Ad fontes: Basisgrammatik Latein 9783412216306, 9783412221577

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Ad fontes: Basisgrammatik Latein
 9783412216306, 9783412221577

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AD FONTES Basisgrammatik Latein 2., überarbeitete und ergänzte Auflage

von Simon Lozo

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die Grafik befindet sich auf Seite 57.

2. Auflage 2013 1. Auflage 2008: shVerlag, Köln © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Ursula Tücks – tücks design, Köln Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-22157-7

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Vorwort Dieses Buch geht über den Rahmen einer Schulgrammatik hinaus; es richtet sich besonders an Liebhaber. Als Basisgrammatik erhebt es dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit in allen Einzelheiten. Sein Ziel ist es, durch allgemeinverständliche Darstellung dem Leser zum Erfassen der wesentlichen Elemente der lateinischen Sprache zu verhelfen. AD FONTES will in erster Linie interessierten Studenten eine verlässliche Orientierung bei der Vorbereitung auf die universitäre Latinumsprüfung bieten, ist jedoch zugleich für den Einsatz in der Erwachsenenbildung, dem Arbeitsfeld des Verfassers, geeignet; aber auch Latein-Studenten, Sprachwissenschaftler und geistesgeschichtlich Interessierte dürften aufgrund der hier gebotenen problem- und begriffsgeschichtlichen Fundierung Nutzen aus diesem Buch ziehen. Denn trotz der Kürze holt diese kleine Grammatik mitunter weit aus, stellt die Dinge in einen größeren Rahmen, um sie verständlicher zu machen. Das geschieht zum einen durch sprachgeschichtliche Erklärungen, Verweise auf indogermanischen Ursprung und Vergleiche mit dem Deutschen, Englischen und anderen Sprachen; hierbei soll besonders durch Kontrastierung größere Einprägsamkeit erreicht werden. Ferner wird auf philosophisch-hermeneutische, rhetorische sowie linguistische Erkenntnisse verwiesen, die zu einem vertieften Problembewusstsein für Sprache und Grammatik anregen können. Sprachforscher und Philosophen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit kommen zu Wort. Der Verfasser will hierdurch in seinem bescheidenen Rahmen auch ein kleines Stück europäischer Kontinuität aufzeigen und die lateinische Grammatik, wie sie heute gelehrt wird, als etwas Gewordenes von ihrer Herkunft aus charakterisieren. Daher der Titel AD FONTES: zu den Quellen! In den Kernbereichen der Formen- und Satzlehre folgen auf die Erklärungen in Textform jeweils Graphiken, Tabellen u. ä.; dieses binäre Verfahren und das mit einem Keil (▶) markierte klare Absetzen von Teilabschnitten dienen in Verbindung mit marginalen Stichwörtern als mnemotechnische Hilfen und sollen der Grammatik ein homogenes und lernfreundliches Äußeres verschaffen. Großer Wert wird gelegt auf die Besprechung der grammatischen Begriffe selbst, ihre Etymologie, ihre ursprüngliche Bedeutung; das öffnet erfahrungsgemäß Türen zum Verständnis des jeweiligen grammatischen Problems. Hier wird besonders auf antike Grammatiker verwiesen. Mit visuellen Mitteln wird nicht gespart (Zeichen, Symbole, Skizzen...), nach dem Motto: Im didaktischen Pankration ist alles, was hilft, erlaubt. Daher wird auch auf die guten alten Merkverse / Merksätze u. ä. zurückgegriffen (eigene wurden hinzugefügt); sie sind mit dem Symbol versehen.

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Ziel

Adressaten

größerer Rahmen

binär Mnemotechnik

grammatische Begriffe

visuell

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Die Präsentation des Stoffes folgt in der Formenlehre lernpsychologisch dem auf das Wesentliche zielenden Prinzip der „Mustererkennung“, d. h. der Leser wird zum analogischen Transfer von wesentlichen Grundmustern angeleitet. Die „Aussparungen“ in einigen tabellarischen Übersichten folgen durchgehend dieser didaktischen Intention.

Hauptteil und Exkurse

Die nicht zum obligatorischen Lernstoff gehörenden Kapitel sind im Druck blau unterlegt und sind als vertiefende Exkurse gedacht. Im Hauptteil erscheint der elementare Stoff, gleichsam das fundamentum, in normaler Schriftgröße, zusätzliche Erläuterungen, gleichsam addita, werden in kleinerer Schriftgröße präsentiert. Beim Zitieren lateinischer Quellen werden bei Bedarf deutsche Erklärungen in Klammern in die Zitate eingefügt; zudem bieten die letzten Seiten des Buches eine Übersetzung der wichtigsten Zitate.

Übungssätze

Parallel zu den Ausführungen in der Syntax werden im Anhang zahlreiche Satzbeispiele (besonders aus Caesar und Cicero) zum Einüben und Wiederholen des grammatischen Stoffes geboten; damit ist dieses Buch Systemgrammatik und Übungsbuch zugleich. Block 1: Block 2: Block 3: Block 4: Block 5:

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nominale Verbformen (PC / ABL. ABS. / ACI / NCI / GU / GV) Konjunktiv im HS / NS indirekte Rede Zeitverhältnis Kasuslehre

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I ELEMENTARES 1) 2) 3) 4)

Die indogermanische Sprache und ihre Töchter Latein und Deutsch. Der Aufbau einer grammatischen Terminologie in Europa. . . . . . . Die Rolle des Lateinischen Entwicklungsgeschichtliches zu den grammatischen Kategorien. . . . „Wortarten“ und „Satzglieder“ „Wortarten“ und „Satzglieder“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . 10 . . . . . . 13 . . . . . . 14 . . . . . . 17

II LAUTLEHRE

Das Nötigste zu: Schrift, Lautbestand, Aussprache und Betonung 1) Schriftzeichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Der indogermanische und der lateinische Lautbestand. . . . . . . . . . . . 3) Einige indogermanische Wortreihen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Lautklang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5) Betonung der Wörter – Längen / Kürzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Fremdwörter und Sprichwörter als erste Brücken zur richtigen Aussprache.

III FORMENLEHRE



Inhalt

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19 21 22 23 25 28

(mit Ausblicken auf die Syntax)

A Einleitung 1) Wichtige Begriffe der Formenlehre und Erklärungen dazu. . . . . . . . . . . . . 31 2) Grundlegendes zur wissenschaftlichen Wortanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . 34 B Deklinationsübersicht . . . . .

