgehend als echter Block angesehen.4 Darin findet sich der Beleg für εὐγενής: κριοὺς μὲν καὶ ὄνους διζήμεθα Κύρνε καὶ ἵππους εὐγενέας, καί τις βούλεται ἐξ ἀγαθῶν βήσεσθαι· γῆμαι δὲ κακὴν κακοῦ οὐ μελεδαίνει ἐσθλὸς ἀνηρ, ἤν οἱ χρήματα πολλὰ διδῶι, οὐδὲ γυνὴ κακοῦ ἀνδρὸς ἀναίνεται εἶναι ἄκοιτις πλουσίου, ἀλλ’ ἀϕνεὸν βούλεται ἀντ’ ἀγαθοῦ... χρήματα μὲν τιμῶσι· καὶ ἐκ κακοῦ ἐσθλὸς ἔγημε καὶ κακὸς ἐξ ἀγαθοῦ· πλοῦτος ἔμειξε γένος. οὕτω μὴ θαύμαζε γένος Πολυπαΐδη ἀστῶν μαυροῦσθαι· σὺν γὰρ μίσγεται ἐσθλὰ κακοῖς. (Thgn. 183–192) Kyrnos, wir suchen Widder, Esel und Pferde, die εὐγενεῖς sind, aus und wollen, daß sie von guten Eltern stammen; aber die geringe Tochter eines geringen Vaters zu heiraten macht dem guten Manne keine Sorgen, wenn es ihm nur viel Geld einbringt, und eine Frau weigert sich nicht, die Gattin eines geringen, reichen Mannes zu sein, sondern will einen begüterten statt eines guten... Man hält das Geld in Ehren; ein Edler heiratet die Tochter eines Geringen und ein Geringer die eines Guten: Reichtum verdirbt das Geschlecht. Wundere dich daher nicht, Sohn des Polypaos,5 daß der Stamm der Bürger geschwächt wird, denn Edles mischt sich mit Schlechtem.

Bei den Tieren, die wir halten, so Theognis, achten wir auf edle Abstammung, bei ihrer eigenen Art sind die Menschen weniger wählerisch. Da achten sie lieber auf den Reichtum als auf seit Generationen vererbte Eigenschaften. Hintergrund für Theognis’ Klage sind die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die sich in der archaischen Zeit nicht nur in seiner Heimatstadt Megara vollzogen und die alte Ordnung ins Wanken brachten. Mit den Kolonisierungsbewegungen und dem zunehmenden Handel wuchs eine Schicht von nichtadligen Wohlhabenden heran, die Anspruch auf die adlige Lebensweise erhob. Reichtum, nämlich ererbten Landbesitz, hatten bisher nur wenige Familien besessen; Abstammung und Reichtum waren die ausgrenzenden Merkmale der „oberen Zehntausend“. Der Reichtum hatte den Adligen ihre aufwendige

4 5

weise das Tyrannenbild des Corpus Theognideum untersucht, wo eine exakte Einordnung in die politischen Verhältnisse erforderlich ist; diesen Aspekt beleuchtet die Arbeit von von der Lahr (1992). Für die vorliegende Arbeit jedoch genügt eine grobere Einschätzung. Das Selbstverständnis des Adels ist in der archaischen Zeit durch Entwicklungen geprägt, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken. Das Entstehen von tyrannischen und demokratischen Regierungsformen ist Ausdruck dieser Entwicklungen, die der Aristokratie ihren gewandelten Status deutlich vor Augen führen und die Positionen vielleicht verhärten, nicht aber grundlegend verändern. – Schon in der Antike bestand Uneinigkeit darüber, ob das nisäische Megara oder die sizilische Kolonie desselben Namens Theognis’ Heimat gewesen sei. Die wenigen Anspielungen im Text sprechen eher für die Mutterstadt, vgl. Figueira (1985) 123, Gerber (1997) 121. Vgl. West (1989) 172–173. Polypaos oder Polypas, vgl. RE s. v. Polypaides.

Theognis

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repräsentative Lebensweise ermöglicht und ihnen die politische Leitung ihrer Städte verschafft. Nun aber wurden auch Nichtadlige reich und wollten in die auserwählten Kreise aufgenommen werden.6 Dies mußte besonders diejenigen schmerzen, deren Familien sich generationenlang zur reichen, einflußreichen Elite gezählt hatten, nun aber durch den Handel mit seinen neuen Gesetzen ihren Reichtum verloren hatten. Sie bekamen die Ausgrenzung und Verachtung ihrer ehemaligen Standesgenossen zu spüren und mußten mitansehen, wie andere, ehemals von ihnen selbst Verachtete, die Plätze einnahmen, die eben frei geworden waren (Thgn. 1109–1112),7 die Verarmung zerreißt selbst Familienbande (Thgn. 299–300). Möglicherweise gehörte auch Theognis zu den Degradierten (Thgn. 1197–1202).8 Der eben noch sein Zechbruder war, geht nun, wo Theognis arm geworden ist, an ihm vorüber, als kennte er ihn nicht.

2.1.2 Herkunft als Kriterium Da nun der Reichtum nicht mehr Kennzeichen allein der alteingesessenen Elite war, hoben ihre ehemaligen Vertreter andere Merkmale hervor, die ihnen selbst wieder Zugang in die Elite verschaffen und andere ausschließen sollten. So besinnt sich Theognis auf den Stammbaum, den nur alte Familien vorzuzeigen haben und den die Neureichen nicht ohne weiteres erwerben können. Nicht die Urkunde ist dabei das Entscheidende. Hinter dem Stolz auf die Herkunft steht die Überzeugung, daß bestimmte gute Eigenschaften bzw. die Voraussetzungen zu ihrer Ausbildung nur ererbt, nicht aber erworben werden können (Thgn. 429–438).9 Voraussetzung für die Entwicklung eines Menschen zum ἀγαθός ist seine Abstammung von einem ἀγαθός. Eine Garantie ist sie freilich nicht, aber ohne einen ἀγαθός als Vater ist der Weg, selbst ἀγαθός zu werden, versperrt. Bildung kann nur bei den entsprechenden Anlagen und dem nötigen guten Willen des Zöglings anschlagen. Diese exklusive Erbmasse der Aristokratie darf, so Theognis, unter keinen Umständen durch eheliche Verbindungen mit Nichtadligen entwertet werden. Wie in der Tierzucht strenge Kriterien für die Auswahl der Elterntiere angewandt werden und Zuchtbulle und Mutterschaf nach objektiver Maßgabe bestimmt werden, so soll, das ist Theognis’ Wunsch, auch der Adel auf die Erhaltung seines „blauen Bluts“ achten. Dem Ziel, das Selbstverständnis des Adels zu stärken und zu lenken, dient auch der gesellschaftliche Rahmen, in dem die Verse der Sammlung vorgetragen wurden. Rezitiert wurden sie beim Symposion, so daß der Zuhörerkreis

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9

Vgl. Schuller (2002) 15. Vgl. auch Selle (2008) 258–269. Vgl. Steffen (1967/68). Der letzte Vers dieses Gedichts ist textkritisch umstritten, entsprechend umstritten ist auch seine Bedeutung. Erwogen wurde beispielsweise eine Verbannung des Autors oder die metaphorische Verwendung der Schiffahrt als Tod, vgl. hierzu van Groningen (1966) 434–435. West (1974) 164–165 legt eine plausible Deutung vor. Die Segelsaison endete kurz vor Beginn der Pflugzeit, wie Hes. Op. 614–623 mitteilt. Damit diente die Erwähnung der Schiffahrt lediglich einer zeitlichen Einordnung ins bäuerliche Jahr. Zum Schicksal des Autors vgl. außerdem Thgn. 345–347, 351–354, 619–620, 667–670. Vgl. auch Dovatur (1972) 86. Vgl. z. B. Greenhalgh (1972) 201–202, Donlan (1980) 93, von der Lahr (1992) 20–22.

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ein adliger war.10 Die symposiale Lebensform diente der Selbstbestätigung der Aristokratie. So wurden also bei einem Ereignis, durch dessen Vollzug allein sich der Adel schon seines elitären Charakters bewußt war, Lieder vorgetragen, die das Standesdenken der Anwesenden außerdem schärften und formten. Das Bild der Tierzucht, zumal der Pferdezucht, mußte den adligen Zeitgenossen unmittelbar ansprechen. Nur der Adlige hatte bisher das Geld gehabt, Pferde zu halten, die ihm wiederum andere rein aristokratische Vergnügungen erlaubten, beispielsweise die Jagd oder das Wagenrennen. Jeder der Hörer wählte bei seinen Tieren mit größter Sorgfalt die für eine Paarung geeigneten Exemplare aus, die gleiche Mühe fordert Theognis für die eigene Nachkommenschaft. Er erkennt allerdings bei seinen Zeitgenossen eine andere Praxis. Ein ἐσθλός ist sich nicht zu schade, eine κακή, Tochter eines κακός, zu heiraten oder seine Tochter einem κακός zur Frau zu geben, wenn nur ein erkleckliches Vermögen winkt.

2.1.3 ἀγαθός und κακός Die Bedeutungsbreite der Begriffe ἀγαθός/ἐσθλός und κακός/δειλός bei Theo­ gnis ist in der Forschung viel diskutiert worden. Bald wurde der soziale Aspekt für vorherrschend erklärt, bald der ethische, richtigerweise geht man wohl von der Verbindung beider aus.11 Im ἀγαθός verbinden sich gesellschaftliche Vorrangstellung und moralische Integrität, während der κακός in jeder Hinsicht nichtswürdig ist. Wenn sich also das Schlechte mit den Guten mischt, werden nicht einfach Stammbäume verwoben, womöglich aufgefrischt. Durch eheliche Verbindungen wird legalisiert, was schon als bloßer Kontakt schädlich ist.12 Die gesellschaftliche Hierarchie wird in Frage gestellt, das moralische Potential verdünnt. Im Gebrauch der Begriffe ἀγαθός/ἐσθλός und κακός/δειλός bei Theognis finden wir allerdings Uneindeutigkeiten. Sie rühren daher, daß die Terminologie mit der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch selbst eine Bedeutungsverschiebung erfahren mußte. Verständlicherweise will Theognis, da er die gesellschaftlichen Veränderungen mißbilligt, auch die alte Begrifflich10

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Vgl. Reitzenstein (1893) 73–76, Patzer (1981) 203–211, Stein-Hölkeskamp (1989) 86, zur Bedeutung des Symposions in der Selbstdarstellung der Oberschicht 112–116, Selle (2008) 282–288 und 352–357. Bagordo/HGL I (2011) 177 vermutet, die Sammlung könne ein Versuch sein, sympotische Gedichte vor dem Vergessen zu bewahren. Levine (1985) 176 formuliert vorsichtiger, die Sammlung gebe sich als sympotische Dichtung. Er sieht das Symposion in dem Corpus als Metapher für die Polis. Zur Institution des Symposions vgl. Murray (1990). Wegweisend Cerri (1968), vgl. seine (vorläufige) Zusammenfassung 24: „È chiaro allora che ci si trova di fronte ad un significato che non è di ordine né puramente morale né puramente sociale: ἀγαθός-ἐσθλός non è semplicemente l’‘aristocratico’, ma l’aristocratico fedele all’ardua disciplina etica…” Das Vorhandensein beider Komponenten betonen z. B. auch Greenhalgh (1972) 197, Murray (1980) 274–275, von der Lahr (1992) 20–22. Eine stark ideologisch gefärbte Interpretation der Standesbezeichnungen im Corpus Theognideum, unter die (und nur unter die) auch ἀγαθός und κακός fallen, bietet Schulz (1981) 84–87. Theognis empfiehlt Kyrnos aufs eindringlichste, sich nicht mit κακοί abzugeben, nur durch den Umgang mit ἀγαθοί könne es auch einem selbst gelingen, ein ἀγαθός zu werden (Thgn. 31–38).

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keit nicht aufgeben. Gleichwohl gerät der Autor gelegentlich in die neue, ihm mißfallende Verwendungsweise. Er nennt manchmal einen Aufsteiger ἀγαθός, obwohl dieser in seinen Augen freilich ein κακός bleibt, oder er bezeichnet einen verarmten, entmachteten ἀγαθός als κακός, obwohl dieser eigentlich auch weiterhin zu den ἀγαθοί zu zählen sei. Dergleichen Lapsus passieren Theognis dann, wenn er von einer Verkehrung der Verhältnisse spricht (Thgn. 53–58a, 1117–1118).13 Der Autor beklagt, daß die, die früher ἀγαθοί waren, jetzt κακοί seien; da der Reichtum als Maßstab genommen wird, verlieren die verarmten Aristokraten mit dem Reichtum auch ihre soziale Stellung. Aber Theognis weigert sich, diesen Maßstab zu akzeptieren. Er möchte die alte Gruppe bewahren und andere Kriterien stärken. Deshalb bleibt für ihn ein ἀγαθός auch nach Verlust seines Reichtums ein ἀγαθός, und es gebührt ihm weiterhin eine herausragende Position in der Stadt, wie auch ein κακός, selbst wenn er zu Geld kommt, seinen Status nicht verändert. In der Praxis zählt allerdings noch immer das Geld, und so nennen sich Aufsteiger ἀγαθοί und werden zu Theognis’ Verdruß von seinen ehemaligen Standesgenossen, die ihr Vermögen bewahren konnten, auch als ἀγαθοί anerkannt und in die Gruppe aufgenommen. Für Theognis bemißt sich die Zugehörigkeit zur Gruppe der ἀγαθοί bzw. κακοί nicht am Reichtum. An der ehemaligen Zusammensetzung der ἀγαθοί, der Elite, zu der er selbst einst gehörte, orientiert, füllt der Autor die Begriffe mit neuer Bedeutung. Um zu den ἀγαθοί gerechnet zu werden, muß man in Theo­gnis’ Augen bestimmte Kriterien hinsichtlich seiner Herkunft und seiner ethisch-moralischen Haltung erfüllen. So kann zwar ein κακός kein ἀγαθός werden, nur weil er im Handel Besitz erworben hat,14 wohl aber kann ein ἀγα­ θός zum κακός degradieren, wenn er sich mit anderen κακοί einläßt und Theo­ gnis’ hohe genealogischen und ethischen Standards verletzt. 15 Der Begriff der εὐγένεια begegnet bei Theognis in einem fachlich spezialisierten Kontext. Er ist ein Terminus der Tierzucht, wo er die Auswahl der zu paarenden Tiere bezeichnet, die mit Blick auf den Stammbaum erfolgt.16 Ein Pferd, ein Hund, eine Katze steigen auch heute in ihrem (Geld)wert, wenn sie einen Stammbaum besitzen, und sie sind um so wertvoller, je öfter ihre Vorfahren ausgezeichnet wurden. Das macht sie bekannt und teuer. Die Tierzucht ist hier freilich nicht um ihrer selbst willen angesprochen, sondern ist als Metapher gebraucht. Beim Pferd nennt man εὐγενής, was beim Menschen ἀγαθός ist. Der Mensch hat breitere Fähigkeiten und ist gesellschaftlich und geistig in ein komplexeres Geflecht von Beziehungen eingebunden, er wird mit Erwartungen konfrontiert, die er, um sein Gesicht zu wahren, erfüllen 13 14

15 16

Vgl. auch Stein-Hölkeskamp (1989) 90, Anm. 14. Im Gegenteil: Der im eigenen Interesse verfolgte Erwerb von Reichtum zeichnet eben den κακός aus, vgl. Cobb-Stevens (1985) 164. Vgl. u. a. Hudson-Williams (1903) 9–10, von der Lahr (1992) 20–22. Auch bei späteren Autoren begegnen εὐγενής und εὐγένεια immer wieder im Zusammenhang mit der Tierzucht: Vgl. X. Cyr. 1, 4, 15 und 21, X. Oec. 15, 4, Arist. GA 1, 730a und 749b, Arist. HA 6, 558b und 9, 631a. Das Beispiel der Tierzucht zeige, so Haedicke (1937) 48, „daß es ihm nicht bloß auf Familientradition ankommt, sondern wirklich auf das Bluterbe“.

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muß. Die Position eines Menschen bestimmt sich nicht oder jedenfalls nicht nur aus seiner Abkunft, bei ihm sind auch soziale Kompetenzen und ihre gedankliche Reflexion gefragt. Diese Aspekte des menschlichen Lebens kennen Hengst und Bock nicht.17 So kann εὐγενής ihre Qualität umfassend zum Ausdruck bringen. Beim Menschen kann der Gedanke der Herkunft nur einer von mehreren zur Bewertung des einzelnen oder einer Schicht sein. Auf den Menschen übertragen muß der genealogische, biologische Aspekt durch die Verbindung mit sozialen und moralischen Begrifflichkeiten ergänzt werden.18 Den adligen Menschen nennt Theognis in den folgenden Versen ἀγαθός und ἐσθλός. Dadurch erhält auch der Begriff εὐγενής umfassendere Bedeutung, weil mit den edlen Pferden die adligen Menschen gemeint sind. Der wahre ἀγαθός wird auf seine εὐγένεια achten und sie hüten, sonst ist sie bald dahin, und er wird zu einem κακός. Das ursächliche Übel ist für Theognis der Reichtum. Er, auf den der Adel stets voller Stolz blickte, verschafft nun auch Aufsteigern Zugang in die oberen Kreise. πλοῦτος ἔμειξε γένος19 (Thgn. 190): Das stört den Teil der Aristokratie, der sich weiterhin großen Reichtums erfreuen kann, freilich weniger als den verarmten Teil. Der verarmte Adel reagiert unterschiedlich: Die eine Gruppe versucht dem Übel der Armut durch Eheverbindungen zu begegnen, die zwar nicht standesgemäß, aber lukrativ sind.20 Die anderen, unter ihnen Theognis, wollen die adligen Standesgenossen die Bedeutungslosigkeit des Reichtums 17

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Charakterliche Fragen spielen in gewissem Maße auch in der Tierzucht eine Rolle, etwa bei der Schärfe, die ein Wachhund, oder der Verträglichkeit, die ein Familienhund aufweisen soll. Diese Verhaltensweisen werden beim Tier allerdings auf der genetischen Ebene selegiert, während das soziale Verhalten des Menschen zumindest in Teilen auf ethischer Reflexion und Konvention beruht. Vgl. Cobb-Stevens (1985) 160. Dieselbe Verknüpfung von angeborenen Anlagen und Erziehung findet sich auch bei Xenophon. In der Kyrupädie beschreibt er die Erziehung des jungen Kyrus nach persischen Grundsätzen: Kyrus bringt φιλανθρωπία, φιλομαθία und φιλοτιμία (Freundlichkeit, Interesse und Ehrgeiz) von Natur aus (φύσιν) mit (X. Cyr. 1, 2, 1–2); darauf aufbauend wird er nach persischen Grundsätzen (Περσῶν νόμοις) in πειθαρχία, δικαιοσύνη, σωφροσύνη und ἐγκράτεια (Gehorsam, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Selbstbeherrschung) erzogen (X. Cyr. 1, 2, 2–8), vgl. Zimmermann (1992b) 234–235. γένος ist hier im Sinne von εὐγένεια zu verstehen, vgl. van Groningen (1966) 74. Von der Lahr (1992) 26–31 hat plausibel gemacht, daß mit den ἀστοί in V. 191 wie in V. 41 und 61 die Aristokraten gemeint sind. Nagy (1985) 54–55 gibt den Gedanken drastisch wieder: Das Streben nach Reichtum „has made bastards out of everyone“. Er vermutet auch hinter dem Namen Kyrnos Polypaides einen solchen Bastard. κύρνοι wird von Hesych mit οἱ νόθοι glossiert, das Patronym übersetzt Nagy mit „Sohn des Vielerworbenhabenden“. Bei der Lektüre der Kyrnosgedichte entsteht meines Erachtens allerdings ein anderer Eindruck beim Leser, nämlich daß Theognis hier (abgesehen vom Altersunterschied) von Gleich zu Gleich spricht. Armut wird als außerordentlich unerträglich und drückend beschrieben, z. B. Thgn. 173– 178, 181–182, vgl. – in heutigen Ohren allzu theatralisch klingend – Wendorff (1909) 32 „Aber der Sprecher der Kyrnosverse 183–192, der mit dem ganzen Rassenstolz des Geburtsaristokraten den dekadenten Reichtumsjägern den Text liest, ist anders geartet … Ja, die Armut! In ihr zeigt sich der Mann ...“ Die Verse 193–196 klingen wie eine Antwort auf 183–192, wie die Rechtfertigung eines verarmten Aristokraten, der in seiner Not keinen anderen Ausweg weiß, vgl. Fränkel (1962) 461. Vgl. außerdem Greenhalgh (1972) 201–204, Arnheim (1977) 128, Cobb-Stevens (1985) 161–162, von der Lahr (1992) 93.

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lehren:21 εὐγένεια befindet sich in der betrachteten Passage als essentieller Begriff am Zeilenanfang.22 Der Stammbaum, einst zusammen mit dem Reichtum charakteristisch für den Adel, tritt nun zu ihm in Konkurrenz und wird als bestimmendes Kennzeichen der Aristokratie ausgerufen.23 Mit ihm hofft der Autor, die alte Elite als Oberschicht zu verfestigen, die Neureichen aus ihr zu verdrängen bzw. von ihr fernhalten zu können und selbst wieder Eingang in sie zu finden. Der Besitz, ehemals Ausweis der Aristokratie, findet eine neue Bewertung. Nicht nur, daß er als positiver Maßstab in Theognis’ Augen ausgedient hat oder ausgedient haben sollte. Er wird nun geradezu ein negatives Bewertungskriterium.24 Nur der, für den Besitz seit Generationen eine Selbstverständlichkeit ist, kann mit ihm integer umgehen. Der Erwerb von Reichtum aber verführt zu Schlechtigkeit, Unrecht und unmoralischem Verhalten (Thgn. 29–30, 145–146).25 Wer durch Geschäfte erst ein Vermögen aufgebaut hat und dies handeltreibend erhalten muß, dem gehen entscheidende Charakteristika des Aristokraten ab. Er wird unredlich und korrupt. Doch noblesse oblige: Es ist die Pflicht eines jeden Adligen, den höchsten Ansprüchen gerecht zu werden. Im ἀρετή-Kanon des Autors, wie er ihn in seinen Gedichten entwickelt, nimmt die δικαιοσύνη die oberste Stelle ein.26 Die neue politische und gesell21

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Vgl. RAC s. v. Fürstenspiegel, wo Hadot den mahnenden Charakter der theognideischen Sammlung betont. Vgl. van Groningen (1966) 72 (ad Thgn. 183–184). Die Verse 183 ff. über die vornehme Herkunft werden bei Stobaios 4, 29, 53 als Anfang einer Theognissammlung zitiert (Θεόγνιδός ἐστιν ἔπη τοῦ Μεγαρέως...ἄρχεται γὰρ πρῶτον ἀπὸ τοῦ εὖ γενέσθαι...Κριοὺς μέν etc.), vgl. Kroll (1936) 276 Anm. 10, Carrière (1948) 100, West (1974) 56, Bagordo/HGL I (2011) 178. Zu den unterschiedlichen Lesarten des Textes bei Theognis und Stobaios vgl. Selle (2008) 94. „Es gab nur noch eine letzte Schranke (sc. zwischen den Ständen), und das war der unerschütterliche Glaube an das Blut“ (Jaeger (1936) 270). „In Theognis the claim of preeminence on the basis of noble birth appears more explicit than in previous authors. …the doctrine that good and bad qualities are determined by birth…is, for the first time in Greek literature, plainly spelt out” (Donlan (1980) 80). Vgl. auch Stein-Hölkeskamp (1989) 90. Vgl. Donlan (1980) 84, Murray (1980) 274–275, Stein-Hölkeskamp (1989) 135–138 und (1997) 30. Vgl. auch Thgn. 753–756, 1147–1150. Darin liegt die Gefahr der Armut. Um sie zu überwinden oder auch nur ertragen zu können, verläßt der Mensch leicht den Weg der Rechtschaffenheit (Thgn. 649–652), der wahre ἀγαθός aber bleibt standhaft (Thgn. 83–86, 657–658). Nur ein ἀγαθός kann der Versuchung der Habgier widerstehen. Ein solonisches Fragment im theognideischen Corpus ist bezeichnend: Was bei Sol. fr. 6, 3–4 West τίκτει γὰρ κόρος ὕβριν, ὅταν πολὺς ὄλβος ἕπηται / ἀνθρώποις ὁπόσοις μὴ νόος ἄρτιος ἦι (Überfluß gebiert Hochmut, wenn Menschen zu großem Reichtum gelangen, die nicht recht denken) lautet, heißt bei Thgn. 153–154 τίκτει τοι κόρος ὕβριν, ὅταν κακῶι ὄλβος ἕπηται / ἀνθρώπωι καὶ ὅτωι μὴ νόος ἄρτιος ἦι (Überfluß gebiert Hochmut, wenn ein schlechter Mensch zu Reichtum gelangt, der nicht recht denkt). Prosperität wird zum moralischen Verfall führen, wenn ein κακός zu Wohlstand kommt. Vgl. Donlan (1980) 83–84, Cobb-Stevens (1985) 161–163. Vgl. Pearson (1962) 77–79, Donlan (1980) 79, Patzer (1981), v.a. 218–226, Cobb-Stevens (1985) 161. Zur ἀρετή bei Theognis vgl. auch Karageorgos (1979), der die Bedeutung, die die Herkunft im Corpus Theognideum gewinnt, allerdings nicht erkennt. Er behandelt Schönheit, Ehre, Reichtum, Besonnenheit und dergleichen, aber nicht den Begriff der εὐγένεια, der in seinen Ausführungen zwar gelegentlich fällt, für ihn aber offensichtlich nicht zu den konstitutiven Adelsmerkmalen gehört. Er konzentriert sich damit mehr auf den alten, tradierten Tugendkanon, den Theognis gerne modifiziert sehen wollte. Wenn van Wees (2000)

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schaftliche Stellung des Adels erfordert einen neuen Tugendkanon. Tapferkeit, Schönheit und Reichtum sollen nicht mehr maßgebend sein. Die ἀρεταί werden „privatisiert“, innere Qualitäten wie δικαιοσύνη, σωϕροσύνη und σοϕία sind für Theognis nun Kennzeichen des idealen Bürgers. Die notwendige Erziehung schlägt freilich nur bei Abkömmlingen aus altem Geschlecht an, die die erforderlichen biologischen Voraussetzungen haben, um ἀρετή zu erlangen (Thgn. 149–150). Reichtum kann jeder erlangen, auch der gemeine Mann aus dem Volk, die Tugend aber ist schwer zu erreichen und weist den Inhaber als Edelmann aus. Ihn zeichnet gegenüber der Masse aus, daß er nach Höherem strebt. Das Sinnen und Trachten der Menge dagegen ist einzig auf den Erwerb materieller Güter gerichtet (Thgn. 699–700). Die δικαιοσύνη nimmt unter den ἀρετή-konstituierenden Tugenden einen so hohen Rang ein, daß sie beinahe die ἀρετή selbst zu sein scheint (Thgn. 131–132, 147–148). Auch σωϕροσύνη und σοϕία dürfen nicht fehlen, doch das der δίκη entsprechende Verhalten ist durch Reichtum und Handelsgeschäfte in besonderem Maße gefährdet. So kann das gerechte, rechtliche Verhalten zum vorbildlichen Handeln des wahren ἀγαθός werden. Darüber hinaus ist die δικαιοσύνη eine staatstragende Tugend und deshalb dem ans Herrschen gewöhnten Aristokraten besonders teuer; sie erinnert darüber hinaus an das Ämterprivileg der Rechtssprechung.27

2.1.4 Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß für den Autor oder die Autoren der Sammlung der Gedanke der vornehmen Herkunft in dem Augenblick dringlich wird, als sie durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen ihres Hab und Guts beraubt werden und ihnen daher der Verlust ihrer hervorragenden sozialen Position droht oder bereits spürbar eingetreten ist. Als einzelne Vertreter des Adels am Kriterium des Besitzes scheitern, während Leute aus dem verachteten Volk sie erfüllen, wird ein anderer Maßstab gefunden. Kriterium wird kein neues Merkmal, sondern eines, das stets vorhanden war, nur bisher keine ausschließende Rolle spielte. Dem Reichtum wird die εὐγένεια entgegengesetzt. Jetzt wird das Blut zum Kriterium, weil Theognis darin seinen Vorteil und den Nachteil der neureichen Aufsteiger sieht. Die εὐγένεια wird gewichtiger durch ihre Verbindung mit sittlichen und intellektuellen ἀρεταί. Nach den Vorstellungen des Autors wird die δικαιοσύνη zum bestimmenden

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64–65 ausschließlich die moralische Komponente des theognideischen ἀρετή-Begriffs gelten läßt und ihn deshalb für egalitär hält, da er ja nichts enthalte, was Nichtaristokraten ausschließe, und wenn er aufgrund des allein moralischen Inhalts der ἀρετή das Ziel aristokratischer Legitimationsversuche von gesellschaftlicher und politischer Macht abweist, überschätzt er meines Erachtens Theognis’ Modernität. Theognis stellt die ἀρετή ja gerade dem Reichtum gegenüber, der von allen erworben werden könne, die ἀρετή aber nur von einem ἀγαθός. Er betont ferner, daß nur einer, der bereits von ἀγαθοί geboren wurde, die nötigen Voraussetzungen zur Ausbildung der ἀρετή mitbringe, ein von Geburt her als κακός Bestimmter aber eben nicht durch Erziehung zu ἀρετή und damit zum Status eines ἀγαθός gelangen könne. – Die beherrschende Rolle, die die δικαιοσύνη im Corpus spielt, mag auch biographische Gründe haben; zur Rolle der δίκη vgl. Papakonstantinou (2004). Vgl. Patzer (1981) 222–223.

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Kennzeichen des Aristokraten. Als die alten Standesgrenzen in Frage stehen, ist dies der Versuch, die Oberschicht gegen Aufsteiger abzuschließen und die alte Ordnung in ihrer Gültigkeit zu bestätigen.

2.2

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Bei Pindar findet sich der nächste Beleg, der hier besprochen werden soll.28 Pindar lebte von ca. 520 bis in die Vierzigerjahre des 5. Jahrhunderts. Er erlebte also die Perserkriege, und zwar aus thebanischer, perserfreundlicher Sicht, und die Blüte des delisch-attischen Seebundes mit den ersten Demokratisierungsbemühungen bei den Verbündeten durch Athen. Pindar wird gerne als konservativer Verfechter einer überholten Adelsethik charakterisiert, und so verwundert es, in den vollständig überlieferten Epinikien lediglich einen Beleg für εὐγενῆς/ γενναῖος zu finden.29

2.2.1 Aristomenes – φυᾷ und ἐκ πατέρων Die achte Pythische Ode besingt den Knaben Aristomenes aus Aigina, der in Delphi im Ringkampf gesiegt hat.30 Die Ode ist von Gegensätzen geprägt. Pindar hebt mit einem Anruf an Hesychia an, die Bia gegenübergestellt wird, und bittet für den siegreichen Aristomenes (Pi. P. 8, 1–20). Er preist dann die Insel Aigina für ihre mythischen und kriegerischen Erfolge, anschließend den Knaben für die Fortsetzung der Familientradition: Schon zwei seiner Onkel waren bei Wettkämpfen erfolgreich, die Familie der Meidyliden ist berühmt. Daher treffe auch auf ihn das Wort des Amphiaraos vor Theben zu (Pi. P. 8, 21–40): 28

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Wo nicht anders angegeben, zitiere ich nach der Ausgabe von Snell/Maehler (1987, 1989). – Bereits ein kurzer Blick zeigt, wie uneinheitlich die Pindarforschung ist; für die verschiedenen Strömungen und Lager von Unitariern und Analytikern vgl. Young (1964), Krummen (1990) 10–30. Mit Bundy (1962) nahm die Pindarforschung eine Wende. Er orientierte sich in seiner Deutung am primären Ziel des Epinikions, nämlich dem Preis des Siegers, und zeigte, daß scheinbar Irrelevantes zur Motivik des Epinikions gehört und dem Lob des Siegers dient, so auch Young (1968) 5, 25 et passim, dagegen betont Bremer (2008) den Preis der Götter im Epinikion. – Eine Reihe von Arbeiten befaßt sich mit den ethischen oder philosophischen Gedanken, die sich in Pindars Oden finden, ein Ansatz, den Norwood (1945) 46–50 vehement ablehnt, da Pindar nur Binsenweisheiten verkünde und den Begriff der ἀρετά in unterschiedlicher Bedeutung verwende (Pi. P. 1, 94; O. 6, 9; O. 7, 89). Diesem Einwand ist der gnomische Charakter der Oden und die Bedeutungsbreite des ἀρετή-Begriffs entgegenzusetzen, für den sich in den modernen Sprachen keine einzelne Entsprechung findet; zur Gnomik vgl. Bischoff (1938) V, DNP 4 s. v. Gnome 1108–1112, Boeke (2007). Im Fr. 6b, f begegnet γενναῖος ein weiteres Mal, doch der Text ist durch den schlechten Erhaltungszustand des Papyrus sehr unvollständig: ]ἄρδοντ’ ἀοιδαῖς [...]γενναίων ἄωτος νεκταρέας αι . [...] . καρπὸν δρέποντες ϕροντίδες. Über die Bedeutung von γενναῖος läßt sich nichts sagen. Es ist von einem Benetzen mit Liedern (vgl. auch Pi. P. 8, 57) und einem Pflücken von Früchten die Rede, das zu γενναίων gehörige Substantiv fehlt leider. Zur poetologischen Deutung der Bilder vgl. Nünlist (1998) 188 und 214. Das Epinikion feiert den Sieg eines Knaben. In Pi. P. 8, 33 wird Aristomenes mit παῖ angesprochen. Da παῖς nicht im Zusammenhang einer Genealogie genannt ist, muß es sich wohl auf das Alter des Angeredeten beziehen, vgl. Pfeijffer (1998) 28.

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Lyrik ϕυᾷ τὸ γενναῖον ἐπιπρέπει ἐκ πατέρων παισὶ λῆμα. θαέομαι σαϕές δράκοντα ποικίλον αἰθᾶς ᾿Αλκμᾶν’ ἐπ’ ἀσπίδος νωμῶντα πρῶτον ἐν Κάδμου πύλαις (Pi. P. 8, 44–47). Von Natur aus leuchtet der Wille, der γενναῖος ist, von den Vätern her in den Kindern hervor. Ich sehe deutlich, wie Alkmaion einen bunten Drachen auf dem schwarzen Schild schwingt, als erster an den Toren des Kadmos.

Adrastos dürfe sich bei diesem Zug eines Sieges freuen, werde aber den Sohn verlieren (Pi. P. 8, 48–60). Weiter bittet Pindar den Gott Apollon für die Familie des Siegers, ermahnt den Sieger aber auch, sich seine Erfolge nicht alleine zuzurechnen, da sie von den Göttern kämen (Pi. P. 8, 61–80). Er erinnert an das Unglück der Verlierer und die Wechselhaftigkeit des menschlichen Schicksals (Pi. P. 8, 81–100). „Von Natur aus leuchtet der dem γένος eigene Wille von den Vätern her bei den Söhnen hervor.“ λῆμα ist auf das militärische Unternehmen bezogen, es ist der Wille, das den Vätern Mißlungene zu vollenden und die Stadt Theben zu zerstören.31 Der Begriff γενναῖος ist hier zunächst wie bei Homer in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen als „mit dem γένος verbunden, ihm angehörend“. Der Gedanke, daß die Söhne den Wunsch haben, die Stadt einzunehmen, eben weil sie aus den Familien der ersten Sieben gegen Theben stammen, wird durch die Verbindung des Begriffs mit ϕυᾷ und ἐκ πατέρων nachdrücklich betont. Die Entschlossenheit ist den Epigonen durch ihre Natur, von den Vätern her eigen. Beide Begriffe finden sich bei Pindar häufig, um Ererbtes, Angeborenes zu bezeichnen.32 ϕυά bedeutet ursprünglich „Wuchs, Gestalt“ und bezeichnet somit ein äußeres Erscheinungsbild.33 Fünfmal beschreibt Pindar mit φυά eine Sache als dem Menschen von Natur aus mitgegeben, ihm angeboren. In diesen Fällen ist der Begriff im Dativ gebraucht. Es ist also nicht als abstrakte, außer dem Menschen existierende Größe gedacht, sondern gibt stets einen Umstand an und beschreibt eine Handlung oder einen Zustand als durch den Ursprung bestimmt.34 31

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λῆμα bezeichnet auch Pi. N. 1, 57 Entschlossenheit im Kampf, außerdem A. Th. 448; vgl. A. Ag. 122. Vgl. auch Gentili (1995) 574 (ad loc.), Pfeijffer (1999) 531–532 (ad loc.). Die Scholien paraphrasieren den Vers folgendermaßen: τῇ ϕύσει τὸ συγγενὲς ἐκ πατέρων προθύμημα τοῖς παισὶν ἐπιπρέπει, Schol. ad Pi. P. 8, 61 Drachmann (nach der Verszählung von Heyne = Pi. P. 8, 43 Boeckh) – von Natur aus leuchtet der von den Vätern angestammte Eifer in den Kindern. So z. B. Il. 1, 115; 2, 58; 3, 208 und Pi. O. 1, 67; P. 4, 235; I. 6, 47; I. 7, 22. Tafel (1819) 30–33 (ad loc.), (1827) 863–865 (ad loc.) und Mezger (1880) 404 (ad loc.) verstehen ϕυᾷ auch hier in P. 8 im Sinne von „Wuchs“, wogegen sich jedoch Gildersleeve (1890) 330 (ad loc.) und Schroeder (1922) 72 (ad loc.) aussprechen. Der Verweis auf den kräftigen Wuchs passe, so Gildersleeve, nicht zum Knaben Aristomenes; dieser Einwand überzeugt allerdings nur bedingt, da Amphiaraos ja seinen Sohn Alkmaion, nicht den aiginetischen Aristomenes beobachtet. Gleichwohl spricht zweierlei gegen ein körperliches Verständnis von ϕυᾷ: zum einen der Gebrauch im Dativ; an den anderen vier Stellen, an denen ϕυᾷ bei Pindar auftaucht, meint es die angeborene Anlage. Zum anderen erkennt Amphiaraos bei den Söhnen das väterliche λῆμα; dieses erkennt er aus dem Verhalten, dem tapferen

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ϕυᾷ ist eine starke Kraft. Hat einem die Natur eine leistungsfähige Anlage gegeben, kann man hoffen, erfolgreich zu sein. Eine gute Anlage ist notwendige Voraussetzung für Erfolg, das lediglich mit Fleiß Erlernte ist nichts wert (Pi. N. 3, 40–41).35 Die Nachdrücklichkeit, mit der Pindar immer wieder die Notwendigkeit der angeborenen Begabung betont, mag eine Reaktion auf sophistische Angriffe auf den Adel sein.36 Doch auch Begabung allein reicht nicht aus; damit die Anlage entfaltet werden kann, müssen Bildung und Übung hinzukommen (Pi. O. 8, 59–61).37 Und ein Drittes darf nicht fehlen: der göttliche Segen. Gegen die Götter kann der Mensch nichts erreichen, und was er erringt, erlangt er mit göttlicher Hilfe (Pi. O. 9, 27–28).38 Diese drei – Begabung, Übung und göttlicher Segen – sind erforderlich, um Nennenswertes zu vollbringen (Pi. O. 10, 20–21). Zum Erfolg, πελώριον κλέος, führen natürliche Begabung, ἀρετᾷ ϕύειν, Antrieb und Anstrengung, ὁρμή, und göttliche Hilfe, θεοῦ σὺν παλάμαις. Fehlt eines dieser drei, ist jedes Bemühen zum Scheitern verurteilt.39 Insofern sind sie gleich, dennoch gewichtet Pindar: die natürliche Anlage ist das Stärkste (Pi. O. 9, 100).40 ϕυᾷ ist kein individueller Umstand. Die gute oder schlechte Anlage ist dem ganzen Geschlecht eigen, und hat ein solches einmal in mehreren Generationen einige Leistungsträger vorzuweisen, so wird eine günstige Anlage diagnostiziert.41 Dahinter steht die Vorstellung, daß die guten Voraussetzungen eines

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Kämpfen im ersten Glied, das Amphiaraos selbst als Begründung für seine Aussage nennt: θαέομαι σαϕές  / δράκοντα ποικίλον αἰθᾶς ᾿Αλκμᾶν’ ἐπ’ ἀσπίδος  / νωμῶντα πρῶτον ἐν Κάδμου πύλαις (Pi. P. 8, 45–47, Hervorhebung von mir). Bischoff (1938) 29–30 meint, Amphiaraos durchkreuze seinen eigenen Ausspruch mit dem folgenden Vers, da er seinen Sohn am Schildzeichen statt am Gebaren erkenne. Amphiaraos sieht jedoch nicht die Schlange und schließt von ihr auf den Sohn, sondern er sieht, wie sein Sohn den Schild schwingt, und er sieht ihn in vorderster Reihe. Der bunte Drache auf dem Schild ist als Bestätigung dafür zu lesen, daß es tatsächlich der Sohn ist, den er identifiziert hat. – Zum adverbialen Gebrauch von ϕυᾷ vgl. Heinimann (1945) 99–100, Tugendhat (1960) 407. ϕυά im dativus causae ist „die durch Abstammung bedingte mit der Geburt gegebene Anlage, die Wesen und Leistungen des Menschen bestimmt“ (Heinimann (1945) 99), ϕυᾷ beschreibt „alles Leben und Trachten des Menschen, insofern es vom Ursprung bestimmt bleibt und sich so als dessen Entfaltung darstellt“ (Tugendhat (1960) 407 Anm. 2). Dagegen spricht Most (1985) 183 von einem „non-personal principle which is prior to ... the individual subject“. Vgl. auch Pfeijffer (1999) 324–328. Vgl. Schulz (1981) 88. Vgl. auch Pi. N. 3, 57–58, wo von Achilleus’ Erziehung durch Chiron die Rede ist, Haedicke (1937) 54. Ebenso Pi. O. 11, 10. Vgl. Greenhalgh (1972) 205–207, Theunissen (2000) 70–71. Ähnlich Pi. O. 13, 13 und Pi. N. 5, 40–41. Vgl. Norwood (1945) 50–51. „Daß die Werke der Aristokraten ‚schön’ sind, ergibt sich für Pindar und seine Standesgenossen aus seiner Klassenzugehörigkeit, er muß seinen Wert nicht mehr wie in der homerischen Welt durch die Tat beweisen“ (Schulz (1981) 89). Doch auch wenn die von Pindar Besungenen offensichtlich alle der Oberschicht angehören, werden sie nicht wegen ihrer „Klassenzugehörigkeit“ gepriesen, sondern weil sie ihren Wert durch die Tat bewiesen haben, durch einen Sieg im Agon. Besondere Leistung muß erbracht werden, ehe die ϕυά eines Geschlechts gerühmt wird. Sie ist Voraussetzung, die Zugehörigkeit zur Aristokratie allein genügt nicht. Pindar fühlt sich bezeichnenderweise

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göttlichen Urahnen von Generation zu Generation weitervererbt würden und der göttliche Vorvater der Familie seinen Nachkommen wohlwollenden Beistand leiste (Pi. O. 8, 15–18).42 Gelegentlich verwendet Pindar nicht den Begriff der ϕυά, sondern spricht vom Schicksal (πότμος).43 Beides bezeichnet das, was dem Menschen mit der Geburt mitgegeben ist. ϕυά betont mehr die natürliche, πότμος mehr die göttliche Komponente, doch im Kern benennen sie dasselbe: unveränderliche Voraussetzungen für das Handeln des einzelnen, die nicht in der Hand des Menschen liegen.44 Die Mannigfaltigkeit der Begabungen ist gottgegeben, jeder hat eine andere Anlage, und viele Wege führen zum Ziel.45 Damit erlangt der Gedanke eine allgemeine Gültigkeit und bleibt nicht auf die Adelsschicht beschränkt, auch wenn Pindar im Kontext eines Siegesliedes vor allem Vertreter der Aristokratie im Auge gehabt haben mag. An den anderen Stellen, an denen φυᾷ vorliegt, sind die beschriebenen Aspek­te unterschiedlich bedeutsam. In den Olympischen Oden stellt Pindar das ϕυᾷ Gewußte bzw. Gekonnte dem Angelernten gegenüber (Pi. O. 2, 86– 88 und O. 9, 100–103). Beide Lieder sind geprägt von der Geschichte des Geschlechts (O. 2 Kadmos – Laios Oidipus Polyneikes Thersandros – Ainesidamos Theron)46 bzw. der Heimatstadt (O. 9 Opus). In O. 2 wird die lange Liste der Siege mit dem deutlichen ϕυᾷ-Spruch abgeschlossen, das, was man von Natur aus habe, sei immer das Stärkste. In den Nemeischen Oden wird die Bedeutung der Geburt für das zukünftige Leben betont (Pi. N. 1, 25–28 und N. 7, 54–55). Von Natur aus sind die Menschen verschieden, und schon bei ihrer Geburt entscheidet sich, ob sie einmal Erfolg haben werden. In N. 1 illustriert Herakles’ Kindheit, wie Stärke von Anfang an vorhanden ist und sich zeigt, in N. 7 wird gleich zu Beginn des Gedichts Eleithyia, die Geburtshelferin, angerufen. In ihr liegt das Leben des Menschen beschlossen, sie wählt den einzelnen zu großer Leistung aus.47 Oft waren schon die Väter oder Großväter der Sieger erfolgreiche Teilnehmer an Agonen, und Brüder, Oheime oder Vettern sind aus Wettkämpfen als Sieger hervorgegangen (Pi. I. 6, 60–62).48 Kontinuität athletischer Siege über mehre-

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bemüßigt, beim Preis einer Familie Generationen ohne besondere Erfolge zu entschuldigen. Erfolg wurde erwartet und war Voraussetzung für Anerkennung. Pi. O. 13, 105–106. Ebenso Pi. O. 9, 27–28; N. 10, 37–38. Die Idee der durch die Götter angelegten Begabung findet sich etwas weniger explizit, aber durch die Juxtaposition der einzelnen Gedanken nahegelegt, auch in Pi. P. 10, 10–14. Die Bedeutung der Götter betont Buchholz (1869) 50–53 und 74–78. Vgl. auch Gundert (1935) 20, Haedicke (1937) 51 mit Anm. 25. Für das Angeborene verwendet Pindar auch Begriffe wie συγγενές, ἐμϕυές u. a., die ebenso die Verbindung mit dem Geschlecht zum Ausdruck bringen. Vgl. Theunissen (2000) 70–71. Vgl. Pi. O. 8, 12–14; O. 9, 104–107; N. 1, 25; N. 7, 54–55. Heinimann (1945) 100 spricht deshalb von einer “Art von ‚Relativismus’”, eine durchaus moderne Einstellung beim vermeintlich altmodischen Pindar. Zur Bedeutung der Genealogie in Pindars Gedichten vgl. Suárez de la Torre (2006). Pi. N. 7, 1–8. Rose (1968) 401 bezeichnet ϕυά als „a principle of a good beginning in which a whole subsequent career is implicit“. So auch Pi. P. 11, 41–50; N. 2, 17–24; N. 5, 41–43; N. 6, 13b-16 u. a. Vgl. auch Gundert (1935) 15–19, Haedicke (1937) 52–53, Bowra (1964) 101, Donlan (1980) 98, Sotiriou (1998) 115–117.

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re Generationen hinweg beschreibt Pindar häufig durch das Bild, der Sieger „wandle“ mit seinem neuen Triumph „in den Spuren des Vaters, (Großvaters, Onkels)“ (Pi. P. 10, 12–16).49 Der neue Sieg ist ein Sieg der Familie und des οἶκος, und so preist Pindar in seinen Oden nicht nur den aktuellen Sieger, sondern auch das Haus und die Familie, die diesen und andere Sieger hervorgebracht hat, und nennt zugleich die früheren Siege des Geschlechts (Pi. P. 6, 14–18). Durch die Fortsetzung früherer Erfolge erfüllt der Nachkomme seine Pflicht, dem Haus Ehre zu verschaffen. Pindar sagt dann, die Vorfahren seien nicht beschämt worden (Pi. I. 3/4, 13–14).50 In einigen Fällen ist der Gedanke der ererbten Qualitäten nicht nur auf die Familie des Siegers, sondern auf alle Bewohner der Stadt bezogen, z. B. auf alle Aigineten. Mit dem Preis der mythischen Heroen werden die Vorfahren aller Bewohner gerühmt, jeder ist Nachkomme und somit Träger des göttlichen Erbguts.51 γενναῖος ist im Kontext dieser die Herkunft des Athleten qualifizierenden Begriffe deutlich in seiner ursprünglichen Bedeutung bestimmt, die sich unmittelbar vom γένος ableitet.52 Das λῆμα ist den Epigonen durch ihre Familienzugehörigkeit und ihre Abstammung von den ersten Sieben gegen Theben unverrückbar gegeben. ἐπιπρέπει λῆμα, sagt Amphiaraos, der Wille, die Entschlossenheit der Söhne leuchtet hervor, ist deutlich sichtbar. Die Herkunft aus erfolgversprechendem Haus, das Erbgut ist am Äußeren zu erkennen. Schönheit und Erfolg gehen Hand in Hand (Pi. O. 8, 19).53 Das Zusammentreffen von körperlicher Schönheit und Tüchtigkeit begegnet auch bei Homer, wo im erfolgreichen Mann ebenfalls beides zusammenkommt: ein kräftiger Wuchs und der Sieg. Ein trefflicher Mann ist in allem vorzüglich. Der Sieg in einem Wettkampf erweist die gute Anlage insgesamt. Damit ist der Agon keine rein körperliche Angelegenheit mehr, sondern ist Teil und Mittel einer umfassenden Bildung der jungen Männer.54 So kann man von der Probe einer Tugend auf das Vorhandensein aller Tugenden

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Ähnlich Pi. P. 8, 35–37; N. 2,6–10; N. 6, 15–20. Ebenso Pi. P. 8, 36; I. 8, 65a-66. Vgl. auch Gundert (1935) 15. Vgl. Pfeijffer (1999) 434–435, Kurke (1991) 198. Die Ausweitung des Siegerruhms auf Familie und Polis und die Einbindung des Siegers in die Gemeinschaft findet sich v. a. in Oden für Sieger aus oligarchisch oder demokratisch regierten Städten, während in den Liedern auf Tyrannen diese als Einzelperson im Licht stehen, vgl. Mann (2000). So auch Slater (1969) 106 s. v. γενναῖος (mit Verweis auf Fraenkel (1950) 551–552 ad A. Ag. 1198), Lefkowitz (1976/77) 220, Nagy (1990) 194, Gentili (1995) 212 und 574 (ad loc.), Pfeiff (1997) 113, Pfeijffer (1999) 436 und 531–532 (ad loc.). Dagegen verstehen z. B. Rumpel (1883) 99 s. v. γενναῖος, Gildersleeve (1890) 330 (ad loc.), Ruck-Matheson (1968) 102, Greenhalgh (1972) 205 (der τὸ γενναῖον und λῆμα offensichtlich nicht aufeinander bezieht), Schulz (1981) 87, Race (1986) γενναῖος als „adlig“ oder „edel“. Ebenso Pi. N. 3, 19–20 und I. 7, 21–22, vgl. auch O. 9, 91–94 und O. 10, 99–104. Vgl. auch Gundert (1935) 15, Donlan (1980) 106–107. Bei Pindar finden wir, in den Worten von Jaeger (1936) 276, den im Agon „um die Vollendung seines Mannestums ringenden Menschen und Sieger“.

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schließen.55 Die ἀρετά des Geschlechts beweist sich in jeder einzelnen Handlung und mit jedem Erfolg (Pi. O. 6, 71–74). Das sichtbare λῆμα ist der Wunsch der Söhne, Theben zu erobern, woran die Väter gescheitert waren. Voller Wohlwollen beobachtet Amphiaraos seinen Sohn, der denselben Drang nach vorn gegen die Feinde besitzt wie einst sein Vater. Das λῆμα ist das Tertium comparationis, das den unmittelbaren Bezug zum besungenen Aristomenes herstellt, der im Ringkampf der Knaben siegreich war. Er führt damit die früheren Erfolge seiner Familie fort, nicht die des Vaters, aber doch die zweier Onkel mütterlicherseits – der Mythos unterbricht bei eben dieser Bemerkung den Siegeskatalog des Knaben und seiner Familie.56 Daß es den Vätern nicht, den Söhnen sehr wohl gelang, Theben zu zerstören, muß nicht auf Aristomenes und seinen Vater übertragen werden, als ob dieser vergeblich bei Wettkämpfen angetreten wäre und jener den Versuch des Vaters nun zu einem siegreichen Abschluß gebracht hätte. Wichtig ist der Gedanke der Kontinuität, mit der eine Generation nach der anderen ἀρετά an den Tag legt.57 Weniger leuchtende Generationen stehen dem Gedanken der vererbten ϕυά in Pindars Vorstellung nicht entgegen. Er vergleicht die Anlage einer Familie mit der Fruchtbarkeit der Äcker: Wie die Erde im einen Jahr mehr Frucht trage, im anderen weniger und doch ein fruchtbarer Boden sei, so bleibe auch der Erfolg einmal aus, ohne daß von einer Verringerung der Möglichkeiten für die Familie ausgegangen werden müsse.58

2.2.2 Wechselhaftigkeit des Schicksals und ihre Überwindung Amphiaraos ergänzt seine ersten Worte durch einen zweiten Gedanken.59 Sich selbst, der als einer der Sieben gegen Theben sein Leben verlor, und seinem 55

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Vgl. Gundert (1935) 13, Jaeger (1936) 270, der einen Sieg im Agon als „Offenbarung der höchsten menschlichen Areta“ bezeichnet, Fränkel (1962) 487 und 558. So kann sich z. B. Pindar O. 11 den Musen gegenüber für die Gastfreundlichkeit der fernen Lokrer verbürgen, weil Hagesidamas in Olympia ἀρετά bewiesen hat; das spricht für die ganze Sippschaft, vgl. Fränkel (1962) 498. Die Meidyliden sind laut Scholion eine ϕρατρία von Aigina, „d. h. eines der vornehmen Geschlechter“ (RE 15, 2, 1540 s. v. Midas (8)). Über ihren Rang sagt dies allerdings wenig. Über die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse auf Aigina sind wir nur dürftig unterrichtet, viel mehr, als daß die Verfassung oligarchisch war, können wir nicht sagen. Zu den Aristokraten läßt sich jedenfalls bemerken, daß sich die Geschlechter in der Regel nur bis ins 6., höchstens ins ausgehende 7. Jh. zurückverfolgen lassen, eine Einschätzung der einzelnen Familien ist uns nicht möglich, vgl. Welter (1938) 96–97, Figueira (1981) 299– 313, Gehrke (1985) 15–16. Zum Gedanken der Beständigkeit vgl. Froidefond (1989) 127, Theunissen (2000) 72. Die grundlegende Parallelität des Siegers mit dem Mythos betont Erbse (1999). Vgl. auch Burton (1962) 181–182, Erbse (1999) 27. Pi. N. 6, 8–11 und N. 11, 37–42. Vgl. auch Haedicke (1937) 55, Greenhalgh (1972) 206–207. Beide Aspekte, Kontinuität von Leistung und Wechselhaftigkeit des Schicksals, sind gleichermaßen „Thema“ des Mythos. Dagegen hält Carne-Ross (1985) 178 den ersten, Oksala (1972) 102 den zweiten Gedanken für den Kern des Mythos. Beide sind aber für die Ode relevant. Miller (1993) 31–34 liest die auf Adrastos bezogenen Worte als Imitation einer Alltagssituation. Der erste Teil des Mythos habe einen Bezug zum Sieger Aristomenes und seiner Familie, die Erwähnung des Adrastos hingegen nicht. Im alltäglichen Gespräch gebe

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Sohn Alkmaion, der den Zug der Epigonen überleben wird, stellt er Adrastos und dessen Sohn gegenüber. Adrastos war als einziger der Sieben gegen Theben am Leben geblieben, und er wird seinen Sohn beim Zug der Epigonen verlieren. So hat jedes Glück, jeder Sieg auch eine andere Seite und ist mit einem Verlust verbunden.60 Der Gedanke der Unbeständigkeit des menschlichen Lebens erscheint allenthalben in der Ode, z. B. im Bild des Ringens oder der Schilderung der Besiegten, als Warnung an den Sieger. Es ist das Los des Menschen, auf der Höhe des Glücks mit dem drohenden Sturz zu leben.61 Diese Einsicht in die Wechselhaftigkeit des menschlichen Schicksals verweist bereits auf den Schlußteil der Ode. Vor dem letzten gebetsartigen Anruf finden sich die berühmten Verse: ἐπάμεροι· τί δέ τις; τί δ’ οὔ τις; σκιᾶς ὄναρ / ἄνθρωπος. ἀλλ’ ὅταν αἴγλα διόσδοτος ἔλθῃ,  / λαμπρὸν ϕέγγος ἔπεστιν ἄνδρῶν καὶ μείλιχος αἰών (Pi. P. 8, 95–97).62 Tagwesen: Was ist einer? Was ist keiner? Eines Schattens Traum / ist der Mensch. Aber wenn ein göttlicher Glanz kommt, / liegt ein helles Licht auf den Menschen und ein wonniges Leben. ἐπάμερος ist das, was für den Tag lebt und was Tag auf sich hat; der Mensch ist kurzlebig und den jeweiligen äußeren Umständen unterworfen.63 Er kann sich mühen, wie er will, Licht bringen in sein Leben nur die Götter. Die Unbeständigkeit des menschlichen Wesens, die Flüchtigkeit des menschlichen Schicksals und ihre Überwindung, wenn die Götter einen beglücken, ist mit wenigen Worten vor Augen gestellt. Die Balance zwischen Sieg und Verlust von Amphiaraos/Alkmaion und Adrastos/Sohn wird durch eine Parallele ergänzt, die den Mythos mit dem Anlaß des Gedichts verknüpft. τοιαῦτα μέν / ἐφθέγξατ’ ᾿Αμϕιαρήος. Χαίρων δὲ καὶ αὐτός / ᾿Αλκμᾶνα στεϕάνοισι βάλλω, ῥαίνω δὲ καὶ ὕμνῳ, / γείτων ὅτι μοι καὶ κτεάνων ϕύλαξ ἐμῶν / ὑπάντασεν ἰόντι γᾶς ὀμϕαλὸν παρ’ ἀοίδιμον, / μαντευμάτων τ’ ἔϕάψατο συγγόνοισι τέχναις (Pi. P. 8, 55–60). Solches / sprach Amphiaraos. Gerne streue ich aber auch selbst / Kränze auf Alkmaion, ich besprenge ihn mit meinem Lied,  / weil er mir als Nachbar und Wächter meines Besitzes  / be-

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es diese Situation häufig. Man bringe ein Beispiel und spreche auf einmal über dieses, sein eigentliches Thema vergessend. Auf diese Weise könne Pindar das Thema der Wechselhaftigkeit des Schicksals bereits anklingen lassen, das in der Schlußstrophe wichtig wird. Die Epigonen waren also in Pindars Augen nicht grundsätzlich besser als ihre Väter, Sieg und Verlust sind gottgegeben, vgl. Pfeijffer (1999) 438–439. Das spricht gegen eine konkrete Parallelisierung der mythischen Helden und der Familie des Siegers. Vgl. Kirkwood (1982) 202, Froidefond (1989) 129–133, Theunissen (2000) 58–59. Die Wechselhaftigkeit des menschlichen Schicksals taucht immer wieder in Pindars Liedern auf, so beispielsweise Pi. O. 7, 11–12 u. 94–95; O. 12; P. 3, 104–106; I. 3/4, 23–24. Mit dieser Unbeständigkeit muß der Mensch leben, sie ist unabänderlich; sie ist den Menschen von den Göttern auferlegt und trennt sie von den Göttern, vgl. Pi. P. 2, 88–89; I. 3/4, 18–18b. Die Deutung dieser Verse ist vielfältig und im Detail sehr unterschiedlich, zur Literatur vgl. Pfeijffer (1999) 596–600 (ad 95–97). Zur polaren Ausdrucksweise vgl. zuletzt Fogelmark (2008), zu intertextuellen Bezügen vgl. Bagordo (2003) 182–184. Vgl. Fränkel (1946), Dickie (1976), Theunissen (2000) 45–49. – Giannini (1982) liest τις und οὔ τις als „einer“ und „keiner“ und nimmt die Negation zum Substantiv, nicht zum Verb. Er versteht „einer“ und „keiner“ als „erfolgreich/berühmt“ und „erfolglos/unbekannt“. Damit betont er in dem Vers die Wechselhaftigkeit gegenüber dem Gedanken der Nichtigkeit des menschlichen Lebens.

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gegnete, als ich zum besungenen Nabel der Erde ging, / und er beschenkte mich mit den angestammten Seherkünsten. Wie Amphiaraos seinen Sohn pries, so will ihn auch Pindar loben, weil Amphiaraos ihm die Seherkunst zum Geschenk gemacht habe.64 Beide, Amphiaraos und Pindar, rühmen also Alkmaion, und beide besitzen prophetische Fähigkeiten. Pindar gebraucht Begriffe, die an den Preis siegreicher Athleten erinnern: στεϕάνοισι βάλλειν καὶ ῥαίνειν ὑμνῷ. Er will Alkmaion bekränzen und ihm ein Siegeslied singen.65 Dichtertum und Seherkunst werden eng miteinander verknüpft.66 Damit erhält auch Aristomenes’ Preis etwas Prophetisches. Wie Amphiaraos über seinen Sohn orakelte, so will Pindar den Knaben Aristomenes besingen. Die Tätigkeit des Dichters verschafft dem Besungenen Erinnerung, trägt seinen Namen über den Tag hinaus, überlebt vielleicht sogar seinen Tod (Pi. N. 6, 28–30). Das Licht des Epinikions ist ein Strahl vom göttlichen Schimmer, der αἴγλα διόσδοτος, die allein das Leben der Menschen erhellen kann. Vor dem dunklen Hintergrund der menschlichen Fragilität leuchtet der Erfolg um so heller.67 Der Mensch soll und kann nicht nach Unsterblichkeit streben, Ersatz ist der Ruhm, der ihm für besondere Leistungen gezollt wird. Erfolg ist der Gipfel des Glücks, und er ist damit auch das Äußerste, was der Mensch gewinnen kann; hat der Mensch Ruhm erlangt, hat er die Grenze des Menschenmöglichen erreicht (Pi. I. 6, 10–13).68 Ein ruhmloses Leben ist wertlos, doch Erfolg bringt Ansehen, und wer dieses besitzt, ist glücklich zu nennen.69 Dieser Gedanke war auch in der Ilias begegnet.70 Die durch das Epos verliehene Unsterblichkeit kompensiert für die ehrgeizigen Helden die Tatsache ihrer Sterblichkeit. Pindars dichterisches Selbstverständnis schließt diese große Bedeutung, die er als Dichter für seine aristokratischen Zeitgenossen hat, mit ein (Pi. N. 8, 40–42).71 Der Ruhm, den der Sieger eines sportlichen Wettkampfs 64

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Die Verse Pi. P. 8, 58–60 sind in der Forschung meist auf Alkmaion bezogen worden und haben so die unterschiedlichsten Deutungen hervorgerufen. Ein Kult des Alkmaion ist nicht bekannt, ebenso wenig eine orakelnde Tätigkeit. Hubbard (1993) hat in Anlehnung an die Scholien plausibel gemacht, daß Pindar hier von Amphiaraos spricht. Er tritt als Seher auf, von ihm ist ein Heroon zwischen Theben und Delphi belegt, und auch grammatikalisch ist der Bezug auf das Subjekt des vorangehenden Satzes ohne weiteres möglich. So auch Nagy (2000) 103. Dagegen vertritt van ’t Wout (2006) wiederum den Bezug auf Alkmaion. Er geht von der Überlegung aus, daß Amphiaraos seine Prophezeiung sinnvollerweise nur beim ersten Zug der Sieben gegen Theben tun könne; daraus ergeben sich zeitliche und personale Verschmelzungen der Generationen. Vgl. Pfeijffer (1999) 437, Nagy (2000) 103. Den prophetischen Aspekt des pindarischen Selbstverständnisses erkennt Snell (1965) 129–130 auch in der Formulierung des „tausendfachen Wegs“ (Pi. I. 3/4, 19). Im Gegensatz beispielsweise zu Archilochos oder Sappho, die sich als „Diener des Ares“ und „Musendienerin“ bezeichneten, sehe Pindar die Fülle von Möglichkeiten, die ihm als Dichter offenstehe, und halte sich für zu Neuem befähigt. Er fühle sich nicht als Diener, sondern als Prophet der Götter. Vgl. Race (1986) 100. Ebenso Pi. P. 10, 27–29. Vgl. auch Pi. O. 5, 23–24; O. 10, 91–94; P. 3, 61–62 u. 88–90 u. 112–115; I. 5, 12–15. Vgl. Pi. P. 11, 55–58; ferner O. 7, 10 u. 87–90; P. 1, 99–100; P. 9, 90–92. Nagy (2000) 101 bezeichnet das Epinikion deshalb als eine Art von „micro-epic“. Vgl. auch Pi. O. 11, 4–6; N. 4, 1–8; N. 7, 11–16 und 30–34. Der Gegensatz von der Vergeblichkeit eines ruhmlosen und der Sinnhaftigkeit eines erfolgreichen Lebens ist Pi. O. 10, 91–96

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erlangt, verschafft seiner Existenz eine Kontinuität, weil er ihn über den Wechsel und die Unbeständigkeit des einen Tags erhebt.

2.2.3 Die Bedeutung der Herkunft Pindar sieht einen Zusammenhang zwischen der Herkunft und den Fähigkeiten des einzelnen. Die ererbte gute Anlage ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausbildung.72 Aber Pindar spricht von ϕυά und ϕυᾷ, nicht von εὐγένεια. Es kommt ihm nicht auf einen abstrakten Gedanken der Wohlgeborenheit an, die an sich einen Wert darstellte, sondern Pindar spricht vom Ererbten stets aufgrund erbrachter Leistung und betont die bildungsfähige Begabung als Voraussetzung für Erfolg. Pindar unternimmt keine Rechtfertigung seines sozialen Status’ mit Hinweis auf seine Herkunft, wie Theognis es versucht. ϕυᾷ legitimiert nicht die in Frage gestellte Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht. ϕυᾷ ist eine rückblickende Erklärung für erbrachte Leistung. Anspruch auf Ansehen erhebt der Dichter für den Athleten nicht wegen seiner ererbten, vielleicht lediglich postulierten Anlagen, sondern wegen seines – mit Hilfe dieser Anlagen – errungenen Sieges. Pindar erhebt nicht die Forderung, ein Mann ohne erfolgreiche Vorfahren, ohne die notwendige Begabung sollte nicht trainieren oder sich bilden, weil dies nur den anderen zustünde. Er sagt lediglich die Fruchtlosigkeit der Bemühungen voraus. Der Gedanke, daß Adel verpflichte, wird bei Pindar nicht besonders häufig laut – die Sieger, die er besingt, sind dem Anspruch gerecht geworden. Nur gelegentlich spürt man den Wunsch zu belehren, z. B. beim rechten Gebrauch des Reichtums.73 Theognis dagegen übt scharfe Kritik am Verhalten seiner ehemaligen Standesgenossen und verficht voller Engagement den Wert edler Abkunft, den er mit ethischen Forderungen verknüpft, gegen das Kriterium des Reichtums; er ist persönlich betroffen und kämpft um sein gesellschaftliches Überleben. Auch bei Pindar sind die gesellschaftlichen Spannungen zu spüren.74 Doch im großen und ganzen ist die Welt, die uns Pindar in seinen Epinikien vor Augen stellt, noch heil. Der Dichter hadert nicht mit den Werten seiner Zeit, mit ihrer Definition, den sich wandelnden ökonomischen Verhältnissen oder dem Vordrängen der unteren Schichten. Der Vergleich des von Natur aus Gekonnten und des Angelernten, den er immer zugunsten der angeborenen Fähigkeiten vornimmt, läßt sich zwar als eine Abgrenzung der alten Aristokratie gegen den er­starkenden Demos lesen. Aber dieser Unterschied zwischen erfolgreichen und zum Scheitern verurteilten Familien wird nicht explizit mit sozialen Gruppierungen gleichgesetzt. Bei Pindar findet sich nicht die offene Ausgrenzung der Nichtadligen vom gesellschaftlichen Leben, wie wir sie bei Theognis antref-

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explizit gemacht. Vgl. auch X. Cyr. 1, 2, 1–8. Vgl. Pi. P. 5, 1–4. So z. B. im Neidmotiv, das früher auf persönliche Gegner Pindars, von Bundy (1962) aber auf das Ruhmmotiv bezogen wurde. An einigen Stellen sei, so Schmidt (1988) 79–80, jedoch nicht vom Neid der Standesgenossen die Rede, sondern von einer Schicht von Neidischen, die auf die Adligen neidisch seien.

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fen, Pindar gibt den Unterschichten in seinen Epinikien einfach keinen Raum.75 Er kommt ohne Zurücksetzung der nichtadligen Schichten aus, weil seine Gedichte einen anderen Sitz im Leben haben als Theognis’ Lieder. Pindars Oden sind Siegeslieder zu Ehren von erfolgreichen Athleten bei den großen panhellenischen Wettkämpfen, die Agone aber sind eine adlige Angelegenheit.76 Bei ihnen ist der Adel unter sich, nur langsam und in Einzelfällen beginnen auch Teilnehmer der Mittelschicht in den Siegerlisten aufzutauchen.77 Insofern ist das Wettkampfwesen aus aristokratischer Sicht noch unversehrt und muß nicht gegen Eindringlinge geschützt werden. Zuhörer des Vortrags ist freilich nicht nur der Adel, sondern auch der Demos. Dem trägt Pindar Rechnung, indem er in den Oden zum einen eine ideologische Integration des Adels in die Polis vornimmt, zum anderen die Polis und den Demos gleichermaßen als Nutznießer des Siegs darstellt.78 Pindar nimmt die Veränderungen seiner Zeit wahr, aber seine Lieder sind Epinikien, nicht Skolien, die in geselliger Runde beim Symposion der Unterhaltung (und vielleicht auch der Beeinflussung) der Zuhörer dienen sollen. Theo­ gnis’ Gedichte haben vielfach die Form von Ratschlägen und wollen den Adressaten überzeugen, während das Ziel von Pindars Oden vornehmlich der Preis des Siegers ist. Weil die Agone, die einen wesentlichen Bestandteil des adligen Lebens und Selbstverständnisses darstellen, noch weitgehend unberührt von ökonomischen und sozialen Umwälzungen vollzogen werden, kann Pindar die 75

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Das wird meist mit der Bemerkung erklärt, Pindar nehme die Unterschicht nicht wahr, weil sie in seinem hohen aristokratischen Bewußtsein nicht existiere; „Pindars Welt ist völlig rein und in sich geschlossen“ (Fränkel (1962) 486), vgl. Bowra (1964) 101, Donlan (1980) 96–97, der darauf hinweist, daß ἀγαθός/ἐσθλός zwar dieselbe Bedeutung habe wie bei Theognis, κακός/δειλός aber nicht von Personen gebraucht werde bzw. fehle. Damit gebe es bei Pindar auch keine Spannung der Klassen. Daraus zieht Donlan (1980) 110 den Schluß, Pindars System sei eine Selbsttäuschung, da er offensichtlich die politischen und sozialen Veränderungen ignoriere. Das greift zu kurz. Die Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich sind für Pindars Gedichte einfach von geringerer Bedeutung als für Theo­ gnis’ Elegien. Bei Theognis sind sie das Thema der Gedichte, bei Pindar scheinen sie nur gelegentlich auf, was aber zeigt, daß der Dichter sie sehr wohl zur Kenntnis genommen hat, vgl. Kurke (1991) 195–209 und 258–260. – Ob Pindar selbst überhaupt ein Angehöriger der Aristokratie war, ist nicht bekannt. Die eine Stelle, Pi. P. 5, 75–76, aus der man seine Zugehörigkeit zu einem alten Adelsgeschlecht herauslas, ist wohl keine autobiographische Angabe, die antiken Scholien und Kommentare helfen in der Frage nicht weiter, vgl. Fränkel (1962) 485–486 Anm. 2, Snell (1965) 137, Gentili (1995) 532 ad loc., DNP s. v. Pindaros 1031. Vgl. Winterscheidt (1938) 46–50, Froidefond (1989) 134, Mann (2001) 35–37. Figueira (1981) 332–333 bemerkt, die Aigineten seien auf die Disziplinen spezialisiert, die dem Krieg am nächsten sind, wie Ringen oder Pankration. Er erklärt dies als Kompensation der schwindenden militärischen Identität, der Adel habe sich vom traditionellen Typus des „warrioraristocrat“ entfernt. Vgl. Pleket (1992). Pindar hebt immer wieder auf den Ruhm und seine Vorteile ab, die die Heimatstadt des Athleten durch seinen Sieg gewinnt, so z. B. Pi. O. 5, 4–8; P. 9, 90–92. Die Einheit von adligem Sieger und Polis wird betont, wenn Pindar bemerkt, die ganze Stadt bemühe sich um das Edle (Pi. N. 5, 46–47). So erscheint der Erfolg des Siegers als Ergebnis der gemeinsamen Anstrengung aller. Das Verhältnis von Sieger und Polis behandelt eingehend Kurke (1991) 195–209. Vgl. auch Donlan (1980) 100–101.

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Sieger dieser Wettkämpfe ohne größere Einschränkungen als Träger eines ungebrochenen und noch selbstverständlichen adligen Wertesystems besingen. Vor diesem Hintergrund läßt sich γενναῖος in der achten Pythie auch mit „adlig“ wiedergeben. Zwar dominiert, unterstützt durch ϕυᾷ und ἐκ πατέρων, der Gedanke der Verbundenheit mit dem γένος, zumal auf der Ebene des Mythos. Doch Pindar besingt adlige Sieger, und der Wert der Herkunft dürfte gerade in aristokratischen Häusern hochgehalten worden sein. Von daher geht man wohl nicht zu weit, wenn man γενναῖος hier als „adlig“ versteht. Pindar formuliert gerne gnomisch und gibt seinen Gedanken damit eine allgemeinere Gültigkeit. Er überträgt sie jedoch nicht auf die politischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse; scheinbar konkrete Formulierungen offenbaren nicht seinen persönlichen Standpunkt.79 Sein Werk erlaubt nur generelle Aussagen: Pindar schreibt Oden für Sieger aus tyrannisch, oligarchisch/aristokratisch und demokratisch regierten Städten, und er findet für jede preisende Worte.80 In einigen Oden wird der Wunsch laut, die Stadt möge ihren inneren Frieden finden oder bewahren.81 Bezugnahmen auf das Zeitgeschehen sind denkbar, doch politische Aussagen sind in einem Epinikion allenfalls zweitrangig.82 Für die 8. Pythische Ode sind sie naheliegend. Aigina war 457 in athenische Abhängigkeit geraten, 446 wurde am 30jährigen Frieden gearbeitet, und Aigina konnte sich Hoffnungen auf Autonomie machen. In groben Zügen mit diesen Umständen pa­rallelisiert, spricht aus dem Epigonenmythos des Siegeslieds der Wunsch nach Aiginas Unabhängigkeit.83 79

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Pi. P. 10, 71–72; P. 11, 52–54. Vgl. z. B. von Wilamowitz (1922a) 123–124 und 262–263, Norwood (1945) 64–69, Pfeijffer (1999) 630–638, die Pindar aufgrund dieser und anderer Stellen als alten Aristokraten identifizieren. Vgl. aber Young (1968) 5–22, der für P. 11, 52–54 überzeugend darlegt, daß der Verweis auf die Tyrannis keine politische Aussage zur erwünschten Staatsverfassung, sondern daß er topisch ist und es um die individuelle Lebensführung geht. Vgl. Pi. P. 9, 95–96. Offensichtlich hält sich Pindar selbst an Nereus’ Maxime, die er hier empfiehlt, und preist Sieger für ihren Sieg, ungeachtet ihrer Herkunft oder seiner Überzeugung. Vgl. auch Lefkowitz (1976/77) 213–214, Race (1986) 3. Hesychia ist politisch zu fassen, so z. B. von Wilamowitz (1922a) 443, Burton (1962) 174– 180, Bowra (1964) 156–157, Ruck (1972) 159–160, Carne-Ross (1985) 170–171, Kirschkowski (2009) 194–209, anders z. B. Thummer (1968) 72–73, der Hesychia als die Ruhe versteht, die sich für den Athleten nach erfolgreichem Kampf einstellt. Vgl. auch Dickie (1984). Die historische Allegorese, die von Wilamowitz u. a. auf die Epinikien anwandten, geht von sehr konkreten politischen (und biographischen) Aussagen in verschlüsselter Form aus. In ihrer konsequenten Anwendung hat die Methode heute keine Vertreter mehr, doch mit der Möglichkeit von Anspielungen wird durchaus gerechnet. Die Oden sind jedoch kein tagespolitischer Kommentar, hierfür sind die Anspielungen zu vage und Siegeslieder das falsche Medium. Bezeichnend sind die Datierungsversuche von Pi. P. 8, die aufgrund „gefundener“ Anspielungen vorgenommen wurden, sie reichen von 478 bis 450, vgl. Gildersleeve (1890) 324–325. Lefkowitz (1991) 75–81 hat gezeigt, wie unbrauchbar die antiken Scholien in der Frage historischer Anspielung sind; auch sie (wie ihre modernen Nachfolger) gewinnen ihre Erkenntnisse, indem sie Schlüsse aus den Oden ziehen. Die Datierung der Ode ins Jahr 446 ist heute unumstritten. Sie ist damit das letzte erhaltene Gedicht Pindars, anders Mullen (1973/74). So, mit graduellen Unterschieden in der Enge der Korrespondenzen, von Wilamowitz (1922a) 443–444, Krischer (1985), Figueira (1993) 216–217, Carne-Ross (1985) 186–188,

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2.2.4 Zusammenfassung Pindars Äußerungen zu Herkunft, Erbe, Geburt sind stets durch die sportlichen Erfolge seiner Auftraggeber motiviert. Edles (und Unedles) vererbt sich weiter, aber einen abstrakten Gedanken der hohen Geburt sucht man bei Pindar vergebens. Die Geburt an sich wird nie als Wert genannt. ϕυά ist nicht εὐγένεια, sondern ist zunächst ein neutraler Begriff. ϕυά in der Bedeutung „Anlage“ steht zudem im Dativ, sie ist ein Umstand, der als mitverantwortlich für die Leistung erkannt wird. Rückblickend erscheint er dann als Voraussetzung. „Die mittleren Triaden übergehen wir“, schreibt Fränkel in seiner Betrachtung der 8. Pythischen Ode und behandelt dann die erste und die fünfte Triade.84 Vom Mythos her erschließt sich jedoch die Ode in ihrer Gesamtheit. Der Gedanke der Kontinuität, den Amphiaraos angesichts der Epigonen äußert, feiert den Sieger und die Stadt. Schon viele siegreiche Athleten hat Aigina hervorgebracht, und Aristomenes beschenkt seine Familie nicht als erster mit Ruhm. Der Gedanke des Wechsels, den der Seher mit Blick auf Adrastos vorbringt, ist ein Trost für die Stadt, die auf politische Autonomie hofft, und eine Warnung an den glücklichen Sieger: Es gehört zum Menschsein, daß wir unser Schicksal nicht kennen und nicht bestimmen können und immer mit einer Wendung rechnen müssen. Beide Motive finden sich bei Pindar immer wieder. Der Mensch lebt mit dem Wandel, doch vor der Willkür des Schicksals schützt ihn die Beständigkeit seiner Natur.

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Theunissen (2000) 74–78. Keinerlei politische Anspielungen will Schadewaldt (1928) 32 erkennen, während Pfeijffer (1995) und (1999) 426–456 seine Deutung ganz auf den politischen Aspekt hin ausrichtet. Fränkel (1962) 567–572 (Zitat 569).

Teil II Tragödie καὶ γὰρ εἰ πένης ἔφυν οὖτοι τό γ´ ἦθος δυσγενὲς παρέξομαι

3

Aischylos

In der Tragödie nimmt die Zahl der Belege für εύγένεια/γενναιότης in auffallender Weise zu. Offensichtlich begegnet der Adel in der demokratischen Gattung nicht mehr derselben selbstverständlichen Zustimmung wie beispielsweise im Epos oder Epinikion.1 Zunächst implizit, dann zunehmend explizit wird der Begriff in Frage gestellt und in seiner Bedeutung diskutiert. Bei Aischylos finden wir elf Belege für Adjektive und Substantive des Stammes εὐγεν-/γεν-. Davon stehen acht in den vollständig erhaltenen Tragödien, drei in den Fragmenten. Ausführlich behandelt werden die Perser, die Sieben gegen Theben und die Orestie,2 für die übrigen Stellen sei auf die tabellarische Übersicht im Anhang verwiesen.

3.1

Perser

In den Persern werden zwei Personen bzw. Personengruppen als εὐγενεῖς bezeichnet. In beiden Fällen handelt es sich um Vertreter der persischen Seite.

3.1.1 Die persischen Soldaten Xerxes ist mit einem riesigen Heer gegen Griechenland gezogen, die Daheimgebliebenen warten besorgt auf die Rückkehr oder zumindest auf Kunde vom Heer. Ein Bote bringt die schlechte Nachricht: Das persische Heer ist vernichtend geschlagen. Er berichtet von schweren Verlusten und vielen Gefallenen, das Schlimmste aber kommt erst noch: Περσῶν ὅσοιπερ ἦσαν ἀκμαῖοι ϕύσιν ψυχήν τ’ ἄριστοι κεὐγένειαν ἐκπρεπεῖς αὐτῶι τ’ ἄνακτι πίστιν ἐν πρώτοις ἀεί τεθνᾶσιν αἰσχρῶς δυσκλεεστάτωι πότμωι. (A. Pers. 441–444) Die Perser grade mit der stärksten Körperkraft, vom höchsten Mut und ausgezeichnet durch ihre εὐγένεια,

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Vgl. hierzu etwa Hall (1997b). Die attische Tragödie kann als demokratische Gattung gelten, weil sie einerseits Athen und seine Demokratie feiert, andererseits Personen, die sonst nicht gehört werden, eine Stimme verleiht, z. B. Frauen oder Sklaven. Beide Aspekte stehen in einer inneren Spannung. Die Tragödie transformiert soziale Prozesse bei der Übernahme in ihre literarische Form (94); die gezeigten Krisen betreffen immer Aristokraten (98). Die in den Tragödien geäußerten Gedanken sind politisch in der Regel fortschrittlicher als die umgebende Gesellschaft und fordern eine Welt, die fast einer Demokratie nach modernem Verständnis gleicht (125). Wo nicht anders angegeben, zitiere ich nach der Ausgabe von West (1998). Zur neueren Forschung über Aischylos und Literatur vgl. die entsprechenden Kapitel bei Föllinger (2003).

66 Aischylos dem König jederzeit am treuesten ergeben, sie fanden, schmachvoll, einen Tod in Schimpf und Schanden!3

Die Verse sind geprägt von der antithetischen Gegenüberstellung der Toten und ihrer Todesart.4 Die besten Männer sind auf die schändlichste Weise zu Tode gekommen. Drei Verse lang werden die Gefallenen in ihrem Wert beschrieben, ihre Eigenschaften sind steigernd angeordnet. Die ersten drei Gesichtspunkte sind körperliche Tüchtigkeit, ϕύσις, Charakter, ψυχή, und gute Herkunft, εὐγένεια,5 in denen die Toten vor anderen hervorragten. Aischylos verwendet Superlative und Adjektive von superlativischer Bedeutung, ἀκμαῖος, ἄριστος, ἐκπρεπής. Daran schließt sich das besondere Verhältnis der Toten zum König an. Sie gehörten zu den treuesten und ergebensten Gefolgsmännern ihres Königs, πίστιν ἐν πρώτοις, waren seine zuverlässigsten Stützen. Diese Qualität ist dem Zuschauer bereits zu Beginn der Parodos begegnet. Der einziehende Chor stellt sich als der treue Wächter des verwaisten Persien vor, auch hier fällt das Stichwort πιστός (A. Pers. 1–7).6 Der vielgliedrigen Aufzählung der Tugenden ist ein einzelner prägnanter Vers antithetisch gegenübergestellt, der diesen edlen und vorzüglichen Kriegern in einer Klimax ihr elendes Schicksal kontrastiert. Sie sind nicht nur tot, τεθνᾶσιν, sondern auf schändliche Weise gefallen, αἰσχρῶς, und ihr Tod ist der unrühmlichste, δυσκλεεστάτωι πότμωι. Das Vokabular erinnert an die epische Sprache.7 κλέος zu erwerben ist das Ziel des homerischen Helden, und κλέος erlangt man durch Tapferkeit im Kampf. Den Tod kann der Held annehmen, weil er auf die Unsterblichkeit des Nachruhms hofft. Die jungen Adligen jedoch, deren Ende der Bote hier berichtet, sind nicht in einer gewöhnlichen Feldschlacht, sondern in einem wilden Gemetzel zu Tode gekommen; das macht ihren Tod αἰσχρός.8 Ein δυσκλεέστατος πότμος nimmt dem Menschen die Kompensation für seinen (frühen) Tod, weil den Namen des schändlich Gefallenen keiner preisen und mit Ehrfurcht nennen wird. 3

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Die Übersetzungen der Stellen bei Aischylos beruhen auf der Übertragung von Ebener (1976). Von mir vorgenommene Änderungen sind nicht eigens bezeichnet. Bereits in der Ilias finden wir die Steigerung des Pathos durch die Gegenüberstellung von Leistung im Leben und Tod, z. B. bei Sarpedon (Il. 16, 419–430 und 638–640), Hektor (Il. 22, 432–436), vgl. Griffin (1980) 84–85. εὐγένεια ist ein Hapax legomenon bei Aischylos, vgl. Roussel (1960) 179 (ad loc.). Vgl. Hall (1997a) 106–107 (ad 1–2). Die Griechen glaubten, die Perserkönige nennten ihre Berater πιστοί. Die Verwendung solcher Begriffe gibt dem Stück ein ethnographisches Kolorit. Die Anklänge haben einen allgemeinen Charakter. Sie beruhen auf Begriffen, die die epische Welt evozieren, ohne auf bestimmte Szenen zu verweisen. Für speziellere Anspielungen vgl. Sideras (1971) und die Hinweise bei Griffith (2009) 7–11. Zum κλέος im Epos vgl. die Diskussion bei Rubino (1979), Nagy (1999) passim, v. a. 35–41. Belloni (1994) 180 (ad loc.) betont, daß αἰσχρῶς kein moralisches Urteil über die Gefallenen enthält. Belloni (1994) 180 (ad 441–446) spricht von einem Betrug, dem die Perser zum Opfer gefallen seien. Von einem Betrug ist im Bericht des Boten jedoch nicht die Rede; daß die Griechen die Insel umzingeln (A. Pers. 458), ist kein Hinterhalt, sondern geschickte Taktik. Schändlich erscheint der Tod der jungen Adligen deshalb, weil sie abgeschlachtet werden wie Vieh (A. Pers. 463 παίουσι, κρεοκοποῦσι δυστήνων μέλη und schlugen auf die Armen ein und hieben sie in Stücke).

Perser

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Die Gruppe der Perser, die hier beschrieben wird, ist als adlige Oberschicht charakterisiert. Der Bote hatte bereits den Tod Unzähliger vermeldet (A. Pers. 272–273, 302–330, 416–432), und obwohl bei den Kampfhandlungen auf der Insel Psyttaleia eine vergleichsweise geringe Zahl von Persern gefallen ist, werden die Ereignisse als das eigentliche Desaster des Kriegszugs eingeführt: εὖ νυν τόδ’ ἴσθι, μηδέπω μεσοῦν κακόν· / τοιάδ’ ἐπ’ αὐτοῖς ἦλθε συμϕορὰ πάθους / ὡς τοῖσδε καὶ δὶς ἀντισηκῶσαι ῥοπῆι (A. Pers. 435–437). Glaub mir, das ist noch nicht die Hälfte unsres Leides. / Uns traf ein zweiter Schicksalsschlag, so fürchterlich, / daß er an Wucht den ersten doppelt übertraf! Schwer wiegen die Verluste deshalb, weil es sich bei den Toten um eine Auslese handelte,9 und zwar mit Blick auf ϕύσις, ψυχή und εὐγένεια. Das körperliche und das charakterliche Feld ist durch ϕύσις und ψυχή abgedeckt, εὐγένειαν ἐκπρεπεῖς bezeichnet also ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit. Psyttaleia ist damit eine Niederlage des persischen Adels. Die Marine bestand größtenteils aus Verbündeten, aus Phöniziern, Ägyptern und anderen, während die auf Psyttaleia Kämpfenden Perser waren. Sie wurden alle vernichtet und noch dazu in einem Kampf zu Lande, in dem sie sich unzweifelhaft überlegen glaubten.10 Wie bei Homer koinzidieren auch in dieser Beschreibung der persischen Blüte hohe Abstammung und herausragende Tapferkeit. Helden ziemt jedoch ein glänzender Tod, der im Einklang mit ihren Vorzügen steht und ihre Erscheinung durch den Tod abrundet. Dies blieb den jungen Vertretern der adligen Oberschicht verwehrt.

3.1.2 Atossa Neben den Gefallenen der aristokratischen Oberschicht erhält auch die Königin das Prädikat εὐγενής. Der Chor hat auf Veranlassung der Königin den Geist ihres toten Gatten Dareios beschworen zu erscheinen, doch als dieser sich zeigt und die Greise nach dem Grund fragt, sind sie vor Ehrfurcht und Angst unfähig, ihm zu antworten, und so wendet sich Dareios vom Chor ab und befragt seine Gattin: ἀλλ’ ἐπεὶ δέος παλαιὸν σοὶ ϕρενῶν ἀνθίσταται, τῶν ἐμῶν λέκτρων γεραιὰ ξύννομ’, εὐγενὲς δάμαρ, κλαυμάτων λήξασα τῶνδε καὶ γόων σαϕές τί μοι λέξον. (A. Pers. 703–706) Da die Ehrfurcht noch von einst sich deinem Streben widersetzt, auf denn, greise Fürstin, die mein Lager teilte, Gattin, die εὐγενής ist, höre auf zu weinen und zu klagen, und erteile mir deutlich Auskunft.

Hier begegnet εὐγενής in einer Anrede. εὐγενὲς δάμαρ klingt wie ein Titel, zumal Dareios die Worte spricht, ihr ehemaliger Gatte und König. Der Sprecher steht damit über der Angesprochenen; die Worte sind also ehrend und 9

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Deutet man das Drama vor dem Hintergrund der athenischen Innenpolitik, kann man hierin eine Parteinahme des Aischylos für Themistokles’ Rivalen Aristeides sehen, den er durch die besondere Betonung dieser eigentlich nebensächlichen Episode habe stärken wollen, vgl. hierzu Harrison (2000) 31–39, 95–102. Vgl. Saïd (1993) 68, Sommerstein (1996) 82–83.

68 Aischylos

respektvoll,11 nicht aber Ausdruck von Ehrerbietung, die der Untergebene dem Höhergestellten erweist. Allerdings ist der Zuschauer einer für griechische Augen übertriebenen Ehrerbietung gegenüber der Königin bereits Zeuge geworden. Möglicherweise ist die Wortwahl in diesem Zusammenhang zu sehen. Der Chor kündigt den ersten Auftritt der Königin wortreich an und fällt zu Boden: ἀλλ’ ἥδε θεῶν ἴσον ὀϕθαλμοῖς ϕάος ὁρμᾶται  / μήτηρ βασιλέως, βασίλεια δ’ ἐμή· προσπίτνω (A. Pers. 150–151). Doch siehe, da tritt hervor, so leuchtend  / wie Augen der Götter, die Mutter des Großkönigs,  / unsere Herrin. Wir sinken zu Boden. Die Grußworte, die er an sie richtet, nehmen drei Verse ein: ὦ βαθυζώνων ἄνασσα Περσίδων ὑπερτάτη, / μῆτερ ἡ Ξέρξου γεραιά, χαῖρε, Δαρείου γύναι· / θεοῦ μὲν εὐνάτειρα Περσῶν, θεοῦ δὲ καὶ μήτηρ ἔϕυς (A. Pers. 155–157) Allerhöchste Herrscherin der tiefgeschürzten Perserfraun; / Mutter, hochbetagt, des Xerxes; des Da­ reios Frau: Heil dir! / Gattin eines Persergottes, Mutter eines Gottes auch und müssen in den Ohren des athenischen Publikums an Blasphemie grenzen. Als die höchste Herrin, als Gattin eines Gottes und Mutter eines Gottes wird sie bezeichnet.12 Dieselbe Zielrichtung hat die Gegenüberstellung der politischen Systeme in Persien und Griechenland bzw. Athen, die in den bekannten Fragen der Königin und den Antworten des Boten pointiert formuliert ist.13 Hierzu gehört auch die nach griechischen Maßstäben befremdliche Darstellung der persischen Sitten. Dareios’ Witwe und Xerxes’ Mutter ist nicht die edle, würdige Königin, sondern die mächtige, einflußreiche Frau, die – unerhört – in der Öffentlichkeit erscheint.14 Ein Vergleich mit Klytaimestra ist erhellend: Auch sie tritt selbstbewußt auf, führt das Zepter und gibt sich als Mann. Aber im Gegensatz zur persischen Königin wird sie in dieser Rolle nicht akzeptiert, man fürchtet, aber ehrt sie nicht.15 Als Dareios vom Chor keine Antwort erhält, spricht er seine Gattin respektvoll 11 12

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Broadhead (1960) 178 (ad loc.), Belloni (1994) 227 (ad loc.), Hall (1997a) 158 (ad loc.). Die Anrede ist stilistisch ausgefeilt; Atossas Würde ergibt sich aus ihrer zweifachen Rolle als Gattin und Mutter eines Perserkönigs, vgl. Gagarin (1976) 43–44. Die Auffassung der früheren Forschung, wonach die Griechen geglaubt hätten, die Perser hielten ihren König für einen Gott, erweist sich als Fehldeutung der Perser und wird auch durch persische Texte nicht bestätigt, in denen nur von göttlicher Legitimation die Rede ist, vgl. Hall (1989) 90–93. Die Abgrenzung der Griechen von den Barbaren erfolgt in der archaischen Dichtung noch nicht nach dem politischen Kriterium despotisch–frei. Dieser Gesichtspunkt bildet sich erst nach den für die Griechen siegreichen Perserkriegen aus; das demokratische Gegenmodell fungiert dabei als Legitimation des athenischen Führungsanspruchs, so z. B. Hdt. 5, 78; 7, 102; 7, 223, 3, vgl. Hall (1989) 13–16. In den Persern wird Athen hingegen selten explizit genannt, meist ist allgemein von „Hellenen“ die Rede; so lassen sich hegemoniale Ansprüche unverdächtig formulieren, vgl. Harrison (1998) 77, (2000) 64–65. Vgl. Harrison (1998) 82–83, (2000) 77–81 gegen die frühere Deutung, wie sie sich z. B. bei von Wilamowitz (1914b) 43 findet, wonach Atossa als würdige Königin auftrete, „deren Majestät sich gezeigt“ (48) habe und die „bis zum Schlusse die Würde der Königin“ (50) bewahre. So z. B. A. A. 14, 19, 36–37 (Diener auf dem Dach). Bei ihrem ersten Auftritt wird Klytaimestra vom Chor durchaus ehrfürchtig angesprochen (A. A. 258–263), anders klingen freilich A. A. 479–488, 548, nach dem Mord z. B. 1399–1400, 1407–1412, 1426–1430. Vgl. außerdem A. Ch. 737–741 (Kilissa).

Sieben gegen Theben

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an und erkundigt sich bei ihr nach dem Grund der Totenbeschwörung. Dagegen beachtet Agamemnon seine Frau kaum, er weist sie vielmehr zurecht, weil sie zuviel rede.16 Die persische Königin allerdings tritt mit Selbstverständlichkeit in der Öffentlichkeit auf und wird ebenso selbstverständlich von den Untertanen in ihrer Position anerkannt, obwohl sie eine Frau ist.

3.1.3 Exkurs: Kassandra Das Motiv der von den Griechen unterschiedenen barbarischen Lebensweise scheint auch im Agamemnon auf, beispielsweise in der sog. Teppichszene. Als Agamemnon vor dem Betreten der roten Tücher zurückschreckt, fragt Klytaimestra ihn, was Priamos an seiner Stelle wohl täte. Agamemnon antwortet prompt und eindeutig: Der König von Troja hielte die Würdigung für angemessen (A. A. 935–936). Eine Vertreterin der anderen Welt betritt die Bühne, Kassandra. Ihre Fremdheit findet Ausdruck zunächst in ihrer Sprache (A. A. 1050–1063), ist aber anschließend nicht mehr wichtig. Kassandras Rolle ist die der Seherin. Sie sieht ihren eigenen Tod nahen (A. A. 1256–1294) und betont vor dem ungläubigen Chor seine Unausweichlichkeit (A. A. 1295–1303). Die Alten spenden ihr vollmundigen Trost: ΧΟ. ἀλλ’ εὐκλεῶς τοι κατθανεῖν χάρις βροτῶι. ΚΑ. ἰὼ πάτερ, σοῦ σῶν τε γενναίων τέκνων. (A. A. 1304–1305) Ch. Doch einen Tod in Ehren hält der Mensch für Gnade. Ka. Weh, Vater, über dich und deine Kinder, die γενναῖα sind!

Der Chor spricht von der Gunst eines ruhmreichen Todes; offensichtlich hat er Kassandras Worte nicht verstanden. Sie antwortet mit einem Klageruf. Sie beklagt das Schicksal des Vaters und seiner edlen Kinder. Wieder werden also Angehörige einer fremden Oberschicht als γενναῖοι bezeichnet, und wieder im Zusammenhang mit ihrem Tod. Die ersten Belege aus den Persern und dem Agamemnon sind also in zwei von drei Fällen im Zusammenhang mit dem Tod gebraucht und kontrastieren den Adel der Betroffenen mit dem Unglück eines gewaltsamen Todes. In allen drei Fällen beschreibt εὐγενής den Adel im Gegensatz zum Volk. In der Dichotomie von Griechen und Persern ist der Begriff von den Barbaren gebraucht.

3.2

Sieben gegen Theben

In den Sieben wird einer der thebanischen Verteidiger als εὐγενής bezeichnet. Eteokles weigert sich, seinen Bruder Polyneikes an der Herrschaft über Theben 16

Elektra wiederum entspricht dem Bild der zurückhaltenden, häuslichen Frau griechischer Sitte. Sie ist bei Aischylos noch eine vergleichsweise unscheinbare Figur und tritt nur in der Szene am Grab des Vaters auf, klagend und betend, handelt aber nicht und fungiert nicht als treibende Kraft. Sie ist nicht die forsche, zu allem entschlossene Elektra eines Sophokles oder Euripides, die als letzten Ausweg eigenhändig Rache zu nehmen bereit ist, vgl. S. El. 947–989, E. El. 278–281, 647.