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36 38 40 46 48

1) Der Mensch als Sinnenwesen und „Monade“ – Individualität des Einzelnen. . 2) Sprachliche Korrelate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Zeigen und Nennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Zeigarten / Zeigfelder. Zeigen in der Wirklichkeit / Syntaktisches Zeigen. . . . Sprachökonomie. Pronomina – nominale und „verbale“ Elemente 5) „Personen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Personal- und Possessivpronomina. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7a) Demonstrativpronomina. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7b) Einige Beispiele zum „Dreiersystem“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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50 51 51 52

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54 55 56 58

1a) Erklärungen zur Deklinationstabelle S. 38 f. 1b) Deklinationstabelle. . . . . . . . . . . . . . 1c) Deklinationsbeispiele zur Tabelle S. 38 f. . . 2) Geschlecht der Substantive. . . . . . . . . . 3) Steigerung der Adjektive und Adverbien. .

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C Pronomina

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7c) Demonstrativpronomina: Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 8) qu-: Interrogativpronomen. Relativpronomen. Indefinitpronomen. . . . . . . . 63 9) Indefinitpronomina. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 D Zahlen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 E Konjugationsübersicht 1a) Erklärungen zur Konjugationstabelle S. 78 f. . 1b) Konjugationstabelle. . . . . . . . . . . . . . 1c) Konjugationsbeispiele zur Tabelle S. 78 f. . . 2) Tempussystem. . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Klassen von Verben. . . . . . . . . . . . . . 4) verba anomala 1: Erklärungen und Übersicht. esse, posse, prodesse velle, nolle, malle ferre, ire

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74 78 80 82 85 88

5) verba anomala 2: fieri. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6) Stammformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 7) Stammformen der wichtigsten Deponentien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

IV SYNTAX A Grundlegendes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1) Umstrittener Satzbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Urteil / Satz – Subjekt / Prädikat – Grammatik und Logik – Erweiterte Ansätze. 3) Die klassische Satzgliedgrammatik – Expansion / Reduktion. . . . . . . . . . Transformationsgrammatik 4) Basismodell des Systems der Satzglieder und Erklärungen. . . . . . . . . . . 5) Dependenzgrammatik: Relevanz für das Lateinische. . . . . . . . . . . . . .

. . 98 . . 98 . 106 . .

107 110

1) Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Textus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Dekodieren und Rekodieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Kurze Vorbemerkung zur Bedeutung der Rhetorik in der Antike. . . . . . . . 5) Satzerschließung: a) Perioden. Klassifikation von Nebensätzen / Gliedsätzen.. Satzerschließung: b) Wortstellung, Wortblöcke, Hyperbata. . . . . . . . . . . . Besonderheiten des lat. Stils Satzerschließung: c) Konstruktionsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . C Nominale Verbformen mit enormer syntaktischer Relevanz: Partizipien, Infinitive, Gerundium, Gerundivum, Supinum. Prädikativum

111 113 114 116 117 120

1) Nominale Verbformen: Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B Text- und Satzerschließung

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127 131 136 139 141 142

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144 150 151 153

E Zeitverhältnis: Erklärungen und Graphiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

F Fragesätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

2) Partizipien → PC / ABL. ABS.: Erklärungen und Graphiken. 3) Infinitive → ACI / NCI: Erklärungen und Graphiken. . . . . 4) Gerundium / Gerundivum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5) Prädikativum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Bestimmte superlativische Adjektive. . . . . . . . . . . . . 7) Supinum, „Supinstamm“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D Konjunktiv im HS, subjunktionalen NS, Relativsatz und in indirekter Rede 1) 2) 3)

Konjunktiv: Erklärungen und Graphiken. . . Konjunktiv im Relativsatz . . . . . . . . . . . Exkurs: Relativische Satzverschränkung. . . . Indirekte Rede: Erklärungen und Graphiken.

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G Kasuslehre . . . . . . . . . . . . . . .

162

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166 167 170 173 175 177

Konkretismus: Zusammenfassung und Graphiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

1) Das indogermanische und lateinische Kasussystem. Erklärungen und Graphiken 2) Vorbemerkung zu den obliquen Kasus. . . . . . . . 3) Genitiv. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Dativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5) Akkusativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Ablativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7) Präpositionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H

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V ANHANG A Satzbeispiele, bes. aus Caesar und Cicero (parallel zu den Kapiteln der Syntax) . . . . .

183 189 200 202 203

B Messen von Zeit. Längenmaße. Münzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

C Konjugationsübersicht 3. Pers. Sg. (Deutsche Sprache). . . . . . . . . . . .

214

VI REGISTER, LITERATUR, ÜBERSETZUNGEN..

216

1) 2) 3) 4) 5)

Nominale Verbformen → PC/ABL. ABS., ACI/NCI, GU/GV. Konjunktiv im HS, NS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . oratio obliqua (indirekte Rede). . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitverhältnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kasuslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kürzel und Zeichen Sprachen,

Sprachgeschichte

Deklination,

Konjugation

Sätze, Satzglieder

nominale Verbformen

(Nicht aufgenommen sind auf Anhieb zu erschließende Abkürzungen, z. B.: Nom., Gen., Dat., ... / Sg., Pl. / Subst., Adj. / Subj., Präd.,... / Infin.) Idg. G L D E F Sl < >

– – – – – – – – – –

Indogermanisch Griechisch Lateinisch Deutsch Englisch Französisch Slavisch erschlossene ursprüngliche Form entstanden aus geworden zu

a, o, k… k KNG m, f, n

– – – –

jeweilige Deklination / Konjugation konsonantisch (Übereinstimmung in) Kasus, Numerus und Genus masculinum, femininum, neutrum





gemischte Deklination / Konjugation (jeweils zwischen k und i)

PN PV HS NS / GS

– – – –

Prädikatsnomen Prädikativum Hauptsatz, Hauptsätze Nebensatz, Nebensätze / Gliedsatz, Gliedsätze





Überschneidungen Verb / Nomen

PPA PPP PFA PC ABL. ABS. ACI

– – – – – –

Partizip Präsens Aktiv Partizip Perfekt Passiv Partizip Futur Aktiv participium coniunctum ablativus absolutus accusativus cum infinitivo

„Kopfverb“ – NCI – ACP – GU –

Verb / Ausdruck, von dem ein ACI / NCI / ACP abhängt nominativus cum infinitivo accusativus cum participio Gerundium

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GV – Gerundivum SUP – Supinum – „Stammblöcke“ der Verben (zuerst und grundlegend S. 74) ZV GLZ VZ NZ Impf. (Imp.

– – – – – –

Zeitverhältnis gleichzeitig vorzeitig nachzeitig Imperfekt Imperativ)

GW VG ZK

– – –

Gegenwart Vergangenheit Zukunft

ă, ĕ, ĭ, ... ā, ē, ī, ...