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teilhaben zu lassen; Polyneikes hat ein Heer versammelt, mit dem er gegen seine Vaterstadt zieht. Ein Bote berichtet Eteokles von den Vorgängen im Lager der Angreifer vor der Stadt. Die sieben gegnerischen Anführer haben jeweils eines der sieben Stadttore zum Sturm erlost. Auf die Nennung und Beschreibung eines jeden Angreifers antwortet Eteokles seinerseits mit Nennung und Beschreibung des entsprechenden thebanischen Verteidigers.17 Das erste Tor hat auf Seiten der Angreifer Tydeus zugewiesen bekommen. Er brennt darauf loszustürmen (A. Th. 377–378, 391–394) und schreckt nicht davor zurück, den Seher Amphiaraos, der ihn noch zurückhält, zu beschimpfen (A. Th. 378–383). Sein Schildzeichen ist ὑπέρϕρον, es zeigt mit Mond und Sternen einen Nachthimmel (A. Th. 385–390).18 Eteokles wendet das Bedrohliche des Schildzeichens in seiner Antwort geschickt gegen den Träger selbst, mit dem Wunsch, die Nacht möge sich über seine Augen senken (A. Th. 400–406). Tydeus’ Himmel will er zur Verteidigung die Stärke von Melanippos’ Erdverbundenheit entgegenstellen: ἐγὼ δὲ Τυδεῖ κεδνὸν ᾿Αστακοῦ τόκον τῶνδ’ ἀντιτάξω προστάτην πυλωμάτων, μάλ’ εὐγενῆ τε καὶ τόν Αἰσχύνης θρόνον τιμῶντα καὶ στυγοῦνθ’ ὑπέρϕρονας λόγους. αἰσχρῶν γὰρ ἀργός, μὴ κακὸς δ’ εἶναι ϕιλεῖ. σπαρτῶν δ’ ἀπ’ ἀνδρῶν, ὧν ῎Αρης ἐϕείσατο, ῥίζωμ’ ἀνεῖται, κάρτα δ’ ἔστ’ ἐγχώριος, Μελάνιππος· ἔργον δ’ ἐν κύβοις ῎Αρης κρινεῖ· Δίκη δ’ ὁμαίμων κάρτα νιν προστέλλεται εἴργειν τεκούσηι μητρὶ πολέμιον δόρυ. (A. Th. 407–416) Doch will ich Tydeus, dieses Tor zu schützen, hier den wackren Sohn des Astakos entgegenstellen, der sehr εὐγενής ist und der Achtung vor dem Thron der Ehre und Haß auf übermütiges Geschwätz vereint. Er meidet Schande, und er liebt die Feigheit nicht. Von jenen Sparten, die einst Ares schonte, stammt er ab, ein wahrhaft echter Eingeborener, 17

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Wann Eteokles die Verteidiger bestimmt, ist in der Forschung umstritten. In V. 281 geht Eteokles mit der Ankündigung ab, sechs Verteidiger und sich selbst als siebten an den Toren Thebens aufstellen zu wollen. Mit V. 374 tritt er wieder auf und antwortet dem Boten auf seinen Bericht. Fraglich ist, ob Eteokles die Verteidiger bereits postiert hat (so z. B. Wolff (1958) 91–95, Herington (1986) 84–85), ob er die Verteidiger im Verlauf der Szene bestimmt (so z. B. von Fritz (1962) 201–205, Taplin (1977) 152–156, Poochigian (2008)) oder ob er womöglich bereits mit ihrer Aufstellung begonnen hatte, dann aber unterbrochen wurde, so daß ein Teil der Verteidiger schon steht, ein anderer noch zu bestimmen ist (so z. B. von Wilamowitz (1914b) 61–62, 76–77, Lesky (1961) 6–8). Die Unklarheit entsteht durch den uneinheitlichen Tempusgebrauch der Szene mit Futur, Präsens, Perfekt und Optativ. Am plausibelsten ist die zweite Möglichkeit. Dann hat der Zuschauer den Eindruck, der Fluch erfülle sich vor seinen Augen, dann hat die Szene die Spannung, der sie entbehrte, berichtete Eteokles nur bereits Geschehenes. Mit dem Versuch, den Angreifern möglichst wirkungsvoll zu begegnen und stets den geeignetsten Verteidiger zu wählen, bereitet Eteokles unausweichlich sein eigenes Schicksal vor. Das ist seine Tragik. Zur Deutung der einzelnen Zeichen und ihrer Vernetzung mit dem Ganzen des Dramas vgl. Zeitlin (1982) 55–61.

Sieben gegen Theben

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Melanippos; den Kampf wird Ares selbst entscheiden. Ihn treibt gewiß das Recht des Blutes in den Kampf, den Feindesspeer vom Mutterlande fernzuhalten.

Melanippos ist zur Verteidigung der Stadt besonders geeignet. Drei der thebanischen Anführer sind Nachkommen der Sparten, Melanippos ist einer von ihnen, σπαρτῶν ἀπ’ ἀνδρῶν. Als Kadmos ins thebanische Land gekommen war und den dort hausenden Drachen getötet hatte, erwuchsen aus dessen Zähnen, als sie in die Erde fielen, streitlustige Menschen, die sich zunächst gegen Kadmos, dann, nachdem er einen Stein in ihre Mitte geworfen hatte, gegeneinander wandten. Sie töteten einander, lediglich fünf blieben am Leben, ὧν ῎Αρης ἐϕείσατο, gründeten Familien und bildeten so die erste Bevölkerung Thebens. Ihre Nachkommen sind ihrer Heimaterde natürlicherweise in hohem Maße verbunden, sie sind ihr eingeboren, κάρτα ἔστ’ ἐγχώριος. Ihre Autochthonie läßt sie entschiedener gegen mögliche Angreifer vorgehen, weil sie mit dem Land gleichsam ihre Mutter schützen, τεκούσηι μητρί.19 Melanippos wird also im eigentlichen Wortsinn εὐγενής genannt, seine Wohlgeborenheit bezeichnet die Besonderheit seiner Herkunft.20 19

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Schol. ad 413. Das Bild der Gesäten, der Samen, die wie Getreide von der Erde als Mutter genährt werden, ist Ausdruck der damit verbundenen Verpflichtung. Eteokles ermahnt die Bürger von Theben, sie seien nun reif, ihr Land zum Dank für die Aufzucht zu verteidigen: ὑμᾶς δὲ χρὴ νῦν, καὶ τὸν ἐλλείποντ’ ἔτι / ἥβης ἀκμαίας καὶ τὸν ἔξηβον χρόνωι / βλαστημὸν ἀλδαίνοντα σώματος πόλυν,  / ὤραν ἔχονθ’ ἕκαστον ὥς τι συμπρεπές  / πόληι τ’ ἀρήγειν καί θεῶν ἐγχωρίων / βωμοῖσι, τιμὰς μὴ ’ξαλειϕθῆναί ποτε, / τέκνοις τε, Γῆι τε μητρί, ϕιλτάτηι τροϕῶι·  / ἣ γὰρ νέους ἕρποντας εὐμενεῖ πέδωι,  / ἅπαντα πανδοκοῦσα παιδείας ὄτλον,  / ἐθρέψατ’ οἰκιστῆρας ἀσπιδηϕόρους  / πιστοὺς ὅπως γένοισθε πρὸς χρέος τόδε (A. Th. 10–20). Doch ihr müßt jetzt – ob ihr das Waffenalter noch / nicht ganz erreicht, ob ihr es überschritten habt –, / ihr müßt jetzt eurem Körper kraftvoll Schwung verleihen, / und zwar ein jeder, wie es seinem Alter ziemt, / und helfen unsrem Staate, den Altären auch / der Landesgötter – niemals darf ihr Kult erlöschen! –, / den Kindern und der Mutter Erde, die uns gütig / umhegt; sie trug die ganze Bürde der Erziehung, / als ihr, noch klein, auf ihrem trauten Boden krochet, / und zog euch zu Bewohnern auf, die ihren Schild / in Treue tragen; dieser Pflicht sollt ihr genügen, vgl. Cameron (1971) 85–86 und 92–94, Thalmann (1978) 42–43. – In eben diesem Punkt frevelt Polyneikes, der nicht eine beliebige Stadt belagert, sondern seine eigene Heimatstadt angreift. Amphiaraos spricht dies deutlich aus: ἦ τοῖον ἔργον καὶ θεοῖσι προσϕιλές  / καλόν τ’ ἀκοῦσαι καὶ λέγειν μεθυστέροις,  / πόλιν πατρώιαν καὶ θεοὺς τοὺς ἐγγενεῖς / πορθεῖν, στράτευμ’ ἐπακτὸν ἐμβεβληκότα; / μητρός τε πηγὴν τίς κατασβέσει δίκη, / πατρίς τε γαῖα σῆς ὑπὸ σπουδῆς δορί / ἁλοῦσα πῶς σοι ξύμμαχος γενήσεται; (A. Th. 580–586) Ist solche Tat den Göttern wohlgefällig und / für Ohr und Mund der Nachwelt Gegenstand des Ruhms, / die Vaterstadt, die angestammten Götter zu / vernichten durch den Einfall eines fremden Heeres? / Welch Recht erlaubt, die Mutterquelle auszulöschen? / Wie soll das Vaterland, von deinem Speer bezwungen, / als Kampfgenosse jemals dir zur Seite stehn? Die lebenspendenden Elemente, denen ein Mensch auf seinem Lebensweg begegnet, strebt Polyneikes zu vernichten. – Generell läßt sich beobachten, daß im Lauf des 5. Jh. Termini aus dem Bereich des οἶκος Eingang in die Ideologie der demokratischen Polis finden. Die Stadt als Vater/Mutter ernährt ihre Bürger, ihre Kinder, und ein Angriff auf die eigene Stadt gilt als Vatermord. Diese emotional und moralisch aufgeladene Begrifflichkeit spiegelt möglicherweise konkurrierende Forderungen der demokratischen Polis und des traditionellen οἶκος, so Goldhill (1990b) 112. Der Charakter von Melanippos’ εὐγένεια bindet diese jedoch zugleich in die politische Gemeinschaft ein. Die Embleme auf Tydeus’ Schild lassen sich „monarchisch“ lesen (vgl. ausführlich Zeitlin (1982) 57–61). Sein Zeichen wird dominiert vom zentralen Mond, er

72 Aischylos

Mit Melanippos’ Autochthonie ist eine Blutsverwandtschaft mit Δίκη verbunden. Sein Tun ist von vornherein als recht und erfolgreich bestimmt.21 Mit Δίκη ὁμαίμων besitzt Melanippos eine segensreiche Verwandte und steht damit im Kontrast zu den Brüdern Eteokles und Polyneikes, die an zweien der drei anderen Stellen, an denen in den Sieben ὁμαίμων/ὅμαιμος gebraucht wird, so heißen.22 Sie gleichen einander nicht nur im Blut, sondern sie führen dieselbe furchtbare Tat aus und erleiden zur selben Zeit dasselbe Schicksal. Ihre Eigenschaft ὁμαίμων/ὅμαιμος steht damit in engem Zusammenhang mit dem gegenseitigen Brudermord; indem sie im Kampf mit dem Bruder ihr eigenes Blut vergießen, verwandelt sich der Brudermord gleichsam in einen Selbstmord. Zweimal nennt der Chor die Brüder ὅμαιμος; zuerst, als Eteokles vernommen hat, daß sein Bruder ihn am siebten Tor erwartet und darauf besteht, ihm gegenüberzutreten. Der Chor versucht, ihn davon abzuhalten. Es sei genug, daß Thebaner den Argivern begegneten, sie könnten sich von dem Blut, das sie vergössen, reinigen, anders stehe es bei Eteokles und Polyneikes: ἀνδροῖν δ’ ὁμαίμοιν θάνατος ὧδ’ αὐτοκτόνος, / οὐκ ἔστι γῆρας τοῦδε τοῦ μιάσματος (A. Th. 681–682). Doch ereilt blutsgleiche Männer auf diese Weise ein Tod, der αὐτοκτόνος ist, / das ist ein Schandfleck, den die Zeit nie tilgen wird. Aischylos spielt damit, daß das Griechische sprachlich nicht zwischen Gewalt gegen sich selbst und gegen Verwandte unterscheidet. αὐτο- kann in den entsprechenden Zusammensetzungen immer beides bedeuten.23 Indem der Bruder den Bruder tötet, bringt er sich selbst um; und da es ein Wechselmord ist, werden tatsächlich beide tot sein, beide sind Sieger und Verlierer. Der Chor beklagt die toten Brüder und nennt sie wieder ὅμαιμος. Im Tod erfüllt sich ihr Attribut erst eigentlich, ihr Blut ist eins geworden: πέπαυται δ’ ἔχθος, ἐν δὲ γαίαι / ζόα ϕονορύτωι / μέμικται· κάρτα δ’ εἴσ’ ὅμαιμοι (A. Th. 937–940). Gelöscht ist ihr Haß, in der vom Blut / überströmten Erde verschmolz ihr Leben; / jetzt sind sie wahrlich Geschwister. Im Schoß der Mutter Erde sind sie nun vereint, und beide haben ihren Teil an ihr, wie Oidipus’ Fluch es wollte. Der Gegensatz zwischen den mit ὁμαίμων verbundenen Assoziationen ist groß. Melanippos verteidigt die Quelle seines Blutes, die Erde, aus der seine Vorväter entstanden sind; ὁμαίμων steht hier für eine Verpflichtung, der er

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steht am ersten Tor, er stellt sich gegen das Normale und überschreitet es; die Symbolik von Tydeus’ Schildzeichen zielt damit auf eine Dominanz des Kosmos hin. Dagegen verkörpert Melanippos als Nachkomme eines Sparten, der von Ares verschont wurde, um die Stadt zu bevölkern, die er nun verteidigt, eine politische Ordnung der Gemeinschaft, die im Ursprungsmythos der Stadt verwurzelt ist (so Zeitlin (1982) 62). Vgl. Lupaş/Petre (1981) 137–139 (ad 412–416). Dagegen versteht Wilkens (1969) ὁμαίμων als Genetiv Plural, den er auf προστέλλεται bezieht: Dike gebe Melanippus eine Vorrangstellung vor seinen Mitbürgern. – Auch Polyneikes fühlt sich Δίκη verbunden, er führt ihr Bild auf seinem Schild. Eteokles spricht ihm jegliche Δίκη ab und beansprucht ihren Beistand für sich selbst. Zeitlin (1982) 138–144 verweist auf den Ausgang des Zweikampfs: Keiner von beiden kann Δίκη sein Leben verdanken; die Δίκη des väterlichen Fluchs ist es, die Polyneikes zurückgebracht, die Brüder zusammengeführt und beide vernichtet hat. A. Th. 351 (nicht von den Brüdern), 681, 940. Vgl. Lupaş/Petre (1982) 138 (ad 421–416), Zeitlin (1982) 62. Vgl. Gernet (1955) 29–38, v. a. 29–33. Vgl. auch A. Eu. 212 ὅμαιμος αὐθέντης ϕόνος. Hier verfließen ὅμαιμος und αὐθέντης zu einem Ausdruck, Gernet (1955) 32.

Sieben gegen Theben

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willig und erfolgreich nachkommt. Wie das Land ihn aufzog, so leiht er ihm, erwachsen, seinen Arm. Sein Geschlecht steht (zusammen mit den Familien der vier anderen überlebenden Sparten) für die Stadt, ist Glück und Rettung der Stadt. Ganz anders die Söhne des Oidipus: Bei ihnen verweist das Prädikat auf das Fürchterliche des Brudermords, das Vergießen eigenen Bluts, das noch entsetzlicher dadurch wird, daß sie beide danach gieren.24 Und bei ihnen klingt noch anderes an, die unnatürliche Vermischung der Generationen, die durch den väterlichen Inzest verursacht ist.25 Eteokles und Polyneikes sind Brüder ihres Vaters, und so schwingt im Brudermord ein Vatermord mit.26 Das Geschlecht der Brüder steht in Opposition zur Stadt und ist, weil sie als Herrscher eng mit ihr verknüpft sind, eine Bedrohung für sie. Durch das Auslöschen des γένος wird die πόλις bewahrt.27 Die Herkunft, die für Melanippos eine Ehre darstellt, ist für Oidipus’ Söhne eine Schande und Ursache ihres Ungücks. Melanippos’ Wert als Verteidiger der Stadt begründet neben der Abstammung sein Wesen, mit dem er im Gegensatz zu Tydeus steht. Er zeichnet sich durch Scham und Bescheidenheit aus. τὸν Αἰσχύνης θρόνον  / τιμῶντα und αἰσχρῶν ἀργός sowie seine Entschlossenheit, nicht feige zu sein, μὴ κακός,

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A. Th. 631–641, 672–719. Vgl. auch Pers. 742 ἀλλ’ ὅταν σπεύδηι τις αὐτός, χὠ θεὸς ξυνάπτεται. Doch bemüht ein Mensch sich eifrig selbst, greift auch der Gott mit ein: Die Gier der Brüder nach dem Zweikampf ist ein Zeichen für den Untergang des Hauses. – Parker (2009) 141 weist auf die Analyse göttlicher Strafe durch Plutarch (Plu. Moralia 562e-563b) hin, wonach nur Kinder schlechter Eltern, die sich auch selbst als schlecht erweisen, bestraft würden, während unverdorbene Nachkommen verschont würden; Eteokles wäre ein Beispiel für den ersten, Orestes für den zweiten Fall. Rader (2009) betont die Verflechtung von Autochthonie und Inzest in der Figur des Eteokles. Vatermord und Ehe mit der Mutter sind ursprüngliche Motive des Mythos, doch in der epischen und lyrischen Tradition heiratet Oidipus nach Entdeckung des Inzests und Iokastes Selbstmord ein zweites Mal und bleibt Herrscher von Theben (Il. 4, 376–379; 405–409; 23, 679–680; Od. 11, 271–279; Hes. Op. 161–165; Th. 326; Oidipodeia fr. 2 Davies; Thebais fr. 2; 3 Davies; Pi. O. 2, 38–42; N. 9, 18–28; O. 6, 12–17; P. Lille 73; 76), vgl. Baldry (1956) 25–29, March (1987) 121–133, Burkert (1981) 30–34, Müller-Goldingen (1985) 14–28. Erst bei Aischylos entspringen die vier Kinder der Verbindung mit der Mutter, der Inzest ist damit ein größerer Frevel als zuvor und ist Anlaß für Oidipus’ Entmachtung, Blendung und Verfluchung der Söhne (zur Deutung von A. Th. 778–787 vgl. West (1990) 116–118, Hutchinson (1985) 171–172 (ad 778 f.–ad 787)). A. Th. 926–932 wird die Art der Geburt der Brüder explizit mit der Art ihres Todes verbunden: δυσδαίμων σϕιν ἁ τεκοῦσα  / πρὸ πασᾶν γυναικῶν / ὁπόσαι τεκνογόνοι κέκληνται· / παῖδα τὸν αὐτᾶς πόσιν αὐτὰ / θεμένα τούσδ’ ἔτεχ’, οἳ δ’ ὧδ’ / ἔτελεύτασαν ὑπ’ ἀλλα/λοϕόνοις χερσὶν ὁμοσπόροισιν. Unglücklich jene, die sie gebar, / unter all den Frauen, / die Mütter heißen. / Sie nahm ihren eigenen / Sohn zum Gemahl / und brachte die Männer zur Welt, / die derart ihr Ende gefunden – von gegenseitig / sich mordender Bruderhand, vgl. March (1987) 143. Vgl. auch Zeitlin (1990a) 148, Burkert (2000) 11–16. Im Handeln der Brüder wiederholen sich die Taten der früheren Generationen der Familie. Sie wollen einander vertreiben, wie Laios Oidipus aussetzte. Sie erschlagen einander, weil sie nach ihres Vaters Herrschaft und dem Besitz ihrer Mutter Erde streben, wie dieser seinen Vater erschlug, ihm als König nachfolgte, seine Mutter zur Frau nahm und sich nach der Aufdeckung des Inzests blendete, vgl. Cameron (1971) 87–89, Zeitlin (1982) 20. Zum Verhältnis von Genos und Stadt vgl. auch Föllinger (2003) 172–179.

74 Aischylos

erinnern an die für den homerischen Menschen so wichtige αἰδώς-Konzeption28 und die Verbindung von Herkunft und Ehre, die in den Persern als Ideal postuliert wird, sich aber für die jungen Adligen bei Psyttaleia nicht erfüllt hat. Melanippos genügt einem umfassenden Anspruch an den heroischen Menschen, seine edle Herkunft ist mit sittlich-moralischen Vorzügen verbunden.29 In den Sieben wird mit der εὐγένεια in besonderer Weise gespielt. Es bezeichnet die Autochthonie der Sparten und ihre außergewöhnliche Verbundenheit mit der Erde. Über den damit verknüpften Begriff der Blutsverwandtschaft (ὅμαιμος) entsteht ein Gegensatz zu den Brüdern Eteokles und Polyneikes, die zwar wie Melanippos aus einem autochthonen Hause stammen, aber anders als Melanippos nicht die δίκη auf ihrer Seite haben. Die Autochthonie als besondere Form der εὐγένεια erscheint einige Jahrzehnte später in Euripides’ Ion, wo sich die Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander schärfer fassen lassen.

3.3

Orestie

Einem der fünf Belege für εὐγεν-/γεν- in der Orestie sind wir bereits begegnet. Kassandras Seufzer angesichts von Priamos’ Schicksal und dem seiner edlen 28

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Vgl. oben zu Homer. Für Groeneboom (1966a) 157 (ad loc.) gehört αἰδώς automatisch zur edlen Herkunft. Vgl. auch Winnington-Ingram (1983) 29–31. Αἰδώς findet sich bereits Hes. Op. 200 in personifizierter Form, vgl. Hutchinson (1985) 111–112 (ad loc.). Bees (2009) 88 verweist auf den religiösen Aspekt der αἰδώς, die Ehrfurcht vor den Göttern. Zu den homerischen Szenen, die den Sieben zugrundeliegen, vgl. Zimmermann (2004b). – Auch Eteokles richtet sein Handeln an heroischen Werten wie τιμή und αἰδώς aus, vgl. Cairns (1993) 181–183. Er ist nicht vom Zweikampf mit seinem Bruder abzubringen, weil er den Vorwurf der Feigheit fürchtet: ΧΟ. ἀνδροῖν δ’ ὁμαίμοιν θάνατος ὧδ’ αὐτοκτόνος, / οὐκ ἔστι γῆρας τοῦδε τοῦ μιάσματος. / ΕΤ. εἴπερ κακὸν ϕέροι τις, αἰσχύνης ἄτερ  / ἔστω; μόνον γὰρ κέρδος ἐν τεθνηκόσιν· / κακῶν δὲ καἰσχρῶν οὔτιν’ εὐκλείαν ἐρεῖς (A. Th. 681–685) CH. Doch geben Brüder gegenseitig sich den Tod, / das ist ein Schandfleck, den die Zeit nie tilgen wird. ET. Wenn man schon Unglück trägt, so sei es ohne Schande. So bleibt Gewinn bloß in dem Kreis der Toten; Unglück, / das sich mit Schande paart, wird man doch niemals rühmen. Der Chor stellt ihm warnend die Befleckung des Brudermords vor Augen, doch Eteokles nimmt den Kontext nicht wahr und wandelt den Gedanken in die Schande um, nicht anzutreten. Er erkennt nicht, daß er sich, während er um seine Ehre als Krieger besorgt ist, eine noch größere Schande als Mensch und Bruder auflädt, und er übersieht, daß eben die, denen er einen potentiellen Nachruhm zu verdanken hätte, nämlich seine Mitmenschen, ihm von dem Schritt abraten, weil sie ihn gerade nicht als rühmlich einschätzen. Eteokles’ Alternative ist nicht dieselbe, vor die Achilleus gestellt ist. Nicht zwischen ruhmlos leben oder ruhmvoll sterben hat Eteokles zu wählen, sondern zwischen ruhmlos leben oder den Bruder töten. Hier ist es nicht mit dem Vermeiden eines ruhmlosen Lebens getan. Zum Verhältnis von Eteokles und Chor vgl. Zimmermann (2002a) 121–123, der zeigt, wie der Chor die Rolle von Eteokles’ Antagonisten einnimmt; er gewinnt seine Autorität aus dem Rollenwechsel, der sich in der Anrede τέκνον (A. Th. 686) manifestiert, und aus dem anfänglichen Oszillieren des Chores zwischen einem tragischen und einem chorlyrischen Charakter, die dann zunehmend konvergieren. Zum aischyleischen Chor zuletzt Gruber (2009). Dagegen weiß die Überlieferung von einem Akt besonderer Hybris durch Tydeus. Nach Melanippos’ Tod schlürft er dessen Hirn aus (z. B. Apollod. 3, 6, 8).

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Kinder ließ sich mit der Verwendung von εὐγενής in den Persern verbinden. Von den übrigen vier Stellen seien hier drei weitere behandelt, die in ihrer Beziehung zueinander zu lesen sind. Sowohl Klytaimestra als auch Agamemnon werden εὐγενής/γενναῖος genannt; um diese Zuschreibungen beurteilen zu können, ist es erforderlich, die Charakterisierung beider und ihre Bewertung nicht nur im engeren Umkreis der Belege, sondern in der Trilogie insgesamt zu untersuchen.

3.3.1 Klytaimestra Der Prolog des Wächters auf dem Dach exponiert wesentliche Aspekte der Handlung. Nacht für Nacht hält er, auf dem Haus der Atriden liegend, nach dem Feuerzeichen Ausschau, das den Fall Trojas meldet. So hat es die Herrin des Hauses angeordnet (A. A. 1–11). Just in diesem Augenblick erscheint die ersehnte Flamme, und der Wächter tritt ab, um Klytaimestra davon in Kenntnis zu setzen (A. A. 22–31). Seine Worte deuten darüber hinaus das Kommende an. Klytaimestra, die hier noch nicht namentlich genannt ist, habe ein ἀνδρόβουλον κέαρ (A. A. 11), der Wächter beklagt des Hauses Unglück (A. A. 18–21), ohne jedoch deutlicher zu werden (A. A. 36–39).30 Er hofft, bald die geliebte Hand des Herrn wieder fassen zu dürfen (A. A. 34–35). Der Chor berichtet in der Parodos klagend von dem Zug gegen Troja, seinem Zustandekommen, dem Preis, den Agamemnon zu entrichten hatte, und der Hoffnung auf ein baldiges Ende. Erst als Agamemnons Bote den Sieg bestätigt, schenken die Alten der Kunde vom Fall Trojas ihren Glauben (A. A. 583). Da tritt Klytaimestra wieder auf und stellt zunächst triumphierend fest, daß die nächtlichen Fackeln zuverlässige Boten gewesen seien – nachdem man sie wegen ihrer scheinbaren weiblichen Leichtgläubigkeit verspottet hatte (A. A. 587–598).31 Was Klytaimestra dann über den Empfang ihres Gatten sagt, enthält für den wissenden Zuschauer eine zweite Bedeutungsebene. Möglichst schnell wolle sie ihren Gemahl empfangen, denn was sei süßer, als dem Heimkehrenden die Tore zu öffnen? Er werde bereits sehnlichst erwartet (A. A. 600–605). Freilich erwartet sie ihn sehnlich und wünscht seine baldige Rückkehr, denn um so eher kann sie ihm des Hades Tore öffnen und Rache nehmen.32 Im Haus selbst sei alles aufs beste bestellt: γυναῖκα πιστὴν δ’ ἐν δόμοις εὕροι μολών οἵανπερ οὖν ἔλειπε, δωμάτων κύνα ἐσθλὴν ἐκείνωι, πολεμίαν τοῖς δύσϕροσιν, καὶ τἄλλ’ ὁμοίαν πάντα, σημαντήριον οὐδὲν διαϕθείρασαν ἐν μήκει χρόνου· 30

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Griffith (1995) 80 weist darauf hin, daß die Andeutungen und Wertungen des Wächters die Einstellung des Publikums von Anfang an lenken. Klytaimestra scheint während des ganzen Dramas dem männlichen Vorurteil entgegenzuarbeiten, daß Frauen dumm seien, so z. B. A. A. 348, 590–592, 1401, vgl. Sommerstein (1996) 257–258. Im selben Sinne, doch deutlicher nennt später Kassandra die Tore des Palasts Ἅιδου πύλας (A. A. 1291) Tore zum Hades. Vgl. auch A. A. 1385, wo Klytaimestra in den Handschriften FGT ihre Tat als χάρις gegenüber Hades begreift.

76 Aischylos οὐδ’ οἶδα τέρψιν οὐδ’ ἐπίψογον ϕάτιν ἄλλου πρὸς ἀνδρὸς μᾶλλον ἢ χαλκοῦ βαϕάς. τοιόσδ’ ὁ κόμπος, τῆς ἀληθείας γέμων, οὐκ αἰσχρὸς ὡς γυναικὶ γενναίαι λακεῖν. (A. A. 606–614) Im Haus wird seine Frau er finden, zuverlässig, wie er sie einst verließ, des Hauses Hund; ihm selbst ergeben, zeigt sie sich den Bösgesinnten feind und blieb auch sonst in allem gleich, hat keineswegs ein Siegel angetastet in der langen Zeit. Vergnügen, schlechter Ruf durch Spiel mit fremden Männern, das liegt so fern mir wie die Kunst, den Stahl zu härten. Das ist mein Stolz, voller Wahrheit, nicht schändlich, für eine Frau, die γενναία ist, laut zu verkünden.

Klytaimestras Rede ist ironisch; dies hat eine starke Wirkung auf unsere Wahrnehmung und Beurteilung ihrer Person. Bevor ich mich der Bedeutung von γενναῖος in dieser Passage zuwende, möchte ich daher kurz die Ironie dieses Abschnitts beleuchten. Der unwissende Bote und der unwissende Empfänger der Nachricht, Agamemnon, vernehmen, daß die Gattin seine Angelegenheiten während seiner Abwesenheit vorbildlich und erwartungsgemäß verwaltet habe, die eigentliche Bedeutung der Worte bleibt ihnen verborgen. Als züchtige Ehefrau habe sie sein Gut unangetastet gehütet, gegen Feinde geschützt und ihre eigene Unschuld bewahrt. Der Chor und der Zuschauer verstehen mehr. γυναῖκα πιστὴν δ’ ἐν δόμοις εὕροι μολών / οἵανπερ οὖν ἔλειπε – treu ist sie zehn Jahre lang geblieben, treu ihrem Haß und dem Wunsch, für den Tod der Tochter Rache zu nehmen. δωμάτων κύνα / ἐσθλὴν ἐκείνωι – was für ein Hund war sie: ein Wachhund für Agamemnons Haus oder eine unzüchtige Hündin in Aigisthos’ Bett?33 πολεμίαν τοῖς δύσϕροσιν – wen sie als ihren Feind betrachtet, weiß Agamemnon freilich nicht. οὐδ’ οἶδα τέρψιν οὐδ’ ἐπίψογον ϕάτιν / ἄλλου πρὸς ἀνδρὸς μᾶλλον ἢ χαλκοῦ βαϕάς – Sie kennt die Freuden nur eines Mannes, des Aigisthos, und wie trefflich sie den Dolch ins Blut zu tauchen versteht, wird sie bald beweisen.34 33 34

Vgl. A. A. 1228, wo Klytaimestra von Kassandra als Hündin tituliert wird. Womit Klytaimestra ihre angebliche eheliche Treue genau vergleicht, ist unklar. χαλκοῦ βαϕαί könnte sich entweder auf das Temperieren von Metallen bei ihrer Bearbeitung beziehen, eine Technik, die allerdings nur für das Eisen belegt ist, oder auf das Färben von Bronze, was für Aischylos’ Zeit noch nicht bezeugt ist. Entweder vergleicht Klytaimestra also ihre Unkenntnis fremder Liebesfreuden mit ihrer Unkenntnis einer unbekannten Technik, also einer Unmöglichkeit, oder, Bronze für Metall einsetzend, mit einer Technik, die sie als Frau nicht kennen kann, vgl. Fraenkel (1950) 304–305, Judet de La Combe (2001) 235 (ad 611–612). In jedem Fall betont Klytaimestra damit, wie unwahrscheinlich, ja, unmöglich es ist, daß sie Agamemnon irgendwie hätte untreu sein können. Judet de La Combe (2001) 235–236 (ad 611–612) nennt eine Passage, in der von einer leuchtenden Rotfärbung von Bronze die Rede sei (Paus. 2, 3, 3 καὶ τὸν Κορίνθιον χαλκὸν διάπυρον καὶ θερμὸν ὄντα ὑπὸ ὕδατος τούτου βάπτεσθαι λέγουσιν, ἐπεὶ χαλκός γε οὐκ ἔστι Κορινθίοις). Man sagt, daß das Korinthische Erz glühend und heiß in diesem Wasser gefärbt werde, weil die Korinther kein Erz haben. Das Zeugnis ist freilich spät, gleichwohl attraktiv. Die rote Farbe spricht für eine Anspielung auf den Mord – eine weitere Zweideutigkeit. (Allerdings ist umstritten, ob

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Klytaimestras Rede ist durch ein hohes Maß an Ironie geprägt.35 Die vorliegende Passage läßt sich durch die sogenannte „Rhetorische“ und die „Dramatische Ironie“ beschreiben. Der Gedanke der Dramatischen Ironie faßt die Zweideutigkeit der Rede. Die Zuschauer wissen etwas, was mindestens ein Charakter auf der Bühne nicht weiß,36 hier ist der Bote unwissend und mit ihm Agamemnon, teilweise auch der Chor. Die Hörer außer dem Boten, die Klytaimestras Lebenswandel kennen, wissen, wie die Worte von ihrer ehelichen Treue zu deuten sind, das Publikum weiß außerdem, daß Agamemnon bald darauf ermordet werden wird. Im Verlauf des Dramas wird die bevorstehende Katastrophe immer wieder in ironischer Form vorweggenommen, in den Worten des Wächters, des Chors, des Boten.37 Klytaimestras Rede unterscheidet sich davon in einem wichtigen Punkt und wird damit zur Rhetorischen Ironie: Sie ist sich der Zweideutigkeit ihrer Worte wohl bewußt, mehr noch, die Ambiguität ist intendiert. Mit Freude läßt sie offensichtlich die Katastrophe lebendig werden.38 Klytaimestras Verletzung der „Aufrichtigkeitsmaxime“39 soll vom Hörer wahrgenommen werden. Das unterscheidet die Rhetorische Ironie von der Lüge. Dem Boten gegenüber sind Klytaimestras Worte geheuchelt, er soll und kann nichts merken; das ist notwendig für das Gelingen des Hinter-

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Pausanias βάπτεσθαι hier tatsächlich im Sinne von „färben“ gebraucht oder vielleicht nur vom Temperieren des Metalls spricht, vgl. Frazer (1898) 24–25 (ad 2, 3, 2 und 2, 3, 3, färben), Hitzig (1899) 498 (ad S. 388, 20, temperieren).) Ferner mag das Verb λάσκειν in V. 614 ein Anklang an das Bevorstehende sein. Il. 14, 25 λάκε δέ σϕι περὶ χροῒ χαλκὸς ἀτειρής, und es krachte ihnen am Leib das Erz, das unaufreibbare, und 20, 277 bedeutet es „krachen“ und erinnert damit an den Schlag mit der Axt, den Klytaimestra plant, vgl. Markantonatos (1979) 63. Winnington-Ingram (1983) 104 bemerkt treffend, Klytaimestra beweise ihre angebliche Unschuld (eheliche Treue) durch angebliche Unschuld (Mordwaffe). Zur Deutung der hintergründigen Anspielungen vgl. auch Markantonatos (1979) 61–63, Garzya (1997) 38. „Ironie“ ist ein vielfältiges, uneinheitliches Phänomen, das in vielerlei Kategorien unterteilt wird, vgl. hierzu Nünlist (2000) 67–71. Ich beschränke mich im folgenden auf die für Klytaimestras Äußerungen relevanten Formen der „Rhetorischen“ und „Dramatischen Ironie“. Die mögliche Inkongruenz von Wort und Sache, die Doppeldeutigkeit von Aussagen ist dem antiken Ohr vom Orakelwesen her vertraut, ihr bewußter Gebrauch hat das Interesse vor allem der Vorsokratiker geweckt, vgl. Reinhardt (1949) 95, Rosenmeyer (1955) 225–232. Vgl. van Erp Taalmann Kip (1990) 73, Nünlist (2000) 83. Nünlist (2000) 85 hält den Begriff der Ironie im Fall der Dramatischen Ironie für problematisch und möchte lieber von einem „pathetischen Kontrast“ sprechen. So spricht z. B. der Chor A. A. 787–798 von der Neigung mancher Menschen, Sympathie zu heucheln, weil sie sich davon einen Vorteil versprechen. Agamemnon werde freilich bald wissen, wer seiner Untertanen ihm wirklich treu geblieben sei (A. A. 799–804). Die explizite Schein-Sein-Antithese ist in der ersten Hälfte des 5. Jh. noch ungewöhnlich, sie begegnet bei Aischylos auch schon in der Beschreibung von Amphiaraos’ Schild (A. Th. 592). Vgl. auch Poli Palladini (2001) 445, 451–455. Vgl. Conacher (1987) 32–33, Vellacott (1984) 67. Schon in ihrer ersten Rede begegnen wir einer zweiten Bedeutungsebene. A. A. 340–347 ist vordergründig auf die Trojaner bezogen, kann aber auch von Iphigenie gesagt sein, vgl. Vickers (1973) 358. Makaber wird die Ambiguität in Klytaimestras nächster Rede (A. A. 855–910), wo sie in betont harmlosem Zusammenhang die blutigsten Ereignisse ankündigt, vgl. Conacher (1987) 35–36. Zum Begriff vgl. Nünlist (2000) 75.

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halts. Der Chor und die Zuschauer aber nehmen Klytaimestras Unaufrichtigkeit wahr, ihre Unruhe wächst. Eingeführt worden war Klytaimestra als Frau mit einem ἀνδρόβουλον κέαρ, worin dreierlei Bedeutungen anklingen.40 Sie denkt und plant wie ein Mann, sie will einen Mann und sie stellt einem Mann nach.41 Zwei der Aspekte, ihr männliches Auftreten und ihr Hinterhalt, beherrschen das Drama. Ihr Verlangen nach Aigisthos bleibt als Mitursache für die Ereignisse mehr im Hintergrund. Sie gibt aber Befehle, sie herrscht, sie erscheint in der Öffentlichkeit, ergreift das Wort und holt sich eine „Frau“42 an ihre Seite, Klytaimestra ist es, die den Mord plant und ausführt. Ihre Rede, die sie hier vor dem Boten und dem Chor hält, ist Ausdruck ihres ἀνδρόβουλον κέαρ. Sie handelt wie ein Mann, wenn sie öffentlich auftritt und selbstbewußt spricht. Die einzige Form der Äußerung, die den Frauen in der Öffentlichkeit gestattet war, war der Klagegesang.43 Klytaimestra aber bedient sich der den Männern vorbehaltenen Rede. Ihre Begierde nach einem Mann ist angedeutet, wenn sie die Möglichkeit ehelicher Untreue scheinbar leugnet, um im selben Atemzug auf den Hinterhalt zu verweisen, den sie einem Mann gerade stellt. Ihre Nachstellung und List ist gleichzeitig durch die Ambiguität der Rede spürbar. Darin ist sie wiederum ganz Frau. Sie ge-

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Die Problematik der Geschlechter in der Orestie ist häufig von der Forschung thematisiert worden, vgl. z. B. Grossmann (1970) 226–228, Gagarin (1976) 87–105, Zeitlin (1978), Winnington-Ingram (1983) 101–131, Sommerstein (1996) 255–273, allgemein zur Rolle der Geschlechter in der griechischen Tragödie vgl. Foley (1981), Zeitlin (1990b). Vgl. Sommerstein (1996) 256. Aigisthos wird als weibisch und schwach charakterisiert, A. A. 1625–1648, vgl. Sommerstein (1996) 263–264. Möglicherweise entwickelte sich der Epitaphios Logos auch aus dem Wunsch heraus, den aristokratischen Klagegesang, der den Frauen oblag, als eines Kriegers unwürdig einzudämmen, vgl. Loraux (1981) 78–82. Ähnlich klingt im thukydideischen Epitaphios an, Frauen sollten ihren Schmerz nicht zu exzessiv äußern: εἰ δέ με δεῖ καὶ γυναικείας τι ἀρετῆς, ὅσαι νῦν ἐν χηρείᾳ ἔσονται, μνησθῆναι, βραχείᾳ παραινέσει ἅπαν σημανῶ. τῆς τε γὰρ ὑπαρχούσης ϕύσεως μὴ χείροσι γενέσθαι ὑμῖν μεγάλη ἡ δόξα καὶ ἧς ἂν ἐπ’ ἐλάχιστον ἀρετῆς πέρι ἢ ψόγου ἐν τοῖς ἄρσεσι κλέος ᾖ (Th. 2, 45, 2). Wenn ich nun auch etwas zur Tugend der Frauen sagen soll, die nun Witwen sind, kann ich mit einer kurzen Ermunterung alles aussprechen. Groß wird der Ruhm sein, wenn ihr bei eurem angeborenen Wesen bleibt und von lobens- oder tadelnswertem Verhalten möglichst wenig unter den Männern geredet wird. (Interessanterweise spricht Perikles hier vom κλέος der Frauen, einem Kernbegriff der männlichen Ideologie.) Der Abschnitt wird allerdings unterschiedlich gedeutet. Strittig ist, ob die geforderte Unscheinbarkeit der Frau ganz allgemein gemeint ist oder im Rahmen der Totenrede auf das Klagen um Verstorbene zu beziehen ist, vgl. Hornblower (1991) 314 (ad loc.). In jedem Fall zeigt die Passage, daß eine Frau nicht aufzufallen hatte, wollte sie nicht als unanständig und unwürdig gelten. Wenn McClure (1997) 112 den sittlichen Anspruch, Frauen sollten nicht von sich reden machen, als eine Regel des Anstandes auf die Männer überträgt und sagt, man habe nicht über Frauen sprechen dürfen, geht sie m. E. über die Aussage der Quelle hinaus. Vor Gericht vermied man es allerdings tatsächlich, eine respektable Frau durch ihren Namen zu bezeichnen; eine züchtige Frau waltet im Hause und ist der Welt nur durch das soziale Verhältnis zu ihrem κύριος kenntlich, vgl. Schaps (1977). Zur Stellung der Frau im Athen des 5.  Jh. vgl. außerdem Gagarin (1976) 89–91.

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braucht ihre πειθώ, um den anderen mit List zu unterwerfen.44 Klytaimestra erhebt Anspruch auf den Status eines Mannes und greift, wo es ihr gelegen ist, auf weibliche Griffe zurück. So erhebt sie Anspruch auf beide φύσεις, die des Mannes und die der Frau. In den zehn Jahren von Agamemnons Abwesenheit hat sie seine Position errungen, die ihre hat Aigisthos eingenommen. Nun will sie, nur zu verständlich, nicht in ihre alte und ihr von den Konventionen her zugedachte Rolle zurückkehren.45 Klytaimestra schließt ihre Rede mit zwei Versen, die in ihrer Deutung umstritten sind.46 Sie sind voller Stolz gesprochen und sind Ausdruck des Selbstbewußtseins, das Klytaimestra die Grenzen ihres ihr als Frau zugestandenen Bereichs überschreiten läßt: τοιόσδ’ ὁ κόμπος, τῆς ἀληθείας γέμων,  / οὐκ αἰσχρὸς ὡς γυναικὶ γενναίαι λακεῖν (A. A. 613–614). Das ist mein Stolz, voller Wahrheit, / nicht schändlich, für eine Frau, die γενναία ist, laut zu verkünden. Uneindeutig sind in diesem Satz Ursache und Schlußfolgerung. Warum ist die Prahlerei für Klytaimestra keine Schande? Man möchte als Grund den Wahrheitsgehalt annehmen, doch, so wurde argumentiert und z. T. auch konjiziert,47 in diesem Falle wäre nach κόμπος ein stärkerer Einschnitt und ein τῆς δ’ zu erwarten, so daß Stolz und Wahrheit klar gegenübergestellt wären und αἰσχρός als zweites Prädikat, nicht Apposition zu κόμπος erkennbar wäre. Der Wahrheitsgehalt der Aussage, der nach dieser Lesart die Prahlerei mildert, ist jedoch unabhängig von Geschlecht oder Stand des Sprechers. Dann ließe sich ὡς γυναικὶ γενναίαι nicht sinnvoll erklären. Fraenkel nimmt Klytaimestras Adel als Begründung dafür an, daß sie die stolzen Worte sagen dürfe, als ob ihr Stand es ihr erlaubte, sich auf eine Art zu äußern, die einer anderen, einfachen Frau nicht gestattet wäre.48 Das würde bedeuten, daß für sie als Adlige ein weniger strenger Verhaltenskodex gälte als für eine Frau des Volkes. Man erwartet aber eher das Gegenteil. Vielmehr ist anzunehmen, daß die strenge Zurückhaltung, die von der griechischen Frau erwartet wurde, vor allem für die Oberschicht galt, wo die Männer wert darauf legten, daß ihr Bild und das ihrer Familien in der Öffentlichkeit keinen Schaden

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Klytaimestra spielt bewußt mit der sprachlichen Rollenverteilung; je perfekter sie sich als den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend darstellt, desto mehr täuscht sie ihre Umwelt, vgl. McClure (1997) 113–114, 115–121. List und Zweideutigkeit gelten als typisch weiblich, vgl. Bergren (1983). Insofern ist Klytaimestras Haß auf Agamemnon nicht nur durch Iphigenies Tod, Aigisthos, Chryseis und Kassandra begründet, sondern auch als Eifersucht auf Agamemnons Status als Mann zu erklären. „Die Ermordung des Agamemnon ist also eine Befreiungstat der Klytaimestra“ (Snell (1928) 122). Vgl. auch Winnington-Ingram (1983) 105–106. Die Handschriften (τ) geben die Verse dem Boten (so auch Headlam (1903) 242–244, Thomson (²1966) 55 (ad 613–616), Groeneboom (1966b) 223–234 (ad 611–614)), Hermann (1852) hat sie Klytaimestra zugewiesen, was von den meisten modernen Herausgebern übernommen worden ist. Zur Begründung vgl. Fraenkel (1950) 305–306 (ad 613–614) (ebenso Denniston/Page (1957) 126 (ad loc.)), Judet de La Combe (2001) 236–237 (ad 613–614). So z. B. von von Wilamowitz (1914a), Fraenkel (1950) in ihren Ausgaben. Dagegen Judet de La Combe (2001) 237 (ad 613). Fraenkel (1950) 306–307 (ad 613–614), ähnlich Denniston-Page (1957) 126–127 (ad loc.). Vgl. auch E. Andr. 876–878.

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nähmen, wo Einfluß, Geld und Macht von der Integrität des Hauses abhingen.49 Eine einfache Frau konnte eher tun, was ihr beliebte, sie hatte weniger auf eine (nicht vorhandene) Stellung ihrer Angehörigen Rücksicht zu nehmen. Dagegen muß die Frau des Königs peinlich auf die Regeln des Anstands achten, da ihre Familie von allen beobachtet wird. Beide Aspekte, der Wahrheitsgehalt der Prahlerei und der Adel der Sprecherin, sind in einer neueren Deutung miteinander verbunden: Eine solche Rede ist schändlich, αἰσχρός, jedenfalls für eine adlige Frau, ὡς γυναικὶ γενναίαι.50 Weil die Rede aber voll von Wahrheit ist, τῆς ἀληθείας γέμων, ist sie es doch nicht, οὐκ. Die Negation verneint in diesem Falle nicht das Wort αἰσχρός, sondern den ganzen Gedanken αἰσχρὸς ὡς γυναικὶ γενναίαι λακεῖν. In einem stolzen Ton ist Klytaimestras Rede tatsächlich gesprochen, und wahr ist sie auch, wenn auch nicht in ihrer vordergründigen Aussage. Gerade ihr Wahrheitsgehalt macht sie jedoch umso schändlicher. Daß Klytaimestra öffentlich spricht, ist unerhört, daß sie Unsittliches so wortreich äußert, ist bodenlos, daß sie aber auch noch die Unverfrorenheit besitzt, auf Tonfall, Wahrheitsgehalt, Adel und moralische Bewertung hinzuweisen, ist der Gipfel der Unanständigkeit.51 Mit diesen Worten tritt Klytaimestra ab.52 Während ihrer Anwesenheit auf der Bühne fand kein Dialog statt, nur Klytaimestra sprach, sie ist einzig für diese Rede erschienen.53 Das verleiht ihren Worten zusätzlich Nachdruck und macht ihr Auftreten noch bestimmter. Der Gedanke der edlen Herkunft ist seit Homer mit einem ganzheitlichen Anspruch verbunden. Der Adlige soll insgesamt eine würdige Erscheinung 49

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Vgl. auch Lys. 1, 2 und 4, wo Frevel und Schande der Unzucht deutlich ausgesprochen sind. In der narratio (Lys. 1, 6–29) wird ferner die Rolle der Frau anschaulich. – Klytaimestra ist freilich eine Bühnenfigur, die wir nicht ohne weiteres mit einer Frau der athenischen Oberschicht gleichsetzen können. Doch wenn man davon ausgeht, daß zeitgenössische Vorstellungen in die Charaktere der Dramen einfließen, so gelten für die Königin Klytaimestra die Regeln der Oberschicht. Judet de La Combe (2001) 238–239 (ad 614). Judet de La Combe (2001) 237–238 (ad 613) meint, Klytaimestras Rede sei wegen der Details schändlich, die zu äußern sich für sie nicht gehörten. Dafür gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt im Text. Schändlich ist ihr Auftritt, weil sie es wagt, öffentlich zu sprechen, und darüber hinaus stolze Worte wählt. Sommerstein (2002) 154–157 meint, sprachlich bewahre Klytaimestra ihre Würde bis zum Mord vollständig und spiele perfekt die treue Ehefrau. Erst danach spreche sie anders: πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων  / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι (A. A. 1372–1373). Viel sprach ich vorhin, wie die Stunde es gefordert; / jetzt darf ich ohne Scham das Gegenteil enthüllen. Nun habe sie ihre Scham abgelegt und gebrauche sogar Worte mit sexuellem Unterton, so z. B. A. A. 1389–1392, und v. a. ab A. A. 1431: 1443, 1447. In ihren beiden Abschlußversen jedoch prahlt Klytaimestra wie ein Krieger (κόμπος hat seinen Ort in der Schlacht, nicht im häuslichen Umfeld) und verweist auf ihr Geschlecht. Damit gibt Klytaimestra, sprachlich gesehen, die Illusion der treuen, pflichtbewußten Gattin auf und offenbart ihr Bild als Spiel, vgl. McClure (1997) 118–119. So Schneidewin (²1883) 71 (ad 615–616), Lawson (1932) 39, Fraenkel (1950) 310 (ad 617). Die Herausgeber sind allerdings uneins, ob Klytaimestra nach ihrer Rede tatsächlich abtritt. Denniston/Page (1957) 117 (ad 489 ff.), Conacher (1987) 34 gehen von ihrer fortgesetzten Anwesenheit aus. Ihre Gegenwart während der folgenden Szene ist jedoch gänzlich überflüssig, und ein rauschender Abgang macht ihre eigene Rede um so effektvoller, vgl. Taplin (1977) 300–302. Vgl. Taplin (1977) 301–302.

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sein. Eine γυνὴ γενναία sollte also einen besonderen Ehrgeiz an den Tag legen, Tugenden wie Ehrlichkeit zu entsprechen. Ein um so grelleres Licht fällt, da Klytaimestra eigens auf ihren Adel und ihre Unaufrichtigkeit hinweist, auf ihre Falschheit. Eine andere Bedeutung von γενναῖος mag außerdem mitschwingen. Bei Homer und Pindar hatten wir γενναῖος im Sinne von „seinem Geschlecht, seiner Herkunft treu“ kennengelernt. Der Zuschauer kann hören, daß Klytaime­ stras Untreue gewissermaßen in der Familie liegt. Die Mutter ließ sich mit Zeus ein, wenn auch eine Affäre mit dem Vater der Götter weniger schamlos sein mag. Helena läßt sich von Paris verführen (A. A. 62) und verläßt Menelaos. Die Schwestern werden gemeinsam als Unglück für die Menschheit genannt (A. A. 1453–1454). Klytaimestra formuliert allgemein. Sie sagt nicht: „Für mich als γενναία“, sondern „für eine γενναία Frau“. Das γένος, dem treu zu bleiben ist, ist damit nicht eindeutig bestimmt. Aber sie sagt auch τοιόσδ’ ὁ κόμπος, es geht ihr um ihre stolze Rede, also auch um ihr Geschlecht. Die Verse sind individuell, nicht allgemein gültig. So erlebt der Zuschauer Klytaimestra zu Beginn des Agamemnon als Mannweib. Sie hat die Position ihres Mannes eingenommen und herrscht selbstbewußt. Doch mit Agamemnons Nahen wird sie wieder weiblicher. In der Teppichszene zieht sie sich, um den Sieg davonzutragen und freilich aus taktischen Erwägungen, auf ihre schwache Position als Frau zurück, der Mord ist ein von langer Hand geplanter Hinterhalt.54 Klytaimestra usurpiert männliche Lebensbereiche und macht sie sich als Frau dienstbar. Sie nimmt sich das Recht, öffentlich zu reden und zu herrschen, tut dies dann aber auf weibliche Art: mit List. Damit steht sie im Gegensatz zu den Amazonen, die konsequent wie Männer leben. Sie leben ohne Männer oder halten sie sich als Knechte und führen alle Tätigkeiten außer Haus selbst aus, auch der Männer ureigenste, das Jagen und Kämpfen.55 So sind sie ein bedrohliches Schreckbild der männlichen Vorstellung. Doch Klytaimestra ist noch schlimmer, sie fügt ihrem männlichen Handeln die Falschheit hinzu. Ein Tod von der Hand einer Amazone, obwohl durch eine Frau beigebracht, wäre weniger schändlich, er wäre einem Tod auf dem Schlachtfeld ähnlicher, im offenen, ehrlichen Kampf, in dem die Tapferkeit den Ausschlag gibt.56 Dagegen nutzt Klytaimestra die Gutgläubigkeit ihres Opfers aus und wiegt es mit falschen Reden in Sicherheit, um den ahnungslosen Gatten dann hinterrücks niederzumachen.

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In den Choephoren wird Klytaimestra wieder ganz Frau, sie überläßt Aigisthos das Politische (A. Ch. 672–673) und unterliegt Orestes’ πειθώ (A. Ch. 908–930), ihr Geist in den Eumeniden allerdings spricht, ganz episch und männlich, von Entehrung und Schande (A. Eu. 95–102), vgl. Gagarin (1976) 97–100, McClure (1997) 124. Vgl. RE 1, 2, 1754–1755. Klytaimestra steht auch im Gegensatz zu Kassandra. Ohne die Grenzen ihrer Geschlechterrolle zu überschreiten, ist die Seherin Klytaimestra überlegen. Kassandra schweigt und macht damit Klytaimestras Waffe, die Kontrolle über die Sprache, machtlos, vgl. McClure (1997) 122.

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3.3.2 Agamemnon Zweimal erhält Agamemnon das Prädikat εὐγενής bzw. γενναῖος. In beiden Passagen wird der edle Agamemnon der verruchten Klytaimestra gegenübergestellt, der Ehebrecherin und Mörderin. Nachdem Agamemnon über den roten Teppich ins Haus abgetreten und Klytaimestra ihm gefolgt ist, beginnt Kassandra, die bis dahin stumm auf dem Wagen gesessen hatte, prophetisch zu reden. Sie sieht die Vorgeschichte des Hauses, spricht zum verständnislosen Chor von Agamemnons Tod und sagt ihren eigenen voraus: αὕτη δίπους λέαινα, συγκοιμωμένη λύκωι λέοντος εὐγενοῦς ἀπουσίαι, κτενεῖ με τὴν τάλαιναν, ὡς δὲ ϕάρμακον τεύχουσα κἀμοῦ μισθὸν ἐνθήσει ποτῶι· ἐπεύχεται, θήγουσα ϕωτὶ ϕάσγανον, ἐμῆς ἀγωγῆς ἀντιτείσεται ϕόνον. (A. A. 1258–1263) Das Löwenweib, das mit dem Wolf zusammen schläft, indes der Löwe, der εύγενής ist, ferne weilt, es wird mich Unglückliche töten; wenn sie braut das Gift, wird sie auch meinen Lohn in den Trank schütten. Sie jubelt, gegen ihren Mann die Klinge schärfend, sie wird auch mein Blut fordern, weil ich ihn begleitet.

Die Löwin hintergeht ihren Mann und nützt die Abwesenheit des edlen Löwen, um mit dem Wolf Ehebruch zu begehen. Agamemnon ist der edle Löwe im Kontrast zum Wolf Aigisthos, der bereits als λέων ἄναλκις eingeführt worden ist, vor allem aber zu der Löwin Klytaimestra.57 Die unglückliche Konstellation von Eheleuten und Liebhaber ist in zwei Versen treffend ausgedrückt. Klytaimestra als die Handelnde ist als erste genannt und nimmt einen vollen Vers ein. αὕτη zeigt gleichsam mit einem Finger auf sie, ihre mörderische Tätigkeit hat Kassandra bereits gesehen und unzweideutig ausgesprochen (A. A. 1107–1129, 1246). δίπους ist Klytaimestra, für einen Menschen die natürliche Gestalt, bei der λέαινα jedoch den Grad ihrer Unnatur markierend. Der Löwe ist unterschiedlich konnotiert. Er ist der edle König der Tiere voller Kraft und Mut, aber auch das wilde, unberechenbare und tückische Tier.58 Klytaimestras schändlicher Lebenswandel gegenüber Agamemnon ist im letzten Attribut konzentriert, συγκοιμωμένη. Sie hat Beischlaf – abgesehen vom folgenden Vers, der das näher ausführt, genügt dem Rezipienten dieses Wort, um den Beischlaf als außerehelich zu verstehen. συγκοιμωμένη verbindet Klytaimestra unmittelbar mit ihrem Bettgefährten; Kassandra sieht sie λύκωι, neben einem Wolf liegen.59 Er steht damit zwischen Klytaimestra und Agamemnon, der ihm gleich 57

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A. A. 1224. Tiere als Stellvertreter für Menschen sind typisch für den Orakelstil, Kassandra bezeichnet Klytaimestra und Agamemnon an früherer Stelle als Kuh und Stier (A. A. 1125– 1126), vgl. Collard (2002) 120 (ad 129). Vgl. RE 13, 1, 968–990, v. a. 984–988. Der Wolf ist durchweg negativ als blutgieriger und hinterhältiger Räuber charakterisiert, vgl. RE Suppl. 15, 960–987, v. a. 965–966 und 981–986, DNP 12/2, 567–570.

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im nächsten Wort gegenübergestellt ist. λέοντος – er ist seiner Frau verbunden; beide sind sie als Löwen charakterisiert und vom Wolf Aigisthos abgesetzt. Stärker ist allerdings die Opposition von Klytaimestra und Aigisthos einerseits, die, durch ihre niederträchtige Gesinnung vereint, im doppelten Sinne des Wortes „unter einer Decke“ stecken, und andererseits Agamemnon, dem edlen Löwen, λέοντος εὐγενοῦς. Ihn kennzeichnet schließlich seine ἀπουσία. Aus seiner Sicht verhilft ihm diese Abwesenheit zu Ruhm und Erfolg und bietet ihm Gelegenheit, seine εὐγένεια zu beweisen. Aus der Sicht seiner Widersacher sind seine Handlungen während des Kriegszugs Grund für seinen Tod; darüber hinaus bietet seine Abwesenheit ihnen die Möglichkeit zu schändlichem Tun. Das Bild, das der Zuschauer der Trilogie von Agamemnon gewinnt, ist geprägt durch Iphigenies Opferung und das Betreten der purpurnen Gewänder. Diese beiden Passagen werden unterschiedlich interpretiert. Agamemnon bringt nicht ein beliebiges Opfer dar, sondern er führt seine eigene Tochter zur Schlachtung. Das griechische Heer hat sich in Aulis versammelt und ist zur Abfahrt nach Troja bereit, ein Sturm verhindert aber die Ausfahrt. Das Heer siecht dahin (A. A. 188–198). Die beiden Alternativen, die A­gamemnon nun vor Augen hat, sind nicht eindeutig ausgesprochen. Opfert A­gamemnon seine Tochter, kann die Flotte auslaufen, das steht außer Frage. Doch was geschieht, wenn er Iphigenie verschont, ist unklar. Die geläufige Version des Mythos setzt Nichtopferung der Tochter und Aufgabe des Krieges in eins, so daß der Vater durch einen Verzicht auf den Kriegszug das Leben der Tochter retten könnte.60 In diesem Fall wäre die Entscheidung eine Frage der Ehre. Sagte Agamemnon den Kriegszug ab, verlöre er sein Ansehen, seine Position, geradezu seine Identität. Die Alternativen, zwischen denen Agamemnon zu entscheiden hat, liegen beide im Bereich des Oikos. Zwar hätte die Entscheidung gegen den Kriegszug auch eine gewisse äußere Wirkung, doch maßgeblich ist in der Entscheidungsfindung Agamemnons eigene Person. Eine genaue Lektüre der Parodos zeigt aber, daß das Opfer bei Aischylos nicht explizit als Hindernis auf dem Weg nach Troja genannt ist.61 Das Bild von dem Adlerpaar, das die trächtige Häsin schlägt (A. A. 107–120), steht nicht nur für den bevorstehenden Fall Trojas (A. A. 126–130), sondern auch für das Thyestesmahl. Seit diesem Frevel wartet die kinderrächende Μῆνις im Hause (A. 60 61

So z. B. E. IA 89–96. Hier könnte eingeworfen werden, daß das, was nicht ausdrücklich genannt werde, vom Publikum automatisch ergänzt worden sei und habe ergänzt werden müssen. Der Dichter gehe davon aus, daß Angedeutetes dem Publikum, weil bekannt, vollständig vor Augen stehe. Festgelegt sind bei den Mythen jedoch lediglich einige grundlegende Fakten, die nicht verändert werden können, z. B. daß Iphigenie geopfert wird, daß der Zug gegen Troja stattfindet, daß die Griechen Troja einnehmen. In Details hat der Dichter freie Hand, so beispielsweise auch in der Begründung oder Verknüpfung bestimmter Handlungen. Es ist wohl davon auszugehen, daß das antike Publikum, dem eine gängige Version eines Mythos bekannt war, die Gestaltung der variablen Bestandteile bewußt wahrnahm, vgl. van Erp Taalmann Kip (1990) 21–41. Die Alternative zu Iphigenies Opferung wird von Agamemnon nicht gewählt, das liegt fest; der Dichter kann diese also nach Wunsch verändern, was auf den Gang der Ereignisse, wie gefordert, keine Auswirkungen hat, wohl aber die Deutung der Ereignisse und Handlungen modifiziert.

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A. 153–155), und Artemis verlangt nun Iphigenies Tod als Sühne (A. A. 131–137, 146–154).62 So steht das Opfer zwar in zeitlichem, nicht aber in ursächlichem Zusammenhang mit dem Zug gegen Troja, und Artemis’ Forderung ist die Bedingung für gute Winde, ganz gleich, wohin die Flotte anschließend segeln will, nach Troja oder nach Hause.63 Diese zweite Deutung ist näher am Text und ergänzt nichts, was unausgesprochen bleibt; durch sie läßt sich Iphigenies Opferung von Anfang an (und nicht erst mit Klytaimestras Rechtfertigung am Ende des Agamemnon) in das die gesamte Trilogie umspannende und bestimmende Prinzip von Rache und Vergeltung im Haus der Atriden integrieren. Weigert Agamemnon sich, die Tochter zu opfern, verhungert das siechende Heer in Aulis. Der Konflikt greift damit in zwei gesellschaftliche Bereiche hinein, den Oikos und die Polis. Daraus resultiert das Dilemma, und ganz gleich, wie Agamemnon entscheidet, er macht sich schuldig: τί τῶνδ’ ἄνευ κακῶν; (A. A. 211).64 Er sieht beide Möglichkeiten, Opferung der Tochter und Verrat am Heer, und wägt ab: βαρεῖα μὲν κὴρ τὸ μὴ πιθέσθαι,  / βαρεῖα δ’ εἰ τέκνον δαΐξω (A. A. 206–207). Ein schweres Unglück wäre es, nicht zu gehorchen, / ein schweres Unglück, mein Kind zu schlachten.65 Agamemnon muß zwischen den Interessen der Gemeinschaft und denen seiner Familie abwägen. Er fühlt sich dem Heer mehr verpflichtet als seinem Haus: πῶς λιπόναυς γένωμαι / ξυμμαχίας ἁμαρτών; (A. A. 212–213) Wie soll ich die Flotte verlassen und die Verbündeten verraten? und entscheidet sich für die Flotte. Die Opposition von Heeresgemeinschaft und Familie entspricht dem Gegensatz von Polis und Oikos, der auch sonst in Aischylos’ Tragödien begegnet.66 62

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Für eine ausführliche Diskussion der einschlägigen Passagen vgl. Käppel (1998) 60–137. Dort findet sich auch Literatur zum Thema und eine Auseinandersetzung mit der Forschung. So stellt sich die Situation auch bei Sophokles dar: οὐ γὰρ ἦν λύσις / ἄλλη στρατῷ πρὸς οἶκον οὐδ’ εἰς ῎Ιλιον (S. El. 573–574). Es gab keinen anderen Ausweg für das Heer / nach Hause und auch nicht nach Ilion, vgl. auch van Erp Taalmann Kip (1996) 517–521. Agamemnon präfiguriert innerhalb der Trilogie das Dilemma, in dem sich auch Orestes befinden wird. Pflichterfüllung und Blutsbefleckung sind untrennbar miteinander verbunden, und wie sich Agamemnon und Orestes auch entscheiden werden, beides ist von Übel, und sie haben die schmerzlichen Konsequenzen zu tragen. Das zeigt, daß die Situation nicht eindeutig ist, daß Iphigenies Tod nicht mit unabdingbarer Notwendigkeit erfolgen muß. Agamemnon ist nicht gezwungen, seine Tochter zu schlachten. Wenn es heißt, Agamemnon schultere das Joch der Notwendigkeit (A. A. 218), bedeutet dies nicht notwendigerweise, daß Iphigenies Opferung unumgänglich wäre, sondern eine Zwangslage ist die Situation insgesamt, in der Agamemnon eine Wahl zu treffen gezwungen ist und mit jeder Wahl schuldig wird, vgl. Käppel (1998) 125. Auch Klytaimestras Begründung ihrer Tat durch Iphigenies Tod zeigt, daß die Möglichkeit der Nichtopferung auch für einen antiken Menschen gegeben war. Sie mag für skandalös und unwahrscheinlich und unsäglich gehalten worden sein, und Klytaimestra mag auch nicht die Figur sein, die letztlich gültige Aussagen trifft, doch der Gedanke, Iphigenie nicht zu opfern, kann – und das ist ausreichend, denn der Mythos verlangt, daß Iphigenie ihr Leben läßt – von einem Charakter ausgesprochen werden. Vgl. z. B. Pelasgos’ Entscheidung in den Hiketiden oder die Gefährdung der Stadt durch das Herrschergeschlecht der Labdakiden in den Sieben gegen Theben. Die Opposition begeg­ net allenthalben in der griechischen Dichtung, etwa auch in Sophokles’ Antigone. – Eine Heeresgemeinschaft ist keine Polis, doch in Agamemnons Entscheidungssituation entsprechen sie einander. Agamemnon ist durch das Genos zum Zug gegen Troja verpflich-

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Die Entscheidungssituation, in der sich Agamemnon hier befindet, kann das zeitgenössische Publikum unmittelbar angesprochen haben. Einem Konflikt der Verpflichtungen gegenüber Polis und Oikos konnte sich jeder Bürger, vor allem die Adligen, unversehens ausgesetzt sehen. Gerade in der Mitte des 5. Jahrhunderts, als mit den Reformen des Ephialtes die institutionelle Demokratisierung der Polis einsetzte67 und die Bedeutung des Oikos immer mehr zurückgedrängt werden sollte, mußte die Entscheidung in einem solchen Konflikt brisant erscheinen. Agamemnon entscheidet sich, wie es eine ordentliche demokratische Gesinnung von ihm verlangt, für die Polis und dient der Gemeinschaft auf Kosten seines Oikos. Agamemnons εὐγένεια trennt sich gewissermaßen vom γένος.68 Wir sehen hier, wie in der Tragödie, in deren mythischem Gewand die gesellschaftliche Ordnung der Welt unbestimmt bleibt,69 der Gedanke der εὐγένεια unter Polisbedingungen reformuliert wird. Die Konzentration auf das Genos ist ergänzt durch eine Berücksichtigung von Polisinteressen. Klytaimestra wirft Agamemnon nach seiner Ermordung die Opferung der Tochter vor. Klytaimestra steht für den Oikos und glaubt, ihm mit der Rachetat zu seinem Recht verholfen zu haben. Sie sieht nicht, daß sie ihm damit noch viel nachhaltiger geschadet hat, weil sie ihm seinen Repräsentanten genommen hat. Von der Schuldfrage hängt Agamemnons moralische Bewertung innerhalb der Trilogie ab. Seine Entscheidung für die Gemeinschaft steht ohne Zweifel im Einklang mit den Erwartungen seines zeitgenössischen athenischen Publikums; der bedingungslose Einsatz für die Polis begegnet immer wieder als Bürgerpflicht.70 Politisch gesehen, gibt diese Entscheidung Agamemnon eine gute Position in der Schuldfrage, doch auf einer anderen Ebene, nicht der institutionellen, sondern der menschlichen, erscheint seine Wahl als untilgbarer Frevel. Agamemnon hat es gewagt, seine Tochter, sein eigen Fleisch und Blut, zu opfern. Auch ein höchst politisch denkender Athener des 5. Jahrhunderts muß auf der persönlichen Ebene Agamemnons Bild getrübt sehen; der Athener, der zu Hause Kinder hat, wird zu einem gemischten Urteil über den Vater kommen. Auch der Chor, Repräsentant der Polisgemeinschaft, der Klytaimestras Rachetat eindeutig verurteilen wird, mißbilligt die Opferung unmißverständlich. Er schildert ausführlich, wie sich Agamemnon durch das flehentliche Bitten seiner Tochter nicht erweichen und sie grausam schlachten ließ. Wie das Dilemma

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tet, da Menelaos sein Bruder ist. Wenn eine Verschonung der Tochter bedeutet, daß der Kriegszug nicht stattfinden kann, bleibt die Entscheidung auf das Genos und den Oikos begrenzt, weil „nur“ Agamemnons und Menelaos’ Ehre Schaden nehmen. Wenn aber der Preis für Iphigenies Leben der Tod des ganzes Heeres ist, erhält die Entscheidung einen öffentlicheren Charakter, der über das Genos hinausgeht. Als Heerführer trägt Agamemnon Verantwortung für seine Männer wie ein politisch Handelnder für die Bürger einer Polis. Vgl. außerdem die Verwendung von στρατός in der Bedeutung „Volk“ in den Eumeniden: A. Eu. 556, 569, 668, 683, 762, 889. Vgl. Bleicken (1995) 74–75. Komplementär dazu betont Föllinger (2003) 97–103 den Einfluß, den der Daimon des Genos auf das Handeln der Familienangehörigen hat. Zum Begriff der heroic vagueness vgl. Easterling (1997), Hesk (2007) 84–85. Vgl. z. B. Lys. 2, 70–71; 21, 23–24.

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durch den Konflikt zwischen öffentlichem Interesse und verwandtschaftlicher Bindung, durch Forderungen zweier verschiedener Lebensbereiche entsteht, so kommt man auch in der Schuldfrage zu zwei unterschiedlichen Einschätzungen, je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt. Eine Antwort auf die Frage der Schuld kann letztlich nicht gegeben werden; das Dilemma, das Agamemnon bei seiner Entscheidungsfindung zum Ausdruck bringt, βαρεῖα μὲν ... βαρεῖα δὲ..., begegnet wieder bei der Beurteilung seiner Tat. Das ist die Tragik des Agamemnon. Die Eumeniden lassen es augenscheinlich werden, das Votum der Richter fällt unentschieden aus. Im Verlauf seines Auftritts wird Agamemnon von Klytaimestra genötigt, über purpurne Tücher hinweg ins Haus zu schreiten. Er wehrt sich zunächst gegen dieses Ansinnen, weil es ein Zeichen von Verschwendung und Hybris sei, und tut es schließlich doch (Α. Α. 905–957).71 Diese von Agamemnon genannten Vorbehalte werden auf der Ebene des Dialogs entkräftet, doch nicht durch einen sachlichen Zwang, sondern infolge der Überredungskünste von Klytaimestra. Bis zum Schluß, auch als Agamemnon bereits eingewilligt hat, bemüht er sich, die Tat möglichst klein und unanstößig zu halten. Die Teppichszene ist keine notwendige Voraussetzung für Klytaimestras Mord an Agamemnon, weil er sich hier schuldig mache und so einen Grund oder eine moralische Rechtfertigung für den Mord biete. Klytaimestra selbst hat genug Gründe, ihren Mann umzubringen, Iphigenies Tod, ihr Verhältnis mit Aigisthos, die gewonnene Macht, die sie nach zehn Jahren nicht wieder abgeben möchte. Verschwendung und Hybris sind Vergehen, die entweder nicht Grund genug für den Tod sind oder nicht von der Gattin, sondern von den Göttern gestraft werden müßten. Die Szene hat eher symbolische Kraft und wirkt auf verschiedenen Bedeutungsebenen. Agamemnon zeigt seine Schwäche, wenn er Klytaimestra unterliegt, er legt eine barbarische Hybris an den Tag, wenn er über wertvolle Tücher schreitet, und er nimmt in einer impliziten Prolepse das Kommende vorweg, wenn er das Haus über eine blutrote Bahn betritt. Der kurze Dialog mit seinem Ergebnis sagt einiges über Agamemnon und Klytaimestra aus. Der Zuschauer erlebt Agamemnon als einen ehrgeizigen, aber schwachen Menschen72 und begegnet wieder Klytaimestras weiblicher List, die um jeden Preis ihr Ziel und ihre Dominanz erlangen will.

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Zum griechischen Bild der Barbaren vgl. Hall (1989), hier 209. Agamemnons Verhalten wurde auf unterschiedlichste Weise gedeutet. Für Fraenkel (1950) 423–431 (ad 931f. - ad 949) zeigt sich in seinem Nachgeben der Gentleman, der einer Dame einen Wunsch nicht abschlagen kann, für Denniston/Page (1957) 151–152 (ad 931 ff.) der arrogante Machthaber, der insgeheim nichts anderes will und anfangs nur scheinbaren Widerstand leistet, für Reinhardt (1949) 92 der blinde und dadurch von den Göttern erhöhte König und für Gundert (1960) der blinde, aber innerlich anfällige Mann. Easterling (1973) 7–19 betont die dramatische Funktion der Szene; sie diene nicht Agamemnons Charakterisierung, sondern steigere, zahlreiche Themen der ersten Hälfte des Stücks wiederaufnehmend, unsere Furcht. Käppel (1998) 153–158 weist zu Recht darauf hin, daß Agamemnon die Tücher konsequenterweise betreten muß, wenn er die Diskussion mit Klytaimestra ernst nimmt, denn er ist in dem Disput unterlegen. Um dies zu vermeiden, hätte er sich nicht auf den Kampf mit Worten einlassen dürfen.

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Nachdem die Choephoren Orestes’ Rückkehr und seinen Muttermord gezeigt haben, steht Orestes in den Eumeniden, von den Rachegöttinnen seiner Mutter getrieben, vor Gericht. Das Dilemma, in dem Orestes sich befand, wird im Prozeß augenscheinlich. Wie auch immer er sich entschied, er mußte Schuld auf sich laden. Er mußte entweder den Zorn der väterlichen oder den der mütterlichen Erinyen auf sich ziehen. So stehen in der Verhandlung gleichberechtigte Forderungen einander gegenüber. Die Argumente, vor allem die Apollons und Athenas, sind wenig sachlich, die Entscheidung wird aufgrund einer gänzlich subjektiven Begründung getroffen, und die Erinyen müssen, bezeichnenderweise, erst durch Athenas Überredungskunst zur Annahme des Urteils gebracht werden. Apollon, Orestes’ Verteidiger, hält Klytaimestras Mord an ihrem Gatten für schwerwiegender: οὐ γάρ τι ταὐτὸν ἄνδρα γενναῖον θανεῖν διοσδότοις σκήπτροισι τιμαλϕούμενον, καὶ ταῦτα πρὸς γυναικός, οὔ τι θουρίοις τόξοις ἑκηβόλοισιν ὥστ’ ᾿Αμαζόνος, ἀλλ’ ὡς ἀκούσηι, Παλλάς, οἵ τ’ ἐϕήμενοι ψήϕωι διαιρεῖν τοῦδε πράγματος πέρι. (A. Eu. 625–630) Ja, etwas andres ist es, stirbt ein Mann, der γενναῖος ist, geehrt durch einen Herrscherstab, den Zeus verlieh, und noch dazu durch Weiberhand, nicht in der Schlacht durch weithin treffende Pfeile, wie sie Amazonen führen, nein, so, wie ihr es hören werdet, Pallas und ihr Richter, die ihr diesen Fall entscheiden sollt.

Als die Erinyen Orestes in die Enge getrieben haben und er nicht mehr weiter weiß, wendet er sich hilfesuchend an Apollon, der ihm den Auftrag gegeben habe, die Mutter zu töten (A. Eu. 609–613). Apollon beruft sich auf Zeus, um die Rechtmäßigkeit des Auftrags zu bekräftigen. Er tue, wenn er Orakel gebe, nur Zeus’ Willen kund, der am meisten gelte (A. Eu. 614–621). Auf des Chores ungläubige Frage, ob denn Zeus die Interessen einer Mutter nicht beachte (A. Eu. 622–624), gibt Apollon zur Antwort, daß Agamemnons Tod ein unvergleichliches Ereignis sei. In diesem Falle sei ein Mann, ἄνδρα, zu Tode gekommen, ein edler, γενναῖον, von Zeus als König legitimiert, διοσδότοις σκήπτροισι τιμαλϕούμενον,73 durch eine Frau, πρὸς γυναικός, auf grausame Weise (A. Eu. 627–639).74 Der Gegensatz ist scharf, der edelste Mann ist durch die ruchloseste Frau auf niederträchtigste Weise getötet worden. Von der gesellschaftlichen Unterlegenheit der Frau war bereits die Rede. Im Agamemnon ist sie der unausgesprochene Hintergrund, vor dem Klytaimestras Auftreten verstanden werden muß. In den Eumeniden wird die bedingungslose Dominanz der männlichen Welt von Orestes und Apollon offen ausgesprochen. Der Gedanke, daß der Tod eines Mannes schwerer wiege als der einer Frau, ist 73

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Il. 2, 100–108 beschreibt den Weg des Zepters, das Agamemnon von Zeus verliehen worden ist, vgl. Wecklein (1888) 295 (ad loc.). Vgl. auch Conacher (1987) 160, Winnington-Ingram (1983) 121–122, Sommerstein (1989) 200 (ad 625–630).

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prozeßentscheidend.75 Nach Apollons Aussagen ziehe der Mann in den Krieg und nehme unter großen Entbehrungen Gefahren auf sich, während die Frau untätig zu Hause sitze; er tue also mehr für den οἶκος.76 Der Vater und nur der Vater sei seinen Kindern blutsverwandt, die Mutter sei lediglich unbeteiligter Austragungsort des männlichen Samens; mit der Mutter verbinde den Nachwuchs nicht mehr als mit jedem anderen Menschen (A. Eu. 606, 657–666).77 Athena gibt ihre Stimme Orestes, weil ihr das Männliche mehr am Herzen liegt; sie wurde ja selbst ohne Mutter vom Vater geboren (A. Eu. 734–741). Der Ausgang des Prozesses ist Ausdruck der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung. Das Votum ist unentschieden, was zeigt, wie ausgewogen die Lage unter rechtlichen Gesichtspunkten ist. Klytaimestra muß Agamemnon unterliegen, weil der Mann grundsätzlich überlegen ist.78

3.3.3 Zusammenfassung Beide, Agamemnon und Klytaimestra, stammen aus vornehmem Hause, insofern steht das Attribut εὐγενής/γενναῖος beiden zu. Klytaimestra nennt sich selbst γενναία. Sie gebraucht γενναῖος in erster Linie als Standesbezeichnung, denn sie hat vornehme Ahnen79 und ist die Gattin des Herrschers von Argos. Sie verbindet es allerdings mit einem moralischen Urteil. Dem zugrundeliegenden sittlich-moralischen Anspruch, der sich mit ihrem Adel verbindet, wird sie, wissentlich, nicht gerecht. οὐκ αἰσχρόν ist ihr Lebenswandel nicht: Sie hat einen Liebhaber, und Agamemnon muß sein Le75 76 77

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Vgl. Gagarin (1976) 100–105. A. Ch. 921 (wird von Klytaimestra ohne Widerspruch akzeptiert), A. Eu. 740. Uneins ist die Forschung, ob die genannten Aussagen in dieser Radikalität der allgemeinen Auffassung der damaligen Zeit entsprachen. Die Frau wurde, im Vergleich zum Mann, für nebensächlich gehalten, doch inwieweit die Verwandtschaft der Mutter tatsächlich geleugnet wurde, ist unklar. Der Anteil der Frau am Zeugungsakt wurde unterschiedlich bewertet, vgl. DNP 4 s. v. Geschlecht (medizinisch) 1005–1008, s. v. Geschlechterrollen 1012–1014, DNP 5 s. v. Gynäkologie 19–34. Vgl. auch Vickers (1973) 414–416, WinningtonIngram (1983) 123–124. Geht man davon aus, daß die Äußerungen in dieser Ausprägung nicht den Vorstellungen der Zeit entsprachen, stellt sich die Frage, inwieweit der Dichter möglicherweise auf eine kritische Distanzierung des Publikums von den entsprechenden Argumenten zielte. Die extreme Auffassung hätte jedenfalls tiefgreifende Konsequenzen für die Trilogie insgesamt. Klytaimestras Rechtfertigung für den Mord an Agamemnon wäre der Boden entzogen: Iphigenie wäre nicht mehr im eigentlichen Sinne ihre Tochter, und Agamemnon hätte nicht ein gemeinsames Kind ohne Wissen oder gegen den Willen der Mutter geschlachtet, sondern allein seine Tochter. Athena ist auf ihre Art eine unweibliche Vertreterin des weiblichen Geschlechts. Sie wirkt integrativ. Sie ist eine Frau bzw. Göttin, die männlich auftritt, doch in ihrem Fall erscheint das dem Publikum durchaus als richtig und normal. Ihr gelingt die Integration der Amazonen (A. Eu. 683–692) und der Erinyen (A. Eu. 794–1047) in die Polis, vgl. Sommerstein (1996) 269–273. Während Agamemnon nie daran dächte, daß er Klytaimestra mit Hybris behandle, und Apollon die Erinyen mit scharfen Worten und ohne jeden Takt beschimpft (A. Eu. 180–197), entschuldigt sich Athena, als sie merkt, daß sie verletzt (A. Eu. 410–414), vgl. Sommerstein (1996) 434. A. A. 914 wird Leda als ihre Mutter genannt. Ihr Vater bleibt in der Trilogie offen. In der Tradition schwanken die Angaben zwischen Tyndareus und Zeus, vgl. RE 12, 1, 1117– 1120.

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ben lassen.80 Mit diesem Verhalten verstößt sie dramenimmanent und in den Augen eines Zuschauers im 5. Jahrhundert gegen die herrschenden Regeln des Anstands und der Moral. Bezeichnenderweise wird sie von den anderen Charakteren nicht als εὐγενής/γενναία bezeichnet. Agamemnon legt sich, im Gegensatz zu Klytaimestra, das Prädikat „adlig“ nicht selbst zu. Ihn nennen Kassandra und Apollon εὐγενής und γενναῖος. Auch diese beiden sind freilich nicht ganz unvoreingenommen in ihrem Urteil. Kassandra durchschaut Klytaimestra, sie weiß von Agamemnons und ihrem eigenen Tod, und Apollon vertritt vor Gericht Orestes, der den Mord an Agamemnon gerächt hat. Gleichwohl wiegt das Wort einer Seherin und eines Gottes schwerer, und ihre Bevorzugung steht am Ende auch im Einklang mit dem Ausgang des Prozesses. Beide Male ist das Prädikat in Relation zu Klytaimestra gebraucht und ihrer Ruchlosigkeit gegenübergestellt. Damit beschreibt εὐγενής/γενναῖος seinen Träger in erster Linie charakterlich. Agamemnon trägt anfangs Züge des epischen Helden und handelt nach den aristokratischen Werten der archaischen Zeit. Er zieht mit seinem Bruder aus, um die Verletzung des Gastrechts zu rächen.81 Dann tötet er jedoch seine Tochter, im Interesse der Polis, gegen seinen οἶκος und auf unmenschliche Weise. Nach der Rückkehr vermißt man den wünschenswerten Widerstand gegenüber seiner Frau, der er ganz unmännlich unterliegt. Gleichwohl kann er von anderen Charakteren als εὐγενής/γενναῖος bezeichnet werden. Für Klytaimestra und Agamemnon gilt also, daß ihre Benennung als adlig aus Sicht der jeweiligen Sprecher richtig, mit Blick auf die gesamte Trilogie jedoch fraglich ist.82 Mit Agamemnon und Klytaimestra sind die beiden Antipoden der Trilogie als εὐγενής/γενναῖος bezeichnet. An allen drei Stellen, an denen sie so genannt werden, ist die Zuschreibung explizit mit Agamemnons Männlichkeit und Klytaimestras Weiblichkeit verknüpft. Klytaimestra spricht von sich als einer adligen Frau, Kassandra stellt den Löwen der Löwin entgegen, und Apollon hebt die Bedeutung des edlen Mannes gegenüber einer Frau hervor. Die Passagen legen die Vermutung nahe, daß sich die εὐγένεια von Männern und Frauen in ähnlicher Weise wie ihre gesellschaftlichen Rollen unterschied. Damit kontrastiert das Bild, das der Zuschauer von Klytaimestra und Agamemnon gewinnt. Klytaimestra nennt ihren Lebenswandel οὐκ αἰσχρόν, während der Zuschauer sieht, wie sie die männliche Rolle übernimmt, Befehle gibt und sich einen Lieb-

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Vor Aischylos wurde Agamemnon, soweit wir das von der uns überlieferten Literatur her beurteilen können, noch nicht von Klytaimestra, sondern von Aigisthos (mit Klytaimestra als Helferin) ermordet (vgl. March (1987) 91–92 mit Anm. 53). Die Zuschauer wissen also nicht, daß sie die Mörderin sein wird, es sei denn, sie ahnen es aufgrund ihres Persönlichkeitsprofils. Zu aristokratischen Elementen im demokratischen Gewand der Tragödie, speziell der Orestie, vgl. Griffith (1995). Schulz’ Urteil, in Aischylos’ Tragödien spiele das Problem von Wert und Unwert des Adels keine Rolle, ist daher unverständlich, vgl. Schulz (1981) 89.

90 Aischylos

haber an die Seite geholt hat. Agamemnon dagegen unterliegt Klytaimestra in der Rede und beim Mordanschlag. Die Diskrepanz zwischen Prädikat und Charakter und zwischen Prädikat und Rolle legt nahe, daß der Begriff zu einem Argument geworden ist. εὐγενής/ γενναῖος ist nicht als Charakterisierung zu lesen, sondern dient der – moralischen – Rechtfertigung der jeweils benannten Person. Die mit dem Begriff einhergehenden Assoziationen von sittlicher Güte geben ihm sein Gewicht. Deshalb wird er in Anspruch genommen, von Klytaimestra für sich selbst, von Kassandra und Apollon für Agamemnon, obwohl beide ihm mit ihrem Verhalten nicht gerecht werden. Gleichzeitig zeigt der funktionalisierte Gebrauch des Attributs eine gewisse Distanz zum Gedanken des Adels und seinen Implikationen. Das Prädikat εὐγενής ist nicht entleert oder entwertet; denn dann brauchte man sich seiner nicht mehr zu bedienen. Doch es ist in Frage gestellt, bei Klytaimestra, bedingt durch den Schluß der Trilogie, deutlicher als bei Agamemnon. Die definitorische Geltung des Begriffs ist dahin, und er steht, auch für niedere Motive, zur Verfügung.

3.4

Ergebnis der Untersuchung zu Aischylos

Der aristokratische Begriff der εὐγένεια ist in der demokratischen Gattung der Tragödie auffallend häufig verwendet. Das läßt einen Befund erwarten, der sich deutlich von dem affirmativen Gebrauch bei Homer, Theognis und Pindar abhebt. In der Gegenüberstellung von Griechen und Barbaren in den Persern ist der Begriff nur auf die Barbaren bezogen, während nahegelegt wird, daß die athenische Aristokratie keine besondere Bedeutung trägt (A. Pers. 242). Die εὐγένεια bezeichnet in erster Linie die hohe Herkunft ihrer Träger, verbunden mit charakterlichen Vorzügen. In den Sieben ist die εὐγένεια mit dem Konzept der Autochthonie verbunden. Diese bietet einen identifikatorischen Anknüpfungspunkt für das athenische Publikum. Im Athen des 4.  Jahrhunderts entsteht die Vorstellung eines allgemeinen athenischen Adels, an dem jeder Athener aufgrund seiner Autochthonie Anteil habe. In der Demokratie wurden klassisch aristokratische Werte demokratisiert und auf das gesamte Volk der Athener bezogen.83 Der Sparte Melanippos bildet eine Parallele zu Erechtheus/Erichthonios, der mythischen Präfiguration aller Athener. Durch Melanippos’ heroische und moralisch reine Haltung hindurch kann der Zuschauer auch sich selbst, den demokratischen autochthonen Bürger Athens, als gepriesen verstehen. In den Persern, den Sieben und der Orestie finden wir eine Verknüpfung von Adel und Schande bzw. Scham. Der Gedanke eines besonderen sittlichen Anspruchs an den Adel ist damit offensichtlich. In der Orestie überwiegt denn auch die sittlich-moralische Bedeutung von εὐγένεια/εὐγενής/γενναῖος, doch die

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Vgl. Loraux (1981) 210–211 et pass.

Ergebnis der Untersuchung zu Aischylos

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Erfüllung des moralischen Anspruchs ist zumindest zweifelhaft. Der Begriff der εὐγένεια wird problematisiert. Das Bild, das Aischylos in der Orestie vom Adel zeichnet, ist getrübt. Die Forschung zur griechischen Tragödie betont in den vergangenen Jahren immer mehr die demokratischen Elemente der Gattung. Auch der Befund zum Wortfeld εὐγεν-/γεν- bei Aischylos ließe sich in diesem Sinne lesen. Die selbstbewußten Vertreter des Adels, deren hoher Stand entweder aus ihrem eigenen Munde oder von ihren Parteigängern gerühmt wird, bleiben hinter dem damit verbundenen moralischen Anspruch weit zurück und müssen ihr Verhalten mit dem Tod bezahlen.84 Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die Aischylos bei den Vertretern der Aristokratie in der Orestie diagnostiziert, stellt eine grundlegende Kritik am Adel dar. Offen bleiben muß, wo sich Aischylos selbst lokalisiert. Die Kritik ließe sich entweder als ein Appell an den Adel verstehen, die Moral in den eigenen Reihen zu heben (so daß die Ansprüche der Aristokratie dann als berechtigt erscheinen), oder könnte Ausdruck einer radikalen demokratischen Ansicht sein, die alle Privilegien des Adels abgeschafft sehen möchte. Das Aufführungsdatum der Orestie kurze Zeit nach den Reformen des Ephialtes, in denen der Areopag umgestaltet worden war und wichtige Funktionen verloren hatte, spricht jedenfalls für eine politisch-gesellschaftliche Motivierung der Problematik.85 In den Sieben und den Eumeniden sind Genos und Polis deutlich voneinander getrennt. Der befleckten Familie wird eine blühende Stadt gegenübergestellt. Am Ende der Sieben ist die Stadt gerettet und überlebt, während die mit einem Fluch beladene Herrscherfamilie untergeht.86 Orestes’ Freispruch in den Eumeniden bedeutet eine zumindest vorläufige Rettung des Genos und beendet die Familiengeschichte der Trilogie. Der Freispruch wird allerdings nicht gefeiert, sondern nur von Orestes in einer kurzen Rede dankbar empfangen (A. Eu. 754–777). Ferner endet die Tragödie nicht mit Orestes’ Freispruch. Er stellt eine Bedrohung für die Stadt Athen dar, weil die Erinyen die Feindschaft von Orestes nun auf das Land richten; die Versöhnung der Erinyen bildet das letzte Viertel des Dramas (A. Eu. 778–1047). Nicht der Triumph des letzten Vertreters der Familie, sondern das Wohl der Stadt bildet den langen beruhigenden Abschluß der Tragödie. Damit klingt am Ende der Orestie eine Idee an, die – auf der Ebene der Polis87 – eine Lösung der thematisierten Konflikte zwischen Adel und Polis in Aussicht stellt. Die Erinyen sind erzürnt, als Orestes freigesprochen worden ist und drohen, das Land heimzusuchen (A. Eu. 778–793). Doch der Stadtgöttin Athe84

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Griffith (1995) 119–122 weist darauf hin, daß der Verletzlichkeit der Großen häufig das Überleben der kleineren Charaktere gegenübergestellt sei, mit denen sich der einfache Zuschauer leicht identifizieren konnte. Zur Entmachtung des Areopag vgl. Bleicken (1995) 52–54, Mann (2007) 45–74, zu Aischylos’ Bewertung der Reform vgl. Braun (1998), Bücher (2008). Vgl. Gruber (2009) 202–209, Parker (2009) 145. Vgl. Grethlein (2003a) 251. Auf der politischen Ebene hatte sich Agamemnon für die Heeresgemeinschaft und gegen die Tochter entschieden. Auf der politischen Ebene wird er in den Eumeniden rehabilitiert. Das Opfer der Tochter bleibt dabei unbewertet.

92 Aischylos

na gelingt die Integration der Rächerinnen in die Polis und ihre Verwandlung in segenbringende Gottheiten.88 Agamemnons Entscheidung für die Polis hat durch Orestes’ Freispruch eine Bestätigung gefunden,89 und Klytaimestras Eintreten für den Oikos wird in das Leben der Gemeinschaft mit hineingenommen. Die Versöhnung der Konfliktparteien im Drama steht für eine Versöhnung der konkurrierenden Interessen von aristokratischem Oikos und Polis.90 Damit sind keine Zuschreibungen vorgenommen, die die handelnden Personen der Trilogie auf soziale oder politische Standpunkte des zeitgenössischen Athen festlegten. Agamemnon, Orestes, Apollon „sind“ nicht Demos, Demokratie, Polis, und Klytaimestra, Erinyen „sind“ nicht Oikos, Aristokratie. Die Charaktere sind schillernd gezeichnet. So ist Agamemnon ein typischer Aristokrat, der sich gleichwohl in Aulis für die Gemeinschaft entscheidet. Ebenso wird Apollon als arroganter Aristokrat erlebt,91 und Orestes tritt als angehender König von Argos ab. Klytaimestra gibt sich aristokratisch überlegen, während ihre Vertreterinnen vor Gericht häßlich und niedrig92 auftreten. Negativ gezeichnete Aristokraten haben ihre positiven aristokratischen Gegenstücke, etwa Agamemnon–Orestes.93 Doch nicht Orestes, sondern Agamemnon und 88

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Rechenauer (2001) 66–70, 84–92 betont die Bedeutung der πειθώ, vgl. auch Gruber (2009) 457–474. Zum versöhnenden Charakter der Eumeniden vgl. Grethlein (2003a) 232–247. Scardino (2009) kontrastiert die Konfliktlösung in den Eumeniden mit Od. 24 und dem Schluß von Euripides’ Orestes. Wie gemeinschaftsorientiert die öffentliche Meinung im 5. Jh. war, läßt sich u. a. ablesen an Perikles’ Bürgerrechtsgesetz, wonach athenischer Bürger nur der war, dessen Eltern beide Bürger waren (vgl. z. B. Mann (2007) 118, mit Literatur), der Tatsache, daß im 5. Jh. keine Leiturgieverweigerungen belegt sind (vgl. Mann (2007) 154–156), dem Neidgedanken in Pi. P. 7 (vgl. Mann (2001) 86–100) und den Reaktionen des Demos auf den Hermokopidenfrevel, wie sie beispielsweise anhand von And. 1 deutlich werden (vgl. Mann (2007) 244–249). Die Integration der Eumeniden in die Polis hat freilich noch weitere Dimensionen, etwa eine religiöse. – Beispiele für eine gescheiterte Integration in die demokratische Polis sind etwa Kimon oder Alkibiades, auch Miltiades oder Themistokles, vgl. Mann (2007) 48–49, 16–161 (Kimon), 199–229 (Alkibiades), 119–120 (Miltiades), 120–121 (Themistokles). Vgl. Grethlein (2004) 121–123, der in Apollon aufgrund der Pferdemetaphorik (A. Eu. 150– 161, 731, 778–779) einen jungen arroganten Aristokraten erkennt, während die Erinyen die demokratische Gesellschaft repräsentierten. Damit wendet er sich dezidiert gegen die Deutung, daß mit den Erinyen die Aristokratie in die demokratische Polis integriert werde. Grethlein bevorzugt einen zuschauerorientierten Ansatz, nimmt allerdings lediglich eine Umkehrung der Zuschreibungen vor, ohne eine schlüssige Interpretation des Endes der Trilogie zu unternehmen. Am ehesten muß man wohl davon ausgehen, daß die Antithese Polis–Oikos gelegentlich aufscheint und dabei auch einmal verkehrt sein kann, ohne durch die ganze Trilogie streng durchgehalten zu sein. Doch auch bei dieser Lesart ergibt sich die Notwendigkeit einer Integration verschiedener Interessen. Griffith (1995) 100–102. So Griffith (1995) 123. Aufgrund der Bedeutung der aristokratischen Handlungsmuster betont er, daß die Tragödie nicht verlange, alte aristokratische Werte durch neue demokratische zu ersetzen. Dem ist zuzustimmen; ebenso wenig legt der Befund jedoch eine klare Bestätigung aristokratischer Werte nahe. Deshalb spreche ich von einer Modifizierung, einem Ausgleich. Auch Griffith (1995) 109–111, 117 hebt hervor, daß eine Funktion der Tragödie im Verhandeln von widerstreitenden Klasseninteressen liege, in einem rituellen Umfeld, in dem weder Elite noch Masse dominierten. Dabei betont er allerdings, daß dem Zuschauer der dringende Bedarf einer aristokratischen Führung suggeriert werde. Dage-

Ergebnis der Untersuchung zu Aischylos

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Klytaimestra werden in der Orestie als adlig bezeichnet, die beide ambivalent oder negativ gezeichnet sind. In der Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch und ihrem Verhalten liegt Kritik. Der Mord an Agamemon wird schließlich als schlimmer beurteilt als der an Klytaimestra; damit ist seine Wahl in Aulis, die der Chor ausführlich und emotional geschildert hat (A. A. 184–246) und die von Klytaimestra als letzte Ursache für ihren Mord angegeben worden war (A. A. 1415–1418, 1432–1433, 1523–1525), bestätigt. Agamemnons Entscheidung für die Gemeinschaft kann als Fingerzeig dienen. Das Konzept der ὁμόνοια begegnet allenthalben in der Literatur des 5.  Jahrhunderts als Grundlage einer stabilen Polisordnung. Als politisches Schlagwort begegnet der Begriff erst im Jahr 411; vorher findet man in der Literatur Passagen, die zwar nicht begrifflich, wohl aber inhaltlich für ὁμόνοια plädieren.94 So rät Athena den Eumeniden, Streit unter den Bürgern zu verhindern und den Krieg vor den Toren zu halten – anders als auf einem Hühnerhof (A. Eum. 858–869), und die versöhnten Göttinnen wünschen der Stadt, daß sie nie einen Bürgerkrieg (στάσις) erleide, sondern einträchtig und friedlich zusammenlebe (κοινοφιλεῖ διανοίᾳ, μιᾷ φρενί, A. Eu. 976–987, bedacht auf das Wohl der Gesamtheit, einträchtig), sie selbst sollen mit dem Land einig sein (σύμφρονες γᾷ, A. Eu. 1040, gleichgesinnt).95 Im Gedanken der ὁμόνοια ist die Polis-Oikos-Opposition aufgehoben und mit ihr das ihr innewohnende Konfliktpotential. Die Lösung des Konflikts, die Versöhnung der gegnerischen Parteien ist in der Trilogie allerdings nur göttlichem Eingreifen zu verdanken. Nach Orestes’ Freispruch droht das Unheil weiterhin seinen Lauf zu nehmen, weil die Erinyen das Urteil nicht akzeptieren wollen. Der deus ex machina, der bei Euripides so manche Verstrickung, aus der die Menschen sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien können, lösen wird, ist hier angelegt und mit Athena in den plot integriert. Der Prozeß ist nicht das Ende der wechselseitigen Rachetaten des Atridenhauses, und das Gericht besitzt nicht die Autorität, das Prinzip der Blutrache zu ersetzen. Die Stadt Athen und das Atridenhaus bedürfen vielmehr Athenas geschickter Überzeugungskraft, um schließlich in Frieden zu leben. Insofern bleibt das Konzept der ὁμόνοια unbestimmt – ein Privileg, das die Dichtung vor der Fachliteratur genießt. Das Leben, das Athena und die Eumeniden in den letzten einhundertfünfzig Versen zeichnen, trägt utopische Züge, doch ohne Athenas Eingreifen hätten Tod und Vernichtung das Drama geschlossen; die Trilogie endet in einer Aporie, verbunden mit der Hoffnung auf eine Lösung. Aischylos diagnostiziert – alte Werte brechen fort, was tritt nun an ihre Stelle? Agamemnon und Klytaimestra verlassen in ihrem Verhalten beide den

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gen meine ich, daß aristokratische Handlungsmuster in einem aristokratischen Milieu, wie es die Themen der Tragödien darstellen, weniger erstaunlich sind, als es eine Kritik an der Aristokratie im aristokratischen Milieu der Dramenhandlung ist. So z. B. Ar. Av. 1014–16, spätere Belege sind etwa Th. 8, 93, 3; Lys. 2, 18; 18, 17–18; 25, 20 und 30; Ar. Ra. 674–737. Zur Homonoia vgl. Lévy (1976) 209–222, hier 209–210, für das 4. Jh. auch Moulakis (1973), Funke (1980). Ein ähnliches Konzept bildete der πάτριος-πολιτείαGedanke; er blieb jedoch ein unbestimmter Begriff, den sowohl Oligarchen als auch Demokraten im Munde führten. Nachdem die Dreißig ihn für ihre Sache verwendet hatten, verschwand er aus der politischen Diskussion, vgl. Lévy (1976) 194–195. Vgl. auch Bücher (2008) 273–274.