Merkverse, Merksätze u. ä.

– –

kurze Silbe, z. B. ăliae lange Silbe, z. B. ālae



Verbform als syntaktisches Kraftzentrum, von dem Satzerweiterungen abhängen

blaue Schrift –

Methodisches, bes. wichtige Verweise und Hinweise, Sonderfälle

Tempussystem

Verschiedenes

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I Elementares 1 Die indogermanische Sprache und ihre Töchter Latein und Deutsch

Scaliger

Grundsprache

„Export“

19. Jh. Bopp



Einen frühen Klassifikationsversuch der Sprachen Europas unternahm der bedeutende Philologe Joseph Justus Scaliger (1540 - 1609); er unterschied vier Hauptgruppen, wobei die Klassifizierung auf der Verwendung der Wörter für Gott beruhte: deus, theos, Gott, bog; das entspricht in moderner Terminologie der Unterscheidung zwischen romanischen Sprachen, Griechisch, germanischen und slavischen Sprachen. (Bodmer)



Doch erst die Forschung späterer Jahrhunderte führte zur Klärung der Zusammenhänge: Abgesehen davon, dass die Sprachen Europas untereinander in ständiger Beeinflussung standen und stehen und seit zwei Jahrtausenden „ausnahmslos dem Einfluß des Lateinischen unterworfen“ sind (Bach), welches maßgeblich für europäischen Sprachausgleich steht, beruht die enge Verwandtschaft der meisten Sprachen Europas auf (der Annahme) einer gemeinsamen Grund- oder Muttersprache; diese nennt man seit 1823 „Indogermanisch“. (Klaproth)



Als Sprachsubstrat im Altertum über Europa und Teile Asiens verbreitet, ist das Indogermanische durch den „Export“ der europäischen Sprachen im Zuge der Entdeckung neuer Welten heute in allen Erdteilen entweder dominant oder zumindest von großer Bedeutung.

▶ Die Bezeichnung „Indogermanisch“ ist ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts, bestehend aus den Sprachbezeichnungen „Indisch“ und „Germanisch“ als den Markierungs punkten der geographischen Ausdehnung der Sprachengruppe. Wie die vergleichende Sprachforschung des 19. Jahrhunderts, nach Vorarbeiten Anderer initiiert durch die Schrift von F. Bopp, Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache (1816), ermittelte, umfasst die indogermanische Sprachenfamilie, deren Urtypus wohl auf das 3. Jahrtausend v. Chr. zu datieren ist, mindestens 10 selbständige Sprachen oder Sprachzweige: 4 Zweige in Asien, 6 in Europa. Die europäischen sind: Griechisch, Italisch (a: Lateinisch, b: Oskisch Umbrisch), Keltisch, Germanisch, Balto-Slavisch, Albanisch. Krahe zählt 18 indogermanische Einzelsprachen, Szemerenyi ein Dutzend Haupt zweige.

Flexion



Das Idg. zeigt eine große Flexionsvielfalt (Flexion = Beugung), wobei als Grundtendenz in der Entwicklung der idg. Einzelsprachen eine Reduktion dieser Vielfalt an Flexionsendungen festzustellen ist (vgl. z. B. S. 84, 88, 145, 180 : Konkretismus). Es besteht eine enge Verwandtschaft in der gesamten „lautlichen, formalen und geistigen

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Struktur sowie im Wortschatz“ dieser Sprachen. (Krahe) Sie haben sich – vielleicht am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. – in zwei Dialekte gegliedert:

a: Satem-Sprachen b: Kentum-Sprachen

{

„satem“ bzw. „centum“ sind die Lautformen für die Zahl 100 im Iranischen bzw. Lateinischen.



Ursprüngliche Gaumen-Verschlusslaute (Palatale < lat. palatum – Gaumen), z. B. k, sind in einem Teil der indogermanischen Sprachen erhalten geblieben (daher „Kentum-Sprachen“), in den anderen haben sie sich zu Reibelauten, z. B. s, entwickelt (daher „Satem-Sprachen“). Zu a gehören – grob gesprochen – die östlichen indogermanischen Sprachen, z. B. Indisch, Iranisch und Slavisch, zu b die westlichen, z. B. Griechisch, Lateinisch und Deutsch: Lateinisch und Deutsch sind demnach Spielarten ein und desselben indogermanischen Dialekts. Bei den von Jacob Grimm aufgedeckten „Lautverschiebungen“ in der deutschen Sprachgeschichte kam es jedoch zu regelhaft ablaufenden lautlichen Abwandlungen, die das Erkennen der genuinen Nähe des Deutschen zum Lateinischen auf den ersten Blick erschweren. Die erste oder „germanische“ Lautverschiebung (in vorchristlicher Zeit) liegt vor der Zeit der Berührung mit den Römern, denn „kein lateinisches Lehnwort im Germanischen hat sie mitgemacht“. (Bach)



Die römische Literatur beginnt ca. in der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts. Ihre Entfaltung unterlag dem entscheidenden Einfluss des Griechischen; überhaupt kam bei den Römern der „bedeutsamste kulturelle und sprachliche Einfluß von den Griechen, und zwar fast von der Gründung der Stadt an bis zum Untergang des Reiches“. (Leumann / Hofmann / Szantyr)

satem centum (kentum)

L/D

Lautverschiebungen

Römische Literatur

Mit dem Beginn der römischen Literatur kommt es zu einer Zweiteilung des Latei nischen in eine a: literarische Hochsprache b: einfache Volkssprache Nicht zuletzt aufgrund des dominanten Einflusses der griechischen Vorbilder ent fernte sich die „Literatursprache“ immer mehr von der „Volkssprache“; erst in der Spät antike kam es wieder zu einer Annäherung und partiellen Vereinigung dieser beiden Sprachschichten. (Stolz / Debrunner / Schmid, s. u.) ▶

Das Lateinische, ursprünglich eine Mundart Roms – die Landschaft um Rom herum heißt heute noch Lazio – , entwickelte sich parallel zur Ausweitung des Imperiums zur Weltsprache. Das erste Jh. v. Chr. ist das Jahrhundert des klassischen Lateins mit den „Klassikern“ Cicero, Caesar, Vergil, Horaz u. a. – es ist die Zeit der „goldenen Latinität“. Im Bereich der Prosa ist Cicero (106 – 43) wegen der thematischen Vielfalt, der inhaltlichen Relevanz und kompositorischen Reife seiner Schriften, ganz besonders

Imperium

Klassik

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Vulgärlat.