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Weg, den ihre Herkunft ihnen eigentlich vorgibt: Er entscheidet sich gegen seinen Oikos für die Gemeinschaft, sie überschreitet nicht nur die ihr durch das Herkommen zugewiesene Geschlechterrolle, sondern mißbraucht sie sogar zur Täuschung ihrer Umwelt. Offensichtlich können die alten Maßstäbe nicht mehr alleinige Richtschnur sein und haben ihre unangefochtene Gültigkeit und Verbindlichkeit verloren.96 Eine erneuerte Moral muß gefunden werden, die auch den neuen Konflikt, den es früher nicht gab, berücksichtigt, den inneren Konflikt, in dem angesichts zweier berechtigter Ansprüche von privatem und öffentlichem Interesse eine Entscheidung getroffen werden muß. Die mögliche Lösung kann kein Entweder-Oder sein; weder kann der Adel gegen die Polis ausgespielt werden, noch kann die Polis alleiniges Kriterium sein, gehen doch beide Vertreter, Agamemnon und Klytaimestra, mit ebenso vielen Stimmen aus dem Prozeß hervor. Ein neuer Leitfaden ist erforderlich, der Altes und Neues, Oikos und Polis verbindet. Nur dann kann er der neuen Gerechtigkeit gerecht werden und sie gestalten. Der Begriff der εὐγένεια erhält so einen neuen Aspekt: Der Gedanke der Herkunft und der Verbundenheit mit dem γένος im Adelsbegriff wird durch den Dienst an der Gemeinschaft ergänzt.

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Zimmermann/HGL I (2011) 497 spricht von der irritierenden Funktion der Tragödie.

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Sophokles

Sophokles verwendet den Begriff der εὐγένεια bereits recht häufig. Im Aias, Philoktetes und Oidipus auf Kolonos finden wir ihn in auffallender Dichte (je sechs bis zehn Belege).1 Besondere Aufmerksamkeit verdienen Aias und Philoktetes. In diesen beiden Dramen wird nach der Bedeutung des Begriffs gesucht, verschiedene Sprecher verwenden den Begriff in unterschiedlicher Bedeutung und machen dies auch explizit. In den anderen erhaltenen Dramen finden sich nur wenige Belege für εὐγεν-/ γεν-. Nirgends wird die Bedeutung des Begriffs diskutiert oder im Rahmen einer Argumentation verändert, wie wir es im Aias und im Philoktetes beobachten können. Für diese Belege sei auf die Tabelle im Anhang verwiesen.

4.1

Aias

Obwohl Aias nach dem toten Achilleus der beste Kämpfer vor Troja ist, unterliegt er Odysseus im Streit um Achilleus’ Waffen. Der in seiner Ehre gekränkte Aias übt Vergeltung gegen die Urheber seiner Schmach. Doch Athena schlägt ihn mit Wahnsinn, so daß er, ohne sich dessen bewußt zu sein, statt der Atriden, des Odysseus und weiterer Feldherrn eine Herde aus der noch nicht verteilten Beute niedermetzelt. Nach dieser Tat beginnt das Drama;2 wir sehen den Verblendeten, wie er angesichts des gelungenen Anschlags frohlockt (S. Aj. 91–117), und erleben dann seine Niedergeschlagenheit, als er, wieder bei Sinnen, erkennt, was er getan hat, sich als vernichtet betrachtet und sich den Tod wünscht (S. Aj. 333–427).

4.1.1 Aias und Tekmessa Es folgt Aias’ erste Rede, in der er die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, die sich ihm bieten, sämtlich für unerträglich ansieht und den Freitod als einzigen Ausweg erkennt (S. Aj. 430–497). Es sei schändlich, wie er so hinter dem Vater zurückbleibe, der aus dem ersten Trojanischen Krieg schwer mit Beute beladen nach Hause kehrte, obwohl er doch nach Achilleus der erste Kämpfer vor Troja sei und Achilleus keinem anderen als ihm die Waffen zuerkannt hätte (S. Aj. 434–444). Von den Atriden fühlt er sich hintergangen, von Athena um seine verdiente Rache gebracht und sieht sich dem Gelächter des Heeres ausgesetzt (S. Aj. 445–456).3 Von allen sei er verlassen und gehaßt. Unmöglich könne er so 1 2

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Wo nicht anders angegeben, zitiere ich nach der Ausgabe von Lloyd-Jones/Wilson (1990a). Noch ehe Aias selbst auftritt, wird er gleich im Prolog als Hauptperson des Dramas etabliert, vgl. Hose (2000) 33–35. Aias’ und Teukros’ Vorwurf, bei der Verteilung der Waffen sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, den Teukros S. Aj. 1135 äußert, ist wohl falsch. Aias kann sich, lediglich den Kampfesmut als Kriterium nehmend, sein Unterliegen nur durch Betrug erklären. Dafür gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt, vgl. van Erp Taalmann Kip (1996) 524–531. Daß

96 Sophokles

nach Hause fahren und dem Vater ohne das verwehrte Ehrengeschenk, gleichsam nackt entgegentreten (S. Aj. 457–466). Er könnte sich beweisen, indem er im Kampf unter den Trojanern wütete und Heldentaten vollbrächte, um dann auf dem Schlachtfeld zu sterben, doch damit täte er den Atriden – gegen seinen Wunsch – einen Gefallen (S. Aj. 466–470). Es muß eine andere Lösung geben: πεῖρά τις ζητητέα τοιάδ’ ἀϕ’ ἧς γέροντι δηλώσω πατρὶ μή τοι ϕύσιν γ’ ἄσπλαγχνος ἐκ κείνου γεγώς. αἰσχρὸν γὰρ ἄνδρα τοῦ μακροῦ χρῄζειν βίου, κακοῖσιν ὅστις μηδὲν ἐξαλλάσσεται. τί γὰρ παρ’ ἦμαρ ἡμέρα τέρπειν ἔχει προσθεῖσα κἀναθεῖσα πλὴν τοῦ κατθανεῖν; οὐκ ἂν πριαίμην οὐδενὸς λόγου βροτὸν ὅστις κεναῖσιν ἐλπίσιν θερμαίνεται. ἀλλ’ ἢ καλῶς ζῆν ἢ καλῶς τεθνηκέναι τὸν εὐγενῆ χρή. πάντ’ ἀκήκοας λόγον. (S. Aj. 470–480) Eine Erprobung muß ich suchen von solcher Art, daß ich dem greisen Vater zeige: nicht ohne Mark im Wesen bin ich als sein Sohn geboren. Denn schmählich ist es, sich ein langes Leben wünschen, wenn es im Unheil keinen Wandel gibt. Wo ist da Freude, wenn so Tag um Tag den Tod nur näherrückt und ihn hinausschiebt? So einen schlage ich für nichts an, der sich als Sterblicher an leeren Hoffnungen erwärmt. Nein, würdig leben oder würdig tot sein muß der εὐγενής. – Alles hast du so gehört.4

Hier klingt das epische Heldenideal an, wie es in der Ilias begegnet. Als Maßstab für sein Handeln nimmt Aias die Taten seiner Vorfahren, denen er zumindest gleichkommen will.5 Er fühlt die Verpflichtung, sich vor dem Vater als seiner Herkunft würdig zu erweisen. Aias betont die Nichtigkeit eines langen Lebens und schließt mit der Feststellung, ein εὐγενής dürfe nur ruhmvoll leben oder ruhmvoll sterben.6 Seine eigene und damit seines Geschlechts gekränkte

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die Entscheidung offensichtlich durch ein demokratisches Mehrheitsprinzip gefällt wurde, ist ausgesprochen „unepisch“. Man muß sich nicht wundern, daß sich der heroische Aias dem nicht unterwerfen will. Es handelt sich hierbei um einen typischen Anachronismus: Gegenwart und mythische Vergangenheit sind durch „Brücken“ verbunden; immer wieder wird die Gegenwart in die mythische Vergangenheit hineingeholt, vgl. Zimmermann/ HGL I (2011) 491–492. Die Übersetzungen der Stellen bei Sophokles beruhen auf der Übertragung von Schadewaldt (1993, 1999). Von mir vorgenommene Änderungen sind nicht eigens bezeichnet. „The Ajax presents a man’s world“ (Segal (1981) 100). Vgl. auch Weinstock (1931) 40–41. Bezeichnend ist das Tempus. Das Perfekt zeigt an, daß es Aias weniger auf das ruhmvolle Sterben ankommt als vielmehr auf sein κλεός danach, vgl. Garvie (1998) 168 (ad 479). Diese den Tod bejahende Kompromißlosigkeit findet sich allenthalben bei Sophokles, so z. B. Aj. 1310–1311, El. 989, 1320–132, Ant. 72. Vgl. Blundell (1989) 71 Anm. 57, Hogan (1991) 196 (ad 479–480). Auch der homerische Aias lebt in dieser Alternative, Il. 15, 511–513, vgl. Kirkwood (1965) 61–62. Auf sein entschiedenes Abschließen mit der Welt im Schluß-

Aias

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Ehre ist Motivation und läßt, da ein Leben in Schande unerträglich wäre, nur den Tod.7 Die Alternative, die Aias sieht, erinnert im ersten Moment an Achilleus’ Wahl zwischen der Heimkehr nach Phthia, die mit Ruhmlosigkeit verbunden wäre, und dem Tod, der ihm ewigen Ruhm verspricht. Achilleus’ Tod aber unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von dem, den Aias vor Augen hat. Wie Achilleus will auch Aias nicht ohne die ihm zustehenden Ehrungen vor den Vater treten, und ebenso will er nicht mehr am Kampf teilnehmen. Aber Achilleus’ Intention ist eine andere. Aus Trotz verweigert er seine Teilnahme am Kampf, damit die Griechen schmerzlich erleben, was sie an ihm haben, und Agamemnon gezwungen ist, in einer Achilleus genehmen Form Abbitte zu leisten. Seine Verweigerungshaltung dient also letztlich der Wiederherstellung seiner Ehre. Und Patroklos’ Tod zeigt, daß ihn der Zorn nicht ganz unempfänglich für die menschliche Welt gemacht hat; um seinen Freund zu rächen, kehrt er in den Kampf zurück. Dagegen ist Aias’ Antrieb nur negativ; er will den Griechen, vor allem ihren Anführern, den Atriden, schaden, ohne aber dadurch auf ihr Verhalten einwirken zu wollen. Er erhofft sich vom Heer nichts mehr, sondern sieht es nur schadenfroh lachen. Im Gegensatz zu Achilleus wendet sich Aias explizit gegen die Möglichkeit, durch Großtaten im Kampf vor Troja seine Ehre wiederherzustellen. Damit nimmt er sich auch die Möglichkeit eines heldenhaften Todes auf dem Schlachtfeld. Aias’ Voraussetzungen sind freilich auch andere: Achilleus sieht sich von Agamemnon in seiner Ehre verletzt, Aias hat sich in Reaktion auf eine vergleichbare Ehrverletzung selbst noch viel mehr gedemütigt.8 Seine Alternative lautet nicht ruhmlos leben oder ruhmvoll tot

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monolog weist Segal (1995) 17 hin: In der dritten Person spricht Aias von seinen letzten überirdischen Worten, in der ersten von den folgenden in der Unterwelt (S. Aj. 864–865). Von seiner Zeit beeinflußt und in der Interpretation gelenkt, sieht Weinstock (1931) 49 in Aias geradezu eine Inkarnation der griechischen Todesergebenheit an sich: „Da aber der Todeskeim dieses Charakters kein zufällig Besonderes, sondern ... ein artmäßig Bedingtes ist, und zwar nicht nur, weil es einer ganzen Schicht, dem Adel der Heroenzeit zugehört, sondern weil diese Standesethik Ausdruck ja nur einer bestimmten Zeit für ein dauernd Völkisches ist, weil es also dabei um rassische Erblast geht, so ist das Aiasschicksal geladen mit griechischer Fatalität; d. h. der Einzelfall gewinnt die allgemeinere Bedeutung von nationalem Sinnbild.“ Kamerbeek (1953) 105 (ad 480) meint, die Stelle lasse keine Entscheidung darüber zu, ob ein Adel der Geburt oder des Charakters gemeint sei. In dieser Form stellt sich die Frage jedoch gar nicht. Wenn Aias, selbst aus adligem Hause, eine solche Gnome äußert, ist Blutsadel als selbstverständliche Voraussetzung mitgedacht. Gefordert wird auf dieser Grundlage das entsprechende Verhalten nach dem Wertekanon, das bereits bei Homer den γενναῖος erst γενναῖος macht. „The true Greek hero raises the standard of his own excellence so high that he is no longer appropriate to life“ (Whitman (1951) 73). Bertolaso (2010) zeigt, wie die αἰδώς und die mit ihr verbundene Demütigung in der Aufführung sichtbar wurden. Lawrence (2005) untersucht Aias’ Haltung im Licht der ethischen Standpunkte des 4. Jh. Dem liegt ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu den Göttern, insbesondere Athena, zugrunde. Schon in der Ilias erfährt Aias keine nennenswerte Unterstützung durch die Götter; er spricht nicht viel über sie oder zu ihnen, ohne explizit unfromm zu sein; er ist ohne Verbindung zu ihnen, vgl. Kirkwood (1965) 61. Dagegen weiß Achilleus Athena auf seiner Seite, wenn sie ihn beispielsweise daran hindert, auf Agamemnon loszugehen (Il. 1, 188– 222). Aias hingegen hindert sie nicht durch besänftigende Worte an seinem Angriff auf

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sein, sondern schändlich leben oder Selbstmord. Die Selbsttötung, die ihm in dieser ersten Rede nach dem Wahnsinn noch eine dem Helden gemäße Möglichkeit scheint, seine Ehre vor der Welt zu retten, entlarvt der Schlußmonolog in ihrem entwürdigenden Charakter.9 Tekmessa möchte Aias umstimmen. Wie Aias spricht sie zunächst von ihren Eltern, auch sie stammt aus einem vornehmen Haus, doch der Krieg machte sie zur Beutefrau, zur Sklavin (S. Aj. 485–490). Ihr Schicksal hängt an dem seinen, mit seinem Tode erwartet sie und den Knaben erneute Knechtschaft und außerdem der Hohn der anderen Griechen. Das sei nicht nur für sie und seinen Sohn schmerzlich, sondern auch für Aias’ Geschlecht eine Schande (S. Aj. 490–505). Tekmessa erinnert an den Kummer, den Aias den ihm Nächststehenden zuzufügen im Begriff ist, seinen Eltern, die ihn lebend wiederzusehen hoffen, seinem Sohn, der sein Leben als Waise wird fristen müssen, und ihr, die, von ihm ihrer Familie und Heimat beraubt, nur noch ihn auf der Welt hat (S. Aj. 506–519).10 Sie dürfe er nicht vergessen: ἀλλ’ ἴσχε κἀμοῦ μνῆστιν· ἀνδρί τοι χρεὼν μνήμην προσεῖναι, τερπνὸν εἴ τί που πάθοι. χάρις χάριν γάρ ἐστιν ἡ τίκτουσ’ ἀεί· ὅτου δ’ ἀπορρεῖ μνῆστις εὖ πεπονθότος, οὐκ ἂν γένοιτ’ ἔθ’ οὗτος εὐγενὴς ἀνήρ. (S. Aj. 520–524) Gedenke denn auch meiner! Soll der Mann doch ein Gedächtnis dafür wahren, wenn

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die Feldherrn, sondern sie erniedrigt ihn, indem sie ihn mit Wahnsinn schlägt und auf die Beutetiere hetzt (S. Aj. 51–54, 59–60), vgl. Lesky (1972) 181, Scodel (1984) 17, Zimmermann (2002b) 243. Vgl. auch Blundell (1989) 66–67. – Im Epos war Aias’ Selbstmord noch die Reaktion auf die Niederlage im Waffenstreit (so z. B. in der Ilias Parva (Procl. Chr. 206 Seve.), vielleicht auch in der Odyssee (Od. 11, 543–565), vgl. Murnaghan (1989) 176. In Sophokles’ Aias ist er die Reaktion auf sein Verbrechen, das in seiner mißglückten Form erst recht eine Erniedrigung für Aias darstellt. Vgl. Errandonea (1958) 31–32, Kott (1975) 64. Gelegentlich wird zu Aias’ „Ehrenrettung“ vorgebracht, der Selbstmord sei in der Antike nicht ebenso gesellschaftlich unmöglich gewesen und nicht als schändlich angesehen worden, wie er es dann im christlichen Abendland wurde, vgl. z. B. Kamerbeek (1953) 7. Für die Interpretation des Aias ist jedoch entscheidend, daß er selbst im Schlußmonolog von seinem Ende als einem Unglück spricht und sieht, wie die Eltern darunter leiden werden, vgl. S. Aj. 826 κακὴν ϕάτιν, die schlimme Kunde, 848 ἄτας τὰς ἐμάς, meine Verhängnisse, 849–851 τῇ τε δυστήνῳ τρόϕῳ.  / ἦ που τάλαινα, τήνδ’ ὅταν κλύῃ ϕάτιν, / ἥσει μέγαν κωκυτὸν ἐν τῇ πόλει – ... und der unseligen Mutter. / Ja, und dann wird die Unglückselige, / sobald sie diese Kunde hört, ein großes / Wehegeschrei erheben durch die ganze Stadt. Tekmessa kann, wenn Aias tot ist, als nicht-rechtmäßige Gattin nicht auf den Schutz der Familie hoffen, sie ist Mutter eines νόθος, ohne Recht, ohne Schutz und steht außerhalb der Familie. Sie fürchtet, wieder zur Beute und erneut verteilt zu werden. Ihre Rede an Aias ist auch ein Kampf um einen Status als Ehefrau, der sie in seine Familie einbände, vgl. Ormand (1996) 48–53. – Nach Aias’ Tod ändert sich ihre soziale Position. Als einzige hat sie Aias Kinder geboren, und das kann sich nicht mehr ändern; sie wird nun seine legitime Frau (S. Aj. 684–886). Ihr Statuswechsel wird nicht explizit anerkannt, aber die Terminologie wandelt sich. Jetzt muß sich Tekmessa strikt an die Verhaltensregeln für athenische Frauen im 5. Jh. halten, sie darf keine Totenklage erheben, vgl. Ormand (1996) 53–62. Vgl. auch Synodinou (1987).

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er irgendein Erfreuliches erfuhr. Denn Gunst ist es, die Gunst stets gebiert. Wem aber die Erinnerung zerrinnt an das, was Gutes er erfahren hat: Der ist wohl nicht mehr ein Mann, der εὐγενής wäre.

Auch Tekmessa argumentiert innerhalb eines archaischen adligen Wertekanons. Beziehungen werden auf der Grundlage gegenseitiger Aufmerksamkeiten unterhalten, und es ist die Pflicht eines jeden, eine ihm erwiesene χάρις zu erwidern.11 Die χάρις, auf die Tekmessa verweisen kann, sind die Freuden, die sie Aias als Beutefrau, willig oder unwillig, schenkte.12 Inwieweit sich Aias seiner Sklavin gegenüber tatsächlich verpflichtet fühlen muß, sei dahingestellt; Tekmessa versucht jedenfalls auf geschickte Weise, Aias mit den Gepflogenheiten und Gesetzen der Welt zu packen, der er sich zugehörig fühlt.13 Er handle stolz und egoistisch.14 Sie erinnert ihn an seine Verantwortung den Eltern und Freunden gegenüber, an das Schicksal seines Sohnes, der die väterliche Linie fortsetzen soll und mit dem auch ihr eigenes Los eng verknüpft ist. Sie zeichnet das Bild eines Mannes, der sich aus der Verantwortung stehlen möchte und der im Schutz althergebrachter Werte andere, ebenso gültige tradierte Werte mißachtet. Beider, Aias’ und Tekmessas εὐγένεια ist im adligen Wertekanon fest verwurzelt und kann Anspruch auf das Prädikat erheben. Tekmessa betont mehr die sozialen, auf die Gemeinschaft und das Zusammenleben hin ausgerichteten Aspekte einer aristokratischen Existenz, Aias eher die episch-heroischen des Krieges. Darin, daß Aias sich allein um seine Ehre sorgt und sich in seinem Handeln nur daran orientiert, folgt er Achilleus, der sich ebensowenig um die Not des griechischen Heeres kümmerte, sie vielmehr in Kauf nahm oder sogar instrumentalisierte und in seinen Plan integrierte. Beiden wird ihr rücksichtsloses, egozentrisches Verhalten von ihnen Nahestehenden vorgeworfen, Achilleus von Aias (Il. 9, 630–631), Aias von Tekmessa. Die Beharrlichkeit, mit der beide ihrem Zorn nachgeben, ist aus dem heroischen Kodex erklärbar und kann doch mit Verweis auf denselben kritisiert werden. Selbst andere Helden, die in demselben Wertekanon beheimatet sind, empfinden Achilleus’ bzw. Aias’ Haltung als überzogen. Für die Wertung des sophokleischen Aias muß darüber hinaus noch bedacht werden, daß das Tragödienpublikum der heroischen Welt noch weiter entrückt ist als das archaische, welches die Entstehung der homerischen Epen erlebte. Der Aias spielt zwar im heroischen Kontext des Trojanischen Kriegs, aber er ist kein Epos, sondern ein Drama des 5. Jahrhunderts. Die zeitliche Distanz zu den epischen Helden bringt mit sich, daß ihr Verhalten von den zeitgenössischen Rezipienten kritisch gesehen werden konnte, wenn nicht 11 12

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Vgl. Kurke (1991) 85–107, v. a. 92–97, Garvie (1998) 173 (ad 523–524). Encinas Reguero (2007) 55 vertritt die These, daß Tekmessa sich mit dem Verweis auf die wechselseitige χάρις auf den gemeinsamen Sohn Eurysakes beziehe. Vgl. Weinstock (1931) 41, Kamerbeek (1953) 114 (ad 524), Grütter (1971) 37–38, Blundell (1989) 75. Bowra (1945) 27–33, Blundell (1989) 68, Fisher (1992) 312–329, Altmeyer (2001) 33. Aias ist „monoman”, vgl. Lefèvre (2001) 59–60.

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mußte. Die Maßstäbe haben sich gewandelt.15 Das Interesse der Polis und der Gemeinschaft steht im Vordergrund, das Individuum soll dahinter zurücktreten.16 Tekmessa formuliert ihre Gegenposition explizit als Beschreibung eines im aristokratischen Sinn korrekten Lebens. Damit geht sie über die Worte des iliadischen Aias hinaus. Der beklagt nur Achilleus’ Unerbittlichkeit, sie dagegen faßt die Verpflichtung zur Reziprozität in Worte. Sie gibt dem Begriff der εὐγένεια zwar keine völlig neue, wohl aber eine deutlich anders gewichtete Bedeutung. Ein Begriff kann zweierlei bedeuten, und derselbe Terminus kann entgegengesetzte Schlüsse begründen. Aias schließt seine Rede mit dem apodiktischen Verweis auf die Ehre des Adligen; mit ihrer Rede und ihrem Schluß, in dem sie direkt auf Aias’ Worte antwortet, erweist Tekmessa diese Sicherheit als scheinbar. Der Gehalt des Begriffs εὐγενής ist in Frage gestellt.

4.1.2 Odysseus Aias stürzt sich in sein Schwert (S. Aj. 865). Sein Bruder Teukros kämpft um seine Bestattung, die die Atriden verbieten (S. Aj. 1047–1048), und erhält unerwarteten Beistand von Odysseus. Die Auseinandersetzung zwischen Agamemnon und Teukros hat sich zugespitzt, als Aias’ Erzfeind erscheint und sich gegen eine Entehrung des Leichnams ausspricht (S. Aj. 1332–1345):

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Αγ. Οδ. Αγ. Οδ.

μέμνησ’ ὁποίῳ ϕωτὶ τὴν χάριν δίδως. ὅδ’ ἐχθρὸς ἁνήρ, ἀλλὰ γενναῖός ποτ’ ἦν. τί ποτε ποήσεις; ἐχθρὸν ὧδ’ αἰδῇ νέκυν; νικᾷ γὰρ ἁρετή με τῆς ἔχθρας πλέον. (S. Aj. 1354–1357)

Ag. Od. Ag. Od.

Bedenk doch, wem du diese Gunst erweist. Er war mein Feind, jedoch ein Mann, der γενναῖος war. Was hast du vor? So sehr ehrst du den Leichnam eines Feindes? Viel schwerer wiegt mir Tüchtigkeit als Feindschaft.

Wiederholt sind von der Forschung die intertextuellen Bezüge zwischen der Ilias und Sophokles’ Aias untersucht worden, vor allem die Abschiedsszene von Hektor und Andromache Il. 6 ist mit Aias’ Abschiedsworten an seinen Sohn verglichen worden. In ihren Schlußfolgerungen für die Deutung des Aias sind die Gelehrten unterschiedlich weit gegangen, einig sind sie sich jedoch in der Feststellung, daß Aias und Teukros in ein schlechtes Licht gerückt werden, während Odysseus positiv erscheint. Vgl. Reinhardt (1947) 28–30, Easterling (1984), Minadeo (1987), Ciani (1997), von Möllendorff (2001), Zimmermann (2002b). Zanker (1992) untersucht in einem kleineren Beitrag den Begriff der εὐγένεια in Sophokles’ Aias vor dem Hintergrund des Wertekanons der Ilias. Er kommt zu einem ähnlichen Ergebnis wie ich im vorliegenden Kapitel, allerdings gilt sein Augenmerk sehr speziell den epischen Anleihen. Das läßt ihn seinen Befund ausschließlich in der von Adkins geprägten Begrifflichkeit und in Auseinandersetzung mit dieser formulieren, so daß die Unterschiede zur homerischen Welt des Epos und die durch die Verhältnisse des 5. Jh. bedingten Neuerungen, das Unerhörte von Odysseus’ Haltung beispielsweise, unausgesprochen bleiben. Das zeigt sich im Vergleich zur homerischen Welt besonders deutlich im Kampf: Nicht der ruhmbringende Einzelkampf, die bei Homer prominenteste und von den Helden angestrebte Kampfform, sondern die Hoplitenphalanx und die von Theten geruderte Flotte stehen im Mittelpunkt kriegerischen Geschehens.

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Auch Odysseus gebraucht, wenn er von Aias und seinem Verhältnis zu ihm spricht, die episch-heroische Begrifflichkeit, die aus der Ilias und von Aias bekannt ist. Er nennt den gefallenen Aias ἄλκιμος νεκρός (S. Aj. 1319), einen tapferen Leichnam,17 warnt vor einer in seinen Augen ungerechtfertigten ἀτιμία gegen Aias (S. Aj. 1339, 1342), bezeichnet Aias als ἄριστος (S. Aj. 1340) und ἐσθλός (S. Aj. 1345), hebt die Bedeutung von ϕίλοι als Ratgeber hervor (S. Aj. 1351, 1353) und spricht von der notwendigen αἰδώς, die Aias’ ἀρετή verdiene (S. Aj. 1356–1357). Dabei beruft sich Odysseus in weitaus freierer Weise auf den Wertekanon; wir erleben ihn souveräner als Achilleus oder Aias. Während zwei Aspekte des aristokratischen Wertesystems bei den beiden zuletztgenannten unversöhnlich aufeinandertreffen, weil der Gedanke der Rache und Ehre nicht mit dem der Verantwortung gegenüber den eigenen Leuten vereinbar schien, gelingt es Odysseus, die unterschiedlichen Wertegruppen in ihrer durch die jeweils andere Gruppe beschränkten Gültigkeit zu erkennen und den Umständen entsprechend zur Grundlage seines Handelns zu machen. Odysseus hat nicht vergessen, daß er mit Aias zuletzt nicht auf dem freundschaftlichsten Fuße stand, im Gegenteil, Aias war ihm ἔχθιστος. Doch das ist Vergangenheit, ἦν ποτε (S. Aj. 1336), die Feindschaft zählt in diesem Augenblick nicht mehr. Er habe ihn gehaßt, als dies geboten war (S. Aj. 1347), doch nun gälten die θεῶν νόμοι (S. Aj. 1343), die Gebote der Götter, die eine Bestattung unabhängig von Feindschaft und Freundschaft forderten. Aias die Bestattung zu verweigern hieße, die Gerechtigkeit mit Füßen zu treten (S. Aj. 1335). Auf Agamemnons ungläubige Frage hin, ob Odysseus sich darüber im klaren sei, für wen er sich einsetze, antwortet Odysseus mit einem Verweis auf Aias’ einstige γενναιότης (S. Aj. 1354–1355). Agamemnon bezeichnet Odysseus’ Verhalten Aias gegenüber als χάρις, als Aufmerksamkeit unter aristokratischen Freunden, als Bestandteil einer auf Reziprozität ausgerichteten Beziehung. Odysseus muß diese χάρις rechtfertigen. Aias sei zwar sein Feind gewesen, aber ein ausgezeichneter Kämpfer. γενναῖος ist hier auf Aias’ kriegerische Leistungen bezogen. Odysseus hatte kurz zuvor betont, daß Aias nach Achilleus der beste Kämpfer vor Troja gewesen sei (S. Aj. 1340–1341). Seine Tapferkeit im Kampf ist bekannt; nie hat er sich feige gezeigt, sondern stets im Verein mit seinem kleineren Namensvetter dem trojanischen Ansturm standgehalten. Damit hat er sich auch als seiner Familie würdig erwiesen, denn sein Vater hatte bei der ersten Eroberung Trojas großen Ruhm erlangt (S. Aj. 434–436). Aias entsprach – bis zu seiner Niederlage im Streit um Achilleus’ Waffen – den Anforderungen an den epischen Helden in umfassendem Sinn. Aias’ ἀρετή wiegt für Odysseus schwerer als die Feindschaft und verlangt αἰδώς (S. Aj. 1356–1357).

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ἄλκιμος kommt am weitaus häufigsten bei Homer vor, fast sechzigmal. V. a. Patroklos wird so benannt, aber auch Troer und ein Speer, Aias nur Il. 12, 349 und 362. Sarpedon unternimmt einen Angriff auf die griechische Mauer, und Menestheus, auf dessen Abschnitt der Angriff erfolgt, ruft Aias und Teukros zu Hilfe. Einen Pfeil und einen Speerstoß lenkt Zeus von Sarpedon ab, doch die Griechen können das Mauerstück halten (Il. 12, 290–412). Zum Gebrauch von ἄλκιμος in der Ilias vgl. Hainsworth (1993) 356 (ad 349). Bei Sophokles heißen neben Aias’ Leichnam auch Athena (S. Aj. 401), Herakles (S. Tr. 956) und die Bewohner von Skyros (S. Ph. 326) ἄλκιμος.

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Diese Haltung ist beachtlich, denn die Feindschaft, die die beiden Helden entzweit hat, ist nicht eine kleinere Meinungsverschiedenheit oder auf eine persönliche Abneigung zurückzuführen, die angesichts des Todes unerheblich scheinen müßte. Aias wollte, in seiner Ehre gekränkt, Rache nehmen und Odysseus nicht nur ermorden, sondern qualvoll schlachten, was Odysseus, für Aias unsichtbar, auch mitangehört hatte (S. Aj. 101–113).18 Feindschaft und der Wunsch nach Rache sind im heroischen Kodex nicht nur eine berechtigte, sondern notwendige Reaktion auf Entehrung, Provokation und Aggression. Vor diesem Hintergrund ist Odysseus’ Bereitschaft, seine Feindschaft abzulegen und von Rache abzusehen, bemerkenswert. Daß Aias nun tot vor ihm liegt, erleichtert diesen Wandel der Einstellung,19 läßt ihn aber nicht automatisch erwarten; Agamemnon und Menelaos sehen trotzdem keinen Grund, in ihrem Haß nachzulassen. Die Gegnerschaft von Aias und Odysseus, die die letzte Zeit vor Aias’ Selbstmord bestimmt hat, macht das positive Urteil, das Odysseus ausspricht, um so glaubwürdiger. Man hat Odysseus in der Forschung vorgeworfen, seine Haltung scheine nur großartig, in Wirklichkeit handle er aus Berechnung, er sei ein Opportunist und ein Egoist, wie er uns dann auf höchst unsympathische Weise im Philoktetes begegnet. Er sei das Bild des neuen wendigen Politikers, der, von der Geradlinigkeit der guten alten Zeit abgekommen, von vornherein eine moralisch fragwürdige Existenz führe.20 Was man auch für Odysseus’ Intention halten mag und wie man sie dann auch beurteilen möchte, entscheidend ist, daß er das unerbittliche und scheinbar endlose Hin und Her von Beleidigung und Rache durchbricht. Insofern ist der Schluß des Aias mit den Eumeniden vergleichbar. In beiden Stücken sind pragmatische Erwägungen bei dem versöhnlichen Ende im Spiel – es geht um die Vermeidung neuer Konflikte, nicht um die rigorose Durchsetzung von vielleicht durchaus gerechtfertigten Standpunkten –, und die Versöhnung mag in den Augen des modernen Rezipienten vielleicht auf moralisch nicht ganz befriedigende Weise zustande kommen, doch letztlich ist anzuerkennen, daß sie einen friedlichen 18

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Diesen Gesichtspunkt scheint von Möllendorff (2001) 276 offensichtlich gering zu bewerten, wenn er feststellt, politisch stehe die Tragödie für „die Zurücksetzung kleinlicher Bedenken zugunsten der übergeordneten Perspektive eines geregelten Miteinanders“. Der Tod ist eine Grenze für das ethisch anerkannte Prinzip des „harming enemies“, vgl. Blundell (1989) 55–56, die auf Il. 24, 113–115; Od. 22, 411–412; Lys. 2, 8; Ar. Nu. 549–550 verweist. Whitman (1951) 71, Blaise (1999) 403, Flashar (2000) 55, Altmeyer (2001) 23 betonen Odysseus’ Pragmatismus und Flexibilität im Kontrast zu Aias’ Ideal der Aufrichtigkeit und Verläßlichkeit. Ein leiser Vorwurf klingt auch mit, wenn Blaise (1999) 407–408 zwar anerkennt, daß Aias durch Odysseus sein Grab und damit seine Ehre erhält, aber feststellt, daß das das Ergebnis einer Diskussion, ja, einer Überredung sei und so allem widerspreche, wofür Aias gekämpft habe. Aias werde erneut vernichtet, dieses Mal, ohne sich wehren zu können. Dagegen bewerten andere Odysseus’ Haltung als vorbildlich, vgl. z. B. Webster (1936) 70–71. Weinstock (1931) 55 sieht in Odysseus’ Auseinandersetzung mit Agamemnon die „Überlegenheit der Objektivität des Urteils über die Subjektivität des Gefühls“ bewiesen. Lefèvre (2001) 66–69 findet in Odysseus den einzigen σώϕρων des Dramas, Zimmermann (2004c) 174–176 versteht die scheinbar widersprüchlichen Odysseus-Figuren vor dem Hintergrund seiner epischen πολυτροπία. Zur politischen Relevanz der σωϕροσύνη vgl. Altmeyer (2001) 25–26.

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und dauerhaft aggressionsfreien Zustand schafft. Indem Athena und Odysseus als Freunde auf die Erinyen und Agamemnon einwirken und ein Nachgeben erreichen, wird ein blutiger Streit beendet, und Orestes (bzw. Athen) und Aias (bzw. seine Familie) finden Rettung. Die Lösung des Konflikts durch Odysseus macht deutlich, daß die alten Werte der Interpretation bedürfen. Der Wertekanon ist, wie schon die Ilias zeigt, in sich nicht widerspruchsfrei. Gegensätzliche Erwartungen und Pflichten können kollidieren. Man braucht Fingerspitzengefühl, um sein Verhalten nach den heroischen, aristokratischen Werten auszurichten, weil die jeweiligen situationsbedingten Umstände berücksichtigt werden müssen. Als maßvollen Charakter, der auf sein „Recht“21 verzichtet, sich über das Unglück seines Feindes zu freuen, hat der Zuschauer Odysseus bereits im Prolog kennengelernt. Als Athena ihn zum Zeugen von Aias’ Schmach machen will, versucht Odysseus zunächst, das zu verhindern, und als ihm dies nicht gelingt, sieht er der Vorführung zumindest ohne Genugtuung zu (S. Aj. 74–88 und 118–126). Vielmehr bedauert er den Feind, weil er in ihm die beiden gemeinsame menschliche Bedingtheit erkennt.22 Erst als Odysseus sich in unmißverständlicher Entschiedenheit gegen jegliche Triumphgefühle ausgesprochen hat, bestätigt Athena sein Verhalten als gottgefällig und mustergültig (S. Aj. 127–133). Sie warnt vor einem ὑπέρκοπον ἔπος, einem vermessenen Wort, gegen die Götter und Überheblichkeit gegen die Menschen, nur die σώϕρονες seien den Göttern lieb. In beiden Szenen begründet Odysseus seine Haltung gegen Aias mit einer Sorge für sein eigenes Los (S. Aj. 124 und 1365), was ihm als Egoismus und niederes Motiv vorgeworfen wird (S. Aj. 1366). Er verknüpft den Gedanken jedoch mit der allgemein-menschlichen Einflußlosigkeit, mit seinem Ausgeliefertsein an die Götter und das Schicksal, das jedem Übermut entgegensteht (S. Aj. 86, 123, 125–126). Odysseus erkennt im anderen sich selbst und richtet sein Verhalten an dieser Einsicht aus. Einerlei, wie man Odysseus’ Motive einschätzt, es ist bezeichnend, daß gerade Odysseus nach Aias’ Tod die Rolle seines Fürsprechers übernimmt.23 Zuletzt sind sie die größten Feinde gewesen, schließlich war Odysseus der erfolgreiche Konkurrent im Streit um Achilleus’ Waffen. In dem Drama drückt sich damit eine durchaus kritische Sicht der traditionellen Werte aus, wenn ein Held, der nach dem heroischen Wertekanon die größte Berechtigung zu Rache hätte, weil ein Mordanschlag auf ihn nur durch göttliche Hilfe mißlang, freiwillig darauf verzichtet und eine neue gewaltsame Auseinandersetzung verhindert.

4.1.3 Teukros, Agamemnon, Menelaos Die Kontrahenten, zwischen denen Odysseus vermittelt, sind im Gegensatz zu ihm radikal und stur, so wie sich auch Aias zeigte. Unversöhnlich prallen 21 22

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Blundell (1989) 27–28 und passim. Zur Rolle der condicio humana beim Evozieren von Mitleid in der Tragödie vgl. Grethlein (2003b) 49–50, 53–55. In der Ilias parva versagt Agamemnon Aias διὰ ὀργήν, aus Zorn, die Verbrennung, und Aias wird in einem Sarg bestattet (Fr. 3 D). Odysseus’ Eingreifen zugunsten von Aias ist vermutlich Sophokles’ Erfindung, vgl. Kamerbeek (1953) 3–4, Garvie (1998) 2 und 5.

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die Meinungen aufeinander. Menelaos und Agamemnon wollen Aias als ihrem Feind die Bestattung verwehren und sehen sich in der Position, dies auch durchzusetzen, während Teukros sich auf Aias’ Verdienste im Kampf und das göttliche Gesetz beruft, um das Begräbnis seines Halbbruders zu erreichen. Das Bestattungsverbot selbst und seine Begründung durch Menelaos sind für Teukros eine Provokation. Aias habe sich als Feind der Griechen, besonders ihrer Anführer erwiesen (S. Aj. 1052–1061), und überhaupt habe er schon immer zum Ungehorsam geneigt (S. Aj. 1069–1070). Mit dem Gehorsam aber stehe und falle eine jede Gemeinschaft, weshalb da keine Nachsicht geübt werden dürfe (S. Aj. 1073–1084).24 Nun, da er tot daliege, sei man seiner endlich Herr (S. Aj. 1067– 1068). Menelaos nennt Aias κακός und bezeichnet ihn als δημότης (S. Aj. 1071), als Mann aus dem (einfachen) Volk. Doch die Frage der Herkunft ist zunächst nicht der Gegenstand der Auseinandersetzung, sondern wird eher beiläufig im Rahmen der gegenseitigen Beschuldigungen und als einer von vielen Gesichtspunkten angeführt. Teukros greift jedoch eben diesen Vorwurf zu Beginn seiner Antwort an Menelaos auf: οὐκ ἄν ποτ’, ἄνδρες, ἄνδρα θαυμάσαιμ’ ἔτι, ὃς μηδὲν ὢν γοναῖσιν εἶθ’ ἁμαρτάνει, ὅθ’ οἱ δοκοῦντες εὐγενεῖς πεϕυκέναι τοιαῦθ’ ἁμαρτάνουσιν ἐν λόγοις ἔπη. (S. Aj. 1093–1096) Nie werd ich, Männer, mich noch wundern über einen Mann, der niedrig von Geburt ist und es dann verfehlt, wenn solche Leute, die für εὐγενεῖς gelten, im Reden derart in die Irre gehen.

Teukros stellt Menelaos’ edle Herkunft und seine – in Teukros’ Augen – verfehlten Worte gegenüber. Wie solle man an einen einfachen Mann irgendwelche Forderungen nach Angemessenheit herantragen, wenn selbst der εὐγενής sie in diesem Maße verfehle? Wie schon mehrfach ist der Begriff der εὐγένεια auch hier wieder mit einer sittlichen Verpflichtung verbunden.25 Seine Nichterfüllung wird zum Vorwurf gemacht. Die sich anschließende Stichomythie ist zunächst von Fragen der Hierarchie und des sozialen Status geprägt (S. Aj. 1120–1125).26 In der folgenden Szene nimmt Agamemnon, ohne beim vorausgegangenen Wortwechsel anwesend gewesen zu sein, das Thema der Herkunft wieder auf. Dieses Mal ist Teukros der Beleidigte:

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Ähnlich argumentiert Kreon gegenüber Haimon, (S. OT 662–680, 730–738, außerdem 504– 507). πειθαρχία, Gehorsam, hat oligarchische Konnotationen; auf Kreons tyrannische Züge ist in der Forschung verschiedentlich hingewiesen worden, vgl. z. B. Meier (1988) 217–218, Zimmermann (1992a) 73–75, Griffith (1999) 48. Vgl. auch Blundell (1989) 91 mit Anm. 162, Garvie (1998) 225 (ad 1093–1096). Dagegen ist Donlan (1980) 132 der Ansicht, es komme Teukros auf die Feststellung an, daß Menelaos kein rechtmäßiger Herrscher über die Krieger aus Salamis sei (S. Aj. 1102–1104). Hawthorne (2009) 30–33 zeigt die Bedeutung der unscheinbaren Anrede an den Chor (S. Aj. 1093), die dem Streit eine entscheidende Wende gebe. Teukros mache den Chor zum impliziten Richter über den Streit und versuche, Allianzen zu schaffen.

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σὲ δὴ τὰ δεινὰ ῥήματ’ ἀγγέλλουσί μου τλῆναι καθ’ ἡμῶν ὧδ’ ἀνοιμωκτεὶ χανεῖν. σέ τοι, τὸν ἐκ τῆς αἰχμαλωτίδος λέγω· ἦ που τραϕεὶς ἂν μητρὸς εὐγενοῦς ἄπο ὑψήλ’ ἐϕώνεις κἀπ’ ἄκρων ὡδοιπόρεις, ὅτ’ οὐδὲν ὢν τοῦ μηδὲν ἀντέστης ὕπερ, κοὔτε στρατηγοὺς οὔτε ναυάρχους μολεῖν ἡμᾶς ᾿Αχαιῶν οὔτε σοῦ διωμόσω, ἀλλ’ αὐτὸς ἄρχων, ὡς σὺ ϕής, Αἴας ἔπλει. ταῦτ’ οὐκ ἀκούειν μεγάλα πρὸς δούλων κακά; (S. Aj. 1226–1235) Du also hast, wie man mir meldet, es gewagt, mit fürchterlichen Reden gegen uns so straflos aufzusperren deinen Mund. Du da, den Sproß des kriegsgefangenen Weibes mein ich. Wärst du von einer Mutter aufgezogen, die εὐγενής ist, wie würdest du erst tönen und auf Zehenspitzen einhergehen, wo du nun, ein Nichts, dich widersetzt für ein anderes Nichts, und beschwurst, wir seien nicht als Heeres- noch als Flottenführer über die Griechen oder über dich gekommen, sondern als sein eigener Herr, behauptest du, fuhr Aias aus. Sind dieses nicht, von Sklaven anzuhören, ärgste Beschimpfungen?

Agamemnon ist verärgert über Teukros’ forderndes Auftreten und seine lauten Worte gegen Menelaos und ihn selbst. Teukros’ Herkunft macht den Widerstand gegen die obersten Feldherrn des Griechenheers für Agamemnon noch unerhörter. Despektierlich bezeichnet er ihn als Sohn einer Beutefrau und Sklavin. Er malt sich aus, wie hochmütig Teukros sich erst verhielte, stammte er von einer adligen Frau ab. Agamemnon versteht Teukros’ Verhalten offensichtlich als durch seine niedere Herkunft gedämpft und zurückgehalten. Die Herkunft mißt demnach einem jeden Menschen sein ihm zugestandenes Selbstbewußtsein zu: der Adlige darf mehr, oder jedenfalls erlaubt er sich mehr, und die Umwelt geht nicht davon aus, daß er sich bescheiden, sondern arrogant verhalten werde. Nachdem Agamemnon dann zunächst Aias und anschließend wieder Teukros beschimpft hat, nutzt er noch einmal Teukros’ Herkunft für eine Demütigung. Er verhalte sich mit seinem Eintreten für Aias hybrid27 und führe die Rede eines Freien. Er solle endlich zur Vernunft kommen und, seiner Herkunft eingedenk, einen Freien beibringen, der an seiner Statt mit ihm, Agamemnon, spreche. Schließlich verstehe er seine barbarische Sprache nicht (S. Aj. 1258– 1263).28 27

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Damit bewertet Agamemnon Teukros’ Verteidigung des Bruders als einen ebensolchen Frevel wie Aias’ Tat selbst, als einen Akt der Hybris, vgl. Blundell (1989) 94. Zumindest ist Teukros ebenso starrsinnig und selbstgerecht wie sein Bruder Aias, vgl. Lefèvre (2001) 63–64. Altmeyer (2001) 54–55 verweist auf das Staatsbürgergesetz von 451, nach dem man nur Bürger sein konnte, wenn auch Vater und Mutter athenische Bürger waren, und sieht darin das Postulat eines Bürger-Adels. Der Abstammungsstolz werde in die Polis übertragen, und durch das demokratische Umfeld bilde sich ein neuer Ehrenkodex; in Teukros’ Augen jedoch sei das Kriterium des Bürgeradels für Agamemnon zu hoch. Er sei den „Gestalten ‚reiner‘ Abstammung“ (55) moralisch überlegen und verkörpere damit eine Kritik an der

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Teukros greift das Thema in seiner Antwort gerne auf. Er betont Aias’ Verdienste im Kampf (S. Aj. 1272–1288) und kommt dann auf seine eigene und Agamemnons Herkunft zu sprechen. Teukros hält Agamemnon die phrygische, also barbarische Herkunft seines Vorfahren Pelops vor Augen und erinnert an das frevelhafte Mahl, das sein Vater Atreus dem Bruder vorsetzte, sowie das Verhältnis seiner Mutter mit ihrem Schwager (S. Aj. 1291–1297). Er mißt Agamemnons Vorfahren also nicht nur an ihrer Herkunft (Pelops), sondern auch an ihrem sittlichen Verhalten (Atreus, Aerope). Der moralische Charakter nimmt bei dieser Ahnenschau den deutlich größeren Raum ein und bildet entsprechend auch den schwereren Vorwurf.29 Davon hebt sich Teukros’ Herkunft in ihrer sittlichen Tadellosigkeit ab. Zwar ist seine Mutter Sklavin gewesen, doch aus königlichem Geschlecht. Der Krieg hat sie in die Knechtschaft gebracht, der Krieg, in dem Teukros’ Vater sich durch seine besondere Tapferkeit auszeichnete, so daß Herakles ihm den besten Beuteteil zuerkannte (S. Aj. 1289, 1299–1303). Er selbst, Teukros, sei daher ἄριστος ἐξ ἀριστέοιν δυοῖν (S. Aj. 1304), ein Edler, von zwei Edlen stammend. Die Frage der edlen Herkunft wird in beiden Passagen unter bekannten Blickwinkeln behandelt. Mit dem Bewußtsein der hohen Abkunft verbindet sich der Anspruch, dem gesellschaftlichen Verhaltenskodex in besonderem Maße gerecht zu werden. In der ersten der beiden zuletzt betrachteten Textstellen konstatiert Teukros eine Diskrepanz zwischen der edlen Abstammung und dem unedlen Verhalten von Menelaos. In der zweiten Passage wirft Agamemnon Teukros vor, er trete, verglichen mit seiner Herkunft, zu keck auf. Vom Nichtadel, vom Sohn einer Sklavin zumal, wird Zurückhaltung erwartet. Das ist hier auffallend explizit formuliert. Bei Homer war bereits die Zurechtweisung des vorlauten Thersites begegnet, doch seine Zugehörigkeit zu den κακοί beruht, wie wir sahen, auf seiner mangelnden Tapferkeit im Kampf, er hat sich die Berechtigung, das Wort zu ergreifen, (noch) nicht erworben. Hier nun wird der εὐγενής mit dem Sklaven kontrastiert, und der Vorwurf des Fehlverhaltens ist nicht einfach Zurechtweisung, sondern bewußte und intendierte Erniedrigung eines, der zwar eine Beutefrau zur Mutter hat, im Heer aber eigentlich nicht die Rolle eines Sklaven spielt. Daß die Herkunft in dieser Weise als Demütigung gebraucht werden kann, zeigt den Stellenwert, den die Abstammung unter den

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demokratischen Intoleranz und Diskriminierung über das Mittel des Bürgerrechts. Vgl. auch Camerer (1953) 312, Flashar (2000) 52–53. Grütter (1971) 100–102 glaubt, Teukros komme es auf einen Gesinnungsadel an, während Aias und Agamemnon nach der alten Adelsethik Verhaltensregeln aus der vornehmen Herkunft ableiteten; Teukros dagegen weise auf den inneren und äußeren Widerspruch bei Agamemnon hin. Doch diesem Widerspruch stellt Teukros nicht in erster Linie seine edle Gesinnung gegenüber, sondern die Übereinstimmung von Herkunft und Verhalten bei seiner eigenen Person. Ihm kommt es ebenso wie Agamemnon auf die Herkunft an, nicht umsonst betont er seine eigene königliche Abstammung, Teukros legt lediglich größeren Wert als Agamemnon auf ein des Geschlechts würdiges Verhalten – jedenfalls in der Rede, denn er zetert und droht nicht weniger als Menelaos und Agamemnon. Unbeherrschtheit galt als ein Merkmal der unteren Schichten (z. B. Ar. Eq. 40–43), vgl. Altmeyer (2001) 51–52. Mehr Verständnis für Teukros’ heftige Art zeigt Blaise (1999) 401–402. Blaise weist darauf hin, daß Teukros nach Aias’ Tod nichts bleibt, kein Verbündeter, kein Status. Ihm bleibe nur, seine Gegner zu demontieren.

Philoktetes

107

Kriterien hat, die der Bewertung der Menschen dienen und ihnen ihren Platz in der Gesellschaft zuweisen.

4.1.4 Zusammenfassung Aias sieht in seiner ersten Rede die traditionelle Haltung des epischen Helden als Pflicht eines εὐγενής. Ganz an seiner τιμή und seinem κλέος orientiert, sorgt er sich, da weiterzuleben unter den gegebenen Umständen schändlich wäre, nur um einen rühmlichen Tod, den er im Schwert zu finden glaubt. Tekmessas Verständnis von εὐγένεια nimmt dagegen auch die sozialen Seiten des menschlichen Lebens in den Blick. Die Verpflichtungen gegenüber den ϕίλοι und die Verantwortung für die Angehörigen sollen handlungsleitend sein. Odysseus geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist das Zusammenleben der ganzen Gemeinschaft das Kriterium. Er kann die γενναιότης auch seines Feindes finden, wenn dies der Entspannung der Situation dient. Odysseus erkennt Aias’ Tüchtigkeit im Kampf an und ist in der Lage, über seine persönliche Feindschaft und Aias’ im Wahnsinn vollbrachte Tat hinwegzusehen und ihm die verdiente τιμή zukommen zu lassen. Er hat durchaus persönliche Gründe (S. Aj. 127–133, 1367), für den Feind einzutreten, dient damit jedoch der friedlichen Einigung in einem eskalierenden Streit.

4.2

Philoktetes

Im Philoktetes fällt der Begriff εὐγενής/γενναῖος insgesamt zehnmal. In neun Fällen wird Neoptolemos (bzw. zweimal sein Vater und seine Vorfahren) so benannt, zweimal von Odysseus, siebenmal von Philoktetes.30 Beide wollen den jungen Mann für sich gewinnen; sie fordern einander entgegengesetzte Verhaltensweisen von ihm – und beide aufgrund seiner εὐγένεια.

4.2.1 Neoptolemos und Philoktetes Nachdem Philoktetes mit Freuden Neoptolemos’ Identität vernommen hat und seine eigene Geschichte erzählt hat, macht Neoptolemos gerade Anstalten, über die angebliche gemeinsame Feindschaft mit den Atriden Philoktetes’ Vertrauen zu gewinnen. Als er von Achilleus’ Tod spricht, fällt ihm Philoktetes ins Wort: 30

Vgl. auch Avery (1965) 289. – Der Wortlaut des Orakels, wonach Philoktetes mit seinem Bogen nach Troja kommen muß, damit die Stadt eingenommen werden kann, wird im Drama nicht ganz klar. Es ist aber wohl davon auszugehen, daß Neoptolemos’ Deutung die richtige ist. Philoktetes muß mit seinem Bogen aus freien Stücken nach Troja kommen. Herakles bestätigt am Ende diesen Sinn. Odysseus, der πείθειν im Sinn eines unfreiwilligen Überredens versteht, wird dem Wortsinn nicht gerecht, und Philoktetes wird von dem früheren Unrecht, das ihn immer noch quält, gehindert zu sehen, was die Götter verlangen. Mit der Zusage der Heimfahrt ganz am Ende verläßt auch Neoptolemos das Orakel, vgl. Visser (1998). Hawthorne (2006) 256–259 hebt auf verschiedene Arten von Orakeln ab, präskriptive, prädiktive und konditionale, und geht davon aus, daß die verschiedenen Charaktere das Orakel entsprechend unterschiedlich auslegen.

108 Sophokles Φι. Νε. Φι.

οἴμοι· ϕράσῃς μοι μὴ πέρα, πρὶν ἂν μάθω πρῶτον τόδ’· ἦ τέθνηχ’ ὁ Πηλέως γόνος; τέθνηκεν, ἀνδρὸς οὐδενός, θεοῦ δ’ ὕπο, τοξευτός, ὡς λέγουσιν, ἐκ Φοίβου δαμείς. ἀλλ’ εὐγενὴς μὲν ὁ κτανών τε χὠ θανών. (S. Ph. 332–336)

Ph. Ne. Ph.

O mir! sprich mir nicht weiter, eh’ ich das zuerst gehört hab: tot, wahrhaftig, ist des Peleus Sohn? Tot ist er, doch durch keinen Mann: durch einen Gott! Vom Bogen, sagen sie, bezwungen des Apoll. Doch εὐγενής war der Tötende wie der Tote.

Achilleus ist der epische Held par excellence, er kämpft tapfer und erfolgreich für seine τιμή und sein κλέος ἄϕθιτον. Philoktetes bezeichnet ihn als Peleus’ Sohn, er betrachtet ihn als Vertreter seines Geschlechts, dessen sich würdig zu erweisen er die Pflicht hat. Philoktetes hat Achilleus in besonderem Maß geschätzt, er nennt ihn ϕίλτατος (S. Ph. 242) und ἄριστος (S. Ph. 1284). Mit dem Prädikat εὐγενής faßt er seine ganze Wertschätzung für den toten Freund in einem Wort.31 Daß Apollon als εὐγενής bezeichnet wird, mag im ersten Moment verwundern.32 Das Attribut ist wohl in allgemeinem Sinn als besonders ehrend aufzufassen. Tötender und Getöteter sind einander würdig. Die Herkunft spricht in Philoktetes’ Augen für den jungen Neoptolemos, er rechnet mit den väterlichen Anlagen und einer entsprechenden Gesinnung auch beim Sohn.33 Auf die väterliche Verhaltensweise ist Neoptolemos demnach festgelegt; so versucht Philoktetes beispielsweise bei Odysseus’ und Neoptolemos’ Abgang mit dem Bogen durch ein beschwörendes ὦ σπέρμ’ ᾿Αχιλλέως (S. Ph. 1066), Sohn des Achilleus, den jungen Mann zu bewegen, seinen Sinn zu ändern und auf seine, Philoktetes’ Seite überzutreten, und so ist auch der Betrug durch Neoptolemos für Philoktetes ganz unfaßbar, ungläubig nennt er ihn ὁ παῖς οὑξ ᾿Αχιλλέως (S. Ph. 940), Sohn des Achilleus. Zunächst gewinnt Neoptolemos jedoch Philoktetes’ Vertrauen. Der Kranke setzt seine Hoffnungen in den jungen Mann. Er wirbt um seine Freundschaft und bittet ihn, als dieser sich zum Gehen wendet, ihn nach Hause zu bringen, wie er schon so manchen zufällig auf Lemnos Gelandeten vergeblich bat (S. Ph. 307–311). Dieses Mal ist der Gebetene kein Fremder, und Philoktetes kann seine Rede mit einem Appell an Neoptolemos’ aristokratisches Gewissen beginnen: πρός νύν σε πατρός, πρός τε μητρός, ὦ τέκνον, πρός τ’ εἴ τί σοι κατ’ οἶκόν ἐστι προσϕιλές, ἱκέτης ἱκνοῦμαι, μὴ λίπῃς μ’ οὕτω μόνον, ἐρῆμον ἐν κακοῖσι τοῖσδ’ οἵοις ὁρᾷς ὅσοισί τ’ ἐξήκουσας ἐνναίοντά με· ἀλλ’ ἐν παρέργῳ θοῦ με. δυσχέρεια μέν, ἔξοιδα, πολλὴ τοῦδε τοῦ ϕορήματος· ὅμως δὲ τλῆθι· τοῖσι γενναιοῖσί τοι τό τ’ αἰσχρὸν ἐχθρὸν καὶ τὸ χρηστὸν εὐκλεές. 31 32 33

“(A) brief but touching tribute from hero to his heroic friend” (Ussher (1990) 123 (ad 336)). „The epithet certainly seems little suited to a deity“ (Blaydes (1870) 76 (ad 336)). Vgl. auch Solmsen (1932) 16 Anm. 56.

Philoktetes

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σοὶ δ’, ἐκλιπόντι τοῦτ’, ὄνειδος οὐ καλόν. δράσαντι δ’, ὦ παῖ, πλεῖστον εὐκλείας γέρας, ἐὰν μόλω ’γὼ ζῶν πρὸς Οἰταίαν χθόνα. (S. Ph. 468–479) Bei deinem Vater, deiner Mutter, Kind, und was dir sonst im Hause lieb sein mag, schutzflehend komme ich zu dir: laß mich nicht so allein, so einsam in all diesen Übeln, in denen ich, wie du siehst und hörst, leben muß. Als nebensächlich nur betrachte mich. Ich weiß, viel Ungemach bedeutet solche Fracht. Nimm’s dennoch auf dich! Denen, die γενναῖοι sind, ist Schändlichkeit verhaßt und Rechtschaffenheit rühmlich. Versäumst du es, bringt es dir böse Schmach. Tust du es, Sohn, so wird ein guter Ruf dir reichste Ehre bringen, wenn ich lebend in das Land am Oita komme.

Als ein Supplikant, den man nicht ungestraft abweisen darf, nähert sich Philoktetes dem Jüngling und ruft ihn bei Vater und Mutter an, ihn nicht allein zurückzulassen. Bei Verwandten oder Dingen, die dem Angeflehten wertvoll sind, wird häufig gebeten,34 hier sind Vater und Mutter darüber hinaus eine Ermahnung an den Sohn, seine edle Herkunft nicht durch eine Verletzung des Zeus Hikesios zu beflecken. Als γενναῖος könne er Philoktetes nicht im Stich lassen, ohne sein Ansehen zu beschädigen. Philoktetes gebraucht die Wertbegriffe des aristokratischen Verhaltenskodex. Ihn nicht zu erhören wäre αἰσχρόν und brächte ὄνειδος οὐ καλόν, das Gegenteil sei χρηστόν und verschaffe πλεῖστον εὐκλείας γέρας. Philoktetes formuliert das ethische Prinzip zunächst allgemein und wendet die Regel dann auf seinen eigenen Fall an.35 Die Sentenz kann größere Verbindlichkeit beanspruchen als der einzelne Fall, dadurch wird die Bitte eindringlicher und drängender. Der Lahme fleht Neoptolemos bei Zeus Hikesios an, umfaßt seine Knie (S. Ph. 484–485) und bittet um Mitleid (S. Ph. 501).36 Dies zu ignorieren hieße, einen Frevel zu begehen. Philoktetes weiß dabei nicht, daß Priamos sich ebenso als ein Bittflehender an Neoptolemos’ Vater gewandt hat, diesen an seinen Vater Peleus erinnert hat und daß Achilleus sich unerwartet von den Tränen des alten Mannes rühren ließ und Mitleid hatte.37 Den Fingerzeig auf den Vater, als 34

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Vgl. z. B. S. El. 428, OC 250–251. Damit drängt der Supplikant auf ein Versprechen, das den Charakter eines Eids annimmt, der eine „bedingte Verfluchung“ (DNP 3, 909 s. v. Eid) enthält, denn bei Nichterfüllung droht göttliche Strafe. Philoktetes fleht Neoptolemos bei dem an, was ihm selbst seit zehn Jahren fehlt und was ihm deshalb besonders lieb und teuer sein muß, vgl. Segal (1981) 298. τοι zeigt eine allgemeine Maxime an, vgl. Webster (1970) 101 (ad 475), Kamerbeek (1980) 84 (ad 475–476), Ussher (1990) 126–127 (ad 475–478). So auch S. Ph. 967, und in S. Ph. 870 dankt er Neoptolemos für das gezeigte Mitleid. Rütz (2009) 566 betont, daß Philoktetes dem Begriff γενναῖος durch den Kontext der Hikesie ergänzend eine Konnotation von Mitmenschlichkeit zuschreibe. Rose (1976) 68 meint, Philoktetes verwende zwar die heroische Terminologie, was er jedoch erbitte, sei weit entfernt von der homerischen Welt, es gehe hier um die gütige Tat am Nächsten. Die Bitte um Mitleid wird aber auch in der Ilias in den Wertekanon integriert.

110 Sophokles

Mahnung, ihn zum Vorbild zu nehmen, erkennt der Zuschauer als treffend, treffender als Philoktetes ahnen kann. Mit der Einwilligung, die Neoptolemos bald darauf gibt (S. Ph. 526), beweist er freilich nicht Vaters Wesen, der ein Feind von Unaufrichtigkeit war (Il. 9, 312–313), sondern beginnt erst so recht mit der Umsetzung der List. Nachdem der von Odysseus geschickte vermeintliche Kauffahrer zur Eile gemahnt hat, will Philoktetes nur noch einige lindernde Kräuter aus der Höhle holen, da ergreift ihn ein neuer Anfall der Krankheit. Er vertraut Neoptolemos den Bogen an, verbunden mit einer Warnung, ihn wohl zu hüten und nicht aus der Hand zu geben (S. Ph. 762–778). Das Blut quillt, und die Schmerzen werden unerträglich (S. Ph. 782–796): ὦ θάνατε θάνατε, πῶς ἀεὶ καλούμενος οὕτω κατ’ ἦμαρ οὐ δύνῃ μολεῖν ποτε; ὦ τέκνον, ὦ γενναῖον, ἀλλὰ συλλαβὼν τῷ Λημνίῳ τῷδ’ ἀνακαλουμένῳ πυρὶ ἔμπρησον, ὦ γενναῖε· κἀγώ τοί ποτε τὸν τοῦ Διὸς παῖδ’ ἀντὶ τῶνδε τῶν ὅπλων, ἃ νῦν σὺ σῴζεις, τοῦτ’ ἐπηξίωσα δρᾶν. (S. Ph. 797–803) O Tod, Tod, weswegen nur, schon immer so gerufen Tag für Tag, kannst du nicht endlich kommen? O Kind, das γενναῖον ist, so pack mich denn und in dem Erdfeuer von Lemnos, dem so vielberufenen, verbrenne mich, o γενναῖε! Hab doch auch ich einst dem Sohn des Zeus für diesen Bogen, den du jetzt bewahrst, dies zu tun für recht gehalten.

Auch hier begegnet γενναῖος wieder im Rahmen einer Bitte, doch in deutlich anderem Ton. Als Philoktetes um Heimfahrt bittet, wirbt er noch um das Wohlwollen des Angeredeten, um die nicht mehr erhoffte Gunst. Von der Verpflichtung und Ehre eines γενναῖος spricht er, obwohl er natürlich Neoptolemos meint, ganz allgemein, in einer gnomischen Formulierung. Hier ist er sich der Freundschaft bereits sicher, denn er hat die Zusage der Heimkehr bereits erhalten, Neoptolemos hat seine γενναιότης bewiesen. So kann Philoktetes ihn direkt als γενναῖος ansprechen. Er bittet Neoptolemos um den Gnadenstoß – wie ernst er dies angesichts der Aussicht auf Befreiung aus seiner Isolation meint, sei dahingestellt.38 Bedeutsam ist die Parallele, die er zu seiner Freundschaft mit Herakles zieht. Er habe den Bogen als Dank für eben den Dienst erhalten, den er soeben von Neoptolemos erbeten habe, dieser schulde ihn als Dank für das Vertrauen, das Philoktetes ihm mit der Übergabe der Waffe schenke. Die Freundschaft, die zwischen Herakles und Philoktetes bestand, beschreibt in

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Philoktetes bewegt sich, auch wenn er von der Szene zwischen Priamos und Achilleus nichts wissen kann, an dieser Stelle des Dramas innerhalb des heroischen Ehrenkodex. „In dem doppelten Appell ... an dessen edle ϕύσις manifestiert sich elementare Rettungserwartung, für den Augenblick als Befreiung vom Schmerz, für die Zukunft als Befreiung aus dem Leiden“ (Schmidt (1973) 145).

Philoktetes

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Philoktetes’ Augen demnach auch die Beziehung von ihm und Neoptolemos.39 Ein freundschaftliches Verhalten beinhaltet auch gegenseitige Aufmerksamkeiten und Verpflichtungen, ein Beweis des Vertrauens oder der Aufrichtigkeit muß ebenso erwidert werden.40 Herakles’ Bogen als Symbol dieser Freundschaft stellt – unbeabsichtigt vom ahnungslosen Philoktetes – eine Mahnung an Neoptolemos dar, der zum Schein diese Freundschaft sich entwickeln ließ, um den Besitzer der Waffe leichter täuschen zu können. Der Bogen hat bereits einmal im offenen Kampf Troja erobert und ist dann einem vertrauten Freund weitergegeben worden. Er darf nicht zum nützlichen Gegenstand und durch List erschlichen werden, sondern muß verdient sein. Während Philoktetes schläft, widersteht Neoptolemos dem Rat des Chors, sich mit dem Bogen fortzuschleichen. Es sei vergeblich, lediglich den Bogen nach Troja zu bringen, der Besitzer müsse auch mitkommen (S. Ph. 840–841). Als Philoktetes aus dem Schlaf, der auf den Anfall folgte, erwacht, stellt er mit Freuden fest, daß Neoptolemos ihn nicht verlassen hat (S. Ph. 867–871): οὔκουν ᾿Ατρεῖδαι τοῦτ’ ἔτλησαν εὐϕόρως οὕτως ἐνεγκεῖν, ἁγαθοὶ στρατηλάται. ἀλλ’ εὐγενὴς γὰρ ἡ ϕύσις κἀξ εὐγενῶν, ὦ τέκνον, ἡ σή, πάντα ταῦτ’ ἐν εὐχερεῖ ἔθου, βοῆς τε καὶ δυσοσμίας γέμων. (S. Ph. 872–876) Haben die Atreus-Söhne dies doch nicht so leicht vermocht zu tragen, die guten Heeresführer. Doch du – denn εὐγενής ist deine Natur und stammst von Eltern, die εὐγενεῖς sind, mein Kind – du hast dies alles für leicht erachtet, wenn dich auch Geschrei bedrängte und schlimmer Gestank.

Philoktetes erklärt sich die Fähigkeit des jungen Mannes, seinen Gestank und sein Geschrei zu ertragen, durch seine ϕύσις. Sie sei εὐγενής, hervorgegangen ihrerseits aus edlem Stamm, ἐξ εὐγενῶν.41 εὐγένεια ist hier im eigentlichen Wortsinne gefaßt. Die Natur eines Menschen ist durch seine Geburt bestimmt, ein edles Wesen pflanzt sich von Generation zu Generation fort. Wenn Philoktetes Neoptolemos’ Fähigkeit, die unappetitliche Gegenwart des Kranken zu ertragen, auf seine edle ϕύσις zurückführt, erweitert sein Blickwinkel das Spektrum der epischen ἀρετή. Der γενναῖος der Ilias konzentriert sich auf den Kampf, in dem er sich beweisen muß, um seine verdiente τιμή zu erlangen. Hier steht dagegen die menschliche Fähigkeit im Vordergrund, den eigenen Ekel um eines anderen willen zu unterdrücken; nicht die eigene Person, die Sorge um das eigene κλέος steht hier im Mittelpunkt, sondern das Wohlergehen 39

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Vgl. auch Segal (1981) 299, Davidson (2001) 35–37. Philoktetes nimmt Neoptolemos gegenüber eine geradezu väterliche Haltung ein. 52mal nennt er ihn παῖ oder τέκνον. So wird eine Genealogie Herakles – Philoktetes – Neoptolemos suggeriert, vgl. Avery (1965). Philoktetes verzichtet explizit darauf, Neoptolemos schwören zu lassen (S. Ph. 811), vgl. Webster (1936) 59, Blundell (1989) 205. Schneidewin/Nauck/Radermacher (1911) 97–98 (ad 874) bemerken, daß die Parenthese mit γάρ (von εὐγενής bis ἡ σή) statt eines untergeordneten Kausalsatzes Philoktetes’ Worten ein altertümliches Gepräge gibt. Hogan (1991) 339–340 (ad 874–865) weist auf die ABAStruktur von S. Ph. 874 hin: εὐγενής – ϕύσις – εὐγενῶν.

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des anderen.42 Die „eigentlichen“ epischen Helden, mit denen Philoktetes nach Troja aufbrach, haben ihn nicht ertragen, Neoptolemos aber ist der Vertreter einer neuen Generation. Zwar stammt er vom Besten vor Troja ab, ist aber nicht dessen Double – die Diskrepanz zwischen Vater und Sohn wird Philoktetes nur zu bald und ganz anders als erwartet konstatieren müssen. Philoktetes beweist damit bereits ein modifiziertes Verständnis des aristokratischen Heldenkodex. Auf der Handlungsebene kann sein Leiden dies bewirkt haben. Eine andere Ursache mag die Entstehungszeit des Dramas sein, die nicht in das 8. oder 7., sondern das 5. Jahrhundert fällt; dadurch ist bereits eine zeitliche Distanz zum Epos gegeben. Philoktetes’ Bitte um Mitleid hat, wie gesagt, ihre Vorlage in der Ilias, in Priamos’ Bitte um Hektors Leichnam. Doch während das Mitleid in Il. 24 zu wesentlichen Aspekten der 23 vorangehenden Bücher im Widerspruch steht und dieses Überraschungsmoment zeigt, an wie wenig zentraler Stelle der Gedanke des Mitleids in der heroischen Wertewelt verwurzelt ist – die Szene wurde von Analytikern deshalb für nicht ursprünglich gehalten –,43 erhält das Mitleid in Sophokles’ Philoktetes einen ganz anderen Stellenwert. Das gesamte Drama über bittet Philoktetes immer wieder um Mitleid, und das Mitleid ist schließlich der Anlaß für Neoptolemos’ Sinneswandel, der, anders als Achilleus’ Herausgabe von Hektors Leichnam, den Verlauf des Stücks entscheidend bestimmt. Neoptolemos’ wahre Natur beschreibt Philoktetes mit seinen jubelnden Worten freilich nicht ganz treffend. Der Jüngling führt noch immer die niederträchtige Täuschung aus und bleibt nicht aus Edelmut oder Mitleid, sondern Berechnung; zu Trojas Eroberung wird Philoktetes gebraucht. Wieder sind Philoktetes’ Worte mehr, als er ahnen kann, eine Mahnung an Neoptolemos. Daß dessen Freundlichkeit nur scheinbar ist und er ihn in Wirklichkeit hintergeht, kann sich Philoktetes nicht vorstellen, denn er glaubt, seine ϕύσις erkannt zu haben;44 insofern ist sein Heldenbild traditionell und achilleisch, er kennt keine Falschheit und Täuschung. Als sich Philoktetes und Neoptolemos zum Schiff aufmachen, wird dem jungen Mann bewußt, was er zu tun im Begriff ist. Die Sorge um die Gefühle des anderen sind als der Beginn der ehrlichen Freundschaft zu werten.45 Er weiß nicht 42

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„Das Wohlergehen des anderen“ bedeutet freilich noch immer das des Freundes. Philoktetes predigt nicht christliche Nächstenliebe, vielmehr lebt er deutlich den Haß gegen Feinde vor (z. B. S. Ph. 1004–1044). Vgl. MacLeod (1982) 8–16. Zu Il. 24 als „closure“ des Epos vgl. Grethlein (2006) 288–291. Vgl. auch Alt (1961) 159–160. Vgl. Blundell (1989) 206. Während Philoktetes fürchtet, seine stinkende Wunde könne Neoptolemos dazu bewegen, von seiner Zusage abzurücken, ist es gerade der Fuß, der Neoptolemos ihm erst eigentlich nähert, vgl. Reinhardt (1947) 188, Rütz (2009) 568. Hawkins (1999) liest das Drama wohl zu modern, wenn er sagt, Neoptolemos komme durch Emotionen und Gefühle wie οἶκτος, ἔλεος, αἶσχος, ϕιλία, Mitleid, Schande, Freundschaft, wieder auf den rechten Weg zurück, und zur Beschreibung der sich entwickelnden Freundschaft Begriffe verwendet wie „emotion, feeling, fondness, warmth, affection“ (348–349). αἶσχος und ϕιλία aber sind in erster Linie Begriffe, die, äußerlich, die Position und das Ansehen des einzelnen innerhalb der Gesellschaft und sein Eingebundensein in dieselbe beschreiben. Das individuelle Empfinden spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Das Gefühl des

Philoktetes

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mehr weiter (S. Ph. 895–899). Er beklagt, daß er seine ϕύσις verlassen habe, worauf Philoktetes ihm versichert, er könne unbesorgt sein, denn er handle ganz wie sein Vater (S. Ph. 902–905). Wieder ist das vom Vater ererbte Wesen der Maßstab, dieses Mal auch in Neoptolemos’ Worten. Das Geständnis, wohin die Fahrt gehen soll, ist für Philoktetes ein Schlag ins Gesicht. Die Enttäuschung und der Zorn sind groß, über die geplatzte Heimfahrt, die Täuschung, Neoptolemos’ Falschheit, die Aussicht auf eine erzwungene Fahrt nach Troja, den verlorenen Bogen. Doch Philoktetes entschuldigt Neoptolemos zugleich auch, er sei verführt worden und habe in seinem jugendlichen Unverstand nicht gewußt, was er tat. Philoktetes fordert ihn auf, wieder zu sich selbst, zu seinem eigenen Charakter zurückzukehren (S. Ph. 950), er sei eigentlich nicht schlecht, sondern habe nur auf schlechte Männer gehört (S. Ph. 971–972). Odysseus gegenüber wird dies zu einem unmißverständlichen Vorwurf, er habe in seiner Niedertracht einen unschuldigen Knaben vorgeschickt, der zudem von ganz anderer Art sei als sein Lehrer: ἀνάξιον μὲν σοῦ, κατάξιον δ’ ἐμοῦ (S. Ph. 1009), unwürdig deiner, meiner ganz würdig. Philoktetes glaubt Neoptolemos von seiner ϕύσις her uneingeschränkt auf seiner Seite. Gleichwohl ist das Mißtrauen groß, ließ er sich doch schon einmal durch schöne Worte täuschen. Neoptolemos’ Versuche, Philoktetes mit Worten zu einer freiwilligen Fahrt nach Troja zu bewegen, müssen scheitern; noch als der junge Mann sich anschickt, ihm seinen Bogen wiederzugeben, schleudert Philoktetes ihm einen Fluch entgegen: ἀρίστου πατρὸς ἔχθιστος γεγώς. / ὄλοισθ’, ᾿Ατρεῖδαι μὲν μάλιστ’, ἔπειτα δὲ  / ὁ Λαρτίου παῖς, καὶ σύ (S. Ph. 1284–1286) – des besten Vaters hassenswerter Sohn! zugrunde geht! zuerst die AtreusSöhne, dann des Laertes Sohn und du. Der Kontrast zwischen dem Vater Achilleus und dem Sohn Neoptolemos könnte größer nicht sein: der Sohn des größten Helden vor Troja verhält sich Philoktetes, dem alten Kameraden des Vaters, einem Vertreter der alten, heroischen Art, gegenüber aufs feindlichste. Philo­ ktetes rechnet Neoptolemos in solchem Maße zu den Atriden und Odysseus, daß er ihnen gemeinsam ihr Verderben anwünschen kann. Die Rückgabe des Bogens ist für Philoktetes ein Beweis der Aufrichtigkeit und edlen Art des Jünglings: τὴν ϕύσιν δ’ ἔδειξας (S. Ph. 1310), du hast deine Natur bewiesen.46 Er sei ein wahrer Sohn des Achilleus, nicht eines Sisyphos wie Odysseus. Neoptolemos ist mit der Rückgabe der Waffe, wie Philoktetes von ihm forderte, zu seiner angeborenen Art zurückgekehrt.47 Trotzdem kann Philoktetes ihm nicht vertrauen, die Vorstellung, sich vor Troja den Atriden und

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Mitleids mag bei Neoptolemos der Auslöser seines Gesinnungswandels sein, Sensibilität und Empfindsamkeit sind aber an sich noch keine adelnden Werte. Nichtprivate Interessen, das Wohl der Gemeinschaft spielt gerade in der sich entwickelnden Demokratie des 5. Jh. eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vgl. auch Erbse (1966) 182, Poe (1974) 28–29, Segal (1995) 105. Neoptolemos’ ϕύσις erscheint hier als etwas Unveränderliches, von dem er nur irrtümlich abirren kann, vgl. Alt (1961) 147. – Hose (2008a) zeigt mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz, daß Neoptolemos’ Umkehr, auch wenn sie dem Mythos zuwiderläuft, eine Voraussetzung für Philoktetes’ Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ist. Philoktetes erfahre Solidarität und Treue, was seine Isolation aufbreche und Herakles’ Auftritt erst ermögliche.

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dem griechischen Heer, das ihn zehn Jahre zuvor ausgesetzt hatte, zu zeigen, ist allzu unerträglich (S. Ph. 1350–1361). Anders spricht er erst wieder, als Neoptolemos bereit ist, nicht nach Troja zurückzufahren, sondern Philoktetes nach Hause zu bringen: Φι. ἔα με πάσχειν ταῦθ’ ἅπερ παθεῖν με δεῖ· ἃ δ’ ᾔνεσάς μοι δεξιᾶς ἐμῆς θιγῶν, πέμπειν πρὸς οἴκους, ταῦτά μοι πρᾶξον, τέκνον, καὶ μὴ βράδυνε μηδ’ ἐπιμνησθῇς ἔτι Τροίας· ἅλις γάρ μοι τεθρύληται λόγος. Νε. εἰ δοκεῖ, στείχωμεν. Φι. ὦ γενναῖον εἰρηκὼς ἔπος. (S. Ph. 1397–1402) Ph. Laß mich das dulden, was ich dulden muß. Doch was du mir versprachst – und du nahmst meine Hand –, mich heimzuführen, leiste mir das, Kind, und zögere nicht, erinnere mich nicht mehr an Troja. Lang genug beklagt ich es in Trauerliedern. Ne. Scheint’s dir gut, so gehen wir! O Wort, das γενναῖον ist und das du sprachst.

Philoktetes pocht auf die Erfüllung eines Versprechens, das Neoptolemos so nie gegeben hat,48 und verweigert jedes Einlenken seinerseits. Er glaubt – oder gibt vor –, eine Notwendigkeit des Leidens zu sehen, er benutzt das unpersönliche δεῖ, das jede Verantwortung für sein Handeln von ihm fernhält und ihm scheinbar keine Wahl läßt.49 Der Wechsel des Metrums von S. Ph. 1401 zu 1402 erhöht die Spannung und zeigt die Zuspitzung zur Katastrophe an.50 Mit seiner Zusage am Ende des Stücks, Philoktetes nach Hause zu bringen, läßt Neoptolemos alle Vernunft und Umsicht, die er bislang noch gezeigt hatte, fallen. Er wendet sich

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Die Antwort, die Neoptolemos auf Philoktetes’ Bitte um Heimkehr gegeben hatte, war zweideutig gehalten und ließ sich auf eine Fahrt nach Troja wie nach Hause hin verstehen: ἀλλ’ αἰσχρὰ μέντοι σοῦ γέ μ’ ἐνδεέστερον / ξένῳ ϕανῆναι πρὸς τὸ καίριον πονεῖν. / ἀλλ’ εἰ δοκεῖ, πλέωμεν, ὁρμάσθω ταχύς·  / χἠ ναῦς γὰρ ἄξει κοὐκ ἀπαρνηθήσεται.  / μόνον θεοὶ σῴζοιεν ἔκ τε τῆσδε γῆς / ἡμᾶς ὅποι τ’ ἐνθένδε βουλοίμεσθα πλεῖν (S. Ph. 524–529) – Nun, schmählich wär’ es, fände man mich weniger als dich bereit / dem Fremden das, was er in dieser Lage braucht, zu leisten. / Also, wenn es gut so scheint: fahren wir! / Auch das Schiff, es wird ihn aufnehmen und sich nicht weigern. / Nur: mögen uns die Götter sicher hinweg aus diesem Lande / und dorthin geleiten, wohin wir wohl von hier zu fahren wünschen. Neoptolemos will τὸ καίριον tun, ist bereit, Philoktetes mit aufs Schiff zu nehmen, und bittet die Götter um Beistand, „wohin wir von hier segeln wollen“. Vgl. auch S. Ph. 779–781 ὦ θεοί, γένοιτο ταῦτα νῷν· γένοιτο δὲ / πλοῦς οὔριός τε κεὐσταλὴς ὅποι ποτὲ / θεὸς δικαιοῖ χὠ στόλος πορσύνεται – Ihr Götter, möge dies uns beiden so geschehen! Und möge / unsere Fahrt mit gutem Wind und glückhaft dorthin gehen, / wohin denn immer der Gott für recht hält und der Kurs uns führt. Rütz (2009) 564 weist darauf hin, daß die Freundschaft von Neoptolemos zwar vorgetäuscht sei, die Verpflichtungen, die sich aus ihr ergäben, jedoch echt seien. Vgl. Schein (2001) 38–39. Vgl. Schneidewin/Nauck/Radermacher (1911) 139–140 (ad 1402), Ussher (1990) 160 (ad 1402), Jouanna (2001) und (2003). Des Metrums wegen sind verschiedene Athetesen und Konjekturen vorgeschlagen worden, vgl. dazu Lloyd-Jones/Wilson (1990b) 211–212. Der Wechsel im Rhythmus läßt sich jedoch leicht an den Inhalt knüpfen, unheilbar korrupt bleiben nur S. Ph. 1407–1408. Vgl. auch Kamerbeek (1980) 186 (ad 1402–1403).

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damit gegen den Willen der Götter, gegen das gesamte Griechenheer51 und gegen die Bestimmung des Bogens.52 Philoktetes geht, wenn er seinen Kopf durchsetzt, zu weit und macht sich an Neoptolemos schuldig, dessen Landes Zerstörung er in Kauf nimmt, um seinen Willen zu bekommen und seine Rache zu nehmen. Achilleus hat er Neoptolemos im Verlauf des Dramas stets als Vorbild vor Augen gestellt, jetzt verhält er sich selbst ganz wie dieser epische Held.53 Ohne Rücksicht auf andere handelt er nur mit Blick auf die eigene Person, mit Blick auf die eigene Ehre. Er weigert sich, nach Troja zu fahren, weil er die Atriden nicht sehen, geschweige denn, ihnen durch seinen Bogen zur Eroberung der Stadt verhelfen will.54 Damit handelt Philoktetes in seinem Haß und innerhalb des heroischen Wertekanons konsequent, er nimmt aber auch seinem Freund Neoptolemos die Möglichkeit, sich vor Troja im heroischen Kampf als seines Vaters Sohn zu bewähren. Er verlangt von Neoptolemos mehr, als er selbst zu geben bereit ist.55 Sein Einlenken macht Neoptolemos nur in Philoktetes’ Augen γενναῖος; Philoktetes aber hat einen situativ eingeschränkten Blickwinkel und handelt im Augenblick sehr egoistisch. Es macht Neoptolemos nicht γενναῖος im alten heroischen Sinn, wonach er sich, im Einklang mit den Göttern, im Kampf bewähren müßte,56 und auch nicht in einem auf die Gemeinschaft ausgerichteten Sinn, die er mit seiner Entscheidung ja gerade im Stich läßt. Neoptolemos läßt sich schließlich erstaunlich schnell überreden, dem Kranken zu Willen zu sein. 51

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Die Möglichkeit, sich aus ethischen Erwägungen gegen den Willen des Heers zu wenden, spricht Neoptolemos bereits S. Ph. 93–95 aus. Die Interpreten sind z. T. ganz überschwenglich angesichts dieser heroischen Tat. Neoptolemos sei so edel, daß er auf den Ruhm vor Troja verzichte, er erfülle nun das Versprechen, sei jetzt wieder glaubwürdig, er übertreffe geradezu seinen Vater und erlange eine neue Dimension des Adels, die Zusage mache ihn γενναῖος, der Wohlgeborene sei eben wirklich besser, vgl. z. B. Blaydes (1870) 280 (ad 1402), Haedicke (1937) 69, Whitman (1951) 186, Knox (1964) 138, Avery (1965) 289, Segal (1981) 344, Blundell (1989) 219–220. Doch abgesehen vom Freundesdienst, der bereits im adligen Kontext eine Pflicht ist, handelt Neoptolemos mit seiner letzten Entscheidung mehrfach schlecht, wenn er sich gegen die Götter, das Heer, die Bestimmung, die „richtige“ Verwendung des Bogens wendet, und unheroisch und seinem Vater nicht entsprechend, wenn er sich gegen den Kampf entscheidet. – Auch Neoptolemos’ Vergangenheit und Zukunft sind mit Freveln behaftet. Sein Vater hat ihn, Lykurgos’ Gastfreundschaft mißbrauchend, gezeugt, und nach der Einnahme von Troja wird er sich an Priamos und Polyxena vergreifen, vgl. Belfiore (2000) 73–76. Auf letztere wird am Schluß des Dramas angespielt (S. Ph. 1440–1444). Philoktetes sei die eigentlich achilleische Figur des Stücks, freilich ohne daß Philoktetes den iliadischen Achilleus „kennen“ könnte (Davidson (2001) 34–35) – der Zuschauer freilich kennt die Ilias und kann Parallelen erkennen, darauf kommt es an. Philoktetes glaubt, die Götter ließen die Griechen seine Hilfe brauchen, damit er sie verweigern und so Rache nehmen könnte, vgl. Blundell (1989) 198–199. Vgl. auch Bowra (1945) 284. Vgl. auch Blundell (1989) 217–218. Anders sieht Schmidt (1973) 187 Philoktetes mit seiner Klage, seinen Vorwürfen und seiner Hartnäckigkeit angesichts der langen Leidenszeit im Recht. Es ist beachtlich, daß Neoptolemos S. Ph. 1404–1408, als er noch einmal kurz schwankt, nicht von seinem Verzicht auf den Ruhm vor Troja, sondern nur von seiner Furcht vor der Vergeltung der Griechen spricht, vgl. Schmidt (1973) 237. Es liegt ihm offensichtlich viel daran, seinen Fehler wieder gutzumachen.

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Er hat ein schlechtes Gewissen und möchte alles wieder gutmachen. Das ist freilich keine geeignete Basis für eine ausgewogene, vernünftige Entscheidung. Er unterwirft sich jetzt ebenso bedingungslos Philoktetes, wie er sich zuvor Odysseus ganz zur Verfügung gestellt hatte.57

4.2.2 Neoptolemos und Odysseus Odysseus braucht Neoptolemos, weil Philoktetes diesen nicht kennt. Er selbst müßte fürchten, daß Philoktetes ihm zu Leibe rückte, bekäme er ihn zu Gesicht (S. Ph. 46–47, 75–76): Οδ. ᾿Αχιλλέως παῖ, δεῖ σ’ ἐϕ’ οἷς ἐλήλυθας γενναῖον εἶναι, μὴ μόνον τῷ σώματι, ἀλλ’ ἤν τι καινόν, ὧν πρὶν οὐκ ἀκήκοας, κλύῃς, ὑπουργεῖν, ὡς ὑπηρέτης πάρει. Νε. τί δῆτ’ ἄνωγας; Οδ. τὴν Φιλοκτήτου σε δεῖ ψυχὴν ὅπως λόγοισιν ἐκκλέψεις λέγων, ὅταν σ’ ἐρωτᾷ τίς τε καὶ πόθεν πάρει, λέγειν, ᾿Αχιλλέως παῖς· (S. Ph. 50–57) Od. Sohn des Achilleus, du mußt in der Sache, für die du herkamst, γενναῖος sein, und das nicht nur mit dem Leib. Vielmehr, auch wenn du etwas Neues, dir bisher Unerhörtes hörst, auch dann deinen Dienst leisten, denn als Gehilfe bist du hier. Ne. Und was befiehlst du? Od. Es muß sein, daß du die Seele dir des Philoktetes mit Worten erstiehlst. Wenn er dich fragt, wer und woher du bist, so sagt du: des Achilleus Sohn.

Odysseus beginnt seine Worte mit der Nennung von Neoptolemos’ Vater, die den Sohn an dessen Vorbild und seine Verpflichtung ihm und seinem Geschlecht gegenüber erinnert.58 Auf dieser Grundlage appelliert er an Neoptolemos, seine γενναιότης unter Beweis zu stellen. Geschickt erweitert er im folgenden die Bedeutung dieses Begriffs.59 Odysseus geht vom traditionellen epischen Ideal aus, wonach sich der Held im Kampf bewährt und seiner Vorfahren als würdig erweist. Neoptolemos müsse γενναῖος sein, doch körperliche Tapferkeit und Geschicklichkeit seien heute nicht ausreichend. Die Ergänzung aber fügt er nicht unmittelbar an.60 Der Nicht-nur-sondern-auch-Gedanke ist verschoben; in dem durch ἀλλά ein57

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Wilson (1965) 224 meint, Philoktetes und Odysseus würben zwar beide um Neoptolemos, dieser bleibe aber bei einem eigenen Standpunkt. Ein eigener, mittlerer Standpunkt mag wohl die Forderung sein, die sich aus dem Drama ergibt (s. u.), Neoptolemos unterwirft sich jedoch den beiden Älteren nacheinander völlig. In beiden Fällen gibt er nach kürzerem oder längerem Widerstand alle Bedenken auf und tut, was sie wünschen. Vgl. auch Knox (1964) 125, Webster (1970) 71 (ad 50), Kamerbeek (1980) 35 (ad 50–51), Blundell (1989) 185, Ussher (1990) 113 (ad 50–51). Altmeyer (2001) 237–238 verweist auf Th. 3, 82, 4. Vgl. auch Schmidt (1973) 27–28.

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geleiteten zweiten Teil kündigt Odysseus zunächst an, daß ein neues, unerhörtes Moment (καινόν τι) die bevorstehende Handlung prägen wird. Gleichzeitig spricht er Neoptolemos’ Rolle unmißverständlich aus, er soll dienen, als Diener (ὑπηρετεῖν, ὑπηρέτης). Diese Position wird vom Jüngeren ohne weiteres akzeptiert (τί δῆτ’ ἄνωγας;).61 Die Vorbereitung auf etwas Neues und seine Subordination sollen Neoptolemos von allzu heftigem Widerspruch abhalten. Erst auf Neoptolemos’ Nachfrage hin spricht Odysseus aus, inwiefern der körperliche Teil der Bewährung Ergänzung braucht. Auch durch seine Worte soll Neoptolemos seine Geschicklichkeit beweisen. λόγοισι, λέγων und λέγειν sind die komplementären Begriffe zu σώματι.62 List und Lüge nennt Odysseus noch nicht beim Wort – er weiß wohl, daß er Neoptolemos die Art des Anschlags erst schmackhaft machen muß. Doch der Hinterhalt deutet sich schon an. Er soll Philoktetes’ ψυχή „stehlen“ (ἐκκλέπτειν), soll seine für Trojas Eroberung erforderliche Hilfe erschleichen. Der Begriff γενναῖος ist eigentlich nicht ergänzungsbedürftig. Er beschreibt den Vertreter aus gutem Hause, dem an seiner Familie liegt und der sich ihrer, in jeder Hinsicht, würdig zeigen möchte, militärisch und ethisch. Odys­ seus aber nimmt eine Qualifizierung vor. σώματι und λόγοισι, vor allem aber λόγοισι soll Neoptolemos γενναῖος sein.63 Die körperliche und die rednerische γενναιότης sind offensichtlich nicht dieselbe. Odysseus leugnet damit die notwendige Identität von Tat und Wort, von Namen und Ding. Damit ist der Name einer objektiven Wertung enthoben, weil das Wort keinen allgemeinverbindlichen Inhalt bezeichnet. Das ist die bekannte ὄνομα-ἔργον-Antithese, die wir in den Schriften einiger Vorsokratiker finden und die in die sophistisch geprägte Rhetorik Eingang gefunden hat.64 Neben Xenophanes und Parmenides sind besonders Gorgias, Protagoras und die δισσοὶ λόγοι zu nennen: τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν (VS 80B6b DK), das schwächere Argument zum stärkeren machen. Der schwächere λόγος kann, wenn Wort und Sache getrennt sind, leicht zum stärkeren gemacht werden, und das Wort wird Macht. Neoptolemos soll die Worte so geschickt wählen, daß er möglichst leicht an sein Ziel kommt; ob die resultierenden Taten moralisch gut sind, ist nebensächlich.65 Die inhaltliche Er61

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Vgl. auch Segal (1981) 328–330. Nach Rütz (2009) 551 ist Odysseus’ Paränese mit der Aufforderung zum Gehorsam abgeschlossen. Diesem diene die Manipulation des Begriffs γενναῖος. An der Kombination von λόγοισι und λέγων (S. Ph. 55) wurde Anstoß genommen, doch Odysseus’ Bevorzugung von λόγος gegenüber σῶμα, die er allenthalben äußert, macht eine besondere Betonung von λόγος und λέγειν plausibel. Vgl. auch Lloyd-Jones/Wilson (1990b) 181. Zur Syntax von S. Ph. 54–57 vgl. Lloyd-Jones/Wilson (1990b) 180–181 (ad 54–55). Der Dativ λόγοισι in S. Ph. 55 ist freilich syntaktisch anders begründet als der Dativ σώματι (S. Ph. 51), er steht instrumental bei ἐκκλέψεις. Elektra ergänzt γενναῖος durch λόγοισι (S. El. 287). Zum Einfluß sophistischen Gedankenguts auf die Tragödie vgl. u. a. Kannicht (1969) I 57–60 und II 55, Conacher (1998), Riedweg (2000). Ironischerweise wird es gerade Philoktetes’ Sprachlosigkeit sein, die Neoptolemos zur Vernunft bringt (S. Ph. 730–731, 740–741, 756), und beim Geständnis fehlen ihm selbst die Worte (S. Ph. 896–897), vgl. Segal (1981) 335–336. – Über das Verhältnis von εὐγενής und Rhetorik spricht ein Fragment aus den Phrygern ein eindeutiges Urteil: τοὺς εὐγενεῖς γὰρ

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weiterung, die Odysseus vornimmt, unterhöhlt und pervertiert den Begriff. Die γενναιότης bemißt sich nicht mehr am vorbildlichen Verhalten, sondern an der Wortgewalt, die im Widerspruch zu ethischen Kriterien stehen kann. Die sophistischen Züge der Odysseus-Gestalt sind von der Forschung aufgezeigt worden,66 deshalb seien die entscheidenden Stichworte hier nur thesenartig genannt: Es handelt sich bei dem Plan um ein σόϕισμα (S. Ph. 77), das mit Hilfe von ψεῦδος und δόλος (S. Ph. 100–101) ausgeführt wird, doch die Mittel werden durch das κέρδος legitimiert (S. Ph. 109–111). Wenn die Umstände es erfordern, muß man sein Schamgefühl eben einmal zurückstellen (S. Ph. 81–85, 108–111).67 Odysseus weiß wohl, daß die Täuschung Neoptolemos mißfallen wird, denn sie entspreche nicht seiner ϕύσις (S. Ph. 79–80). Auf seine und seines Vaters anders geartete ϕύσις beruft sich auch Neoptolemos (S. Ph. 86–89), er wäre bereit, mit Gewalt gegen Philoktetes vorzugehen, in einem offenen, ehrlichen Kampf, nicht aber mit einer List (S. Ph. 90–92).68 Odysseus stellt jedoch die γλῶσσα über die ἔργα, sie sei es, die eigentlich Nennenswertes bei den Menschen ausrichte (S. Ph. 96–99). Trotz Neoptolemos’ anfänglichen Widerspruchs gelingt Odysseus die Überredung des jungen Mannes schließlich doch recht leicht.69 Er lockt ihn mit den ihm vertrauten Werten. Nicht nur σοϕός, sondern auch ἀγαθός werde man ihn nennen (S. Ph. 119).70 Er macht das sophistische Verhalten, das er von Neoptolemos verlangt, unter dem Namen der γενναιότης

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κἀγαθούς, ὦ παῖ, ϕιλεῖ / ῎Αρης ἐναίρειν· οἱ δὲ τῇ γλώσσῃ θρασεῖς / ϕεύγοντες ἄτας ἐκτός εἰσι τῶν κακῶν· / ῎Αρης γὰρ οὐδὲν τῶν κακῶν λωτίζεται (S. F 724) – Die εὐγενεῖς und Guten, Kind, tötet / Ares gern; die aber mit der Zunge kühn sind, / entkommen dem Unheil und sind vom Übel unberührt. Denn Ares erntet nichts Schlechtes. Die εὐγενεῖς lassen ihr Leben im Kampf, die Wortgewaltigen aber sind κακοί. (Zu einer vagen Einordnung in die mögliche Handlung des Stücks vgl. Sutton (1984) 109–110, vgl. auch OKell (2003) 304–305.) So z. B. von Rose (1976), Craik (1980). Schein (2002) verknüpft auch die Häufigkeit des Begriffs βία mit Odysseus’ sophistischer Zeichnung. Noch deutlicher wird Odysseus später Philoktetes gegenüber: οὗ γὰρ τοιούτων δεῖ, τοιοῦτός εἰμ’ ἐγώ·  / χὤπου δικαίων κἀγαθῶν ἀνδρῶν κρίσις,  / οὐκ ἂν λάβοις μου μᾶλλον οὐδέν’ εὐσεβῆ. / νικᾶν γε μέντοι πανταχοῦ χρῄζων ἔϕυν (S. Ph. 1049–1052) – Da, wo es Männer braucht von solcher Art, bin ich ein solcher. / Aber wo es um gerechte und rechtschaffene Männer geht, / da wird man keinen Frömmeren als mich finden. / Nun bin ich freilich von Natur darauf erpicht, zu siegen überall. Dieser Grundsatz ist dem Gedanken ererbter Qualität entgegengesetzt, der Mensch ist jeweils, was er scheint, und der Unterschied zwischen Sein und Schein schwindet, vgl. Scodel (1984) 97. Flexibilität, die in Opportunismus ausartet, war charakteristisch für die zeitgenössische Geisteshaltung, vgl. Altmeyer (2001) 239 (mit Verweis auf Buchheim (1986) 82–86). Noch ist Neoptolemos seines Vaters Sohn, der sich grundsätzlich gegen Lüge und Hinterlist ausspricht: ἐχθρὸς γάρ μοι κεῖνος ὁμῶς ᾿Αΐδαο πύλῃσιν, / ὅς χ’ ἕτερον μὲν κεύθῃ ἐνὶ ϕρεσίν, ἄλλο δὲ εἴπῃ (Il. 9, 312–313) – Denn verhaßt ist mir der Mann gleich den Toren des Hades, / der das eine verbirgt im Sinn und anderes ausspricht, vgl. Knox (1964) 122–123. Dagegen braucht Philoktetes rund tausend Verse, bis er den jungen Mann auf seine Seite gezogen hat, vgl. Rose (1976) 88–89. Der Heldenkodex unterscheidet nicht klar zwischen wahrer Leistung und Ruhm. Normalerweise führt der Ehrgeiz zu edlem Verhalten, hier hat Odysseus die Standards verwischt, vgl. Scodel (1984) 92. Die Belohnung, die Neoptolemos winkt, σοϕία, ist moralisch suspekt, sie kann auch sophistische Schlauheit bezeichnen, vgl. Blundell (1989) 191.

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für ihn akzeptabel.71 Offensichtlich ist γενναῖος nach wie vor ein positiv besetzter Wertbegriff. Dem pragmatischen, wendigen Odysseus, der sein Verhalten der Situation anpaßt, sind wir bereits im Aias begegnet. In beiden Fällen ist er einem Vertreter des alten heroischen Zeitalters mit seinen festen Wertvorstellungen gegenübergestellt.72 Im Aias ist der Zuschauer/Leser noch geneigt, Odysseus’ Flexibilität gutzuheißen, da er als Dritter schlichtend wirkt und Schlimmeres verhindert. Im Philoktetes ist er selbst einer der beiden Kontrahenten und trägt entsprechend wesentlich zur Zuspitzung des Konflikts bei. Während sein Verhalten im Aias die Interessen aller berücksichtigte, läßt er Philoktetes’ Wohl im späteren Stück gänzlich außer acht. Er will den Bogen, mit oder ohne Besitzer, um Troja zu erobern. Damit handelt er zumindest im Interesse des griechischen Heers, was für ihn spricht, doch selbst führt er das nicht an.73 Die Figur ist, bei aller Ähnlichkeit, im Philoktetes deutlich negativer gezeichnet. Noch einmal nennt Odysseus Neoptolemos γενναῖος, wieder im Zusammenhang mit einer Aufforderung. Nachdem Neoptolemos den Trug gestanden hat, gibt Odysseus sich zu erkennen. Die folgende Auseinandersetzung zwischen ihm und Philoktetes endet damit, daß Odysseus mit dem Bogen abgeht, zynische Worte auf der Zunge. Er werde Philoktetes seinen Willen tun und ihm die Freiheit nicht nehmen, Philoktetes solle es sich auf Lemnos gutgehen lassen (S. Ph. 1052–1060). Als Odysseus Philoktetes das Wort abschneidet (S. Ph. 1065), wendet sich der Kranke an Neoptolemos: Φι. Οδ.

ὦ σπέρμ’ ᾿Αχιλλέως, οὐδὲ σοῦ ϕωνῆς ἔτι γενήσομαι προσϕθεγκτός, ἀλλ’ οὕτως ἄπει; χώρει σύ· μὴ πρόσλευσσε, γενναῖός περ ὤν, ἡμῶν ὅπως μὴ τὴν τύχην διαϕθερεῖς. (S. Ph. 1066–1069)

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O Sproß Achilleus’, sogar von dir hör keinen Laut ich mehr? fort gehst du so? Komm! Sieh ihn nicht mehr an, so γενναῖος du bist, daß du uns den Erfolg nicht noch verdirbst!

Philoktetes spricht Neoptolemos als Achilleus’ Sohn an und erinnert ihn damit an das Vorbild seines Vaters und an seine ϕύσις, die seinem jetzigen niederträchtigen Verhalten entgegensteht. Ehe Neoptolemos antworten kann, drängt Odysseus zum Gehen und verbietet dem Jüngling, Philoktetes anzusehen. Während Philoktetes auf Neoptolemos’ ϕύσις hofft, fürchtet Odysseus sie, er sieht die Gefahr, daß Neoptolemos bei Philoktetes’ Anblick Mitleid bekommen könnte.74 Odysseus’ Befürchtung ist nicht unbegründet, denn eben hat der junge Mann den Trug gestanden, er hat in Odysseus’ Augen versagt. Offensichtlich

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Vgl. auch Rose (1976) 97. Vgl. Knox (1964) 121–122. Er beruft sich nur auf das Heer, als er Neoptolemos droht, der im Begriff ist, den Bogen zurückzugeben (S. Ph. 1243, 1250, 1257–1258, 1294). Vgl. auch von Scheliha (1970) 15–16. Vgl. Hogan (1991) 346 (ad 1065–1068).

120 Sophokles

schreibt er das Geständnis Neoptolemos’ γενναιότης zu, denn er fordert ihn auf, sich, obwohl edel, γενναῖός περ ὤν, nicht umzuwenden.75 Odysseus gebraucht γενναῖος hier in traditionellem, in Philoktetes’ Sinne. Es bezeichnet die Treue zum ererbten väterlichen Charakter, in Neoptolemos’ Fall also sein einfaches, unsophistisches Wesen. Die Wortspielereien vom Anfang sind vorbei, der Versuch, den Begriff um den Gedanken der geschickten Rede zu erweitern, ist gescheitert. Jetzt bangt Odysseus nur noch um den Ausgang der Unternehmung.76 Der Gewinn, den das Täuschungsmanöver versprach, diente neben anderem dazu, Neoptolemos’ Bedenken gegen das Vorgehen zu zerstreuen, mit der Aufgabe des Hinterhalts steht nun auch der Erfolg auf dem Spiel. Von ihm möchte Odysseus sich nicht kampflos verabschieden, und selbst Neoptolemos fühlt sich dem Auftrag noch eine ganze Weile verpflichtet, ehe er sogar die Rückfahrt nach Troja aufzugeben bereit ist. Hier aber gehorcht Neoptolemos Odysseus noch und geht mit ihm zum Schiff zurück, doch bis zu seinem nächsten Auftritt ist sein Einfluß deutlich gesunken: Neoptolemos gibt den Bogen zurück, und Odysseus nennt ihn ᾿Αχιλλέως παῖς (S. Ph. 1298), Achilleus’ Sohn.

4.2.3 Zusammenfassung Philoktetes und Odysseus gebrauchen den Begriff εὐγενής/γενναῖος in unterschiedlicher Bedeutung; Philoktetes verbindet Treue gegenüber dem γένος und das epische Heldenideal damit, Odysseus deutet den Begriff ausdrücklich um und legt die Betonung auf den geschickten Gebrauch der Rede. Die Anwendung von List und Trug stehen dabei nicht im Widerspruch zum edlen Charakter des Handelnden, wichtig ist der erfolgreiche Ausgang einer Unternehmung. Beide, der epische Held und der Sophist, verbinden mit dem Hinweis auf Neoptolemos’ εὐγένεια die Forderung eines bestimmten Verhaltens, aufrichtige Hilfe für den Freund der eine, durch Trug erschlichene Rettung für das Heer vor Troja der andere. Neoptolemos steht zwischen den beiden älteren Männern mit ihren entgegengesetzten Lebens- und Wertvorstellungen.77 Er begibt sich zunächst in die Obhut des einen, wechselt dann die Fronten und stellt sich auf die Seite des anderen. Am Ende ist seine Mission gescheitert, der Konflikt zwischen Alt und Neu bleibt – auf der menschlichen Ebene – ohne Lösung. Keine der beiden Positionen ist geeignet, zum erstrebten Ziel zu führen und Philoktetes nach Troja zu bringen. Philoktetes’ unnachgiebiges Festhalten an seiner Rache nimmt nicht Rücksicht auf die Ansprüche der Gemeinschaft,78 Odysseus’ sophistische 75

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So auch Jebb (1898) 170 (ad 1068–1069), Webster (1970) 134 (ad 1068–1069), Kamerbeek (1980) 148 (ad 1068–1069), anders Schneidewin/Nauck/Radermacher (1911) 113 (ad 1068), die das Partizip in den Finalsatz ziehen. Ussher (1990) 148 (ad 1068–1069) bemerkt einen verächtlichen Unterton. Vgl. auch Greengard (1987) 18–19. Das kann nur bedeuten, daß Neoptolemos Philoktetes nicht nach Troja bringen soll, vgl. Knox (1964) 134. Vgl. auch Greengard (1987) 79–80, Zimmermann (1998) 27. So wird letztlich auch Agamemnons Opfer der eigenen Tochter im Prozeß in Athen zusammen mit Orestes’ Freispruch rehabilitiert, und Klytaimestra, die für den Oikos Rache

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Falschheit kann mit ihrer fehlenden Aufrichtigkeit auf längere Sicht nicht wirkungsvoll sein, weil für ein funktionierendes menschliches Miteinander ein gewisses Maß an Ehrlichkeit erforderlich ist. Damit bleibt auch der Konflikt Polis–Individuum ungelöst. Philoktetes verweigert, weil ihm zehn Jahre zuvor von einigen Vertretern des Heers Unrecht getan wurde, dem Heer seine Dienste, das, seinerseits unschuldig, unter einer Ablehnung schwer zu leiden hätte. Beide Positionen haben ihre Berechtigung.79 Die ϕύσις, von den Sophisten im Vergleich zum νόμος in ihrer Bedeutung stark relativiert, kann umerzogen und unterdrückt werden;80 im Drama erweist sich die Natur dann aber doch als stärker, Neoptolemos kehrt reumütig zu seiner ϕύσις zurück.81 Die Sophistik hebt Sicherheiten, Sichergeglaubtes auf und will es als scheinbar erweisen. Sie stellt Werte in Frage und hat doch keinen tragfähigen Ersatz anzubieten. Sie deutet alte Werte neu oder propagiert andere als wertvoll, doch statt neuer Klarheit gewinnt der Mensch Orientierungslosigkeit. Am Ende steht Ratlosigkeit. Im Drama rettet ein Gott die ausweglose Situation, im Leben müssen die Menschen selbst eine Lösung finden. Diese Forderung ergibt sich aus dem Drama. Mit der Rückgabe des Bogens begibt sich Neoptolemos wieder auf den richtigen Weg, doch um ganz und gar zu seiner ϕύσις zurückzukehren und die volle Glaubwürdigkeit zurückzuerlangen, muß er auch der Heimkehr zustimmen. Aber das Ende des Dramas zeigt, daß er damit nicht entschieden hat, wie er sollte. Die bedingungslose Konzentration auf die ϕύσις und die Bedürfnisse der eigenen Person und des γένος sind, so muß man schließen, nicht wünschenswert. Ebenso wenig findet Odysseus’ Vorgehen Billigung, sein Plan wird gestört und diskreditiert. Weder der Rückgriff auf sophistische Mittel noch die Treue zum γένος sind geeignet, die gestellte Aufgabe zu erfüllen, Philoktetes mit seinem Bogen nach Troja zu bringen. Mit Herakles’ Eingreifen82 nimmt das Stück eine Wendung, die nicht Philoktetes’ ursprünglichem Wunsch entspricht, sondern das Ziel von Odysseus’ Plan erreicht. Doch von Odysseus ist nicht mehr die Rede.83 Es kommt also nicht darauf an, daß Odysseus’ Plan am Ende rehabilitiert würde, sondern daß das Schicksal sich erfüllt. Das Ziel selbst, das Odysseus verfolgt hatte, geben die Götter nicht zusammen mit dem Scheitern seines Plans als nicht erreicht auf. Philoktetes soll trotz allem nach Troja kommen, sich in das Heer integrieren und

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genommen (und ihm damit freilich schwer geschadet) hat, muß zusehen, wie ihre Erinyen den Gerichtssaal als Unterlegene verlassen. Vgl. Zimmermann (1998) 26–27. Vgl. Heinimann (1945) 98–106, Guthrie (1969) 250–260, Rose (1976) 86–87, Altmeyer (2001) 256–262. Vgl. auch Pl. Prt. 320b-328d2. Fulkerson (2006) zeigt, daß Neoptolemos nicht einfach zu seinem ursprünglichen Standpunkt zurückkehrt, sondern ihn nun reflektiert und gefestigt einnimmt. Seine Reue offenbart sich in der Änderung seines Verhaltens (Rückgabe des Bogens). Zu den formalen Gesichtspunkten der Deus-ex-machina-Szene vgl. Thévenet (2008) 37–56. Vgl. Segal (1981) 346. Eine Versöhnung der Charaktere Philoktetes und Odysseus findet nicht statt, vgl. Greengard (1987) 77.

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den Atriden unterordnen, mit den anderen und für sie die Stadt einnehmen.84 Philoktetes darf das Heer nicht im Stich lassen; die Ansprüche, die die Gemeinschaft hat, stehen über seinen individuellen Rachegelüsten. Die Anreize, die der Gott ihm bietet, sind freilich sehr persönlicher Natur, geeignet, den alten epischen Helden anzulocken. Herakles spricht von dem Ruhm, der Philoktetes erwartet, über seine Heilung und seine Eroberung von Troja. Denselben Ruhm hatte ihm auch Neoptolemos in Aussicht gestellt, doch er hatte seine Glaubwürdigkeit bereits verspielt und konnte ohnehin nicht mit derselben Autorität sprechen wie der vergöttlichte Herakles.85 Der aber hat sogleich Erfolg. Philoktetes ist bereit, in die Gemeinschaft zurückzukehren und ihr zu dienen. Das Interesse der Gemeinschaft bleibt damit gewahrt. Neoptolemos hat am Ende des Dramas keine Möglichkeit mehr, seiner ϕύσις treu zu bleiben und gleichzeitig für die Gemeinschaft zu handeln. Der Trug hat die Basis für πειθώ, hat das Vertrauen zerstört, an eine freiwillige Fahrt nach Troja ist nicht mehr zu denken. Ein Maschinengott ist erforderlich, soll der Ausgang des Mythos nicht ins Gegenteil verkehrt werden.86 84

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Philoktetes gibt damit ein Stück seiner heroischen Identität auf, vgl. Greengard (1987) 21. Das ist der Preis, den er nun für Heilung und Ruhm im Kampf – eine wiederhergestellte heroische Identität – zu zahlen bereit ist. Vgl. auch Erbse (1966) 198–200, Segal (1981) 338, Schein (2001) 48–49. Whitman (1951) 179 dagegen sieht Philoktetes’ Triumph gerade in der Wahrung seiner heroischen Identität. Auch Neoptolemos hatte eine ehrliche und offene Überredung noch in Angriff genommen, nachdem er Philoktetes den Bogen zurückgegeben hatte. Philoktetes war auch wirklich schwankend geworden, da ihm Neoptolemos als Freund riet (S. Ph. 1350–1351), vgl. Altmeyer (2001) 230. Neoptolemos hat seine Glaubwürdigkeit jedoch verspielt, Philoktetes kann ihm nicht mehr vertrauen. Altmeyer (2001) 230 schließt aus der Schlußszene, Sophokles sei der Meinung gewesen, daß für eine moralische Erneuerung der Polis eine neue Hochschätzung des privaten Bereichs und damit auch der ϕιλία wünschenswert sei. Diese Quintessenz berücksichtigt zu wenig die Situation vor der Epiphanie. Zwar gehorcht Philoktetes Herakles’ Worten, wodurch der Mythos gerettet wird, doch eindrücklicher ist die mißglückte Freundschaft zwischen Philoktetes und Neoptolemos, die das ganze Stück beherrscht und von der eine große Gefahr für das Unternehmen und das griechische Heer ausgeht. Eher zeigt der Philoktetes, wie sehr sich Freundschaften gegen das Interesse der Polis richten können. Anders liest Deicke (1999) den Schluß des Dramas. In seinen Augen sind Herakles’ Worte eigentlich Philoktetes’ innere Stimme. Philoktetes komme nach S. Ph. 1402 selbst zu der Erkenntnis, daß er sich nicht länger weigern dürfe, mit nach Troja zu segeln, sondern seinem neugewonnenen Freund Neoptolemos, der sich ihm gebeugt hatte, seinerseits den Wunsch zu erfüllen. Die Situation sei deshalb nicht verfahren, und der Gott habe keinen Knoten zu durchschlagen; insofern sei die Epiphanie nicht plötzlich, sondern entwickle sich allmählich. Dagegen spricht jedoch einiges. Philoktetes ist bis S. Ph. 1401 von ausgesprochener Starrheit, und an ein Einlenken ist nicht zu denken. Nichts bereitet eine eigenständige Einsicht vor. Ebensowenig ist der Erkenntnisvorgang nach S. Ph. 1402 als solcher markiert. Zu behaupten, „die Annahme, Philoktet käme nicht selbständig und von sich aus zu der Auflösung auch nur eines einzigen Widerspruchs, (würde) ihm ein Ausmaß an Dummheit und Unsensibilität für die Erfordernisse wahrer Freundschaft unterstellen, das anzunehmen sich schlichtweg verbietet“ (183), ist eine aus dem Text heraus nicht begründete These, die darüber hinaus der Gattung des Dramas nicht gerecht wird. Wir müssen mit dem vorliebnehmen, was die Figuren äußern, und dürfen ihnen, so sympathisch sie uns sein mögen, keine weitergehenden intellektuellen Fähigkeiten oder emotionalen Regungen zusprechen. Aus der Textgrundlage jedoch ist nicht erkennbar, daß Philoktetes seine Mei-

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Auch die attische Gesellschaft kennt den Konflikt, in dem sich Neoptolemos befindet, die Spannung zwischen den altbewährten Werten mit dem daraus resultierenden Selbstverständnis der Oberschicht und dem Relativismus der Sophistik, die durch Umdeutung und Umwertung der Werte das moralische Gefüge der Gruppe erschüttert.87 Der Gebrauch von εὐγενής/γενναῖος ist Zeugnis der Suche nach einem neuen Verständnis von Adel, der seinen Platz irgendwo zwischen Philoktetes’ epischer Sturheit und Odysseus’ sophistischer Schlüpfrigkeit findet. Als Kriterium kann in der Demokratie die Gemeinschaft gelten. Ihr Wohl verlangt Unterordnung der privaten Interessen unter die öffentlichen, und ihre sich in der öffentlichen Rede und Auseinandersetzung verwirklichende Lebensform bedarf der Aufrichtigkeit und Verläßlichkeit. Auf der Jugend ruht einerseits die Hoffnung, sie muß die alten Werte mit den neuen Forderungen einer demokratischen Polis verbinden.88 Die Jugend ist aber auch ein unsicherer Faktor – sie ist ungefestigt und formbar, gerät sie in radikale Hände, wird sie zur Gefahr.

4.3

Ergebnis der Untersuchung zu Sophokles

Die Belege für εὐγενής/γενναῖος sind bei Sophokles im Vergleich zu den vorangehenden Dichtern zahlreich. Die Fragen, wer εὐγενής ist, warum er es ist und welche Forderungen sich daraus für ihn ergeben, werden in der zweiten

87

88

nung bis S. Ph. 1408 änderte. Der Beweggrund, der laut Deicke Philoktetes zu seinem Sinneswandel bringt, ist der Dienst am Freund, die Gegenleistung für dessen Einwilligung, ihn nach Hause zu bringen. Dieser Gedanke wird aber nirgends ausgesprochen, weder von Philoktetes selbst noch von Herakles, obwohl die Reziprozität von freundschaftlichen Beziehungen sonst durchaus explizit und nicht als „Ehrensache“ mit Schweigen übergangen wird. Warum, muß man sich schließlich fragen, brauchen wir den Auftritt eines Gottes, wenn Philoktetes selbst auf den rechten Weg findet? Ein Monolog wäre dann die angemessene Form, wie Sophokles sie auch für Aias gewählt hat. Vielmehr sind die Möglichkeiten auf menschlicher Ebene ausgeschöpft, Philoktetes ist im Begriff, nicht nur selbst gegen den Willen der Götter zu handeln, sondern auch Neoptolemos noch mit hineinzuziehen. Herakles rettet die Situation. Vgl. auch Spira (1960) 28–30. Heath (1999) 154–155 liest das Drama als eine Warnung an die Athener, das Stück zeige die Gefahr, wenn Leute wie Odysseus an der Macht seien. Gewiß hält der Philoktetes dem Zuschauer diese Gefahr vor Augen, doch nicht nur diese, sondern auch die, die von konservativen Männern wie Philoktetes oder verunsicherten wie Neoptolemos ausgeht. – Nach Hawthorne (2006) zeigt das Stück die verschiedenen Formen von λόγος und μῦθος. Dabei stehe Odysseus’ sophistischer Logos für die oligarchische Krise der athenischen Demokratie 411, der Agon zwischen Philoktetes und Neoptolemos für die wiederhergestellte Demokratie. Er werde als überlegen gezeigt, bedürfe aber doch der Autorität des herakleischen Mythos, um Philoktetes umzustimmen und die menschliche Fehlentscheidung zu korrigieren. Sophokles hoffe offensichtlich auf einen aristokratischen Herrscher, der Weisheit und Wohlwollen gegenüber dem Demos verbinde. Diese formalen Analogien halten allerdings einer inhaltlichen Parallelisierung nicht stand. Die Gefahr der sophistischen Pei­ tho, der Odysseus das Wort redet, wurde gerade als Merkmal der Demokratie angesehen, während Philoktetes aristokratische Werte vertritt. Herakles’ Auftritt kann m. E. nicht mit einem der beiden Standpunkte identifiziert werden; vielmehr weisen seine göttliche Natur und sein Machtwort auf die Notwendigkeit eines dritten Weges hin. Vgl. auch Zimmermann (1998) 28.

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Hälfte des 5. Jahrhunderts offensichtlich wichtiger. Der Adel ist seit Homer in der Literatur präsent, und von Anfang an reflektiert er auch seine Position. Man muß demnach davon ausgehen, daß sich das Bild der Aristokratie verändert. „Adel verpflichtet“ ist eine Maxime, die seit Homer die Äußerungen über den Adel dominiert, sei es, daß die Aussage in preisender Absicht getan wird, sei es, daß wir einen kritischen Ton hören. Auch bei Sophokles ist dieser Gedanke vorherrschend.89 „Noblesse oblige“ – mit dieser Erkenntnis halten die Interpreten Sophokles’ Einstellung zum Adel in der Regel für geklärt.90 Sophokles warne vor leerem Standesdünkel, der sich nur auf die Abstammung berufe, und fordere ein sittlich gutes Verhalten und einen tadellosen Charakter. Das ist zweifelsohne richtig. Doch es ist keine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von εὐγένεια bei Sophokles. Um sie zu beantworten, ist nicht nur festzustellen, daß Adel verpflichtet, sondern auch, wozu er verpflichtet. Bis zu den Gedichten Pindars sind die Kriterien, nach denen sich der εὐγενής zu richten hatte, wollte er den Namen verdienen, eindeutig festgelegt. Niemand zieht in Zweifel, daß für den Aristokraten die Maßstäbe gelten, die im Epos den heroischen Ehrenkodex bilden, kriegerische Leistung, angereichert durch moralische Ehrbarkeit. Auch bei Aischylos hat dieser Kanon noch weitgehend Gültigkeit. Militärischer Ruhm wird in den Persern und den Sieben gegen Theben angestrebt. In der Orestie zeigt sich aber bereits, daß andere Kriterien als der persönliche Ruhm in den Verhaltenskodex Eingang finden. Die Gemeinschaft beginnt, ihre Interessen am einzelnen geltend zu machen. Sophokles nun stellt die Gültigkeit des epischen Wertekanons offen in Frage.91 In seinen Dramen wird die Frage, wozu Adel verpflichtet, und damit die Frage, was es bedeutet, εὐγενής zu sein, explizit gestellt und diskutiert. εὐγένεια dient den Charakteren der Stücke als Rechtfertigung für ihr Verhalten. Davon ausgehend, formulieren die Figuren, welches Verhalten sie als richtig, vorbildlich, empfehlenswert empfinden. Im Aias begegnen wir zwei entgegengesetzten Definitionen des ἀνὴρ εὐ­ γενής in den parallelen Reden von Aias und Tekmessa. Beide sind mit ihrem 89

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„Sophocles never uses the word in such a way that it clearly means ‚noble‘ rather than ‚well born,‘ and perhaps the concept of nobility is never fully separated by Sophocles from that of noble birth. But Sophocles and Euripides … sometimes clearly place far more emphasis on the suggestion of nobility than of good birth“ (Kirkwood (1958) 178 Anm. 68). Die Frage, ob εὐγενής edel (nur im charakterlichen Sinn) oder wohlgeboren (im biologischen Sinn) bedeutet, stellt sich in Wirklichkeit nicht. Die Wohlgeborenheit der εὐγενεῖς wird nicht in Frage gestellt. Biologische εὐγένεια ist die notwendige (nicht aber hinreichende) Voraussetzung für die Benennung als εὐγενής. Das entsprechende Verhalten ergibt sich dann als Forderung aus der Herkunft und generiert erst die εὐγένεια, die diesen Namen verdient. Ohne diese sittliche Komponente wird das Prädikat fast nie gebraucht, bereits bei Homer spielt das Verhalten eine entscheidende Rolle. In dem Charakter der Forderung des sittlichen Aspekts liegt, weil man in ihm versagen kann, die Möglichkeit der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit begründet, eine immer wieder geäußerte Kritik an Vertretern der Aristokratie. Vgl. z. B. Haedicke (1937) 67–71, Donlan (1980) 134, Schulz (1981) 90–93. Schulz (1981) 93 betont, daß Sophokles „den Adel in seiner Existenz niemals angegriffen“ habe. Das ist zutreffend, über sein Selbstverständnis sah er durchaus Diskussionsbedarf.

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Verständnis noch im epischen Kanon verwurzelt, in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlicher Berücksichtigung der Gemeinschaft, in der auch der Adlige lebt. Aias lebt und denkt ganz im Spannungsfeld von Ehre und Schande. Angesichts seiner Wahnsinnstat sieht er keine Möglichkeit, seine Ehre wiederherzustellen, sondern nur die Wahl zwischen Schande und Tod. Vor dieser Alternative kann er sich nur für den Selbstmord entscheiden. Die Zwangsläufigkeit seiner Schlußfolgerung erweist sich in Tekmessas Antwort als scheinbar. Sie bezieht sich explizit auf seine Begründung, für einen εὐγενής gebe es keinen dritten Weg. Sie betont einen Bereich des aristokratischen Wertekanons, den Aias ausblendet. Die gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Adels basieren auf dem Gedanken der Reziprozität; mit einer χάρις verpflichtet der Geber sich den Empfänger, so daß ein Netz gegenseitiger Verpflichtungen entsteht, die als Verantwortung eingefordert werden können. Tekmessa gelangt daher zum entgegengesetzten Schluß: Aias muß, als εὐγενής, am Leben bleiben. Auch Tekmessa argumentiert innerhalb traditioneller aristokratischer Werte; die Sorge, die sie dem Sohn und sich selbst gegenüber verlangt, ist keine demokratische Berücksichtigung des Gemeinwohls. In unerhörter Deutlichkeit führen die antithetischen Reden von Aias und Tekmessa vor Augen, daß der heroische Wertekanon, um eine Handlungsorientierung sein zu können, zusätzlicher Kriterien bedarf, die die Werte hierarchisieren oder ergänzen. Mit seinen Versuchen am Adelsbegriff rückt der Aias in die Nähe des Philoktetes. Das späte Stück nimmt die Problematik wieder auf; nun ist das Drama ganz von der Suche nach der Pflicht des γενναῖος bestimmt. Doch während der Aias sich darauf beschränkte, die innere Widersprüchlichkeit des Wertekanons vor Augen zu stellen, wird er im Philoktetes von ihm fremden Kriterien in Frage gestellt. Die Opposition der beiden formulierten Standpunkte liegt nicht mehr innerhalb des alten aristokratischen Kodex. Den Normen des Epos wird die sophistische Nichtigkeit von Werten entgegengestellt. Unter dem Deckmantel der vertrauten Begrifflichkeit und den traditionellen Zielen heroischen Handelns (κλέος, ἀγαθός) ersetzt Odysseus die Werte von Offenheit und Aufrichtigkeit durch List und Schläue (σόφισμα, ψεῦδος). Neoptolemos sieht sich entgegengesetzten Forderungen gegenüber, die von ihren Urhebern Philoktetes und Odysseus gleichermaßen als γενναιότης beschrieben werden. Der sophistische Weg ist negativ dargestellt und außerdem erfolglos, der epische ist stärker (ϕύσις), aber ebenfalls erfolglos und erscheint nicht als uneingeschränkt positiv.92 Die entgegengesetzten Ansprüche führen den verunsicherten Neoptolemos in die Aporie; die Fixierung aufs γένος führt schließlich zu einer Wendung gegen die Götter. Beide Alternativen sind untauglich. Mit den Handlungen, die durch Verweis auf die Pflicht des εὐγενής gerechtfertigt werden, treten Konflikte zutage, die schwer oder nicht mehr lösbar sind. Sie zeigen, daß die jeweils vertretenen Formen der εὐγένεια nicht geeignet sind. 92

Whitman (1951) nennt Helden wie Aias oder Neoptolemos „truly aristocratic figures“, wie man sie bei Aischylos und Euripides nicht finde. Aristokratisch sind sie freilich, indem sie sich auf ihre εὐγένεια berufen, doch die Bewunderung, die in dieser Aussage mitschwingt, ist möglicherweise nicht ganz angemessen. Sie stehen am Ende vor einem Scherbenhaufen, der daran zweifeln läßt, ob Sophokles mit ihnen Vorbilder schaffen wollte.

126 Sophokles

In beiden Dramen löst ein Dritter den Konflikt, im Aias Odysseus, im Philoktetes Herakles. Diese Lösungen können als Hinweise dienen, in welcher Weise die traditionellen Kriterien des heroischen Wertekodex angewandt werden sollten. Im Streit um Aias’ Bestattung argumentieren die Kontrahenten Teukros und Menelaos/Agamemnon innerhalb des aristokratischen Wertekanons. Sie verweisen auf ihre Herkunft (S. Aj. 1093–1096, 1228–1230, 1235) und auf Hierarchien (S. Aj. 1071–1072, 1099–1106, 1232–1234) und sprechen von Ehre, Schande, Tapferkeit und gegenseitigem Vergelten (z. B. S. Aj. 1235–1245, 1272–1288, 1307–1315, 1324). So eskaliert der Streit. Auch Odysseus bewegt sich mit seinen Argumenten innerhalb des Kanons, doch nicht starr, sondern geschmeidig. Er betont, ähnlich wie Tekmessa, allerdings erfolgreich, die Werte, die das gedeihliche Zusammenleben fördern können. Im Namen der φιλία etwa, von Aristokrat zu Aristokrat, spricht er zu Agamemnon. Er führt keine neuen Werte in die Diskussion ein, sondern er schränkt dieselben Werte, die auch Agamemnon und Teukros vertreten, so ein, daß sie ihre verderbliche Qualität verlieren. Auch Odysseus spricht von Tapferkeit und Ehre (z. B. S. Aj. 1339–1345, 1369). Doch im Unterschied zu Agamemnon und Teukros erkennt er die Tüchtigkeit auch seines Feindes an (S. Aj. 1355) und läßt sich in seinem Handeln nicht vom Haß treiben. Ihm gelingt die friedliche Lösung, weil er plausibel machen kann, daß kein Wert bedingungslos und ausschließlich gilt (S. Aj. 1361), sondern zeitlich oder situativ begrenzt (S. Aj. 1347, 1359, 1377). Hier bedingt Aias’ Tod als eine solche Situation Odysseus’ veränderte Haltung (S. Aj. 1365). Die Figur des Odysseus zeigt, daß nicht einzelne Werte zum Prinzip erhoben werden dürfen, anders als es homerische Maximen nahelegen (αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων, Il. 11, 784 – immer Bester zu sein und überlegen zu sein den anderen)93 und anders als es Aias, Agamemnon und Teukros oder Philoktetes und Odysseus (im Philoktetes) tun. Odysseus (im Aias) verhält sich pragmatisch. Er argumentiert nicht demokratisch, er orientiert sich nicht explizit am Gemeinwohl, doch er schlichtet den Streit, was für alle das beste ist. Das trägt ihm die Prädikate ἄριστος und ἐσθλός ein (S. Aj. 1381, 1399). Pragmatismus birgt die Gefahr der Beliebigkeit. Das würde einen Umschlag vom einen ins andere Extrem bedeuten. Der Philoktetes setzt dem Pragmatismus die Geradlinigkeit entgegen. Neoptolemos ist mit einander widersprechenden Forderungen konfrontiert; diejenigen, die sie erheben, berufen sich beide darauf, daß die verlangte Handlungsweise γενναῖον sei. Tatsächlich erscheint am Ende keine von beiden als uneingeschränkt γενναῖον. Odysseus’ sophistischem Plan mangelt es an Aufrichtigkeit; er ist mit der Rückgabe des Bogens gescheitert. Philoktetes’ Starrsinn, nach Hause fahren zu wollen, würde den Fall von Troja verhindern; dieses Vorhaben verhindert Herakles. Philoktetes darf seine verletzte Ehre und die alte Feindschaft nicht länger nähren, wenn er Herakles’ Aufforderung, nach Troja zu fahren, erfüllen möchte. Das tut er, ohne zu zögern (S. Ph. 1447). Er muß eine Haltung einnehmen, die Odysseus’ Haltung im Aias ähnlich ist. Das Hassen 93

Der Kontext der Erzählung zeigt freilich, daß auch in der Ilias zum persönlichen Streben nach ἀρετή und κλέος eine gewisse Orientierung an den Interessen der Gemeinschaft hinzuzutreten hat, vgl. Il. 11, 762–764.

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hatte seine Zeit, doch nun tritt ein neues Ziel an seine Stelle. Wie Odysseus im Aias Agamemnon Ehre in Aussicht stellte, so verspricht auch Herakles dem Philoktetes Ruhm vor Troja. Wieder ist ein traditioneller Wert, εὐκλεὴς βίος (S. Ph. 1422), der Lohn, wieder müssen, um ihn zu erreichen, andere traditionelle heroische Werte zurückstehen. Anders als im Aias ist für den Pragmatismus im Philoktetes ein Maßstab angedeutet. Worte sind der richtige Weg; doch nicht die falschen, listigen, mit denen Odysseus Philoktetes hintergehen wollte. Mit Neoptolemos’ Umkehr ist die Täuschung als Instrument moralisch verurteilt. Neoptolemos ist der Weg der Überzeugung dennoch verschlossen, weil er seine Glaubwürdigkeit bereits verloren hat. Seine πειθώ scheitert (S. Ph. 1278–1283). Dagegen ist Herakles’ Verhältnis zu Philoktetes ungestört. Deshalb spricht Herakles mit Autorität, so daß es nicht einmal eines längeren Überzeugungsprozesses wie beispielsweise am Ende der Eumeniden bedarf. Die Aufrichtigkeit im Verhältnis der beiden alten Kameraden entfaltet ihre Wirksamkeit; Philoktetes wird nicht überlistet und fühlt sich nicht gezwungen, freudig entscheidet er sich für den Gang nach Troja (S. Ph. 1445–1447). Damit ist eine Lösung gefunden, die für alle Griechen Vorteile hat: Philo­ kte­tes wird geheilt werden, er und Neoptolemos werden Ruhm erlangen, die Griechen werden Troja erobern. Wie im Aias beobachten wir auch hier, daß die Lösung des Konflikts die traditionellen Werte miteinbezieht, wenn Herakles Ruhm und den Sieg über Troja in Aussicht stellt. Wie im Aias legt auch der Schluß des Philoktetes nahe, daß die alten Werte nicht rigoros, sondern flexibel verstanden werden können, ohne daß der Handelnde in seiner Position Schaden nähme. Anders als im Aias zeigt der Philoktetes jedoch die Bedeutung der Geradlinigkeit, die notwendig ist, um zu verhindern, daß der Pragmatismus zum Mißbrauch führt. In beiden Fällen müssen die Kontrahenten von ihren unverrückbaren Standpunkten weichen und Zugeständnisse machen, Zugeständnisse, die der Gemeinschaft dienen. Implizit enthält auch die Lösung im Philoktetes eine Orientierung an den Interessen der Gemeinschaft, doch ohne dies klar zu benennen. Der Homonoia-Gedanke, den wir bei Aischylos gefunden hatten, wird hier nicht weiterentwickelt, sondern bleibt eher unbestimmter. Das entspricht dem Befund der erhaltenen sophokleischen Dramen überhaupt, die im Unterschied zu den erhaltenen Dramen des Aischylos stärker konzentriert sind. Sie fokussieren mehr die eine Hauptfigur, die im tragischen Dilemma oder in tragischer Verblendung befangen ist, während der Kontext der Polis bei Aischylos deutlicher zu Tage tritt. Odysseus verkörpert in beiden Dramen einen modernen Charaktertypus. Er zeigt zudem zwei extreme Ausprägungen seiner πολυτροπία. Im Aias wirkt er ausgleichend. Durch seine Zurückhaltung in der Eingangsszene und seine Vermittlung am Ende ist er die positive Gestalt der Tragödie. Im Philoktetes geht er mit seiner Forderung nach moralischer und charakterlicher Flexibilität zu weit. Seine kalte Berechnung macht ihn zu einer negativen Figur. Odysseus ist das Symbol der Chancen und der Gefahren, die die unerläßliche Anpassung an neue Umstände mit sich bringt.

5

Euripides

In Euripides’ Dramen findet sich eine große Zahl von Belegen für die untersuchten Begriffe vom Stamm γεν-.1 Allein in den erhaltenen Tragödien liegt die Zahl bei etwa 130, hinzu kommen knapp 50 weitere in den Fragmenten. Die hohe Zahl der in Fragmenten überlieferten Stellen erklärt sich aus einem Kapitel περὶ εὐγενείας bei Stobaios (4, 29). Die Bewertung von Aussagen in fragmentarisch überlieferten Texten muß wegen des fehlenden Kontexts immer unsicher bleiben.2 Da die vollständig erhaltenen Tragödien darüber hinaus reiches Material bieten, wird im Rahmen dieser Untersuchung auf eine Besprechung der Fragmente verzichtet. Die Auswahl der Tragödien, die einer genaueren Betrachtung unterworfen werden sollen, erfolgte nach numerischen Gesichtspunkten, um anhand weniger Exempla gleichwohl viele Belege zu besprechen (54). Es ergab sich, daß andere erwünschte Bedingungen, etwa die Berücksichtigung verschiedener Schaffensperioden im Werk des Dichters oder bestimmter wiederkehrender Szenen (z. B. des freiwilligen Opfertodes, des Verwandtenmordes, der Wiedererkennung), durch diese Auswahl miterfüllt werden. Für die Stellen, die nicht ausführlich behandelt werden, sei auf die tabellarische Übersicht im Anhang verwiesen.

5.1

Alkestis

In der Alkestis finden sich, je nach Athetesen, bis zu elf Belege für εὐγένεια, εὐγενής und γενναῖος. Am häufigsten werden Alkestis und Admetos als εὐγενής bezeichnet, daneben erhalten Herakles und vielleicht auch Admetos’ Haus das Attribut. Laudatores sind vor allem Herakles und der Chor, ferner Admetos, Alkestis und Pheres.3 1

2 3

Wo nicht anders angegeben, zitiere ich Euripides nach der Ausgabe von Diggle (1981, 1984, 1994). Vgl. die entsprechenden Bemerkungen in der Einleitung. Die erste Verwendung des Begriffs γενναῖος im Stück erfolgt eher beiläufig. Alkestis geht durch das Haus, um sich von allen und allem zu verabschieden. Sie tritt vor Hestia hin und vertraut ihr die Kinder an, die sie als Waisen zurücklasse (E. Alc. 163–169). Ihrem Sohn wünscht sie eine „liebe Gattin“, ihrer Tochter einen „edlen Gatten“: καὶ τῷ μὲν φίλην / σύζευξον ἄλοχον, τῇ δὲ γενναῖον πόσιν (E. Alc. 165–166) – dem Sohn ein liebes Weib,  / der Tochter einen Gemahl, der γενναῖος ist. Sie bittet weiterhin um ein glückliches Leben für die beiden, das nicht durch einen vorzeitigen Tod beendet werde (E. Alc. 167–169). Der Abschied von den Kindern fällt Alkestis schwer. Ausführlicher als hier beklagt sie die Trennung dann in der Abschiedsszene mit Admetos (E. Alc. 304–319). Der Knabe werde das Fehlen der Mutter leichter ertragen, da er beim Vater geborgen sei (E. Alc. 311–312), das Mädchen treffe der Verlust härter, vor allem bei der Hochzeit und im Kindbett, wo das Waisenmädchen auf den mütterlichen Beistand verzichten müsse (E. Alc. 313–319). Warum aber wünscht Alkestis der Tochter einen edlen Gatten, dem Sohn aber eine liebe Gattin? Die Ursache mag darin zu suchen sein, daß der Sohn des Königs seinen Status als εὐγενής

130 Euripides

5.1.1 Alkestis Alkestis hat ihren bevorstehenden Tod beklagt (E. Alc. 244–279) und in einer Rede von Admetos und den Kindern Abschied genommen (E. Alc. 280–325).4 Sie erwartet eine Gegenleistung für die χάρις, die sie Admetos schenkt, nämlich daß er, im Interesse der Kinder (τούσδε γὰρ φιλεῖς ... τούτους ἀνάσχου δεσπότας ... μὴ ’πιγήμῃς τοῖσδε μητρυιὰν, E. Alc. 302–305, denn diese liebst du ... erhalte sie als Herren ... nimm dir nicht eine Stiefmutter für sie), nicht noch einmal heirate.5 Admetos will ihre Forderung erfüllen: ἔσται τάδ’, ἔσται, μὴ τρέσῃς· ἐπεί σ’ ἐγὼ καὶ ζῶσαν εἶχον καὶ θανοῦσ’ ἐμὴ γυνὴ μόνη κεκλήσῃ, κοὔτις ἀντὶ σοῦ ποτε τόνδ’ ἄνδρα νύμφη Θεσσαλὶς προσφθέγξεται. οὐκ ἔστιν οὕτως οὔτε πατρὸς εὐγενοῦς οὔτ’ εἶδος ἄλλως ἐκπρεπεστάτη γυνή. (E. Alc. 328–333) Jawohl, so wird es sein! Kein Bangen! Wie ich lebend dich hielt, so sollst du auch nach deinem Tode heißen mein einzig Weib, und keine Frau Thessaliens

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5

durch seine eigene Person einnehmen und halten kann. Der gesellschaftliche Status des Mädchens dagegen hängt von dem ihres Gatten ab. Für die Tochter erhofft sich Alkestis daher in ganz formalem Sinne einen adligen Ehemann, der es ihr erlaubt, ihren bisherigen gesellschaftlichen Status beizubehalten. Damit hängt wohl auch zusammen, daß Alkestis gerade die Hochzeit als die Zeit nennt, in der der Tochter der Verlust der Mutter besonders schmerzlich sein wird. Mit der Hochzeit entscheidet sich ihr Leben, das heißt, die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht. Für den Jungen ist die Eheschließung nicht mit einer derartigen Gefahr des gesellschaftlichen Abstiegs verbunden. Seine Gattin darf „durchschnittlich“ ausgestattet sein und erhält daher mit φίλην das wesentlich schwächere Attribut. – Dyson (1988) sieht Alkestis in einem Dilemma: sie müsse sich entscheiden (bzw. habe sich entscheiden müssen), ob sie für Admetos sterben oder für die Kinder weiterleben wolle. Dyson stellt diese Entscheidungssituation neben die, in der sich Admetos nach Alkestis’ Tod befindet: trauern oder sich gastfreundlich zeigen. M. E. haben beide Konflikte jedoch eine unterschiedliche Relevanz im Drama und sind daher nicht vergleichbar. Alkestis’ Entscheidung ist bereits vor der Dramenhandlung gefallen, während Admetos vor unseren Augen den Konflikt der Verpflichtungen erlebt und entscheidet. Admetos beklagt ihren Tod und bittet sie, ihn nicht zu verraten, E. Alc. 250, 275. Er gebraucht damit eine übliche Formulierung am Sterbebett eines nahen Angehörigen, so z. B. Hipp. 1456, vgl. Seeck (1985) 75–76. Euripides spielt hier mit der Spannung zwischen dem Typus der Szene „Gatte bei der sterbenden Gattin“ und dem speziellen Umstand, daß Admetos ihren Tod erbeten oder zumindest zugelassen hat und dennoch von ihrem Tod nicht Gewinn, sondern Verlust erwartet, vgl. Kullmann (1967) 133, Conacher (1981) 85. Uneinigkeit herrscht in der Forschung über die Frage, welchen Einfluß Admetos auf Alkestis’ Opfer nahm oder nehmen konnte. Nach Vicenzi beispielsweise hat Admetos wahrscheinlich nichts von ihrem Entschluß gewußt, schließlich habe er einen so reinen Charakter, Vicenzi (1960) 520–522. Kullmann (1967) 128 Anm. dagegen argumentiert, Alkestis’ Opfer sei auf Admetos’ Bitte zurückzuführen, und beruft sich auf ἐλέγξας, διεξελθών und ηὗρε (E. Alc. 15–17), fragte der Reihe nach, fand, ähnlich Schwinge (1970). Gelegentlich ist, auch mit vorwurfsvollem Ton, geäußert worden, Alkestis’ Abschiedsworte seien unterkühlt, lieblos, ja, voller Verachtung, vgl. z. B. Tietze (1933) 37–39, Grube (1941) 134–135, von Fritz (1962) 304. In der Tat ist ihre Abschiedsrede eine sachliche Rede ohne emotionale Ausbrüche. Den tränenreichen Abschied hat sie bereits im Haus genommen, als sie sich vom ehelichen Lager nicht losreißen konnte, vgl. Seeck (1985) 65–72.

Alkestis

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soll mich an deiner Statt je als Gemahl begrüßen. Es gibt kein Weib, das so von einem Vater, der εὐγενής ist, stammt, und keins, das sonst von Aussehn derart stattlich wäre.6

Keine andere Frau werde ihn je ihren Mann nennen. Es gebe keine, die aus so edlem Geschlecht oder so außerordentlich schön sei.7 Unklar bleibt, wie man sich die Fortführung dieses „so“ (οὕτως) zu denken hat. Admetos will entweder sagen, daß keine andere Frau so edel und schön sei wie Alkestis oder daß keine andere Frau so edel und schön sei, daß sie sich bei ihm Hoffnungen machen könnte. Wenn Alkestis arm und häßlich wäre, könnte er sein Versprechen nicht sicher geben, so aber werde keine andere Frau sein Interesse wecken. Admetos’ Äußerung ist ohne verbindende Partikel, die den logischen Zusammenhang erhellte, zwischen das Versprechen, keine andere Frau heimzuführen, und das abschließende ἅλις δὲ παίδων (E. Alc. 334), mehr Kinder will ich nicht, eingefügt. Admetos möchte Alkestis mit der Bemerkung beruhigen und andeuten, daß sie sich auf die Erfüllung des Versprechens verlassen könne, da ihre Forderung und sein Wunsch ohnehin zusammenfielen. Admetos’ Begründung ist sinnvoll, weil sie Alkestis deutlich macht, daß sie in wesentlichen Eigenschaften nicht zu übertreffen sei.8 Zugleich ist sie überflüssig. Admetos’ Versicherung, niemals eine andere Frau heiraten zu wollen (E. Alc. 328–330), ist eindeutig und bedarf keiner weiteren Beteuerung. Umso übertriebener erscheinen die Ausschließlichkeit (οὐκ ἔστιν οὔτε ... οὔτε ἄλλως ...) und der Superlativ (ἐκπρεπεστάτη) der Formulierung. Admetos nimmt damit das Ende von Alkestis’ Rede auf (E. Alc. 323–325). Sie hat soeben ihrem Gatten erklärt, daß er sich brüsten könne (κομπάσαι), daß er die beste Frau (γυναῖκ’ ἀρίστην) gehabt habe, und ihre Kinder, daß sie von ihr als Mutter stammten. Auch Alkestis verwendet in der Beschreibung ihrer selbst einen Superlativ, der ein umfassendes Qualitätsurteil enthält und zudem der episch-heroischen Begrifflichkeit entstammt, die im Verlauf der Tragödie immer wieder auf Alkestis angewendet wird. Sie gibt damit ihren Preis bereits vor. Admetos’ Bemerkung zeigt, daß ihm bewußt ist, was für eine Gattin er mit ihrem Tod verliert. Herkunft und Schönheit stehen für ihre Unersetzlichkeit; eine andere Frau kommt für Admetos nicht in Frage. Admetos’ folgende Rede enthält eine große Anzahl weiterer Versprechungen, die weit über Alkestis’ Forderung hinausgehen. Admetos kündigt an, lebenslang trauern zu wollen (E. Alc. 336–337), seine Eltern zu hassen (E. Alc. 338–3341), alle Musik und Feierlichkeit aus seinen Häusern zu verbannen (E. 6

7

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Die Übersetzungen der Stellen bei Euripides beruhen auf der Übertragung von Ebener (1979). Von mir vorgenommene Änderungen sind nicht eigens bezeichnet. Zur sprachlichen Form vgl. Weber (1930) 120 (ad 331 und 332–333), Dale (1954) 78 (ad 329–333). Smith merkt an, daß der Status v. a. Männern wichtig sei, und verweist auf E. Alc. 915–921 ... ὀλβίζων / ὡς εὐπατρίδαι ... pries (uns) glücklich als von edlen Vätern stammend ... Admetos erinnere sich, wenn er an seinen Hochzeitstag denke, just an den Preis seines Adels, Smith (1960) 135. Susanetti (2001) 202 weist auf den erotischen Aspekt der Formulierung hin. Nach Parker (2007) 120 (ad 331–333) nennt Admetos eben das, was eine Ehefrau ihrem Mann bieten könne, Familienprestige und Schönheit.

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Alc. 341–347), eine Statue statt ihrer zu lieben (E. Alc. 348–356), er wünscht sich, wie Orpheus den Versuch unternehmen zu können, sie aus dem Hades zurückzuholen (E. Alc. 357–362), und bittet sie, dort auf ihn zu warten und das Haus für seine Ankunft herzurichten (E. Alc. 363–368). Admetos’ vollmundige, zum Teil groteske Ankündigungen sind als Ausdruck sowohl seiner großen Trauer als auch seines schlechten Gewissens gedeutet worden.9 Alkestis geht nach seiner langen Rede nicht auf die zusätzlichen Versprechungen ein, die er macht, sondern ruft die Kinder zu Zeugen des eigentlichen, von ihr verlangten Versprechens auf. Admetos bekräftigt es noch einmal. Damit richtet sie den Blick wieder weg von seiner Klage und hin zu ihrer Forderung. Mit ihrer Forderung aber weist sie auf den Tausch, denn dieser ist Voraussetzung dafür, daß sie überhaupt eine Gegenleistung fordern kann.10 9

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Unecht wirkt Admetos’ Trauer z. B. nach Ansicht von von Fritz (1962) 259–260, seine Worte hätten „einen eigentümlich hohlen Klang“, Grube (1941) 145 hält Admetos’ Trauer für echt, während Bergson (1971) 61–62 Admetos zwar nicht abspricht, wahre Trauer über Alkestis’ Tod zu empfinden, jedoch die Einsicht vermißt, daß er sein Unglück durchaus mitzuverantworten habe, vgl. auch Conacher (1967) 337. Die „normale“ Trauer macht Admetos unsympathisch, denn er beklagt keinen normalen Tod, er ist eben nicht einfach ein Ehemann, der seine Frau bestattet, vgl. Hartigan (1991) 31–32. Iakov (2010) 20 weist darauf hin, daß Alkestis lediglich erwarte, daß Admetos keine neue Frau nehme, solange die Kinder nicht erwachsen seien; das entspreche auch den athenischen Vorstellungen des 5. Jh. Als Parallelen nennt er Penelope (Od. 18, 269–270) und eine Bemerkung in Platons Gesetzen (Pl. Lg. 930b-c). Seeck (1985) 73–75 et pass. legt dar, daß die Alkestis nicht eigentlich den Tausch thematisiere, sondern den Verlust, den Alkestis’ Tod für Admetos bedeute; die Klage-, nicht die Opferhandlung bestimme das Stück. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß Admetos im Verlauf des Stücks selten als Ursache ihres Todes genannt wird und daß um Alkestis „normal“ geklagt wird. Daß das eigentliche Thema des Stücks nicht der Tausch ist, bedeutet aber nicht, daß er keine Rolle spielte oder spielen dürfte. Er ist stets der Hintergrund der Handlung, und immer wieder wird der Zuschauer an ihn erinnert. Zwei Charaktere sprechen unverblümt von dem Tausch als der Ursache für Alkestis’ Tod, Apollon im Prolog (E. Alc. 10–21) und Pheres im Agon (E. Alc. 627–628, 694–702), vgl. auch Luschnig (1995) 19. Pheres mag in der Auseinandersetzung manches Unsachliche oder Unmoralische vorbringen, was ihn dem Zuschauer unsympathisch macht. Das gilt jedoch auch für Admetos und darf uns nicht blind machen für das, was Pheres berechtigterweise äußert. An den Handel erinnert ferner die Tatsache, daß der Termin von Alkestis’ Tod feststeht und auch bekannt ist (E. Alc. 105–107). Alkestis stirbt, obwohl sie, wie sie selbst ausspricht, weiterleben könnte, und sie stirbt ungern (E. Alc. 389). Doch sie stirbt für Admetos, eine Beziehung, die immer wieder explizit wird. Seeck führt aus, daß „sterben für“ den Tausch nicht voraussetze, vgl. Seeck (1985) 82–84. Als Parallelen, die nicht einen direkten Tausch enthalten, nennt Seeck beispielsweise Heracl. 532 und Ph. 998. Tatsächlich sehen sich die Opferbereiten in diesen beiden Tragödien nicht vor derselben Alternative wie Alkestis und Admetos, daß nämlich der eine den anderen durch seinen Tod direkt auslösen kann, wohl aber tauschen Makaira und Menoikeus Überleben und Wohlergehen für ihre Familie beziehungsweise die Stadt ein (vgl. E. Heracl. 403–409, 488–491, Ph. 911–914). Außerdem ist die Formulierung „sterben für“ in meinen Augen nicht ganz so neutral, wie Seeck meint. Romero Mariscal untersucht die unterschiedlichen Präpositionen, die das „für“ ausdrücken, und zeigt, daß bei πρό (u. a. E. Alc. 37, 383, 471) und ὑπέρ (u. a. E. Alc. 155, 284, 682) in erster Linie der beschützende Aspekt mitklingt, wie er auch dem Soldaten, der für seine Vaterstadt stirbt, zugeschrieben wird, vgl. z. B. Th. 2, 45, 2. Dagegen konnotiert ἀντί (u. a. E. Alc. 282, 434, 524) vor allem den Ersatz des einen durch die andere: Sie nimmt im Tode seinen Platz ein, er im Leben den ihren, Romero Mariscal (2000) 607–608. Das bedeutet, daß das „statt“, also

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Alkestis stirbt, Familie (E. Alc. 393–415) und Chor (E. Alc. 435–475) klagen. Eben setzt sich der Leichenzug in Bewegung, da kommt Pheres, Admetos’ Vater, herbei. Er äußert Mitgefühl für den Sohn und hat Geschenke für Alkestis dabei (E. Alc. 614–619). Er spricht über Alkestis und ihre Tat: τὸ ταύτης σῶμα τιμᾶσθαι χρεών, ἥτις γε τῆς σῆς προύθανε ψυχῆς, τέκνον, καί μ’ οὐκ ἄπαιδ’ ἔθηκεν οὐδ’ εἴασε σοῦ στερέντα γήρᾳ πενθίμῳ καταφθίνειν, πάσαις δ’ ἔθηκεν εὐκλεέστερον βίον γυναιξίν, ἔργον τλᾶσα γενναῖον τόδε. (E. Alc. 619–624) Man muß die Tote ehren, die ihr Leben für deines hingegeben hat, mein Sohn, und mich nicht kinderlos gemacht und mich nicht, ohne dich, in kummervollem Alter untergehen ließ. Sie hat dem Leben aller Frauen größren Ruhm verliehen, weil sie dies, was γενναῖον ist, gewagt hat.

Pheres ist dankbar, daß Alkestis für seinen Sohn gestorben sei und ihn, Pheres, nicht auf seine alten Tage noch habe kinderlos werden lassen. Pheres rühmt Alkestis aus kleinmütigen, egoistischen Motiven heraus, doch auch recht menschlichen – und wer, außer Alkestis, handelt in diesem Stück nicht egoistisch? Pheres preist ihre Tat mit Begriffen, die aus dem epischen Sprachgebrauch und Wertekanon wohl vertraut sind: Alkestis’ Leichnam (τὸ ταύτης σῶμα) müsse geehrt werden (τιμᾶσθαι), denn sie habe ein ruhmreicheres Leben geführt als alle anderen Frauen (εὐκλεέστερον), da sie solch eine edle Tat auf sich nahm (γενναῖον). Pheres ist nicht der einzige, der Alkestis mit Prädikaten belegt, die sonst männliche Helden rühmen, die sich im Kampf ausgezeichnet haben und deshalb hohe Achtung genießen; auch sie bezahlen den Ruhm häufig mit ihrem Leben. Alkestis wird beispielsweise von Chor und Dienerin als ἀρίστη bezeichnet, von Chor und Herakles als ἐσθλή, von Chor und Admetos als εὐκλεής. Sie gibt sich auch selbst das Prädikat ἀρίστη.11 Der typische epische Held stammt

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der Tausch stets mitschwingt, wenn das Opfer „für“ erwähnt wird. Ferner wird der Tausch in der Alkestis auch dort, wo er nicht explizit genannt wird, indirekt evoziert. Alkestis fordert Admetos’ Versprechen, nicht mehr zu heiraten, ausdrücklich als Gegenleistung, auch wenn dem Geschenk des Lebens, das er von ihr erhält, nichts gleichkommen könne (E. Alc. 301). Die Erwähnungen und Anspielungen auf den Tausch erfolgen punktuell und unterschwellig. Immer wieder wird der Zuschauer daran erinnert und läßt den Zug in sein Bild von Admetos einfließen. Das Drama erhält seine Spannung aus der Zweischneidigkeit aller Äußerungen, den Doppeldeutigkeiten, mit denen Euripides spielt, z. B. bei Admetos’ Klage. Das Stück handelt nicht einfach von einem Mann, der seine Frau verliert, auch wenn das auf der Textebene dominiert. Der Zuschauer hört stets die Vorgeschichte mit. (Ähnliches geschieht bei Herakles’ Spiel am Ende: Der Zuschauer weiß mehr als Admetos und versteht Herakles’ Äußerungen doppelt.) Der Tausch ist eine von vielen Facetten des Dramas; der Konflikt der Werte, in dem Admetos sich entscheiden muß, nämlich, ob er das Versprechen hält oder Herakles aufnimmt und seinen Wunsch erfüllt, ist davon unabhängig. ἀρίστη vom Chor beispielsweise E. Alc. 83, 151, 235, 241, 442, 742 und der Dienerin 152, Alkestis selbst 324, ἐσθλή vom Chor 200, 418 und Herakles 1083, εὐκλεής vom Chor 150 und

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aus einer angesehenen Familie, versucht, besser zu sein als die anderen, tut sich im Kampf und im Wettkampf hervor und nimmt einen frühen Tod gerne in Kauf, wenn er dadurch auf den Ruhm bei der Nachwelt hoffen kann. Einiges davon findet sich tatsächlich bei Alkestis wieder. Auch sie stammt aus einem vornehmen Haus, auch sie nimmt den Tod auf sich, auch sie erwartet Ruhm als Kompensation für ihr kurzes Leben.12 Sie fordert von Admetos eine Gegenleistung für das Geschenk, das sie ihm gemacht hat, und spricht von einer χάρις (E. Alc. 299). Damit ordnet sie ihr Handeln auch begrifflich in die aristokratische Wertewelt ein.13 Hinzu kommen typisch weibliche Merkmale. Die Umstände ihres Todes sind privat. Hier kämpft nicht eine Stadt, ein Volk ums Überleben; es überlebt, weil Alkestis stirbt, ihr Mann. Mit ihm überlebt freilich auch der Oikos des Herrschers. Der Grund, den sie für ihr Opfer nennt, ist allerdings nicht politisch. Sie stirbt, weil sie nicht ohne Admetos leben will (E. Alc. 287–288). Und in den Augen des klagenden Sohnes ist der Oikos, obwohl der Vater am Leben ist, trotzdem dahin, denn die Mutter fehle: οἰχομένας δὲ σοῦ, / μᾶτερ, ὄλωλεν οἶκος (E. Alc. 414–415), nun du fort bist, Mutter, liegt tot das Haus. Der Vergleich mit anderen Frauengestalten der griechischen Tragödie läßt Alkestis’ Konturen schärfer hervortreten. Auch Klytaimestra oder Medea tragen männliche Züge, doch sie sind hinterhältig, grausam, rachsüchtig und für den zeitgenössischen Zuschauer eher abstoßend. Ihre Treue gegenüber dem Gatten teilt Alkestis mit Penelope, der leuchtendsten und gänzlich unumstrittenen Frauenfigur der griechischen Mythologie, die jahrelang auf die Rückkehr ihres Gatten wartet und ihm treu bleibt, ohne sich durch die Belästigungen der zahlreichen Freier beeindrucken zu lassen. Auch Iphigenie oder Makaria sterben einen Opfertod wie Alkestis, doch sie sterben für ihre Stadt, ihr Volk und wünschen den Tod auch selbst ganz nachdrücklich. Gelegentlich liest man in der Forschung, Alkestis’ Opfer entspreche der ihr von der Gesellschaft vorgegebenen Rolle, deren Sinn im Dienst an Gatten, Ehe, Oikos liege. Sie verkörpere die vollkommene weibliche ἀρετή.14 Dem ist insoweit zuzustimmen, als die gesellschaftliche Rol-

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Admetos 938. Ihr Grab wird, so schwebt es jedenfalls dem Chor vor, als das einer Heroin verehrt werden, E. Alc. 995–1005. Vgl. auch Bergson (1971) 52–53, Padilla (2000) 193. Garner (1988) 61–66 zeigt ausführlich die Parallelen zwischen Alkestis einerseits und den homerischen Helden Patroklos und Hektor andererseits. Gregory (1991) 33–34 verweist auf die Parallele zum sophokleischen Aias. Burnett (1965) 245 meint, Alkestis’ Forderung an Admetos, keine neue Frau mehr zu nehmen, habe nichts mehr mit der Wohltat ihres Opfertodes zu tun; hier gehe es vielmehr um „Auge um Auge“. Offensichtlich ist Burnett gefangen in unserem modernen, christlich geprägten Wertesystem, wenn sie annimmt, eine Wohltat schließe eine Gegenleistung aus, und Alkestis’ Forderung deshalb durch die alttestamentliche Formulierung „Auge um Auge“ als moralisch fragwürdig qualifiziert (unbekümmert um die Bedeutung des Rechtsgrundsatzes „Auge um Auge“). Die Tatsache, daß eine Gegenleistung gefordert wird, ist in Übereinstimmung mit den aristokratischen Gesellschaftsnormen. Problematisch ist eher der Inhalt der Forderung. Alkestis fordert eine χάρις, die der Erhaltung des Oikos und den Gepflogenheiten widerspricht; eine Wiederverheiratung war normal, vgl. Erbse (1972) 41, Harder (1993) 354–355, Kaimio (2002) 106–107. So z. B. Zürcher (1947) 28–29, Vellacott (1975) 101. Alkestis sterbe aus Pflichtgefühl, vgl. Kullmann (1967) 130–131. Alkestis’ männliche Umwelt findet ihren Tod zwar bedauerlich,

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lenverteilung dem Mann die oikoserhaltende, der Frau die oikosverwaltende Aufgabe zuwies und das Leben einer Frau ersetzbarer, zumal ersetzbarer als das des Königs schien. Die Tatsache, daß Alkestis sich zum Opfer bereit erklärte, mag durch die gesellschaftliche Ordnung zu begründen sein. Aus der ihr von der Gesellschaft zugewiesenen Rolle fällt Alkestis allerdings durch den aristokratischen, heroischen Kontext der Männerwelt, in den sie ihren Opfertod stellt und in dem er von den anderen Personen des Stücks beschrieben wird. Auf diese Weise ist ihrem Opfer der Charakter einer weiblichen Pflichterfüllung in der Ehe genommen. Alkestis sieht den Sinn und das Ziel ihres Lebens nicht allein im Dienst am Gatten.15 Ihr Heldentum ist gemischt aus männlichen und weiblichen Elementen.16 Sie scheut sich nicht vor dem Tod, doch sie stirbt wenig enthusiastisch. Bei ihr hören wir kein „ich will!“, sondern ein „ich gehe ungern“, ihr ist der Ruhm, den sie erwartet, ein Trost, aber nicht das Ziel ihres Handelns.17 Einerseits beansprucht Alkestis also heroische Werte für sich und ihr Handeln, und sie werden ihr auch von anderen zugesprochen. Andererseits lebt sie sie auf eine Weise, die die heroischen Werte in Frage stellt. Die Begegnung von Pheres und Admetos gipfelt in wüsten Beschuldigungen, zweimal versucht der Chor zu beschwichtigen, doch vergeblich (E. Alc. 673–674 und 706–707). Der Agon endet ohne Sieger.18 Pheres setzt sich durch einige sei-

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doch verglichen mit Admetos’ Tod hält sie ihn für Gewinn. Niemand außer Pheres äußert die Möglichkeit, daß Admetos hätte selbst sterben sollen, vgl. Steiger (1912) 106. Vgl. auch Slater (2000) 107. Alkestis’ Rede, in der sie seine zukünftige Ehelosigkeit fordert, sei brilliant entwickelt und sei die einer königlichen, selbstbewußten Frau. Sie ruiniere zielsicher Admetos’ verbleibendes Leben, Rosenmeyer (1963) 226–227. Ähnlich Lorch (1988) 77–78. In der Terminologie der zwanziger Jahre: „Sie ist Heroine, aber auch Hausmutter“, Lesky (1925) 80. Segal (1992) 16 spricht von einem „paradox of a domestic heroism“. Bassi (1989) erinnert daran, daß Frauenrollen von Männern gespielt wurden. Der Text der Alkestis spiele mit dieser Konvention, wenn Alkestis im Opfertod als Substitut eines Mannes fungiere, Admetos eine ihr gleichende Statue im Bett zu haben verspreche, Alkestis mit männlichen Prädikaten belegt werde und sie sich ihrer Tat wie ein Mann rühme. Die schweigende Alkestis der Schlußszene dagegen sei die sprach- und machtlose Frau des klassischen Athen, so auch Segal (1992) 25, Siropoulos (2001) 16. Admetos untergrabe systematisch Alkestis’ κλέος, wenn er die Musik verbiete, ihren Tod leugne, ihre Statue statt auf ihrem Grab in seinem Bett plaziere und sie so ersetzbar mache, vgl. O’ Higgins (1993) 77–95. Zur „männlichen“ Sicht des Chors auf das Geschehen vgl. Vellacott (1975) 103–104. Gerade entgegengesetzt bewertet Achilleus die beiden Komponenten Tod und Ruhm. Er ist vor die Alternative gestellt, entweder lange, aber ruhmlos zu leben oder einen frühen Tod zu erleiden, dafür aber fortwährenden Ruhm zu erlangen (Il. 9, 410–416). Nach Patroklos’ Tod entscheidet er sich für letzteres (Il. 18, 88–126, v. a. 120–121). Es fällt auf, daß er sich, im Gegensatz zu Alkestis, die den Tod wählt und den Ruhm zusätzlich bekommt, für den Ruhm entscheidet und den Tod in Kauf nimmt. Anders als Alkestis, die ungern stirbt, verlangen beispielsweise Makaria oder Iphigenie ihr Opfer glühend (E. Heracl.. 501–551, E. IA 1368–1402). Von Fritz weist darauf hin, daß Alkestis in Euripides’ Tragödie nicht wie in der Märchenvorlage im Affekt bei der Hochzeit stirbt, sondern deutlich später. Die Bedeutung ihres Entschlusses steht ihr klar vor Augen, von Fritz (1956) 57. Vgl. auch Kullmann (1967) 136–139. In der Forschung findet man sowohl, daß Admetos, als auch, daß Pheres als Sieger aus dem Agon hervorgehe. Beide sind in ihrer Haltung angreifbar, ihre Worte können, je nach

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ner Äußerungen selbst ins Unrecht oder stellt sich außerhalb der gesellschaftlich anerkannten Norm.19 Er bezeichnet seinen Sohn als der verlangten Wohltat für unwürdig (E. Alc. 710), bezeichnet Alkestis, weil sie Admetos’ Tod auf sich nahm, als ἄφρων (E. Alc. 728), zeigt sich gleichgültig gegenüber einem schlechten Ruf und von dem Vorwurf der ἀναίδεια gänzlich unbeeindruckt (E. Alc. 725–726). Dadurch schwächt Pheres seine Position und die Argumente, die er zu Recht vorbringt und auf die Admetos keine Antwort weiß. Dieser ignoriert manche Antwort des Vaters einfach und weicht einer Rechtfertigung aus.20 Doch einige Vorwürfe, die Admetos seinem Vater macht, treffen auch auf ihn selbst zu: nicht nur der Vater zieht das Leben dem Tod vor und muß sich den Vorwurf der Feigheit gefallen lassen, vielmehr ist es ja Admetos’ Tod, der gestorben werden mußte. Auch Admetos geht beschädigt aus dem Agon hervor. In aggressiver Weise leitet er aus seiner Jugend21 ein Recht auf das eigene Weiterleben und Vaters Tod ab (E. Alc. 635, 643–645) und überschreitet die Grenzen des guten Geschmacks, wenn er sagt, er halte sich für untergeschoben,22 und sich von seinen Eltern lossagt (E. Alc. 636–641).23 Alkestis nehme für ihn nun die Stelle der Eltern ein – sie wolle er im Alter nähren (E. Alc. 646–647, 667–668).24 Der Chor bleibt neutral, die Problematik des Agons wird nicht mehr erwähnt, die Positionen und Eskalation der Situation finden keine Bewertung.25 Der Leichenzug setzt sich in Bewegung, und der Chor schließt die Szene mit einigen wenigen Versen ab:26

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Gewichtung, positiv oder negativ ausgelegt werden, vgl. Lloyd (1992) 37–41. Pheres wird von der Forschung zumeist als Negativfigur verstanden, so z. B. Lesky (1925) 81–82, Grube (1941) 139–140, Rosenmeyer (1963) 238, Burnett (1971) 40–42, Jakob (1999) 279–282. Seeck (1985) 104–108 erklärt dies als motivische Abgrenzung: Es gehe Admetos (und Euripides) um die Opfer-, nicht die Tauschhandlung; zur Frage, ob das Opfer ohne den Tausch gedacht werden kann, vgl. oben. Harder weist darauf hin, daß Admetos nicht politisch argumentiert und nicht vorbringt, daß er als Herrscher überleben müsse – eine Argumentation, die der Zuschauer eher als einleuchtend akzeptierte, vgl. Harder (1993) 352; in der modernen Forschung wurden allerdings dergleichen Argumente zu Admetos’ Gunsten vorgebracht, so z. B. Grube (1941) 129–130, Vellacott (1975) 104–105. In den Positionen von Admetos und Pheres stehen sich Gesetz und Gepflogenheit gegenüber: Nach dem Gesetz ist Pheres das Oberhaupt, nach dem Brauch geben die Alten nach und nach ihre Kompetenzen ab, und die jüngere Generation nimmt an Wichtigkeit zu, Thury (1988), vgl. auch Tietze (1933) 70–71, Riemer (1989) 149–152, Sicking (1998) 51–52. Diese Bemerkung ist freilich nicht wörtlich zu verstehen, vgl. Griffith (1978). Padilla (2000) 197–198 führt aus, daß Admetos mit dem Vater breche, um seine Verpflichtung gegenüber Alkestis zu erfüllen. Es fällt auf, daß Alkestis’ Verhalten als Maßstab für Admetos’ Eltern dient (die dadurch in schlechtem Licht erscheinen), während Admetos nur von Pheres an Alkestis gemessen wird, Seeck (1985) 100–102. Vgl. Hartigan (1991) 30, Dubischar (2001) 295–304. Es sei, so Hose (1990) 225–226, für den weiteren Fortgang des Stücks erforderlich, daß der Chor neutral bleibe: Admetos’ spätere Einsicht erhalte nur dann das entsprechende Gewicht, wenn er im Agon keine Niederlage erlitten habe, und seine spätere Reue verhindere, daß er im Agon Recht bekomme. Hose (1991) 142–143 weist darauf hin, daß an dieser Stelle des Stücks eigentlich ein Chorlied zu erwarten gewesen wäre. Er erklärt das Fehlen mit der Konzeption auf die Bestattung hin.

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ἰὼ ἰώ. σχετλία τόλμης, ὦ γενναία καὶ μέγ’ ἀρίστη, χαῖρε· πρόφρων σε χθόνιός θ’ Ἑρμῆς Ἅιδης τε δέχοιτ᾿. εἰ δέ τι κἀκεῖ πλέον ἔστ’ ἀγαθοῖς, τούτων μετέχουσ’ Ἅιδου νύμφῃ παρεδρεύοις. (E. Alc. 741–746) O wehe! Gewaltiges hast du gewagt, du γενναία und weitaus tüchtigste Frau – leb wohl! Es empfange dich freundlich im Erdenschoß Hermes und Hades. Und es gibt auch dort einen Lohn für die Guten, so hab daran teil und sitz an der Seite der Gattin des Hades.

Der Chor wendet sich an Alkestis und spricht typische Abschiedsworte und -wünsche für den Aufenthalt im Totenreich. Die Anrede ist recht lang und erinnert noch einmal an den Charakter ihres Todes. Er zeichnet sich aus durch τόλμη und macht sie γενναία und μεγ’ ἀρίστη. Wieder sind das Prädikat γενναία und die Erwähnung ihres Todes mit homerisch-heroischen Epitheta verbunden.27 Der Chor ist es auch, der Alkestis nach der Bestattung noch einmal explizit rühmt. Admetos ist niedergeschlagen, weil er nun erkennt, welche Zukunft ihn erwartet (E. Alc. 861–961). Das folgende Chorlied hellt die gedrückte Stimmung nicht auf. Der Chor singt zunächst von ἀνάγκη, der unausweichlichen und unerbittlichen (E. Alc. 962–983). Dann spricht er Admetos direkt an: καὶ σ’ ἐν ἀφύκτοισι χερῶν εἷλε θεὰ δεσμοῖς. τόλμα δ’· οὐ γὰρ ἀνάξεις ποτ’ ἔνερθεν κλαίων τοὺς φθιμένους ἄνω. καὶ θεῶν σκότιοι φθίνου σι παῖδες ἐν θανάτῳ. φίλα μὲν ὅτ’ ἦν μεθ’ ἡμῶν, φίλα δὲ θανοῦσ’ ἔτ’ ἔσται, γενναιοτάταν δὲ πασᾶν ἐζεύξω κλισίαις ἄκοιτιν. (E. Alc. 984–994) Auch dir schlug die Gottheit in unentrinnbare Fesseln die Arme. Halt aus! Denn niemals wirst du von drunten durch Tränen die Toten zur Oberwelt führen. Auch Göttersöhne, die heimlich gezeugt, erliegen dem Tode. Lieb war sie uns, als sie unter uns weilte, lieb jetzt auch, da sie gestorben – die, die am meisten von allen Frauen γενναία ist, hast du dir zur Ehe verbunden.

Admetos solle das Klagen lassen, es bringe die Tote doch nicht wieder. Alkestis’ Würdigung ist kurz, aber in ihrer allgemeinen Form umfassend. Zu Lebzeiten 27

Auch σχέτλιος ist hier in der ursprünglichen homerischen Bedeutung „standhaft“ gebraucht, vgl. Weber (1930) 144 (ad 741), Dale (1954) 108 (ad 741).

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sei sie φίλα gewesen, und auch tot werde sie es noch sein. Das ὅτ’ ἦν μεθ’ ἡμῶν, das statt eines blassen ζῶσα das Gegenteil von θανοῦσ’ angibt, nimmt Alkestis’ Abschied von ihrem Personal (E. Alc. 192–195) und den warmherzigen Nachruf des Dieners (E. Alc. 769–771) wieder auf und gibt der Aussage eine persönliche Note.28 Die Strophe schließt mit der Feststellung, daß Admetos die edelste aller Gattinnen gehabt habe. Für ihre Untertanen war sie eine Mutter, für Admetos war sie Gattin bis zum Äußersten und gab ihr Leben für seines hin.29 Die letzte Strophe des Chorlieds erhofft göttergleiche Verehrung für sie. Wanderer würden stehenbleiben und ihre Tat rühmen (E. Alc. 995–1005).

5.1.2 Admetos Nachdem Alkestis gestorben ist, aber noch bevor sie hinausgetragen wird und Admetos mit seinem Vater streitet, tritt Herakles auf und wird von Admetos durch mißverständliche Formulierungen über die Identität der Toten hinweggetäuscht (E. Alc. 509–535).30 Dennoch möchte Herakles lieber die Gastfreundschaft eines anderen Hauses erbitten, dem er weniger ungelegen käme. Es sei αἰσχρόν, sich in einem Trauerhaus bewirten zu lassen, und er werde Admetos’ χάρις zu schätzen wissen, wenn der ihn ziehen lasse. Admetos aber hält ihn zurück und überredet ihn zu bleiben. Er bringt den Gast in einem abgelegenen und abgeriegelten Flügel des Hauses unter (E. Alc. 536–550). Die erste Reaktion des Chors, nachdem Herakles abgetreten ist, ist eindeutig. Er ist fassungslos, daß Admetos es wagt, unter den gegebenen Umständen einen Gast in sein Haus aufzunehmen: τί δρᾷς; τοσαύτης συμφορᾶς προσκειμένης, / Ἄδμητε, τολμᾷς ξενοδοκεῖν; τί μῶρος εἶ; (E. Alc. 551–552) Was fällt dir ein? In solchem Unglück wagst du noch, / Admetos, den Wirt zu spielen? Was soll deine Torheit?31 Der Chor findet klare Worte, wenn er Admetos als μῶρος bezeichnet. Offensichtlich hält er sein Verhalten für absolut inakzeptabel. Admetos bringt dagegen vor, daß sein Unglück nicht kleiner werde, wenn er Herakles abweise, im Gegenteil, dann habe er auch noch den Vorwurf der mangelnden Gastfreundschaft zu tragen (ἐχθροξένους, E. Alc. 558), und schließlich zeige sich auch Herakles ihm gegenüber höchst gastfreundlich, wann immer er nach Argos komme (E. Alc. 554–560). Admetos wägt ab und findet die ξενία gewinnbringender. Der Chor wendet ein, daß Admetos doch, wenn mit Herakles ein Freund zum Haus gekommen sei, wenigstens offen die Wahrheit hätte sagen sollen (E. Alc. 561–562). Im folgenden Stasimon spiegelt der Chor das Geschehen auf einer mythischen Ebene (E. Alc. 568–605). Das Chorlied schildert die paradiesischen Zustände während Apollons Dienst und den Reichtum, der Admetos seither begleitet. In der letzten Strophe fällt der Begriff εὐγενής:

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Zu den Worten des Dieners vgl. auch Smith (1983) 136–140. Lesky (1925) 80 spricht vom „Idealtyp der Bürgersfrau“. Das ist auf unauffällige Weise möglich, da sich in Alkestis die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit verwischen, vgl. Assael (2001) 87–94. Vgl. auch Riemer (1989) 126–128. Riemer spricht von einem „Wagnis“ (126).

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καὶ νῦν δόμον ἀμπετάσας δέξατο ξεῖνον νοτερῷ βλεφάρῳ, τᾶς φίλας κλαίων ἀλόχου νέκυν ἐν δώμασιν ἀρτιθανῆ; τὸ γὰρ εὐγενὲς ἐκφέρεται πρὸς αἰδῶ. ἐν τοῖς ἀγαθοῖσι δὲ πάντ’ ἔνε στιν· σοφίας ἄγαμαι. πρὸς δ’ ἐμᾷ ψυχᾷ θράσος ἧσται θεοσεβῆ φῶτα κεδνὰ πράξειν. (E. Alc. 597–605) Auch heute hat Admetos geöffnet das Haus, empfing den Gastfreund, mit tränenfeuchtem Auge, die tote, liebe Gemahlin beweinend, die soeben im Hause verstorben; denn das, was εὐγενές ist, wird gebracht zu frommer Erfüllung der Pflicht. Den Guten wohnt alles inne: Ihre Gewandtheit ist mir ein Wunder. In meinem Herzen ruht Zuversicht, es werde dem gottesfürchtigen Manne noch wohlergehen.

Wie damals Apollon, so habe Admetos nun Herakles aufgenommen, und dafür habe er seine eigene traurige Situation ignoriert.32 So weit ist der Sinn der Strophe klar. Doch τὸ γὰρ εὐγενὲς ἐκφέρεται πρὸς αἰδῶ wird unterschiedlich verstanden. Unstrittig ist, daß der Chor Admetos’ Verhalten als αἰδώς-konform bezeichnet und durch das ihm innewohnende εὐγενές erklärt. Uneins ist sich die Forschung in der Bewertung der Gnome. Der Begriff ἐκφέρεται wird in negativem Sinn gebraucht, um ein Abgleiten in einen extremen Zustand zu bezeichnen.33 αἰδώς ist jedoch keine Haltung, die man meiden müßte, im Gegenteil, sie ist ein erstrebenswerter alter, aristokratischer Wert. Die Verbindung von εὐγένεια und αἰδώς ist weiterhin nicht überraschend; wir sind ihr schon bei Homer und seither immer wieder begegnet. Nach Auffassung einiger Interpreten ist die Aussage des Chors als positiv aufzufassen.34 Andere sehen in der Formulierung wieder eine Kritik an Admetos’ Verhalten.35 Dem ist entgegenzuhalten, daß sich über die vorliegende Passage hinaus im Stück keine weiteren Anzeichen für eine subversive Herrscherkritik 32

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Die strukturellen Parallelen der dreimaligen Aufnahme eines Gastes, nämlich Apollons, Herakles’ und Alkestis’, untersucht Burnett (1971) 39–40. Vgl. z. B. S. El. 628–629 ὁρᾷς; πρὸς ὀργὴν ἐκφέρῃ, μεθεῖσά με / λέγειν ἃ χρῄζοιμ’, οὐδ’ ἐπίστασαι κλύειν. Siehst du? im Zorn reißt es dich hin, die du / mir doch erlaubt zu sagen, was ich wollte. Im Wortwechsel mit ihrer Mutter wirft Elektra Klytaimestra vor, sie verhindere durch ihre Wut ein sachliches Gespräch. Vgl. Dale (1954) 102 (ad 600 ff.), Conacher (1988) 180 (ad 600–601), Susanetti (2001) 231. So z. B. Hermann (1824) 66 (ad 612=601), Weber (1930) 137 (ad 601). Vgl. auch Smith (1960) 134, Lorch (1988) 116–122, Hose (1991) 176–179. Dale geht davon aus, daß der Chor grundsätzlich von der Richtigkeit von Admetos’ Handeln überzeugt ist, Dale (1954) 102 (ad 600 ff.), ähnlich Bergson (1971) 54 Anm. So z. B. Conacher (1988) 180 (ad 600–601), Parker (2007) 175–176 (ad 600–601). Susanetti verweist ferner auf fr. 365 Nauck (= 365 Kannicht) αἰδοῦς δὲ αὐτὸς δυσκρίτως ἔχω πέρι· / καὶ δεῖ γὰρ αὐτῆς κἄστιν αὖ κακὸν μέγα. Ich selbst aber bin unentschieden in der Frage der Scham; denn man braucht sie und sie ist zugleich ein großes Übel.

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durch den Chor finden. Er sagt offen, was er denkt, und erscheint insgesamt eher loyal.36 Die unmittelbare Reaktion des Chors auf Herakles’ Aufnahme ins Trauerhaus ist Entsetzen und offene Kritik. Die Choreuten sprechen als Bürger von Pherai zu Admetos (E. Alc. 551–552). Im Chorlied äußert sich der Chor gnomisch; er abstrahiert von den konkreten Personen und nimmt das Geschehen in den Blick; nun spricht der Chor der Tragödie über die Situation. Das Verb ἐκφέρεται verleiht der Aussage einen deutlich kritischen Ton. Ein Verhalten, das aus εὐγένεια erwächst, kann den Handelnden in eine äußerste, unerträgliche und unlösbare Situation bringen. Es ist gleichgültig, wie Admetos sich entscheidet, er verstößt gegen Forderungen und Werte. Admetos trauert nicht offen und lehnt nicht ab, einen Gast in seinem Haus zu unterhalten. Der Chor und, wie sich später herausstellt, auch Herakles hätten das erwartet. Admetos steht in einem Konflikt zwischen zwei Werten, der Gastfreundschaft und der Zuverlässigkeit seines Wortes. Die Entscheidung für das eine impliziert eine Entscheidung gegen das andere. Die Formulierung des Chores bringt mit der Verbindung von ἐκφέρεται und αἰδῶ das Dilemma, in dem Admetos sich findet, sinnfällig zum Ausdruck. Zum Extrem geführt, verliert auch die αἰδώς ihre ursprüngliche positive Konnotation. Die εὐγένεια kann den, der sich von ihr leiten läßt, an einen Punkt bringen, an dem αἰδώς keine sichere Handlungsorientierung mehr bildet. Die Äußerung des Chores ist als eine Kritik zu verstehen, nicht jedoch an Admetos, sondern an der Ordnung, in deren Rahmen der Konflikt entstehen konnte, aber nicht gelöst werden kann. Der Chor kritisiert nicht Admetos subtil oder versteckt, er spricht auch nicht unabsichtlich zweideutig. Auf einer allgemeineren Ebene urteilt er über die Situation. Mit zugleich positiven und negativen Konnotationen spielen auch die beiden anschließenden Verse. Den Guten wohne alles inne (ἐν τοῖς ἀγαθοῖσι δὲ πάντ’ ἔνεστιν) – das kann Gutes wie Schlechtes heißen. σοφία diagnostiziert der Chor – das kann Weisheit sein wie auch Schläue. ἄγαμαι sagt der Chor – und es bleibt offen, ob er dies bewundert oder staunt.37 Der gnomische Charakter der Aussage hebt den Satz über den konkreten Zusammenhang heraus und enthebt das Wort damit eines Urteils über Admetos. Der letzte Satz des Stasimons nimmt wieder den optimistischeren Ton der ersten drei Strophen auf. Der Chor rühmt Admetos’ ξενία und schafft durch den Kontext des Lieds eine Traditionslinie.38 Wie Admetos einst Apollon aufnahm, so nimmt er nun Herakles auf. Und wie er dies damals zu seinem Vorteil 36

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So auch Vellacott (1975) 103–104, Riemer (1989) 144–147. Im Agon verhält sich der Chor neutral, vgl. hierzu oben. Kullmann (1967) 140 sieht im Chor die Sicht des einfachen Mannes repräsentiert, der die verborgene Tragik hinter den konventionellen Wertekategorien nicht erkenne. Die Interpunktion von E. Alc. 602–603 ist strittig. Unklar ist, ob vor oder nach σοφίας zu interpungieren ist. Die Scholien verstehen σοφίας offensichtlich als zu πάντα gehörig (πᾶν τὸ τῆς σοφίας ἔργον ἐν τοῖς ἀγαθοῖς ἐστι. Die ganze Wirkung der Weisheit ist in den Guten). Die neueren Ausgaben bevorzugen dagegen den Einschnitt vor σοφίας, so Dale (1954), Diggle (1984), Conacher (1988) 181 (ad 603). Zum Verhältnis von ξενία und φιλία vgl. Stanton (1990) 46–54.

Alkestis

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tat, so wird er auch dieses Mal seinen Gewinn davontragen. Die hoffnungsvolle Schlußnote schafft einen wirkungsvollen Kontrast zu dem häßlichen Streit zwischen Pheres und Admetos, der das folgende Epeisodion bildet. Die erste, spontane Reaktion des Chors auf Admetos’ Verhalten war ein Vorwurf, danach löst er sich in seinen Überlegungen von der konkreten Situation. Die letzte Strophe des Stasimons führt εὐγένεια als Grundlage und Ursache eines bestimmten Verhaltens vor, das durch aristokratische Werte beschrieben wird.39 Die Worte des Chors formulieren ein Verständnis von εὐγένεια, das wir schon bei Homer und Pindar vorgefunden haben und das auch den Stellen bei Aischylos oder Sophokles zugrunde liegt, an denen der Begriff in seiner Bedeutung und Berechtigung diskutiert wird. Der Chor bringt sein Urteil über die unlösbare Konstellation in einer Formulierung vor, die das Dilemma in der Ordnung, aus der es erwächst, verankert. Er übt keine persönliche Kritik an Admetos, sondern reflektiert die Kräfte, die die unmögliche Entscheidung erzwingen. Admetos hat Herakles aufgenommen, obwohl Alkestis eben verstorben und noch nicht bestattet ist, weil er nicht als ungastlich gelten möchte. Admetos sieht offenbar nicht, daß er durch sein Verhalten zwar den Vorwurf der mangelnden Gastfreundschaft vermeidet, dafür aber einen anderen in Kauf nimmt. Eben hat er noch Alkestis allerhand Maßnahmen und Versprechungen seiner lebenslangen Trauer angekündigt (E. Alc. 328–368), und nun bricht er dieses Versprechen, um seinen guten Ruf als Gastgeber nicht zu verlieren. Alkestis rückt durch die Attribute, die ihr beigelegt werden, in die Nähe eines epischen Helden. Dagegen muß Admetos blaß wirken, zumal gerade der Tod, den sie statt seiner gestorben ist, ihr diesen Status verschafft.40 Alkestis hat Admetos ihr Leben geschenkt, eine gleichwertige χάρις kann er ihr nicht zurückgeben.41 Um nicht hinter seiner Frau zurückzubleiben, muß Admetos ihrer Tat eine andere wertvolle entgegensetzen. Sein guter Ruf gründet sich auf die ξενία, die ein hoher Wert des aristokratischen Kodex einer Männerwelt ist. Die ξενία soll sein Ansehen retten. Beidem kann er jedoch nicht gerecht werden. Entweder er hält, was er seiner sterbenden Frau versprochen hat, oder er erfüllt die Forderungen der Gastfreundschaft. Er entscheidet sich für das Terrain, auf dem er Erfahrung

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Zürcher (1947) 39–40 meint, die Sicht des Chors widerspreche Admetos’ eigener Argumentation, wenn er selbst sein Verhalten aus einer gesellschaftlichen Norm, der ξενία, heraus begründe, nicht aus seiner εὐγένεια. Er übersieht dabei, daß εὐγένεια und gesellschaftliche Norm nicht zweierlei Dinge sind. Admetos fühlt sich eben durch seine εὐγένεια den aristokratischen Normen verpflichtet. Nach Siropoulos (2001) 14 ist der Chor von Admetos’ Sichtweise überzeugt. Thorburn (2000a) 42–43 weist darauf hin, daß Admetos im dritten Stasimon mit πολύξεινος und θεοσεβής (E. Alc. 568 und 605) zwar Werte der homerischen Welt zugesprochen werden, daß der Kriegskontext jedoch fehlt. Anders als in Herakles’ Charakterisierung (E. Alc. 481–506, Herakles’ Arbeiten, die Rosse des Diomedes) bleibt Admetos’ Teilnahme an der Argonautenfahrt unerwähnt; Admetos ist nicht heroisch. Vgl. auch Padilla (2000) 189–195.

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hat und sich sicher fühlt.42 Das Versprechen Alkestis gegenüber ist eine private Angelegenheit, die Öffentlichkeit ist ihm wichtiger. Als sich die Bühne zum Begräbnis geleert hat – auch der Chor ist abgetreten –, erfährt Herakles, wen das Haus tatsächlich zu Grabe trägt. Der Diener, der ihn bewirten soll, tritt vor die Tür, weil er den feiernden und grölenden Gast nicht mehr erträgt. Er beklagt Alkestis’ Tod, die dem ganzen Haus eine Mutter gewesen sei, und ist ärgerlich, daß er Herakles’ wegen nicht bei der Bestattung dabeisein kann (E. Alc. 747–772). Herakles muß die letzten Worte gehört haben, denn er kommt hinzu und hält dem Sklaven eine topische Rede über die Vergänglichkeit des Menschen und die Bedeutung des Jetzt (E. Alc. 773–802).43 Im anschließenden Gespräch, in dem Herakles die Wahrheit erfährt, äußern sich der Diener und Herakles zu Admetos’ Handeln (E. Alc. 803–842). Admetos zeigte sich in den Augen des Dieners allzu gastfreundlich, als er Herakles aufnahm (ἄγαν φιλόξενος, E. Alc. 809), doch ihm ist durchaus bewußt, warum Admetos so handelte. Seine αἰδώς hinderte ihn, Herakles wegzuschicken (ᾐδεῖτο γάρ, E. Alc. 823). Herakles kann kaum fassen, daß Admetos darauf bestand, ihn zu bewirten (ἔπειτα δῆτά μ’ ἐξενίζετε; E. Alc. 822, Und dann nahmt ihr mich so gastlich auf?), und entschuldigt, daß er Admetos’ Gastfreundschaft angenommen und sich unangemessen benommen hat (ἔπειθέ με ... βίᾳ θυμοῦ ... ἀνδρὸς φιλοξένου ... ἀλλὰ σοῦ τὸ μὴ φράσαι, E. Alc. 827–833, er überredete mich ... dem Gefühl zum Trotz ... des gastfreundlichen Mannes ... weil du stillgeschwiegen). Er will sich deshalb erkenntlich zeigen und Admetos eine χάρις erweisen. Die Terminologie der beiden ist nicht überraschend. Admetos’ Handeln wird innerhalb der aristokratischen Wertewelt beschrieben. Ebenso bewegt sich Herakles’ Reaktion innerhalb dieser Ordnung. Er empfindet die Gastfreundschaft als außerordentliche Geste, die eine außerordentliche Gegenleistung erfordert (E. Alc. 840–842, δεῖ γάρ με ... Ἀδμήτῳ ὑπουργῆσαι χάριν. Ich muß ... Admetos einen Liebesdienst erweisen).44 Er möchte Alkestis dem Tod entringen und Admetos zurückgeben (E. Alc. 840–854):

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So auch von Fritz (1962) 305–306. Vgl. Padilla (2000) 195–196. In Leskys Augen ist Admetos’ Gastfreundschaft der einzige charakteristische Zug einer ansonsten farblosen Figur, vgl. Lesky (1925) 79–80. Nach der Deutung von Burnett gibt es offensichtlich keinen Zwiespalt: „his new duty to Alcestis ... coincides with his continuing duty as a nobleman. His simple impulse to deny Alcestis’ death shows him the way“, ebenso am Ende des Dramas, als Herakles ihn drängt, die verschleierte Frau in sein Haus aufzunehmen: „The audience watches Admetus’ nobility guide him once again in a situation he does not wholly understand“ (Burnett (1965) 247 und 251). Schein (1988) untersucht die Formen der φιλία, die in der Alkestis gepflegt werden, und zeigt, daß Admetos die privaten, durch φιλία geprägten Beziehungen leichter nimmt – mit dem Vater bricht er, Alkestis muß zweimal zurückstehen –, während er die φιλία mit Gott und Heros in Form der ξενία eifrig pflegt, vgl. Schein (1988) 190–206. Gregory sieht in diesen scheinbar leichthin gesprochenen Versen einen wichtigen Grundgedanken des Stückes formuliert: Jeder muß einmal sterben; deshalb sollen wir bewußt leben und das Leben nicht an seiner Quantität, sondern an seiner Qualität messen, Gregory (1979) 268 und (1991) 40–41. Vgl. Padilla (2000) 198–199.