Mittelalter

Neuzeit

aber wegen der Vorbildlichkeit seines Stils der herausragende Autor der römischen Literatur der Klassik. Er ist der „unbestrittene Meister der lateinischen Rede von säkularer stilprägender Kraft“ (Büchner). Was die lateinische Prosa angeht, findet die Adaption der griechischen Literatur durch die Römer in seinem Werk ihren Kulminationspunkt. Circa 100 Jahre später gilt er dem Literaturkritiker und Rhetorikprofessor Quintilian als der Klassiker der lateinischen Prosa, Cicero sei „Latinae eloquentiae princeps.“ Wer großen Gefallen an Cicero gefunden habe, dürfe sich eines Zuwachses an stilistischer Kompetenz sicher sein: „Ille se profecisse sciat, cui Cicero valde placebit.“

▶ In der späten Antike wurde das Schrift- und Hochlatein zurückgedrängt vom „Vulgärlatein“, welches bestimmend wurde für das lateinische Mittelalter und sich zu den romanischen Sprachen weiterentwickelte. ▶

Im lateinischen Mittelalter ist das Lateinische die „Weltsprache“; Zwei Renaissancen, die karolingische (ca. 800) und die italienische (im 14. / 15. Jh.), beleben das klassische Latein neu. Hierbei hebt sich das „elitäre“, streng an der Klassik orientierte Latein der Humanisten programmatisch vom „verderbten“ Latein des Mittelalters ab, isoliert sich gleichsam, wird zur „toten“ Sprache und „überlässt das Feld den jungen aufstrebenden Volkssprachen“ (Bossong). Als Stichjahr für diesen Epochenwechsel wird oft das Erscheinungsjahr von Lorenzo Vallas Elegantiae Latini sermonis genannt: 1444.

▶ Als Sprache der Philosophie und Wissenschaft blieb das Lateinische bis ins 19. Jh. die lingua universalis, z. B. in der Astronomie: Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, 1543 Kepler, Astronomia nova, 1609 Galilei, Sidereus nuntius, 1610 in der Physik, Biologie, Mathematik: Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, 1684 Linné, Systema naturae, 1735 Gauss, Disquisitiones arithmeticae, 1801 in der Philosophie: Descartes, Principia philosophiae, 1644 Wolff, Philosophia prima sive Ontologia, 1728 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, 1770

Deutschland



In Deutschland behauptete sich das Lateinische in Wort und Schrift bis ins 19. Jh.; um 1570 betrug der Anteil der in lateinischer Sprache gedruckten Bücher 70 %, zu Beginn des 18. Jh.’s waren es immerhin noch 30 % (Jentzsch). Als Fachsprache konnte sich das Lateinische in Deutschland am längsten in der Rechtswissenschaft halten. Wie Paracelsus vor ihm, betrat Thomasius Neuland, als er 1687 als Dozent an der

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Universität Leipzig seine Vorlesungen nicht mehr in lateinischer, sondern in deutscher Sprache hielt. Dies wurde von seinen Kollegen als „beispielloses Schrecknis“ gegeißelt; sein Wagemut brachte ihm die Entlassung von der Universität ein. Sein Zeitgenosse Christian Wolff ist geradezu ein Wegbereiter einer deutschen philosophischen Terminologie; manche von ihm in einem Emanzipationsstreben gebildeten Begriffe wurden Allgemeingut: So formte er z. B. nach den lateinischen Vorbildern „attentio“, „conscientia“ und „conceptus“ die deutschen Wörter „Aufmerksamkeit“, „Bewusstsein“ und „Begriff “.

I, 2 Der Aufbau einer grammatischen Terminologie in Europa Die Rolle des Lateinischen

G „grammatike“ < „gramma“- Buchstabe urspr.: Kunst des Lesens und Schreibens dann: Sprachlehre



Außereuropäisch: Um 400 v. Chr. fasste der indische Grammatiker Panini das Sanskrit, die Kunstsprache der alten indischen Nationalepen, in einem bedeutenden Grammatikwerk in strenge Regeln (Krahe). Die Sanskrit- Grammatik Paninis gilt als „eines der bedeutendsten Monumente menschlicher Intelligenz“ (Cassirer). Diese Sprache und ihre Grammatik sollten für Europa erst in der Epoche der vergleichenden Sprachforschung im 19. Jh. von großer Bedeutung werden (Indogermanistik).



Auch bei uns in Europa haben die uns vertrauten grammatischen Begriffe, die auf den folgenden Seiten behandelt werden, eine Jahrtausende lange Geschichte. So lässt bereits ein Gedichtfragment des frühen griechischen Dichters Archilochos (7. Jh. v. Chr.) den Schluss auf ein für den Schulunterricht konzipiertes Deklinationsmuster für Nomina zu. (vgl. Latacz) Besonders im 5. Jh. v. Chr. trieben in Griechenland die sogenannten „Sophisten“, welche die „1. Aufklärung“ in Europa initiierten (die 2. ist die bekannte neuzeitliche), die Sprachforschung voran; ihr Bildungsideal baute nämlich auf Sprachkompetenz auf. So entdeckte der Sophist Protagoras, „der erste wissenschaftliche Betrachter der Sprache“ (Porzig), die drei grammatischen Geschlechter (m, f, n); er erkannte auch die vier grundlegenden Leistungen der Sprache im Leben: Aufforderung, Ausruf, Frage und Antwort.



Überragende Bedeutung haben die beiden Meister der klassischen griechischen Philosophie, Platon und Aristoteles, z. B. durch die Analyse des Satzes in Subjekt und Prädikat. Platon deckte den Zeichencharakter der Sprache auf. Die „gesamte klassifikatorische Grammatiktheorie des Abendlandes kann als Entfaltung der in kurzen Passagen von Platon und Aristoteles enthaltenen Gedanken verstanden werden“ (Strube). Letztlich hat die Entwicklung des logischen Bewusstseins, des Wissenschaftsbewusstseins, „seiner Form nach, von Sokrates den für immer

Indien

Griechen allg.