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πέποιθ’ ἄξειν ἄνω Ἄλκηστιν, ὥστε χερσὶν ἐνθεῖναι ξένου, ὅς μ’ ἐς δόμους ἐδέξατ’ οὐδ’ ἀπήλασεν, καίπερ βαρείᾳ συμφορᾳ πεπληγμένος, ἔκρυπτε δ’ ὢν γενναῖος, αἰδεσθεὶς ἐμέ. τίς τοῦδε μᾶλλον Θεσσαλῶν φιλόξενος, τίς Ἑλλαδ’ οἰκῶν; τοιγὰρ οὐκ ἐρεῖ κακὸν εὐεργετῆσαι φῶτα γενναῖος γεγώς. (E. Alc. 853–860) Ich werde ganz gewiß zurück Alkestis führen, um sie in den Arm des Gatten zu geben, der ins Haus mich nahm und mich nicht abwies, wenn auch von schwerem Schicksalsschlag getroffen, sondern als einer, der γενναῖος ist, ihn verschwieg, aus Rücksicht nur auf mich. Wer aus Thessalien ist gastlicher als er, ja, wer aus Hellas? Er soll sagen nicht, er habe, als einer, der γενναῖος ist, einem Undankbaren wohlgetan.

Zweimal innerhalb von vier Versen bezeichnet Herakles Admetos als γενναῖος. Er nennt dessen εὐγένεια und seine αἰδώς als Grund dafür, daß er sein eigentliches Leid vor Herakles verbarg und ihn nicht fortschickte, sondern aufnahm, obwohl er eben seine Gattin verloren hatte. Damit rückt Admetos in ein positives Licht.45 Dagegen möchte Herakles nicht als κακός erscheinen. Der Gegenbegriff steht kontrastierend neben εὐεργετῆσαι und γενναῖος. κακός zeigte er sich seiner Meinung nach offensichtlich dann, wenn er die genossene Gastfreundschaft auf gewöhnliche Weise erwiderte und Admetos einfach bei sich aufnähme, sobald der einmal nach Argos käme. Er empfindet die ξενία, die Admetos ihm erwies, jedoch als größeres Geschenk (εὐεργετῆσαι). Jetzt muß er seinerseits beweisen, daß er seiner εὐγένεια gerecht wird; immerhin ist er, so hatte er seine Ankündigung eingeleitet, ein Sohn des Zeus (E. Alc. 838–839). Das verknüpft den Begriff der εὐγένεια wieder eng mit dem Gedanken der Herkunft, ebenso wie die Formulierung γενναῖος γεγώς, und unterstreicht, ebenso wie die gehäufte Verwendung von Begriffen heroischer Normen, das aristokratische Umfeld, das Herakles für sein Verhalten keine Wahl läßt.46 Er darf nicht hinter Admetos zurückbleiben, die Gegengabe muß außerordentlich sein. Er wird Admetos zwar später Vorwürfe machen, weil er ihm als einem Freund gegenüber nicht offen war, und ein gleiches Spiel mit ihm spielen, doch diese mangelnde Offenheit ist für Herakles kein Grund, seine Gegenleistung geringer ausfallen zu lassen.47 45

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Herakles nennt nicht Alkestis’ Tugend oder allgemein Admetos’ Freundschaft als Grund für ihre Rettung, sondern einzig die erfahrene Gastfreundschaft, vgl. auch Seeck (1985) 146–149. Nach Conacher (1988) 188–189 (ad 855–860) unterstützt diese Passage die Deutung des Stücks als „belohnte Tugend“. Smith (1960) 134–135 meint, Herakles sehe das Positive an Admetos’ Lüge. Der Kontext legt jedoch eher die Deutung nahe, daß er das Aristokratische an seiner Lüge sieht. Vgl. auch Schein (1988) 192–193. Herakles weiß freilich nichts von Admetos’ Versprechen, das sein Leugnen schwerer wiegen läßt als ohne einen solchen formalen Akt. Es muß Spekulation bleiben, ob die Kenntnis dieser Tatsache seine Einschätzung der Situation änderte.

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Als Admetos von der Bestattung zurückkehrt, ist ihm elend zumute. Jetzt erst wird ihm deutlich, was er durch Alkestis’ Opfertod gewonnen hat: Er weiß nicht, wie er das Haus betreten und bewohnen soll, in dem eben noch Alkestis mit ihm weilte, wie er den Anblick ihres leeren Bettes ertragen soll, er wünscht sich, er hätte nie geheiratet, um diesen Verlust nicht erleiden zu müssen (E. Alc. 861–961). Jetzt erkennt Admetos das volle Ausmaß seines Unglücks (E. Alc. 940 ἄρτι μανθάνω, jetzt wird mir das klar).48 Jetzt wird ihm auch bewußt, wie sehr er sein Ansehen beschädigt hat, weil er nicht selbst Manns genug war zu sterben.49 Der Vorwurf der Feigheit steht ihm vor Augen: αἰσχρῶς ζῶνθ’... οὐκ ἔτλη θανεῖν ... ἔτι ἀνήρ; ... τοιάνδε κληδόνα ... κακῶς κλύοντι ... (E. Alc. 954–961) der lebt in Schanden ... wagte nicht zu sterben ... noch ein Mann? ... solch einen Ruf ... von dem man übel spricht. Die Begriffe, mit denen er seine Position innerhalb der Gesellschaft beschreibt, zeigen, wie schwerwiegend der Sturz ist. Sein Ruf ist dahin, er ist αἰσχρός, κακός, eben das Gegenteil dessen, was er stets zu sein strebte. Es ist keine Rede davon, daß seine herrliche ξενία hier irgend etwas gutmachen könnte. Die Gewißheit, daß Alkestis’ Tod unumkehrbar sei, und der Trost, daß sie in Zukunft verehrt werde, sind der Hintergrund, vor dem Herakles die Handlung ihrem Ende zuführt (E. Alc. 962–1005).50 Er wirft Admetos vor, daß dieser ihm den Tod seiner Frau verschwiegen und ihn bewirtet habe, obwohl er doch als Freund gekommen sei; einem Freund gegenüber müsse man aber offen sprechen, er tadle dieses Verhalten nachdrücklich (E. Alc. 1006–1014). Er wünsche gleichwohl nicht, daß der andere leide, daher sei er noch einmal wiedergekommen (E. Alc. 1018–1019). Im folgenden bittet er Admetos, die verschleierte Frau, die er als Preis eines Wettkampfs erhalten habe, für ihn bei sich aufzunehmen, bis er von seiner nächsten Arbeit zurückkehre. Admetos weigert sich jedoch hartnäckig, auch als Herakles ihn bedrängt (1037–1086). Dieses Mal scheint es ihm mit dem Versprechen, das er Alkestis gegeben hat, ernst zu sein: Ηρ. Αδ. Ηρ. Αδ. Ηρ.

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γυνή σε παύσει καὶ νέοι γάμοι πόθου. σίγησον· οἷον εἶπας. οὐκ ἂν ᾠόμην. τί δ’; οὐ γαμεῖς γὰρ ἀλλὰ χηρεύσῃ λέχος; οὐκ ἔστιν ἥτις τῷδε συγκλιθήσεται. μῶν τὴν θανοῦσαν ὠφελεῖν τι προσδοκᾷς;

Die Einsicht, die Admetos hier gewinnt, erstreckt sich auf das Unglück, das die vermeintliche Gunst ihm beschert hat. Admetos geht nicht so weit, daß er den Tausch an sich oder seine Annahme des Opfers in Frage stellte, vgl. auch Zürcher (1947) 37–38, Smith (1960) 133, von Fritz (1962) 310–311, Lesky (1972) 295–296, Lloyd (1985) 126, Zimmermann (1992a) 100. Anders Steiger (1912) 106. Vgl. auch Rosenmeyer (1963) 241–242, Riemer (1989) 158. Bergson (1971) 56–57 sieht eben darin die Problematik des Stücks, im Entschluß weiterzuleben, nachdem Selbstachtung und Ansehen verloren sind. Er vergleicht Admetos’ Haltung mit Herakles’ und stellt die euripideische Lösung der Alkestis einer möglichen sophokleischen gegenüber: da hätte sich Admetos wohl das Leben genommen. Lloyd (1985) weist darauf hin, daß die „Normalität“ von Alkestis’ Tod und die Tatsache, daß die Möglichkeit, nicht zu sterben, nur gelegentlich ausgesprochen wird, zur Wirkung des Schlusses beitragen. Zum Kontrast des Chorliedes (E. Alc. 962–1005) und der nachfolgenden Szene vgl. Kullmann (1967) 143–145, Hose (1991) 179–184.

Alkestis

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Αδ. Ηρ. [Αδ. Ηρ. Αδ. Ηρ.

κείνην ὅπουπερ ἔστι τιμᾶσθαι χρεών. αἰνῶ μὲν αἰνῶ· μωρίαν δ’ ὀφλισκάνεις. ὡς μήποτ’ ἄνδρα τόνδε νυμφίον καλῶν. ἐπῄνεσ’ ἀλόχῳ πιστὸς οὕνεκ’ εἶ φίλος.] θάνοιμ’ ἐκείνην καίπερ οὐκ οὖσαν προδούς. δέχου νυν εἴσω τήνδε γενναίως δόμων. (E. Alc. 1087–1097)

Her. Ad. Her. Ad. Her. Ad. Her. Ad. Her. Ad. Her.

Ein Weib und neue Ehe wird dein Sehnen stillen. Schweig! Was hast du gesagt! Ich kann es schwerlich glauben. Du willst nicht wieder freien, sondern ledig bleiben? Es gibt kein Weib mehr, das mein Lager teilen wird. Du wähnst wohl, der Verstorbenen damit zu nützen? Ihr muß ich Ehre zollen, wo sie immer weilt. Sehr gut, sehr gut! – doch machst du dich der Torheit schuldig. Nie wieder kannst du sagen, ich sei Ehegatte. Recht wacker, daß du deiner Frau die Treue hältst. Verrate ich sie, ist sie tot auch, will ich sterben. Nun nimm das Weib auf eine Weise, die γενναίος ist, hier in dein Haus auf!

Admetos bleibt dabei: er wolle sie nicht verraten, er müsse sie ehren. Er begründet seine Haltung implizit mit dem Versprechen an Alkestis, wenn er zu Herakles’ Erstaunen bekräftigt, daß er nicht wieder heiraten wolle; lieber wolle er sterben als Alkestis verraten. Das Gespräch nimmt hier eine bedeutsame Wendung. Ursprünglich hatte Herakles Admetos lediglich gebeten, die fremde Frau für einige Zeit aufzunehmen (E. Alc. 1020–1022). Als Admetos unnachgiebig bleibt, wirft er ihm vor, es mit seiner Trauer um Alkestis zu übertreiben (E. Alc. 1077). Er rät ihm, wieder zu heiraten, womit er eben das klar ausspricht, was Admetos nicht möchte und was ihn hindert, Herakles zu Gefallen zu sein. Admetos muß sich durch Herakles’ Reden über eine erneute Ehe darin bestärkt fühlen, daß er die Fremde keinesfalls aufnehmen darf. Doch just in diesem Moment kehrt Herakles wieder zu seiner ursprünglichen Bitte zurück: δέχου νυν εἴσω τήνδε γενναίως δόμων.51 Er bittet erneut, daß Admetos die Frau aufnehme, und packt ihn an seinem schwachen Punkt, wenn er die Handlung oder das Haus als γενναῖος bezeichnet.52 Vor Herakles’ Rückkehr hatte Admetos den Verlust seines Ansehens beklagt, weil er den Normen des aristokratischen Wer51

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Handschriftlich überliefert sind γενναίων BOV und γενναίαν LPQ. γενναίαν wurde bereits von Hermann (1824) 107 (ad 1102=ad loc.) und soweit ich sehe, endgültig ausgeschlossen. Lenting (1821) 99 (ad 1100=ad loc.) konjizierte („fortasse“) γενναίως. In den modernen Ausgaben und Kommentaren findet sich sowohl γενναίων, so z. B. bei Weber (1930) 160–161 (ad loc.), Dale (1954), Schwinge (1968) 104–105, Riemer (1989) 189, als auch γενναίως, so z. B. bei Diggle (1984), Conacher (1988), Susanetti (2001), Parker (2007). Für meine Argumentation ist unerheblich, ob Herakles Admetos’ Handlung oder sein Haus als γενναῖος bezeichnet. Zur motivischen Bedeutung des Hauses in der Alkestis vgl. Burnett (1965) 243, Riemer (1989) 131–138, Segal (1992), Romero Mariscal (2000) 604–606. Vgl. auch Dale (1954) 127 (ad loc.), Susanetti (2001) 273 (ad 1096–1097). Schwinge (1968) 100–104 unterscheidet zwischen Admetos’ Stärke in der prinzipiellen Verteidigung seines Vorsatzes und seiner Schwäche gegenüber Herakles’ spezieller Bitte um Aufnahme der Frau. Anders Vicenzi (1960) 524, in dessen Augen die verschleierte Alkestis keine Probe für Admetos sei, da es ganz und gar undenkbar sei, daß er in seiner Treue gegen sie schwankend würde.

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tekanons nicht gerecht geworden war. Und kurz zuvor noch hatte er Herakles erklärt, daß er die Identität der Toten verschwiegen habe, um nicht ungastlich zu sein (E. Alc. 1039–1040). Admetos muß alles tun, um zu retten, was zu retten ist. Der Hinweis auf die γενναιότης einer Aufnahme, und das heißt gleichzeitig die αἰσχύνη einer Nichtaufnahme stellt die Hierarchie der Werte für Admetos wieder her. Sein Widerstand wird schwächer; wenige Verse später knickt er ein (νίκα, E. Alc. 1108).

5.1.3 Herakles Die letzten beiden Belege für γενναῖος/εὐγενής beziehen sich auf Herakles. Admetos hat der Aufnahme der Frau zugestimmt und ist schließlich sogar bereit, sie eigenhändig ins Haus zu geleiten. Herakles möchte sichergehen, daß Admetos ihre Hand ergriffen hat: [Ηρ. ἔχεις; Αδ. ἔχω, ναί. Ηρ. σῷζέ νυν καὶ τὸν Διὸς φήσεις ποτ’ εἶναι παῖδα γενναῖον ξένον.] βλέψον πρὸς αὐτήν, εἴ τι σῇ δοκεῖ πρέπειν γυναικί· λύπης δ’ εὐτυχῶν μεθίστασο. Αδ. ὦ θεοί, τί λέξω; θαῦμ’ ἀνέλπιστον τόδε· γυναῖκα λεύσσω τὴν ἐμὴν ἐτητύμως, ἢ κέρτομός μ’ ἐκ θεοῦ τις ἐκπλήσσει χαρά; (E. Alc. 1119–1125)53 Her. Du hältst sie? Ad. Ja! Her. Nun gut, behüte sie, und einst wirst du den Sohn des Zeus als Gastfreund, der γενναῖος ist, rühmen. Schau sie an: Meinst du, daß sie aussieht wie dein Weib? Dein Glück genieße und verbanne deinen Schmerz! Ad. Was soll ich sagen, Götter! Wunder, unverhofft!

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Die Verse E. Alc. 1119–1120 werden von manchen Forschern athetiert, so z. B. von Huebner (1981), Diggle (1984), weil sie den Gedankengang von E. Alc. 1118 nach E. Alc. 1121 und den Verlauf der Anagnorisis störten; darüber hinaus klinge γενναῖον in Herakles’ eigenen Worten übertrieben und sei ansonsten für Admetos’ Familie reserviert. Dagegen halten z. B. Garzya (1980), Halleran (1988), Riemer (1989) 190–192, Parker (2007) 276 (ad 1119–1120) die Verse für echt. Halleran nennt zum einen sprachliche Gründe und deutet Alkestis’ Aufnahme mit Elementen des Hochzeitsrituals (zu den hochzeitlichen Implikationen der Szene vgl. auch Parker (2007) 275–276 (ad 1119–1120)). Hier seien die Verse als Pointe unerläßlich. Riemer legt andererseits dar, daß die Wiedererkennung der Eheleute in verschiedenen Wahrnehmungsarten erfolgt, vom Handreichen und Berühren (E. Alc. 1111–1119) über das Ansehen (1121–1129) bis zum Ansprechen (1133–1134); durch eine Atethese würde das Gleichgewicht dieser Abfolge gestört. Ferner sei angemerkt, daß Herakles wenige Verse später von Admetos als εὐγενής bezeichnet wird, sein γενναῖος ist also nicht der einzige Beleg. Darüber hinaus ist das Attribut γενναῖος/εὐγενής ein Terminus, der in einem bestimmten sozialen Kontext eine bestimmte Position beschreibt, die unter anderem durch das Verhalten bestimmt wird. Herakles ist in besagtes Geflecht eingebunden; seine Worte sind daher keine Anmaßung, sondern er trägt (und gibt sich) das Prädikat in korrekter Weise.

Alkestis

147 Ich sehe meine Frau – wahrhaftig! Oder schlägt mich höhnend eine gottverhängte falsche Freude?

Admetos hält Alkestis an der Hand, hat sie aber noch nicht angesehen. Herakles fordert ihn auf, sie nicht wieder aus der Hand zu geben, und sagt voraus, daß Admetos ihn einen γενναῖον ξένον nennen werde. Und tatsächlich, wenige Verse später hat Admetos sich vergewissert, daß er wirklich Alkestis wieder hat, und dankt Herakles, daß er seine Welt in Ordnung gebracht hat: ὦ τοῦ μεγίστου Ζηνὸς εὐγενὲς τέκνον, εὐδαιμονοίης καί σ’ ὁ φιτύσας πατὴρ σῴζοι· σὺ γὰρ δὴ τἄμ’ ἀνώρθωσας μόνος. (E. Alc. 1136–1138) Du Kind des größten Gottes Zeus, das εὐγενές ist, sei glücklich, und schützen möge dich der Vater, der dich zeugte! Du ganz allein hast aufgerichtet mich.

Admetos nennt Herakles εὐγενὲς τέκνον des großen Zeus und wünscht ihm für die Zukunft alles Gute. Herakles hatte von Admetos eine außerordentliche χάρις erfahren, als dieser Alkestis’ Identität verschleierte und ihn als Gast in sein Trauerhaus aufnahm. Nun hat er Admetos seinerseits eine außerordentliche χάρις erwiesen und Alkestis ins Leben zurückgeholt. Damit ist er den Ansprüchen der aristokratischen Etikette gerecht geworden und kann εὐγενής genannt werden. Admetos’ umstrittene ξενία war durch den aristokratischen Wertekanon motiviert gewesen, durch den Wunsch, ein perfekter Gastgeber zu sein. Admetos hatte von Alkestis durch ihren Tod ein Geschenk erhalten, das ihn um seinen Ruf fürchten ließ. Er mußte deshalb alles tun, um sein Ansehen zu wahren. Herakles stellt Admetos daher nicht einfach eine gastfreundliche Aufnahme in Aussicht, für den Fall, daß er einmal nach Argos komme, sondern unternimmt eine besondere Anstrengung, um Admetos eine besondere Leistung bieten zu können. Herakles’ χάρις weist Ähnlichkeiten mit Alkestis’ auf: Wie sie erweist er Admetos eine Gunst, für die dieser schwerlich eine passende Gegenleistung finden kann. Wieder bekommt er ein Leben geschenkt, und wieder steht er in der Schuld, wieder reicht er an den aristokratischen Standard nicht heran. Dieses Mal wird dieser Sachverhalt jedoch nicht thematisiert. Das Stück endet mit Admetos’ Freude über Alkestis’ unerwartete Rückkehr, Herakles verabschiedet sich, Alkestis schweigt.

5.1.4 Zusammenfassung Auf der Textebene ist Alkestis’ Rückkehr auf Admetos’ ξενία zurückzuführen. Die erfahrene Gastfreundschaft und die eigene Ehre, die er bewahren möchte, sind die Motivation für Herakles, Alkestis dem Tod zu entreißen. Admetos empfindet große Freude; Herakles und er begrüßen Alkestis’ Rückkehr ins Leben. Der Rezipient aber, der nicht Herakles ist, sondern das Drama als Ganzes in den Blick nimmt, fragt sich, in welchem Verhältnis Alkestis’ Rückkehr zu den anderen Aspekten des Stücks steht und wie sie in diesem Kontext zu deuten ist. Es stellt sich die Frage, welche Rolle der Schluß in der Konzeption der Figuren spielt.

148 Euripides

Alkestis ist für ihren Gatten gestorben, und ihre Position und ihre Identität im Drama gründen sich auf diese Tat. Sie erhält einen heroischen Status, der sich in den epischen Attributen sowie ihrer Deutung der Handlung in der Begrifflichkeit aristokratischer Konventionen als χάρις manifestiert. Aus diesem Zusammenhang erwächst ihr das Prädikat εὐγενής/γενναία. Mit ihrer Rückführung ins Leben nimmt Herakles ihr zwar nicht die Tat als Vorgang, wohl aber als Resultat. Sie hat den Tod gewählt und sich an dem Ruhm erwärmt, den sie erwartete. Die Befreiung vom Tod nimmt Alkestis die Position, die er ihr verschafft hatte, ihren männlichen, heroischen Status. Dagegen erfährt Admetos’ Handeln durch ihre Rückkehr eine Bestätigung.54 Wird also auch seine Haltung gutgeheißen? Admetos handelt während des gesamten Stückes konsequent nach den Grund­sätzen des aristokratischen Wertekanons. Er hält die ξενία hoch, achtet auf seine Stellung innerhalb des griechischen Adels und stellt Privates zugunsten der Außenwirkung zurück. Daher erhält auch er das Prädikat εὐγενής. Der Handlungsstrang Apollon, Admetos, Herakles zieht sich ohne Bruch und im Konsens mit aristokratischen Wertvorstellungen durch das Drama. Fremdkörper sind Alkestis’ Züge, die der Männerwelt angehören, die übergroße χάρις, die Admetos von ihr erfährt, und das Treueversprechen, das er ihr leistet. Sie bringen Admetos in Konflikt, weil er sich mit einem Mal zwei einander widersprechenden und einander ausschließenden Forderungen gegenübersieht. Alkestis und Admetos können nicht beide in gleichem Maße εὐγενεῖς sein. Entweder Alkestis’ Tod macht sie εὐγενής; dann muß sie entsprechend gewürdigt und respektiert werden, so daß Admetos als feige, weil er ihr Opfer annahm, und als wortbrüchig, weil er das geleistete Treueversprechen nicht hielt, dastehen muß. Der Bruch des Eides läßt sich dann als Ausdruck von Hybris lesen. Oder Admetos’ ξενία macht ihn εὐγενής; dann wird Alkestis’ κλέος durch seinen Bruch des Versprechens beeinträchtigt. Admetos kommt mit den verschiedenen Anforderungen des aristokratischen Wertekanons und seines Eids gegenüber Alkestis nicht zurecht. Er macht die Erfahrung, daß die aristokratische Welt nicht in einem Vakuum existiert, sondern Einwirkungen aus der umgebenden Welt ausgesetzt ist. Das Leben erweist sich als komplex. In der Alkestis sind es ein Ausbruch aus der traditionellen Geschlechterrolle und eine private Verpflichtung, die Admetos’ Handeln beeinflussen oder nach Auffassung mancher Charaktere hätten beeinflussen sollen. Frau und Oikos dringen in die aristokratische Öffentlichkeit ein; die ungeplanten Faktoren entstammen also immer noch derselben gesellschaftlichen, aristokratischen Schicht. Der zeitgenössische Aristokrat des 5.  Jahrhunderts lebte dagegen in einer weitaus weniger abgeschlossenen Sphäre. Sein politisches Handeln beschränkte sich nicht auf den gastfreundlichen Austausch unter Seinesgleichen, sondern 54

So liest beispielsweise von Wilamowitz (1922b) 93 das Ende der Alkestis („Doch die Götter finden und Euripides findet, daß er (sc. Admetos) nun genug gebüßt hätte, daß er ein perfekter Edelmann und ein so liebenswürdiger Egoist ist, so ganz beschaffen auf der sonnigen Höhe des Lebens eine schöne Figur zu machen, daß sie ihm seine Alkestis zurückgeben. Da werden wir keine Rigoristen sein und ihm sein Glück gönnen“), ferner Jones (1948) 55, Zürcher (1947) 33–34, Burnett (1965) 240–241, 251.

Alkestis

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umfaßte die ganze Polis und damit auch den Demos und dessen Anliegen. Der Aristokrat muß in der sich fortentwickelnden Demokratie Entscheidungen treffen, die im traditionellen Wertekanon nicht vorgesehen sind und ihn überfordern. So besteht die Gefahr, daß der εὐγενής in und an der Moderne scheitert. In der Alkestis bleiben die Interferenzen freilich im Ergebnis ohne Folgen. Die vordergründige Deutung wäre dann, daß den wahren Aristokraten fremde Einflüsse und Interessen anderer nur beiläufig berühren und auf sein Leben und Handeln keine entscheidende Wirkung haben. Der Charakter des Dramas legt allerdings nahe, diese Botschaft zu hinterfragen. Die tragischen Szenen sind eingebettet in eine Märchenhandlung, die der Lösung des Stücks eine unwirkliche, sogar ironische Note gibt.55 Der glückliche Schluß ist, wie es auch für Deusex-machina-Schlüsse charakteristisch ist, eine offensichtlich nicht in der Welt der Menschen mögliche und aus ihrem Handeln sich ergebende Befreiung aus der unerträglichen Situation.56 In diesem Licht betrachtet, muß der Zuschauer eher die Einsicht gewinnen, daß Admetos’ scheinbarer Erfolg eigentlich in eine menschliche Katastrophe geführt hat. Er hätte Alkestis’ Interessen nicht vernachlässigen dürfen, denn es waren auch die seinen.57 Admetos erscheint als arrogant und überfordert. Schließlich ist Admetos der Düpierte und Alkestis die wahre εὐγενής. Admetos’ Situation wirft die Frage auf, ob es eine Grenze für den hohen Wert der ξενία gibt und wo sie zu ziehen ist, und zeigt, daß die Hierarchie der Werte hinterfragt, erweitert, neu geordnet werden muß. Das Alltagsgeschäft des adligen Atheners in der Mitte des 5. Jahrhunderts ist die Demokratie.58 Wer in der Politik an Macht gewinnen will, darf das Volk und seine Interessen nicht ignorieren. Euripides deutet jedoch keinen neuen Weg an. Der Konflikt der Werte zeigt lediglich die Notwendigkeit neuer Maßstäbe und Hierarchien auf. Sonst kann nur Herakles noch helfen.

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Zu den märchenhaften, komischen, burlesken, ironischen Aspekten des Dramas vgl. z. B. Lesky (1925), Smith (1960) 127, Barnes (1964/65) 129, Conacher (1967) 333–339, Burnett (1971), Zimmermann (1992a) 97–98. So auch von Fritz (1962) 309, ähnlich Barnes (1964/65) 129, Conacher (1984), Zimmermann (1992a) 101. – Der Schluß hat sein Gegenstück im Prolog; Apollon und Thanatos leiten das Drama mit einem Wortgefecht über den erfolgten Seelenhandel ein. Von Fritz (1956) vergleicht die euripideische Alkestis mit späteren Bearbeitungen und legt dar, wie die folgenden Dichter allerlei Anstrengungen unternehmen, um Admetos in besserem Licht erscheinen zu lassen. Gegenüber der Forschungsmeinung, man könne an Admetos nichts oder nur wenig Schlechtes finden (so z. B. Burnett (1965), auch Vicenzi (1960)), zeigt dieser Befund, daß Admetos zumindest ambivalent dargestellt ist. Vgl. auch Lesky (1972) 297–298. Die alternative, demokratische Handlungsmöglichkeit verkörpert in der Alkestis Thanatos. Er fordert im Prolog die gleiche Behandlung aller, Apollon dagegen gibt sich elitär, vgl. Gregory (1991) 44–46. Kurtz (1985) 560 verweist auf die Fülle politischer Bilder bei Euripides und findet E. Alc. 57 einen Nebenbezug auf die Lebenswelt der ärmeren Bevölkerung, die fürchtet, benachteiligt zu werden.

150 Euripides

5.2

Herakliden

Von allen vollständig erhaltenen euripideischen Tragödien weisen die Herakliden mit ihren sechzehn Belegen die meisten Passagen mit εὐγένεια/εὐγενής und γενναῖος auf. Der größte Teil konzentriert sich in der Szene des freiwilligen Opfertodes von Makaria. Vor allem Makaria, daneben die Kinder des Herakles überhaupt werden als εὐγενής bezeichnet, vereinzelt Herakles, Iolaos und Demophon, ferner Alkmene und schließlich sogar Eurystheus, was erhebliche Konsequenzen für die Deutung des Dramas hat.

5.2.1 Herakles’ Familie Iolaos eröffnet die Tragödie mit einem Prolog, der die Situation schildert. Herakles ist tot, und Eurystheus stellt dessen Kindern nach, die, von Iolaos und Alkmene begleitet, von Stadt zu Stadt ziehen und um Asyl bitten. Jedesmal sind sie abgewiesen worden, Athen ist ihre letzte Hoffnung. Hier sind sie nun angelangt und haben sich an den Altar des Zeus Agoraios59 geflüchtet. Iolaos beginnt seine Erklärungen mit einigen Aussagen über das Leben im allgemeinen, die der Erfahrung seines langen Lebens entspringen und zum Teil gnomischen Charakter besitzen. Zunächst spricht er über den δίκαιος, der für die da sei, die ihm nahestehen (E. Heracl. 2). Damit bezeichnet er den hohen Stellenwert der Familie, des Oikos, des γένος. In diesem Bereich sieht er sich und jeden Vertreter der aristokratischen Oberschicht in der Pflicht. Dem stellt er den gewinnorientierten Egoisten gegenüber, der der πόλις nicht dienlich sei (E. He­ racl. 3–5). Iolaos nimmt damit deutliche Wertungen vor. Er hält es für unrühmlich, nach Vorteil zu streben, und ist der Ansicht, daß man in der Polis positiv wirken solle. Die drei Möglichkeiten, sich zu verhalten, sind auf unerwartete Weise gruppiert. Wir erwarten eigentlich die Opposition von Oikos und Polis, wie sie sich in der griechischen Dichtung immer wieder ausdrückt.60 Unter das Handeln für den Oikos fällt dann sowohl der private Vorteil als auch der der Familie; diesem ist der Vorteil der Polis entgegengesetzt. Hier aber trennt Iolaos das (negative) Streben nach persönlichem Vorteil vom (positiven) Engagement für das Genos und faßt οἱ πέλας mit der πόλις zusammen. Unklar bleibt, wie das Wirken für Oikos und Polis zusammenfallen können, unklar bleibt auch, wie Iolaos selbst dem Anspruch gerecht werden könnte. Er habe die Urteile durch seine Erfahrungen gefunden (E. Heracl. 5 οἶδα δ’ οὐ λογῷ μαθών, nicht 59

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Mendelsohn (2002) 60 erwägt Deutungsmöglichkeiten für die Tatsache, daß der Altar zwar im Zentrum der Agora, also im Herzen der Polis, Marathon aber am Rande von Attika liege. Rosivach (1978a) weist darauf hin, daß der Altar des Zeus Agoraios in Athen stehe, in Marathon jedoch der des Zeus Eleutherios; das passe zu der starken Betonung der athenischen Freiheit im Drama. Vgl. hierzu die Warnung von Zuntz (1955) 103, wonach Konsistenz und Wahrscheinlichkeit einzelner genannter Orte nicht relevant seien, vielmehr würden sie genannt, weil sie das Publikum ansprächen. Grethlein (2003a) 390–391 stellt fest, daß die ἐλευθερία in diesem Stück nicht demokratische Freiheit meint, sondern die Souveränität Athens, wie sie unter dem Eindruck der Perserkriege entwickelt wurde. Hierzu paßt wiederum die Wahl des Ortes Marathon. Vgl. etwa oben zu Aischylos’ Orestie.

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durch Überlegung habe ich es gelernt). Sein eigenes Leben weist jedenfalls nur die Hingabe an das eigene γένος auf, es zeigt kein Handeln für die πόλις; im Gegenteil: er lebt nicht in einer Polis und nimmt nicht am typischen politischen Leben teil, und den Poleis, in denen er Aufnahme sucht, bringt er Unruhe, keinen Vorteil. Iolaos gibt an, zuerst Herakles, dann dessen Nachkommen beigestanden zu haben (E. Heracl. 6–11). Er begründet dies durch eine allgemeine Wertsetzung. Er halte αἰδώς und τὸ συγγενές hoch (E. Heracl. 6). Er sorgt sich um sein κλέος (E. Heracl. 28–30). Damit stellt er eindeutig sein Genos an die erste Stelle und evoziert mit dem Verweis auf αἰδώς klar den aristokratischen Wertekanon.61 Die ungewöhnliche Gruppierung, mit der er γένος und πόλις zusammenfaßt, ist erklärungsbedürftig. Aus Iolaos’ Leben und seiner momentanen Situation ergibt sich die Trennung von persönlichem und familiärem κέρδος. Er hat ein Interesse daran, sein Tun von dem des Eurystheus abzugrenzen. Beide handeln im Interesse ihres Oikos; während jedoch Eurystheus lediglich seine eigene Macht erhalten will, steht Iolaos immerhin für die Nachkommen seines Onkels ein.62 Die Polis ist im Rahmen des Prologs zunächst ohne Bedeutung; ihren hohen Stellenwert erhält die Polis zur Vorbereitung des Folgenden. Mit dem Auftritt des Chores und Demophons kommt sie in den Blick: Die Herakliden bitten um Aufnahme in die Stadt Athen, es besteht die Gefahr eines Bürgeraufstands, Demophon lehnt die Opferung eines Mädchens seiner Bürger ab. Demophon handelt im Interesse seiner Stadt, ihr Wohlergehen ist für ihn das höchste Kriterium.63 Iolaos schildert im Verlauf des Prologs die Lage der Herakliden näher, er berichtet von der Flucht, den wiederholten Enttäuschungen, der letzten Hoffnung, die bleibt: Athen. Da sieht er bereits Eurystheus’ Boten sich erneut nähern. Die Verwünschung, die er ihm zur Begrüßung entgegenschleudert, enthält den ersten Beleg für γενναῖος: ὦ μῖσος, εἴθ’ ὄλοιο χὠ πέμψας ἀνήρ, ὡς πολλὰ δὴ καὶ τῶνδε γενναίῳ πατρὶ ἐκ τοῦδε ταὐτοῦ στόματος ἤγγειλας κακά. (E. Heracl. 51–53)

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Mendelsohn (2002) 65–66 betont die Ambiguität der Figur. Iolaos bilde in der Eingangsszene einerseits eine Identifikationsfigur für die athenischen Männer im Zuschauerraum, andererseits stehe er auch für das andere, das Aristokratische, Vordemokratische. Zu Iolaos’ Sorge um seinen Ruf vgl. Mendelsohn (2002) 68–69. Iolaos bezeichnet sein Verwandtschaftsverhältnis zu Herakles nicht. In der mythischen Tradition ist er der Sohn von Herakles’ Halbbruder Iphikles. Er erscheint als Herakles’ Helfer bei den zwölf Arbeiten. In den Herakliden tritt er allerdings als Greis auf, der eher zur Generation seiner Großmutter Alkmene gehört. Die Chronologie der Generationen wird im Drama nicht thematisiert. Ein anderes ist, daß auch eine eindeutige Wertstellung der Polis nicht einen Konflikt der Werte verhindern kann. Der Ruf der Stadt, ihr militärisches Überleben und ihre Einigkeit müssen bewahrt werden. Hinzu kommt, daß Polis im 5. Jh. kein eindeutiger Begriff mehr ist. Iolaos ist ein alter Held, der Polis im aristokratischen Sinne versteht, das Publikum aber lebt in einer demokratischen Polis mit veränderten Souveränitäts- und Entscheidungsstrukturen.

152 Euripides Du Schuft, verrecke, so wie er, der dich gesandt! Schon dem Vater dieser Kinder, der γενναῖος war, hast du mit deinen Worten so viel Unheil angekündigt.

Herakles ist der als γενναῖος Gepriesene. Iolaos begründet diese Beurteilung nicht näher, sie erfolgt eher beiläufig. Das Attribut entfaltet seine Bedeutung durch die Verbindung mit κακά. Der Kontrast läßt sowohl Herakles’ edles Wesen als auch Eurystheus’ niederträchtige Forderungen umso kräftiger hervortreten. Die Opposition von γενναίῳ und κακά erklärt zudem Iolaos’ starke Emotion (μῖσος). Die Konstellation ist alt; Herakles’ Tod macht der Fehde kein Ende, sondern gibt sie an die nächste Generation weiter. Sein γένος steht in Feindschaft mit Eurystheus, seine Nachkommen scheinen diesem ebenso gefährlich wie der Vater. Obwohl das Attribut ohne besondere Emphase und wie zufällig fällt, umschreibt der Satz das Wort in seiner Bedeutung: Herakles war γενναῖος, und seine γενναιότης strahlt fort; zwar nennt Iolaos dessen Kinder hier noch nicht explizit γενναῖοι bzw. εὐγενεῖς, doch ein Blick auf die bisher behandelten Tragödien zeigt, daß diese Übertragung mitgedacht werden darf. Explizites Erbe der Kinder des Herakles ist die Feindschaft mit Eurystheus, der sie von Stadt zu Stadt verfolgt und ihnen auch nun wieder auf den Fersen ist. Iolaos ruft die Athener zu Hilfe (E. Heracl. 55–72), die in Gestalt des Chors (E. Heracl. 73–110) und des Königs Demophon (E. Heracl. 120–287) für die Supplikanten Partei ergreifen. Der Bote droht unverhohlen mit Krieg (E. Heracl. 159) und pervertiert damit den χάρις- Gedanken.64 Iolaos bittet in der üblichen Weise um Asyl. Er verweist auf Athens Ruhm als freie Stadt, auf die Verwandtschaft mit Pelops, die χάρις, die Herakles Theseus erwies, und auf den Schutz des Altars. Er beendet seine Rede noch einmal mit einem emotionalen Hinweis auf die Verwandtschaft, die Verpflichtung ist: γενοῦ δὲ τοῖσδε συγγενής, γενοῦ φίλος / πατὴρ ἀδελφὸς δεσπότης (E. Heracl. 228–229). Sei doch für sie ein Blutsverwandter, sei für sie ein treuer Freund, / sei Vater, Bruder, sei ihr Herr! Die sprachliche Form fällt ins Auge. Im ersten Vers sind drei Wörter vom Stamm γεν- gebildet, doch in entgegengesetzter Bedeutung. Während συγγενής auf die alte, wenn auch entfernte Verwandtschaft verweist, legt γενοῦ nahe, daß die Verwandtschaft erst entstehen muß. γενοῦ συγγενής scheint auf den ersten Blick ein Paradoxon zu sein und bringt gerade damit den Kern des Arguments sinnfällig zum Ausdruck. Die Verwandtschaft, auf die Iolaos sich beruft, ist alt, sie muß gleichsam wiederbelebt und wirksam werden. γενοῦ συγγενής drückt die Erneuerung der in Vergessenheit geratenen Abstammung aus. Das Asyndeton φίλος πατὴρ ἀδελφὸς δεσπότης steigert den Gedanken, weil es die Dringlichkeit der erbetenen Hilfe deutlich macht. Mit den ersten drei Begriffen nimmt es ferner das γένος- und das χάρις-Argument wieder auf. Der Chor reagiert als erster auf Iolaos’ Rede: 64

So Conacher (1967) 111–112. Henrichs (1996) 51 weist darauf hin, daß Athen in den Versen 359–360 als καλλίχορος bezeichnet werde (ähnlich V. 777–783); das verstärke den Kontrast zwischen der athenischen Frömmigkeit und Eurystheus’ Pietätlosigkeit.

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ᾤκτιρ’ ἀκούσας τούσδε συμφορᾶς, ἄναξ. τὴν δ’ εὐγένειαν τῆς τύχης νικωμένην νῦν δὴ μάλιστ’ ἐσεῖδον· οἵδε γὰρ πατρὸς ἐσθλοῦ γεγῶτες δυστυχοῦσ’ ἀναξίως. (E. Heracl. 232–235) Die Kunde ihres Unglücks weckt mein Mitleid, König. Die εὐγένεια ist vom Schicksal überwunden, hier sehe ich es deutlich. Edel war ihr Vater, jetzt sind sie, ohne Schuld, in tiefes Leid gestürzt.

Als Demophon den Boten weggeschickt hat, bricht Iolaos in Jubel aus: οὐκ ἔστι τοῦδε παισὶ κάλλιον γέρας ἢ πατρὸς ἐσθλοῦ κἀγαθοῦ πεφυκέναι [γαμεῖν τ’ ἀπ’ ἐσθλῶν· ὃς δὲ νικηθεὶς πόθῳ κακοῖς ἐκοινώνησεν οὐκ ἐπαινέσω, τεκνοῖς ὄνειδος οὕνεχ’ ἡδονῆς λιπεῖν]· τὸ δυστυχὲς γὰρ ηὑγένει’ ἀμύνεται τῆς δυσγενείας μᾶλλον· ἡμεῖς γὰρ κακῶν ἐς τοὔσχατον πεσόντες ηὕρομεν φίλους καὶ ξυγγενεῖς τούσδ’, οἳ τοσῆσδ’ οἰκουμένης Ἑλληνίδος γῆς τῶνδε προύστησαν μόνοι. (E. Heracl. 297–306) Es bleibt für Kinder doch das wertvollste Geschenk, von einem edlen, wackren Vater abzustammen und einer edlen Mutter. Wer, ein Knecht der Gier, mit Schlechten sich gemein macht, den kann ich nicht loben: Der Lust zuliebe hinterläßt er Schmach den Kindern. Denn leichter kann die εὐγένεια Unglück abwenden als die δυσγένεια. Uns auch, in der höchsten Not, gelang es, Freunde und Verwandte aufzufinden in diesen Männern, die allein auf Griechenlands weithin bewohnter Flur den Kindern Schutz gewährten.

Beide Äußerungen verknüpfen εὐγένεια mit dem Verhalten gegenüber Unglück, allerdings mit unterschiedlicher Zielrichtung. Der Chor spricht nach Iolaos’ Bittrede und reagiert direkt auf seine Schilderungen der Flucht, Iolaos dagegen antwortet unmittelbar auf Demophons Zusage der Aufnahme. Der Chor ist in seiner Beobachtung von Mitleid geleitet (ᾤκτιρ’).65 Εr stellt einen Gegensatz zwischen εὐγένεια und δυστυχία fest. Der Adel der Herakleskinder sei von der τύχη überwältigt. Das Schicksal, dem die εὐγένεια der Herakliden unterliegt, ist die Verfolgung durch Eurystheus. Der Chor geht offensichtlich davon aus, daß εὐγένεια normalerweise mit Glück und Wohlstand Hand in Hand geht; da dies nicht der Fall ist, erwähnt er es eigens. Sie, die von einem edlen Vater stammten, seien nun im unverdienten Unglück. Diesen Zustand empfindet der Chor als bemitleidenswert. Edle Herkunft ist kein Schutz vor Unglück, sie macht den Sturz nur umso schmerzlicher.

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Auch wenn derartige „Interloquien“ keine Auswirkung auf den Fortgang des Stücks haben mögen (Hose (1990) 294), so lenkt doch die emotionale Reaktion des Chores die des Zuschauers, vgl. Hose (1991) 248, Allan (2001) 151 (ad 232–235).

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Ganz anders klingen Iolaos’ Worte. Er meint, die εὐγένεια und die Abstammung von Herakles sei die Rettung der Kinder gewesen. Sie sei ihr größter und schönster Besitz. Iolaos sieht darin die Ursache für die Aufnahme in Athen,66 so daß er zu dem Schluß kommt, εὐγένεια sei ein besserer Schutz gegen Unglück als δυσγένεια, weil die sich besser verteidigen könne. Tatsächlich ist die Herkunft einer der Gründe, die Demophon bewogen haben, den Kindern des Herakles Asyl zu gewähren, allerdings nennt er nicht explizit ihre vornehme Herkunft, sondern speziell ihre Abstammung von Herakles, die eine, wenn auch entfernte, Verwandtschaft mit Demophon herstellt und ihn wegen der Taten an Theseus verpflichtet. Die Abstammung von Herakles ist freilich eine adlige, und wer nicht aus einer bedeutenden Familie stammt, kann keine alte Verwandtschaft oder verpflichtende χάρις anführen.67 Beide Aussagen über den Wert der edlen Abkunft finden sich innerhalb von nicht einmal hundert Versen. Ihre Gegensätzlichkeit erklärt sich aus der Wende im Drama.68 Solange die Familie vom Tod bedroht ist, dient die εὐγένεια lediglich als Kontrastfolie für den Sturz, als Athen die Supplikanten aufgenommen hat, wird sie unversehens zur Ursache der Rettung.

5.2.2 Makaria Athen gewährt den Flüchtenden Asyl, das Heer wird zur Schlacht aufgestellt, und alles scheint in bester Ordnung zu sein. Doch mit den Ergebnissen verschiedener Opferschauen ist diese wieder in Frage gestellt: σφάξαι κελεύουσίν με παρθένον κόρῃ Δήμητρος, ἥτις ἐστὶ πατρὸς εὐγενοῦς. (E. Heracl. 408–409)69 Ein Mädchen, das von einem Vater stammt, der εὐγενής ist, soll ich zu Ehren der Persephone als Opfer schlachten. χρησμῶν γὰρ ᾠδούς φησι σημαίνειν ὅδε οὐ ταῦρον οὐδὲ μόσχον ἀλλὰ παρθένον σφάξαι κόρῃ Δήμητρος ἥτις εὐγενής, εἰ χρὴ μὲν ἡμᾶς, χρὴ δὲ τήνδ’ εἶναι πόλιν. (E. Heracl. 488–491)

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Grube (1941) 168 hält den Anfang der Iolaosrede für schwach und den Hinweis auf die εὐγένεια der Kinder für austauschbar: Iolaos habe ebenso gut Demophons Adel betonen können. – Dies tut er außerdem, vgl. E. Heracl. 320–328. Beide Seiten zeichnen sich durch ihren Adel aus. Auf die Parallele weisen auch Pflugk/Klotz (1858) 66 (ad 325 = 324 nach moderner Zählung) hin. Conacher (1967) 113 findet die Verknüpfung des χάρις-Gedankens mit dem Konzept der εὐγένεια gerade geschickt. Anders spricht Polyneikes in den Phoenissen: Er sei in der Fremde arm gewesen, seine εὐγένεια habe ihm weder Freund noch Brot verschafft ( E. Ph. 400–406). Die Kontextbezogenheit fällt an dieser Stelle besonders ins Auge; sie muß eine Warnung für die Deutung auch jeder anderen Passage sein. Insbesondere das isolierte Zitieren und Aneinanderreihen einzelner oder weniger Verse, das geradewegs zur Meinung des Dichters führt, was ältere Arbeiten gelegentlich ausmacht, muß angesichts eines Befundes wie hier fragwürdig erscheinen. Bei der Verwendung von Fragmenten ist besondere Vorsicht geboten. Zur Ordnung der Verse 398–409 vgl. Diggle (1982) 221–224.

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Denn, sagt der König, die Orakelsprüche fordern nicht Stier, nicht Kalb, nein, eine Jungfrau, welche εὐγενής, als Opfer für Demeters Tochter darzubringen, wenn wir und wenn die Stadt Athen bestehen sollen.

Kore fordert ein Jungfrauenopfer; das ist die Bedingung für die Rettung der Herakliden und der Stadt. Das Opfer wird auf der Textebene nicht begründet oder hinterfragt, erklären können wir es religionswissenschaftlich mit dem Verweis auf Kore als mythische Präfiguration des Opfers innerhalb des Kultes bei Riten zum sozialen Statuswechsel oder als Tötung des begehrten Sexuellen vor der Schlacht.70 Zwei Kriterien muß das Opfertier genügen: es muß eine Jungfrau sein, und sie muß die Tochter eines edlen Vaters sein. Beide Forderungen sind nicht ungewöhnlich. Der jungfräuliche Status des Opfertieres begegnet sowohl bei anderen mythischen Menschenopfern als auch im Kult, wo zum Beispiel reinweiße Stiere verlangt sein können; das Opfertier soll unversehrt und unschuldig sein. Auch die edle Abkunft ist eine typische Bedingung für die Eignung zum Opfer, sowohl für menschliche als auch für tierische Opfer.71 Dem Gott kann nur das Vollkommene dargebracht werden, will man nicht Gefahr laufen, seinen Zorn auf sich zu ziehen. Die erste der beiden zitierten Passagen stammt aus Demophons Rede, in der er Iolaos das Ergebnis der Priester mitteilt, die zweite ist aus Iolaos’ Schilderung der Lage entnommen, die er einer der Heraklestöchter gibt, die wegen des Lärms den schützenden Tempel verlassen hat. Eine kleine Umformulierung fällt ins Auge. Aus παρθένον εὐγενοῦς πατρός wird eine παρθένον ἥτις εὐγενής, offensichtlich ohne Bedeutungsunterschied. Damit bestätigt sich, was in den bisherigen Texten gelegentlich anklang, jedoch eher implizit oder extrapoliert. Das Kind eines εὐγενής hat von vornherein die Eigenschaft der εὐγένεια.72 Freilich ist das kein sanftes Ruhekissen, jeder muß diese Voraussetzung immer wieder neu bestätigen und sich als seiner Herkunft würdig bewähren. Demophon ist nicht bereit, ein athenisches Mädchen zu opfern. Iolaos beklagt die getäuschte Hoffnung, bekräftigt aber seine Dankbarkeit gegenüber der Stadt. Er anerkennt den Willen zur χάρις, auch wenn die Götter, so seine Deutung, die Erfüllung zunichte machten (E. Heracl. 433–438).73 Dann glaubt er einen Ausweg gefunden zu haben: Er selbst werde sich Eurystheus ausliefern,

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Burkert (1972) 76–79, Wilkins (1990b), Kledt (2004) 164–176 (152–187 zum Fest der Skira, mit weiteren Beispielen für mythische Jungfrauenopfer an Kore). Wilkins (1993) 104–105 (ad 408–409) meint, Kores Rolle bleibe dunkel. Das Opfer erfolge hier als Kompensation für ihre eigene Entführung oder „in sympathy with her own journey to the underworld“. Unklar bleibt in Wilkins’ Ausführungen, wie ein zweiter, gleichgearteter Tod eine Entschädigung des ersten sein könnte. Auffallend ist, daß der Mythos ein Tieropfer explizit ausschließt (E. Heracl. 489). Zur Homologie von Tier- und Menschenopfer in der griechischen Tragödie vgl. Henrichs (2000) 174, 185. Für Literatur hierzu vgl. Wilkins (1993) 105 (ad 408–409). Vgl. außerdem Allan (2001) 165 (ad 408–409). Vgl. auch Avery (1971) 541–544. Conacher (1967) 113–115.

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denn das sei es, was dieser wolle, Herakles’ Kampfgefährten. Dann werde der Verfolger schon von den Kindern ablassen. Demophon lehnt den Vorschlag ab: γενναῖα μὲν τάδ’ εἶπας ἀλλ’ ἀμήχανα. οὐ σοῦ χατίζων δεῦρ’ ἄναξ στρατηλατεῖ· τί γὰρ γέροντος ἀνδρὸς Εὐρυσθεῖ πλέον θανόντος; ἀλλὰ τούσδε βούλεται κτανεῖν. δεινὸν γὰρ ἐχθροῖς βλαστάνοντες εὐγενεῖς, νεανίαι τε καὶ πατρὸς μεμνημένοι λύμης· ἃ κεῖνον πάντα προσκοπεῖν χρεών. (E. Heracl. 464–470) Etwas, das γενναῖον ist, schlägst du vor, aber Undurchführbares. Um deinetwillen zieht der König nicht hierher. Was kann schon der Tod eines alten Mannes dem Eurystheus nützen? Nein, die Kinder will er töten! Denn furchtbar für Feinde sind Nachkommen, die εὐγενεῖς sind, voll Jugendkraft und eingedenk der Schmach, die einst der Vater litt. Mit all dem muß Eurystheus rechnen.

Nicht ihn, Iolaos, verfolge Eurystheus, erklärt Demophon, sondern eben die Kinder, insbesondere die Söhne, von denen ihm Rache für die dem Vater angetane Schmach drohe. Demophon nennt die Söhne, die ein Feind fürchten muß, εὐγενεῖς νεανίαι. Solange die Söhne noch klein sind, geht keine Gefahr von ihnen aus, sobald sie aber heranwachsen, muß Eurystheus fürchten, daß Verstand, Kraft und Mittel da sind, um Rache zu nehmen.74 Die Charakterisierung der gefährlichen Söhne als εὐγενεῖς liegt weniger unmittelbar auf der Hand. Liegt nicht jedem Sohn, ganz gleich, ob εὐγενής oder nicht, das Ansehen des Vaters am Herzen? Doch ein einfacher Mann hat nichts zu verlieren, weder Besitz noch einen Ruf. Ganz anders dagegen der Vertreter einer alten, einflußreichen Familie. Herakles’ Söhne könnten Anspruch auf die Herrschaft über Argos und den Königsstuhl fordern, Anspruch auf Macht und Besitz. Deshalb hat auch das Ansehen einen hohen Wert. Der Mächtige steht in der Öffentlichkeit, er ist besonders sensibel für Ereignisse, die seine Würde vermindern. αἰδώς ist aus diesem Grund ein bedeutendes Handlungskriterium. Es lenkt das eigene Handeln und ist gleichzeitig Bewertungskriterium für das, was man von anderen erfährt. Die Einbindung in die lange Tradition einer Familie und das daraus erwachsende Selbstverständnis, das εὐγενεῖς prägt, macht sie besonders empfindlich für Handlungen, die diesen Bezugsrahmen verletzen.75 Die aristokratische Ethik verlangt vom Sohn, Rache für vom Vater erlittenes Unrecht zu nehmen; Beispiele sind etwa Orestes, der seine Mutter tötet, oder Elektra, die in der euripideischen Version einen Bauern heiraten muss, damit ihre Nachkommen bedeutungslos sind.76 74

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Zu dieser Überlegung lassen sich zahlreiche Parallelstellen in der griechischen Literatur nennen, z. B. S. El. 964–966, E. Andr. 519–522, Hec. 1138–1144, vgl. auch Wilkins (1993) 185– 186 (ad 1006–1008). Nur ihnen konnte man vielleicht auch die Tatkraft zutrauen, Vergeltung zu üben. Die homerische Beschreibung des Thersites zeigt, welches Bild man sich vom sozial Niederen machte. Vgl. auch Allan (2001) 169 (ad 468–470).

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Mit Iolaos’ Auslieferung wäre nichts gewonnen, Iolaos’ Angebot ist wirkungslos (ἀμήχανα). Aber der Vorschlag ist in Demophons Augen auch edel (γενναῖα). Iolaos ist nicht φιλόψυχος: οὐ φιλεῖν δεῖ τὴν ἐμὴν ψυχήν· ἴτω (E. Heracl. 455). Ich selbst darf nicht am Leben hängen: dahin!77 Er drückt die Bereitschaft aus, das eigene Leben im Interesse des γένος hinzugeben. Sein Angebot enthält außerdem bereits eine Eigenschaft der tatsächlichen Lösung, die gleich im Anschluß an Iolaos’ untauglichen Vorschlag gefunden wird. Die Asylsuchenden selbst tragen zu ihrer Rettung bei. Der Dialog zwischen Iolaos und Demophon muß mit einiger Erregung vorgetragen worden sein. Jedenfalls nennt Makaria78 Iolaos’ Klage als den Grund für ihren Auftritt (E. Heracl. 478–479). Sie erklärt und entschuldigt zunächst ihr Auftreten, das die Sittsamkeit ihr als Mädchen eigentlich nicht gestattet.79 Doch ihre Geschwister lägen ihr am Herzen – und mit ihnen das γένος –, deshalb wolle sie den Grund des neuerlichen Kummers hören (E. Heracl. 474–483). Iolaos schildert die Lage und wiederholt die Forderung eines Mädchenopfers durch Kore (E. Heracl. 484–497). Makaria ist schnell entschlossen.80 Nur eine kurze Rück77

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Der (unerfüllbare) Wunsch, statt des Kindes zu sterben, ist topisch, so z. B. auch E. Hec. 386– 388, Andr. 404–412, Ph. 968–969. Entscheidend ist nicht die Nutzlosigkeit des Vorschlags, sondern die zugrundeliegende Bereitschaft. Vgl. auch Grube (1941) 169, Allan (2001) 169 (ad 464). Iolaos findet bei manchen Interpreten ein strenges Urteil. Für Smethurst (1949/50) übernimmt er stellvertretend für Herakles die Rolle des Hochstaplers. Andererseits wird ihm die Bemerkung im Prolog, er habe nur sein Leben gerettet, als Feigheit ausgelegt (πόλις μὲν οἴχεται, / ψυχὴ δ’ ἐσώθη, E. Heracl. 14–15, So verloren wir das Vaterland, / doch retteten das Leben), vgl. Mendelsohn (2002) 83–84. Den Vorwurf macht man ihm meines Erachtens jedoch zu Unrecht. Sein Leben hat er als Herakles’ Begleiter oft genug und zum Vorteil anderer Menschen aufs Spiel gesetzt. Der Kontext des Prologs gibt dem Satz nicht die unterstellte Bedeutung. Im Vordergrund steht der Verlust der Heimat und mit ihr, das ist die implizite Konsequenz, auch der aller beweglichen Güter. Daß die Flüchtenden nur ihr Leben retten konnten, ist Ausdruck ihrer äußersten Notlage, nicht ihrer Feigheit. Was nützte es den hilflosen Kindern, wenn Iolaos sich wagemutig, aber kopflos dem Feind entgegenstellte? Er hat die Verantwortung für Herakles’ Kinder übernommen und muß, bevor er Eurystheus entgegentritt, Verbündete gewonnen haben. In der Tragödie bleibt das Mädchen namenlos, erst die spätere Tradition gab ihr den Namen Makaria. Der Einfachheit halber sei sie in den folgenden Ausführungen dennoch so benannt. Ihre Anonymität liegt in ihrer Funktion begründet. Makaria ist kein Individuum, sie ist ein Kind von Herakles und weibliche Vertreterin ihrer Familie, ihr Tod ist kein persönliches Ereignis, sondern Bestätigung ihres Adels und Voraussetzung für die Rettung von γένος und Athen, vgl. Fitton (1961) 452, O’Connor-Visser (1987) 27. Mendelsohn (2002) 92–94 weist darauf hin, daß der Begriff θράσος (E. Heracl. 474) Makarias Grenzüberschreitung deutlich macht. Was beim Mann mutig und lobenswert sei, sei bei der Frau schamlos. Galeotti Papi (1995) untersucht die Szene auf ihre Parallelen zu erhaltenen Logoi epitaphioi; daß eine nicht-athenische asylsuchende Frau zur Retterin wird, stellt eine Umkehrung der athenischen Ideologie der Epitaphien dar (Galeotti Papi (1995) 151–152). Im Gegensatz zum Redner könne der Dichter Spannungen und Ambiguitäten zeigen (Galeotti Papi (1995) 152). Dem freiwilligen Opfertod geht in anderen Stücken zunächst der Wunsch voraus, nicht sterben zu müssen, vgl. z. B. E. IA 1211–1252. Dem entspreche hier, so Wilkins (1993) xxi, die Hikesie in der vorangehenden Szene. Ansonsten enthält Makarias freiwilliger Opfertod alle typischen Elemente, vgl. Wilkins (1990a) 182–184. Zum Schematismus von tragischen Opferszenen vgl. Schmitt (1921) passim, für die Heracl. v. a. 15, 28–30, 42. Die Ab-

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frage, ob dies die Rettung sei, muß Iolaos noch bestätigen (E. He­racl. 498–499). Damit ist die Entscheidung des Mädchens gefallen: Sie will das geforderte Opfertier sein: ἐγὼ γὰρ αὐτὴ πρὶν κελευσθῆναι, γέρον  / θνῄσκειν ἑτοίμη καὶ παρίστασθαι σφαγῇ (E. Heracl. 501–502). Ich bin selbst, aus freien Stücken, / mein greiser Freund, zu Tod und Opfergang bereit. Makaria hält es für recht und billig, daß die Asylsuchenden selbst auch ihren Beitrag zu ihrer Rettung leisten, wo es möglich ist, und nicht weniger zu riskieren bereit sind als die fremden Helfer. Die Athener setzen ihr Leben aufs Spiel, davor dürfen die Supplikanten nicht zurückschrecken (E. Heracl. 503–506). Makaria beschreibt ihre Tat als Verpflichtung: οὐ δῆτ’, ἐπεί τοι καὶ γέλωτος ἄξια, στένειν μὲν ἱκέτας δαιμόνων καθημένους, πατρὸς δ’ ἐκείνου φύντας οὐ πεφύκαμεν κακοὺς ὁρᾶσθαι· ποῦ τάδ’ ἐν χρηστοῖς πρέπει; κάλλιον, οἶμαι, τῆσδ’ – ὃ μὴ τύχοι ποτέ – πόλεως ἁλούσης χεῖρας εἰς ἐχθρῶν πεσεῖν κἄπειτ’ ἄτιμα πατρὸς οὖσαν εὐγενοῦς παθοῦσαν Ἅιδην μηδὲν ἧσσον εἰσιδεῖν. ἀλλ᾽ ἐκπεσοῦσα τῆσδ’ ἀλητεύσω χθονός; κοὐκ αἰσχυνοῦμαι δῆτ’, ἐὰν δή τις λέγῃ Τί δεῦρ’ ἀφίκεσθ’ ἱκεσίοισι σὺν κλάδοις αὐτοὶ φιλοψυχοῦντες; ἔξιτε χθονός· κακοῖς γὰρ ἡμεῖς οὐ προσωφελήσομεν. (E. Heracl. 507–519) Nein! Denn Hohngelächter verdienten wir, wenn tatenlos um Götterschutz wir jammerten, als Kinder eines solchen Vaters uns feige zeigten. Ziemt sich das für tapfre Herzen? Da wäre es noch besser, nach dem Sturz Athens – o träte er nicht ein! – in Feindeshand zu fallen und dann, mißhandelt, Kind eines Vaters, der εὐγενής war, zum Hades trotzdem einzugehen. Aber wenn man mich verbannte aus Athen – soll dann umher ich irren und mich schämen nicht, wenn man mir vorwirft: Was kommt ihr her mit Zweigen, Hilfe zu erflehen, ihr, die ihr euch ans Leben klammert? Fort mit euch! Feiglingen werden keine Hilfe wir gewähren!

Makarias Überlegungen bewegen sich innerhalb des aristokratischen Wertekanons. Sie spricht mehrfach von ihrer Herkunft und der sich daraus ergebenden Verpflichtung zu einem würdigen Verhalten.81 Besonders auffallend ist das Polyptoton φύντας οὐ πεφύκαμεν, das chiastisch die Antithese πατρὸς ἐκείνου und κακούς sperrt (E. Heracl. 508). Der Kontext läßt an der Bedeutung

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schiedsszene weist als Besonderheit Makarias Rede auf, üblich wäre eine Stichomythie, Schmitt (1921) 44–47. Vgl. Grube (1941) 169–170. Avery (1971) 540–544 meint, daß es just Makarias Ähnlichkeit mit dem Vater sei, die sie veranlasse, sich für den Opfertod zu entscheiden: sie akzeptiere, ohne zu zögern, die Verpflichtungen, die ihr auferlegt werden, sie glaube, durch ihre Geburt zu Großem bestimmt und verpflichtet zu sein, und sie zeige besonderen Mut.

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von πατρὸς ἐκείνου keinen Zweifel, er bewertet die Herkunft von Herakles als hoch. Der Kontrast mit κακός, der Feigheit vor dem Tod, begegnet von Homer an immer wieder. Makaria bleibt auch im folgenden gedanklich und begrifflich im heroischen Kontext. Sie will sich in ihrem Verhalten an dem orientieren, was sich unter χρηστοί zieme (ἐν χρηστοῖς πρέπει, E. Heracl. 510). Sie faßt die Möglichkeit einer Niederlage Athens ins Auge und erkennt auch für diese Situation nur ein angemessenes Verhalten. Es sei κάλλιον, den Tod nicht zu scheuen, wenn sie, als Tochter eines εὐγενής, ἄτιμα erleide (E. Heracl. 511–514). Von Achilleus’ großer Entscheidung für ein kurzes, aber ruhmvolles Leben an begeg­net immer wieder die Verbindung von edler Geburt und edlem Tod. Erst wenn auch der Tod eines Helden heldenhaft war, kann er mit seiner Herkunft und seiner Lebensführung als rundum adlig bezeichnet werden.82 Makaria sähe es als eine Schande an (αἰσχυνοῦμαι, E. Heracl. 516), würfe ihr jemand φιλοψυχία und κακία vor (E. Heracl. 518–519).83 Makaria fährt in ihrer Argumentation anschließend recht pragmatisch fort: Sollte sie als einzige übrigbleiben, so habe sie vom Leben ohnehin nicht mehr viel zu erwarten, denn wer wolle schon ein Waisenmädchen zur Frau nehmen (E. Heracl. 520–524)?84 Von der Erfüllung des Lebensglücks, die die traditionelle Rollenverteilung für Makaria vorsieht, weiß sie sich bereits ausgeschlossen. Ein anderes Mädchen, das weniger bemerkenswert sei als sie (ἐπίσημος, E. Heracl. 526–527), möchte sich damit vielleicht zufrieden geben. Für sie aber, die das Zeichen ihrer Herkunft und ihrer Prägung trägt, komme ein zweitbestes Leben nicht in Frage.85 Daher greift sie auf das Glück zurück, das an sich dem männlichen Geschlecht vorbehalten ist. Anstatt Unwürdiges zu erleiden, wählt sie den Tod zugunsten (ὑπέρ) ihrer Familie. Noch einmal betont sie, nicht φιλόψυχος zu sein, und nennt ihre Tat κάλλιστον und εὐκλέως (E. Heracl. 525–527, 532– 534). Auf ganz achilleische Weise ist der Ruhm der Ausgleich, den sie sich als Kompensation für ihren frühen Tod verspricht. So schnell Makaria sich zu der ruhmvollen Tat entschlossen hat, so rasch setzt sie sich mit ihrem Wunsch auch durch. Der Chor reagiert als erster auf ihre Worte und preist ihre Haltung: φεῦ, φεῦ, τί λέξω παρθένου μέγαν λόγον κλύων, ἀδελφῶν ἣ πάρος θέλει θανεῖν; τούτων τίς ἂν λέξειε γενναίους λόγους μᾶλλον, τίς ἂν δράσειεν ἀνθρώπων ἔτι; (E. Heracl. 535–538)

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Vgl. etwa die besprochenen Stellen in der Ilias, Aischylos’ Persern, auch Euripides’ Alkestis. Mendelsohn (2002) 95–98 weist darauf hin, daß zu Makarias Selbstinszenierung als Krieger auch die Formulierungen οὐ ταχθεῖσα πρεσβεύειν γένους, πρὶν κελευσθῆναι, παρίστασθαι gehören (E. Heracl. 479, 501, 502) ohne den Auftrag, Gesandte der Familie zu sein, unaufgefordert, bereitstehen. Vgl. hierzu oben auch Alkestis’ Bemerkungen über das Schicksal ihrer Kinder nach ihrem Tode. Schulz (1981) 95 sieht darin ein fragwürdiges „Abgrenzungsbedürfnis von den Nichtadligen“, das überschwenglich und pathetisch, nicht heroisch sei und nicht der Meinung des Dichters entspreche (100). Meines Erachtens spricht daraus Makarias nachdrücklicher Wunsch der Zugehörigkeit zu ihrem Genos.

160 Euripides Was sage ich, ach, höre ich das große Wort des Mädchens, das für die Geschwister sterben will? Wer von den Menschen vermag eher noch Worte, die γενναῖοι sind, zu sprechen, wer noch eher so zu handeln?

Der Chor beginnt mit einem emotionalen Ausruf und erklärt dann seine Bewunderung. Er nennt Makarias Rede μέγαν, weil sie bereit ist, vor ihren Geschwistern und damit vor ihrer Zeit zu sterben. Im dritten und vierten Vers hebt der Chor ihre Tat über das Normalmaß hinaus.86 Er fragt zunächst, wer wohl edlere Worte finden könnte. Die unausgesprochene Antwort ist klar: Niemand könnte das Mädchen übertreffen. Doch mehr noch. Der Chor fragt weiter, wer wohl – und hier erweitert er den Kreis der Vergleichspersonen explizit auf die ganze Menschheit – außer ihr noch ebenso handelte. Auch hier muß die Antwort lauten: Niemand. Doch mit der noch zweifelnder gestellten Frage wird auch die Antwort deutlicher und rühmender. Makaria ist in ihrer Tat nicht nur nicht zu übertreffen, sondern nicht einmal zu erreichen. Niemand kommt ihr in den Augen des Chores gleich. Iolaos setzt Makaria einen wenig entschlossenen Widerstand entgegen. Doch zunächst preist er das Mädchen für seine Entschlossenheit. Er erkennt in seinen Worten den Geist des Vaters Herakles: ὦ τέκνον, οὐκ ἐστ’ ἄλλοθεν τὸ σὸν κάρα / ἀλλ’ ἐξ ἐκείνου· σπέρμα τῆς θείας φρενὸς / πέφυκας Ἡράκλειον (E. Heracl. 539–541). Mein liebes Kind, du stammst von keinem anderen, / nein, bist sein echter Sproß, ein Kind der Götterseele / des großen Herakles. Wie in Makarias eigener Rede häufen sich auch hier wieder Formulierungen, die die Herkunft anzeigen (-θεν, ἐξ, σπέρμα, πέφυκας). In οὐδ’ αἰσχύνομαι (E. Heracl. 541), ich schäme mich nicht, liegt eine gelinde Untertreibung vor. Iolaos ist sehr stolz auf Makaria, die Wortwahl, die diesen Stolz ausdrückt, ist bedeutsam. Wieder wird ihre Tat mit (negierter) αἰσχύνη in Verbindung gebracht; auch Iolaos beschreibt ihr Tun in der Begrifflichkeit des aristokratischen Kriegers. Iolaos drückt allerdings auch seinen Schmerz aus (ἀλγύνομαι, E. Heracl. 542) und schlägt vor, die zu Opfernde aus allen Schwestern zu losen, was gerechter sei (ἐνδικωτέρως, E. Heracl. 543). Der Gedanke, daß sich eine der Heraklestöchter opfern könnte, um Kores Forderung zu erfüllen, ist neu in Makarias Rede gewesen. Ihn lehnt Iolaos nicht ab, er äußert sich nicht einmal zu der Tatsache, daß Makarias Vorschlag diesen Ausweg aus der Not wies, sondern nimmt ihn als ganz selbstverständlich an. Nur möchte er das Opfertier auf demokratischere Weise finden. Damit fordert er Makarias entschiedenen Widerspruch heraus. Sie gewinnt nur dann den Ruhm, der sie für den Tod entschädigt, wenn sie ihn freiwillig und aufgrund ihrer eigenen freien Entscheidung wählt. Daher wei86

Wilkins (1993) 120 (ad 537–538) bemerkt, daß Komparative und Superlative im Zusammenhang mit freiwilligen Opfertoden typisch seien und nennt als Parallelen E. Hec. 579– 580, IA 1421. Allan (2001) 173 (ad 537–538) weist mit Blick auf Th. 2, 42, 4 und den Stil darauf hin, daß der Chor Makarias Tat wie den Tod eines Kriegers im Kampf beschreibe. Diese Beobachtung fügt sich gut in Makarias eigene Begründung ihres freiwilligen Todes, die aus dem aristokratischen Verhaltenskodex stammt. Deutlicher noch als an der vorliegenden Stelle tritt diese Einschätzung ihres Todes als einer heroischen Tat im 2. Stasimon hervor (s. u.).

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gert sie sich nachdrücklich, als Ausgeloste zu sterben. Dann nämlich sei die Tat ohne χάρις (E. Heracl. 548). Ihr Opfertod wird damit in einen Kontext des Gebens und Nehmens gestellt und erhält einen Sinn. Sie stirbt und erwirkt damit eine Gegenleistung. Diese Gegenleistung wird im Text nicht klar formuliert. Da das Orakel jedoch den Tier­op­fern zur Vorbereitung der Schlacht entstammt, ist davon auszugehen, daß das Jungfrauenopfer eine Bedingung für einen Sieg der athenischen Seite im Kampf gegen die Argiver darstellt. Ein solcher Sieg wiederum ist die Voraussetzung für die Rettung der Herakliden, die Makaria mit ihrem Tod ermöglicht. Ein bloßes φεῦ bringt Iolaos als erstes hervor. Dann lobt er ihre Rede in den höchsten Tönen: ὅδ’ αὖ λόγος σοι τοῦ πρὶν εὐγενέστερος, κἀκεῖνος ἦν ἄριστος· ἀλλ’ ὑπερφέρεις τόλμῃ τε τόλμαν καὶ λόγῳ χρηστῷ λόγον. (E. Heracl. 553–555) Dein Wort ist in noch höherem Maße εὐγενής als vorher. Und dabei zeigte dein voriger Entschluß schon höchste Tapferkeit. Du übertriffst dich selbst an Mut und guten Gründen.

Makarias Rede sei noch edler als die frühere, die schon am besten gewesen sei. Iolaos’ Formulierung fehlt die sprachliche Logik, wenn er einen Superlativ durch einen Komparativ noch zu überbieten sucht. Die Unbeholfenheit zeigt, daß Makarias Verhalten in Iolaos’ Augen über das hinausgeht, was sprachlich ausgedrückt werden kann. Die Polyptota unterstreichen die sprachliche Unzulänglichkeit angesichts dieses Opferwillens. Makaria übertreffe mit ihrer Kühnheit die (normale) Kühnheit und mit ihrer Rede die (frühere) Rede. τόλμη ist bereits in seinem Wesen ein Superlativ, und Makarias vorangegangene Rede war bereits ungewöhnlich. Der Preis ihres Tuns läßt sich nur durch die Feststellung, daß sie all dies noch übertreffe, steigern. Iolaos wagt nicht, das Angebot explizit anzunehmen (E. Heracl. 556–557), doch das Mädchen deutet seine ausweichenden Worte wohl richtig als Zustimmung (E. Heracl. 558–559). Sie bestätigt noch einmal die Bedeutung ihrer Herkunft für ihre Entscheidung (E. Heracl. 562–563). Endlich tritt Demophon wieder ins Gespräch ein. Er nimmt ihre Opferbereitschaft ohne weiteres an (E. Heracl. 567–573).87 Makarias Abschiedsworte wiederholen noch einmal die wichtigsten Gesichtspunkte ihres freiwilligen Opfertodes. Sie legt besonderen Nachdruck auf diejenigen, denen ihr Tod zugute kommt: Sie sterbe für ihre Geschwister und für ihr Genos (ἀντὶ τῶνδε, προύθανον γένους, E. Heracl. 580, 590).88 Die 87

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Grube (1941) 170 betont, daß Demophon nicht zu schnell auf Makarias Angebot reagiere und nicht der Eindruck entstehe, er dränge sie zu diesem Schritt. Im Gegenteil: Nach Vellacott (1975) 190–192 drängt Makaria mit ihrem Auftritt den zögerlichen Demophon zum Kampf: „Her response is a gesture not of piety but of contemptuous challange“ (191). Sie spreche an Demophon vorbei und wende sich nur an Iolaos. Auch Hall (1997b) 120–121 kritisiert Demophon: er bedrohe den Herold und sei zu leichtgläubig gegenüber den Orakeldeutern. Wilkins (1990a) 180–182 betont die durch den freiwilligen Opfertod entstehende Spannung zwischen Individuum und Gemeinwohl und stellt die provozierende Frage, ob der freiwillige Opfertod ein patriotischer Akt oder ein pervertiertes Opfer sei. Er stellt außerdem

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Wichtigkeit des γένος für ihr Denken ist wohl auch die Ursache dafür, daß sie ihre Brüder ermahnt, die Großmutter Alkmene zu ehren; ausdrücklich bezeichnet sie sie als Mutter des Vaters. Auch Iolaos und die Athener als ihre Retter sollen die Brüder in Ehren halten (E. Heracl. 584–585). Erneut spricht sie von dem Ruhm, den sie sich nach ihrem Tod und als Würdigung ihrer Tat wünscht (E. Heracl. 588–590). Mit neuer Akzentuierung erscheint in ihrer Rede der Gedanke, daß ihr eine Hochzeit entgehe (E. Heracl. 579–580). Das erste Mal tauchte die verschenkte Ehe in ihrer ersten großen Rede auf. Sie imaginierte die Möglichkeit, daß sie als einzige übrigbleibe, und schloß daraus, daß eine Ehe für sie ohnehin ausgeschlossen sei (E. Heracl. 521–524). Hier hat die Erwähnung der aufgegebenen Hochzeit einen anderen Klang: Sie verzichtet darauf. Iolaos’ Antwort bewegt sich in den bekannten Bahnen. Wieder hebt er ihre Einzigartigkeit hervor; er spricht in Superlativen, gebraucht die Begrifflichkeit des heroischen Wertekanons und verspricht ihr bleibenden Ruhm (μέγιστον ... εὐψυχία ... τιμιωτάτη καὶ ζῶσ’ καὶ θανοῦσ’ ἔσῃ πολύ, E. Heracl. 597–599, am meisten ... Mut ... wir werden dir, im Leben wie im Tod, die höchsten Ehren zollen). Jetzt ist die εὐγένεια in einem umfassenderen Sinne zur Rettung geworden. War die Herkunft in der Aufnahmeszene einer von mehreren Gründen für andere Menschen, die Rettung der Herakliden auf sich zu nehmen (E. Heracl. 236– 246 und 297–306), so wird sie nun als Ursache für Makarias rettende Selbstopferung angesehen. Die εὐγένεια begründet so den Wechsel von einer passiven zu einer aktiven Rettung der Heraklesnachkommen.89

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186–187 Makaria in die mythische Reihe anderer Mädchen, die sich freiwillig für Athen opfern (Aglauros, Kekropiden, Erechthiden, Töchter des Leos). Makaria sterbe für die Brüder und das Land, 185–186. Das ist jedoch die Perspektive des Außenstehenden mit strukturierendem Blick. In der Forderung des Opfers durch die Orakelpriester und in dem Chorlied, das Makarias Tat preist, ist von einem Tod für die Stadt die Rede (E. Heracl. 402, 491, 622). Makaria selbst nennt dieses Motiv nicht. Dabei ist nicht entscheidend, daß sie selbst keine Athenerin ist: die Stadt könnte, als Retterin, die den Herakliden ein neues Leben schenkt, ohne weiteres als neue Heimat empfunden werden, die eines Opfertodes würdig ist. Makaria aber hat lediglich ihre Familie im Blick. Patriotismus ist für Makaria kein Handlungsmotiv, die Formulierung πρό τ’ ἀδελφῶν καὶ γᾶς (E. Heracl. 622), für die Geschwister, für das Land, gebraucht der Chor; ähnlich Kearns (1989) 58–59. Kearns führt ferner an, daß die Belege für einen Makaria-Kult spärlich seien (für eine euripideische Erfindung hält Schmitt (1921) 85–88 sogar die Figur der Makaria). Ein Kult ist in meinen Augen allerdings unabhängig von den Motiven, die Euripides dem Mädchen in der Tragödie zuschreibt. Im übrigen ist der Kult belegt, auch schon für die Zeit vor Euripides, vgl. Kledt (2004) 165–166 Anm. 7–8. Der aktive Anteil der Herakliden nimmt im folgenden noch zu, wenn Hyllos, Iolaos und ihre Leute im Kampf die entscheidenden Heldentaten vollbringen (E. Heracl. 800–818, 834– 866). O’ Connor-Visser (1987) 29–30 meint, die Herakliden erwirkten ihre Rettung selbst, und beschreibt die Athener lediglich als Helfer, ähnlich Strohm (1957) 20–21. Das geht in meinen Augen zu weit. Die Herakliden leisten ihren Beitrag, der durchaus erheblich ist, hätten dazu aber nie die Gelegenheit gehabt, wenn nicht die Athener sie zunächst aufgenommen hätten. Die Aufnahme in Athen war das erste und Voraussetzung für die weitere Entwicklung. Richtiger erscheinen mir die Deutungen, die von „Ersetzung, Umkehrung“ sprechen, weil sie den Verlauf berücksichtigen und die Anstrengung beider Seiten sehen, so z. B. Zuntz (1955) 27, Burnett (1976) 16, Grethlein (2003a) 386–387.

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An die Szene schließt sich das zweite Stasimon an. Es ist ein kurzes Lied, das nur aus Strophe und Gegenstrophe besteht. Der Chor formuliert die Wechselhaftigkeit und Unsicherheit des menschlichen Glücks (E. Heracl. 608–617).90 In der Antistrophe ermahnt daher der Chor den Menschen, sein Geschick gefaßt zu tragen (E. Heracl. 618–620) und wendet sich Makaria zu: εὐδόκιμον γὰρ ἔχει θανάτου μέρος ἁ μελέα πρό τ’ ἀδελφῶν καὶ γᾶς, οὐδ᾽ ἀκλεής νιν δόξα πρὸς ἀνθρώπων ὑποδέξεται· ἁ δ’ ἀρετὰ βαίνει διὰ μόχθων. ἄξια μὲν πατρός, ἄξια δ’ εὐγενί ας τάδε γίγνεται· εἰ δὲ σέβεις θανά τους ἀγαθῶν, μετέχω σοι. (E. Heracl. 621–629) Stirbt einen rühmlichen Tod doch die Arme, zum Besten ihrer Geschwister, zum Besten der Heimat; herrliche Ehren werden die Menschen ihr spenden. Tapferkeit wandelt auf dornigen Pfaden. Würdig des Vaters und würdig der εὐγένεια war ihre Tat; wenn du Ehrfurcht hegst vor dem Sterben der Tüchtigen, stimm ich dir zu.

Die Betonung liegt auf dem Ruhm des Todes, den Makaria stirbt. εὐδόκιμον nennt der Chor ihr Schicksal, und οὐκ ἀκλεής werde ihr Ruf sein. Der Chor möchte sich an ihrer Verehrung beteiligen. Der Chor spricht klar aus, was den Tod in seinen Augen so rühmlich91 macht: Makaria stirbt für ihre Geschwister und das Land. Und es besteht auch kein Zweifel, woher sie die Kraft nahm, dies auf sich zu nehmen: ἀρετή steht Mühen durch. Makaria hat mit ihrer Tat ihre ἀρετή unter Beweis gestellt. So kann der Chor feststellen, daß ihr Tun ihres Vaters und ihrer εὐγένεια würdig sei. Die Verbindung von Vater und Herkunft läßt an der Bedeutungsrichtung keinen Zweifel. Der Chor sieht in Makaria die alte aristokratische Auffassung der verpflichtenden Herkunft erfüllt. Besonders hervorgehoben wird der Gedanke durch die Wiederholung von ἄξια und den parallelen Bau der Glieder. Wie Alkestis erhält auch Makaria heroische Epitetha, wie Alkestis überschreitet sie den Kreis, den die Gesellschaft ihr als einem Mädchen traditionell zuweist. Doch Makaria entschuldigt sich dafür (E. Heracl. 474–477). Ihre Usurpation des männlichen Lebensbereichs wirkt weitaus weniger aggressiv als bei

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Den tröstlichen Charakter dieses Gedankens betonen Hose (1991) 110–111, Wilkins (1993) 129 (ad 608–628) und 13 (ad 619–628). Und tröstlich, so Zuntz (1955) 43–44, Allan (2001) 179 (ad 626–627). „the heroic response“ ist nach Conacher (1967) 115 alleiniger Sinn dieses Opfers. Ähnlich Burian (1977) 10. Wilkins (1990a) 179–180 verweist auf die funktionale Parallele von Opfer- und Heldentod, vgl. z. B. Th. 2, 43, wo die Gefallenen mit ähnlichem Vokabular geehrt werden wie Makaria (τολμῶντες, τὰ δέοντα, αἰσχυνόμενοι, ἀρετῆς, ἀξιοῦντες, κάλλιστον ἔρανον, δόξα – mit Mut, das Notwendige, mit Ehrgefühl, der Tapferkeit, für würdig haltend, den schönsten Liebesdienst, Ruhm).

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Alkestis. Insofern verbindet Makaria ihren Einsatz für das γένος und die Unterordnung unter die Interessen der Polis.92 Makaria wird im Drama nun nicht mehr erwähnt. Sie stirbt und erfüllt damit eine notwendige Bedingung für einen siegreichen Ausgang der Schlacht. Wie auch Menoikeus in den Phoenissen hat das Mädchen mit der heroischen Wahl seinen Part erfüllt. Das Chorlied füllt den dramatischen Ort der Opferung. Es beruhigt die gespannte Stimmung und schafft damit die Voraussetzung für die heitere Ironie der folgenden Szene.93

5.2.3 Demophon Nach Demophons Zusage, den Herakliden Asyl zu gewähren, fordert Iolaos Herakles’ Söhne und die Athener auf, einander die Hände zu reichen und den Bund durch diese Geste zu besiegeln, er ermahnt die Kinder, der Stadt immer dankbar zu sein und niemals Krieg gegen sie zu führen (E. Heracl. 307–319). Er selbst wolle Demophon im Leben und nach dem Tode rühmen: ἐγὼ δὲ καὶ ζῶν καὶ θανών, ὅταν θάνω πολλῷ σ’ ἐπαινῶ Θησέως, ὦ τᾶν, πέλας ὑψηλὸν ἀρῶ καὶ λέγων τάδ’ εὐφρανῶ, ὡς εὖ τ’ ἐδέξω καὶ τέκνοισιν ἤρκεσας

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Vgl. auch Mendelsohn (2002) 94–98. Ähnlich Schmitt (1921) 53–56, Grube (1941) 170–171, Zuntz (1955) 32 und 44–47, Burian (1977) 10, O’Connor-Visser (1987) 41–43, Hose (1991) 111, Allan (2001) 172 (ad 500–534). Albini (1993) 107–108 meint, Makaria werde deshalb nicht mehr erwähnt, weil ihr Verhalten nicht als außergewöhnlich empfunden werde, wie auch das Chorlied zeige, man finde es praktisch, daß das Problem sich so einfach löse. Das halte ich nicht für richtig. Die Reaktionen von Iolaos und Chor zeigen mit ihrem überschwenglichen Preis Makarias, daß deren Verhalten gerade nicht als selbstverständlich erschien. Stoessl (1956a) 218 weist darauf hin, daß Makarias freiwilliger Opfertod zu einem unmittelbaren Umschwung führe, da Hyllus zurückkehre. – Die frühere Forschung war durch das Schweigen des Dramas irritiert und postulierte verschiedene lacunae, vgl. z. B. von Wilamowitz (1882) 337–356, Lesky (1977) 231–238. Eine weitere Unklarheit kommt mit E. Heracl. 822 ins Spiel. In der handschriftlichen Überlieferung ist von Blut aus menschlichen Kehlen die Rede (λαιμῶν βροτεῖων). Es ist schwer vorstellbar, daß Euripides Makarias Tod in dieser beiläufigen Weise berichtete; daher sind verschiedene Heilungsversuche unternommen worden. Stefanis (1977/78) schlägt vor, statt ἔσφαζον lieber ἔφραζον zu schreiben, was das Opfer ankündigen würde. Diggle (1984) schreibt mit Helbig βοείων, was mir einleuchtet. Erbse (1979) 128–135 glaubt, die Verse müßten sich tatsächlich auf Makaria beziehen: Hyllos’ Vorschlag eines Zweikampfes diene dazu, Makarias Tod abzuwenden, denn müsse man sich Makaria schon tot denken, sei Hyllos’ Vorschlag entweder unredlich, weil ihr Tod eine Garantie für einen glücklichen Ausgang sei, oder, falls Hyllos unterliege, ihr Tod umsonst gewesen. Diese Logik geht meines Erachtens an der Intention des Dramas vorbei. Wenn Makarias Tod eine Garantie sein sollte, wäre die Schlacht überhaupt unredlich. Darüber hinaus sprach das Orakel in keiner Weise von einem automatischen Sieg der Athener bzw. Herakliden, sondern nur von der Notwendigkeit des Opfers. Zur Rettung der Supplikanten ist dreierlei erforderlich: die Aufnahme in die Stadt, das Mädchenopfer und der Sieg in der Schlacht, von denen jedes notwendig, aber keines hinreichend ist. Doch auch wenn die Schlacht verloren ginge, wäre Makaria nicht umsonst gestorben; Hose (1991) 110–111 spricht von einem doppelten Sinn des Opfers. Der Ruhm, den Makaria sich von ihrer Entscheidung versprach, wäre ihr demnach in jedem Fall sicher.

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τοῖς Ἡρακλείοις, εὐγενὴς δ’ ἀν’ Ἑλλάδα σῴζεις πατρῴαν δόξαν, ἐξ ἐσθλῶν δὲ φὺς οὐδὲν κακίων τυγχάνεις γεγὼς πατρός, παύρων μετ’ ἄλλων· ἕνα γὰρ ἐν πολλοῖς ἴσως εὕροις ἂν ὅστις ἐστὶ μὴ χείρων πατρός. (E. Heracl. 320–328) Ich will, im Leben und, bin ich gestorben, auch im Tod, vor Theseus dich, mein Freund, durch hohes Lob verherrlichen und ihn mit dem Bericht erfreuen, wie trefflich du empfangen und in Schutz genommen die Herakliden, wie du als einer, der εὐγενής ist, des Vaters Ruhm in Hellas hütest und, ein Sproß von wackrem Stamm, dem Vater ebenbürtig bist wie wenige. Nur einen unter vielen wird man finden, der nicht schlechter als der Vater ist.

Er, so Iolaos, wolle Demophon ewig preisen, weil er die Herakliden aufnahm. Demophon bewahre in seiner Eigenschaft als εὐγενής94 den väterlichen Ruhm, er verhalte sich seines Vaters und der Erwartung, die sich aus dessen Leben ergibt, als würdig. Immer wieder wird in der griechischen Literatur der Gedanke geäußert, daß sich aus der edlen Herkunft die Verpflichtung ergebe, dieser gerecht zu werden und sich entsprechend vorbildlich zu verhalten. Hier tritt die ergänzende Beobachtung hinzu, daß es nur wenigen gelinge, diesem Anspruch gerecht zu werden – in um so hellerem Lichte erscheint Demophons Handeln.95 Diesem positiven Bild Demophons kontrastiert das Bild Demophons als des wortbrüchigen Königs. Nach der Zusage, den Herakliden Asyl zu gewähren, dankt Iolaos ihm überschwenglich und nennt ihn εὐγενής. Nachdem jedoch Artemis’ Forderung des Mädchenopfers bekannt ist, erklärt Demophon, daß er seine Tochter nicht opfern und auch seine Bürger nicht zu einem solchen Schritt zwingen werde (E. Heracl. 410–414).96 Dabei ist er sich wohl bewußt, daß er sich mit dieser Haltung in Widerspruch zu seiner früheren Zusage begibt. Er möchte wohl helfen, aber nicht zu diesem Preis. Denn er fürchtet einen Aufstand der Bürger (E. Heracl. 415–419). Deshalb fordert er Iolaos auf, selbst zu überlegen, wie der Konflikt

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Zu Weckleins Konjektur εὐκλεής vgl. Wilkins (1993) 92 (ad 324). Avery (1971) 544–547 betont die Parallele von Demophon und Makaria, die beide nach dem Vorbild des Vaters handeln. Burnett (1976) 15 unterstellt Iolaos gewissermaßen eine Verdrehung der Tatsachen, wenn sie anmerkt, Iolaos stelle die Rettung so dar, als wäre sie mehr auf Demophons εὐγένεια als auf das Tabu des Heiligtums zurückzuführen. Die Rettung ist auf keinen einzelnen Grund zurückzuführen; zur Topik von Supplikation und Aufnahme vgl. Strohm (1957), Grethlein (2003a). Iolaos greift in seiner Dankesrede an Demophon den Punkt heraus, der am engsten mit Demophon persönlich verbunden ist und seine Person am unmittelbarsten preist. Lloyd (1992) 76 betont, daß Demophon in seiner Entscheidung dem δίκαιον, nicht dem σύμφερον folge. Demophon läßt hier nebenbei durchklingen, daß ein beliebiger Athener durch seine Herkunft als εὐγενής gilt. Athener für ihre Autochthonie zu preisen war gleichbedeutend mit einem Preis ihres Adels, so daß die Redner des 4.  Jh. εὐγένεια und αὐτοχθονία ohne Unterschied verwendeten, vgl. Loraux (1981) 210, vgl. außerdem unten zu Euripides’ Ion.

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zu lösen sei. Demophon wünscht sowohl die Herakliden zu retten als auch bei seinen Bürgern den guten Ruf zu behalten (E. Heracl. 420–424). Demophons erste Zusage der Aufnahme schien bedingungslos zu gelten; Zeus’ Schutz für die Fremden stehe über allem (E. Heracl. 238–239), Verwandtschaft und Dankespflicht seien unverrückbar (E. Heracl. 240–241), der Ruf der Freiheit stehe auf dem Spiel (E. Heracl. 242–246). Demophon schien Iolaos’ Lobeshymnen verdient zu haben. Mit der Forderung eines Mädchenopfers erwacht Unmut unter den Bürgern, die die Kriegsvorbereitungen offensichtlich noch als notwendige Folge des Asyls hingenommen hatten. Damit wird Demophons Entscheidung tragisch. Demophon fürchtet einen Aufstand und wirft die Supplikanten zwar nicht explizit aus der Stadt, weigert sich aber, die für einen Erfolg notwendige Bedingung zu erfüllen. Er steht nicht mehr zu seiner früheren Zusage. Demophon riskiert damit, um seine eigene Argumentation aufzunehmen, einen Frevel an Zeus Agoraios, einen Bruch der aristokratischen Verhaltensnormen und den Ruf der Stadt. Er riskiert ferner die Schande, der eigenen Herkunft und ihren Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Dies wirft einen Schatten auf das positive Bild, das sich Zuschauer bzw. Leser zunächst von Demophon und Athen gemacht haben. Das Athen, das Demophon in Wort und Tat in der ersten Szene gezeichnet hat, ist ein Ideal, ein Ziel vielleicht, aber nicht eine feste Burg.97 Demophons Beschreibung als εὐγενής, die sich aus der Asylzusage ergeben hatte, steht damit in Frage. Iolaos äußert sich tief enttäuscht, auch wenn Iolaos ihn weiterhin seiner χάρις versichert (E. Heracl. 427–450). Ungeachtet der Verunsicherung, die Demophons Haltung nach Artemis’ Forderung bedeutet hatte – auf der Handlungsebene für die Herakliden und auf der Rezeptionsebene für das Demophonbild der Zuschauer/Leser –, wird der König ein weiteres Mal als εὐγενής bezeichnet. Ein Bote verkündet den Sieg der athenischen Seite. Nachdem Eurystheus sich Hyllos’ Vorschlag eines Zweikampfs entzogen hatte, schickten sich die Heere an zu kämpfen (E. Heracl. 800–818). Demophon richtete eine letzte Ermahnung an seine Leute: Ἀθηναίων δ’ ἄναξ στρατῷ παρήγγελλ’ οἷα χρὴ τὸν εὐγενῆ· Ὦ ξυμπολῖται, τῇ τε βοσκούσῃ χθονὶ καὶ τῇ τεκούσῃ νῦν τιν’ ἀρκέσαι χρεών. (E. Heracl. 824–827) Der Herrscher der Athener aber rief den Truppen die Mahnung zu, die einem, der εὐγενής ist, ziemt: Ihr Bürger, jetzt gilt es den Schutz des Vaterlandes, das euch die Nahrung spendet und das Leben schenkt.

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So z. B. Zuntz (1955) 41–42, Guerrini (1972) 51–52, Vellacott (1975) 187–190, Burian (1977) 4–8, Mendelsohn (2002) 86–88. Fitton (1961) 453–454 betont, daß die objektive Moral der Agonszene auf dem Spiel stehe, d. h. Makaria rette nicht nur Demophon und Athen, sondern auch den zugrundeliegenden Wertekanon. Ähnlich Burnett (1976) 20–21, nach deren Lesart sich Stadt und Sippe gegenseitig etablieren. Grethlein (2003a) 411–413 weist darauf hin, daß auch Demophons Aufbrausen gegenüber dem Herold zu dem brüchigen Athenbild beiträgt. Anders Steiger (1912) 95–96, Grube (1941) 166, Wilkins (1993) xi, die das Drama als Lob Athens verstehen, Athens, das für die Hilflosen und für Gerechtigkeit kämpft.

Herakliden

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Demophon fordert seine Männer zu vollem Einsatz in der Schlacht auf. Er packt seine Leute emotional, wenn er das Land als nährend und gebärend zeichnet. Jeder hat Athen gegenüber dieselbe heilige Pflicht wie gegenüber seiner Mutter. Der Bote kommentiert seinen Bericht mit dem Hinweis, daß ein εὐγενής solche Worte sprechen müsse. Der Begriff ist zwar nicht prägnant gebraucht; Demophon tut, was jeder Feldherr vor der Schlacht tut, wenn er seine Krieger anfeuert, und er tut es nicht ungeschickt, weil er über das Bild der Stadt als der nährenden Mutter in ihnen ein tiefsitzendes Gefühl der Verantwortung weckt. Aber der Begriff ist in einem literarischen Kontext gebraucht, der schon nicht mehr verwundert: Die Feldherrnrede hat epischen Charakter98 und evoziert einen heroisch-aristokratischen Kontext.