Platon

Aristoteles

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entscheidenden Anstoß erhalten. Man muss die Trias Sokrates – Platon – Aristo teles würdigen als die Geburt des Geistes und der Form abendländischer Wissen schaft“. (Natorp)

Stoa

Lehrbücher

Römer

Neuzeit

▶ Besonders erwähnenswert ist in der Folgezeit die griechische philosophische Schule der Stoiker; sie waren „einflußreich für die ganze abendländische Culturgeschichte, in welcher noch bis in die neueste Zeit herab die ... Schulgrammatik und die Schullogik auf jene Erscheinung des ... Altertums zurückweisen“. (Prantl, 1855) ▶ Die erste europäische Schulgrammatik in Lehrbuchform ist die knappe grammatike techne des Griechen Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.). Ohne Übertreibung kann man sagen: Dieses Buch ist die Keimzelle der europäischen Schulgrammatiken. „Einen ähnlichen Einfluß dürfte kein zweites Buch gleichen Umfangs aufzuweisen haben.“ (Gudemann) ▶ Aus diesen Entwicklungsschichten konstituiert sich die grammatische Terminologie, die durch das Lateinische (via Übersetzung der griechischen Begriffe durch die römischen Grammatiker und Begriffsschöpfungen der Philosophen des lateinischen Mittelalters) „für die Sprachen des europäischen Kulturkreises maßgebend geworden ist“ (Schwyzer). Besonders im Bereich der Syntax (Satzlehre) kommen in der Neuzeit noch einige neue Termini zu dem alten Erbe hinzu; meist sind es alte Begriffe aus Nachbardisziplinen, die mit neuem Inhalt gefüllt werden, z. B. Objekt, Prädikativum (aus der Logik) und Attribut, das schon Cicero kennt – aber im Sinne von Prädikat. „Der syntaktische Wortschatz ist auf mannigfache Weise allmählich zusammengekommen, verschiedene Nationen und Zeitalter haben daran gearbeitet.“ (Wackernagel) I, 3 Entwicklungsgeschichtliches zu den grammatischen Kategorien „Wortarten“ und „Satzglieder“ Aufkommen der klassischen Satzgliedgrammatik im 19. Jh.

Normen

Syntax

▶ Es ist festzuhalten, dass trotz der 2500 jährigen grammatischen Tradition in Europa erst in den letzten zwei Jahrhunderten eine relativ einheitliche Norm in der Schulgrammatik, der lateinischen wie der deutschen, eingeführt wurde. (vgl. bes. Pfister) ▶ Die lateinische Grammatik war bis ins 18. Jh. weitgehend syntaxlos. Trotz einiger Ansätze in der Antike (Apollonios Dyskolos, der stark auf den spätantiken römischen Grammatiker Priscianus wirkte, der die ausführlichste Grammatik des Lateinischen bis zum 19. Jh. verfasste) sowie im lat. Mittelalter (s. u.) wurde über Satzbau / Syntax noch wenig nachgedacht.

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▶ Wenn in der Antike etwa Platon und Aristoteles von Subjekt und Prädikat sprechen (s. S. 99), Begriffen, die uns als Satzglieder vertraut sind, müssen wir uns jedoch bewusst sein, dass diese Philosophen nicht über Grammatik reflektieren wollten. Auffällig ist, „daß Subjekt und Prädikat von Beginn an im Schnittpunkt grammatischer, logischer und ontologischer Bestimmungen stehen, d. h. als Modell verstanden werden, nicht nur sprachliche Verhältnisse zu beschreiben, sondern auch die Strukturen des Denkens und der Wirklichkeit widerzuspiegeln“. (Rehn)

Philosophie

▶ Als Bezeichnung für die Satzglieder sind die Termini Subjekt und Prädikat erst im Mittelalter, im Zeitalter der Scholastik, aus der Logik in die Grammatik übernommen worden (Scherer / Rehn). Besonders durch die Rezeption der Schriften des Aristoteles kommt es jetzt zu einer philosophischen Durchdringung der Grammatik. Jetzt erfahren die antiken Ansätze einer Satzgliedgrammatik eine bedeutsame Weiterentwicklung. Daher nennt Golling die lateinische Syntax „eine Schöpfung des 12. Jahrhunderts“. Diese Logisierung der Grammatik bildet einen „charakteristischen Zug im Antlitz des mittelalterlichen Geisteslebens“. (Grabmann)

Scholastik

▶ Gleichsam eine Brücke von Apollonios Dyskolos / Priscian zu modernen Ansätzen in der Neuzeit bilden im Mittelalter z. B. die Sprachphilosophen Martinus de Dacia (s. Dependenzgrammatik, S. 110) und Thomas v. Erfurt mit seiner grammatica speculativa. In Kapitel VIII trennt dieser thematisch scharf zwischen den klassischen Wortarten als dem „Wortmaterial“ (principium materiale) und einer Syntax (diasynthetica / constructio) als „scientia organica“.

Materie und Funktion

▶ In der frühen Neuzeit widmet man in der Behandlung der lateinischen Grammatik nach alter Gewohnheit der Satzlehre sehr wenig Raum. In der im 16. / 17. Jh. weit verbreiteten Grammatik von Sanctius heißt es: „Oratio sive syntaxis est finis grammaticae, ergo igitur non pars illius...; aliud est grammatica, aliud grammaticae finis.“ Hierzu bemerkt Latacz: Lateinische Syntax konnte nur „durch vieles Lesen, Schreiben und Sprechen erlernt werden, nicht durch jahrelanges Regelstudium“. Erst der im 17. Jh. einsetzende „Rückgang der Sprechpraxis führt nun notwendig zu einer Zunahme syntaktischer Regeln. Dieser Trend hält bis heute an“. ▶ Wohl als Erster differenziert Girard 1747 explizit und programmatisch zwischen „Wortarten“ und „Satzgliedern“; doch die entscheidende Phase der Konstituierung einer stringenten Satzgliedgrammatik und der scharfen Kontrastierung zwischen Wortarten und Satzgliedern ist das 19. Jahrhundert. Etwa zeitgleich mit Humboldts Propagierung der Idee der „formalen Bildung“, wobei der lateinischen Grammatik eine wichtige Rolle zukam, seiner Konzeption einer Grammatik als Denkschulung (gemäß Hegels Satz: „In der Grammatik fängt der Verstand an gelernt zu werden“), wird in den 20er Jahren des 19. Jh.’s ein bahnbrechender Neuansatz in der Syntaxtheorie erarbeitet; die lateinische wie die deutsche Schulgrammatik haben das System

Frühe Neuzeit

19. Jh.

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Dependenz

Wortarten

▶ Ein moderner „Gegenentwurf “ zur klassischen Satzgliedgrammatik, die „Dependenzgrammatik“, wird auf Seite 110 Erwähnung finden; sie war mit der mittlerweile etablierten Satzgliedgrammatik kompatibel und wurde in den neueren lateinischen Lehrbüchern und Grammatiken berücksichtigt. ▶ Noch ein paar Bemerkungen zu den Wortarten (s. S. 17): Die uns vertraute Klassifizierung der Wortarten verdanken wir der griechischen Sprachwissenschaft der Antike, dort werden sie gewöhnlich „acht Redeteile“ genannt, z. B. bei Dionysios Thrax; so wurden sie von den römischen Grammatikern als „octo partes orationis“ übernommen. Die 8 Wortarten der Antike sind:

Substantiv

Flexion

Kriterien

übernommen und sind im wesentlichen bis heute dabei geblieben (vgl. Pfister). Wegweisend war das Werk Organism der Sprache (sic!) von K. F. Becker (1827), das zum ersten Mal die klassische Konzeption der Satzglieder präsentierte (s. S. 109: Subjekt, Prädikat, Objekt, adverbiale Bestimmung, Attribut), wobei auch die Nebensätze solche Satzglieder darstellen. (Becker-Herlingsches System; s. S. 106)



G: onoma, antonymia, rhema, metoche, (arthron), prothesis, epirrhema, syndesmos L: nomen, pronomen, verbum, participium, interiectio, praepositio, adverbium, coniunctio „Substantiv“ ist ein klassisches Beispiel für einen aus der Philosophie in die Grammatik übernommenen Begriff. In der Philosophie des lat. Mittelalters war substantia (< G) der lateinische Begriff für die erste und grundlegende der 10 aristotelischen Kategorien, eben die „Substanz“, auf die sich alle anderen Kategorien (Quantität, Qualität usw.) beziehen. Die „Substanz“ bezeichnet das „was es ist“ einer Sache, ihr Wesen; substantia ist in diesem Sinne in der lateinischen Sprache, wie z. B. Augustinus in seinem Werk De trinitate mehrfach betont, synonym mit essentia (< G), d. h. „Essenz“. Daher konnte im 18. Jh. Chr. Wolff schreiben: „Nihil sane notius est, quam quod substantia in philosophia Aristotelico – Scholastica definita fuerit per ens (Seiendes), quod per se subsistit et sustinet accidentia.“ Als grammatischer Begriff erfuhr substantia eine Erweiterung, gleichsam eine Formalisierung; Petrus Helias (12. Jh.): „Dicit enim dialecticus (Logiker), quod non omne nomen significat substantiam, quia hoc nomen albedo (Weiße) non significat substantiam, sed qualitatem. Grammaticus vero dicit, quod omne nomen significat substantiam...“

▶ Vom äußerlich-formalen Standpunkt aus gliedern sich die Wortarten in a) flektierte (beugbar) b) unflektierte (nicht beugbar) ▶ Die weitere Einteilung der Wortarten erfolgt nach 4 disparaten Klassifikationskriterien ohne systematische Stringenz (Simeon): 1) Bedeutung → Nomen, Zahl, Verb 2) Beziehung zum Nomen → Adjektiv 16

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Beziehung zum Verb → Adverb 3) Funktion → Ersatzwort (Pronomen), Konjunktion 4) Stellung → Präposition, Interjektion

▶ Die Scheidung der Redeteile „trägt den Charakter der Willkürlichkeit an sich. Es würde aber nicht möglich sein, etwas wesentlich Besseres an die Stelle zu setzen, solange man darauf ausgeht, jedes Wort in eine bestimmte Klasse unterzubringen“. (H. Paul) ▶ Inhaltlich-semantisch klassifiziert man die Wörter (nach Marty, 1908) in a) Autosemantika = „Selbstbezeichnende“, d. h. Wörter mit eigenständiger lexikalischer Bedeutung b) Synsemantika = „Mitbezeichnende“, d. h. diese Wörter „stiften bestimmte gedankliche Verbindungen zwischen den Autosemantika im Satz.“ Autosemantika sind besonders in den Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb, Synsemantika in den Wortarten Präposition und Konjunktion zu finden. Schon Apollonios Dyskolos (Über Syntax, I, 12) unterscheidet zwischen Wörtern mit „eigener“ Bedeutung und solchen, die nur „mitbezeichnen“ (G syssemainei).

Semantik

▶ In der neueren Sprachwissenschaft werden nicht nur Substantiv und Adjektiv, sondern auch Pronomen und Numerale zum (formalen) Nomen gerechnet – so auch in dieser Grammatik.

„Nomen“

▶ verbum – Übersetzung des G rhema. Für Aristoteles ist es das Definitionsmerkmal des rhema, dass es die Zeit bezeichnet, daher wird es bei dem römischen Sprachforscher Varro „verbum temporale“ genannt → D „Zeitwort“. In einer allgemeinen Bedeutung stand „verbum“ für „Wort“ überhaupt.

„Verb“

I, 4 Wortarten und Satzglieder isoliertes Wortmaterial

zum Satz geformte organische Einheit, lebendiger Kommunikationsakt

WORTARTEN 1 Wort für sich; Welche Art von Wort?

SATZGLIEDER Akkumulation lebloser Wörter

Funktion eines Wortes, einer Wortgruppe oder eines ganzen „Gliedsatzes“ im Satzganzen

Grammatik als „scientia organica“

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WORTARTEN

an) diesem

Römer / römische Bürger

Konsuln

wählen/ schaffen

Rōmānī cōnsŭlēs cīvēs crĕant Subst. dĭē

ĕō

Pronomen

Subst.

Subst. Verb

Adj. / Subst.

}

}



dĭē

cīvēs

Rōmānī cōnsŭlēs crĕant.

Subjekt Adverbiale

(= adverbiale Bestimmung)

Präd. Attribut Objekt

}

N O Substantiv M Adjektiv → DEKLINATION E Pronomen N Numerale Verb → KONJUGATION

}

Ěō

}

(durch/von/ Tag

SATZGLIEDER

KONTROLLFRAGEN F L Subjekt wer/was tut/ist? E Prädikat was tut er? X was ist er? I was geschieht mit ihm? O Objekt bes.: wem? Dat.- Objekt N wen / was? Akk.- Objekt

Adverb Adverbiale Präposition unflektiert Konjunktion = unveränderlich Interjektion = Partikeln Attribut

wo tut er? wann tut er? wie tut er? u. a. was für ein? / welcher?