5.2.4 Alkmene und Eurystheus Die Schlacht verläuft ganz nach Wunsch. Iolaos erlebt durch Herakles und Hebe99 eine Verjüngung und vollbringt eine Heldentat wie in seiner Jugend. Er fängt Eurystheus und schickt ihn Alkmene, damit diese ihn noch lebend sehe und Gewalt über ihn habe (E. Heracl. 843–884). Der Bote endet seinen Bericht mit einer Erinnerung an Alkmene: ἀλλ’, ὦ γεραιά, χαῖρε καὶ μέμνησό μοι ὃ πρῶτον εἶπας ἡνίκ’ ἠρχόμην λόγου, ἐλευθερῶσειν μ’· ἐν δὲ τοῖς τοιοῖσδε χρὴ ἀψευδὲς εἶναι τοῖσι γενναίοις στόμα. (E. Heracl. 888–891) Nun, greise Herrin, lebe wohl und denke dran, daß du mir, gleich als ich die Meldung überbrachte, die Freiheit zugesagt. In derlei Dingen müssen die, die γενναῖοι sind, einen Mund ohne Lug und Trug besitzen.

Alkmene hatte dem Boten als Lohn für seine gute Nachricht die Freiheit versprochen (E. Heracl. 789). Zum Abschied erinnert er sie an ihr Versprechen. Er benutzt den Hinweis auf ihre γενναιότης als Druck; ihr Ruf als γενναία stünde auf dem Spiel, bräche sie ihr Wort. Vielleicht ist die Möglichkeit eines unedlen Verhaltens als Anspielung auf den Schluß des Dramas zu lesen, wo ein Schatten auf Alkmenes Charakter fällt, der ihre γενναιότης in Frage stellt.100 Die Begegnung von Alkmene und Eurystheus bildet die Schlußszene. Ein Diener bringt den Gefangenen vor Herakles’ alte Mutter, damit sie sich daran freue; schließlich sei es angenehm, den gestürzten Feind zu sehen (E. Heracl. 939–940). Endlich kann sich Alkmenes in jahrelanger Schmach angestauter Zorn über Eurystheus’ Haupt entladen. Sie wirft ihm Herakles’ Erniedrigung und die Ver98 99

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Wilkins (1993) 160 (ad 625 ff.). Vgl. auch Allan (2001) 198 (ad 825). Fitton (1961) 455 weist darauf hin, daß Herakles’ Erscheinung die Tatsache betone, daß der Sieg nicht nur der einer menschlichen Polis, sondern auch eines großen γένος sei. So Allan (2001) 202 (ad 890–891). Sklaven beklagen sich bei Euripides sonst nicht und zeigen sich nicht als unzufrieden, vgl. Di Benedetto (1971) 215. Die Singularität der Stelle legt nahe, die eigentliche Aussage der Verse in den übergeordneten Sinnzusammenhängen dieses Dramas zu suchen.

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folgung seiner Kinder vor. Ihre Rede endet mit der Ankündigung seines Todes (E. Heracl. 941–960). Eine kurze Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit seiner Tötung schließt sich an. Die Stadt schont Feinde, die den Kampf überlebt haben, während Alkmene sich an ihrem Widersacher rächen will (E. Heracl. 961–980).101 Eurystheus ergreift das Wort und antwortet auf Alkmenes Beschimpfung. Er erklärt sein Verhalten gegenüber Herakles und dessen Kindern. Er schiebt die Schuld von sich, Hera habe ihn getrieben (ἔθηκε τὴν νόσον, E. Heracl. 989–990, sie hat den Wahn verhängt). Als der Stein erst einmal ins Rollen gekommen sei, habe er nur noch weitermachen können, erst beim Vater, dann bei den Kindern (E. Heracl. 992–1004). Diese Selbstbeschreibung paßt zu dem feigen Bild, das Eurystheus angesichts der Herausforderung zum Zweikampf abgegeben hat.102 Trotzdem findet er anerkennende Worte für Herakles (χρηστὸς ὢν ἀνήρ, E. Heracl. 998–999, er war ein tüchtiger Mann). Er fordert Alkmene auf, sich in seine Lage zu versetzen: sie hätte wohl kaum anders gehandelt (E. Heracl. 1005–1008). Er erinnert daran, daß er, dem Tod auf dem Schlachtfeld entronnen, nach athenischem Recht nicht ungestraft getötet werden dürfe (1009–1013). Eurystheus schließt seine Rede mit einigen Worten über sich selbst: ἐντεῦθεν δὲ χρὴ τὸν προστρόπαιον †τόν τε γενναῖον† καλεῖν. οὕτω γε μέντοι τἄμ’ ἔχει· θανεῖν μὲν οὐ χρῄζω, λιπὼν δ’ ἂν οὐδὲν ἀχθοίμην βίον. (E. Heracl. 1014–1017) nenne mich einen Anrufenden jetzt und γενναῖος zugleich! So kennst du mein Geschick. Ich wünsche nicht den Tod, doch trifft er mich, so werde ich mich schwerlich grämen.

Der fragliche Vers ist textkritisch unklar. τόν τε γενναῖον ist in seiner Echtheit angezweifelt worden.103 Die überlieferte Formulierung ist in meinen Augen jedoch nicht zu verwerfen; zwar erschließt sie sich nicht auf den ersten Blick, ist aber sinnvoll mit dem Kontext verbunden. Eurystheus nennt sich προστρόπαιος und γενναῖος. Beide Attribute sind in seiner Situation erklärungsbedürftig, lassen aber auch bedeutungsvolle Bezüge zu vorausgegangenen Handlungen und Äußerungen erkennen. προστρόπαιος ist ein Mensch, „der sich hinwendet“ und entweder um Reinigung nach einem Verbrechen bittet oder nach Rache verlangt, von der Bedeutung des Um-Reinigung-Bittens ausgehend bezeichnet das Adjektiv dann auch 101

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In der Frage der Sprecherverteilung ist wohl am ehesten der handschriftlichen Tradition zu folgen. Der Dialog E. Heracl. 961–972 wird von Chor und Diener getragen, Alkmene schaltet sich mit ἔγωγε (E. Heracl. 973) als mögliche Mörderin wieder ein. Für eine ausführliche Argumentation vgl. z. B. Stoessl (1956a) 231–233, Davidson (1996) 244–247. Vgl. Grube (1941) 172. Fitton (1961) 456–457 zeigt in Eurystheus’ Argumentation Parallelen zu Gorgias’ Helena auf: Auch Eurystheus schiebt seine Verantwortung ab auf einen Gott (hier: Hera) und eine Emotion (hier: Angst). Diggle (1984) setzt cruces, vermerkt aber Kirchhoffs Konjektur τὸν παλαμναῖον, für intakt halten den Vers beispielsweise Wilkins (1993) 187–188 (ad 1014–1015), Allan (2001) 214 (ad 1014–1015).

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den Befleckten überhaupt.104 Die Bitte um Reinigung und der Ruf nach Rache scheinen Entgegengesetztes zu bezeichnen, denn im einen Fall geht der Bitte ein begangenes, im anderen ein erlittenes Unrecht voraus. Beide Bittsituationen verbindet aber, daß die vorangegangene Handlung eine Reaktion verlangt, die die unausgewogene Situation ausgleichen soll. Der Begriff setzt voraus, dass Eurystheus eine unrechte Handlung entweder begangen oder erfahren hat. In Eurystheus’ Person ist beides verknüpft. Jahrelang hat Eurystheus die Herakliden verfolgt und deshalb zuletzt Athen angegriffen. Dieses Unrecht hat er begangen. Es handelt sich dabei nicht um einen Mord, wie er an anderen Stellen in der griechischen Literatur Anlaß für eine Reinigung ist.105 Auch von konkreten Reinigungsritualen ist im Zusammenhang dieser Stelle nirgends die Rede. Doch der diesen Ritualen zugrundeliegende Gedanke, nämlich eine Befleckung aufzuheben und nicht durch eine rächende oder strafende Handlung zu beantworten, spielt in der Szene und Eurystheus’ Rede eine Rolle. Zunächst spricht Eurystheus Alkmene direkt an (E. Heracl. 983, 988, 998 et pass.); man könnte erwarten, er werde um Gnade für die Verfolgung der Herakleskinder bitten. Doch dies tut er explizit nicht (E. Heracl. 983–985). Vielmehr rechtfertigt er sein Verhalten und schiebt die Verantwortung von sich. In Bezug auf die Verfolgung der Herakliden verhält sich Eurystheus nicht als προστρόπαιος. Anders steht es bei seinem Sturm auf Athen. Mit dem Angriff auf Athen hat Eurystheus dessen Souveränität verletzt; als Gefangener hätte er allen Grund, die Vertreter der Stadt um Gnade zu bitten. Dies geschieht zwar nicht. Eurystheus zitiert aber eine göttlich legitimierte griechische Rechtsvorschrift, die sein Leben schützt (E. Heracl. 1009–1013), und von den Athenern – bisher zumindest – beachtet wird (E. Heracl. 1012–1013 und 1026–1028). Ein solches Gesetz läßt sich als Befreiung vom Vorwurf eines Angriffs auf die Stadt lesen, was bedeutet, daß die Athener Eurystheus seine Bitte bereits erfüllt haben und er die Haltung als προστρόπαιος nachträglich einnimmt. Zum Dank eröffnet Eurystheus den Anwesenden einen alten Orakelspruch von Apollon, wonach sein Leichnam das athenische Land einst vor den Angriffen der Heraklidennachkommen schützen werde. Der Stadt gegenüber verhält sich Eury­ stheus, auch wenn die eigentliche Hikesie fehlt, als ein προστρόπαιος.106 Das genannte Gesetz schützt Eurystheus außerdem vor Alkmenes Rache – so, wie Athen zuvor Alkmene und die Herakliden vor ihm geschützt hatte. Er warnt Alkmene: οὐχ ἁγνός εἰμι τῷ κτάνοντι κατθανών (E. Heracl. 1011), mein Tod wirkt nicht entsühnend für den Tötenden. Trotz des zitierten Gesetzes rechnet Eurystheus offensichtlich mit seinem Tod und ist auch bereit dazu (E. Heracl. 1016–1017 und 1026–1044), doch sein Tod wird den Mörder beflecken. Eury­ stheus wird ein Unrecht erleiden, wenn Alkmene seinen Tod durchsetzt. Dann 104 105 106

LSJ s. v. προστρόπαιος. Ein bekanntes Beispiel ist die Reinigung des Adrastos (Hdt. 1, 35). In der vorliegenden Passage bezeichnet der Begriff in meinen Augen nicht einfach eine Befleckung, wie Pflugk/Klotz (1858) 133 (ad 1015) meinen. Der Kontext der Rechtfertigung vor dem fraglichen Vers und des Orakels danach sprechen m. E. dagegen (E. Heracl. 986– 1008 und 1026–1044).

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wird er ein προστρόπαιος sein, der nach Rache ruft.107 Dazu wird ihm der Orakelspruch verhelfen. Seine Wirkung erfüllt also eine doppelte Funktion. Sie hilft den Athenern bei dem zukünftigen Angriff der Herakliden, ihre Stadt zu retten, und ermöglicht Eurystheus, seinen eigenen Tod zu rächen. Eurystheus nennt sich Alkmene gegenüber προστρόπαιος, die entsprechende Haltung nimmt er jedoch den Athenern gegenüber ein. Diese spricht er im Zusammenhang mit dem Orakel direkt an (u. a. E. Heracl. 1030, 1032). Nicht nur der Chor ist Adressat dieser Worte, sondern, mit Blick auf das aktuelle Verhältnis zu Argos, auch das athenische Publikum im Theater. Eurystheus schenkt den Athenern den Orakelspruch, weil sie sein Leben schützten (E. Heracl. 1027 ἐπεί...). Die versprochene Hilfe ist Ausdruck seines Dankes: auf eine erfahrene χάρις (Aufnahme und Schutz) reagiert er seinerseits mit einer χάρις (Hilfe im Kampf, pikanterweise in einem Kampf gegen die fehlende χάρις der Nachkommen der Herakleskinder, die das gewährte Asyl vergessen werden, E. Heracl. 1036). Im selben Atemzug nennt Eurystheus sich auch γενναῖος. Zu Beginn seiner Rede an Alkmene erwähnt er die Verwandtschaft mit ihr und damit auch mit Herakles (E. Heracl. 987–988). Eigentlich hätten er und Herakles, weil sie zu einem γένος gehören, dieselben Interessen verfolgen müssen, nämlich die Vorteile ihrer Familie zu fördern. Statt dessen haben sie einander bekämpft. Nicht der gemeinsame Vorfahre ist nunmehr identitätstiftend, sondern die Feindschaft und der aus ihr folgende Riß durch das Genos. Beide stehen mit ihren Interessen für ihren Teil des γένος, für ihr γένος. Eurystheus verhält sich demnach in Übereinstimmung mit den Interessen seines γένος, wenn er die Opposition zu Herakles konsequent aufrecht erhält. Die praktischen Gründe wie Machterhalt nennt Eurystheus selbst (E. Heracl. 1000–1008), die zugrundeliegende Ursache ist das Denken in Familienzusammenhängen. Es überträgt die Auseinandersetzung mit Herakles nach dessen Tod auf seine Kinder und deren Nachkommen. Auch nach Generationen wird Eurystheus wieder auf der Gegenseite stehen und als Feind der Herakliden wirken. Das bedeutet freilich, daß er die Opposition zu Athen aufgibt, das er eben noch bekämpft hat, und sozusagen die Seiten wechselt. Doch Athen war ohnehin nur stellvertretend feind, weil es den Herakliden half. Abgesehen von dem Schutz seines Lebens, mit dem die Stadt Eurystheus bereits als Verbündeten gewinnt, kann sie dann, wenn sich die Herakliden gegen die ehemalige Helferin wenden, des Bündnisses mit Eurystheus sicher sein.108 Die Begründung durch ein Orakel legt dem antiken Zuschauer 107

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So Wilkins (1993) 187 (ad 1014–1015). Wilkins parallelisiert Eurystheus mit Oidipus. Beide seien machtlose Exulanten, die Athen mit ihrem Tode Hilfe gegen die eigene Heimatstadt versprächen. In einem entscheidenden Punkt allerdings unterscheidet sich ihre Situation. Oidipus verläßt Theben als Heimatloser, weil er dort nicht mehr gelitten wird. Eurystheus dagegen verläßt Argos als Herrscher und im Bewußtsein seiner (vermeintlichen) Stärke. Er wird erst durch die Ereignisse des Dramas zum Exulanten, wie die Herakliden erst durch den Sieg in der Schlacht zu den zukünftigen Besitzern der Stadt Argos werden. Nicht erlittenes Unrecht hält Eurystheus von seiner Heimat fern, sondern die Aussicht auf zukünftige Vergeltung. Daß ein besiegter Feind anschließend Schutzfunktion erhält, ist ein wiederkehrendes Muster, vgl. Kearns (1989) 49–50. Unklar ist, ob Eurystheus’ Schutzfunktion nach dem Tode

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darüber hinaus nahe, daß die neue Konstellation dem Willen der Götter entspreche. Außerhalb des Textes macht die zeitgenössische Konstellation den plötzlichen Seitenwechsel plausibel.109 Eurystheus beschreibt sein zukünftiges wohltätiges Handeln mit Begriffen, die seine Argumentation am Genos ausrichten. Er vergelte mit dem Orakelspruch das Geschenk von Freiheit und Leben (E. Heracl. 1026–1028), er werde den Heraklesnachkommen ein schärfster Feind sein (E. Heracl. 1034 ἐκγόνοισι), die im Gegensatz zu ihm das Geschenk des Lebens verraten würden (E. Heracl. 1036 χάριν προδόντες τήνδε), so werde er den Freunden helfen, den Feinden schaden (E. Heracl. 1043–1044).110 Mit dieser starken Ausrichtung an den Regeln des gesellschaftlichen χάρις-Austauschs steht er in deutlichem Kontrast zu den Nachkommen des Herakles, die eine erfahrene Charis allen Beteuerungen zum Trotz vergessen werden. In gesellschaftlicher Hinsicht, wenn auch nicht in kriegerischer – er lehnt den Zweikampf ab –, entspricht sein Verhalten den Erwartungen an γενναιότης.111 προστρόπαιος und γενναῖος sind sprachlich aufs engste verbunden (τε). Inhaltlich bezeichnen sie in gewisser Weise einen Gegensatz, hier jedoch sind sie in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Ein γενναῖος erwartet, sich in der starken Position zu sehen, als derjenige, an den sich andere flehend wenden und der ihre Bitte entweder großzügig gewährt oder aus der Vollmacht seiner Autorität ausschlägt. Dagegen ist Eurystheus selbst in die Situation geraten, ein προστρόπαιος zu sein, eben weil er sich als ein γενναῖος verhalten hat. Daher müsse man ihn als zugleich προστρόπαιος und γενναῖος ansprechen, denn das eine Prädikat ist ohne das andere nicht möglich, und im einen liegt das andere begründet. Alkmene reagiert nicht inhaltlich auf Eurystheus’ erste Rede und nur mit einer zynischen Bemerkung auf seine zweite (E. Heracl. 1045–1049). Ihr Sinnen geht ganz auf die Rache an ihrem und ihres Sohnes Widersacher. Der Chor rät ihr, nicht auf Eurystheus’ Tod zu bestehen. Daraufhin versucht Alkmene, sein Ende

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Euripides’ Erfindung ist. Vgl. Grethlein (2003a) 424–427. Furley (1995) 77–79 warnt davor, die Aktualität mythischer Stoffe in zu engen Zusammenhang mit dem Zeitgeschehen zu bringen und etwa als politische Stellungnahme zu lesen, eher schaffe der mythische Rahmen eine „überzeitliche Perspektive“. Zu diesem ethischen Prinzip vgl. Blundell (1989). Eurystheus leitet seine Aussage, vielleicht zunächst verblüffend, mit ἐντεῦθεν ein. Wecklein (1885) 153 (ad 1013f. = 1014–1015 nach moderner Zählung) bezieht den Konnektor direkt auf ἀντήκουσας: du hast mich gehört und bist deshalb wissend und mußt mich entsprechend benennen und weißt, was ein Verhalten deinerseits bedeutet. Nach den vorangegangenen Überlegungen ist ἐντεῦθεν in seinem ganzen Gewicht deutlich, Alkmene hat ein „aristokratisches Schwergewicht“ vor sich. Unklar bleibt für mich, was Avery (1971) 561–562 meint, wenn er sagt, Eurystheus werde mit dem Attribut γενναῖον in den Kreis um Herakles und seine συγγενεῖς aufgenommen. Eine Versöhnung der beiden γένη findet ja eben nicht statt. Allan (2001) 214 (ad 1014–1015) erklärt γενναῖον als „noble“ in dem Sinn, daß Eurystheus die Athener von der Befleckung seines Todes freispreche (ähnlich Wilkins (1993) 187–188 (ad 1014–1015) mit Pearson „one who releases from blood-guilt“). E. Heracl. 1011–1013 oder 1027 mag sich in dieser Weise deuten lassen; inwiefern jedoch γενναῖον diesen Sinn tragen sollte, ist offen.

172 Euripides

mit einem spitzfindigen Argument zu erschleichen.112 Sie will Eurystheus töten lassen und ihn den Bürgern anschließend übergeben (E. Heracl. 1018–1025). Zweierlei stößt den modernen Leser hier ab: Alkmene möchte Rache nehmen und spricht dies offen und in drastischen Worten aus (δεῖ σε κατθανεῖν κακῶς ... χρῆν γὰρ οὐχ ἅπαξ θνήισκειν σε πολλὰ πήματ’ ἐξειργασμένον, E. Heracl. 958–960 – jetzt mußt du schmachvoll sterben ... denn mehr als einmal verdientest du den Tod für deine vielen Frevel). Hier weicht die antike Beurteilung von unserem Rechtsempfinden ab. Der Chor äußert explizit Verständnis für Alkmenes Gefühle und nennt sie verzeihlich (συγγνωστόν, E. Heracl. 981).113 Zweitens verstößt Alkmene mit ihrem Wunsch, Eurystheus zu töten, gegen athenisches Recht (οὐκ ἔστ’ ἀνυστὸν τόνδε σοι κατακτανεῖν ..., E. Heracl. 961–972 – es ist dir nicht gestattet, diesen Mann zu töten ...). Sie zerreißt damit die Bande, die sie und ihre Familie mit Athen verbinden und die durch die Aufnahme soeben erneuert worden sind. Iolaos hatte sich in der ersten Szene auf eine alte χάρις berufen, die die Athener in die Pflicht nahm; die Athener kamen ihr nach, und nun sind die Herakliden in der Pflicht. Dem wird Alkmene nicht gerecht. Makaria hatte diese Verpflichtung gespürt und angenommen (E. Heracl. 503–519), ebenso Iolaos und Hyllos mit ihrem Einsatz in der Schlacht. Alkmene setzt sich dagegen von der ethischen Haltung ihres γένος ab.114 Tragischerweise ist es just Alkmenes Genos-Verbundenheit, die diesen Bruch und damit den Konflikt zwischen Genos und Polis bewirkt.115 Wieder müssen wir feststellen, daß ein Konflikt innerhalb des aristokratischheroischen Wertekanons negative Auswirkungen hat. Beides, sowohl die Rache für erlittenes Unrecht als auch die Verpflichtung durch erfahrene χάρις, sind Forderungen des einen moralischen Rahmens, in dem Alkmene lebt und denkt. Bis zur letzten Szene ist die Handlung des Dramas in hohem Maße an den Vorstellungen des aristokratischen Austauschs von Geben und Nehmen orientiert und nimmt einen glücklichen Verlauf. Alkmene weicht davon ab und verschafft damit den Athenern einen Vorteil gegenüber ihren eigenen Nachkommen.

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Vgl. Erbse (1979) 133–134. Der Chor hält Alkmenes Drängen eine Weile stand; inwieweit er sich auf ihren Handel letztlich einläßt, ist unklar, weil wohl ein Teil der Schlußpartie fehlt. Die Schlußverse des Chores legen meines Erachtens nahe, daß die Athener den Mord nicht gutheißen; es ist höchst unwahrscheinlich, daß der Chor sich kommentarlos gegen Demophons Haltung wendet. Hinzu kommt, daß Alkmene eine ähnliche Argumentation verwendet wie die, die Demophon beim argivischen Herold entschieden zurückgewiesen hatte: Alkmene bietet an, den Mord zu übernehmen und den Athenern dann die Leiche zu übergeben, so müßten sie sich nicht die Hände beschmutzen (E. Heracl. 254–256). So auch Wilkins (1993) xxx-xxxi und 193 (ad 1052), anders Conacher (1967) 118–120, Erbse (1979) 133–134. Rache wurde in der Antike wesentlich weniger negativ beurteilt, vgl. Grethlein (2003a) 419–420 mit Literatur. Vgl. Grube (1941) 172–175, Conacher (1967) 117–118, Avery (1971) 556–558, Burian (1977) 19, Erbse (1979) 133–134, Wilkins (1993) xii-xiii. Vgl. Mendelsohn (2002) 121.

Herakliden

173

5.2.5 Zusammenfassung Der größte Teil der Belege für εὐγενής/γενναῖος häuft sich im Zusammenhang mit Makarias Opfer und bezieht sich fast ohne Ausnahme auf Mitglieder von Herakles’ Familie. Die Belege finden sich in einem aristokratisch-heroischen Kontext und sind in ihrer Bedeutung unproblematisch. Die letzten beiden Belege der Tragödie für εὐγενής/γενναῖος stehen isoliert von den anderen und müssen wohl aufeinander bezogen werden. Alkmene wird vom Boten zu den γενναῖοι gerechnet, als er seine Herrin daran erinnert, daß sie ihm die Freiheit für die gute Botschaft versprochen habe. Eurystheus nennt sich selbst γενναῖος, als er gefangen vor Alkmene steht und dem Tod ins Auge blickt. Alkmene gehört zwar zu Herakles’ Familie und entspricht mit ihrem Wunsch nach Rache einer Forderung des aristokratischen Wertekanons. Sie scheidet jedoch aus der Wertegemeinschaft aus, weil sie die eben erneuerten gegenseitigen Verpflichtungen der traditionellen χάρις nicht erfüllt. Eurystheus gehört zum Kreis der γενναῖοι, obwohl er ein Vertreter der Gegenseite ist. Oft ist gesehen worden, welche Parallelen zwischen Alkmene und Eurystheus bestehen, noch häufiger ist formuliert worden, daß sie die Rollen in der letzten Szene tauschen.116 Auffallend ist, daß sich mit den verkehrten Verhältnissen auch das Verhalten der Charaktere und folglich auch das Urteil des Zuschauers/Lesers verändert.117 Kaum fühlt Alkmene, daß sie die Oberhand hat, spricht sie unbeherrscht, blutrünstig und egoistisch.118 Dagegen wirkt Eurystheus nach seiner Niederlage in der Schlacht gefaßt, milde und wohltätig. Alkmene scheitert an dem Konflikt zweier Forderungen. Der aristokratischheroische Wertekanon erweist sich als schwankendes Fundament. Die anderen handelnden Vertreter der Familie führen nicht nur die einschlägigen Begriffe im Munde, sondern handeln auf ihrer Grundlage so, daß es für sie und ihre Verbündeten von Vorteil ist. Alkmenes Auftritt in der letzten Szene zeigt jedoch, wie unzulänglich die Werteordnung ist.119 Ihr fehlt das Kriterium der Polis und 116

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Zu den Parallelen z. B. Zuntz (1955) 36–37, zur Rollenverkehrung z. B. Mendelsohn (2002) 51–55, Grethlein (2003a) 387–388. Burnett (1976) 23–24 betont neben der strukturellen Ähnlichkeit der beiden Figuren ihre moralische Verschiedenheit. Vgl. Fitton (1961) 457. Das deutet sich schon in der vorangehenden Szene an, in der sie Hyllos’ Diener, ehe sie weiß, wer er ist und was er berichten will, anfährt und bedroht (E. Heracl. 646–660). Ähnlich Guerrini (1972) 66, Burian (1977) 20–21. Mendelsohn (2002) 90–91 sieht im freiwilligen Opfertod des Mädchens die Unzulänglichkeit des maskulinen Heroismus und leitet daraus die Forderung der Neuformulierung des Wertekanons ab. Makarias Selbstopfer kann meines Erachtens diese Forderung nicht oder nicht alleine begründen, weil sich Makaria in ihrer Argumentation und die anderen Personen in ihren Reaktionen in affirmativer Weise auf den heroischen Wertekanon berufen; eine kritische Darstellung ist hier nicht zu erkennen. In der Deutung von Pozzi (1993) 30 stellt Euripides die εὐγένεια in den Herakliden immerzu in Frage und bringt die Vorstellung eines Herzensadels vor. Dies erscheint mir allerdings als hineingelesen. Die Begriffe der fraglichen Wortfamilie sind, wie wir sahen, fast durchgehend in traditionellem und unkritischem Sinne gebraucht. Erst mit Alkmenes und Eurystheus’ Auftreten in der Schlußszene werden Zweifel an der Tauglichkeit des Werterahmens laut, an dem sich ein Vertreter der alten Aristokratie orientiert. Nach Burnett (1976) 5–14 gibt das Stück eine Werteordnung vor, die durch die Priorität und Überlegenheit des göttlichen Rechts geprägt sei. Das entspricht meines Erachtens einer Be-

174 Euripides

des Respekts vor deren Wertsetzungen.120 Deshalb übersieht Alkmene, daß die Situation ein Handeln nach den Regeln des χάρις-Austauschs verlangt, nicht nach den Regeln der verletzten Ehre und Rache. Alkmene übersieht, daß die Berücksichtigung der Polis ihrem Genos einen Vorteil verschaffen würde. Alkmenes Handeln zeigt, daß der überkommene Wertekanon erneuert werden muß. Eurystheus dagegen bleibt seinem Genos treu, wenn er die Feindschaft zu den Nachkommen der Herakliden aufrecht erhält, und erzeigt sich zugleich als wohltätig gegenüber der Polis Athen. Mit dieser Wohltätigkeit erfüllt er wiederum die Verpflichtung der erfahrenen χάρις. Wir gingen wohl zu weit, wenn wir annähmen, Eurystheus’ Handeln zeige, wie der aristokratisch-heroische Kanon zu erneuern sei. Es zeigt aber, daß er erneuert werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch Makarias freiwilliger Opfertod zu sehen. Neben der rituellen Funktion, die der Mythos in der griechischen Lebenswelt hatte, erfüllt er innerhalb der Tragödie eine dramatische Funktion. Er bewahrt die Konstellation vor einem simplifizierenden Entweder-Oder. Athen weigert sich, das geforderte Opfer an einem eigenen Mädchen zu vollziehen, die Forderung gibt dafür den Herakliden Gelegenheit, ihren Anteil zur Rettung beizutragen, ja sogar Heldenmut zu beweisen, Alkmene wiederum wendet sich anschließend ab. Weil jede Partei im Verlauf des Dramas ihre Schattenseiten zeigt, finden wir weder eine eindeutige noch eine feste Verteilung von Freund und Feind vor. Auch Demophons Zögern erscheint vor Alkmenes verderblicher Ausrichtung auf das Genos in neuem Licht. Die Weigerung, ein athenisches Mädchen zu opfern, erschien schon manchen Interpreten als ein Versagen, als Zeichen dafür, daß Euripides den moralischen Niedergang Athens habe anklagen wollen. Vor dem Hintergrund von Alkmenes rigider Haltung und deren negativer Wirkung muß man Demophons Handeln neu beurteilen. Er berücksichtigt die Polisgemeinschaft und ihr Wohlergehen. Sie sind ihm das entscheidende Kriterium. Und in der Tat: Nichts wäre gewonnen gewesen, wenn er unter Berufung auf die Forderungen der ξενία ein Mädchen gegen Widerstände getötet und damit einen Bürgerkrieg verursacht hätte. Das hätte nicht nur Athen, sondern mit ihm auch die Herakliden in den Abgrund gezogen. Die Polis rückt in einer Hierarchie der Werte vor das Genos. Das Drama ist durch Wiederholungen gekennzeichnet. Die Herakliden suchen zum wiederholten Male einen Altar auf und bitten um Asyl, der argivische Herold betritt zum wiederholten Male die Bühne, um die Flüchtigen einzufordern, nach der Aufnahme durch Athen steht die scheinbar erfolgreiche Rettung in Frage und muß durch ein Mädchenopfer wiederholt werden, die letzte Szene der Tragödie wiederholt verkehrt die Ausgangssituation von Verfolgtem und Verfolger und schließt endlich mit der Drohung einer Auseinandersetzung zwischen den Heraklesnachkommen und Athen.121 Diese Andeutung evoziert den

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kräftigung der traditionellen Hierarchie, die aufgrund der Schlußszene unwahrscheinlich ist. Zur Bedeutung des Polisgedankens in den Herakliden vgl. auch Peplinski (1994) 77–78. Vgl. Albini (1993) 110–111. Der Schluß dient neben anderen Erwägungen der Datierung der Tragödie. Die meisten Forscher gehen von einem Zeitraum zwischen 430 und 427

Herakliden

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Unmut der Athener, den diese zeigten, als Kore das Mädchenopfer gefordert hatte. An diesem Punkt regte sich Unwillen gegen die Asylanten; rückblickend und angesichts des Peloponnesischen Krieges dürfte er den athenischen Zuschauern berechtigt erscheinen.122 Als für die Deutung relevant erwiesen sich die Wiederholungen, die die Konstellation verändern, also der freiwillige Opfertod und der Schluß des Stückes. Die Herakliden sind viel kritisiert worden. Das Drama sei konfus, ohne erkennbare dramatische Technik geschrieben, unverbundenes Stückwerk.123 Andere anerkennen zumindest die handwerkliche Seite,124 wieder andere schätzen die Tragödie für ihre Exempla der condicio humana: Es gehe um Hybris und Aufrichtigkeit, Gesetz und Natur, Kriterien des Handelns.125 Es mag der Tragödie für den heutigen Geschmack wohl an prägnanten Charakteren mangeln, wie wir sie von Sophokles oder aus anderen EuripidesStücken kennen. Die auftretenden Figuren mögen geschliffen erscheinen, unrealistisch edelmütig, und der moderne Leser ist vielleicht froh, wenn Alkmene elementaren Gefühlsausbrüchen Raum gibt. Gerade in der Konfrontation von gesellschaftlicher Konformität und Unangepaßtheit läßt sich problematisieren, was einer Lösung bedarf. Dies tut der Dichter implizit, seine Antworten liegen nicht offen zutage; eine Erörterung ist Sache des Theoretikers.126 So sieht der eine Zuschauer oder Leser das eine, der andere das andere. Unter dem Blickwinkel unserer Fragestellung erweist sich die Tragödie als ergiebig und relativ klar: Herakles, die Vertreter seiner Familie und Demophon heißen εὐγενής/ γενναῖος, weil sie sich im Rahmen des aristokratisch-heroischen Wertekanons rühmlich verhalten, wobei sie ihn dort, wo es nötig ist, auf die Polis hin öffnen, und sich so ihrer Herkunft als würdig erweisen. Die Eindeutigkeit dieses Maßstabs gerät ins Wanken, als Alkmene – auch sie eine Vertreterin des Adels und auch sie im Rahmen des aristokratisch-heroischen Wertekanons handelnd – die eben erneuerten und rettenden gesellschaftlichen Bande zerreißt und Eurystheus – eben noch der todbringende Erzfeind – sich unwidersprochen in die Reihe der γενναῖοι einreiht.

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v. Chr. aus, am ehesten wohl 430 v. Chr. Dieser Ansatz paßt am besten zum Einfall der Spartaner. Eine ausführliche Behandlung der Datierungsfrage z. B. bei von Wilamowitz (1875) 151–152, Zuntz (1955) 81–88, Conacher (1967) 120–124, Durand (1967), O’ConnorVisser (1987) 19–20, Wilkins (1993) xxxiii-xxxv, Furley (1995) 83–85, Allan (2001) 54–56. Vellacott (1975) 182 plädiert für die Jahre 427/426 v. Chr. Conacher (1967) 120–124 zieht außerdem die Möglichkeit einer Aufführung 418/417 v. Chr. in Betracht; dafür spräche die athenische Feindschaft mit Argos. Dagegen favorisiert Vitali (2004) 187 eine Datierung um 420, das Jahr einer neuen Allianz zwischen Athen und Argos. Ähnlich Furley (1995) 87. So z. B. von Wilamowitz (1882) 343, Schmitt (1921) 56, Grube (1941) 51 und 166, Smethurst (1949/50) 288. „Not a great play, but ... well constructed“, Webster (1967) 105. Zuntz (1955) 51–54. Dies ist auch Fitton (1961) 461 zu entgegnen, der sich daran stört, daß im Stück bestimmte Fragen angelegt, aber nicht gestellt seien, wie die nach der Identifikation von εὐγένεια und menschlicher Exzellenz.

176 Euripides

Die überkommenen Handlungskriterien genügen den Anforderungen nicht. Die Interessen des Genos lassen sich nicht von denen der Polis trennen; Alkmene übersieht, daß die Rücksicht auf die Interessen der Stadt auch denen ihres Genos förderlich wäre. Der Blick auf das Wohlergehen der Stadt und ihrer Gemeinschaft ist eine Forderung der demokratischen Polis. Dies zeigt die Richtung der notwendigen Neuorientierung.

5.3

Elektra

Wie die Herakliden hat auch die Elektra in der Neuzeit eine schlechte Kritik erfahren. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Einheitlichkeit der Tragödie und die Meisterschaft der Charakterisierung untersucht und gewürdigt worden. Für unsere Fragestellung ist die Tragödie nach der Zahl der Belege (zwölf) und inhaltlich wichtig, denn sie bildet innerhalb von Euripides’ Werk eine Zäsur. Anders als in Alkestis und Herakliden gebrauchen die Sprecher die Begriffe εὐγενής und γενναῖος nicht einfach zur Beschreibung und Bewertung von Personen und Handlungen, sondern machen sie zum Gegenstand ihrer Rede.

5.3.1 Der Bauer Ein Bauer spricht den Prolog. Er erklärt die Situation zu Beginn des Dramas und seine eigene Rolle. Agamemnon war nach seiner Rückkehr von Troja von seiner Frau Klytaimestra und ihrem Liebhaber Aigisthos ermordet worden; den Thron hatte Aigisthos bestiegen. Agamemnons alter Erzieher hatte Orestes bei Strophios untergebracht, und Elektra war im Palast geblieben (Eur. El. 1–19). Soweit entspricht die Vorgeschichte der überlieferten Fassung des Mythos. Neu ist, daß Aigisthos in seiner Angst Elektra einem Bauern zur Frau gibt. In diesem Zusammenhang finden sich die ersten beiden Belege für γενναῖος / εὐγένεια: δείσας δὲ μὴ τωι παῖδ’ ἀριστέων τέκοι127 Ἀγαμέμνονος ποινάτορ’, εἶχεν ἐν δόμοις Αἴγισθος οὐδ’ ἥρμοζε νυμφίωι τινί. ἐπεὶ δὲ καὶ τοῦτ’ ἦν φόβου πολλοῦ πλέων, μή τωι λαθραίως τέκνα γενναίωι τέκοι, κτανεῖν σφε βουλεύσαντος ὠμόφρων ὅμως μήτηρ νιν ἐξέσωσεν Αἰγίσθου χερός. ἐς μὲν γὰρ ἄνδρα σκῆψιν εἶχ’ ὀλωλότα, παίδων δ’ ἔδεισε μὴ φθονηθείη φόνωι. ἐκ τῶνδε δὴ τοιόνδ’ ἐμηχανήσατο Αἴγισθος· ὃς μὲν γῆς ἀπηλλάχθη φυγὰς Ἀγαμέμνονος παῖς, χρυσὸν εἶφ’ ὃς ἂν κτάνηι, ἡμῖν δὲ δὴ δίδωσιν Ἠλέκτραν ἔχειν δάμαρτα, πατέρων μὲν Μυκηναίων ἄπο γεγῶσιν (οὐ δὴ τοῦτό γ’ ἐξελέγχομαι·

127

Wie Basta Donzelli (1981) zeigt, spricht der Argumentationsgang für die handschriftlich überlieferte Lesart (δείσας δὲ μὴ τωι παῖδας Ἀργείων τέκοι, E. El. 22). Für unsere Überlegungen spielt diese Frage keine entscheidende Rolle.

Elektra

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λαμπροὶ γὰρ ἐς γένος γε, χρημάτων δὲ δὴ πένητες, ἔνθεν ηὑγένει’ ἀπόλλυται), ὡς ἀσθενεῖ δοὺς ἀσθενῆ λάβοι φόβον. (E. El. 22–39) Doch Aigisthos, aus Furcht, sie könne einem Helden einen Sohn, als Rächer Agamemnons, schenken, hielt zu Haus sie fest und gab sie keinem Manne in die Ehe. Uns weil sogar die Furcht ihn quälte, heimlich könne sie einem Mann, der γενναῖος ist, Kinder gebären, ging er aus auf ihren Tod. Die Mutter freilich, einst so grausam, bewahrte vor dem Anschlag sie des Aigisthos. Denn für den Gattenmord besaß sie einen Vorwand, doch bangte sie, es werde ihr ein Kindermord nur Haß einbringen. Daher wandte Aigisthos sich andren Plänen zu: Gold bot er aus für den, der Agamemnons Sohn, den Landesflüchtigen, ermorde; und Elektra gab er mir zur Frau – zwar waren meine Väter Bürger von Mykenai, in dieser Hinsicht ist an mir nichts auszusetzen; doch das Geschlecht, wenn angesehen auch, verarmte, wodurch die εὐγένεια verloren geht –; denn er hoffte, gäb er sie dem Schwachen, auch nur einen schwachen Feind sich auf den Hals zu laden.

Aigisthos fürchtet, daß Elektra Kinder gebiert, die später als Agamemnons Rächer auftreten könnten. Daher verwehrt er ihr zunächst eine Ehe und möchte sie dann sogar töten, weil er sich vor außerehelichem Nachwuchs ängstigt. Diese Furcht war auch in den Herakliden begegnet, mit denselben Konsequenzen: Eurystheus wünscht Herakles’ Nachkommen zu töten. In beiden Tragödien sind es jedoch nicht einfach Kinder, die als Gefahr betrachtet werden, sondern Kinder aus einem edlen Stamm (E. Heracl. 468 δεινὸν γὰρ ἐχθροῖς βλαστάνοντες εὐγενεῖς, denn furchtbar für Feinde sind Nachkommen, die εὐγενεῖς sind, und E. El. 26–27 μή τωι λαθραίως τέκνα γενναίωι τέκοι, / κτανεῖν σφε βουλεύσαντος). Aristokratische Kinder handeln nach dem aristokratischen Wertekanon und müssen die verletzte Ehre des Vaters rächen. Diese Verwendung des Begriffs γενναῖος und die implizierten Vorstellungen sind schon mehrfach im Laufe der Untersuchung begegnet und bedürfen deshalb keiner weiteren Besprechung.128 128

Vgl. etwa die Ausführungen zu τιμή und αἰδώς bei Homer, den Zug der Söhne der Sieben gegen Theben bei Pindar, die Argumentation und Verteidigung des Muttermords in der Orestie von Aischylos. – Basta Donzelli (1981) 269 geht an der vorliegenden Stelle von einem Bedeutungsunterschied zwischen γενναῖος und εὐγενής aus. γενναῖος bezeichne hier nicht einen Geburts-, sondern einen Herzensadel, verstanden als die Fähigkeit, Taten in Übereinstimmung mit dem eigenen Rang zu vollbringen. Aus Aigisthos’ und aristokratischer Perspektive könne sich das Prädikat nicht auf einen argivischen εὐγενής beziehen, der es wagte, heimlich gegen den König zu handeln. Vermutlich denkt Basta Donzelli mit dieser Wendung an die Tatsache, daß von einem epischen Helden der offene Kampf und nicht ein heimliches, listiges Handeln erwartet wird. Meines Erachtens ist es für Aigisthos jedoch ganz und gar unerheblich, ob der Adlige, der mit Elektra einen Erben und Rächer zeugen könnte, sich edel und im Einklang mit dem aristokratischen Kanon verhält, ob er also eine „nobiltà d’animo“ zeigt. Es kommt vielmehr darauf an, daß ein von ihm gezeugter Sohn als Kind eines Aristokraten und Enkel des ermordeten Königs drohte, in aristo-

178 Euripides

Der Gedankengang zeigt darüber hinaus den Ausweg, den Aigisthos findet, als Klytaimestra den Tod ihrer Tochter verhindert. Mit Klytaimestras Eingreifen ist es Aigisthos nicht mehr möglich, die Geburt von Nachkommen sicher auszuschließen. Aber er kann die Gefahr für sein Leben zumindest reduzieren, indem er dafür sorgt, daß Elektras Kinder nicht von einem aristokratischen Vater abstammen werden: ὡς ἀσθενεῖ δοὺς ἀσθενῆ λάβοι φόβον (E. El. 39). Die Wahl fällt auf einen Mann, der nach den gängigen Maßstäben als ἀσθενής einzuschätzen ist. Er ist arm und zählt damit nicht zu den γενναῖοι, von denen Aigisthos Elektra fernhalten will (E. El. 26). Der Bauer informiert den Zuschauer oder Leser über die Hintergründe seiner sozialen Position. Er stamme von mykenischen Vätern ab (πατέρων μὲν Μυκηναίων ἄπο, E. El. 35), was die Forschung einhellig als Abstammung aus altem, adligem Hause versteht.129 Zwar seien seine Vorfahren berühmt für ihre Herkunft (λαμπροὶ ἐς γένος, E. El. 37), aber arm an Gütern gewesen (χρημάτων πένητες, E. El. 37–38), wodurch εὐγένεια verloren gehe (ἔνθεν ηὑγένει’ ἀπόλλυται, E. El. 38). Das bedeutet, daß der Bauer zwar einer Familie entstammt, die einmal zu den εὐγενεῖς gehörte, daß er aber nicht die finanziellen Möglichkeiten hat, den Lebensstil zu pflegen, den Umgang zu haben und damit auch den Einfluß zu besitzen, der in der Aristokratie üblich ist.130 Damit ist die Identität von Geburtsadel und aristokratischem Status aufgehoben.131 Die Äußerung des Bauern über seine Herkunft steht im Zusammenhang mit anderen Äußerungen verschiedener Figuren dieses Dramas über die Bedeutung von Herkunft und Adel für das Verhalten und die Bewertung von Menschen. Bei dem Bauern werden wir unter anderem fragen müssen, inwieweit sein Reden und Tun auf seinem γένος einerseits und seiner Armut andererseits gründet. Der Bauer läßt uns im folgenden wissen, daß er mit Elektra keinen sexuellen Kontakt gehabt habe und sie noch Jungfrau sei. Er begründet sein Verhalten mit der Scheu (αἰσχύνομαι), an den Kindern der Reichen (ὀλβίων ἀνδρῶν) zu freveln (ὑβρίζειν), da er dessen nicht würdig sei (οὐ κατάξιος γεγώς). Er bedau-

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kratischer Weise die alte Ordnung wiederherzustellen. Elektras Ehe mit dem Bauern zeigt aufs deutlichste, daß γενναῖος hier einen Mann bezeichnet, der von hoher Geburt ist und zur aristokratischen Gesellschaftsschicht gehört. Schiassi (1958) 41 (ad 25–28) spricht von einem Unterschied zwischen γενναῖος und εὐγενής, gibt aber dieselbe Bedeutungsbreite an; beide Begriffe bezeichneten Geburts- und Charakteradel. Vgl. z. B. Denniston (1939) 57–58 (ad 35), Schiassi (1958) 43 (ad 31–39), Arnheim (1977) 172, Cropp (1988) 102 (ad 35–38). Taccone (1960) 25–26 (ad 31–39) assoziiert den Stolz der Athener auf ihre alten Bürgerrechte, ähnlich Cropp (1988) 102 (ad 35–38). Etwas zurückhaltender Michelini (1987) 189 Anm. Für die Unvereinbarkeit von Armut und hohem Status verweist Cropp (1988) 102 (ad 35– 38) unter anderem auf Alc. 360 LP, Pi. I. 2, 9–12. Roisman/Luschnig (2011) 94 (ad loc.) halten für unklar, was gemeint sei, entweder Arme hätten keine εὐγένεια oder sie bräuchten keine. Meines Erachtens ist der Sinn von ἀπόλλυται klar: Wenn man verarmt, zählt die εὐγένεια nichts mehr, vgl. auch Taccone (1960) 26 (ad 31–39). Thury (1985) 8–12 weist darauf hin, daß materialistische Begriffe für Elektra eine Metapher für ihren entehrten Status seien; Reichtum sei in Elektras Augen zwar nicht der Nährboden, wohl aber ein Zeichen von Adel, daher auch ihre Verachtung der Armen. – Zur Verbindung von Adel und Reichtum vgl. auch Donlan (1980) 137–143. So Schiassi (1958) 43 (ad 31–39). Vgl. auch Denniston (1939) 80–82 (ad 253).

Elektra

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re Orestes, weil dieser, wenn er nach Argos komme, die unglückliche Ehe der Schwester sehen müsse (E. El. 45–49). Der Bauer hält sich für seiner Frau Elektra nicht würdig; bezeichnenderweise beschreibt er sich als οὐ κατάξιος γεγώς. Er verwendet das Perfekt und deutet so an, daß er sich aufgrund seiner Herkunft als nicht würdig betrachte, Elektra gegenüber als Ehemann aufzutreten. Der ehemals edle Stamm, den er eben noch im Munde führte, hat offensichtlich keine Auswirkungen auf seine gesellschaftliche Selbstwahrnehmung. Unter normalen Umständen wäre er niemals Elektras Gatte geworden, und so beschreibt er den Vollzug der Ehe, vor dem er zurückschreckt, mit dem starken Begriff der ὕβρις. Elektra behält in den Augen des Bauern demnach trotz ihres Sturzes in die Armut ihren aristokratischen Status. Er formuliert die Begründung ganz allgemein, wenn er von den Kindern der Reichen (ὀλβίων ἀνδρῶν τέκνα) spricht. Für den Bauern sind Elektra und Orestes Agamemnons Kinder; das bestimmt ihren Stand und sein Verhalten ihnen gegenüber. Der Bauer schließt den Prolog mit dem Hinweis, daß derjenige, der ihn einen Toren schelte, weil er seine junge Frau nicht anrühre, selbst ein Tor sei, weil er die Besonnenheit (τὸ σῶφρον) mit minderwertigen Maßstäben (πονηροῖς κανόσιν) messe (E. El. 50–53). Obwohl ein gewisser Stolz über seine Herkunft herauszuhören ist, nimmt der Bauer keinerlei Anstoß an dem sozialen Kriterium des Reichtums, das seiner Familie mit dem wirtschaftlichen auch den gesellschaftlichen Abstieg brachte. Er achtet die gesellschaftlichen Grenzen über das Maß hinaus, das die anderen (ὅστις δὲ) erwarten und für recht und billig halten. Er selbst nennt dieses Verhalten besonnen (σῶφρον) und meint, daß eine andere Einschätzung den Urteilenden selbst als nichtswürdig erscheinen lasse. Mit dem Begriff des πονηρός beschreibt der Bauer seinen Kritiker als moralisch und gesellschaftlich niedrig. Sein eigenes Verhalten dagegen ist ihm – im Umkehrschluß – Ausweis eines besonders guten und vorbildlichen Wertmaßstabs. Euripides erreicht mit der neuen, alltäglichen Szenerie Verschiedenes, das die Interpreten je nach ihrem Blickwinkel betonen. Das alltägliche Umfeld der Handlung zeigt die antiheroischen Züge der Charaktere, Handlungen sind deutlicher psychologisch motiviert, die Normalität der Verhältnisse kann eine Identifikation des Zuschauers mit den Bühnenfiguren fördern, komische Elemente wechseln mit tragischen.132 Wichtig erscheint mir, daß die Zuschauererwartungen an die tragische Szenerie und das Personenrepertoire nicht erfüllt werden, weil das traditionelle aristokratische Milieu aufgebrochen ist. Dieser Bruch bereitet den Boden für die Überlegungen zum Adel, seinen Merkmalen und seinem Wert, die in der ersten Hälfte des Dramas von verschiedenen Figuren angestellt werden.

132

Vgl. z. B. Webster (1967) 147, Vellacott (1975) 49, Eisner (1979) 166–167, Gellie (1981) 1–3, Strohm (1981) 141–142, Lloyd (1986a) 19, Michelini (1987) 181–230, de Romilly (1992) 244, Luschnig (1992) 13, Goff (1999/2000), Hose (2008b) 95, Papadimitropoulos (2008) 115. Michelini (1987) 182 weist darauf hin, daß dramatische Illusion und alltägliche Exaktheit ein Widerspruch seien. Kubo (1967) zeigt, daß die Veränderung des Mythos zwar eine neue, aber keine moderne Situation schaffe; die Haltungen und Handlungen, die sich aus den Statusfragen ergäben, seien höchst archaisch und paßten ihrerseits wieder in andere mythische Muster.

180 Euripides

Im ersten Epeisodion begegnen sich die Geschwister; Orest weiß, daß er die Schwester vor sich hat, Elektra dagegen glaubt, er sei ein Bote des Bruders (E. El. 228). Entgegen der Erwartung des Zuschauers/Lesers kommt es in diesem Akt nicht zur Wiedererkennung.133 Orest und Elektra sprechen über ihre eigenen Lebensumstände, das Verhalten von Aigisthos und Klytaimestra und über den Mord an ihnen (E. El. 229–338). Es liegt nahe, daß Elektras Ehe mit dem Bauern Gesprächsthema ist. Elektra bezeichnet ihre Ehe als tödlich (θανάσιμον γάμον, E. El. 247) und verweist auf ihre abgelegene Hütte (E. El. 251): Ορ. Ηλ. Ορ. Ηλ. Ορ. Ηλ. Ορ. Ηλ. Ορ. Ηλ. Ορ.

σκαφεύς τις ἢ βουφορβὸς ἄξιος δόμων. πένης ἀνὴρ γενναῖος ἔς τ’ ἔμ’ εὐσεβής. ἡ δ’ εὐσέβεια τίς πρόσεστι σῶι πόσει; οὐπώποτ’ εὐνῆς τῆς ἐμῆς ἔτλη θιγεῖν. ἅγνευμ’ ἔχων τι θεῖον ἤ σ’ ἀπαξιῶν; γονέας ὑβρίζειν τοὺς ἐμοὺς οὐκ ἠξίου. καὶ πῶς γάμον τοιοῦτον οὐχ ἥστη λαβών; οὐ κύριον τὸν δόντα μ’ ἡγεῖται, ξένε. ξυνῆκ’· Ὀρέστηι μή ποτ’ ἐκτείσηι δίκην. τοῦτ’ αὐτὸ ταρβῶν· πρὸς δὲ καὶ σώφρων ἔφυ. φεῦ· γενναῖον ἄνδρ’ ἔλεξας, εὖ τε δραστέον. (E. El. 252–262)

Or. El. Or. El. Or. El. Or. El. Or. El. Or.

So wohnt ein Erdarbeiter oder Rinderhirt. Arm ist er, doch γενναῖος und rücksichtsvoll zu mir. In welchem Sinne ist dein Gatte rücksichtsvoll? Noch niemals hat er es gewagt, mich anzurühren. Weil Keuschheit er gelobte? Weil er dich verschmäht? Er wollte nicht an meinen Eltern sich vergehen. Hat er sich einer solchen Ehre nicht gefreut? Für nicht befugt, Freund, hält er den, der mich ihm gab. Gewiß aus Furcht, Orestes könne einst ihn strafen. Ja, davor scheut er sich. Bescheiden ist er auch. Oh! Einen Mann, der γενναῖος ist, beschreibst du, man muß ihm Gutes tun.

Elektras Hinweis auf ihre einsame Wohnstatt läßt Orestes einen Gräber oder Hirten als ihren Gatten vermuten. Elektra faßt dies offensichtlich als eine Herabsetzung ihres Ehemannes auf. Denn sie reagiert mit einer positiven Beschreibung seines Verhaltens ihr gegenüber: Er sei zwar arm, doch γενναῖος und εὐσεβής gegen sie. Den sozialen Status hat Orestes mit den genannten Berufen richtig getroffen, was Elektra auch bestätigt (πενής). Sie versteht diese Klassifizierung jedoch auch als eine moralische, wenn sie der Armut seine εὐσέβεια gegenüberstellt. Das wirkt sich auf den Gebrauch des Begriffs γενναῖος aus. Ob Elektra von der ehemaligen εὐγένεια ihres Mannes weiß, ist unklar. Wenn ja, mag in dem Prädikat γενναῖος davon etwas mitschwingen; da sie jedoch keine weiteren Erklärungen dazu gibt, kann ihr Bruder γενναῖος in Verbindung mit

133

Eine sehr detaillierte Besprechung der Szene findet sich bei Schwinge (1968) 252–257, 295– 317. Zu Orestes’ Zögern vgl. auch Grube (1941) 302.

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πενής und εὐσεβής nur für eine charakterliche Eigenschaft halten.134 Orestes kann daher den Begriff abschließend nur in diesem Sinne verwenden. Elektra preist den Bauern dafür, daß er nie mit ihr Beischlaf gehalten habe. Dieses Verhalten ist Orestes unverständlich, und er äußert verschiedene Begründungen, die von Elektra zurückgewiesen werden: Der Grund ist nicht eine grundsätzliche Keuschheit oder Überheblichkeit von seiner Seite, auch nicht (nur) die Furcht vor einer Vergeltung des erwarteten Orestes (E. El. 256 und 260).135 Vielmehr scheue er sich, an ihren Eltern zu freveln (ὑβρίζειν), er erkenne Aigisthos nicht als ihren rechtmäßigen Vormund an und damit auch nicht die von ihm verfügte Ehe, außerdem sei er besonnen (σώφρων) (E. El. 257, 259, 261). Bis in die Wortwahl hinein gleichen sich die Begründungen des Bauern und Elektras. In unerhörter Deutlichkeit klingt hier erstmals in den erhaltenen Tragödien die Möglichkeit an, daß ein neuer, auf σωφροσύνη aufbauender Kanon innerer Werte den alten aristokratischen Kanon ablösen könnte.136 Doch das, was hier σῶφρον genannt wird, eignet sich nicht als Gegenentwurf. Wie der Bauer stolz darauf ist, lobt auch Elektra ihn dafür, daß er sich ihr unterlegen fühlt und die Ehe, die sie so hart ankommt, nicht vollzieht.137 Sie lobt damit ein Verhalten, das die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen anerkennt und bestätigt. Es ist bemerkenswert, daß der Bauer, der im ständigen Bewußtsein der ursprünglichen εὐγένεια seiner Familie lebt, das Kriterium ihres Statuswechsels (Besitz) so wenig hinterfragt, daß er an seinem jetzigen gesellschaftlichen Platz eine besondere Ehrfurcht vor den Vertretern der Aristokratie an den Tag legt. Im Gegensatz zu den meisten bisher besprochenen Stellen wird hier ein sozial Niedrigstehender mit dem Prädikat γενναῖος belegt. Die Bedeutung des Begriffs verschiebt sich: Vertreter der Aristokratie werden als γενναῖος bezeichnet, wenn sie sich als ihrer hohen Herkunft würdig erweisen oder erweisen sollen. Hier heißt der Bauer γενναῖος, weil er die hohe Herkunft der anderen respektiert und sich dem eigenen, niederen Status gemäß verhält. Allgemein formuliert beschreibt der Begriff ein Verhalten, das mit Herkunft und Status der beteiligten Personen im Einklang steht. Wie wenig der neue Begriff von γενναιότης dem überkommenen Statusbewußtsein entgegenzusetzen hat, zeigt auch Orestes’ Reaktion: Er möchte den Bauern belohnen (εὖ τε δραστέον). Hier spricht der Überlegene, der Königssohn, der den braven Bauern lobt,138 ungeachtet der Tatsache, daß er umständehalber nicht in der Position ist, Wohltaten zu verteilen. In der Schlußszene

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Denniston (1939) 80–82 (ad loc.) versteht den Begriff hier als ausschließlich charakterlich, ebenso Schiassi (1958) 75 (ad loc.). Vgl. Schiassi (1958) 77 (ad 260). Theognis hatte bereits die σωφροσύνη zu einem wesentlichen Bestandteil des aristokratischen Kanons erklärt (vgl. oben), doch hier wird sie das erste Mal in einer Tragödie mit der εὐγένεια verbunden. Donlan (1980) 138 nennt die Zuschreibung von σωφροσύνη an den Bauern einen direkten Angriff auf die aristokratische Position. Nach Michelini (1987) 229–230 ist dies eine Tugend derer, die nichts zu sagen haben, also Junge, Arme, Frauen, Sklaven. Vellacott (1975) 50–51 bezeichnet sein Verhalten als gönnerhaft und snobistisch.

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freilich wird dem Bauern Reichtum zugesprochen (E. El. 1287) – eine Gabe, die ihm nach den alten aristokratischen Kriterien Status verleiht. Die Rückkehr des Bauern vom Acker beendet das lange Gespräch zwischen Elektra und Orestes. An mehreren Stellen zeigt die Szene das Gefälle im Verhältnis der Eheleute, wenn sie gleichsam abwechselnd den anderen für sein Verhalten zurechtweisen. Gleich zu Beginn äußert sich der Bauer irritiert darüber, daß Elektra auf der Straße mit jungen Männern spricht. Seine Einstellung entspricht dem Rollenbild der euripideischen Zeit. Anders Elektras Antwort: Sie erklärt ihrem Mann nicht nur, daß die Fremden zu ihr gekommen seien, sondern bittet die Gäste auch noch um Entschuldigung für die Worte ihres Mannes (E. El. 341–348). Nachdem der Bauer erfahren hat, wer die beiden sind und was sie wollen, bittet er sie ins Haus. Schon lange hätte es sich gehört, ihnen die Tür zu öffnen: χωρεῖτ’ ἐς οἴκους· ἀντὶ γὰρ χρηστῶν λόγων ξενίων κυρήσεθ’, οἷ’ ἐμὸς κεύθει δόμος. καὶ μηδὲν ἀντείπητε, παρὰ φίλου φίλοι μολόντες ἀνδρός· καὶ γὰρ εἰ πένης ἔφυν, οὔτοι τό γ’ ἦθος δυσγενὲς παρέξομαι. (E. El. 358–359, 361–363) Geht nur ins Haus! Für eure gute Nachricht sollt ihr Gastgeschenke ernten, wie mein Haus sie birgt. Kein Widerspruch, ihr kommt von einem guten Freund als gute Freunde! Bin ich auch nur arm, so will ich trotzdem keine Sinnesart, die δυσγενής wäre, an den Tag legen.

Für die gute Nachricht sollen die Fremden seine Gastfreundschaft genießen (ξενίων κυρήσετε). Der Bauer ist sich der Armut seiner Behausung wohl bewußt, wenn er die Bewirtung mit der Ergänzung ankündigt, die Gäste sollten bekommen, was seine Vorratskammer eben enthalte, und betont, sie sollten die Einladung ja nicht ausschlagen. Der Bauer verhält sich tadellos und im Einklang mit den Erfordernissen der aristokratischen ξενία – wenn nur seine Armut nicht wäre. Diese Diskrepanz ist ihm bewußt; er schließt mit dem Widerspruch, den sein Verhalten für den Zeitgenossen beinhaltet: Wider Erwarten sind bei ihm Armut (πένης ἔφυν) und unaristokratische Haltung (ἦθος δυσγενές) nicht verknüpft.139 Der Bauer trennt hier explizit das Handeln nach den Maßstäben einer gesellschaftlichen Schicht von der Zugehörigkeit zu dieser Schicht. Indem er sich als Armer wie ein Adliger verhält, zeigt er, daß er die Werte des aristokratischen Kanons als gültig und wertvoll für jedermann erachtet. Damit löst er einerseits die bisher selbstverständliche Verbindung von Herkunft und Verhalten, andererseits bewahrt er in seinem Verhalten das als wertvoll, was im traditionellen aristokratischen Kodex als wertvoll festgelegt ist, und bestätigt so wiederum den Anspruch der aristokratischen Normen. 139

Schiassi (1958) 91 (ad 360–363) betont ganz den moralischen Sinn seiner Aussage. Roisman/ Luschnig (2011) 146 (ad 362–362) verweisen mit Cropp auf die Parallele zu Od. 14, 56–59 und 80–81. Michelini (1987) 196–197 meint, der Bauer sei sich bei der Einladung nicht bewußt, wie unwürdig sein Heim sei; die vorliegenden Verse zeigen jedoch klar, daß er darum weiß.

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Orestes ist irritiert (πρὸς θεῶν, E. El. 364, bei den Göttern!). Er versichert sich zunächst, daß er soeben Elektras Gatten kennengelernt hat. Er beschreibt ihn als den, der die Ehe heimlich nicht vollziehe, weil er ihn, Orestes, nicht der Schande aussetzen wolle (καταισχύνειν) (E. El. 364–365). Dann äußert sich Orestes über Möglichkeit oder Unmöglichkeit, εὐανδρία untrüglich festzustellen:140 οὐκ ἔστ’ ἀκριβὲς οὐδὲν εἰς εὐανδρίαν· ἔχουσι γὰρ ταραγμὸν αἱ φύσεις βροτῶν. ἤδη γὰρ εἶδον ἄνδρα γενναίου πατρὸς τὸ μηδὲν ὄντα, χρηστὰ δ’ ἐκ κακῶν τέκνα, λιμόν τ’ ἐν ἀνδρὸς πλουσίου φρονήματι, γνώμην δὲ μεγάλην ἐν πένητι σώματι. οὗτος γὰρ ἁνὴρ οὔτ’ ἐν Ἀργείοις μέγας οὔτ’ αὖ δοκήσει δωμάτων ὠγκωμένος, ἐν τοῖς δὲ πολλοῖς ὤν, ἄριστος ηὑρέθη. οὐ μὴ ἀφρονήσεθ’, οἳ κενῶν δοξασμάτων πλήρεις πλανᾶσθε, τῆι δ’ ὁμιλίαι βροτῶν κρινεῖτε καὶ τοῖς ἤθεσιν τοὺς εὐγενεῖς; (E. El. 367–372 und 380–385) Es gibt kein sichres Merkmal wackren Mannestums, die menschliche Natur weist hier Verwirrung auf. Ich sah schon manchen Sprößling eines Vaters, der γενναῖος ist, gar nichts taugen, gute Söhne schlechter Eltern, sah Eigensucht und Gier im Herzen reicher Männer, Hochherzigkeit jedoch bei manchem armen Schlucker. Denn dieser Mann, bei den Argeiern unbedeutend, von jedem Stolze auf den Ruhm der Ahnen frei, ein Mann des Volkes, ward als ehrenwert befunden. Werdet ihr, die ihr im Bann von Vorurteilen irrt, die Unvernunft nicht lassen, sondern die εὐγενεῖς nach ihrem Umgang und ihrer Gesinnung messen?

Das Verhalten des Bauern hat Orestes verunsichert (φεῦ, E. El. post 366).141 Es erweist die scheinbar sicheren Kriterien zur Beurteilung eines Menschen als ungenau (ἀκριβὲς οὐδέν). Orestes ist mit der Tatsache konfrontiert, daß ein Mann, der nicht zu den εὐγενεῖς zählt, sich wie ein εὐγενής verhält und dieses Verhalten explizit als nicht δυσγενές bezeichnet. Orestes verwendet dagegen den neutraleren Begriff der εὐανδρία, der anders als εὐγένεια kein umfassendes gesellschaftliches Status- und Verhaltenskonzept umfaßt und vor allem nicht mit der Aristokratie verknüpft ist. Der moderne Leser, der den Bauern sprechen hört, fühlt sich in seiner aufgeklärten Meinung bestätigt, daß ein edles Verhalten nicht vom Blut, sondern von Erziehung und Charakter abhängt und 140

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Orestes’ Rede ist in Teilen in ihrer Echtheit umstritten, vgl. Denniston (1939) 94–97 (ad 373–379 und 386–390). Wir werden die Passagen, die Diggle (1981) athetiert, mit berücksichtigen; es zeigt sich aber, daß sie die Grundaussage des Abschnitts nicht verändern. Dagegen meint Di Benedetto (1971) 207–208, die Armut des Bauern sei Ausgangspunkt für Orestes’ Diskurs über die Beurteilung von Adel. Die Armut ist jedoch lediglich das augenfälligste Merkmal für den niederen sozialen Status des Bauern, der als Folie für sein Verhalten dient.

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daß die alten Gleichsetzungen von adlig und gut/tapfer etc. sowie von unadlig und schlecht/feig etc. jeder biologischen Grundlage entbehren. Orestes ist freilich verhaftet in seiner aristokratischen Sicht; er kann sich den Befund nur durch eine Verwirrung (ταραγμόν) der natürlichen Gegebenheiten (αἱ φύσεις βροτῶν) erklären.142 Die Geburt des Menschen und mit ihr sein Wesen sind aus der natürlichen Ordnung geraten. So kommt es, daß hochstehende Persönlichkeiten und ihre Kinder (γενναίου πατρός, ἀνδρὸς πλουσίου) ebenso wie Niedrigstehende und ihre Kinder (ἐκ κακῶν, πένητι) nicht unbedingt den Erwartungen entsprechen. Die Großen, die auch die guten sein sollten, mißraten (τὸ μηδὲν ὄντα, λιμὸν ἐν φρονήματι), während die Kleinen sich als tüchtig erweisen (χρηστὰ τέκνα, γνώμην μεγάλην).143 Der Begriff γενναῖος ist hier im traditionellen Sinne gebraucht, der das Prädikat mit einem bestimmten Anspruch und einer Verpflichtung für den Träger verknüpft. Das beobachtete Versagen angesichts dieses Anspruchs und umgekehrt die Erfüllung des Anspruchs durch einen dazu eigentlich nicht berechtigten Mann läßt Orestes die gewohnten Kriterien als unbrauchbar qualifizieren. Er stellt die Verknüpfung von Herkunft und Verhalten jedoch nicht grundsätzlich in Frage, wenn er die Ursache in einem ταραγμὸς τῶν φύσεων sieht. Orestes geht nun in den folgenden, zuerst von von Wilamowitz verdächtigten Versen (E. El. 373–379) der Eignung verschiedener Kriterien nach, z. B. des Reichtums oder der Tapferkeit im Kampf (πλούτωι, λόγχην), typisch aristokratischer Werte. Er bescheinigt ihnen jedoch keine Zuverlässigkeit; besser sei es, die Frage als unlösbar zu belassen. Er selbst hält sich freilich nicht daran und spricht noch 21 Verse (ohne Athetesen) zum selben Thema. Nun wendet er sich von seinen allgemeinen Überlegungen der Situation des Bauern zu. Dieser sei kein bedeutender Mann in der Gesellschaft (οὐ μέγας) und nicht eingebildet auf die Bedeutung seines Hauses (οὐ δοκήσει δωμάτων ὠγκωμένος), er sei einer aus der großen Menge (ἐν τοῖς πολλοῖς ὤν). Dennoch habe man ihn in dieser Situation als ἄριστος gefunden. Orestes stellt – wie der Bauer selbst – fest, daß dieser zwar nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen mitbringt, in seinem Verhalten aber wie ein Aristokrat agiert. So kann er als ἄριστος bezeichnet werden, mit einem Begriff, der aus den Werturteilen des heroisch-aristokratischen Kontexts vertraut ist. 142

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Ähnlich Denniston (1939) 93 (ad 367–372). Vorsichtig sein muß man in meinen Augen mit der Identifizierung von Euripides’ eigener Meinung, die beispielsweise Schiassi (1958) 92 (ad 367–372) und Taccone (1960) 50 (ad 367–372) hier wahrnehmen. Auch eine Rede wie die von Orestes, die einem wie eine kleine Diatribe erscheinen mag (Schiassi), ist dramaturgisch eingebunden und entsteht aus Situation und Sprecher heraus. Eine Besprechung der dramaturgischen Funktion der Rede bietet Grube (1941) 304, vgl. auch Roisman/Luschnig (2011) 146–147 (ad 367–400). Vellacott (1975) 49–51 spricht Orestes ab, auch nur irgendetwas Bemerkenswertes in seiner Rede zu äußern; seine Einsichten seien bereits von den Sophisten gewonnen worden, vgl. auch Goff (1999/2000) 102. Michelini (1987) 195 betont den Unterschied zwischen Stilhöhe und Angriff auf die traditionellen Werte. Egli (2003) 226–227 weist auf das sophistische Vokabular hin. – Wer wie Arnheim (1977) 170–172 oder Donlan (1980) 150–151 einen entschiedenen Gleichheitsgedanken in Orestes’ Äußerungen vermißt, fordert eine Position, die Sprecher und Kontext nicht ausreichend berücksichtigt. Zahlreiche Parallelstellen für diesen Gedanken findet man bei Cropp (1988) 124 (ad 368– 372).

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Orestes wendet sich mit einem theatralischen Ausruf an all die, die diese Erkenntnis noch nicht gewonnen haben, die noch immer an die Gültigkeit der alten Kriterien glauben und in ihrem Urteil deshalb irren (οἳ κενῶν δοξασμάτων πλήρεις πλανᾶσθε). Er warnt sie davor, bei dieser törichten Haltung zu bleiben (οὐ μὴ ἀφρονήσετε;). Vielmehr sollen sie die εὐγενεῖς an ihrer ὁμιλίᾳ βροτῶν und τοῖς ἤθεσιν erkennen. Diese Formulierung evoziert Äußerungen von Theognis und Pindar, wonach der Umgang mit Edlen einen edel mache und man einen Menschen daher nach seinem Umgang und seinen Freunden einschätzen könne. Die Worte sind hier anders zu verstehen. Es kommt bei ὁμιλία βροτῶν nicht darauf an, mit wem man Umgang hat, sondern wie man mit den Menschen umgeht und welche Gesinnung (ἤθη) daraus spricht.144 Danach ist zu urteilen.145 Ebenso wie der Bauer in seiner Einladung an die Fremden löst auch Orestes den Zusammenhang zwischen aristokratischer Herkunft und aristokratischem Verhalten. Man muß nach seinen Worten nicht adliger Herkunft sein, um sich nach adligen Maßstäben rühmlich zu verhalten und mit den entsprechenden preisenden Attributen versehen zu werden (ἄριστος, εὐγενής). Nach wie vor jedoch gelten diejenigen Verhaltensweisen als lobenswert, die vom aristokratischen Wertekanon verlangt werden, und auch der einfache Mann wird nach ihnen beurteilt.146 In den folgenden, wiederum von von Wilamowitz erstmals athetierten Versen (E. El. 386–390) unterbricht Orestes seine Betrachtung des Bauern und 144

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Spezifischer faßt Basta Donzelli (1978) 234–237 den Begriff der ὁμιλία hier auf. ὁμιλία bezeichne den Umgang, den man mit dem Beurteilenden pflege und der dem Urteilenden einen Eindruck vom Beurteilten verschaffe. Der Bauer lebe offensichtlich nach diesem Maßstab (Basta Donzelli (1978) 233–234), vgl. auch Assael (2001) 176–177. So nach der Konjektur von Badham, die Diggle (1981) druckt, vgl. auch Denniston (1939) 96 (ad 383), Taccone (1960) 51–52 (ad 383–390). L hat φρονήσεθ’, Stobaios φρονήσηθ’. In diesem Fall ist am Satzende sinnvollerweise ein Punkt zu setzen; οὐ μή bezeichnet dann eine betonte Behauptung. δέ im folgenden Vers schließt dann entweder an οὐ μὴ φρονήσετε an und zeigt als zweites Hauptsatzprädikat den Ausweg aus der mangelnden Einsicht, oder δέ schließt an πλανᾶσθε an und erläutert als zweites Prädikat des Relativsatzes das sinnlose Irren derer ohne Einsicht. Im letzteren Fall wäre der Anklang an Pindar und Theognis in dem oben ausgeschlossenen Sinne zu verstehen. Daher kann ich Basta Donzelli (1978) 239–242 nicht zustimmen, die meint, die Rede diene dazu, Kriterien für die Beurteilung von εὐανδρία zu finden und das Konzept der εὐανδρία neu zu definieren, nämlich verstanden als eine innere Tapferkeit, vgl. auch Gregory (1991) 124. Roisman/Luschnig (2011) 147–148 (ad 367–372) gehen meines Erachtens zu weit, wenn sie sagen, daß die Charakterisierung des Bauern durch Euripides eben das bekräftige, was Orestes in Frage stelle, da der Bauer, ohne daß Orestes es wisse, von Adel sei und daher keines der Beispiele, die Orestes vorbringe, auf den Bauern zutreffe. Orestes selbst benehme sich nicht im Einklang mit seinen eigenen Einsichten, so O’Brien (1964) 32–34. Klytaimestra dagegen sei der Beweis für die Richtigkeit von Orestes’ Ausführungen, Michelini (1987) 218–219. Schottlaender (1982) geht von Th. 3, 82 aus, wo τὸ σῶφρον als Vorwand für Unmännlichkeit angesehen werde, und erweist mit großer Spitzfindigkeit Orestes’ Argumentation als Pseudoethik. Orestes sei „der typische Wortführer einer Leutseligkeit, die nur die Außenseite eines die eigenen Standesprivilegien hütenden Adelsstolzes ist“ (491), der Bauer dagegen einer der „dem Adel ergebene[n] Biedermänner[]“ (493). Schottlaender schreibt Orestes Falschheit zu, doch für eine Täuschungsabsicht gibt es nach meinem Dafürhalten keine Anhaltspunkte.

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spricht noch einmal allgemein: Solche Männer brauche man in den Städten, und der Schwache sei nicht unbedingt der schlechtere Krieger. Orestes nimmt die Einladung mit der pointierten Äußerung an, daß ihm ein armer geneigter Gastfreund lieber sei als ein reicher (E. El. 394–395). Allerdings schließt Orestes seine Rede mit dem Wunsch, Elektras prosperierender Bruder führte ihn in sein prosperierendes Haus (E. El. 397–398).147 Seine Reflexionen über die Bedeutung des Charakters und die Nichtigkeit des Reichtums waren offensichtlich sehr theoretischer Natur; im selben Atemzug gibt er sowohl dem Charakter des Bauern als auch dem Reichtum den Vorzug. Elektra ist empört über die Einladung der Fremden in ihr Haus. Sie empfindet das Verhalten ihres Mannes offensichtlich als Anmaßung: Ηλ. Αυ.

ὦ τλῆμον, εἰδὼς δωμάτων χρείαν σέθεν τί τούσδ’ ἐδέξω μείζονας σαυτοῦ ξένους; τί δ’; εἴπερ εἰσὶν ὡς δοκοῦσιν εὐγενεῖς, οὐκ ἔν τε μικροῖς ἔν τε μὴ στέρξουσ’ ὁμῶς; (E. El. 404–407)

El. Bau.

Du kennst doch, Armer, deines Hauses Not – warum nahmst du die Fremden auf, die mächt’ger sind als du? Warum? Sind sie so εὐγενεῖς, wie es scheint, dann werden mit wenigem wie vielem sie zufrieden sein.

Es ist wieder an Elektra, ihren Gatten zu maßregeln. Sie fährt ihn an und wirft ihm vor, die Fremden trotz des Unterschieds zwischen seinem Haus (δωμάτων χρείαν) und den Erwartungen, die die Gäste (μείζονας σαυτοῦ) haben müssen, eingeladen zu haben. Es ist in ihren Augen offensichtlich kein Ausweis von Größe, wenn der Bauer, ohne die materiellen Voraussetzungen zu besitzen, beim gesellschaftlichen ξενία-Austauch mitspielen will. Na und? reagiert der Bauer schnippisch (τί δέ;). Geradezu beiläufig definiert er den Begriff der εὐγένεια neu. Der εὐγενής ist in kleinen wie in großen Verhältnissen zufrieden. Die ersten Belege in dieser Tragödie zeigten eine neue Verwendung des Begriffs γενναῖος/εὐγενής (δυσγενής), weil der Gedanke der hohen Herkunft durch den allgemeineren der Herkunft ersetzt war. Hier erhalten wieder in traditioneller Manier hochstehende Personen das Attribut, denn Orestes und Pylades entstammen Herrscherhäusern. Der Bauer kennt ihre Identität noch nicht; er beruft sich auf den Augenschein (ὡς δοκοῦσιν) und implizit vielleicht auch auf die Vermutung, daß Orestes, ungeachtet seiner Position als eines Exulanten, mit Edlen Umgang habe und auch solche als Mitstreiter vorausschicke. Entscheidend ist aber hier nicht die Tatsache, daß der Bauer halb unbewußt das blaue Blut der jungen Männer richtig bezeichnet,148 sondern vielmehr die Haltung, die er mit dem Begriff εὐγενής beschreibt. Genügsamkeit und innere Unabhängigkeit von äußeren Umständen kennzeichnen nach den 147

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Gewiß spricht Orestes hier auch über seine eigene Situation und wünscht sich persönlich eine glücklichere Lage. Dieser implizite Sinn wird meines Erachtens jedoch überlagert von der Juxtaposition der widersprüchlichen Äußerungen E. El. 394–396 und 397–398. Es wird sich zeigen müssen, ob die Gäste sich tatsächlich als εὐγενεῖς erweisen. Die Formulierung in einem Bedingungsgefüge läßt offen, ob die Definition auf Orestes zutrifft, vgl. Egli (2003) 227–228.

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Worten des Bauern den εὐγενής. Das sind Werte, die dem traditionellen aristokratischen Kanon fremd sind. Hier wird erstmals der Versuch gemacht, den Begriff der εὐγένεια neu zu fassen, dem überkommenen Kodex ein neues Konzept entgegenzusetzen. In den früheren Tragödien des Euripides stießen wir auf eine weitgehend traditionelle Verwendung der Begriffe εὐγένεια etc. In Frage gestellt wurde das Konzept des Adels einzig durch das teilweise fragwürdige Verhalten der aristokratischen Vertreter. Die Herakliden gaben einen vagen Fingerzeig, wie der Kanon zu verändern sein könnte, nämlich durch die Polis, die Interessen der Gemeinschaft. In dieser Tragödie haben wir bei den ersten Belegen des Begriffs eine neue Anwendung (auf den armen Bauern), aber die alte Bedeutung (der Herkunft entsprechendes Verhalten) vorgefunden; so wirkte der Gebrauch noch immer affirmativ. Nun faßt der Bauer ihn ganz und gar unaristokratisch. Er beschreibt die Haltung eines ethisch gebildeten Bürgers, dessen Glück nicht im Reichtum und der Anerkennung durch die anderen besteht, der, mit wenigem ebenso zufrieden wie mit vielem, offensichtlich andere Werte besitzt und andere Ziele verfolgt. Im Gefolge der Herakliden könnte man hier an Polisgemeinschaft und Zusammenleben denken, auch das Streben nach persönlichem Glück: die zeitgenössische Philosophie macht diese Themen zu ihrem Anliegen, nicht zuletzt in der Person des Sokrates. Das Neue klingt an – zur Freude des modernen Lesers –, doch für Elektra bleiben die Worte ohne Bedeutung. Sie lebt im ständigen Bewußtsein der Schmach, die alte, hohe Position verloren zu haben;149 sie betont noch einmal den Fehltritt (ἐξήμαρτες, E. El. 408, du hast einen Fehler begangen) und schickt ihren Mann wie einen Diener weg, den alten Pädagogen zu holen, der einst Agamemnon erzog und Orestes rettete. Der Alte möge eilends Essen bringen, damit die Fremden bewirtet werden können (E. El. 409–419). Anders als ein Diener gibt der Bauer im Weggehen Antwort. Er ermahnt Elektra, endlich ins Haus zu gehen und als gute Hausfrau aus dem Vorhandenen etwas aufzutischen (E. El. 420–425). Er schließt mit einer Reflexion über den Reichtum: Es sei schön, dem Freund geben zu können oder in einer Notsituation einen Arzt rufen zu können, doch im Alltag brauche man ihn nicht, da dem Reichen wie dem Armen die Sättigung als Maß gesetzt sei (E. El. 426–431). Der Bauer tritt anschließend nicht mehr auf. An dieser Stelle ist die oben formulierte Frage nach dem Handeln des Bauern wiederaufzunehmen, die Frage nämlich, wie der Bauer dazu kommt, aristokratische Wertmaßstäbe anzunehmen und sich entsprechend zu verhalten. 149

Neitzel (1967) 82–110 und Roisman/Luschnig (2011) 150–151 (ad 403–431) bemerken, es gehe Elektra nur um Status und Äußerlichkeiten, ihr erbärmlicher Charakter begreife nicht, wie wenig sie des edlen Bauern würdig sei. Das suggeriert meines Erachtens zuviel Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit. Aristokratischer Status – bei Elektra bedeutet das Herkunft aus dem Herrschergeschlecht – ist keine bloße Hülle, die man abstreift, wenn sie nicht mehr auf die Lebensumstände zutrifft. Der aristokratische Status ist eine Lebensform mit bestimmten Werten und Haltungen, die eine traditionelle innere Begründung haben. Bei einem Sturz, wie ihn Elektra erlebt hat, gerät ein Weltgebäude ins Wanken, und das Festhalten am Vertrauten ist nicht Ausdruck von Eitelkeit.

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Ein Interpretationsansatz versteht den Bauern von seiner Armut her, wie auch Orestes es tut. Dann erscheint die Trennung von aristokratischer Herkunft und aristokratischem Verhalten als zentral. Obwohl der Bauer arm und gesellschaftlich bedeutungslos ist, übernimmt er Werte und Verhaltensweisen des Adels. So verstanden wird man im Bauern eine soziale und ethische Sprengkraft finden, die die alten aristokratischen Werte angreift und ins Wanken bringt. Dann kann der Bauer gar als der Kern einer neuen, politisch relevanten Mittelschicht erscheinen.150 Die Figur des Bauern muß Euripides jedenfalls wichtig gewesen sein: Je weniger wichtig eine Figur im traditionellen Mythenrepertoire und für den Handlungsverlauf ist, desto größer muß das Interesse des Dichters an ihr sein, daß er sie dennoch auf die Bühne bringt.151 Mehrere Male tritt der Bauer auf und lenkt das Gespräch; seine Worte dürfen daher nicht unterschätzt werden. Bei diesen Überlegungen spielt es eine Rolle, wie man die Wirkung des Bauern auf den zeitgenössischen Zuschauer einschätzt. Die Meinungen der Interpreten gehen von „komisch“ bis „besonders würdevoll“.152 Gewicht können die Äußerungen des Bauern nur dann haben, wenn er dem Athener des 5. Jahrhunderts nicht grotesk erschien. Das kann in meinen Augen jedoch nicht ausgeschlossen werden. Daß Elektra sein Verhalten peinlich findet, läßt sich nicht mit einem unangemessenen Hochmut ihrerseits abtun; auch wir empfinden es heute als unangenehm, wenn wir beobachten müssen, wie Menschen die Sprache oder das Verhalten einer anderen Schicht kopieren. Als ein zeitgenössischer Hinweis können Aristophanes’ Frösche dienen. Der Spott, der dort über den alltäglichen Helden ausgegossen wird, zeigt, daß die euripideischen Figuren zumindest einem Teil der Rezipienten lächerlich erscheinen konnten. Ein anderer Erklärungsansatz ist, daß der Bauer aus einer adligen Familie stammt, die verarmte und nur deshalb aus aristokratischer Gesellschaft und Lebensart ausgeschlossen war. Das Bewußtsein des eigenen Werts und der eigenen Werte kann gleichwohl über Generationen hinweg wachgehalten werden, was die Selbstvorstellung des Bauern im Prolog zeigt. Dies begründet, daß der Bauer den Ehrgeiz hat, sich nach aristokratischen Maßstäben zu bewähren, zumal bei hohem Besuch. Es begründet ferner, daß er darüber spricht; das Bewußtsein der eigenen Herkunft ist wohl vorhanden, doch die damit verbundene Lebensweise ist nicht mehr selbstverständlich, so daß er einer Vergewisserung bedarf.

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So z. B. Basta Donzelli (1978) 243–260. Gegen ihre Argumentation ist einzuwenden, daß Basta Donzelli just das, was Euripides nach ihrer Deutung rigoros ablehnt, tut. Sie legt ausführlich dar, daß Euripides äußere Kriterien ablehne und fordere, die individuellen Eigenschaften einer Person müßten geprüft werden. Anschließend schließt sie vom individuell geprüften und für edel befundenen Bauern der Tragödie auf den edlen Bauernstand an sich und schließt, daß Euripides die Mittelschicht als neuen Adel propagiere. Offensichtlich geht sie davon aus, daß jeder Vertreter der Mittelschicht aufgrund seiner Zugehörigkeit edle ἤθη besitzt. Vgl. auch Nestle (1901) 181–182. Zu Klassenkonflikten in der Elektra vgl. Konstan (1994) 53–54, Goff (1999/2000) 103. Basta Donzelli (1978) 227–228. Komisch: Michelini (1987) 194, besonders würdig: Basta Donzelli (1978) 227. Lange (2002) 65 betont die Ähnlichkeit mit Eumaios in der Odyssee und sieht im Bauern eine untragische Humanität verwirklicht. Ein sympathisches Bild zeichnet auch Albini (1962) 103–104.

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Seine eigenen bescheidenen Verhältnisse begründen, daß der Bauer in diesem Stück der erste ist, der den Begriff der εὐγένεια mit einem unaristokratischen Inhalt verbindet, nämlich der Genügsamkeit. Der Hinweis auf die Familie des Bauern im Prolog ist der Hintergrund, vor dem der Zuschauer/Leser nicht nur die Äußerungen und Handlungen des Bauern versteht, sondern auch die Urteile der anderen Charaktere. Die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit und Armut des Bauern, die in Orestes’ Rede einen so großen Raum einnehmen, werden durch das Wissen, das der Zuschauer aus dem Prolog gewonnen hat, relativiert, und das Unerhörte in der Figur des Bauern erscheint weitaus weniger revolutionär. Das Verdienst des Bauern, eine Neuformulierung des Konzepts der εὐγένεια zu beginnen, bleibt bestehen, doch es bleibt die Sache des Bauern und vielleicht des Zuschauers, während die Charaktere des Dramas durch die Haltung des Bauern nicht wesentlich beeindruckt werden.

5.3.2 Elektra und Orestes Das Drama beginnt am frühen Morgen. Elektra tritt aus dem Haus, um an einer nahen Quelle Wasser zu holen. Sie nimmt diese Aufgabe aus mehreren Gründen auf sich: der Gang zur Quelle gibt ihr zum einen Gelegenheit, ihren Vater zu beklagen, zum anderen, Aigisthos’ und Klytaimestras ὕβρις sichtbar zu machen, die ihr und ihrem Bruder Orestes den Palast verwehren (E. El. 54–63). Darüber hinaus kann Elektra sich durch ihre Mitarbeit dem Bauern gegenüber erkenntlich zeigen, den sie schätzt (ἐγώ σ’ ἴσον θεοῖσιν ἡγοῦμαι φίλον – ich schätze dich als einen göttergleichen Freund) und dem sie es hoch anrechnet, daß er in der Ehe enthaltsam ist (οὐκ ἐνύβρισας). In ihrem Unglück vergleicht sie ihn einem Arzt (E. El. 67–76). Der Bauer selbst betont, daß er keine häusliche Tätigkeit von ihr erwarte, nimmt ihre Bereitschaft dazu aber gerne an (E. El. 64–66 und 77). Orestes und Pylades betreten die leere Bühne. Orestes führt sich als vorsichtig agierender Rächer seines Vaters ein. Er kehrt im Schutz der Nacht in seine Heimat zurück und möchte zunächst die Schwester als Gehilfin und Informantin gewinnen (E. El. 82–101). Die von der Quelle zurückkehrende Schwester hält er für eine Magd; die beiden jungen Männer verbergen sich, um zu lauschen (E. El. 102–111). Elektra führt ihre morgendliche Klage:153 Sie beklagt ihr eigenes Leben und das Schicksal des Vaters, dann das Los des Bruders, verbunden mit dem Wunsch nach Vergeltung, wieder klagt sie um den Vater und über seinen schmachvollen Tod (E. El. 112–166). Der Chor argivischer Frauen zieht ein und lädt Elektra zum Herafest ein. Doch diese lehnt ab, weil ihr in ihrer Trauer nicht zum Feiern zumute ist, schon gar nicht zum Feiern eines Herafests.154 Deshalb kann sie auch das Angebot des Chores, ihr festliche Gewänder und Schmuck zu leihen, 153

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Das lyrische Metrum sei, so Chong-Gossard (2003) 214, ein Zeichen hoher Geburt; Sklaven beispielsweise sängen nur, wenn sie nicht schon von Geburt Sklaven, sondern ursprünglich freigeboren seien. Zu Elektras Ablehnung der Einladung vgl. Zeitlin (1970) 262–267. Hose (1990) 75–76 weist auf den optischen Kontrast zwischen Elektra und Chor hin, die eine in zerlumpten Kleidern, die anderen festlich geschmückt. Der Chor erinnere durch seine Anwesenheit während des ganzes Stücks an Hera, die als Schützerin von Ehe und Familie verehrt werde.

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nicht annehmen. Elektra ist gedemütigt durch ihre ärmlichen Lebensumstände, durch den ungerächten Tod des Vaters, den vertriebenen Bruder und die Schamlosigkeit der Mutter (E. El. 167–214).155 Bei vielen modernen Interpreten findet sich die Einschätzung, Elektra übertreibe ihre Herabstufung mit Absicht, versinke in Selbstmitleid und sei ein verbittertes, von Haß zerfressenes Mädchen, das seine Mutter dämonisiere und sich seine Fallhöhe selbst schaffe.156 Ihre Aussagen über ihre Lage wichen von anderen,

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Die Ablehnung des Tanzens hat eine klare rituelle Komponente, vgl. Henrichs (1994/1995) 89–90. Zur Rolle des Chors in diesem Drama s. Baur (1997). In diesem Zusammenhang ist ein Beleg für εὐγένεια zu erwähnen, der sich von den übrigen unterscheidet. Hier ist der Begriff nicht für den Bauern oder Orestes verwendet, sondern für Klytaimestra; außerdem steht er im Gegensatz zu den anderen Belegen, die sich in der ersten Dramenhälfte sammeln, isoliert am Ende. Elektra hat Klytaimestra unter dem Vorwand, sie habe einen Jungen geboren, in ihr Haus gelockt. Die Ankunft der Mutter ist für sie die Gelegenheit, den alten Streit wieder zu entfachen. Elektra wirft ihrer Mutter Eitelkeit, die Beziehung zu Aigisthos und die Entehrung ihrer selbst und des Bruders vor. Sie beendet ihre Anklagerede gegen Klytaimestra mit drei Versen, die in ihrer Echtheit oder in ihrer Zugehörigkeit zur Elektra angezweifelt werden (so z. B. von Denniston (1939) 185 (ad 1097–1101), Cropp (1988) 174 (ad 1097–1099, 1100–1101), Lloyd (1992) 68, Roisman/Luschnig (2011) 216 (ad 1097–1101). Anders Taccone (1960) 104–105 (ad 1086–1099), Michelini (1987) 221): [ὅστις δὲ πλοῦτον ἢ εὐγένειαν εἰσιδὼν / γαμεῖ πονηρὰν μῶρός ἐστι· μικρὰ γὰρ / μεγάλων ἀμείνω σώφρον’ ἐν δόμοις λέχη] (E. El. 1097–1099). [Ja, wer auf Reichtum oder εὐγένεια schaut und deshalb / ein böses Weib nimmt, ist töricht; eine Frau / aus niedrem Stand, doch sittenrein, verdient den Vorzug.] Die Verse sind selbstverständlich auf Aigisthos und Klytaimestra gemünzt. Aigisthos ist derjenige, der, auf Reichtum und Status „schielend“, die elende Klytaimestra heiratete, der Tor! Eine bescheidene (μικρὰ σώφρονα) Heirat sei die bessere (ἀμείνω) Wahl. Für den letzten Gedanken könnte Elektra auf ihre eigene (μικρά) Situation verweisen – hat sie doch ihrem Mann in den ersten Szenen σωφροσύνη zuerkannt – , wenn sie sich nicht immerfort über ihre Situation beklagte, weil sie sie in Wirklichkeit nicht als besser empfindet. Die Formulierung der Verse ist allgemein, die Anwendung offensichtlich und sehr konkret. Elektra hat ihre eigene Mutter im Blick; das dürfte wohl die Ursache dafür sein, daß Elektra mit großer Selbstverständlichkeit εὐγένεια und πονηρία verknüpft. Sie hat auch Aigisthos im Blick; deswegen kann sie dem Hochgeborenen eine niedere Heirat empfehlen, die sie selbst so sehr schmerzt. Elektra nennt ihre Mutter πονηρία. Das ist im Einklang mit anderen Stellen, an denen sie ein dunkles Bild ihrer Mutter zeichnet (z. B. E. El. 60–63, 117, 163–166, 211–212, 265, 314–318, 658, 1004–1010, 1060–1096). – Kubo (1967) 16–18, 26–29 führt aus, daß es bei der List weniger auf die Geburt als vielmehr auf den Jungen ankomme, zu dem die Grausamkeit, die Elektra ihr zuschreibt, Klytaimestra gewiß kommen lasse. Der Plan fuße nicht so sehr auf Elektras, sondern auf Klytaimestras Charakter; deshalb gelinge er auch, obwohl Elektra sich ungeschickt anstelle. Genau genommen bleibt der Grund für Klytaimestras Kommen jedoch offen, vgl. Gärtner (2005) 8–9. O’Brien (1964) 27–28, 35–36 führt aus, daß Klytaimestra in einer Weise auftrete, die ihr Sympathien beim Rezipienten sichere. Gewiß mag ihre Rede an die Tochter weniger aggressiv sein, als man in Kenntnis der aischyleischen und sophokleischen Dramen und beeindruckt von Elektras Sicht erwartete. Doch der Eindruck, den der Zuschauer/Leser bis zu diesem Punkt der Tragödie von Klytaimestra gewonnen hat, und der Pomp, mit dem sie vor Elektras einfacher Hütte vorfährt, ergeben ein Bild von Klytaimestra, das meines Erachtens nicht durch eine defensive Rede ins Positive umschlagen kann. Für Stoessl (1956b) 70 klingt Klytaimestras Rede müde. So z. B. Rivier (1944) 134–137, O’Brien (1964) 28–29, Vellacott (1984) 157, Harder (1993) 313–134 und 318, Dubischar (2001) 327–328), Hose (2008b) 96–99. England (1926) tut in

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vorurteilsfreien Instanzen ab und würden dadurch entkräftet.157 Freilich ist keine Aussage innerhalb des Dramas objektiv, weil jede der Figuren eine beteiligte ist.158 Wir müssen die Situation berücksichtigen, in die Euripides seine Elektra gestellt hat. Elektra erlebt ihre Armut bedrückender als dies beispielsweise ihr Gatte tut, sie erlebt Aigisthos und ihre Mutter niederträchtiger als dies beispielsweise der Chor tut, weil sie mit anderen Erwartungen groß geworden ist und direkt von Machenschaften im Palast betroffen ist. Elektras Empfindlichkeit hat ihre Ursache in einem realen sozialen Abstieg,159 sie lebt in großer Armut und hat dies Aigisthos und ihrer Mutter zu verdanken.160 Sie ist isoliert, vom Palast, vom gesellschaftlichen Leben, von der Polis.161 Sie erlebt ihre Mutter nicht nur als die Mörderin ihres Vaters, sondern täglich auch als diejenige, die das Elend ihrer Kinder, Elektras und Orestes’, verursacht und zugelassen hat. Sie wünscht sich den Muttermord deshalb nicht nur als Rache für den Vater, sondern auch als Rache für ihr eigenes Unglück (z. B. E. El. 300–313, 1087–1093).162 Das erste Stasimon (E. El. 432–486) führt in die Heldenzeit mit einem ungebrochenen Verhältnis zum heroischen Wertekanon. Es ist thematisch und motivisch eng mit der Handlung des Dramas verknüpft und dient unter anderem als Hintergrund, vor dem Orestes’ und Elektras Rolle zu betrachten ist.163 Der Alte, der einst Agamemnon erzog und Orestes zu Strophios rettete, tritt auf, beladen mit einem Lamm, Käse, Wein und Kränzen für die Bewirtung der Gäste (E. El. 487–500). Die Tränen des Alten sind Anlaß für einen Bericht über Agamemnons Grab. Der Alte hat auf dem Weg zu Elektra wahrgenommen, daß auf

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seiner Interpretation unmißverständlich kund, für wie verabscheuungswürdig er Elektra hält. So z. B. bei Vellacott (1975) 49, Conacher (1967) 205–206, Grube (1941) 299–300, 302–303, Arnott (1981), Hose (2008b) 96. Dagegen seien Klytaimestra und Aigisthos recht positiv gezeichnet, Conacher (1967) 206–207. Was Walsh (1977) 288–289 anhand der beiden Stasima dieser Tragödie herausgearbeitet hat, läßt sich ohne weiteres verallgemeinern: Der Zuschauer kann keine Äußerung für die Realität nehmen, ein konsistenter Standpunkt ist ihm nicht erlaubt. Papadimitropoulos (2008) 118 meint, Elektra leide nicht vorrangig unter ihrem Statusverlust, sondern unter der Zurückweisung durch ihre Mutter. Das eine läßt sich, meine ich, nicht vom anderen trennen; es beschreibt denselben Vorgang aus unterschiedlicher Perspektive. Je nach Situation oder Gesprächspartner betont Elektra den einen oder den anderen Aspekt, vgl. z. B. E. El. 1086–1093, aber 184–189, 303–313. Vgl. Michelini (1987) 188, 210, Luschnig (1992) 16. Nach Strohm (1981) 144 ist Elektras Einsamkeit gegenüber den Dramen von Aischylos und Sophokles verschärft, weil sie aus dem Palast ausgestoßen und ohne Kunde vom Bruder ist. Lloyd (1986a) 2–10 zeigt, daß Elektras kritisiertes Verhalten weitgehend mit griechischen Konventionen der dramaturgischen Anlage des Stücks zu erklären sei, vgl. auch Luschnig (1992) 19. Zürcher (1947) 122 bemerkt, eine wahrhaft „hochherzige Elektra“ hätte in die Ehe mit dem Bauern nicht eingewilligt, sondern Selbstmord begangen, ihre Unterwerfung werde aus der Weichheit ihres Gemüts verständlich – eine Einschätzung, die die Befangenheit des Interpreten in seiner Zeit und deren Weltbild zeigt. Zeitlin (1970) 263, Luschnig (1992) 11–23. Ähnlich Zürcher (1947) 115–120, Stoessl (1956b) 56–57. Vgl. ausführlich O’Brien (1964), Mulryne (1977), Walsh (1977), King (1980), Morwood (1981), auch Eisner (1979) 163–164. Zum 2. Stasimon s. Kubo (1967) 19–20, Zeitlin (1970) 269–270, Rosivach (1978b).