Deutsche BEGRIFFSERKLÄRUNGEN BEGRIFFSERKLÄRUNGEN Beispiele: „das Ding“ substantia „Substanz“ subiectum das (der Aussage) „das darunter Bestehende“, zugrunde „das Bestand Habende“, Liegende, „das Selbständige“ = Übersetzung des

„großes“ adiectum „hinzu geworfen“ praedicatum vgl. „Predigt“ „dieses“ pro nomine „für ein Nomen“ „Ersatzwort“ „Fürwort“ „eins“ numerale vgl. Nummer obiectum „laufen“ verbum „(Zeit)-wort“ adverbiale idg. wer-dh = D Wort = E word „heute“ ad verbum „zum Verb“ attributum

aristotelischen „hypokeimenon“ das (über das Subjekt) Ausgesagte = Übersetzung des aristotelischen „kategorumenon“ das (der Handlung des Verbs) Gegenüberliegende (Erklärung) zum Verb das (dem Nomen) Zugewiesene

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praepositio „und“, coniunctio „weil“ „vor...“

„vorangestelltes“ Wort „Verbindung“, im NS auch „Subjunktion“

„ach!“ interiectio „Einwurf “



(PV → s. S. 109 und 139) „Adverbiale“ ist eine moderne „Verkürzung“ des traditionellen Ausdrucks „Adverbiale Bestimmung“

Formenlehre S. 31 ff.



Satzlehre S. 98 ff.

II Lautlehre

Das Nötigste zu: Schrift, Lautbestand, Aussprache und Betonung

1 Schriftzeichen ▶ Die altägyptischen Hieroglyphen und die Keilschrift der Sumerer waren anfangs eine Bilderschrift, woraus sich später eine Silbenschrift entwickelte: Ein Zeichen stand nicht mehr für ein Wort, sondern für eine Silbe.

Ägypter

▶ In der Folgezeit erfanden die Semiten (Phönizier, Hebräer, Aramäer) die Buchstabenschrift: ein Zeichen = ein Laut; dieses Schriftsystem wies jedoch keine Vokale auf. (Brekle)

Semiten

▶ Erst als die Griechen im 9. Jh. v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum die phönizische Schrift übernahmen (der griech. Geschichtsschreiber Herodot spricht an der klassischen Stelle V, 58 von der Übernahme der „grammata“ der Phönizier), wurde in Griechenland eine alle Laute – d. h. auch die Vokale – abdeckende Lautschrift etabliert. Das griechische Alphabet seinerseits ist „der Ausgangspunkt aller europäischen Alphabete“. (v. Wilpert)

phöniz. Zeichen (idealisiert)



G



L

Rindskopf

A alpha A

Haus Kamel

B beta



Griechen

Westeuropa + „Export“

B

Γ gamma C alte Wortzeichen → Lautzeichen



Sumerer

Osteuropa „Kyrillisch“

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praepositio „und“, coniunctio „weil“ „vor...“

„vorangestelltes“ Wort „Verbindung“, im NS auch „Subjunktion“

„ach!“ interiectio „Einwurf “



(PV → s. S. 109 und 139) „Adverbiale“ ist eine moderne „Verkürzung“ des traditionellen Ausdrucks „Adverbiale Bestimmung“

Formenlehre S. 31 ff.



Satzlehre S. 98 ff.

II Lautlehre

Das Nötigste zu: Schrift, Lautbestand, Aussprache und Betonung

1 Schriftzeichen ▶ Die altägyptischen Hieroglyphen und die Keilschrift der Sumerer waren anfangs eine Bilderschrift, woraus sich später eine Silbenschrift entwickelte: Ein Zeichen stand nicht mehr für ein Wort, sondern für eine Silbe.

Ägypter

▶ In der Folgezeit erfanden die Semiten (Phönizier, Hebräer, Aramäer) die Buchstabenschrift: ein Zeichen = ein Laut; dieses Schriftsystem wies jedoch keine Vokale auf. (Brekle)

Semiten

▶ Erst als die Griechen im 9. Jh. v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum die phönizische Schrift übernahmen (der griech. Geschichtsschreiber Herodot spricht an der klassischen Stelle V, 58 von der Übernahme der „grammata“ der Phönizier), wurde in Griechenland eine alle Laute – d. h. auch die Vokale – abdeckende Lautschrift etabliert. Das griechische Alphabet seinerseits ist „der Ausgangspunkt aller europäischen Alphabete“. (v. Wilpert)

phöniz. Zeichen (idealisiert)



G



L

Rindskopf

A alpha A

Haus Kamel

B beta



Griechen

Westeuropa + „Export“

B

Γ gamma C alte Wortzeichen → Lautzeichen



Sumerer

Osteuropa „Kyrillisch“

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Römer

Manios

Majuskel Minuskel

Zahl-Zeichen

C, G, F

▶ Durch die griechischen Kolonien in Italien (Italien hieß deshalb etwa von der Höhe Neapels – G = Neustadt – bis nach Sizilien „Magna Graecia“) kam Rom in Kontakt mit der griechischen Kultur. Von den uneinheitlichen griechischen Alphabeten übernahmen die Römer das Alphabet der nächstgelegenen Griechenstadt, nämlich Kyme (nördlich von Neapel). Es handelt sich um das westgriechische Alphabet der „Mutterstadt“ Chalkis auf der Ägäisinsel Euböa. Es ist ein gutes Stück europäischer Kontinuität, dass wir mit unserem „lateinischen“ Alphabet immer noch – mit einigen Abwandlungen – das Alphabet des Städtchens Chalkis benutzen: von A bis Z (zum Z s. u.); das klassische griechische Alphabet beginnt bekanntlich mit Alpha und endet mit Omega – daher die Redensarten „von A bis Z“ bzw. „das A und O“. Gemäß einer jüngeren Theorie übernahmen die Römer das Alphabet von den Etruskern. Die Römer waren sich übrigens der oben beschriebenen Abhängigkeiten stets bewusst: „Litterae Latinae et Graecae ab Hebraeis videntur exortae.“ (Isidor) ▶ Das älteste Schriftdokument in lateinischer Sprache ist eine Inschrift auf einer Gewandspange aus dem Städtchen Praeneste, dem heutigen Palestrina (ca. 600 v. Chr.), heute befindet sie sich in der Villa Giulia in Rom. Auf der Spange ist vermerkt, wer sie für wen hergestellt hat: „MANIOS“ (Nominativ der o- Dekl.; die Endung -os wurde in klassischer Zeit zu -us, s. u. ) „NUMASIOI“ (die o- Dekl. hatte in alter Zeit das obligatorische Dativ- i als Endung, s. u.). Geschrieben wurde auf Inschriften stets mit Großbuchstaben (Majuskeln) – bei Kleinbuchstaben wäre der Steinmetz auch überfordert gewesen – , ansonsten in der klassischen Zeit mit Majuskeln, in der späteren Antike auch in flüssigen Kleinbuchstaben; eine wichtige Etappe in der Entwicklung der Schriftformen ist die „Karolingische Renaissance“ mit der „Karolingischen Minuskel“ (ca. 800). ▶ Die Römer benötigten nicht alle Buchstaben des griechischen Alphabets. Da sie z. B. keine behauchten Konsonanten wie die Griechen hatten (vgl. Fremdwörter: Theologie, Philosophie), nutzten sie die freigewordenen Buchstaben – in Abwandlung – als Zahlzeichen. Diese heißen bei uns jetzt römische Zahlzeichen (s. S. 72). ▶ Das C entwickelten die Römer zum „Ableger“ G weiter; vor dieser Abspaltung drückte in der Frühzeit C auch den Lautwert des G aus, vgl. Vornamenskürzel wie C. = Gaius; denn schon im „Mutteralphabet“ von Chalkis entspricht dem klassischen griechischen Gamma ( Γ ) das C. Im Griechischen war F = G „Digamma“ = „Doppelgamma“ – da es graphisch einer Dopplung des Buchstabens Gamma ( Γ ) gleicht – das Zeichen für den idg. w- Laut „wau“ (vgl. E what), das sich im Äolischen, einem griechischen Dialekt, am längsten erhalten hat (digamma Aeolicum). Dieses F wurde im Lateinischen zur Bezeichnung des italischen f- Lautes (s. S. 24) verwendet. (Rahn) ▶ Die antiken römischen Grammatiker unterschieden ein vokalisches und ein konsonantisches i, d. h. unser i und j, ebenso ein vokalisches und konsonantisches v, unser u und w. Dazu ein Beleg aus der Spätantike (Priscian): „Nos hodie v litteram 20