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dem Grab geopfert wurde; er äußert die Vermutung, Orestes könne heimlich zurückgekehrt sein. Elektra reagiert abweisend und läßt keines der vorgebrachten Erkennungszeichen gelten (E. El. 501–546).164 Im Zusammenhang mit dem ersten Zeichen findet sich ein Beleg für εὐγενής. Der Alte möchte, daß Elektra ihre Haarfarbe mit der der geopferten Locke vergleiche; eine Ähnlichkeit könne auf Orestes als Opfernden weisen. Elektra findet den Gedanken abwegig: οὐκ ἄξι’ ἀνδρός, ὦ γέρον, σοφοῦ λέγεις, εἰ κρυπτὸν ἐς γῆν τήνδ’ ἂν Αἰγίσθου φόβωι δοκεῖς ἀδελφὸν τὸν ἐμὸν εὐθαρσῆ μολεῖν. ἔπειτα χαίτης πῶς συνοίσεται πλόκος, ὁ μὲν παλαίστραις ἀνδρὸς εὐγενοῦς τραφείς, ὁ δὲ κτενισμοῖς θῆλυς; ἀλλ’ ἀμήχανον. πολλοῖς δ’ ἂν εὕροις βοστρύχους ὁμοπτέρους καὶ μὴ γεγῶσιν αἵματος ταὐτοῦ, γέρον. (E. El. 524–531) Du sprichst, mein greiser Freund, nicht wie ein kluger Mann, wenn du vermutest, mein beherzter Bruder schliche, aus Furcht vor Aigisthos, sich heimlich in das Land. Wie soll, sodann, die Farbe sich des Haares gleichen, wo seines an dem Ort eines Mannes, der εὐγενής ist, wuchs, dem Ringplatz, meines unterm Kamme nur? Unmöglich! Gar viele wird mit gleichem Haar man finden können, die doch nicht eines Blutes sind, mein greiser Freund.

Zweierlei weist Elektra zurück. Der Alte hatte vermutet, Orestes sei heimlich (λάθραι, E. El. 518) nach Argos gekommen. Doch so hat Elektra sich seine Heimkehr nicht ausgemalt. In ihrer Vorstellung ist der Bruder mutig (εὐθαρσῆ), so daß er keine Angst vor Aigisthos hat und in aller Öffentlichkeit einziehen kann.165 Dieser männliche Bruder steht ihr beim Haarvergleich vor Augen. Niemals könnten die Locken sich je gleichen, wenn die eine einem Mann gehöre, die andere einer Frau. Diese sei durch häufiges Kämmen weich, jene in der Palaistra gewachsen und dadurch, so vielleicht die Implikation, hart oder wirr und staubig.166

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Die Szene ist viel interpretiert, oft auch kritisiert worden. Man hielt sie teils für eine plumpe Verspottung der entsprechenden Szene in Aischylos’ Choephoren (England (1926) 101– 102, Hammond (1984) 382–383), einen literarischen Kniff (Davies (1998)) oder eine komische Einlage (Michelini (1987) 199–206), teils für unecht (so z. B. Mau, vgl. dazu Denniston (1939) 114 (ad 520–584)), teils versuchte man sich in verschiedenen Deutungen (z. B. Ronnet (1975), Gellie (1981) 3–4). Wichtig ist in meinen Augen vor allem die Behandlung der Szene durch Ludwig (1954) 126–128, der als erster ein euripideisches Schulmeistern des Aischylos zurückwies und die Szene aus der dramatischen Spannungsführung erklärte. Die einzelnen Positionen sind für unsere Fragestellung unerheblich. Ronnet (1975) 68–69, vgl. auch Hartigan (1991) 114–115. Verschiedene Deutungsmöglichkeiten z. B. bei Denniston (1939) 116 (ad 528–529), Cropp (1988) 139 (ad loc.), Morwood/Hall (1997) 199 (ad loc.). Roisman/Luschnig (2011) 165–166 (ad 527–531) weisen darauf hin, daß Elektras Argumentation nach realistischen Maßstäben nicht überzeugend sei, da Elektra ihre Haare geschoren hat (E. El. 241, 335) und Orestes seine Haare offensichtlich lang tragen muß, um eine Locke zu opfern.

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Elektra bezeichnet ihren Bruder als ἀνὴρ εὐγενής. Der Begriff ist ganz im aristokratischen Sinne gebraucht.167 Orestes stammt aus königlichem Hause und verbringt seine freie Zeit auf dem Sportplatz. Elektra unterstellt, obwohl Orestes im Exil lebt, eine aristokratische Lebensweise.168 Daher muß er auch ein kühner Held sein, der ohne List und Heimlichkeit nach Hause kommt, um den Tod des Vaters zu rächen. Die Verwendung des Begriffs εὐγενής an dieser Stelle ist eindeutig und traditionell. Inwieweit das Prädikat auf den Orestes dieser Tragödie zutrifft, werden wir fragen müssen. Der Alte möchte die Fremden sehen und sie zu Orestes befragen. Da treten sie aus dem Haus. Er formuliert seinen ersten Eindruck: ἀλλ’ εὐγενεῖς μέν, ἐν δὲ κιβδήλωι τόδε· πολλοὶ γὰρ ὄντες εὐγενεῖς εἰσιν κακοί. (E. El. 550–551) Die sind εὐγενεῖς! – Freilich, das kann täuschen. Gar viele εὐγενεῖς gibt es, die nichtswürdig sind.

Nach dem ersten Augenschein nennt der alte Mann Orestes und Pylades εὐγενεῖς. Sie sind offensichtlich gut gekleidet, haben vielleicht auch das selbstverständliche Auftreten von Aristokraten. Mit der zweiten Vershälfte deutet der Alte jedoch an, daß er bislang nur das Äußere beurteilt hat. Die Formulierung ἐν δὲ κιβδήλωι τόδε greift ein Bild aus der Münzprägung auf, das sich wörtlich im Deutschen nicht nachbilden läßt. κίβδηλος bezeichnet die Verunreinigung oder Fälschung einer Münze, so daß sie in Wahrheit nicht oder nicht in dem Maße enthält, wonach sie aussieht, beispielsweise Silber oder Gold. Edle Erscheinung verbürgt nicht unbedingt edles Wesen.169 Der alte Mann sagt es auch explizit im folgenden Vers. Viele seien zugleich εὐγενεῖς und κακοί. Herkunft und gesellschaftliche Zugehörigkeit sind dem Verhalten entgegengesetzt. In diesem Sinne ist Orestes (und mit ihm Elektra) auf den „Reinheitsgehalt“ seiner εὐγένεια zu prüfen. Mit seiner Bemerkung nimmt der Alte einen Gedanken aus Orestes’ Rede über die Verwirrung der menschlichen Natur wieder auf. Die Äußerung wird von der Forschung bald gegen Orestes, bald gegen den alten Pädagogen selbst verwendet. Der alte Mann sei ein unpassender Sprecher für derartige Erwägungen, doch demokratische Äußerungen wie diese höre man oft aus dem Mund eines alten Dieners, ferner paßten die Überlegungen zum sophistischen Geist des Dramas, Orestes seinerseits könne letztlich als Beleg für ihre Richtigkeit dienen, gleichwohl sei es ironisch, daß der Alte das Thema just wieder aufbrin-

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Zürcher (1947) 122 deutet E. El. 404–405 und 525–526 so, daß Elektra „sich trotz ihrer demütigenden Lage einen gewissen Adel der Gesinnung bewahrt hätte“. Das ist mißverständlich. Ein Gesinnungs- oder Herzensadel kann nicht gemeint sein; deutlicher wird Elektras Haltung, wenn wir sagen, daß sie sich eine aristokratische Gesinnung bewahrt habe. Vgl. Denniston (1939) 116 (ad 528–529). Schiassi (1958) 113 (ad 527–529) spricht vom agonalen Element. Zur Begrifflichkeit des Geldes vgl. ausführlich Seaford (1998) 137–139, außerdem O’Brien (1964) 37–38.

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ge, wo er im Begriff sei, einen schändlichen Plan vorzuschlagen.170 Der Alte ist in meinen Augen ein durchaus geeigneter Sprecher der Verse. Er befindet sich selbst nicht in der privilegierten Position eines Adligen, hat aber als Prinzenerzieher Einsicht in das Leben der Großen gewonnen, er ist außerdem ein Leidtragender der Verkommenheit des argivischen Königshauses. Kritische Worte klingen aus dem Munde dieses Mannes daher nur natürlich, außerdem redet er nicht zu den Personen auf der Bühne, im Gegenteil: für Orestes und Pylades sind die Verse gewiß nicht bestimmt, und ob Elektra sie hören soll, bleibt offen. Eher murmelt der ehemalige Pädagoge seine Erfahrungen vor sich hin, für sich und das Publikum. Orestes wird von verschiedenen Personen als εὐγενής bezeichnet, vom Bauern (E. El. 406), von Elektra (E. El. 528), vom Alten (E. El. 550). Beide, Elektra (E. El. 253, 528) und Orestes (E. El. 263, 369, 385) führen den Begriff der εὐγένεια im Munde, beide haben bestimmte Vorstellungen eines entsprechenden Verhaltens, nach denen sie andere beurteilen – und sich selbst beurteilen lassen müssen. Elektra lebt aus dem Bewußtsein ihrer königlichen Herkunft heraus.171 Sie leidet unter den ärmlichen Verhältnissen und träumt von ihrem heroischen Bruder, der die unwürdige Situation beenden wird (z. B. E. El. 274–277). Sie nennt Orestes εὐγενής, weil sie ihn in ihrer Vorstellung als rechten aristokratischen Jüngling in Palaistren trainieren sieht. Sie erwartet seine Rückkehr als die Ankunft eines Helden, der seinen Vater rächt und den Palast im Sturm nimmt.172 Wo er hinter ihren Erwartungen zurückbleibt, reagiert sie mit Zweifeln und Ermahnungen; mit einem Hinweis auf die drohende ἀνανδρία überwindet sie sein Zögern vor dem Muttermord (E. El. 959–987).173 Elektra und Orestes nennen ferner den Bauern γενναῖος, weil er Elektra in ihrer gesellschaftlichen Überlegenheit respektiert und die Ehe, die für sie eine Degradierung darstellt, nicht vollzieht.174 Sobald der Bauer aber wie ein γενναῖος die ξενία pflegen möchte, weist sie ihn zurecht; Elektras Statusbewußtsein schließt ihn von derartigen Handlungen aus. Orestes trennt Herkunft und Verhalten in allgemeinen Überlegungen. Er erkennt die Größe des Bauern und heißt selbst in des Bauern Augen εὐγενής, weil er mit bescheidenen Verhältnissen vorlieb nimmt, beklagt aber laut Elek170

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Denniston (1939) 119 (ad 551), Schiassi (1958) 117 (ad 550–552), Morwood/Hall (1997) 199 (ad loc.), Roisman/Luschnig (2011) 168 (ad loc.). Zur Entwicklung der Figur vgl. Brandt (1973) 95–97. Vgl. Michelini (1987) 193–194, Luschnig (1992) 18. Müller (2000) verweist auf das Erkenntnisproblem in Gorgias’ 3. Aporie; analog könne Elektra ihren Bruder nicht erkennen, weil sie ein falsches Bild von ihm habe. Mit Schwinge (1968) 85–86 (mit ausführlicher Begründung im Rahmen seiner Analyse der Szene 85–91) übernehme ich für E. El. 959–966 die Sprecherverteilung von L mit der Umstellung von V. 965 hinter V. 966. Vgl. auch Thury (1985) 13–15. Mossman (2001) 379 zeigt, daß sich Elektra in ihrer Rede gegen den toten Aigisthos (E. El. 907–956) ihrer Rolle vergewissere. Sie werde im Drama als Ehefrau des Bauern eingeführt, ohne im eigentlichen Sinne seine Frau zu sein; diese merkwürdige Position finde ihren expliziten Ausdruck darin, daß sie sich hier παρθένος nenne (E. El. 945); und schließlich werde sie Pylades heiraten.

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tras Elend und sähe sie lieber in wohlhabenden Verhältnissen. Orestes verhält sich weniger heroisch als möglich.175 Man vermißt, vor dem Hintergrund eines epischen Heldentums, Entschlossenheit und Durchsetzungswillen, auch wenn manche Handlung, die die Forschung ihm als Feigheit auslegte, wohl eher als Vorsicht, Nervosität oder ein Zeichen von Skrupeln zu werten ist.176 Er rächt immerhin den Vater – daß es ein apollinischer Auftrag ist, spielt in der Tragödie eine untergeordnete Rolle177 –, wenn auch ohne Enthusiasmus und unterstützt von der Schwester.178 Zahlreich sind die Untersuchungen, die die Behandlung des Stoffes bei Aischylos, Sophokles und Euripides vergleichen. Verglichen mit den Orestes- und Elektrafiguren der beiden anderen Dichter tritt Orestes bei Euripides abwartend und zaghaft auf, Elektra dagegen energisch und treibend.179 Sie erwecken geradezu den Eindruck, Belege für Orestes’ Darlegung zu sein, wonach die gute Herkunft nicht Garant für wesensmäßige Güte sei.180 Kurz vor der Tat kündigt Elektra der Mutter den Mord an und vergleicht ihn mit deren Mord an Agamemnon. So gerecht wie dieser werde auch jener sein (εἰ γὰρ δίκαι’ ἐκεῖνα, καὶ τάδ’ ἔνδικα, E. El. 1096 – War deine Tat gerecht, so ist es unsre auch). Nachdem sie soeben Klytaimestra ihr Verhalten als unrecht vorgeworfen hatte, ist dies eigentlich das unbewußte Eingeständnis eines kommenden Unrechts.181 Auch in der Stichomythie unmittelbar vor Klytaimestras Ankunft erkennt Elektra die Antinomie, vor die die Geschwister gestellt sind: Sowohl wenn sie den Vater rächen als auch wenn sie es nicht tun, tun sie Un-

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Albini (1962), O’Brien (1964) 28, Schwinge (1968) 296, Strohm (1981) 142. Besonders der Vergleich mit Odysseus’ Niptra zeigt Orestes’ unheroisches Wesen, vgl. Goff (1991), Davidson (1999/2000), Lange (2002) 90–96. Odysseus’ Narbe zeugt von einer gelungenen, Orestes’ Narbe von einer gescheiterten Initiation. Grube (1941) 306, Lloyd (1986a) 10–11. Solmsen (1932) 9 erkennt das Fehlen des leidenschaftlichen Impulses als Merkmal der späteren euripideischen Tragödie; daher die Szene des gemeinsamen Suchens und Beratschlagens des Plans. Vgl. Halporn (1983) 112, Papadimitropoulos (2008) 123. Gelegentlich begegnet man in der Forschung der Auffassung, Aigisthos verhalte sich in der Opferszene vorbildlich und vollendet, vgl. z. B. O’Brien (1964) 34. Orestes handle daher niederträchtig, weil er den frommen und gastfreundlichen Aigisthos hinterrücks oder beim Opfer erschlage (so z. B. Grube (1941) 308, Stoessl (1956b) 64, Will (1960) 342–343, Hartigan (1991) 115). Aigisthos’ Frömmigkeit ist freilich nicht reiner als Orestes’, wenn er das Opfer an die Nymphen mit der Bitte um Elend für seine Feinde Orestes und Elektra verknüpft (E. El. 805–808, vgl. auch Gärtner (2005) 9–10) – beide handeln gemäß der bereits mehrfach erwähnten Maxime, den Freunden sei zu helfen, den Feinden zu schaden. Der Heimkehrer, der den Usurpator entthronen will, wird ohne List und Gewalt nicht auskommen; auch Odysseus hat die Freier nicht mit freundlichen Worten aus seinem Palast gebeten. Täuschung ist auch in Aischylos’ Choephoren und Sophokles’ Elektra im Spiel. Lloyd (1986a) 15–16 weist darauf hin, daß Opferhandlungen anders als das Asyl am Altar eines Gottes keinen besonderen Schutz geboten hätten und der Mord nicht deshalb unmoralisch sei. Vgl. Stoessl (1956b) 63, Brandt (1973) 93. Vgl. Vellacott (1984) 154–157, Hartigan (1991) 110–111. Orestes’ Versagen fällt umso mehr ins Gewicht, als er wie ein ephebischer Initiand auftrete, so Mastronarde (2010) 287–288. Vgl. Grube (1941) 312, Stoessl (1956b) 89.

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recht (E.  El.  974–978).182 Aber das Unglück, das daraus resultiert, ist Elektra offensichtlich nicht bewußt, denn erst nach dem Mord kommt das Erwachen. Während des Anschlags versagen Orestes die Kräfte, Elektra greift ein und führt ihm die Hand (E. El. 1221–1226).183 Noch glaubt sie sich der Richtigkeit ihrer Tat sicher zu sein, aber das erhoffte Glück will sich nicht einstellen. Die Klage der Kinder nach dem Mord an der Mutter ist überaus eindringlich. Insbesondere Elektra erlebt einen Umschwung ihrer Gefühle.184 Vor dem Mord ist sie vom Rachegedanken erfüllt und glaubt, sie werde sich darüber freuen können. Nach der Tat bezeichnet sie sich als die Schuldige (αἰτία δ’ ἐγώ und ἐγὼ δέ ἐπεκέλευσά σοι / ξίφους τ’ ἐφηψάμαν ἅμα, E. El. 1182 und 1224–1225 – die Schuld belastet mich und ich aber ermunterte dich dazu / und packte die Waffe mit an).185 Nun spürt sie das Dilemma: die Rache für den Vater erforderte den Mord an der Mutter. Kastor formuliert es, an Orestes gerichtet, prägnant: δίκαια μέν νυν ἥδ’ ἔχει, σὺ δ’ οὐχὶ δρᾶις (E. El. 1244), sie ward zurecht bestraft, doch deine Tat ist unrecht.186 In der Intensität dieser Spannung unterscheidet sich das euripideische Drama deutlich von Aischylos’ und Sophokles’ Tragödien. Bei Aischylos wird die Spannung von Orestes weniger empfunden, weil die Rache ein Auftrag Apollons war, bei Sophokles ist die Zukunft ausgeblendet und die Spannung damit gering. Bei Euripides wird die traditionelle Rache zur persönlichen Tragödie.187 Der Auftritt der Dioskuren läßt den Zuschauer/Leser höchst unbefriedigt zurück. Auf der Ebene der mythisch vorgegebenen Struktur beantworten die Götter alle offenen Fragen: Orestes muß sich in Athen freisprechen lassen, Elektra 182

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Vgl. Schwinge (1968) 93–95. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, daß Mossman (2001) 377 schreibt, Elektras und Orests Fehler sei nicht, nicht heroisch zu agieren, sondern in ihrem Heroismus fehlgeleitet zu sein. Eine „richtige“ Handlungsweise gibt es bei der vorgegebenen mythischen Struktur nicht. So auch Assael (2001) 174. Vorsicht geboten ist bei der Identifizierung der Dichtermeinung, die Guardì (1976) 15 in Orestes’ Worten E. El. 985–987 gefunden zu haben glaubt; ein Gott könne so etwas wie einen Muttermord nicht befehlen. Stoessl (1956b) 53–54. Hartigan (1991) 121 weist auf den Plural τέκνα (E. El. 1165) hin; er zeige, daß Orestes und Elektra die Tat gemeinsam begingen. Papadimitropoulos (2008) 123 findet, daß Orestes’ Zögern für ihn spreche. Stoessl (1956b) 75, de Romilly (1992) 246. Strohm (1981) 142 bezeichnet den Zusammenbruch nach dem Mord als den expressiven Höhepunkt der Elektrarolle. Anders Zürcher (1947) 132–133, der einen Bruch in der Darstellung Elektras feststellt. Bis zum Muttermord sei Elektras treibende Haltung bestimmend, danach sei Orests zögernde Einstellung entscheidend, und Elektras Haltung werde angeglichen. Angesichts seiner Betonung der psychologischen Motivierung von Elektras Handeln (Zürcher (1947) 115–120) verwundert es, daß er die Möglichkeit der Selbsttäuschung vor und der Verzweiflung nach der Tat leugnet, obwohl sie sich schlüssig auch aus seiner Deutung ergäben. Michelini (1987) 228 weist darauf hin, daß das Antreiben eine typisch weibliche Rolle sei in einer Gesellschaft, in der sich Frauen passiv verhalten sollen und nur durch andere handeln können. Gärtner (2005) 3–7 bezeichnet Elektra angesichts ihrer bestimmenden Rolle als Muttermörderin, soweit der Mythos das zulasse. In den Anordnungen der Götter wird Elektras Schuld ignoriert, wenn sie als Pylades’ Gattin wieder in ein Herrscherhaus einzieht (Gärtner (2005) 24–28). Zur Haltung des Chors vgl. Zeitlin (1970) 268, Mastronarde (2010) 121. Vgl. Dubischar (2001) 329–333. Vgl. Steiger (1912) 17–25, de Romilly (1961) 11–25.

Elektra

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heiratet Pylades, der Bauer wird finanziell versorgt, die Verantwortung übernimmt Apollon. Auf der menschlichen Ebene, die das Drama insgesamt, vor allem aber die Szene nach dem Muttermord dominiert, klären die Götter nichts. Den Geschwistern bleibt die Heimat für immer verschlossen, ebenso ihre eben erst wiedergewonnene Gemeinschaft. Besonders aber bleibt ihnen die begangene Tat; die Schuld ist nicht von ihnen genommen, nicht einmal erleichtert.188

5.3.3 Zusammenfassung Wieder führen die aristokratischen Werte zu einem menschlichen Desaster. Obwohl die Geschwister mit der Rache für den Vater innerhalb der aristokratischen Normen handeln, endet das Drama als Katastrophe.189 Der traditionelle Mythos bannt diese Katastrophe in der Gestalt der Erinyen. Sie bedrängen Orestes und treiben ihn fast zur Verzweiflung; trotzdem kann Orestes ihnen, als Wesen, begegnen und sie überwinden. In Euripides’ Elektra verändert sich der Blick. Euripides zeigt das menschliche Erleben, er zeigt die untragbare Last, die nach dem Muttermord auf den Kindern lastet und unabwendbare Folgen hat. Alle Belege für εὐγενής/γενναῖος werden vom Bauern und Orestes gesprochen oder über sie gesagt.190 Beide kennen die Unbeständigkeit des Schicksals, denn beide stammen sie aus einem aristokratischen Haus, leben aber in Armut (Bauer) oder im Exil (Orestes). Es ist daher plausibel, daß gerade ihnen die Werte und Konventionen eines intakten aristokratischen Lebens fragwürdig sind und anderen an ihnen fragwürdig erscheinen. Dennoch sind sie in ihrer Haltung unterschiedlich konsequent: Orestes, der Hoffnung auf eine Restitution hat, bleibt stärker im aristokratischen Denken verhaftet. Im Gegensatz zur Alkestis und den Herakliden zeigt Euripides in diesem Drama nicht nur die Unzulänglichkeit des alten Wertekanons, den er eher vage durch Andeutungen auf die Interessen der Polis erweitert. Neu ist, daß einer der handelnden Charaktere eine neue Bestimmung wertvollen Verhaltens unternimmt. Der Bauer ist eine neue, von Euripides erfundene Figur, arm, aber aus gutem Hause. So ist es plausibel, daß gerade er die alten Werte neu denkt – seine Worte gewinnen Gewicht. Der Wert, den er erstmals mit dem Adel verknüpft, ist die Genügsamkeit, eine Haltung, die aristokratischem Selbstverständnis fern liegt; sie entspringt philosophischen Vorstellungen der Zeit und kommt einer demokratischen Einstellung entgegen. Der Zuschauer oder Leser ist aufgefordert, die neuen Maßstäbe an das Verhalten der Protagonisten anzulegen, insbesondere derer mit aristokratischer Herkunft und ausgeprägtem aristokratischem Bewußtsein. Orestes nimmt die Einladung des Bauern in sein kleines Haus mit der Bemerkung an, die προθυμία des Armen sei für ihn als Gast mehr wert als 188

189 190

Zürcher (1947) 138–139, Webster (1967) 146–147, Kullmann (1987) 18–19, Michelini (1987) 226, Dunn (1996) 36–37, Gärtner (2005) 26–28, Origa (2007) 95–98. Anders Spira (1960) 103–104, nach dessen Auffassung mit den Anweisungen der Dioskuren Gerechtigkeit hergestellt und das Geschehen in eine höhere Ordnung eingefügt sei, ähnlich Thury (1985). Harder (1993) 327. Mit Ausnahme von E. El. 1097, vgl. oben.

198 Euripides

Reichtum (E. El. 394–395). Darin äußert sich ein Wertmaßstab, der deutlich vom aristokratischen abweicht. Die Genügsamkeit, die der Bauer als Kriterium ausgegeben hat, könnte auf dieser Grundlage wachsen. Orestes’ Einsicht bleibt jedoch punktuell. Er richtet sich nicht kontinuierlich nach dem von ihm selbst aufgestellten Grundsatz, die Menschen nach ihrem Charakter, nicht nach ihrem sozialen Stand zu beurteilen. Eine Einladung in einen reichen Palast wäre ihm doch lieber (E. El. 397–398): mit den bescheidenen Verhältnissen des Bauern kann er nicht zufrieden sein. Doch auch dem aristokratischen Maßstab wird er, wie wir oben sahen, nicht gerecht. Elektra erwartet einen anderen Bruder und treibt ihn an, wo er hinter den Erwartungen zurückbleibt. Elektra will von Bescheidenheit nichts wissen. Sie leidet unter ihrer ärmlichen Situation und äußert dies mehrfach. Zwar wird in der ersten Szene deutlich, daß sie Wasser holen geht, obwohl der Bauer ihr zugestehen würde, es nicht zu tun; doch dieser Gang ist nicht Ausdruck ihrer Freude am einfachen Leben und kleinen Glück. Sie begründet ihr Handeln zum einen mit ihrer Dankbarkeit gegen den Gatten, zum anderen mit dem Wunsch, die Anklage gegen Aigisthos öffentlich werden zu lassen. Die Geschwister erleben im Verlauf des Dramas eine persönliche Katastrophe, die nur unbefriedigend von den Dioskuren gelöst wird, während der Bauer mit Reichtum beschenkt wird und so einen sozialen Aufstieg erfährt. Er hatte sich zunächst durch seine ergebene Haltung ausgezeichnet, dann aber das Wesen von Adel auf eine neue und unaristokratische Weise gefaßt. Ironischerweise besteht seine Belohnung in Reichtum, einem Wert, der nach dem aristokratischen Kanon Zeichen von Adel ist, während er selbst die Genügsamkeit als Merkmal ausgerufen hatte.191 Die Bestimmung der εὐγένεια kommt immer wieder zur Sprache, jedoch nur in der ersten Hälfte des Dramas.192 Alle Belege finden sich bis E. El. 551, danach fällt der Begriff nicht mehr.193 Damit stehen alle Belege in dem Teil des Dramas, in dem die Situation vor der Rachehandlung exponiert wird. Der Zuschauer lernt die Figuren kennen, ebenso wie die Bühnenpersonen einander kennenlernen. Fast an allen Stellen werden die Begriffe vom Stamm γεν- im Zusammenhang mit dem Kennen, Nicht-Kennen, Gut-Kennen oder Wiedererkennen anderer Personen gebraucht und diskutiert; beinahe immer spielt dabei die Differenz zwischen äußerer Erscheinung oder erstem Eindruck und tatsächlichem, innerem Wesen eine Rolle. Rekapitulieren wir die Stellen kurz unter diesem Blickwinkel: Die ersten Belege begegnen im Prolog, wo die Zuschauer die neue Figur des Bauern kennenlernen; der Bauer spricht von der Diskrepanz zwischen Berühmtheit und Armut seines Geschlechts (E. El. 22–39). Die nächsten Belege finden sich im Dialog zwischen Elektra und Orestes, den sie noch für einen Boten ihres Bruders hält. Orestes lernt den Bauern kennen, zunächst durch Elektras Bericht; die Ge191

192

193

Arnheim (1977) 172 weist außerdem darauf hin, daß der Bauer Elektra als Ehefrau hergeben müsse. Egli (2003) 228 konstatiert zwar diesen auffallenden Befund, unternimmt jedoch keinen Versuch, ihn zu erklären. Der Begriff fällt nicht mehr, mit Ausnahme des Belegs E. El. 1097, vgl. oben.

Elektra

199

schwister sprechen über den empfundenen Gegensatz zwischen seiner Armut und seinem diskreten Verhalten (E. El. 252–262). Die folgenden Belege stehen in der Szene nach der Rückkehr des Bauern vom Feld. Orestes und der Bauer lernen einander kennen; der Bauer weist auf den Kontrast zwischen seiner Armut und seinem Verhalten hin, was Orestes anschließend in allgemeinerer Weise noch einmal reflektiert und Elektra ihrem Mann zum Vorwurf macht (E. El. 358–385, 404–407). Die letzten Belege finden wir bei der Ankunft des alten Pädagogen; er erkennt Orestes wieder und verhilft Elektra zur Erkenntnis ihres Bruders. Elektra wehrt sich gegen ein Erkennen aufgrund einer äußerlichen Ähnlichkeit, der Alte formuliert beim Anblick der Fremden die Unsicherheit des ersten Eindrucks (E. El. 524–531, 550–551). Mit der Anagnorisis sind die Identität und Disposition der an der Rachehandlung beteiligten Personen offengelegt, und die Ausgangslage für die Mordpläne ist geschaffen. Nun werden die Pläne geschmiedet und durchgeführt, die Dioskuren retten die Geschwister anschließend aus ihrer unglücklichen Lage. Auf der Grundlage der immer wieder formulierten Unzuverlässigkeit des Augenscheins und ersten Eindrucks ist der erste Teil des Dramas bis zur Anagnorisis geprägt von einem ständigen Prüfen, ja Mißtrauen. Einer will den anderen einschätzen, kann sich jedoch nicht auf den Augenschein verlassen: Der alte Erzieher traut Aigisthos nicht und schafft den kleinen Orestes außer Landes (E. El. 16–18), Aigisthos traut Elektra nicht und gibt sie einem Bauern zur Frau (E. El. 34–35), der Bauer und Elektra trauen Aigisthos nicht und verheimlichen ihm, daß sie die Ehe nicht vollzogen haben (E. El. 271), Orestes versteckt sich vor der vermeintlichen Sklavin und möchte zuerst ihre Worte hören (E. El. 107– 111), Elektra fürchtet sich vor Orestes und vertraut ihm erst, als er sich als Orestes’ Bote zeigt (E. El. 215–229), ebenso der Bauer (E. El. 341–349), Orestes mißtraut dem Chor und ist beunruhigt, daß dieser das Geheimnis von Elektra und ihrem Gatten gehört hat (E. El. 272), der Pädagoge will die jungen Männer selbst befragen und traut nicht dem ersten Eindruck, sondern möchte sie nach ihrem Verhalten beurteilen (E. El. 547–551), für Orestes’ Identität führt er die Narbe als Beweis an (E. El. 573–574), nun ist auch Elektra überzeugt (E. El. 518–546, 575). Die Prüfung der anderen und ihres Handelns fehlt den Charakteren dagegen im zweiten Teil des Dramas, ebenso wie Belege für εὐγενής/γενναῖος. Aigisthos und Klytaimestra laufen blind in die gestellten Fallen, auch Elektra und Orestes laufen in ihr Unglück. Alle vier lassen sich vom Augenschein täuschen: Aigisthos und Klytaimestra von der scheinbaren Freundlichkeit der Mörder (E. El. 779, 1132), Orestes und Elektra von der scheinbaren Befreiung, die sie sich von der Rachehandlung versprechen (E. El. 614, 624, 866–872, 892, 901). Sie versäumen zu prüfen und unter die Oberfläche zu schauen. Der zweite Teil des Dramas spiegelt, was im ersten Teil am Begriff der εὐγένεια erarbeitet wurde: Sobald man nicht mehr hinterfragt, begeht man Fehler, die in den Tod oder ins Unglück führen. Die Geschwister hätten die Einsicht, daß die Traditionen nicht handlungsleitend sein können, auf ihr Verhalten anwenden müssen. Orestes zögert noch (E. El. 967–987, 1206–1209, 1214–1217), verhüllt aber dann doch sein Haupt (E. El. 1221) – ein sinnfälliges Bild dafür, daß er das frühere Prüfen verwirft. Auch Aigisthos wird kurz mißtrauisch, doch erst bei der Eingeweideschau und damit zu spät (E. El. 826–833). Nicht einen

200 Euripides

Anflug von Zögern zeigt dagegen Elektra. Klytaimestras Rede, mit der die Mutter resigniert, fast positiv gezeichnet ist, könnte Elektra als Grundlage für eine Prüfung ihres Vorhabens dienen, weil die Rede die Argumente der Gegenseite versammelt (E. El. 1011–1110). Doch Elektra denkt eindimensional, für sie gibt es nur die Rache. Sie treibt den zögernden Orestes in den Mord und faßt auch selbst mit an (E. El. 968–984, 1224–1225). Das Drama zeigt die Ebenen der Erkenntnis, die Konvention, die ihre Urteile aufgrund äußerer Erscheinung trifft, den geforderten Umgang mit ihr, der die Prüfung des inneren Werts verlangt, und das Verhängnis, das aus der Vernachlässigung dieser Forderung entsteht. Nur auf der Bühne gelingt die Lösung durch die Götter. Die εὐγένεια ist in der Elektra das Symbol für die Notwendigkeit, zu prüfen und hinter die Fassade zu blicken.

5.4

Ion

Wie in den Herakliden auf die Familie des Herakles, konzentriert sich auch im Ion ein großer Teil der fünfzehn Belege für εὐγένεια auf eine Familie, das athenische Königshaus. Der Begriff ist verbunden mit dem Gedanken der Erdgeborenheit. Es wird zu fragen sein, wie sich dies auf das Verständnis von εὐγένεια auswirkt.

5.4.1 Kreusa und das Königshaus Hermes gibt im Prolog die notwendigen Fakten der Vorgeschichte und der erwarteten Bühnenhandlung. Apollon hatte einst Kreusa, der athenischen Königstochter, Gewalt angetan; den heimlich geborenen Sohn setzte sie unbemerkt aus. Apollon ließ ihn durch Hermes nach Delphi bringen, wo er als Tempeldiener zu jugendlichem Alter heranwuchs. Kreusa hat inzwischen den Achaier Xuthos geheiratet, der sich durch militärische Unterstützung um Athen verdient gemacht hat; weil die Ehe kinderlos ist, wollen die beiden das Orakel von Delphi befragen (E. Ion 1–67). Apollon plant, Xuthos seinen Sohn Ion zu schenken, Mutter und Sohn in Athen einander erkennen zu lassen und Ion zum Stammvater der Ionier zu machen (E. Ion 67–75).194 Während Ion den Tempelvorplatz fegt und sprengt und die Vögel von den Gesimsen vertreibt, besingt er das Glück seines Dienstes für den Gott. Er ist mit sich und der Welt im reinen (E. Ion 82–183). Den Chor bilden Kreusas Dienerinnen. Sie schwärmen ein als staunende Touristinnen; verwundert finden sie am delphischen Tempel Motive, die ihnen aus Athen vertraut sind.195 Mit dem letzten Vers der Parodos kündigen sie Kreusas Auftritt an (E. Ion 184–237). Ion spricht Kreusa an:196 194

195 196

Zur Genealogie und euripideischen Neuerung des Stammbaums vgl. Wassermann (1940) 597, Conacher (1959) 24–25 und (1967) 272–273, Cole (1997), Vogt (1998) 46–47, Gavrilov (2002) 61–66. Hose (1990) 135–136. Lloyd-Jones (1957) 97 fordert vor E. Ion 237 eine Lacuna, da Ion Kreusa nicht formal anspreche. Tatsächlich würde ein zusätzlicher Vers die Begrüßung dem Üblichen angleichen

Ion

201

γενναιότης σοι καὶ τρόπων τεκμήριον τὸ σχῆμ’ ἔχεις τόδ’, ἥτις εἶ ποτ’, ὦ γύναι. γνοίη δ’ ἂν ὡς τὰ πολλά γ’ ἀνθρώπου πέρι τὸ σχῆμ’ ἰδών τις εἰ πέφυκεν εὐγενής. ἔα· ἀλλ’ ἐξέπληξάς μ’, ὄμμα συγκλήισασα σὸν δακρύοις θ’ ὑγράνασ’ εὐγενῆ παρηίδα, ὡς εἶδες ἁγνὰ Λοξίου χρηστήρια. τί ποτε μερίμνης ἐς τόδ’ ἦλθες, ὦ γύναι; οὗ πάντες ἄλλοι γύαλα λεύσσοντες θεοῦ χαίρουσιν, ἐνταῦθ’ ὄμμα σὸν δακρυρροεῖ; (E. Ion 237–246) Dir wohnt γενναιότης inne und als Merkmal deiner Sinnesart dient deine Haltung, wer du auch sein magst, Herrin. Man kann ja an der Haltung eines Menschen meist schon erkennen, ob er εὐγενής von Herkunft ist. Oh, du erschreckst mich, deine Augen schlugst du nieder, und deine Wange, die εὐγενής ist, netztest du mit Tränen, als du das Heiligtum des Loxias erblickt. Was konnte solchen Kummer dir erregen, Herrin? Wo jeder andre, der das Haus des Gottes schaut, sich freut, da muß dein Angesicht in Tränen schwimmen?

Ion hatte die Dienerinnen kurz vor Kreusas Auftritt noch gefragt, wer ihre Herrin sei, doch deren indirekte Antwort (Παλλάδι σύνοικα τρόφιμα μέλαθρα τῶν ἐμῶν τυράννων, E. Ion 235 – Pallas selbst wohnt unter dem nährenden Dach meiner Herrin) war für ihn offensichtlich nicht verständlich, wie er mit einer Wendung in der Anrede an Kreusa und seiner späteren Frage nach ihrer Identität zeigt (ἥτις εἶ ποτ’, Ε. Ion 238; 258). Er muß angesichts der größeren Schar von Dienerinnen mit einer hochgestellten Person rechnen; daß er aber mit der Königin von Athen spricht, weiß er zunächst noch nicht. Das ist für die Βedeutung von γενναιότης/εὐγενής an dieser Stelle wichtig. Ion spricht Kreusa als erstes γενναιότης zu und begründet seine Aussage dann mit Kreusas Auftreten.197 Überhaupt könne man ja meistens vom σχῆμα auf die εὐγένεια schließen. Dieser enge Bezug zwischen σχῆμα und εὐγένεια legt nahe, daß Ion den Begriff der εὐγένεια in traditioneller Weise als gleichermaßen äußeren wie inneren Vorzug faßt: Für den Betrachter zeigt sich εὐγένεια

197

und könnte dem harten Fehlen der Kopula bei γενναιότης σοι abhelfen, vgl. Owen (1939) 89 (ad loc.), Diggle (1981) im kritischen Apparat. Doch auch der überlieferte Text läßt sich als situationsbezogen und charakteristisch für Ion begründen, vgl. z. B. Burnett (1970) 42– 43 (ad loc.), Lee (1997) 186–187 (ad loc.), Pellegrino (2004) 221 (ad loc.), Mirto (2009) 238 (ad 237–257). Wecklein (1912) 18 (ad 237), von Wilamowitz (1926) 97 (ad loc.) weisen auf die Parallele E. Ph. 1680 γενναιότης σοι, μωρία δ’ ἔνεστί τις hin. LSJ s. v. σχῆμα nennen E. Ion 238 bei der Grundbedeutung „form, shape, figure“ gleich als ersten Beleg, ähnlich Wecklein (1912) 18 (ad loc.), Ammendola (1951) 27 (ad 237–240). Damit ist der Begriff an der vorliegenden Stelle meines Erachtens zu eng gefaßt, vgl. auch von Wilamowitz (1926) 97 (ad 237), Owen (1939) 89 (ad 237).

202 Euripides

im σχῆμα, die inneren Werte dringen als τρόποι nach außen;198 die εὐγένεια ist dem Träger von Natur gegeben (πέφυκεν). Dieses Menschenbild steht im Einklang mit dem Eindruck, den der Zuschauer bislang von Ion gewonnen hat. Er ist im Tempelbezirk und fern der Welt aufgewachsen; sein Umgang waren die Priester und Priesterinnen des Heiligtums und die wechselnden Besucher des Orakels. Er weiß noch nichts von Zweifel, Bosheit oder Falschheit, sondern geht selbstverständlich von der Einheit innerer und äußerer Erscheinung aus. Deshalb ist er betroffen, als er Kreusa weinen sieht.199 Die Juxtaposition von δακρύοις θ’ ὑγράνασ’ und εὐγενῆ παρηίδα in einem Vers legt nahe, daß in Ions Augen auf eine edle Wange offensichtlich keine Tränen gehören, zumal bei einem Besuch in Delphi.200 Diese Ansicht zeigt sich auch im weiteren Verlauf des Dialogs.201 Ion kennt nur Gesichter, die beim Anblick des Heiligtums hoffnungsvoll aufleuchten. Mit seiner Frage nach Kreusas Kummer zeigt er Mitgefühl, ein erstes Zeichen für die Verbundenheit, die Mutter und Sohn unwillkürlich empfinden,202 sein Erstaunen ist außerdem ein erstes Indiz für die Risse, die sein Weltbild angesichts von Kreusas Erlebnissen mit dem Gott bald bekommen wird. Kreusas Klagen sind für Ion unverständlich und sollen es auch sein (E. Ion 252– 257).203 Dann nimmt das Gespräch eine konventionelle Wendung:

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Ιων Κρ. Ιων Κρ.

τίς δ’ εἶ; πόθεν γῆς ἦλθες; ἐκ ποίας πάτρας πέφυκας; ὄνομα τί σε καλεῖν ἡμᾶς χρεών; Κρέουσα μέν μοι τοὔνομ’, ἐκ δ’ Ἐρεχθέως πέφυκα, πατρὶς γῆ δ’ Ἀθηναίων πόλις. ὦ κλεινὸν οἰκοῦσ’ ἄστυ γενναίων τ’ ἄπο τραφεῖσα πατέρων, ὥς σε θαυμάζω, γύναι. τοσαῦτα κεὐτυχοῦμεν, ὦ ξέν’, οὐ πέρα. (E. Ion 258–264)

Ion Kr. Ion Kr.

Wer bist du? Woher kommst du? Welchem Vaterland entstammst du? Und wie habe ich zu nennen dich? Kreusa ist mein Name, und Erechtheus war mein Vater. Meine Heimat ist die Stadt Athen. Du wohnst in einer hochberühmten Stadt und sproßt von Vätern, die γενναῖοι waren. Voll Ehrfurcht grüße ich dich, Herrin. So weit reicht unser Glück, Freund, weiter nicht.

Lee (1997) 187 (ad 237) weist darauf hin, daß der Begriff τεκμήριον Ions Zuversicht, Menschen nach ihrem Äußeren beurteilen zu können, während er die Identität seiner Mutter und von sich selbst nicht kenne, ironisch beleuchte, so auch Pellegrino (2004) 221–222 (ad 237). Halleran (1985) 104 betont, daß Kreusa bei ihrem Auftritt zunächst einmal nichts wahrnehme, sondern ganz in ihren Kummer versunken sei. Wecklein (1912) setzt – kommentarlos – εὐπρεπῆ statt εὐγενῆ in seinen Text, dagegen Owen (1939) 89 (ad 240–242). E. Ion 262, vgl. unten. So auch Wecklein (1912) 18 (ad 237–451), Owen (1939) 89 (ad 237), Mirto (2009) 238 (ad 237–257). Etwas sachlicher Hoffer (1996) 304. Die Wirkung der Szene beruht auf unserer Kenntnis und Kreusas und Ions Unkenntnis der Verwandtschaftsbeziehung, Grube (1941) 262. Hoffer (1996) 306–308 arbeitet das Spiel mit der Doppeldeutigkeit der Begriffe τλήμων und δίκη heraus.

Ion

203

Auf Ions Frage nach ihrer Herkunft und Identität antwortet Kreusa mit ihrem Namen, dem ihres Vaters und ihrer Heimatstadt. Ion reagiert mit einem spontanen Ausruf. Er preist Kreusa für ihre berühmte Stadt und die edlen Vorfahren und bringt seine Ehrfurcht vor Kreusa zum Ausdruck.204 Innerhalb weniger Verse gebraucht Ion zum vierten Mal einen Begriff vom Stamm γεν-, hier γενναῖος. Wieder verwendet er das Attribut im traditionellen Sinne. Kreusa stammt aus dem Königshaus, so daß er ihre Vorväter mit gutem Recht γενναῖοι nennen kann. Kreusa bestätigt seine preisenden Worte, soweit sie sich auf ihre Herkunft beziehen, und bezeichnet sich als εὐτυχής. Darüber hinaus sei sie jedoch, wieder unverständlich für Ion, vom Glück nicht gesegnet. Kreusa befragt nun Ion nach seinem Schicksal und berichtet anschließend von ihren eigenen Erlebnissen mit Apollon, die sie allerdings als die einer Freundin ausgibt. Beide scheinen zu erkennen, wie genau ihre Schicksale sich ergänzen (besonders E. Ion 320, 325, 354, 359), doch es kommt noch nicht zur Wiedererkennung.205 Ion verwehrt Kreusa die erbetene Frage an Apollon, was mit dem ausgesetzten Knaben geschehen sei (E. Ion 346), da man nicht suchen solle zu erfahren, was der Gott offensichtlich verbergen wolle (E. Ion 365–380).206 Kreusa empfindet die Zurückweisung als neue Ungerechtigkeit des Gottes, ergibt sich aber darein (E. Ion 384–391). Durch Mehrdeutigkeiten, Mißverständnisse, Verheimlichungen und Parteinahmen kommt Kreusa zur Überzeugung, daß sie Ion noch in Delphi töten müsse, um sein Eindringen in das athenische Königshaus zu verhindern. Das dritte Stasimon repräsentiert die Zeit des Mordversuchs: Εἰνοδία θύγατερ Δάματρος, ἃ τῶν νυκτιπόλων ἐφόδων ἀνάσσεις, καὶ μεθαμερίων ὅδωσον δυσθανάτων κρατήρων πληρώματ’ ἐφ’ οἷσι πέμπει πότνια πότνι’ ἐμὰ χθονίας Γοργοῦς λαιμοτόμων ἀπὸ σταλαγμῶν τῶι τῶν Ἐρεχθεϊδᾶν δόμων ἐφαπτομένωι· μηδέ ποτ’ ἄλλος ἥκων πόλεως ἀνάσσοι πλὴν τῶν εὐγενετᾶν Ἐρεχθειδᾶν. (E. Ion 1048–1060) Einodia, Tochter Demeters, du Herrin der Straßen bei Nacht, auch bei Tage geleite im tödlichen Becher das Gift an das Ziel, zu dem 204

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Den Aspekt der Ehrfurcht im Verb θαυμάζω (gegen den der Bewunderung) betonen Wecklein (1912) 20 (ad 263), Lee (1997) 189 (ad 263). Owen (1939) 91 (ad 262) sieht in Ions Ausruf einen Appell an den Patriotismus der Zuschauer. Lee (1996) 92 bemerkt, daß der Aufschub, den die Wiedererkennung von Mutter und Sohn erfährt, für Apollon winzig ist, für Kreusa nach den Jahren des Wartens unerträglich. Grube (1941) 264 vermutet, daß Ion die Frage an den Gott auch deshalb nicht zulassen möchte, weil er die Relevanz für seine eigene Situation erkenne.

204 Euripides meine Herrin es schickt, das Blut, das Gorgo, die Tochter der Erde vergoß, als das Haupt ihr vom Rumpfe getrennt ward, zum Tode für ihn, der die Hand ausstreckt nach dem Thron der Erechtheussöhne. Nie sei ein Fremder der Herr unsrer Stadt, nein, nur ein Sproß der Erechtheiden, die εὐγενέται sind!

Der Chor bittet um Gelingen. Er ruft Einodia an, die, bald mit Hekate, hier mit Persephone, Hades’ Braut, identifiziert, den Becher führen möge, der den giftigen Blutstropfen der Gorgo in Ions Kehle lenken soll.207 Gorgo ist als Erdgeborene und Symbol der Athena geeignet, die vermeintlichen Interessen des Königshauses durchzusetzen. Ion wird als Eindringling ins Haus des Ere­chtheus bezeichnet; der Chor will das Geschlecht wie vor einem Angriff schützen. Niemals dürfe eine andere Herrschaft als die der Erechtheiden in Athen entstehen.208 Die Erechtheiden sind durch das Attribut εὐγενέτης hervorgehoben.209 Es wirkt zusammen mit der Benennung der Familie als „Erechtheiden“. Das Patronymikon trägt die Bedeutung, die der Sprecher der Herkunft zuweisen möchte, bereits in sich, weil es die Familie nach dem Stammvater bestimmt. Immer wieder wird der Mythos von der Erdgeborenheit der athenischen Könige im Ion thematisiert (z. B. E. Ion 20–26, 268–274, im vorausgegangenen Epeisodion 99–1000). So evoziert der Kontext der Strophe auch hier die Erdverbundenheit des Königshauses. Bei den Vertretern des Erechtheusgeschlechts sind demnach εὐγενής und γηγενής äquivalent. Für die Erechtheiden fallen Erde und Herkunft zusammen. Als εὐγενής kann, wie Xuthos’ Beispiel zeigt,210 mancher bezeichnet werden; der Begriff dient allgemein zur Bezeichnung edler Abstammung. Für den athenischen Thron gelten strengere Kriterien: hier ist eine bestimmte Art der Herkunft gefordert, die nur eine Familie erfüllt. Wie beim alten Pädagogen fällt auch beim Chor der Dienerinnen eine besondere Identifizierung mit den Interessen ihrer Herrschaft auf.211 Sie geht über den Wunsch nach einem gewissen Wohlstand hinaus, der auch das Leben der Dienerschaft angenehmer macht, und erstreckt sich auf die Erhaltung der εὐ-

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210 211

Owen (1939) 138 (ad 1048) nennt E. Med. 396–397, wo Hekate, die mit Einodia gleichgesetzt wurde, Medea bei der Zauberei unterstütze; in dieser Funktion rufe auch der Chor sie an. Für die Identifizierung mit Persephone verweist er auf E. Ion 1085, eine Anspielung auf die eleusinischen Mysterien; der Bezug zu Kore mag auch in Passageriten zu suchen sein, vgl. DNP s.v. Hekate 268. Vgl. auch Lee (1997) 275 (ad 1048), Pellegrino (2004) 287 (ad 1048). Zur Konjektur ἥκων für οἴκων vgl. Diggle (1969) 48–49. Hose (1991) 61–62 weist darauf hin, daß in der vorliegenden ersten ebenso wie in den folgenden Strophen dieses Chorlieds jeweils im Schlußsatz der Irrtum des Chors deutlich werde. Das sei zum einen ironisch, zum anderen verdeutliche es, daß der Mord an einem nächsten Angehörigen drohe, und entspreche damit nach Aristoteles einer besonders tragischen Situation. εὐγενέτης findet sich auch sonst statt εὐγενής in lyrischen Partien, Wecklein (1912) 62 (ad loc.). Vgl. unten. So auch Schwinge (1968) 80, Lee (1997) 276 (ad 1058–1060). Zum Pädagogen vgl. unten.

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γένεια, der Reinheit des königlichen Blutes. Von ihr hängt mehr ab als der Stolz der Königstochter; auch das Glück der Stadt ist damit verknüpft (E. Ion 721).212 Hier ist die Frage nach Kreusas Schuld zu stellen. Sie ist deshalb für unsere Untersuchung wichtig, weil Kreusa als Vertreterin des athenischen Königshauses mit einem bestimmten Anspruch auftritt (nur ein Nachkomme von ihr, aus erdgeborenem Geschlecht, darf König werden), diesem Anspruch jedoch auch in ihrem Verhalten gerecht werden muß, soll ihre Forderung nach einem eingeborenen Thronfolger ihre Berechtigung haben. Wir müssen also fragen, ob der Mordversuch Kreusa zum Vorwurf zu machen sei, in einer Weise, die sie und ihr Haus diskreditierte. Kreusa handelt in Unwissenheit, sie weiß weder, wen sie zu töten im Begriff ist, noch weiß sie, wie glücklich der Ausgang vom Gott vorgesehen ist. Ihre Unwissenheit wiederum kann man ihr zum Vorwurf machen oder zu ihrer Entlastung anführen.213 Jedenfalls handelt sie meines Erachtens aus ihrer inneren Verfassung heraus verständlich.214 Um Kreusas Verhalten beurteilen zu können, müssen wir auch Apollons Rolle in den Blick nehmen. Die unübersichtliche Situation, die Kreusa zu einem Komplott gegen ihren eigenen Sohn veranlaßt, ist durch Apollon herbeigeführt worden. Die Vorwürfe, die Kreusa gegen den Gott erhebt, treffen größtenteils nicht zu; Apollon hat für den Sohn gesorgt und ist eben dabei, ihm einen guten Platz im Leben zu verschaffen (E. Ion 28–75, 1560–1605).215 Ein grundsätz212

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Loraux (1990) 186–187 sieht eine Verschmelzung von Oikos und Polis, weil durch Kreusas Unfruchtbarkeit nicht nur Erechtheus’ autochthones Haus untergehe, sondern die Stadt auch keinen König mehr bekomme. Der Vergleich verschiedener Autochthoniemythen zeigt, daß von Erdgeborenen kaum männliche Nachkommen abstammen; Unfruchtbarkeit ist ein typisches Problem, vgl. Loraux (1990) 190–193. Ion durchbricht das Problem der Reproduktion, wodurch Athen erst „Mutterstadt“ werden könne, vgl. Zacharia (2003) 66–70, 100. Vgl. z. B. Burnett (1971) 111–112, Strohm (1976) 70, Gauger (1977) 97, Borowska (1989) 122–124, Farrington (1991) 131–136. Kreusa mangelndes Vertrauen in den Gott vorzuwerfen (Borowska (1989) 124) heißt, ihr eben ihre Tragik zum Vorwurf zu machen. Es ist eine Bedingung des Menschseins überhaupt: Der Mensch ist blind und muß doch handeln. In Kenntnis des Dramenendes ist es freilich billig, von Kreusa mehr Vertrauen in Apollon zu fordern, psychologisch plausibel ist es nicht. Grube (1941) 270–271 weist darauf hin, daß Kreusa einzelne Vorschläge des Pädagogen zurückweist, was zeige, daß sie die Verantwortung für den Mordplan trage, ähnlich Gauger (1977) 46–50. Das ist insofern richtig, als Kreusa nicht als willenloses Werkzeug des alten Mannes erscheint, der deshalb an ihrer Stelle verantwortlich wäre. Kreusa handelt in vollem Bewußtsein, aber auf einer irrtümlichen Grundlage, für die sie nicht die Verantwortung trägt. Vgl. auch Leimbach (1971) 66–67. Beschreibungen, die auf Kreusas Primitivität und ihrer blutrünstigen Rachsucht gründen, wie z. B. die von Mastronarde (1975) 296, gehen meines Erachtens an ihrem Charakter vorbei. Conacher (1959) 36–37 vermißt angesichts des Mordversuchs ethische Reflexionen bei Kreusa, daher kippe die Tragödie ins Melodramatische, vgl. auch Conacher (1967) 267–285. Lloyd (1986b) 35 betont, daß Ions und Kreusas Reaktionen verständlich und gerechtfertigt seien; außerdem führten sie zu einem glücklicheren Ende als dem von Apollon geplanten, da Ion gern und mit der Zustimmung von Kreusa und Athena nach Athen gehe. Das wird in der Literatur immer wieder betont, so z. B. von Wassermann (1940) 588, Grube (1941) 270, 277, Spira (1960) 53–59 (mit Bezug auf Ion) und 63–66, Burnett (1962) 89–93 und (1971) 128, Farrington (1991) 121–125, Meltzer (2006) 155, anders Leimbach (1971) 43. In

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lich negatives Bild des Gottes ergibt sich aus der Tragödie nicht, denn Kreusa ändert am Ende des Dramas ihre Meinung über Apollon grundlegend (E. Ion 1609–1613). Das zeigt, daß sie ihm ihre Leiden nicht deshalb vorwirft, weil sie gelitten hat, sondern weil sie in ihnen, da sie den Sohn ja tot glaubte, keinen Sinn erkennen konnte. Am Ende hat sie ihren Sohn wiedergefunden und für ihr Haus einen Thronfolger gewonnen; ihre Wünsche sind erfüllt, und das läßt sie das Vergangene akzeptieren.216 Daß Apollon das Mädchen vergewaltigt hat, geht aus dreien der fünf Berichte über das Ereignis hervor (E. Ion 11, 891–901, 941);217 von Anfang an spielen die Bedürfnisse der Frau eine untergeordnete Rolle für den Gott. Er setzt sich über ihren Widerstand hinweg, verbirgt dann die Schwangerschaft und hilft ihr bei der Niederkunft (E. Ion 14–15, 1596), läßt sie danach aber im unklaren über das Schicksal ihres Sohnes. Auch am Tag des Dramas gedenkt er, die Ereignisse so zu lenken, wie es ihm günstig erscheint, ohne ihre Wirkung auf Kreusa zu bedenken. Kreusa sollte nach seinen Plänen hinnehmen, daß sie – denn so muß es ihr scheinen – kinderlos bleibt, während ihr Mann einen fremden Sohn ins erdgeborene Königshaus einführt, ehe sie in Athen über die Identität des jungen Mannes aufgeklärt wird.

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Anbetracht der Informationen, die Kreusa hatte, ist die Anklage gerechtfertigt, vgl. Leimbach (1971) 69, Gauger (1977) 39. Der Bauschmuck am Tempel in Delphi, wie er in der Parodos geschildert wird, und die mythischen Darstellungen des Zeltes, das Ion für sein Geburtstagsfest auswählt, wurden in der Forschung als Analogie zur Beziehung von Kreusa und Apollon gedeutet, so z. B. von Rosivach (1977), Mastronarde (1975) 296–298 (verinnerlicht als Kampf in der Seele des Menschen), Hose (1990) 137–139. Dem ist widersprochen worden, vgl. z. B. Lloyd (1986b) 42. Um die Parallele wirksam werden zu lassen, muß man von einer Auseinandersetzung zwischen Apollon und Kreusa ausgehen – Hose (1990) 138 spricht von einer Rebellion – und von einer Niederlage der Kreusa. Beides trifft nicht zu. Kreusa handelt nicht gegen einen von ihr erkannten Willen des Apollon, sondern gegen eine Wand des Schweigens und der Ungewißheit; ferner wird Kreusa nicht „besiegt“, sondern sie erhält, was sie wünschte, und sie nimmt unmittelbar nach dieser Erkenntnis eine ehrende Haltung gegenüber Apollon ein. Offensichtlich wünschte sie nicht einen Sieg über Apollon, sondern Einvernehmen mit ihm, vgl. Danek (2001) 53–54. Pozzi (1991) assoziiert die Anspielungen auf Dionysos im Ion mit den wohltätigen Mächten der Erde, zu Dionysos als einem dem Drama zugrundeliegenden Muster vgl. Zeitlin (2011) 545–551, außerdem Zacharia (2003) 110–117. Vgl. auch Basta Donzelli (2010). So auch Lloyd (1986b) 36–37, Zacharia (2003) 93. Steiger (1912) 100 spricht sogar von Apollons Brutalität. Für eine Freudsche Lektüre der Figur vgl. Weiss (2008) 41–45. Thorburn (2000b) 40 meint, Kreusa beschönige mit dem Verweis auf Apollons goldene Haare und den goldenen Glanz ihres Kleids die Vergewaltigung und untergrabe ihre eigene Tragik. Die Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und gewaltsamem Verhalten verschärft meines Erachtens eher die Untat, vgl. auch Leimbach (1971) 76. Ebenso macht die Erwähnung der Nachtigall (E. Ion 1482) die Szenerie nicht romantisch, sondern steht für den Schmerz der Mutter, die ihr Kind getötet hat, vgl. Loraux (1990) 197–198. Spira (1960) 79– 81 weist darauf hin, daß göttliche Epiphanien stets gewaltsam erfolgten, weswegen man Apollon nach antikem Empfinden auch keine Vergewaltigung vorwerfen könne, ähnlich Wassermann (1940) 590.

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Im Gegensatz zu Apollon ist dem Menschenkenner Euripides deutlich, daß Kreusa das kaum aushalten kann.218 Als eine auf ihr γένος reflektierende Vertreterin ihrer Familie muß sie dies zu verhindern suchen.219 Ihre Reaktion ist inhaltlich durch die Gefahr für ihren οἶκος und psychologisch durch die Situation begründet. Kreusa kann also als entlastet gelten.

5.4.2 Der Alte Im dritten Epeisodion berichtet der Chor Kreusa und Erechtheus’ altem Pädagogen220 von Xuthos’ vermeintlicher Vaterschaft, jedoch so verzerrt und gedeutet, daß Kreusa sich abermals von Apollon und auch von Xuthos hintergangen glauben muß (E. Ion 747–807). Der Greis zieht aus den Informationen des Chores Schlüsse und stellt Vermutungen an, mit denen er zu zeigen glaubt, daß Xuthos Kreusa auf niederträchtige Weise betrogen habe (E. Ion 808–858).221 Kreusa habe daher nur eine Wahl: Xuthos’ Sohn, den Usurpator des Königsthrons ermorden, ehe sie ebendieses Schicksal selbst erleide (E. Ion 843–846). 218

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In eben dieser Ignoranz dem menschlichen Wesen gegenüber zeige sich Apollons Göttlichkeit, so Burnett (1971) 128–129. Hartigan (1991) 77, 86, sieht eine Kluft zwischen göttlichem Plan und menschlichem Verständnis, Imhof (1966) 15 betont Euripides’ Interesse am leidenden Menschen, vgl. auch Strohm (1976) 77–79, Zacharia (2003) 147. Mastronarde (1975) 308 spricht von den dunklen Seiten, die den Menschen anders und interessanter als die Götter machten. Die Rolle der Tyche betont Giannopoulou (1999/2000). Wassermann (1940) 589 betont die Diskrepanz nicht zwischen göttlicher und dichterischer Sicht, sondern zwischen den Rücksichten der patriarchalischen Gesellschaft und dem Blick des Dichters. Gauger (1977) 32 und 52–53 weist überzeugend darauf hin, daß die Demoralisierung des Menschen durch unzumutbares Unglück nur mit einer Figur wie Kreusa exemplifiziert werden könne, die, wie ihre Charakterisierung in der ersten Dramenhälfte zeige, eigentlich nicht zu gewaltsamen Lösungen neige. Für Ludwig (1954) 124 repräsentiert das durch die Menschen beeinflußte Geschehen die „natürliche Entwicklung“, in die der Gott eingreife. Zeitlin (1989) 164–165 sieht Apollons Plan in seiner ursprünglichen Form aus Gründen scheitern, die auf der Ebene der tragischen Konventionen liegen: Zum einen berichte der Chor die Neuigkeiten über Xuthos’ Vaterschaft, zum anderen verkehre das Stück die sexuelle Dominanz der Geschlechter. Weil die Frau bei der Übergabe von Mann zu Mann übergangen werde, übernähmen die Frauen die Handlung. Zeitlin sieht darin ein dionysisches Element. – Ion verknüpft Kreusas Adel und Kinderlosigkeit als besonderes Unglück (E. Ion 307, 619–620, auch der Chor 469–470), während Xuthos sich über Ions Legitimität als Thronfolger wenige Gedanken macht; ihm ist allerdings bewußt, daß nur Kreusa Ion die Macht übergeben kann (E. Ion 659–660), vgl. auch Wassermann (1940) 594, Leimbach (1971) 33, Zacharia (2003) 74. Rivier (1944) 124–125 meint, die politischen Gründe für den Mordanschlag seien vorgeschoben, der eigentliche Grund sei die verratene Mutterliebe, die aus E. Ion 1287 spreche. Der Text bietet allerdings keinen Hinweis darauf, daß die Reinhaltung des athenischen Königshauses ein Vorwand wäre; im Gegenteil ist die Erdgeborenheit allenthalben Gesprächsthema. Kreusas menschliche Verzweiflung steht dadurch nicht in Frage. Einleuchtender ist, daß Eifersucht und dynastische Gründe zusammenwirken. Lee (1996) 96 bemerkt, daß der alte Pädagoge eine lebende Verknüpfung mit der Vergangenheit der Erechtheidenfamilie sei. Auf der Grundlage dessen, was Kreusa und der Alte wissen, sind die Vermutungen und Schlüsse plausibel und nachvollziehbar, vgl. Leimbach (1971) 71–72, Gauger (1977) 23–26. Dem Chor dagegen wird von Interpreten eine bewußte Lüge unterstellt, so z. B. von Grube (1941) 269, Hartigan (1991) 79, anders Gauger (1977) 18–20.

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Doch Kreusa reagiert nicht auf die letzten Worte des Alten. Sie ringt mit sich, singt in einer ergreifenden Monodie von ihrem Leid, von der Vergewaltigung, der Aussetzung des Kindes, ihrer Ungewißheit über sein Schicksal, und bringt ihre Vorwürfe gegen den rücksichtslosen Gott vor (E. Ion 859–922).222 Chor und Diener trifft das Geständnis unerwartet; der Pädagoge aber fragt, weil manches nur angedeutet war, genauer, was geschehen sei und an welchem Ort, auch nach der Rolle des Gottes. In ruhigerem Ton möchte er die Situation noch einmal hören. Wiederum zögert Kreusa: Κρ. αἰσχύνομαι μέν σ’, ὦ γέρον, λέξω δ’ ὅμως. Πρ. ὡς συστενάζειν γ’ οἶδα γενναίως φίλοις. Κρ. ἄκουε τοίνυν· ...

(E. Ion 934–936)

Kr. Ich schäme mich vor dir, doch muß ich sprechen, Freund. Gr. Denn mit meinen Lieben kann ich auf eine Weise, die γενναῖος ist, trauern. Kr. Dann höre: ...

Kreusa äußert zunächst ihre Scham vor dem Alten, kündigt aber doch an zu sprechen. Der Diener versichert sie seines Mitgefühls, gleich darauf gibt sie Auskunft.223 Der Alte hat eben das zu bieten, was Kreusa jetzt braucht, einen einfühlsamen Menschen, ein offenes Ohr;224 für Ratschläge und Betriebsamkeit ist anschließend Zeit. Als emotionale Stütze hat sie den greisen Erzieher auch mitgebracht (E. Ion 728–732).225 Er nennt die Art, wie er mit seinen Freunden zu seufzen wisse, γενναίως. Die Kommentare geben den Sinn mit „aufrichtig“ an.226 Aufrichtigkeit erwarten wir tatsächlich bei einem Vertrauten wie dem alten Erzieher des Erechtheus, vor allem wenn er Anteilnahme zeigt, doch das ist selbstverständlich, so daß die Beteuerung seltsam berührt. Diese Übersetzung wird ferner durch die Bedeutung des Begriffs nicht unmittelbar nahegelegt. In der Dichtung des 5. Jahrhunderts ist mir keine Textstelle bekannt, an der der Begriff allgemein preisend und ohne den Aspekt der Herkunft verwendet wäre. Es ist daher geboten, auch hier von der Grundbedeutung auszugehen. Der Alte klagt „in Übereinstimmung mit dem Genos“. Auf seine eigene Herkunft kann der Diener nicht sinnvoll verweisen, eher auf die Kreusas. Ihre Familie ist ihm in vielen Jahren die seine geworden: Ihr ist er eng und schon lange verbunden, und die Reinheit ihres Stammes ist ihm wichtig (E. Ion 725, 733–737, 828–829). Kreusas Unglück trifft ihn deshalb wie ein eigenes (E. Ion 808–810). Der Pädagoge seufzt mit Kreusa, wie es angesichts ihrer Situation und der Gefahr für ihr Haus angemessen ist. Seine Worte ermutigen Kreusa, und sie antwortet auf seine Fragen. 222

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Grube (1941) 269 bezeichnet Kreusas Monodie als emotionale Klimax des Dramas, Ludwig (1954) 124 spricht vom strukturellen Mittelpunkt. Zur hymnischen Form vgl. Gauger (1977) 34–38. ὡς ist in E. Ion 935 kausal zu verstehen, vgl. Wecklein (1912) 56 (ad loc.). Schwinge (1968) 217 spricht von Mitgefühl und empathisch geäußerter Erschütterung des alten Pädagogen. Vgl. Lee (1997) 265 (ad loc.), Pellegrino (2004) 279–280 (ad loc.). So z. B. Wecklein (1912) 56 (ad loc.), Ammendola (1951) 120 (ad 934–945). Brandt (1973) 88 Anm. 257 meint, γενναῖος nehme E. Ion 854–856 wieder auf.

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Im folgenden Gespräch erfährt der Alte Details der zurückliegenden Ereignisse und hört von den Qualen, die Kreusa ausgestanden hat. Er rät ihr, Rache zu nehmen; sie selbst entwickelt den Plan für den Mord an Ion, den der Diener ausführen soll (E. Ion 936–1047). Als treuer Diener des Hauses stellt der Alte sich dankbar zur Verfügung. Er bezeichnet diesen Dienst als τροφεῖα ἀποδιδόναι, als den Dank, den ein Kind seinen greisen Eltern für Aufziehen und Erziehen abstattet. Nur der Name sei schließlich für einen Sklaven schändlich, seinem Charakter nach müsse er einem Freien nicht nachstehen (E. Ion 850–856).227 Mit Häme ist diese Selbsteinschätzung des Alten in der Forschung bedacht worden: Just in dem Augenblick, in dem er seine Hand für einen Mord anbiete, bezeichne er sich als ἐσθλός.228 Die gedanklichen Zusammenhänge sind meines Erachtens anders herzustellen. Nicht Mord und die Bezeichnung als ἐσθλός sind in einen kausalen (oder konzessiven) Zusammenhang zu bringen, sondern die Dankbarkeit und die resultierende Hilfsbereitschaft des Alten. Sein Wunsch, erfahrene Güte zu vergelten, hat aristokratische Konnotationen im Sinne eines χάρις-Austauschs; daher entbehrt die Feststellung des Sklaven nicht einer gewissen Komik. Sie ist jedoch nicht aus moralischen Gründen verwerflich, weil die archaische und klassische Antike bekanntermaßen eine andere Freund-Feind-Ethik pflegte und weil der Verdacht, den der Alte entwickelt, plausibel geschlossen ist. Es handelt sich also aus seiner und Kreusas Sicht nicht um einen kaltblütigen Mord, sondern um eine Maßnahme zur Rettung des οἶκος.229 Eingebettet ist die Rede des Pädagogen von der Gleichwertigkeit Freier und Unfreier in die Vertrautheit, nicht Unterwürfigkeit, die sein Verhältnis mit Kreusa kennzeichnet.

5.4.3 Ion Am Ende des ersten Epeisodions bleibt Ion allein auf der Bühne zurück. Kreusas Andeutungen und Vorwürfe gegen Apollon trafen ihn neu und unerwartet. Beim Abgehen zeigt Kreusa wieder eine teils anklagende, teils unterwerfende Haltung: Zwar stehe Apollon weiterhin in ihrer Schuld (wohl weil er sie im unklaren über den früheren Sohn läßt), doch nehme sie ein neues Kind als Wiedergutmachung an (E. Ion 401–428). Ion ist irritiert.

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Diggle (1981) athetiert die Verse, weil sie unpassend plaziert seien und E. Ion 970 ff. auf unerträgliche Weise vorwegnähmen; E. Ion 854–856 anerkennt Diggle als euripideisch; die Verse werden auch von Stobaios zitiert. Die beiden Vorschläge, die Situation durch Mord zu lösen, unterscheiden sich deutlich; außerdem nimmt Kreusa den ersten vermutlich nicht wahr, weil sie in ihren eigenen Gedanken gefangen ist – kurz darauf beginnt sie ihre Monodie. Die beiden Vorschläge des Alten sind keine Dopplung, vgl. z. B. Gauger (1977) 45–46. Z. B. Walsh (1978) 303–305. Vgl. auch Grube (1941) 270. Ähnlich Leimbach (1971) 73–74, Brandt (1973) 91–92, Gauger (1977) 29–31, 53–54. Mueller (2010) 379–380 verweist darauf, daß Kreusa Apollon vorwirft, er habe ihre χάρις nicht erwidert (E. Ion 880, 891–896, 914). Zum Vertrauensverhältnis vom Pädagogen und Kreusa vgl. Brandt (1973) 82–84. Zeitlin (1989) 169–170 zeigt, daß der Alte auch die Rolle einer Erechtheus-Figur innehabe, ähnlich Zacharia (2003) 26–27.

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Sein Bild des hehren, unfehlbaren Gottes ist ins Wanken geraten. Er versteht die Götter als Gesetzgeber und Vorbilder, die sich mit denselben Maßstäben, die sie anderen setzen, messen lassen müssen – und nicht bestehen können, wenn das, was er Kreusas Erzählung und Andeutungen entnimmt, denn wahr ist (E. Ion 429–451). Die moderne Forschung hat Ion vorgeworfen, man könne die Götter nicht nach denselben Kriterien wie die Menschen beurteilen, das lasse seine Kritik nichtig werden.230 Man macht es sich meines Erachtens jedoch zu leicht, wenn man Ions Reflexionen als kindisch abtut. Zum einen ist die Darstellung unmoralischer Handlungen durch die Götter tatsächlich der Ausgangspunkt für eine ernstzunehmende Religionskritik gewesen, beispielsweise bei Xenophanes. Zum anderen erfüllt die Passage in meinen Augen in erster Linie eine andere Funktion als die Kritik an Apollon. Ions Verhältnis zu dem Gott, in dessen Heiligtum sein Leben bisher sanft dahinfloß, ist gebrochen; er hat einen ersten Schritt in die Welt hinaus getan. Das zweite Epeisodion beginnt mit einer komischen Szene. Xuthos tritt aus dem Tempel und begrüßt Ion als den ersten, auf den er trifft, als seinen Sohn. Weil er sich, von Emotionen überwältigt, nicht sogleich erklärt, versteht Ion die Annäherungen als homoerotische Liebesbeweise und versucht, sich ihnen auf recht barsche Art zu entziehen.231 Erst als er von Apollons Orakel gehört hat, akzeptiert er Xuthos – wenig begeistert – als Vater. Wichtiger ist ihm die Mutter, an die sich Xuthos auf Ions Fragen hin vage zu erinnern glaubt. Ions Wunsch, die Mutter zu finden, überlagert die Freude über den gefundenen Vater (E. Ion 510–565). Xuthos fordert Ion auf, mit ihm nach Athen zu kommen: Ξο. ἀλλ’ ἐκλιπὼν θεοῦ δάπεδ’ ἀλητείαν τε σὴν ἐς τὰς Ἀθήνας στεῖχε κοινόφρων πατρί [οὗ σ’ ὄλβιον μὲν σκῆπτρον ἀναμένει πατρός, πολὺς δὲ πλοῦτος· οὐδὲ θάτερον νοσῶν δυοῖν κεκλήσηι δυσγενὴς πένης θ’ ἅμα, ἀλλ’ εὐγενής τε καὶ πολυκτήμων βίου]. ... Ιων ... εἶναί φασι τὰς αὐτόχθονας κλεινὰς Ἀθήνας οὐκ ἐπείσακτον γένος, ἵν’ ἐσπεσοῦμαι δύο νόσω κεκτημένος, πατρός τ’ ἐπακτοῦ καὐτὸς ὢν νοθαγενής. καὶ τοῦτ’ ἔχων τοὔνειδος ἀσθενὴς μένων †μηδὲν καὶ οὐδὲν ὢν† κεκλήσομαι. (E. Ion 576–581 und 589–594) Xu. 230

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Gib auf das Heim des Gottes und dein Bettlerleben und zieh einträchtig mit dem Vater nach Athen, wo dich der stolze Thron und reiche Schatz des Vaters erwartet. Und man soll nicht, da dir von zwei Gütern

Vgl. z. B. Burnett (1962) 101 und (1971) 129. Dagegen Leimbach (1971) 37. Für Meltzer (2006) 152 und 165–167 sind die Vorwürfe ein Merkmal des rationalen Skeptizismus dieser Zeit und werfen Fragen auf, die zu Euripides’ Zeit en vogue waren; in Ions Charakter stellten sie einen Bruch dar. Zurückhaltung ist in der Identifizierung von des Dichters eigener Meinung geboten, die Guardì (1976) 20–21 zu erkennen glaubt. Poole (1990) 114–116.

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211 eins fehlt, dich arm zugleich und δυσγενής nennen, nein, εὐγενής und hochbegütert. ... Ion ... Man sagt, das stolze Volk Athens sei ebendort der Erde selbst entsprossen, niemals eingewandert. Dorthin gerate ich, behaftet mit zwei Mängeln, Sohn eines fremden Vaters und dazu noch νοθαγενής. Bedeckt mit diesem Schandfleck, ohne Macht und Ruhm, muß ich dem Volk als Nichts, aus Nichts geboren, gelten.

Seine Heimatlosigkeit habe nun ein Ende, in Athen erwarteten ihn die väterliche Herrschaft und Reichtum. Er werde nicht unter den beiden Übeln (δυοῖν) einer niederen Herkunft und Armut leiden müssen (νοσῶν), sondern ein aristokratisches, reiches Leben führen können.232 In typischer Verbindung finden wir hier wieder Adel, Macht und Reichtum verknüpft. Ions delphisches Leben und das Leben in der Gesellschaft einer Polis sind in denkbar größten Gegensatz gebracht. Die Harmonie des Lebens im Heiligtum erscheint als demütigend und ärmlich, während der Platz in der Polisgemeinschaft Einfluß, Ansehen und Wohlstand verheißt. Xuthos verspricht Ion eine εὐγένεια, wie er selbst sie besitzt, weil er von edler, göttlicher Abstammung ist (E. Ion 291–292). Dem hält Ion seine Wahrnehmung entgegen: Der Eintritt in die athenische Polisgemeinschaft erscheint ihm als Illusion. Das athenische Volk sei autochthon, nicht zugewandert. Er gibt diese Beschreibung Athens als fremde Meinung wieder (φασι), weil es sich um einen Mythos handelt, der das athenische Selbstverständnis in der Erzählung historisch begründet und damit für den antiken Kulturteilnehmer legitimiert. Die gemeinsame autochthone Herkunft verbinde die Athener und schließe die anderen aus. Die Gemeinschaft ist abgeschlossen, weil man in sie nicht durch Lernen und Übernahme bestimmter Werte oder Haltungen eintreten kann, sondern die Zugehörigkeit durch Geburt und nur durch sie möglich ist. Auch Xuthos ist in dieser Weise fremd und aus der athenischen Gemeinschaft ausgeschlossen, berücksichtigt dies aber nicht.233 Er beschreibt Ions zukünftigen Status als εὐγενής, von Autochthonie 232

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Der exakte Bezug von οὐδὲ θάτερον νοσῶν δυοῖν ist unklar. Am ehesten verspricht Xuthos dem vermeintlichen Sohn, daß er an keinem der beiden Übel (niedere Geburt und Armut) leiden werde, so auch Wecklein (1912) 38 (ad 579–580). Deutlich ist jedenfalls, und darauf kommt es für uns an, der Gegensatz zu εὐγενής und πολυκτήμων im folgenden Vers. Wenig einleuchtend ist in meinen Augen ein konzessives νοσῶν, das dann entweder auf die fehlende Mutter verwiese (von Ammendola (1951) 81 (ad 576–581) verworfen) oder auf die niedere Geburt (von Burnett (1970) 67–68 (ad 581) zurückgewiesen), ablehnend auch Owen (1939) 111 (ad 579–580). Von Wilamowitz (1926) 114 (ad 581) weist darauf hin, daß Xuthos dasselbe positiv und negativ ausdrücke, um seinem Argument Nachdruck zu verleihen. – Diggle (1981) athetiert die Verse E. Ion 578–581. Als Bezugspunkt für E. Ion 591–592 sind sie jedoch eine wichtige Vorbereitung, vgl. auch von Wilamowitz (1926) 114 (ad 592), Lee (1997) 224 (ad 578–581), Mirto (2009) 265 (ad 563–606). Vgl. Loraux (1990) 185. Xuthos’ beiläufige Bemerkung, die Erde gebäre keine Kinder (E. Ion 542), versteht Steiger (1912) 98–99 als einen Protest des Dichters gegen den athenischen Mythos der Autochthonie. Lape (2010) 97–115 versucht, athenischen Rassismus und aristokratisches Selbstverständnis durch implizite Ideologien von Geschlechterrollen zu charakterisieren. Vgl. auch Seaford (1990) 158–159. – Zu Xuthos’ εὐγένεια vgl. unten.

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und Erdgeborenheit spricht er nicht. Ion nennt sich dagegen νοθαγενής und glaubt nicht an eine εὐγένεια für sich in Athen. Damit rückt er den Begriff der εὐγένεια anders als Xuthos in die Nähe der Autochthonie; wer nicht αὐτόχθων ist, kann auch nicht εὐγενής heißen. Ion sieht sich als doppelt ausgeschlossen (δύο νόσω): er ist der Sohn eines Fremden, selbst fremd und entstammt darüber hinaus nicht einer legitimen ehelichen Verbindung. Deshalb sei seine gesellschaftliche Stellung gezeichnet von ὄνειδος und seine Herrschaft geprägt von fehlendem Einfluß (ἀσθενής). Damit erwarte ihn wieder eine ἀλητεία, die die gegenwärtige, delphische in ein günstiges Licht rückt. In Athen sieht Ion die Nöte des Herrschenden und politisch tätigen Bürgers warten, er fürchtet den enttäuschten Haß der Stiefmutter, die Rivalitäten innerhalb der Aristokratie.234 Da könne auch der Reichtum nicht den mangelnden Seelenfrieden bieten (E. Ion 595–631). Sein Leben in Delphi erscheint umso beschaulicher: Bescheidenheit (μέτρια) prägte sein Dasein und verschaffte ihm Muße (φιλτάτη σχολή), er lebte in engem Einverständnis mit Göttern und Menschen (θεῶν δ’ ἐν εὐχαῖς ἢ λόγοισιν ἦ βροτῶν), rein und vollkommen konnte er vor den Gott treten (δίκαιον εἶναι μ’ ὁ νόμος ἡ φύσις θ’ ἅμα / παρεῖχε τῶι θεῶι). So kann ihm Kleines ebenso eine Freude (χάρις) sein wie Großes (E. Ion 632–647). Delphi (τἀνθάδ’) und Athen (τἀκεῖ) sind für Ion Orte zweier unterschiedlicher Lebensformen, deren erste ihm erstrebenswerter ist.235 Dennoch unterwirft er sich ohne weitere Widerrede den Plänen des vermeintlichen Vaters, der auf seine Rede kaum eingeht, sondern ihm, wie es für den Vater üblich war, seinen Namen gibt und die Geburt des Sohnes nachträglich feiern möchte.236 Ions letztes Wort, bevor er die Bühne verläßt, gilt wieder

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Die Rede wird gelegentlich dafür kritisiert, daß sie nicht zu Ions Charakter passe und mit der dramatischen Illusion breche. Sie ist aber sinnvoll in die Handlung eingebettet: Ion tritt in ein komplexes Erwachsenenleben ein, so daß die anfängliche Zurückweisung durchaus motiviert ist, vgl. Burnett (1970) 68–69 (ad 592). Die Inkonsistenz von Ions Äußerungen zu Athen und seiner Rolle dort sind auf eine typisch tragische Vermengung von mythischer Monarchie und zeitgenössischer Demokratie zurückzuführen, Lloyd (1986b) 38. Entfernter liegt in meinen Augen ein Verständnis der Rede, das ihren politischen Charakter als Ausdruck für die Sehnsucht nach der Mutter deutet, so Imhof (1966) 31–32. Ebbott (2003) 26 betont, daß Ions Widerwillen gegen ein öffentliches Leben mit seinem Status eines unehelichen Kindes zusammenhänge. Farrington (1991) 125–128 betont dagegen mehr die „göttliche Zusammenarbeit“ zwischen Delphi und Athen. – Ions anfänglicher Widerstand gegen einen Umzug nach Athen läßt sich auch als Merkmal des Statuswechsels lesen, der ihm bevorsteht; zu den mythischen Präfigurationen und Passageriten, die dem Drama und den Charakteren weitere Bedeutungsebenen verleihen, vgl. Zeitlin (1989) 156–164, Segal (1999). Zeitlin (1989) 146–148 weist darauf hin, daß Ion in Delphi nicht nur sein altes Leben, sondern auch seine Identität zurücklassen muß. Ions Reifungsprozeß unter Freudschem Blickwinkel gedeutet von Weiss (2008) 45–50. Dieser einvernehmliche Schluß des Agons ist, so Hose (1991) 147–148, untypisch; der Grund liege darin, daß die eigentliche Gegenposition durch Kreusa hätte vertreten werden müssen und damit fehlte. Normalerweise folge, so Halleran (1985) 110, auf eine Anagnorisis ein lyrisches Duett; dies finde sich erst nach der Anagnorisis von Ion und Kreusa. Über die Unterschiede zu einer „richtigen“ Anagnorisis vgl. Schwinge (1968) 248–251.

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der unbekannten Mutter. Er erhofft sich eine athenische Mutter, was ihm das Leben in der Polis, wie er glaubt, erleichtern würde (E. Ion 650–675).237 Der Chor beklagt im zweiten Stasimon Kreusas Schicksal, die, so will es den Dienerinnen scheinen, weiterhin kinderlos bleiben wird, während ihr Gatte sich eines Sohnes erfreut. Xuthos’ Fremdheit wird jetzt, wo er als untreu erscheint, besonders hervorgehoben (E. Ion 695–713), und Ions Herkunft ist ohnehin verdächtig; in Erechtheus’ Haus ist er unerwünscht (E. Ion 676–694, 714–724). Kreusas Mordplan schlägt fehl.238 Unversehens sind die Rollen vertauscht, und Ion bedroht Kreusa mit dem Tod, die sich in Apollons Obhut begibt. Zur rechten Zeit erscheint die Pythia und übergibt Ion das Körbchen, in dem sie den ausgesetzten Knaben einst gefunden hatte (E. Ion 1106–1368).239 Anhand der darin befindlichen Zeichen erkennen sich Kreusa und Ion.240 Beide sind über die Rettung und die gewonnene Verwandtschaft glücklich; auffallend ist bei Ion der 237

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Zum Begriff der παρρησία vgl. Carter (2004). – Im Ion tritt uns ein anderes Athenbild entgegen, als wir es aus Dramen wie Medea, Herakliden oder Hiketiden kennen. Dort zeigt sich Athen als gastfreundliche, offene Stadt, als Helferin der Verfolgten, während sie sich hier, vor allem in den Äußerungen des Chores und des alten Pädagogen, mit einem Gefühl der Überlegenheit gegen den Fremden verschließt. Dieser Widerspruch ist immer wieder festgestellt worden, so z. B. von Borowska (1989) 119–120, Pellegrino (2004) 248 (ad 589– 592). Der Widerspruch ist freilich auf die grundsätzlich unterschiedlichen Situationen der Dramen zurückzuführen. Eine Verallgemeinerung der verschiedenen Bilder im einen oder anderen Drama zu einem Athenbild ist daher fragwürdig. In der Medea, den Herakliden und Hiketiden bitten Fremde um Asyl, die auf eine edle Herkunft und eine frühere Beziehung zu Athen verweisen können. Mit der Aufnahme setzt die Stadt viel aufs Spiel, denn sie verliert bestenfalls einen Teil ihrer Krieger, im schlimmsten Fall unterliegt Athen im Kampf und erleidet das Schicksal einer besiegten Stadt. Dies wäre jedoch, bei allem Blutvergießen, ein Untergang im Einklang mit dem eigenen Selbstverständnis und im Bewußtsein des hohen Wertes, für den man dies in Kauf nahm; frühere Generationen bezeichneten das mit dem heute obsolet gewordenen Begriff der Ehre. Das eigene Selbstverständnis wird dadurch nicht zerstört, im Gegenteil, im Bewußtsein der moralischen Überlegenheit lebt die Gemeinschaft fort. Anders stellt sich die Situation im Ion dar. Verliert das Königshaus mit der Erdgeborenheit auch seine Legitimität, so entzieht das auch der Stadt ihren Grund. Sie erlebt keine physische Zerstörung, wie sie der asylgebenden Stadt droht, doch sie verliert ihr mythisches und sinnstiftendes Zentrum. In fundamentalerer Weise steht so ihre Existenz auf dem Spiel. Es muß daher als verfehlt erscheinen, von der athenischen Fremdenfeindlichkeit allgemein zu sprechen, die Apollons Plan vereitle (so Borowska (1989) 123), als ob sich im Drama jemand gegen fremde Bewohner in Athen überhaupt ausspräche, vielmehr geht es Kreusa, dem Alten, dem Chor darum, einen scheinbar beliebigen Fremden auf dem Königsthron zu verhindern. Auch Walsh (1978) 307–308, der die zeitgenössische Haltung gegenüber den Metöken gespiegelt sieht, bezieht die Äußerungen im Drama offensichtlich auf Athen allgemein. Zur Bedeutung des Zeltes, in dem die Geburtstagsfeier für Ion stattfindet, und seiner Dekoration vgl. Zeitlin (1989) 166–177. Lloyd (1986b) 43–44 bemerkt, daß offen bleibe, ob Ion deshalb Kreusa nicht töte, weil sie am Altar sitze oder weil die Pythia rechtzeitig hinzukomme. Halleran (1985) 109 weist darauf hin, daß ein menschlicher Akt des Vertrauens die Wiedererkennung ermögliche, nämlich, daß Kreusa den Altar verlasse. Zur Bedeutung der Aussetzung und der Erkennungszeichen vgl. Loraux (1990) 175–177 und 199–203, Mueller (2010). Bei der Beschreibung der Zeichen erkennt sich nicht nur Ion als Kreusas Sohn, sondern auch das Publikum kollektiv als Athener; so verschmelzen für einen Augenblick die Grenzen zwischen Oikos und Polis, Mueller (2010) 394–398.

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emotionale Unterschied zur Scheinanagnorisis mit Xuthos (E. Ion 1369–1467). Ion glaubt jedoch immer noch, daß Xuthos sein Vater sei; als er den Wunsch äußert, dieser solle sich mit ihnen freuen, ist es an Kreusa, zu Ion vom göttlichen Vater zu sprechen. Sie zögert: Κρ. ὦ τέκνον τί φήις; οἷον οἷον ἀνελέγχομαι. Ιων πῶς εἶπας; ἄλλοθεν γέγονας, ἄλλοθεν. Ιων ὤμοι· νόθον με παρθένευμ’ ἔτικτε σόν; Κρ. οὐχ ὑπὸ λαμπάδων οὐδὲ χορευμάτων ὑμέναιος ἐμός, τέκνον, ἔτικτε σὸν κάρα. Ιων αἰαῖ· πέφυκα δυσγενής, μῆτερ; πόθεν; (E. Ion 1470–1477) Kr. Mein liebes Kind, was sagst du? Erneut will man wissen von mir, was geschehn! Ion Was heißt das? Kr. Du stammst aus einem ganz andren Geschlecht! Ion O weh! Du hast mich außerehelich geboren? Kr. Nicht mit Fackeln und Reigen wurde die Hochzeit begangen, der du entsprungen, mein Kind. Ion Ach! ich bin δυσγενής von Abkunft, Mutter, sag mir: von welcher?

Kreusa zögert zu sprechen und scheint damit die Befürchtungen zu bestätigen, die Ion schon lange quälen; mehrmals hat er sie bereits geäußert: Er fürchtet, von niederer Herkunft zu sein (E. Ion 556, 1381–1383, auch 132–133, 152–153, 325). Hier irritieren seine Befürchtungen jedoch: Ion weiß inzwischen, daß er Kreusas Sohn und damit mütterlicherseits von exklusiver, erdgeborener Herkunft ist. Trotzdem sieht er für sich die Möglichkeit der δυσγένεια. Vermutlich scheint in Ions Gebrauch des Begriffs der δυσγένεια wieder das athenische Bürgerrecht durch, wonach er, trotz der wohlgeborenen Mutter, als δυσγενής gälte, wenn er einen Vater hätte, der nicht εὐγενής wäre, der Vater, nach dem man sich nennt und zu dessen Haus man gehört. Ferner ist bemerkenswert, daß Ion mit der Sorge um seine Abstammung, noch bevor er von seiner göttlich-königlichen Herkunft weiß, eine Haltung einnimmt, wie sie auch Kreusa und die ihr Nahestehenden zeigen und wie sie zugleich erforderlich ist, um eine Familie zu repräsentieren, deren Position von der Reinheit des Stammes abhängt.241 Im ersten Moment freut sich Ion darüber, daß Apollon, den er ja ohnehin als Vater empfunden und bezeichnet hat (E. Ion 136–140), tatsächlich sein Vater ist. Dann zweifelt er jedoch. Vielleicht versucht Kreusa einen menschlichen Fehltritt zu vertuschen? Wie kann es sein, daß der Gott in einem Orakel Xuthos seinen Erzeuger nennt? Das, so Kreusa, tue er nicht, vielmehr mache er ihn ihm zum Geschenk, wie das unter Freunden geschehen könne (E. Ion 1520–1536). Sie

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Wassermann (1940) 596 erkennt darin einen Beweis seines angeborenen Adels, vgl. auch Walsh (1978) 301–302.

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erklärt Apollons Verhalten so, wie auch Athena242 es gleich darauf begründen wird: Ιων Κρ.

ὁ θεὸς ἀληθὴς ἢ μάτην μαντεύεται; ἐμοῦ ταράσσει, μῆτερ, εἰκότως φρένα. ἄκουε δή νυν ἅμ’ ἐσῆλθεν, ὦ τέκνον· εὐεργετῶν σε Λοξίας ἐς εὐγενῆ δόμον καθίζει· τοῦ θεοῦ δὲ λεγόμενος οὐκ ἔσχες ἄν ποτ’ οὔτε παγκλήρους δόμους οὔτ’ ὄνομα πατρός. πῶς γάρ, οὗ γ’ ἐγὼ γάμους ἔκρυπτον αὐτὴ καί σ’ ἀπέκτεινον λάθραι; ὁ δ’ ὠφελῶν σε προστίθησ’ ἄλλωι πατρί. (E. Ion 1537–1545)

Ion Kr.

Ist der Spruch des Gottes wahr oder falsch? Er läßt mir, ganz natürlich, keine Ruhe, Mutter. Vernimm, was ich mir denke, Kind. Apollon will dir wohl und schafft dir Eingang in ein Haus, das εὐγενής ist. Als Sohn des Gottes nur erhieltest du niemals dein volles Erbteil noch des Vaters Namen. Nie – habe ich doch selbst den Bund mit ihm verhehlen und heimlich dir nach deinem Leben trachten müssen! Zu deinem Glück gibt er dich einem andren Vater.

Αθ. ὡς ἥδε τίκτει σ’ ἐξ Ἀπόλλωνος πατρός, δίδωσι δ’ οἷς ἔδωκεν, οὐ φύσασί σε, ἀλλ’ ὡς κομίζηι ’ς οἶκον εὐγενέστατον. (E. Ion 1560–1562)243 Ath. Apollon ist dein Vater, sie gebar dich ihm, und er hat dich dem fremden Manne anvertraut, nur um dich in ein Haus einzuführen, das äußerst εὐγενής ist.

Ion ist verstört, auf Apollons Wahrhaftigkeit ist kein Verlaß mehr, wenn er Xuthos zugleich seinen Vater nennt und nicht nennt. Ion möchte Apollon nun eine Frage stellen, wie er sie Kreusa zuvor verwehrt hatte (E. Ion 363–380, 1546– 1548).244 Dagegen versteht Kreusa, die eben noch den Gedanken der Vergeltung im Munde geführt hatte (E. Ion 1311), jetzt Apollons Verhalten. Ihr jahrelanges Leiden erhält einen Sinn, und sie sieht, daß alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen sind. So kann sie Apollon ehren und rühmen (E. Ion 1609–1613).245 242

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Zu Athena als geeigneter dea ex machina vgl. Grube (1941) 277–278, Burnett (1962) 94 und (1971) 110, Lloyd (1986b) 44–45. Zum Text von E. Ion 1562 vgl. Verrall (1890) 125 (ad loc.), von Wilamowitz (1926) 159 (ad loc.), Owen (1939) 178–179 (ad loc.), Lee (1997) 316 (ad 1560–1563). Leimbach (1971) 107 betont, daß es Ion nicht darum gehe zu klären, wer sein Vater sei, sondern ob der Gott gelogen habe. Gewiß ist dies die grundsätzlichere und damit auch verstörendere Frage für den jungen Tempeldiener, doch er formuliert sein Anliegen sowohl in der allgemeinen (E. Ion 1537–1538) als auch in der konkreten Form (E. Ion 1547–1548). Vgl. auch Spira (1960) 74, 78–79. Rabinowitz (1993) 189–222 führt aus, daß das Drama nur scheinbar und nur um den Preis glücklich ende, daß Kreusa zum Schweigen verpflichtet sei (vgl. auch Ebbott (2003) 83). Die Tragödie zeige die Ausgrenzung der Mutter und die Bevorzugung der Männer vor den Frauen. Das steht freilich im Einklang mit den antiken athenischen Geschlechterrollen. Es wäre ein Anachronismus, hier eine Transparenz und Gleichberechtigung zu fordern, wie sie heute in der westlichen Welt anzutreffen ist. Ähnlich Saxonhouse (1986) 258–259, 269, 273, die den Ausschluß der Frau als strukturelles

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Nachdem Ion Kreusas Deutung zunächst nicht angenommen hatte, akzeptiert er die Situation nach Athenas Rede (E. Ion 1606–1608).246 Kreusa und Athena deuten Apollons falsches oder zumindest uneindeutiges Orakel247 in gleicher Weise. Es sei eine Wohltat, daß Ion in ein adliges Haus eintrete, so und nur so komme er zu seinem Erbe und einer offiziellen Abstammung. Eine göttliche Herkunft (τοῦ θεοῦ λεγόμενος) ist im athenischen Erb­ recht nicht vorgesehen. Zwar spielt Xuthos vom Standpunkt eines Vertreters der athenischen Autochthonie keine Rolle, doch Ion kann nach zeitgenössischen athenischen Rechtsvorstellungen nur über ihn Erechtheus’ Erbe werden und nur, wenn er als sein leiblicher Sohn gilt.248

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Merkmal des Autochthoniemythos erweist; das Drama zeige die Erweiterungsbedürftigkeit des Mythos: Weibliches und Gottessohnschaft müßten akzeptiert werden. Anders Loraux (1990) 173, für die Kreusa im Zentrum des Dramas steht und ihm mit Athena seine Legitimität verleiht. Die Frauen des Stücks wehrten sich ohne Unterlaß gegen das Schweigen, am Ende seien keine Männer mehr da. Dem ist meines Erachtens nur insoweit zuzustimmen, als das Weibliche besonderes Gewicht erhält, weil die Notwendigkeit einer Genealogie des Thronfolgers über Kreusa immer wieder betont wird; letztlich tritt Kreusa jedoch wieder ins Glied zurück, und Ion kehrt offiziell als Xuthos’ Sohn nach Athen zurück, vgl. auch Meltzer (2006) 172, 183–184. Dunn (1996) 68–69 stellt fest, daß Kreusas Glück davon abhänge, ob Xuthos dauerhaft getäuscht werden könne, während das Stück ja gerade zeige, wie unsicher das sei. Dagegen sieht Cole (1997) 87–96 in Athenas Anweisung im Epilog einen besonderen Kunstgriff der Selbstreferentialität: Den Zuschauern werde suggeriert, daß mit der Aufführung ans Licht komme, was seit mythischer Zeit unbekannt gewesen sei. Conacher (1959) 33 macht dramatische, aber keine ausreichenden politischen Gründe für die Geheimhaltung aus; daher rühre der Eindruck, es gebe etwas Unehrenhaftes zu verbergen. Unklar ist, ob Ion noch einmal das Wort ergreift, zur Sprecherverteilung ab E. Ion 1617 vgl. Leimbach (1971) 121–122, Willetts (1973) 209. – Athenas Auftritt zeigt, daß Apollon nach dem Durcheinander, das sich aus seinen Zügen ergab, erkennt, daß es den Menschen gegenüber der Erklärungen bedarf, doch sieht er nicht, daß seine persönliche Anwesenheit zumindest für Ions innere Befriedung angemessen wäre, weil Athenas Auskünfte ihn offensichtlich nicht vollends überzeugen können. In einem aischyleischen Götter- und Menschenbild, wonach die Götter unergründlich und die Menschen ehrfürchtig sind, mögen Erklärungen entbehrlich, vielleicht sogar entheiligend erscheinen. In der Welt der euripideischen Tragödien aber fordern die Menschen Begründungen; dem wird Apollon nicht gerecht. Es zeigt sich, daß menschliches und göttliches Denken und Planen einander so fern stehen, daß sie nicht zusammenwirken können, sondern es zu Konflikten kommen kann, weil der eine nicht verstehen kann, was den anderen bewegt. Menschen und Götter trennt eine wesentliche Fremdheit, vgl. auch Zimmermann (1992a) 130. Ob Apollon dem Xuthos ein falsches oder ein typisches zweideutiges Orakel gegeben hat, ist in der Forschung umstritten, vgl. z. B. Neitzel (1988), Hartigan (1991) 76–77, Vogt (1998) 40, Gavrilov (2002). Dies ist letztlich nicht entscheidend, denn auch ein zweideutiges Orakel wäre von Apollon ja mit der Intention des Mißverständnisses gegeben worden, vgl. Gauger (1977) 79–90. Dagegen glaubt Verrall (1890), daß das Orakel an Xuthos wahr ist; um dies zu erweisen, muß er alle anderen – ansonsten unverdächtigen – Tatsachen der Tragödie für Täuschung erklären. Ihm folgt Nestle (1901) 72–74. Wassermann (1940) 597 mahnt zu beachten, daß ein Gott in einer undogmatischen Religion verschieden gezeichnet sein könne. In der Person des Ion treffen mythische und zeitgenössische Vorstellungen zusammen und werden über Kreusa und die doppelte Vaterschaft von Apollon und Xuthos verknüpft: Der mythische Aspekt seiner Herkunft zeigt sich in Erdgeborenheit und göttlichem Vater, der zeitgenössische in Reinheits- und Rechtsvorstellungen der athenischen Demokratie

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εὐγενής ist hier in traditionellem Sinn gebraucht. Ion wird einer Familie angehören, die eine ehrwürdige Herkunft nachweisen kann, und auf diese Weise eine entsprechende Position einnehmen. Die Formulierung, vor allem der Superlativ in Athenas Worten, hat einen werbenden Charakter, vielleicht um Ions innere Widerstände gegen den Wechsel von Delphi nach Athen, die er früher vorgebracht hatte, umso gewisser einzureißen. Es sind pragmatische Erwägungen, die wir hier vorfinden, und sie passen daher in den Kontext der Deus-exmachina-Situation, die offene Fragen klärt und Hinweise für die Zukunft gibt.249

5.4.4 Xuthos Ion befragt Kreusa zu ihrer Herkunft. Die Erdgeburt des Erichthonios, der Tod der Kekropstöchter, der Tod der Schwestern von Kreusa und Erechtheus’ Ende in einem Felsenspalt sind Gegenstand seiner Fragen und der Hintergrund für die Diskussion von Xuthos’ Abstammung (E. Ion 265–282). Der Name des Ortes, an dem Erechtheus von der Erde verschluckt wurde, Μακραί, läßt Kreusa abermals für Ion unverständlich klagen. Er wendet das Gespräch mit der Frage nach ihrem Gatten: Ιων Κρ. Ιων Κρ. Ιων

πόσις δὲ τίς σ’ ἔγημ’ Ἀθημαίων, γύναι; οὐκ ἀστὸς ἀλλ’ ἐπακτὸς ἐξ ἄλλης χθονός. τίς; εὐγενῆ νιν δεῖ πεφυκέναι τινά. Ξοῦθος, πεφυκὼς Αἰόλου Διός τ’ ἄπο. καὶ πῶς ξένος σ’ ὢν ἔσχεν οὖσαν ἐγγενῆ; (E. Ion 289–293)

Ion Kr. Ion Kr. Ion

Und wer von den Athenern ist dein Gatte, Herrin? Kein Landeskind. Er ist vom Ausland zugezogen. Wer ist es? Muß er doch εὐγενής von Abkunft sein. Aus dem Geschlecht des Zeus, der Aiolide Xuthos. Und wie gewann er als Fremder dich, die in Athen Geborene?

In diesem kleinen Ausschnitt sind die Abstammungsmöglichkeiten, die im Ion eine Rolle spielen, angesprochen. Die beherrschende Opposition ist die von ἀστός/ἐγγενῆ und ἐπακτός/ξένος. Die athenische Herkunft ist eng assoziiert mit dem Mythos der Erdgeborenheit, die als Merkmal des athenischen Königshauses direkt vor der zitierten Stelle das Gespräch beherrschte. Sie symbolisiert die Nähe zum göttlichen Anfang mit seiner ursprünglichen Kraft, sie ist Legitimation für die Herrschaft über Athen. Der athenischen Autochthonie ist der Fremde, der Hinzugezogene gegenübergestellt. Ihm fehlt es an Zugehörigkeit und Legitimation, er wird als Eindringling empfunden.

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im 5. Jh.; durch Interferenzen beider Bereiche entstehen Ambiguitäten, vgl. Loraux (1990) 179–180. Zum Rechtlichen vgl. Wecklein (1912) 89 (ad 1542–1543), Ammendola (1951) 196 (ad 1537–1545) und 199 (ad 1553–1362), Burnett (1971) 106, Borowska (1989) 118–119, Lee (1997) 314 (ad 1540–1545). Gauger (1977) 69–75 zeigt, daß Xuthos’ Einführung von Ion in Athen zwar auf zeitgenössischen Rechtsvorstellungen beruht, nicht aber auf einer exakten Gesetzgebung. Durchaus alltägliche Anordnungen und Ankündigungen finden sich auch in anderen Deus-ex-machina-Szenen, z. B. E. El. 1286–1287, immer wieder finden sich Aufforderungen zu Vermählungen, etwa E. Andr. 1243–1245, E. El. 1249, E. Or. 1653–1659.

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Zu dieser Dichotomie tritt die εὐγένεια als weiteres Kennzeichen. Wir haben bereits gesehen, daß Kreusa und ihre Vorfahren das Prädikat tragen können. Begründet war die Zuschreibung mit Kreusas Gebaren und im Zusammenhang mit der Nennung des athenischen Königshauses. εὐγένεια ist aber nicht auf das erdgeborene Herrschergeschlecht Athens beschränkt. Auch Kreusas zugewanderter Gatte kann εὐγενής sein, was Kreusa mit der Angabe von Xuthos’ Vater (Aiolos) und Großvater (Zeus) sogleich bestätigt, und die folgenden Erklärungen, wie Xuthos nach seiner militärischen Hilfe für Athen Kreusa als γέρας erhielt, zeigen ihn als verdienten Krieger (E. Ion 294–298). Die εὐγένεια stellt den Fremden freilich nicht mit athenischen εὐγενεῖς gleich. Ion ist offensichtlich erstaunt über Kreusas Auskunft, daß sie nicht mit einem Athener verheiratet sei. Die εὐγένεια erscheint in Ions Frage nicht als umfassend positives Werturteil, sondern als Mindestanforderung, die verhindert, daß die Ehe die Ehre des Königshauses untergräbt.250 Wie an früheren Belegstellen ist auch hier der Begriff der εὐγένεια mit dem Perfektstamm des Verbs φύομαι verbunden: Die εὐγένεια wird zunächst als angeborene Eigenschaft verstanden, zu der die Bewährung dann hinzutritt. Ions nächste Frage zeigt, daß Xuthos’ Fremdheit trotz seiner εὐγένεια bestimmend ist. Das zeigt, daß der Begriff der εὐγένεια nach wie vor eine Auszeichnung bedeutet, angesichts des ausschließenden Kriteriums der Erdgeborenheit aber relativ wird. Kreusa bricht den Dialog mit Ion ab, weil sie ihren Gatten kommen sieht: ἀλλ’, ὦ ξέν’, εἰσορῶ γὰρ εὐγενῆ πόσιν Ξοῦθον πέλας δὴ τόνδε, τὰς Τροφωνίου λιπόντα θαλάμας, τοὺς λελεγμένους λόγους σίγα πρὸς ἄνδρα, μή τιν’ αἰσχύνην λάβω διακονοῦσα κρυπτά, καὶ προβῆι λόγος οὐχ ἧιπερ ἡμεῖς αὐτὸν ἐξειλίσσομεν. (E. Ion 392–397) Da seh ich, Freund, schon meinen Gatten Xuthos, der εὐγενής ist, ganz nah; er hat die Höhle des Trophonios verlassen. Sag ihm, bitte, nichts von dem Gespräch, damit ich nicht den schmählichen Verdacht der Heimlichkeit auf mich ziehe und die Rede nicht anders sich entwickle, als wir sie meinten.

Kreusa nennt ihren Mann εὐγενῆ πόσιν.251 Mit εὐγενῆ nimmt sie ihre frühere Angabe wieder auf, daß ihr Gatte, wenn schon nicht Athener, so doch immerhin ein aristokratischer Fremder sei. Sie verbindet das Attribut ferner mit der Verwandtschaftsbezeichnung πόσιν, was Xuthos’ Beschreibung als εὐγενής eine etwas persönlichere Note gibt. In der Bezeichnung als εὐγενής klingt vermut-

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Mirto (2009) 241 geht in meinen Augen zu weit, wenn sie meint, daß Xuthos als Fremder in Ions Augen nicht die Voraussetzungen habe, Kreusa zu heiraten. Ähnlich wohl Ammendola (1951) 35–36 (ad 289–298), wenn er εὐγενῆ hier auf die vorangegangenen Belege (E. Ion 237, 242, 262) bezieht. Lange Auftrittsankündigungen dienen zur Bezeichnung besonderer Emotion, vgl. Lee (1997) 202 (ad 392 ff.), Pellegrino (2004) 230–231 (ad 392–395).

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lich auch die Anerkennung seiner persönlichen Vorzüge mit. Immerhin gründet Kreusas Urteil auf mehreren gemeinsamen Ehejahren.252 Die sich anschließende Bitte zeigt jedoch wieder eine gewisse Distanz zu Xuthos, die ein bezeichnendes Licht auf die Relativität der εὐγένεια wirft, die an der zuvor besprochenen Stelle aufscheint. Zwischen den Gatten erwarten wir große Vertrautheit; Xuthos ist edel, er ist Kreusas Ehemann, aber soll von dem Gespräch nichts erfahren. Dagegen hat die Unterredung eine geheime Vertrautheit mit Ion hergestellt. Der Zuschauer weiß, daß Ion Kreusa nahesteht und autochthoner Athener ist; Kreusa muß freilich glauben, Ion fremder zu sein als Xuthos, der gleichwohl von ihr nicht ins Vertrauen gezogen wird.253 Xuthos wird über diesen Punkt weiterhin und noch nach dem Ende des Dramas im ungewissen bleiben, was seine Fremdheit zeigt und befestigt. Als der Chor von Apollons Spruch an Xuthos berichtet hat, vermutet der Alte, Xuthos wolle einen unehelichen Sohn mit List ins athenische Königshaus einführen (E. Ion 808–831). Es macht Xuthos’ angebliche List nach der Darstellung des Alten noch gemeiner, daß es andere, gesellschaftlich akzeptierte Wege gegeben hätte, der Kinderlosigkeit abzuhelfen: καὶ τῶνδ’ ἁπάντων ἔσχατον πείσηι κακόν· ἀμήτορ’, ἀναρίθμητον, ἐκ δούλης τινὸς γυναικὸς ἐς σὸν δῶμα δεσπότην ἄγει. ἁπλοῦν ἂν ἦν γὰρ τὸ κακόν, εἰ παρ’ εὐγενοῦς μητρός, πιθών σε, σὴν λέγων ἀπαιδίαν, ἐσώικισ’ οἴκους· εἰ δέ σοι τόδ’ ἦν πικρόν, τῶν Αἰόλου νιν χρῆν ὀρεχθῆναι γάμων. (E. Ion 836–842) Von alledem das Schwerste wirst du leiden müssen: Das Kind, das mutterlos, das rechtlos ist, geboren von einer Sklavin, führt er dir als Herrn zu. Das Übel wäre harmlos, brächte er einen Sohn von einer Mutter, die εὐγενής wäre, ins Haus, mit deinem Willen, weil Kinder dir versagt sind. Und wenn dir dies mißfiele, dann sollte er ein Weib der Aioliden freien.

Ein ἔσχατον κακόν erwarte Kreusa in Athen, die Einführung eines Sklavenjungen (ἐκ δούλης τινὸς γυναικός) als eines neuen Herrschers ins athenische Königshaus. Zwei Alternativen, weniger unerträglich, nennt der alte Pädagoge: Xuthos hätte, nach einer Beratung mit Kreusa und unter Hinweis auf ihre Unfruchtbarkeit, einen leiblichen Sohn dem Haus als Erben zeugen können, allerdings von einer Frau von Stand (παρ’ εὐγενοῦς μητρός). Oder er hätte, falls ihr dies mißfallen hätte, eine Frau aus seiner eigenen (fremden, aber hochstehenden) Familie zur (zweiten) Frau nehmen können.254

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Wie sehr Kreusa Xuthos schätzt, zeigt sich auch an ihrer entschiedenen Ablehnung eines Anschlags auf den Gatten (E. Ion 976–977). Lee (1997) 202 (ad 392 ff.) merkt an, die wachsende Vertrautheit von Ion und Kreusa markiere Xuthos als Außenseiter, ähnlich Mirto (2009) 248 (ad 363–400). Zum juristischen Hintergrund vgl. Burnett (1970) 81–82 (ad 840), Pellegrino (2004) 269–279 (ad 839–841).

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Wieder trägt εὐγενής die eingeschränkte Bedeutung, die wir bei der Bezeichnung des Xuthos finden. εὐγένεια ist ein Merkmal, das seinem Träger einen hohen Wert verleiht. Deshalb würde ein Kind, das Xuthos legitim und mit einer Adligen, wenn auch nicht mit Kreusa, zeugte, die Schmach des fremden Nachkommen auf dem athenischen Thron für Kreusa akzeptabler machen. Gleichwohl wird deutlich, daß dies in den Augen des alten Pädagogen eine zweitbeste Lösung ist. Die εὐγένεια tritt in ihrer Bedeutung klar hinter die Zugehörigkeit zum athenischen Königsstamm zurück. Erdgeboren – und nur darauf kommt es an – sind ausschließlich die Abkömmlinge des Erichthonios, also Nachkommen der Kreusa.

5.4.5 Zusammenfassung Die Erechtheiden, Kreusa, Kreusas Haus, Ion und Xuthos heißen im Ion εὐγενής. Wir sahen, daß alle Belege für εὐγεν-/γενναι- in einem Verhältnis zu Erdgeborenheit oder Autochthonie stehen. Im Rahmen dieses Verhältnisses kann die Vorstellung der εὐγένεια entweder mit der Erdgeborenheit verknüpft sein oder sich von ihr abgrenzen. Eine Verknüpfung der εὐγένεια mit Erdgeborenheit oder Autochthonie findet sich deutlich häufiger (neunmal) als eine Abgrenzung (viermal).255 Die Verknüpfung der εὐγένεια mit der Erdgeborenheit und Autochthonie verschafft dem Konzept der εὐγένεια neue Exklusivität, weil es mit anderen Konzepten verknüpft wird, für die noch strengere Kriterien gelten. Erdgeborenheit und Autochthonie grenzen nach außen ab. Wer von außen kommt, kann zwar εὐγενής heißen; doch der Kontext der Belege zeigt, daß der Fremde in vollem Sinne nicht als εὐγενής anerkannt wird. Der Gedanke der εὐγένεια wird im Ion bald mit der Erdgeborenheit, bald mit der Autochthonie verbunden oder von ihnen abgesetzt. γηγενής heißen Erichthonios, Erechtheus’ Haus und die Giganten (E. Ion 20, 987, 1466, 1529), αὐτόχθων die Athener, Athen und Kreusas Vorfahren (E. Ion 29, 589, 737). Erdgeborenheit kommt demnach nur den Vertretern des Königshauses zu, während Autochthonie eine Eigenschaft ist, die die königliche Familie und die Athener verbindet. Ihre Autochthonie läßt die Athener an der Erdgeborenheit der Königsfamilie teilhaben. Nach außen gewinnt der Anspruch der εὐγένεια an Exklusivität, nach innen jedoch beobachten wir gleichsam eine Demokratisierung des Konzepts: Mit ihrer Autochthonie haben alle Athener teil an εὐγένεια.256 Eine Öffnung des εὐγένεια-Begriffs zur gesellschaftlichen Struktur der Demokratie hin hatten wir bereits in der Elektra beobachtet. In ihr geschieht dies über die Figur des Bauern, der die Genügsamkeit zum Merkmal der εὐγένεια ausruft und dabei auch selbst seinem neuen Maßstab gerecht wird. Mit den Ar255

256

Kombination von εὐγένεια und Erdgeborenheit/Autochthonie: E. Ion 237, 240, 242, 262, 592, 935, 1060, 1540, 1562. Abgrenzung von εὐγένεια und Erdgeborenheit/Autochthonie E. Ion 291, 392, 580/581, 839; hier sind die Stellen mitgezählt, an denen εὐγένεια trotz (vermeintlich) fehlender Erdgeborenheit/Autochthonie festgestellt wird. Einmal (E. Ion 1477) wird die Möglichkeit von δυσγένεια trotz Erdgeborenheit erwogen, vgl. dazu oben. Pauschal erscheint die Gleichung γηγενής = αὐτόχθων = εὐγενής von Walsh (1978) 301; treffend dagegen die von Loraux (1990) 182 εὐγενής = ἐγγενής.

Ergebnis der Untersuchung zu Euripides

221

gumenten der zeitgenössischen Philosophie versucht er eine Erweiterung des εὐγένεια-Konzepts auf intellektuellem Wege. Im Ion ist ein axiomatischer Weg gewählt, den wir den mythischen nennen wollen. Ein Argument für die panathenische εὐγένεια findet sich nicht, wohl aber ein legitimierender Mythos, der die athenische Identität bestätigt und an ein natürliches Kriterium bindet, dem der einzelne entweder genügt oder nicht genügt – ein späterer Eintritt in die athenische Gemeinschaft ist nicht möglich. Der Mythos verankert das athenische Selbstverständnis allgemeiner εὐγένεια tiefer in den Zuschauern, als eine philosophische Argumentation es je könnte. Und doch – oder deshalb – muß gegenüber dem Versuch in der Elektra, die εὐγένεια neu zu fassen, von einem konzeptionellen Rückschritt gesprochen werden. Das Wesen der εὐγένεια öffnet sich nicht, wie in der Elektra angedeutet, als Möglichkeit allen Menschen, abhängig von ihrem Verhalten, sondern nur allen Athenern. Als Athener wiederum hat man aufgrund von Geburt an ihr teil; wieder gilt also dasselbe Kriterium der Herkunft als Voraussetzung wie bei der traditionellen, rein aristokratischen εὐγένεια.257 Der Charakter des Menschen, der in der Elektra als mögliche Grundlage einer Definition von εὐγένεια durchscheint, begegnet nicht als von der Herkunft gelöstes Moment. Was auf den ersten Blick als Demokratisierung erschien, stellt sich nun in weniger eindeutigem Licht dar: Die Teilhabe aller Athener an εὐγένεια kann Ausdruck von politischer Teilhabe sein und, auf das Selbstverständnis des einzelnen wirkend, den Gedanken der Demokratie fördern und stärken. Die Betonung einer allgemeinen εὐγένεια kann jedoch auch vorhandene Hierarchien verdecken und so Bestrebungen zu einer konsequenteren Demokratie entgegenwirken. Dann ist die Demokratisierung der εὐγένεια eine scheinbare und wirkt affirmativ.258 Das εὐγένεια-Konzept des Ion steht nicht auf der reflexiven Stufe, die die Ansätze der Elektra erreichen.

5.5

Ergebnis der Untersuchung zu Euripides

Haedicke unterscheidet bei Euripides drei Arten von Adel, den echten, den ständischen und den sittlichen. Der echte Adel zeichne sich durch edle Herkunft und edles Verhalten aus, als Beispiel dient z. B. Makaria (E. Heracl. 539 ff.). Dieser Adel sei erblich.259 Der ständische Adel zeige sich da, wo aus der Herkunft ein Anspruch oder Vorteil abgeleitet werde, Beispiele fänden sich z. B. im 257

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Borowska (1989) 127 meint, Euripides zeige im Ion, daß die Herkunft als einziges Kriterium Gefahren für Athen berge. Meines Erachtens ist eben das Gegenteil der Fall. Kreusas, des Alten, des Chores Kriterien werden in Ions Person bestätigt. Eine Kritik am Kriterium der Geburt könnte man aus der Unfähigkeit eines im traditionellen Sinne Adligen ableiten, eine Konstellation, die gerade nicht vorliegt. Die Datierung des Ion schwankt außerordentlich, zwischen 421 und 409, vgl. z. B. Cona­ cher (1959) 26–29 und (1967) 273–275, Guardì (1976) 18, Zacharia (2003) 3–7. Der zeitli­che Rahmen ist sehr groß, und die Argumente sind unsicher; daher verzichte ich in meiner Deu­tung auf eine genauere Anbindung an den historischen Hintergrund. Haedicke (1937) 90–93.

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Ion (E. Ion 579 ff.) oder den Herakliden (E. Heracl. 297 ff.). Vertreter dieser Art von Adel beriefen sich auf ihren Reichtum.260 Der sittliche Adel sei unabhängig von der Geburt in sozialer Hinsicht oder ihr sogar entgegengesetzt, Beispiele findet Haedicke fast ausschließlich aus den Fragmenten, außerdem nennt er den Bauern in der Elektra (E. El. 362f.). Die Vererbung dieses Adels werde geleugnet.261 Haedicke erkennt daraus eine Wandlung des Adelsbegriffs bei Euripides. Die demokratische Gesellschaft übernehme den Begriff und wandle ihn in seiner Bedeutung, indem sie den Gedanken der Vererbung ablehne und den sittlichen Wert betone. Die ethische Bedeutung sei aus dem adligen Ehrbegriff entstanden, der jedoch zunehmend konventionell und hohl geworden sei (E. Or. 1062, Ino Fr. 413). Die ursprüngliche Adelsethik sei ein Bildungsideal der unteren Stände und damit demokratisch geworden.262 Euripides’ eigene Anschauung finde sich in den Chorliedern (z. B. E. Andr. 766 ff., Hec. 379 ff.). Euripides gehe von der Vererbung im individuellen, nicht im sozialen Sinne aus. Er bestimme „den Erbwert eines Menschen nicht nach seiner Standeszugehörigkeit, sondern nach seinem sittlichen Charakter“ und sehe den „sittlichen Wert wie sittliche Minderwertigkeit als erblich in den einzelnen Familien“ an.263 Haedickes Verwurzelung in der gesellschaftlich-politischen Situation des Dritten Reiches erklärt seine Konzentration auf Vererbung und Zuchtwahl, die Euripides und den anderen Autoren nicht gerecht wird. Er scheidet künstlich drei Arten des Adels, die der Bedeutungsbreite und den Nuancen der jeweiligen Belegstellen, die er isoliert und meist ohne Kontext zitiert, nicht entspricht. Bei der Identifizierung der Autormeinung ist stets Zurückhaltung geboten. Seine Schlußfolgerungen sind nicht immer plausibel, z. B. wenn er einen sittlichen Adel im Gegensatz zur niederen Herkunft feststellt oder die Adelsethik als Bildungsideal der unteren Stände erkennt, was wiederum die Grundlage für eine Demokratisierung des Adelsgedankens sei. Letztlich bleibt widersprüchlich, ob Sittlichkeit erblich sei oder nicht. Ganz ohne Grundlage ist sein Postulat einer „Wandlung“;264 seine Belege zeigen im Gegenteil, daß verschiedene Aspekte des Adels nebeneinander und nicht in einer zeitlichen Abfolge gültig sind. Dagegen ergibt sich aus der vorliegenden Untersuchung, daß weder der Gedanke der Abstammung noch der des ehrenhaften Handelns je ganz fehlt.265 Auch dort, wo einer der beiden Aspekte geleugnet wird, liegt er als Vorstellung zugrunde. Eine Entwicklung des Adelsbegriffs ist bei Euripides tatsächlich erkennbar, doch ist sie nicht augenfällig und nicht radikal.

260 261 262 263 264 265

Haedicke (1937) 93–98. Haedicke (1937) 98–101. Haedicke (1937) 102–104. Haedicke (1937) 104–109, Zitate 107 und 109. Haedicke (1937) 102. Donlan (1980) 136 schließt von der Tatsache, daß der Verweis auf die eigene εὐγένεια gegen Ende des 5. Jh. politische Nachteile mit sich brachte, auf eine rein ethische Ausrichtung der Diskussion bei Euripides. Das ist methodisch gewagt – Tragödien sind keine Wahlkampfreden – und inhaltlich nicht korrekt. Die vorliegende Untersuchung zeichnet ein anderes Bild.

Ergebnis der Untersuchung zu Euripides

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Die Handlung in der Alkestis erfolgt in einem umfassend aristokratischen Rahmen. Alkestis stellt ihren Tod in einen heroischen Kontext; dadurch, daß sie als Frau eine geradezu achilleische Haltung zeigt, wird das Traditionelle des Begründungszusammenhangs aufgebrochen. Admetos sieht sich vor die Entscheidung zwischen zwei einander ausschließende Forderungen gestellt, die Einhaltung seiner Eide und die Ansprüche der ξενία; er entscheidet sich für die ξενία und wird von Herakles dafür belohnt, was wiederum Alkestis’ Ruhm mindert. Alle Sprecher formulieren Alkestis’ und Admetos’ Positionen und Entscheidungen mit der aristokratischen Begrifflichkeit, unter anderem durch Verweis auf die εὐγένεια/γενναιότης. Wie schon bei Homer und wieder bei Aischylos und Sophokles entsteht ein Konflikt entgegengesetzer Forderungen, der im aristokratischen Kanon angelegt und begründet ist. Wieder führt die Entscheidung in eine menschliche Katastrophe, wieder wird sie von einem deus ex machina gelöst. Ein Hinweis auf einen Ausweg aus dem Konflikt, ein Kriterium, das es den Menschen ermöglichte, das Dilemma selbst zu lösen, findet sich nicht. Nur über das fragwürdige Verhalten der aristokratischen Vertreter im Drama wird Kritik am Konzept der εὐγένεια geübt. Es zeigt sich, daß sie als Handlungsorientierung nicht geeignet ist; das stellt sie implizit in Frage. Die Herakliden gehen einen Schritt weiter. Die verschiedenen Charaktere erfüllen die Forderungen der εὐγένεια in unterschiedlicher Weise: Makaria steht für den traditionellen Wert der εὐγένεια. In heroischer Manier ist sie bereit, ihr Leben zu geben und den Ruhm als Kompensation zu nehmen. Sie öffnet ihr aristokratisches Handeln jedoch zur Polis hin, die sie neben ihrer Familie mit ihrem Tod rettet. Demophon erscheint auf den ersten Blick das Prädikat εὐγενής zu verdienen, weil er die Herakliden aufnimmt, auf den zweiten Blick aber zu versagen, weil er keine Athenerin opfern möchte; unser Urteil fällt dann doch wieder positiver aus, weil er das Kriterium der Polis in Anschlag bringt und dem Wohl der Gemeinschaft das Wohl der einen Familie unterordnet. Alkmene schließlich diskreditiert die aristokratischen Werte und schadet ihrer Familie eben deshalb, weil sie die Polis vernachlässigt. Sie steht zwischen den einander widersprechenden Forderungen von Rache und χάρις. Die Entscheidung könnte durch das Kriterium der Polis fallen, und zwar für die Erfüllung der Forderungen, die die Reziprozität des χάρις-Austauschs erhebt. Alkmene entscheidet sich für die Rache; damit ermöglicht sie Eurystheus die Verwirklichung seiner γενναιότης und erwirkt ihren Nachkommen eine Niederlage. Darüber hinaus verschafft sie sich selbst und ihrem Genos ein negatives Bild. Wie in der Alkestis wird also der traditionelle Wertekanon über einen internen Konflikt und eine falsche Entscheidung implizit in Frage gestellt. Anders als in der Alkestis führt das Drama ein Kriterium ein, das, im Fall einer Konkurrenz verschiedener aristokratischer Werte, die Entscheidung so ermöglicht, wie die Zeit es verlangte. Nach Aischylos und Sophokles erweitert auch Euripides den Kanon durch den Aspekt der Polisinteressen. Am weitesten von allen erhaltenen Euripidestragödien gehen die Figuren in der Elektra. Hier wird der Begriff der εὐγένεια/γενναιότης explizit diskutiert. Sowohl der Bauer als auch Orestes lösen in ihren Äußerungen den Zusammen-

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hang von hoher Herkunft und edlem Verhalten, zunächst bei weitgehender Beibehaltung der traditionellen Wertsetzung; die aristokratischen Werte können nun auch vom Armen erfüllt werden. Dann unternimmt der Bauer jedoch den Versuch einer Neudefinition von εὐγένεια. Der εὐγενής zeichnet sich nun durch Genügsamkeit aus, eine Eigenschaft, die im aristokratischen Wertekanon keinen Platz hat und die zugleich einen demokratischen Zug trägt. Eine Wirkung scheint dieser neue Ansatz in der Elektra auf den ersten Blick nicht zu haben. Elektra und Orestes bleiben bei ihren alten Kriterien, nach denen sie selbst schlecht abschneiden. Für die Deutung des Dramas und die Beurteilung der Handlung ist die εὐγένεια allerdings nicht zu unterschätzen. Sie dient als Exempel für die menschliche Erkenntnisfähigkeit. Am Konzept der εὐγένεια arbeiten die Charaktere die Differenz zwischen erstem Eindruck und tatsächlichem Wert heraus, mit der Erkenntnis, daß man sich auf den Augenschein nicht verlassen könne. Das unermüdliche Prüfen des ersten Dramenteils fehlt im zweiten, und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Die εὐγένεια ist in der Elektra das Zeichen für die Notwendigkeit ständigen Prüfens. Im Ion wird die εὐγένεια vor allem Vertretern der Königsfamilie zugeschrieben, zweimal auch Xuthos, der eingeheiratet hat. Dabei wird der Begriff einige Male von der athenischen Autochthonie abgesetzt und einer Person zugesprochen, obwohl ihr das Merkmal der Autochthonie fehlt. Der Kontext dieser Passagen zeigt, daß das Konzept der εὐγένεια dadurch eine Relativierung erfährt; die εὐγένεια hebt ihren Träger zwar hervor, nicht aber im Sinn einer umfassenden Exzellenz. Wahre εὐγένεια besteht nur in Verbindung mit athenischer Autochthonie und Erdgeborenheit; mit ihr ist der Begriff der εὐγένεια in der größeren Zahl der Belege verknüpft. In dieser Vorstellung ist die εὐγένεια nach außen hin abgegrenzt und erhält so eine neue Exklusivität, weil nur Athener wahrhaft εὐγενεῖς sein können. Nach innen dient sie nicht mehr als Hierarchisierungsmöglichkeit und erscheint damit nivellierend, weil alle Athener aufgrund ihrer Autochthonie εὐγενεῖς sind. So erhält das Konzept der εὐγένεια innerathenisch einen demokratischen Zug. Im Ion erfährt die εὐγένεια erneut eine mythische Fassung, die das Konzept im Vergleich zur Elektra wieder stärker an die Herkunft bindet. Der Gedanke der Genügsamkeit begegnet im Zusammenhang mit der εὐγένεια nicht mehr. Einzig im Dialog mit dem Vater, in dem Ion einen Umzug nach Athen zunächst ablehnt und ein Dasein in der Namenlosigkeit vorzieht, beschreibt er ein Leben, das durch Bescheidenheit zufrieden ist (E. Ion 598–601, 625–626, 632–547). Doch diese Lebensweise wird von Ion mit dem Ort Delphi verknüpft, nicht mit Athen. Sie dient als Gegenentwurf zur Position des Königs, die Xuthos seinem Sohn in Aussicht stellt, und ist in keiner Weise mit einer neuen Vorstellung von Adel verbunden. Im Ion wie in der Elektra formulieren mit dem Bauern und Ion diejenigen Figuren die Bescheidenheit, die sich von der traditionellen εὐγένεια ausgeschlossen sehen. Die Kritik an den adligen Wertvorstellungen geschieht nicht plakativ, sondern indirekt. Der Zuschauer und Leser erlebt die Handelnden im Dilemma. Die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, die sich jeweils bieten, sind begründet

Ergebnis der Untersuchung zu Euripides

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und im Einklang mit dem heroischen Kanon, zumindest mit einem Teil seiner Werte. Die Konflikte sind im Kanon bereits angelegt und zeigen die Notwendigkeit ergänzender Kriterien. Anhand der Untersuchung ausgewählter Tragödien läßt sich folgende Entwicklung des Adelsverständnisses feststellen: Ausgehend von einer impliziten Kritik an einem Handeln, das sich ausschließlich am überlieferten aristokratischen Wertekanon orientiert und das im Konfliktfall ohne anerkannte Handlungskriterien Gefahr läuft, falsche Entscheidungen zu treffen, erweitern die euripideischen Bühnencharaktere ihre Handlungsorientierung auf die Interessen der Polis hin und formulieren schließlich Definitionen des Adelsbegriffs, die edles Verhalten unabhängig von Herkunft und Wertungen des aristokratischen Kanons setzt. Diese Ansätze einer Neudefinition bleiben isoliert. Eine Durchsicht der nicht besprochenen Dramen zeigt, daß sie ohne Auswirkungen bleiben. Lediglich eine Passage im Herakles ist näher zu betrachten. Herakles hat, wahnsinnig gemacht und im Glauben, Eurystheus’ Kinder vor sich zu sehen, seine eigenen Kinder und seine Frau Megara getötet (E. HF 887–1015). Als er wieder zu sich kommt, verhüllt er sein Haupt und will sterben (E. HF 1231, 1247). Theseus redet Herakles zu, am Leben zu bleiben und die Schande zu tragen (E. HF 1214–1337), das sei nach Art eines εὐγενής (E. HF 1227–1228). Herakles läßt sich überzeugen und entscheidet sich für das Leben (E. HF 1347–1351). Er erlebt eine ähnliche Situation wie Aias; doch während Tekmessas Appell und ihre Bestimmung von εὐγένεια wirkungslos verklang, setzt Theseus erfolgreich andere Prioritäten. Der Tod erscheint als Flucht, das Leben zu wählen als Stärke (E. HF 1250, 1318–1321). Herakles entscheidet sich gegen die Forderung der epischen Schamkultur. Doch auch hier scheint im anschließenden Dialog wieder das alte Heldenideal durch, wenn Theseus Herakles ermahnt, er solle sich nicht schwach zeigen (E. HF 1394), er solle sich an seine großen Taten erinnern (E. HF 1410), und er sei nicht der berühmte Herakles, wenn er niedergeschlagen sei (E. HF 1414 ὁ κλεινὸς Ἡρακλῆς). Schließlich wird die Erweiterung des εὐγένεια-Begriffs teilweise wieder zurückgenommen. Durch seine Verknüpfung mit der athenischen Autochthonie erfährt er innerathenisch zunehmend eine Erweiterung und Demokratisierung, nach außen dagegen erhält er erhöhte Exklusivität. In mythischer Begründung wird er wieder enger an die Herkunft gebunden. Elektra und Ion zeigen, daß im Zuge einer Demokratisierung der Adelsvorstellung die Begriffe vom Stamm γεν- nicht als aristokratisch abgelehnt und ersetzt werden. Vielmehr werden sie beibehalten und in ihrer Bedeutung modifiziert. Die Lösung des Adelsgedankens von der Herkunft erfolgt nur in vorsichtigen Schritten. Der Weg bleibt in Euripides’ Werk eine Sackgasse. Der Begriff der εὐγένεια demokratisiert sich in drei Richtungen. Was bei Aischylos in Ansätzen aufscheint, findet sich bei Sophokles und Euripides klarer und nachdrücklicher, nämlich die Ausrichtung des Handelns an der Gemeinschaft. Weiterhin wagt der Bauer in der Elektra eine Bestimmung des Adels, die sich in Abstammung und Wertsetzung vom aristokratischen Kanon löst und die Erlangung des Prä-

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dikats allen Menschen ermöglicht. Schließlich verbindet sich die εὐγένεια mit der athenischen Autochthonie und kommt so allen Athenern zu. Aus heutiger Sicht bieten die Orientierung am Gemeinwohl, wie sie in mehreren Tragödien begegnet, und die Genügsamkeit in der Elektra den demokratischeren und hoffnungsvolleren Ansatz. Das Konzept der Autochthonie führt zu einer Einteilung der Menschen in autochthone und nicht-autochthone und damit – wieder – zu einer Abschottung gegen die anderen, wenn auch nach anderen Kriterien als denen des episch-aristokratischen Kanons der früheren Zeit. Dagegen gibt die Gemeinschaftsorientierung den Handelnden ein Kriterium an die Hand, mit dem sie Wertkonflikte in einer Weise lösen können, die, bei grundsätzlicher Integrität der tradierten Werte, für eine Mehrheit, nicht eine ausgesuchte Gruppe gewinnbringend ist. Die Definition des Bauern in der Elektra ist eine fundamentale Erneuerung des Begriffs, weil sie die εὐγένεια von Zufälligkeiten wie Abstammung, Wohnort, Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen oder ethnischen Gruppe trennt. Eine Haltung bildet die Grundlage des Urteils, die jedem offensteht, auch wenn man berücksichtigt, daß freilich auch das Verhalten von äußeren Bedingungen abhängt, die dem einen einen leichteren Zugang zur Erfüllung der Kriterien gewähren mögen als dem anderen. Vom alten Adelsbegriff ist in der Definition des Bauern nichts mehr übrig; vielleicht ist sie deshalb von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aufforderungen zu Bescheidenheit und Verzicht auf äußeren Glanz können nur in ihrem eigenen Namen erfolgreich sein.

Schluß Ausgangspunkt der Untersuchung war der auffällige Befund, daß die Begriffe, die den Abstammungsaspekt der Adelsvorstellung ausdrücken, im Lauf des 5. Jahrhunderts sprunghaft häufiger belegt sind, in einer Zeit, in der der Adel historisch an Geltung verliert. Als Arbeitshypothese diente die Vermutung, daß die Bedeutung dieser Begriffe unter dem Einfluß der gesellschaftlich-politischen Entwicklung und der Sophistik diskutiert worden sei. Dabei habe sich eine semantische Veränderung ergeben, von einer Konzentration auf die vererbte Güte hin zu einer Betonung der ethischen und charakterlichen Qualität. Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, daß die Begriffe der εὐγένεια/ γεν­ναι­ότης tatsächlich diskutiert wurden, sich jedoch nicht in der erwarteten Weise und Stringenz entwickelten. οὐ γάρ μοι γενναῖον καταπτώσσειν – Der Kontext des Belegs in der Ilias zeigt bereits die enge Verküpfung von Herkunft und ethischer Verpflichtung. Der epische Held steht in der beständigen Spannung zwischen den Erwartungen, die die Gemeinschaft aufgrund seiner Abstammung an ihn stellt, und der Leistung, die er im Kampf erbringt. Dem Vater, den Vorfahren, dem Genos gerecht zu werden ist Ziel und Maßstab des eigenen Handelns. Deshalb muß Diomedes die Aufforderung seines Lenkers Sthenelos, sich zurückzuziehen, von sich weisen (Il. 5, 251–256). Der homerische Held strebt nach τιμή. Seine Leistung gibt ihm im Leben seinen Platz innerhalb der Gemeinschaft und reicht als Nachruhm über seinen Tod hinaus, wo das κλέος ihm als Kompensation seiner Sterblichkeit dient (z. B. Il. 9, 410–416). So entsteht die epische Elite auf der Grundlage ihrer Leistung (z. B. Il. 5, 534–536). Andere Kriterien relativieren allerdings diesen grundsätzlichen Befund. Konflikte um die gebührende Ehre zeigen, daß die Hierarchie nicht allein auf der Leistung beruht. Ansehen erwächst z. B. auch aus der Abstammung (z. B. Il. 6, 211), länger zurückliegenden Leistungen (z. B. Il. 23, 627–645), früher zuerkanntem Status (z. B. Il. 23, 537), der Zahl der befehligten Krieger (z. B. Il. 2, 576–580), Kooperationsfähigkeit (z. B. Il. 9, 630), Schönheit (z. B. Il. 3, 169). Die Herkunft spielt in diesem Motivgeflecht eine wichtige Rolle. Sie verschafft dem Träger von vornherein eine Zuversicht in seine Leistungsfähigkeit. So kann die Abstammung eine Rechtfertigung für ein bestimmtes Verhalten bieten (z. B. Il. 14, 109–127). In höherem Maße aber erscheint diese Erwartungshaltung als Ansporn und Verpflichtung, ihr gerecht zu werden (z. B. Il. 4, 370–400; 6, 209–210). Der Anspruch erwächst jedem Krieger persönlich aus seinem Genos. Der Ruhm der Vorfahren ist der Maßstab, an dem der Held sich mißt und messen lassen muß. Theognis und Pindar verwenden den Begriff der εὐγένεια/γενναιότης in einem Kontext, der auf die Vererbung von Qualitäten abhebt. In Theognis’ Gedicht geschieht dies auf explizite Weise. Der Terminus ist hier als Fachbegriff der Tierzucht eingeführt, wo man über gezieltes Paaren bestimmter Elterntiere die Qualität des Nachwuchses beeinflussen möchte. Diese

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Sorgfalt vermißt Theognis bei seinen aristokratischen Zeitgenossen in der Wahl der Schwiegersöhne und -töchter (Thgn. 183–192). Seine Gedichte kreisen um die Frage, wer zur Oberschicht zählen sollte. Theognis wirbt dafür, anstelle des Reichtums die ethische Haltung des ἀγαθός, wie sie sich in seiner σωφροσύνη oder δικαιοσύνη zeigt, zum Kriterium zu nehmen (z. B. Thgn. 147–148). Eine solche Bildung aber ist nach Theognis nur auf der biologischen und sozialen Grundlage einer Herkunft von ἀγαθοί möglich (z. B. Thgn. 149–150). Die εὐ­γέ­ νεια wird also nach Theognis’ Programm in ihrer Bedeutung gestärkt, jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern als Voraussetzung für die Bildung zum Aristokraten im umfassenden Sinne, wie Theognis ihn versteht. Pindar legt den Begriff γενναῖος Amphiaraos in den Mund, der die Entschlossenheit der Epigonen lobt (Pi. P. 8, 44–47). Kontext und sprachliche Form evozieren in gedrängter Form den Gedanken der Herkunft, der Vererbung von Voraussetzungen für Leistung, der Familientradition. Das λῆμα der Söhne ist ihnen von Natur aus eigen, ist mit ihrem Genos verknüpft und von den Vätern her vorgezeichnet. Wie Theognis hält auch Pindar angeborene Voraussetzungen für notwendig, um vollendete ἀρετά an den Tag zu legen, auch wenn er dies seltener und weniger prägnant formuliert, weil er einen anderen biographischen Hintergrund hat und seine Gedichte einen anderen Sitz im Leben haben (z. B. Pi. N. 3, 40–41). Pindar verbindet den Gedanken mit der Wechselhaftigkeit des menschlichen Schicksals (Pi. P. 8, 48–60, 95–97). Hier schafft die Vorstellung von einer der Familie inhärenten Güte Kontinuität. καὶ γὰρ εἰ πένης ἔφυν, οὔτοι τό γ’ ἦθος δυσγενὲς παρέξομαι – Mit der Tragödie nimmt das Reden von der edlen Herkunft deutlich zu. Die Frage, wonach sich die Beurteilung eines Menschen zu richten hat, erschüttert sicher geglaubte Kriterien, ohne mit Entschiedenheit neue festlegen zu können. Die Berufung auf die εὐγένεια dient dabei als Argument und als Rechtfertigung, erscheint aber immer wieder auch als fragwürdig. Aischylos’ Verwendung des Begriffs in den Persern mutet episch an. Er ist im Zusammenhang mit dem Tod, dem ehrenvollen Tod in der Schlacht gebraucht und bezeichnet die Träger im Gegensatz zum einfachen Volk, das weder auf eine hohe Abkunft noch auf ruhmvolle Taten verweisen kann (z. B. A. Pers. 441– 444). In den Sieben gegen Theben verknüpft Eteokles die εὐγένεια des Thebaners Melanippos mit seiner Autochthonie und, wieder ganz episch, mit seinem sittlich vollkommenen Wesen (A. Th. 407–416). Dieser Aspekt bildet in der Orestie den Schwerpunkt. In ihr gewinnt der ethische Anspruch an Gewicht. Die Figuren legen sich das Prädikat selbst zu oder es wird ihnen von anderen zugesprochen, um ihr Verhalten zu begründen und zu rechtfertigen (z. B. A. A. 606–614, Eu. 625–630). Gleichzeitig läßt die Zeichnung der Charaktere die Erfüllung des sittlichen Anspruchs zumindest zweifelhaft erscheinen. Mit Agamemnons Entscheidung für Iphigenies Opferung rückt die Gemeinschaft als Handlungskriterium in den Blick (A. A. 212–213). Das Gemeinwohl steht auch im Zentrum des Schlusses der Trilogie. Athena überredet die Erinyen zu einer wohlwollenden Einstellung gegenüber der Stadt; die Formulierungen evozieren das politische Konzept der ὁμόνοια

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(z. B. A. Eu. 976–987). Erstmals scheint hier der Dienst an der Gemeinschaft als neuer Aspekt des εὐγένεια-Begriffs auf. War die Kritik am Argument der εὐγένεια bei Aischylos noch implizit erfolgt, so diskutieren die Figuren bei Sophokles den Gehalt des Begriffs explizit. Im Aias definieren beide, Aias und Tekmessa, das Verhalten, das in ihren Augen eines εὐγενής würdig ist, und kommen unter Berufung auf Werte des aristokratischen Kanons zu entgegengesetzten Schlüssen: Aias sieht im Tod den einzigen Ausweg (S. Aj. 470–480), während Tekmessa eine Entscheidung für das Leben für richtig hält (S. Aj. 520–524). Auch Teukros und die Atriden geraten mit Verweis auf die Abstammung und andere heroische Werte in einen Streit, den Odysseus löst, weil er mit der εὐγένεια und ihr verwandten Werten flexibel und pragmatisch umgeht (S. Aj. 1332–1380). Der Versuch, εὐγένεια zu definieren, führt im Aias innerhalb des aristokratischen Kanons zu einem Widerspruch. Im Philoktetes prallen anhand des εὐγένεια-Begriffs zwei grundverschiedene Konzepte aufeinander. Dem traditionellen epischen Heldenbild, das durch Philoktetes repräsentiert wird (z. B. S. Ph. 475–479, 874–876), stellt Odysseus eine sophistische Schlauheit entgegen, die die Wahl der Mittel dem Ziel unterordnet (z. B. S. Ph. 50–57). Der junge Neoptolemos ist überfordert (S. Ph. 895–899, 908); Herakles erscheint und ordnet die verfahrene Situation. Die Lösungen im Aias und im Philoktetes zeigen, daß der Bezug auf die εὐγένεια einer Anpassung an die Umstände bedarf, nämlich der Fähigkeit, Werte zu gewichten und ihnen situativ zu folgen. Zugleich ist eine moralische Orientierung erforderlich, um Auswüchse des Pragmatismus zu verhindern. Der Philoktetes weist den Weg der Geradlinigkeit, denn Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft sind Voraussetzungen für ein wirksames Handeln. Wenn der vermeintlich moderne Euripides den Begriff der εὐγένεια besonders häufig verwendet, erwartet man grundstürzende Umwälzungen in Bedeutung und Gebrauch. Dagegen ergibt sich, daß er den Begriff in auffallendem Ausmaß traditionell gebraucht. Gleichwohl wird die explizite und implizite Berufung auf εὐγένεια in jeder der vier exemplarisch behandelten Tragödien in einer anderen Weise hinterfragt. In der Alkestis findet Alkestis’ und Admetos’ Verhalten gleichermaßen seine Begründung in ihrer εὐγένεια. Dieser Bezug wird dreifach erschüttert. Obwohl mit Alkestis eine Frau stirbt, erscheint ihr Tod im Licht eines aristokratischen χάρις-Austauschs und wird mit Formulierungen des epischen Heldentums beschrieben (z. B. E. Alc. 619–624). Admetos bindet sich mit außerordentlichen Versprechungen gegenüber seiner sterbenden Gattin (E. Alc. 328–368) und sieht sich bei Herakles’ Ankunft außerstande, sie angesichts der geforderten ξενία zu halten (E. Alc. 597–605). Schließlich stehen der Lobpreis von Alkestis’ und Admetos’ εὐγένεια in Opposition. Die innere Widersprüchlichkeit des traditionellen Wertekanons und seine mangelnde Robustheit gegenüber äußeren Einwirkungen steht deutlich vor Augen, ohne daß Euripides einen Ausweg bezeichnete. Die Herakliden weisen zunächst eine scheinbar unproblematische, traditionelle Verwendung der untersuchten Begrifflichkeit auf. Herakles und seine Kin-

230

Schluß

der, allen voran Makaria, die sich freiwillig für ihr Genos opfert, werden als εὐγενής benannt (z. B. E. Heracl. 621–629). Im Licht des Schlusses betrachtet erscheinen die früheren Benennungen jedoch als bedeutsam. Alkmene bekommt Gewalt über ihren Widersacher Eurystheus; indem sie den Wunsch der Polis nach Schonung des Gegners ignoriert, glaubt sie, im Interesse ihres Genos zu handeln. In Wirklichkeit bereitet sie die Feindschaft zwischen den Herakliden und der Stadt Athen ebenso wie die zukünftige Niederlage der Heraklesnachkommen vor. Eurystheus, eben noch der Feind schlechthin, wird zum Wohltäter Athens (E. Heracl. 1032–1044). Aus diesem Blickwinkel wird sichtbarer, daß auch Makaria für die Polis und nicht nur für ihr Genos starb (E. Heracl. 503–519) und daß Demophon, trotz seiner Ablehnung des Mädchenopfers, sein Prädikat zu Recht trägt (E. Heracl. 410–419). Die Orientierung an den Interessen der Polis, die sich bei Aischylos andeutete, tritt hier deutlich zu Tage. Am schärfsten greifen Orestes und vor allem der Bauer in der Elektra das traditionelle Verständnis von εὐγένεια an. An der Person des Bauern, der arm ist, aber edel handelt, wird zum einen die enge Verbindung von Reichtum und Adel (z. B. E. El. 362–363), zum anderen auch die Verknüpfung von äußerem Erscheinungsbild und Adel in Frage gestellt (z. B. E. El. 367–390). Die Dialoge in der ersten Dramenhälfte kreisen um die Notwendigkeit genauer Prüfung und die Schwierigkeit, den inneren Wert eines Menschen zu bestimmen, bleiben dabei jedoch noch im traditionellen Kanon verhaftet. Einen echten Gegenentwurf deutet die Bemerkung des Bauern an, εὐγενεῖς seien mit kleinen wie großen Verhältnissen gleichermaßen zufrieden (E. El. 406–407). Hier ist der Versuch einer wirklichen Demokratisierung des Adelkonzepts gemacht. Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, daß der Bauer sich auf seine Herkunft aus einer ehemals aristokratischen Familie beruft (E. El. 35–38), was wir als Quelle seiner Haltung verstehen: keine aristokratische Haltung ohne aristokratische Herkunft. Beide Ansätze, die Skepsis gegenüber dem ersten, äußeren Eindruck und die Genügsamkeit als Kern eines neuen Adelsverständnisses, werden in der zweiten Hälfte des Dramas wieder aufgegeben, das in einer menschlichen Katastrophe endet. Die Ansätze der Elektra bleiben in den erhaltenen Dramen ohne Fortsetzung. In anderer Richtung entwickelt der Ion den εὐγένεια-Begriff weiter. Im Ion wird die εὐγένεια an einigen Stellen von der athenischen Autochthonie und der Erdgeborenheit des athenischen Königshauses abgesetzt und damit in ihrer Bedeutung relativiert (z. B. E. Ion 291–293). εὐγενής beschreibt seinen Träger als hervorragend, dient aber nicht zum Ausdruck allerhöchster Exzellenz. Häufiger jedoch verknüpfen die Sprecher im Ion den Begriff der εὐγένεια mit dem der athenischen Autochthonie oder der Erdgeborenheit (z. B. E. Ion 1058–1060). Intern bedeutet dies eine Nivellierung, weil nun jeder Athener aufgrund seiner Autochthonie auch εὐγενής ist, nach außen stellt diese Modifizierung eine Abgrenzung dar und verschafft dem Gedanken der εὐγένεια eine neue Exklusivität. Die genealogische Abstammung gewinnt wieder an Bedeutung. Das Adelsverständnis, das sich zur Elektra hin deutlich geweitet hatte und sogar Ansätze zu einer grundlegenden Erneuerung in demokratischem Sinne zeigte, zieht sich auf überkommene Kriterien zurück und verengt sich wieder.

Schluß

231

Im Epos fragt der Krieger vor Troja, was für ihn γενναῖον sei, welche Ansprüche sein Genos an ihn stelle, und verhält sich entsprechend. Wir erleben ein Handeln, das sich an den Verpflichtungen der Herkunft orientiert. Die lyrischen Dichter konstatieren die Wirkung der Abstammung auf die Haltung der Nachkommen und betonen die edle Herkunft als Voraussetzung für ein umfassend gutes Leben. In den Tragödien wird die Konsonanz von Herkunft und Verhalten zunehmend in Frage gestellt, zunächst indirekt, etwa in Aischylos’ Orestie, dann offen diskutiert, wie in Sophokles’ Philoktetes, und schließlich, in Euripides’ Elektra, nahezu geleugnet. Die grundlegend neuen Ansätze finden in den späteren Tragödien jedoch keine Fortsetzung. Der Ion bildet einen Rückschritt, weil er der Herkunft neues Gewicht verleiht und der εὐγένεια neue Exklusivität verschafft. Von Anfang der faßbaren griechischen Literatur an ist also die Vorstellung der Abstammung mit dem Gedanken der Verpflichtung und der Erfüllung eines Anspruchs verbunden. An allen betrachteten Stellen sind fast ausnahmslos gute Herkunft und gutes Handeln miteinander verknüpft. Was als gutes Handeln zu gelten hat, wird erstmals bei Sophokles offen diskutiert; entschiedenen Zweifel, ob nicht auch ohne hohe Abstammung ein edles Verhalten möglich ist, finden wir dann bei Euripides. Trotzdem bleiben die Ansätze zurückhaltend und punktuell. Ein „Befreiungsschlag“ von der Auffassung, daß persönliche Qualitäten vererbt würden, ist nicht festzustellen. Parallel zu Sophokles und Euripides tritt Aristophanes mit seinen Komödien an die Öffentlichkeit. In den meisten seiner Komödien finden sich je ein bis zwei Belege für die untersuchten Begriffe, in den Rittern fünf, bemerkenswert viele in den Fröschen (sechzehn). Auffällig ist die Verwendung zweier neuer Wörter, die nicht zum tragischen Vokabular gehören, γεννάδας und γεννικός. Aristophanes gebraucht die Begriffe, die eine hohe Herkunft anzeigen, vor allem in gesellschaftlich-politischem Kontext. Hier bezeichnen die Begriffe vom Stamm γεν- häufig Handlungen und Haltungen, die den politischen Auseinandersetzungen der Demokratie entgegengesetzt sind. Für eine solche Haltung lobt beispielsweise der Chor den Dichter in der Parabase (Ar. Eq. 511, Pax 772); das Sykophantentum steht stellvertretend für die negativen Züge der Demokratie und ist einer Lebensweise, die als γενναῖον beschrieben wird, entweder gegenübergestellt oder rückt ihr zu Leibe (Ar. V. 506, Av. 285). Gelegentlich bezeichnet γενναῖος ein Verhalten, das deutlich gemeinschaftsorientiert ist, etwa wenn die Ritter in der Parabase von sich sagen, sie setzten sich für die Stadt ein, ohne eine Gegenleistung zu erwarten (Ar. Eq. 577). In den Fröschen treten die Belege in zwei Zusammenhängen gehäuft auf, in den komischen Szenen mit Dionysos und Xanthias und zu Beginn des Agons zwischen Aischylos und Euripides. Xanthias heißt aus konkreten Anlässen γεννάδας, weil er bereit ist, das Gepäck zu tragen, und weil er eine „Prügelprobe“ vorschlägt, die Gott und Sklaven erweisen soll (Ar. Ra. 179 verbunden mit χρηστός, 640). Dionysos trägt das Attribut γεννάδας als nachsichtiger Herr seines Sklaven, aber auch als ein rechter Lebemann, der sich auf Wein und Weib versteht (A. Ra. 738–739). Dieses Klischee des Aristokraten bedient auch Xan-

232

Schluß

thias’/Herakles’ Vorschlag, seinen Sklaven/Dionysos unter Folter zu verhören (Ar. Ra. 615 πρᾶγμα γενναῖον, vgl. auch V. 506). Im Zusammenhang mit dem Dichterwettstreit werden die Dichter und die Polisbürger als γενναῖοι bezeichnet. Dionysos reist in die Unterwelt, um einen Tragödiendichter auf die Erde zurückzuholen, der fruchtbar und dessen Wort edel und gewagt sei (Ar. Ra. 96–99 γόνιμος, γενναῖον, παρακεκινδυνευμένον). Außerdem wird Aischylos vom Chor als γεννάδας angesprochen und die Nützlichkeit edler Dichter betont (Ar. Ra. 997, 1031). Zu Beginn ihrer Auseinandersetzung erhebt Aischylos den Vorwurf, Euripides habe die Athener von ihm als γενναῖοι übernommen, gebildet durch „ein Drama voll Ares“, sie aber ganz und gar verdorben, ja in den Selbstmord getrieben (Ar. Ra. 1011 verbunden mit χρηστός, 1014, 1019, 1050). Alle Belege im Kontext des Dichteragons beziehen sich entweder von vornherein auf Aischylos und seine Arbeit oder lassen sich im nachhinein mit seiner Person verknüpfen (Ar. Ra. 97). Dies ist vor dem Hintergrund einer idealisierten Vergangenheit zu lesen; dabei steht Aischylos für das Alte, Gute, Erhaltenswerte, Euripides dagegen für das Neue, Dekadente, Zersetzende. Auch der Münzenvergleich ist in diesem Licht zu verstehen. Der Chor bemerkt in der Parabase, die Athener machten es mit den Politikern wie mit ihren Münzen, sie verwendeten nicht die alten, bewährten, goldenen, sondern die neuen, schlechten, kupfernen (Ar. Ra. 718–737, εὐγενεῖς 727). Die Passage erinnert an die Worte des alten Pädagogen in Euripides’ Elektra, der Orestes und Pylades zunächst von ihrem Äußeren her als εὐγενεῖς bezeichnet, aber nur vorläufig, denn wie bei Münzen sehe man den wahren Wert nicht auf den ersten Blick (E. El. 550–551). Im Gegensatz zur Elektra stehen in den Fröschen die εὐγένεια und der innere Wert der alten Münzen und Politiker allerdings nicht in Frage, sondern werden als gegeben vorausgesetzt. Aristophanes geht frei mit den Begriffen der εὐγένεια um. Er verwendet sie bald beiläufig, bald ironisch, arbeitet mit dem Klischee des Aristokraten und der guten alten Zeit, auch spielt er mit den Erwartungen der Zuschauer. Seine Verwendung der Begriffe zeigt einige Distanz, vor allem aber setzt sie, um ihre Wirkung entfalten zu können, eine feste und umrissene Bedeutung der Wörter voraus. Es ist der traditionelle Sinn, der den Aristokraten in Herkunft, Status und Verhalten beschreibt; für ein mit den Begriffen verknüpftes Ringen um die zugehörigen aristokratischen Werte ist der aristophanische Gebrauch allenfalls indirekt wirksam. Der ironische Gebrauch zeigt, daß der Begriff überholt erscheint, vielleicht lächerlich wirkt und nicht mehr ernstgenommen werden kann. Vor diesem Hintergrund verwundert es, daß der Dichter für einen Inhalt, den er genüßlich verspottet und für den er bereits zwei Vokabeln vorfindet (εὐγενής, γενναῖος), zwei neue gebraucht (γεννάδας, γεννικός), die in der erhaltenen Literatur vorher kaum belegt sind.1 Der Vermutung, er habe nach unverbrauchten Worten gesucht, steht der Befund entgegen. Wie die alten verwendet Aristophanes auch die neuen Begriffe ironisch; als Beispiel für eine besonders böse Ironie diene etwa die Anrede der Ritter an den Wurstverkäufer

1

Vgl. aber Demokrit fr. 156, 4 und Antisthenes fr. 51, 5.

Schluß

233

(ὦ γεννικώτατον κρέας, Ar. Eq. 457 – o edelstes Fleisch). Das sind Material und Fragen für eine eigene Untersuchung. Ähnlich ist der Befund bei Menander. Nur im Dyskolos treten die Begriffe εὐγενής etc. gehäuft auf, ein Befund, der zweifelsohne durch die Überlieferungssituation bedingt ist. Menander gebraucht die Begriffe meist beiläufig, nur gelegentlich ironisch, diskutiert oder in Frage gestellt wird die Bedeutung nicht. Ein kurzer Überblick über die entsprechenden Stellen im Dyskolos zeigt die traditionelle Verwendung der Begriffe: Wir finden etwa den Hinweis, in der Not solle man sein Schicksal mit Anstand tragen (Men. Dysc. 281), im Glück dagegen seinen Besitz zum Wohle anderer einsetzen (Men. Dysc. 806). Zweimal lobt ein Charakter einen anderen für seine Worte oder seine Tat (Men. Dysc. 321, 723). Die letzte Stelle ist lückenhaft; Kallippides nennt Gorgias εὐγενῶς / ...] ος (Men. Dysc. 835–836), auf edle Weise [...]. Die verschiedenen Konjekturen ergänzen alle einen Begriff, der Gorgias’ Verhalten als unerwartet oder dumm beschreibt, weil er die gute Partie, Sostratos’ Schwester, aus Bescheidenheit nicht annehme.2 Nur eine traditionelle Verwendung ergibt in dieser Junktur einen Sinn. Auf ironische Art werden edle Grundeinstellung und nutzenorientierter Pragmatismus gegenübergestellt. Im 4. Jahrhundert taucht der Begriff der εὐγένεια vor allem in den Schriften der Philosophen und Redner auf. In Platons Dialogen nehmen ethische Überlegungen einen breiten Raum ein. Die Beschreibung richtigen Verhaltens erfolgt aber mit einer anderen Begrifflichkeit. Platons Gesprächsteilnehmer fassen entweder einzelne Aspekte der Lebensführung in konkreterer Weise, etwa als τὸ σῶφρον (Charmides) oder τὸ δίκαιον (Politeia I), oder bezeichnen eine Haltung umfassender als χρηστός, καλός oder ἀγαθός (passim, z. B. Pl. Cri. 47a7, 48b3–9) und beziehen sich auf das Ziel der εὐδαιμονία (passim, v. a. Gorgias, Politeia). Das Glück und die Qualität der Lebensführung sind von äußeren Umständen getrennt und in die Seele des einzelnen verlegt (Pl. Grg. 474c4–477e9, 506d4–507c7, Phd. 464d3–67d8). Damit scheint die Verbindung von Herkunft und innerem Wert aufgelöst zu sein; allerdings knüpft Platon die Möglichkeit eines philosophischen Lebens an anderer Stelle in scharfer Form an Voraussetzungen der Geburt (Pl. R. 412b8– 414a7 in rationaler Begründung, 414d4–415c6 in mythischer Einkleidung). Die Begriffe der εὐγένεια/γενναιότης sind bei Platon nur in einzelnen Fällen mit ethischen Überlegungen der Lebensführung verknüpft (so z. B. Pl. Grg. 512d7, R. 361b7). Gelegentlich sind die Begriffe im biologischen Sinne gebraucht, als Termini der Tierzucht, meist als Analogie zum Menschen oder Staat (z. B. Pl. R. 375a2, e2, 459a3, 7, Lg. 735b5). Häufig findet sich γενναῖε in verblaßter Bedeutung als Anrede (etwa Pl. Grg. 473d2, R. 527b9, Phdr. 235d4 im Superlativ) oder γενναίως zur Beschreibung freien und mutigen Antwortens im Gespräch (z. B. Pl. Tht. 146c3, d4), gelegentlich ist γενναῖος ironisch gebraucht (Pl. Phdr. 227c9, Tht. 162d5). Wie Aischylos’ Sieben gegen Theben und besonders Euripides’ Ion verbindet Platon den Begriff der εὐγένεια mit dem Gedanken der Autochthonie (Pl. Mx. 2

Vgl. Sandbach (1990) app. cr. ad 836.

234

Schluß

237a7, b3, c5). Auch in anderen Epitaphien und weiteren Reden des 4. Jahrhunderts findet sich diese spezifisch athenische Adelsvorstellung, die im 5.  Jahrhundert angelegt ist, in ausgeformter Gestalt.3 Aristoteles gebraucht die Begriffe εὐγένεια/γενναιότης/εὐγενής/γενναῖος vor allem in politisch-gesellschaftlichem Kontext. εὐγένεια wird als ein Kriterium für politischen Einfluß genannt, allerdings dem übergreifenden Kriterium der persönlichen Qualität untergeordnet (Arist. Pol. 1282b14–1283b35), in der Politie bildet die εὐγένεια in seinen Augen einen Teil des aristokratischen Elements (Arist. Pol. 1293b31–1294a29). In den Politika ist die Frage der gesellschaftlichen Position mit biologischen Überlegungen verknüpft; es gebe von Natur aus Sklaven und Adlige, deren Wesen durch ihr Schicksal nicht beeinflußt werde, soweit gute Qualitäten vererbt würden (Arist. Pol. 1255a19–1255b4). Verschiedentlich gibt Aristoteles eine Definition der εὐγένεια, die durch ihre traditionellen Merkmale gekennzeichnet ist, Reichtum und ἀρετή (Arist. Pol. 1294a21–22, Rh. 1360b32–39). Aristoteles nennt εὐγένεια unter den Voraussetzungen für Glück (Arist. Rh. 1360b19–29, EN 1099a31–1099b8). Gelegentlich relativiert er jedoch Ansprüche, die auf der hohen Abkunft beruhen, gegenüber der Tugend (Arist. EN 1124a20– b6, Rh. 1390b16–21, auch Pol. 1295b5–11 „ὑπερευγενής“) und der Erfahrung, daß edle Herkunft häufig nicht mit sittlich gutem Verhalten einhergeht (Arist. Rh. 1390b21–31). In diesem Zusammenhang unterscheidet Aristoteles εὐγενής und γενναῖος (Arist. Rh. 1390b21–23), wonach εὐγενής sich auf die Tugendhaftigkeit des Geschlechts beziehe, γενναῖος darauf, von der Natur des Geschlechts nicht abzuweichen, eine Unterscheidung, die sich für das 5. Jahrhundert nach der vorliegenden Untersuchung nicht in dieser strikten Trennung ergeben hat. Auch als Fachterminus der Tierzucht begegnet εὐγενής/γενναῖος (z. B. Arist. HA 558b15, 631a2), ferner zur Charakterisierung des Wesens bei bestimmten Tierarten (Arist. HA 488b17). Nur fragmentarisch erhalten ist Aristoteles’ Schrift Περὶ εὐγενείας.4 Erkennbar ist einerseits der Standpunkt, zurückhaltend zu sein und nicht bloße εὐγένεια zu würdigen, sondern das Kriterium der individuellen Leistung zu stärken, andererseits findet sich die Ansicht, man müsse eine Abstammung aus einem edlen Geschlecht hochschätzen (Arist. Fr. 91–92 und 94 Rose³). Es bleibt unklar, zu welchen Schlußfolgerungen diese Positionen in der Schrift letztlich führten. Der Begriff der εὐγένεια und die mit ihm verbundenen Vorstellungen erlangen von Homer an, besonders im Verlauf des 5. Jahrhunderts eine wachsende Aufmerksamkeit. Der Begriff fällt in der Literatur immer häufiger und wird, zunächst indirekt, dann zunehmend offener diskutiert. Wir beobachten eine vorsichtige, tastende und, weil sie in der Dichtung stattfindet, nicht-systematische Diskussion.

3 4

Vgl. hierzu insbesondere Loraux (1981), aus historischer Perspektive Ober (1989) 259–270. Vgl. Moraux (1951) 35–36, RE Suppl. 11, 300. – Unecht sind Divisiones 10 ἡ εὐγένεια und [11] ἡ δυσγένεια, vgl. Mutschman (1907) XXXI-XXXII m. Anm. 4, Zekl (1998) LXIV-LXXII.

Schluß

235

Die Dichter stellen die εὐγένεια in ihren verschiedenen Ausprägungen dar, sie stellen Widersprüche und Diskrepanzen fest. Bald implizit, bald explizit üben die Handlungsträger der Dramen am Konzept der εὐγένεια Kritik oder bilden selbst den Ausgangspunkt, an dem sich die Kritik der Zuschauer/Leser entzünden kann. Nach und nach wird der Wert der εὐγένεια in Frage gestellt und die Bedeutung gesucht, die als richtig und wünschenswert erscheint. Gelegentlich finden sich Andeutungen, wie die Adelsvorstellung, die sich im aristokratischen Wertekanon ausdrückt, modifiziert werden könne, etwa durch eine Polisorientierung. Wir finden jedoch keinen entschiedenen Gegenentwurf, obwohl er sich in den Ansichten des Bauern in Euripides’ Elektra anzukündigen schien. Dieser Befund erweist sich einerseits als förderlich, andererseits als schädlich für die Diskussion der εὐγένεια im 4. Jahrhundert. Auf der einen Seite ist nun der Boden für eine allgemeinere Behandlung des Themas bereitet. Die Problematik findet Eingang in die Philosophie, wo sie nicht nur in politische und gesellschaftliche Überlegungen integriert ist, etwa bei Platon und Aristoteles, sondern auch theoretisch diskutiert wird, unter anderen von Aristoteles.5 Auf der anderen Seite ist damit die Ausgangslage für eine Neuausrichtung der Diskussion geschaffen. Andere Wertbegriffe wie ἀγαθός/κακός, die von Homer an – aber nicht ausschließlich – persönliche und soziale Qualität beschrieben, bilden nun das Vokabular in der Erörterung ethischen Verhaltens, die Begriffe vom Stamm γεν- tauchen nur noch selten auf. Erwogen wird beispielsweise, ob die Herkunft in der Beurteilung eines Menschen bedeutsam ist oder in welchem Verhältnis Herkunft und sittliches Verhalten stehen. Eine Neufassung der Adelsvorstellung, wie sie in Euripides’ Elektra möglich schien, ist nicht zu erkennen. Dagegen erscheint εὐγένεια als verschieden von einem ethisch guten Verhalten; man gewinnt den Eindruck, daß beide Vorstellungen geradezu entgegengesetzt sind. Der Begriff der εὐγένεια begegnet weiterhin in Verbindung mit der athenischen Autochthonie, in politisch-gesellschaftlichen Begründungszusammenhängen und als biologischer Fachterminus. Die Entwicklung des Begriffs, die die Tragödie begonnen hatte, ist damit aufgegeben. Das Verständnis von εὐγένεια/γενναιότης verengt sich und ist in beschränkender Weise von der Wurzel γεν- her bestimmt. Im Verlauf des 5.  Jahrhunderts entstehen in der Tragödie dezidierte Ansätze, das Konzept der εὐγένεια in der Richtung eines Herzensadels zu erweitern. Hier ist besonders Euripides’ Elektra zu nennen. Im Ion finden wir jedoch bereits eine spezifische Verwendung, die die frühere Bedeutungsbreite verringert. Damit sind zwei konkurrierende Konzepte formuliert, von denen zumindest das zweite für das athenische Publikum ohne Zweifel attraktiv war. Der erste Ansatz fand jedenfalls keine Fortsetzung. Gegenüber der erheblichen Bedeu5

Spätere Abhandlungen über εὐγένεια sind belegt für Metrodoros von Lampsakos (Schriftenverzeichnis bei D. L. 10,24), Diogenes von Seleukeia (fr. 52 Arnim), Plutarch (fr. 139–141 Sandbach). Stobaios’ Kapitel über εὐγένεια und δυσγένεια fanden bereits Erwähnung, vgl. oben.

236

Schluß

tungsverengung von εὐγένεια im 4. Jahrhundert erscheinen das integrale Verständnis, das von Homer bis Euripides den Begriff prägte, und die Entwicklung des Konzepts um so fortschrittlicher und kühner.

Orestes

Elektra

Elektra

Elektra

25

128

257

287

El.

Chor

938

Aj.

S.

Chor

1198

A. Ag.

Sprecher

Klytaim.

sich selbst

Chor

Pädagoge

Schmerz

Eid

In Bezug auf:

x x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv

x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft

Herkunft und Schicksal im Einklang

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular)

Kontext von χάρις, ξενία

Zusammenhang mit Tod

x

x

In verblaßter Bedeutung

Die Kategorien, nach denen die Belege bestimmt werden, geben Hinweise zu ihrem Gebrauch im Kontext. Aufgrund des fehlenden Kontexts werden die Stellen der fragmentarisch überlieferten Dramen lediglich genannt. Wo die Einschätzung des Sprechers und das Bild, das sich aus dem Drama als Ganzem ergibt, divergieren oder nur eine ambivalente Beurteilung erlauben, sind in beiden Spalten Kreuze gesetzt (z. B. „Verhalten und Herkunft im Einklang“ und „Diskrepanz von Verhalten und Herkunft“).

Anhang: Tabellarische Übersicht über die nicht behandelten Belege bei Aischylos, Sophokles, Euripides

Oidipus

Athener

Oidipus

Kreon

Oidipus

Oidipus

8

76

569

728

1042

1636

OC

Kaufm.

604

Ph.

Deianeira

309

Bote

1164

Deianeira

Antigone

Ant.

61

Oidipus

1469/ 1510 38

Tr.

Oidipus

1079

OT

Sprecher

Theseus

Theseus

Chor

Theseus

Oidipus

sich selbst

Helenos

Iole

Amme

Kreon

Ismene

Kreon

sich selbst

In Bezug auf:

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv

x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft

x

Herkunft und Schicksal im Einklang

x

x

x

x

x

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular) x

x

x

x

Kontext von χάρις, ξενία

x

Zusammenhang mit Tod

In verblaßter Bedeutung

238 Anhang

Chor

656

Amme

Phaidra

Phaidra

206

409

710

Aphrod.

Medea

Odysseus

590

1072

Odysseus

286

Chor

Odysseus

201

762

Chor

Oidipus

41/42

Hipp. 26

Med.

E. Cyc.

(1640)

Sprecher

Chor

Frauen

Phaidra

Phaidra

ihre Kinder

Od., Mannen Aigeus

Chor

Od., Mannen Polyphem.

Antigone, Ismene Schafe

In Bezug auf:

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv

x

x

x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft x

Herkunft und Schicksal im Einklang

x

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular)

x

x

Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

x

In verblaßter Bedeutung

Anhang 239

Hekabe

Aithra

Supp. 12

Peleus

1279

592

Peleus

Chor

Hermione

912/ 942 1273

381

Hec.

Chor

Androm.

Andr. 565

771

Theseus

1452

Peleus

Artemis

1390

613

Artemis

1301

Sprecher

Theben

Sieben gg.

Polyxena

Polyxena

gnomisch

Sohn v. Androm. Thetis

Griech. vor Troja gnomisch

Achilleus

Hippolytos

Hippolytos

Phaidra

In Bezug auf:

x

x

x

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft x

x

x

x

Herkunft und Schicksal im Einklang

x

x

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular)

x

x

Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

x

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

In verblaßter Bedeutung

240 Anhang

HF

Megara

Megara

Chor

Chor

Chor

Chor

Lyssa

Lyssa

292

308

357

663

696

810

843

872

Adrastos

1178

Amphitr.

Euadne

1030

50

Theseus

925

Sprecher

Iris

sich selbst

Lykos

Herakles

gnomisch

Herakles

gnom./Herakles Amphitr.

Herakles

Athener

sich selbst

Amphiar.

In Bezug auf:

x

x

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv x

x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft

x

Herkunft und Schicksal im Einklang

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

x

x

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular) x

x

Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

x

In verblaßter Bedeutung

Anhang 241

Hel.

IT

Tr.

Helena

Teukros

10

136

Iphigenie

Chor

1035

609

Hekabe

1013

Iphigenie

Androm.

(742)

591

Talthybios

727

Hirte

Androm.

614

273

Hekabe

Theseus

583

1227

Sprecher

Leda

Theonoe

Orestes

Orestes

Nereiden

Menelaos

Helena

Astyanax

gnom./troj. Frauen Androm.

x

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv gnom./Hex rakles ihre Kinder

In Bezug auf:

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft

Herkunft und Schicksal im Einklang

x

x

x

x

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular) x x

Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

x

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

x

In verblaßter Bedeutung

242 Anhang

Ph.

Chor

Kastor

Theoklym.

1641

1678

1686

Kreon

Helena

1376

(1314)

Menelaos

1259

Polyneikes

Theoklym.

1187

(442)

Menelaos

950

Iokaste

Diener

(729)

404

Helena

(301)

Sprecher

Menoikeus

sich selbst

Polyneikes

sich selbst/ gnom. Hel., Men./ gnom. Helena

Menelaos

Opfertier

Helena

sich selbst

Tod durch σφαγαί sich selbst

In Bezug auf:

x

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv x

x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft

x

Herkunft und Schicksal im Einklang

x

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

x

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular)

x

x

Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

In verblaßter Bedeutung

Anhang 243

IA

Or.

Bote

Orestes

954

1060/ 1062 1157

446

1676

Bote

870

Elektra

Thyestes’ Kinder über sich

Orestes

sich selbst

Antigone

sich selbst

Oidipus

In Bezug auf:

sich selbst, Elektra Orestes Pylades/ gnom. Menelaos sich selbst, Orestes Agamemn. gnomisch

Chor

Antigone

(1692)

815

Kreon

(1680)

Pylades

Oidipus

(1623)

784

Antigone

1510

Sprecher

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular) Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

Herkunft und Schicksal im Einklang

x x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft

x

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv

In verblaßter Bedeutung

244 Anhang

Klytaim.

Bote/Kalchas

Agamemn.

Achilleus

1411/ 1422 1457

(1595)

Iphigenie

Chor

1402

Iphigenie

Iphigenie

sich selbst

Iphigenie

1376

Agamemn.

Klytaim.

1129

504

448

In Bezug auf:

x

x

x

x

Anrede Verhalten und Herkunft im Einklang, auch persuasiv Agamemn. sich selbst/ x gnom. Chor Menelaos x

Sprecher

x

x

Diskrepanz zwischen Verhalten und Herkunft x

x

Herkunft und Schicksal im Einklang x

Diskrepanz von Herkunft und Schicksal

x

x

x

x

Epischhe­ro­ ischer Kon­text (Vokabular)

x

Kontext von χάρις, ξενία

x

x

x

x

x

Zusammenhang mit Tod

In verblaßter Bedeutung

Anhang 245

E.

fr. Aigeus 9,1; Aiolos 22,1; Alexandros 61b,1; 61b,7; 61b,9; 61c,1; Alkmene 95,1; 97,1; 98; Andromeda 137,2; Antiope 185,2; 215,2; Archelaos 232,1; 232,4; 242,1; 149,3; Bellerophontes 285,4; 285,11; Danae 326,1; 329,1; Diktys 336,1; 336,2; 336,4; Erechtheus 360,1; 360,3; 362,14; 370,69; Thyestes 395,2; Ino 404,1; 405,1; 413,1; 414,1; Kreterinnen 462,5; Melanippe desm. 495,41; 495,43; Meleagros 527,2; Peliaden 603,4; Peleus 617,3; Protesilaos 653,5; 657,4; Stheneboia 661,3; Temeniden 739,1; 739,5; Hypsipyle 753c,17; (757,829); inc. 961; (1029c); 1047b; 1066b (alle Kannicht)

A. fr. Karer 99,9; Myrmidonen 132c,13; Oreithyia 281d,5 (alle Radt) S. fr. Aleadaen 79; 84,2; Ion 319; Tyro 667,2; Phaedra 677,1; Phryger 724,1; inc. 864 (alle Radt)

246 Anhang

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Indizes Glossar griechischer Begriffe ἀγαθός gut/tapfer αἰδεῖσθαι sich scheuen αἰδώς Scham αἰσχρός schändlich αἰσχύνεσθαι sich schämen αἰσχύνη Schande ἀκλεής ruhmlos ἀλητεία Umherschweifen ἀλυσκάζειν ausweichen ἀνάγκη Notwendigkeit ἀναίδεια Schamlosigkeit ἀνανδρία Unmännlichkeit ἀνδρόβουλον κέαρ ein männliches Herz ἄξιος würdig ἀρετή (ἀρετά) Tüchtigkeit/Tapferkeit ἄριστος bester/tapferster ἀσθενής schwach/gering ἀστός Bürger ἀτιμία Unehre ἄτιμος entehrend αὐτόχθων autochthon ἄφρων von Sinnen βασιλεύς Herrscher γένος Geschlecht γέρας Ehrengeschenk γηγενής erdgeboren γλῶσσα Zunge/Sprache δειλία (δειλίη) Feigheit δειλός feige δῆμος Volk δημότης Mann aus dem Volk δίκαιος gerecht δικαιοσύνη Gerechtigkeit δίκη Recht δόλος List δυστυχία Unglück ἐγγενής eingeboren ἐπακτός fremd ἔργον Werk ἐσθλός gut/tüchtig

εὐανδρία Mannhaftigkeit εὐδαιμονία Glückseligkeit εὐδόκιμος angesehen/geehrt εὐθαρσής mutig εὐκλεής (βίος) ruhmvolles (Leben) εὔκλεια Ruhm εὐσέβεια Frömmigkeit εὐσεβής fromm εὐτυχής glücklich κακία Schlechtigkeit κακός schlecht/feige/gering καλός schön/gut καρτερός stark καταισχύνειν beschämen  κατάξιος würdig κέρδος Erfolg, Gewinn κλέος (ἄφθιτον) (unsterblicher) Ruhm λέγω reden λόγος Rede μέγας groß μῖσος Haß νέμεσις Rache νόμος Brauch/Gesetz ξένος Fremder ξενία Gastfreundschaft ξενίζω gastlich aufnehmen οἶκος Haus/Familie ὁμόνοια Eintracht ὄνειδος Schmach πειθώ Überzeugung/Überredung πένης arm πλούσιος reich πόλις Stadt πολυκτήμων reich πολυτροπία Gewandtheit πονηρία Schlechtigkeit πονηρός schlecht προθυμία Bereitschaft προστρόπαιος hingewandt

274

Indizes

πτώσσειν sich ducken σόφισμα List σοφία Klugheit σοφός klug συγγενής verwandt σχῆμα Gestalt σωφροσύνη Besonnenheit σώφρων besonnen τιμᾶσθαι geehrt werden τιμή Ehre τίμιος geehrt τλῆναι wagen/ertragen τόλμη Wagnis ὑβρίζω freveln/eine Grenze überschreiten

ὕβρις Frevel/Übermut ὑπέρκοπος übermütig ὑπέρφρων übermütig φέρτερος besser φιλία Freundschaft φίλος lieb/Freund φιλόξενος gastfreundlich φιλοψυχία Feigheit φιλόψυχος am Leben hängend φυά Anlage φύσις Natur/Wesen χάρις Gunst/Dank/Gegenleistung χρηστός rechtschaffen ψεῦδος Lüge

Verzeichnis besprochener Stellen A. A. Eu. Pers. Th.

206–213: 84 606–614: 75–76 905–957: 86 1258–1263: 82 1304–1305: 69 625–630: 87 858–869: 93 976–987: 93 1040: 93 441–444: 65–66 703–706: 67 407–416: 70–71 681–682: 72 937–940: 72

165–166: 129 E. Alc. 323–325: 131 328–333: 130–131 551–552: 138 597–605: 139 619–624: 133 741–746: 137 840–842: 142 853–860: 143 984–994: 137 1087–1097: 144–145 1119–1125: 146–147 1136–1138: 147 El. 22–39: 176–177, 198 45–53: 179

252–262: 180, 199 358–363: 182, 199 367–372: 183, 199 380–385: 183, 199 404–407: 186, 199 524–531: 192, 199 550–551: 193, 199, 232 1096: 195 1097–1099: 190 1182: 196 1224–1225: 196 1244: 196 Heracl. 3–11: 150–151 51–53: 151–152 228–229: 152 232–235: 153 297–306: 153 320–328: 164–165 408–409: 154 464–470: 156 488–491: 154–155 507–519: 158 535–538: 159–160 553–555: 161 621–629: 163 824–827: 166 888–891: 167 1014–1017: 168 1027: 170

Indizes

275

1036: 170 HF 1227–1228: 225 Ion 237–246: 201 258–264: 202 289–293: 217 392–397: 218 576–581: 210–211 589–594: 210–211 836–842: 219 934–936: 208 1048–1060: 203–204 1470–1477: 214 1537–1545: 215 1560–1562: 215 Il.

5, 251–256: 20 6, 208: 39 9, 410–416: 22 11, 784: 24, 39, 126 24, 468–691: 55, 109, 112

Pi. P.

8, 44–47: 52



8, 55–60: 57–58 8, 95–97: 57

S. Aj. Ph.

470–480: 96 520–524: 98–99 1093–1096: 104 1226–1235: 105 1354–1357: 100 50–57: 116 332–336: 108 468–479: 108–109 797–803: 110 872–876: 111 940: 108 950: 113 1066: 108, 119 1284–1286: 113 1310: 113 1397–1402: 114

Thgn.

183–192: 44 190: 48

Namensregister Achilleus 22, 32–38, 97–98, 107–109, 113, 115–116, 135, 159 Admetos 130–149, 223, 229 Agamemnon 21, 33–38, 69, 82–93, 101– 107, 126, 228–229 Aias 96–100, 124–126 Aigisthos 82–83, 86, 176–178, 189–190, 195, 199 Alkestis 129–138, 141, 147–149, 163– 164, 223, 229 Alkmene 167–175, 223, 230 Apollon 87–89, 92, 139–140, 197, 200, 202–203, 205–210, 212–216 Aristophanes 231–233 Aristoteles 234 Athena 88, 93, 95, 97, 215–217, 228 Atossa 67–69 Bauer (Elektras Gatte) 176–189, 194, 197–199, 220, 223–224, 230 Dareios 67–69 Demophon 156–157, 164–167, 174–175, 223, 230 Diomedes 20–21, 23, 26–27, 31, 41, 227

Elektra 176–181, 186–200, 224 Erechtheiden 204, 220 Erinyen 91 Eteokles 70–74 Eurystheus 151–152, 156, 167–175, 177, 223, 230 Glaukos 23 Helena 81 Herakles 110, 121–122, 138–147, 152, 159, 168, 170, 175, 225, 229 Herodot 15 Iolaos 150–151, 154, 157, 160–161, 172 Ion 200–204, 209–220, 224 Iphigenie 79, 83–84, 86, 134 Kassandra 69, 83–85, 89 Klytaimestra 68–69, 75–93, 135, 189– 190, 195, 199–200 Kreusa 200–208, 213–220 Leda 81 Makaria 134–135, 154–164, 172–174, 223, 230

276

Melanippos 70–74, 90, 228 Menander 233 Menelaos 103–107, 126 Neoptolemos 107–123, 125–127, 229 Odysseus 101–103, 116–123, 125–127, 229 Oidipus 170 Οrestes 84, 87–88, 91–92, 180–186, 189– 199, 223–224, 230 Pädagoge (Agamemnons ehemaliger Er­zieher) 191–194, 199, 232 Pädagoge (Kreusas Erzieher) 205, 207–209, 219

Indizes

Pheres 132–136 Philoktetes 107–116, 119–123, 125–127, 229 Platon 233–234 Polyneikes 72–74 Priamos 35, 109 Ps–Xenophon 16 Tekmessa 98–100, 124–125, 229 Teukros 103–107, 126, 229 Theseus 225 Thukydides 15–16 Tydeus 20–21, 32, 70, 74 Xuthos 200, 204, 207, 210–212, 214– 220, 224

Sachregister Anagnorisis 203 Arete 15, 23–24, 26–29, 33–34, 37, 49– 50, 56, 101, 111, 134, 163, 228, 234, vgl. auch Tapferkeit Armut 16, 29, 178–180, 182–184, 186– 188, 191, 197 Aufrichtigkeit 113, 121, 125–127, 229 Augenschein 55, 186, 193, 198–202, 224, 230 Autochthonie 71–74, 90, 165, 204, 206, 211–212, 216–220, 224–226, 228, 230, 233, 235

Genealogie 30–32, 48–49, 53–55, 73, 106, 111, 188, 230, vgl. auch Genos Genos 9, 26, 29–30, 48, 52, 55, 73, 84– 85, 91, 120–121, 125, 150–152, 157, 161–162, 164, 170–172, 174, 176, 178, 189, 204, 207, 214, 223, 227–228, 230– 231, vgl. auch Genealogie Genügsamkeit 186–187, 189, 197–198, 212, 224, 230 Gerechtigkeit 49–50, 72, 74, 150, 228, 233

Besonnenheit 50, 103, 179, 181, 190, 228, 233

Homonoia 93, 127, 228 Hybris 70, 74, 86, 88, 103, 105–106, 115, 148, 178–179, 181, 189

Deus ex machina 93, 121–122, 149, 217, 223

List 110–111, 113, 117–118, 120, 122, 125, 127, 190, 193, 219

Εhre 21, 24–25, 27–29, 32–34, 36–37, 40–41, 74, 83, 97, 99, 101, 107–111, 125–126, 133, 145, 147, 153, 159, 162– 163, 166, 174, 177, 218, 227 Erfolg 118, 120, 125, 151

Mitleid 35, 103, 109, 112, 153, 202, 208

Feigheit 15, 26–27, 29, 33, 46, 73–74, 136, 144, 157, 159, 168, 184, 194 Fremdheit 211–213, 217–220 Freundschaft 108, 110–112, 114, 126– 127, 138, 142, 144, 152 Gastfreundschaft 138–144, 146–149, 174, 182, 186, 194, 223, 229

Natur 52–54, 56, 59, 79, 111–113, 118– 119, 121–122, 184 Οikos 55, 83–85, 88–89, 92–94, 134, 142, 148, 150–151, 205, 207, 209, 213 Opfertod 134–135, 141, 148, 157–162, 164, 173–175, 230 Persönliche Qualität 24–25, 28–29, 36, 41, 45–50, 73, 101, 104, 108–109, 118, 125–126, 131, 133, 137, 143–144, 152, 158–159, 168, 179, 184–185, 190, 193, 209, 228, 231–233, 235

Indizes

277

Polis 37, 73, 84–85, 88–89, 91–94, 121– 123, 127, 142, 149, 150–151, 162, 164, 166, 172, 174–176, 187, 205, 211, 213, 223, 225–226, 228, 230–232, 235

Schande 39, 66, 73–74, 79–80, 83, 88, 90, 95, 97–98, 107, 109, 125–126, 136, 138, 144, 146, 159–160, 178, 183, 187, 190, 194, 212, 225

Rache 26, 92, 102, 120, 156, 168–174, 177, 189–191, 193–198, 200, 209, 223 Rede 117–118, 120, 127 Reichtum 16, 28, 36, 44–50, 156, 178– 179, 181–182, 184, 186–187, 198, 211– 212, 228, 230, 234 Reinigung 168–169 Reziprozität 15, 99–100, 107, 110, 125, 130, 132, 134, 138, 141–142, 147–148, 152, 154–155, 161, 170–174, 209, 223, 229, 231, vgl. auch Verpflichtung Ruhm 15, 21–24, 26, 58, 66, 69, 74, 78, 83, 96–97, 107–109, 111, 115, 122, 125, 127, 133, 135, 148, 151, 159–160, 162– 163, 165, 223, 227–228

Tapferkeit 21, 28, 67, 101, 126, 183–184, 192, vgl. auch Arete Tod auf dem Schlachtfeld 15, 20–23, 66, 96–97, 133, 135, 160, 228

Scham 21, 25–26, 73–74, 90, 101, 118, 136, 139–140, 142–143, 151, 156, 208, 225

Überredung 79, 86, 92–93, 107, 115, 118, 122, 127–128 Verpflichtung 39–41, 49, 55, 59, 71, 73, 80, 85, 91, 93–94, 96, 99–101, 103–104, 106–108, 110–111, 114, 116, 119–120, 124–125, 136, 143, 147–148, 150, 152, 155, 158, 163, 165, 167, 172–175, 184, 188, 205, 223, 227, 229, 231, vgl. auch Reziprozität

Claudia Michel

Homer und die Tragödie Zu den Bezügen zwischen Odyssee und Orestie-Dramen (Aischylos: Orestie; Sophokles: Elektra; Euripides: Elektra) DRAMA - Studien zum antiken Drama und seiner Rezeption, Vol. 15 2014, 263 Seiten €[D] 58,00 / SFR 74,70 ISBN 978-3-8233-6899-1

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Der Ursprung der griechischen Tragödie wird vor allem im Dionysos-Kult und im Mythos gesehen. Der bereits in der Antike bekannte Einfluss der homerischen Epen ist dagegen bisher wenig untersucht. Aus modernem Blickwinkel wird das Epos als mythologische Quelle wahrgenommen, nicht wie im Athen des 6./5. Jhs. v. Chr. als effektvolle Performance eines Rhapsoden. Die Autorin zeichnet das Bezugsverhältnis am Beispiel von Odyssee und Orestie-Dramen mit rezeptionsästhetischem Ansatz nach. Einleitend sind die kulturpolitische Förderung der Aufführung von Epos und Tragödie im 6. Jh. v. Chr., die Verknüpfung beider Gattungen bei Platon und Aristoteles sowie der literarische Kontext des Bezuges zwischen Orestie-Dramen und Odyssee behandelt. Die Textanalyse ergibt, dass Aischylos die Struktur der Orestie vor der Folie der Odyssee gestaltet; die Transformation epischen Materials führt zu neuen Szenenformen und bühnentechnischen Innovationen. Sophokles verwendet den Homer-Bezug zur Psychologisierung der Protagonistin. Euripides spielt mit epischen Clichés und dem literarischen Spannungsfeld zwischen Epos und Drama. Die OrestieDramen interpretieren das dramatische Potential der Odyssee, was entscheidend zur Konstitution der Gattung Tragödie beiträgt.

Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • [email protected] • www.narr.de

Lothar Willms

Transgression, Tragik und Metatheater Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas DRAMA - Studien zum antiken Drama und seiner Rezeption, Vol. 13 2014, XIV, 934 Seiten €[D] 128,00 / SFR 156,00 ISBN 978-3-8233-6828-1

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Die vorliegende Publikation versucht eine Neuinterpretation des antiken Dramas mithilfe von Transgression, Tragik und Metatheater. Diese Begriffe werden in einem ersten theoretischen Teil ausführlich diskutiert und vor einem strukturalistischen Hintergrund neu gefaßt. Im Hauptteil werden mit dem so gewonnenen hermeneutischen Rüstzeug fünf zentrale Stücke des antiken Dramas ausführlich interpretiert, wobei der Schwerpunkt auf der attischen Tragödie liegt (Aischylos’ Perser, Sophokles’ Oidipus Tyrannos, Euripides’ Medea und Bakchen, Senecas Phaedra). Kurzinterpretationen beleuchten drei ausgewählte Komödien. Als Gesamttendenz ergibt sich so ein Rückgang der Tragik zugunsten des Metatheaters.

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DRAMA

Neue Serie · Band 16

Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Herausgegeben von Bernhard Zimmermann

Die Autorin verfolgt die Verwendung der Begriffe eugeneia/ eugenes und gennaios/gennaiotes bei Aischylos, Sophokles und Euripides, aber auch bei Homer, Pindar und Theognis. Sie geht von der Beobachtung aus, dass diese Begriffe im Verlauf des 5. Jh. v. Chr., in dem die Aristokratie in Athen politischen und gesellschaftlichen Einfluss verliert, in der Dichtung deutlich zunehmen. Anhand der Untersuchung und Deutung einer Auswahl von Belegen im Kontext der klassischen Dramen zeigt sie, dass die Begriffe von den Charakteren vor allem bei Sophokles und Euripides in ihrer traditionellen Bedeutung einer ererbten Qualität hinterfragt werden. Gleichwohl ist eine konsequente, demokratische Neudefinition im Sinne eines Herzensadels nicht erkennbar, vielmehr drücken die Begriffe in späteren Dramen wieder den ursprünglichen Gedanken einer vererbbaren Beschaffenheit aus, verengen ihn sogar durch den Aspekt der athenischen Autochthonie. Die konzeptionelle Neufassung der eugeneia, die in den Tragödien des 5. Jh. angelegt ist, findet in der philosophischen Diskussion des 4. Jh. keine Fortsetzung; andere Begriffe dienen nun der Beschreibung von persönlicher Qualität und gutem Verhalten.