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in duarum litterarum potestatem coegimus: nam modo pro digamma (unser w) scribitur, modo pro vocali (unser u). Vocalis est, cum ipsa per se est (z. B. tum), si cum alia vocali est, digamma est (unser w), quae est consonans“ (z. B. vita). Entsprechendes gilt für das i: In dem Wort „sit“ ist es vokalisch, in dem Wort „iam“ ist es konsonantisch, vgl. die Inschrift auf dem Titusbogen in Rom (1. Jh. n. Chr.): SENATVS POPVLVSQVE ROMANVS DIVO TITO VESPASIANI F. VESPASIANO AVGVSTO. Zwar kennt bereits die Spätantike eine bloß graphische Differenzierung zwischen V (Schriftform der ältesten Handschriften: Capitalis) und U (Schriftform Uncialis – hat rundere Formen als die Capitalis, löst diese ab), doch die endgültige auch lautliche Unterscheidung zwischen u und v / i und j erfolgte erst in der Zeit der Humanisten. Das i consonans und u consonans nennt die moderne Sprachwissenschaft „Halbvokale“. Die Tradition verfuhr anders, fasste den Begriff weiter (s. u.). ▶ Die Buchstaben Y und Z wurden erst zur Zeit des Augustus für die Schreibung griechischer Fremdwörter übernommen; daher ist der letzte Buchstabe des eigentlichen lateinischen Alphabets das X, „nostrarum litterarum ultima“ (Quintilian), ein Doppelkonsonant: g / c + s.

I,V

Y,Z

II, 2 Der indogermanische und der lateinische Lautbestand ▶ Von einer wissenschaftlichen Phonologie kann man erst seit dem 19. Jahrhundert sprechen. In den

grammatischen Werken der Antike stehen die Buchstaben im Vordergrund, nicht die Laute (Phoneme). Bei der Klassifizierung der Konsonanten z. B. berücksichtigte die Antike vorrangig die Artikulationsart bzw. Sonorität: stimmlos, d. h. die Stimmbänder schwingen nicht mit („tenues“), stimmhaft, d. h. die Stimmbänder schwingen mit („mediae“); Die Einteilung nach der Artikulationsstelle wurde nicht explizit systematisiert. Zwar spricht schon Aristoteles in dem berühmten „linguistischen Kapitel“ seiner Poetik (Kap. 20) von der Bedeutung der „Stelle“ der Produktion eines Lautes, erwähnt Martianus Capella die phonologische Bedeutung der Zähne, der Lippen, des Gaumens, nennt etwa der byzantinische Grammatiker Melampus „die drei phonetischen Organe“ Zunge, Zähne, Lippen; doch sind die heute üblichen Termini, z. B. „guttural“ (Kehllaute g, c), „labial“ (Lippenlaute b, p) und „dental“ (Zahnlaute d, t) nicht antik; in der frühen Neuzeit findet man sie etwa in Spinozas Compendium grammatices linguae Hebraeae (labialis, dentalis, gutturalis). Zur Bedeutung der hebräischen Grammatik für die lateinische vgl. S. 34.

Der Lautbestand des L spiegelt recht genau den des Idg. wider. Ein „Plus“ etwa gegenüber dem G ist der Labiovelar qu- , d. h. etwa: Gaumensegel-Lippenrundungslaut, ein „Minus“ das Fehlen behauchter Konsonanten (z.B. ph, th; im Idg. außerdem bh, dh und gh). Die von Karl Brugmann im 19. Jh. eingeführte – weitgehend Erkenntnisse der Antike reproduzierende – und in der Folgezeit zum großen Teil akzeptierte Einteilung der idg. Laute ist etwa folgende: 1 Vokale a, e, ... → + Diphthonge ae, oe, … („Zweilaute“, s. u.) Hierbei fließt der aus der Lunge kommende Luftstrom, wobei die Stimmbänder im Kehlkopf schwingen, ungehindert, d. h. ohne im Rachen-, Gaumen-, Nasen-, Zahn- und Lippenbereich „bearbeitet“ zu werden, bloß unter je größerer bzw. geringerer Erweiterung der Mundhöhle nach außen. Isidor: „vocales sunt, quae ... sine ulla conlisione varie emittuntur.“

19. Jh.

Plus / Minus

Vokale

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2

In einem Zwischenbereich zwischen Vokalen und Konsonanten sind die Liquiden r / l („flüssige“, weil sie lautlich dahinfließen) und die Nasale m / n (Nasenlaute) anzusiedeln. Mit den Vokalen haben sie gemeinsam, dass ihr Klang dahinströmt, solange der Atem reicht, mit den Konsonanten, dass der aus der Lunge kommende Luftstrom „bearbeitet“ wird (z. B. durch die Zunge). Die Liquiden und Nasale heißen daher in der traditionellen Terminologie auch Halbvokale, L semivocales.

3

Die Liquiden und Nasale sind von den Konsonanten dadurch getrennt, dass diese für sich allein nach ihrer punktuellen Produktion sogleich verstummen = L mutae / explosivae / D Verschlusslaute: b, c, d, g usw.; Konsonanten werden produziert durch „Obstruktion, Blockieren oder auch Restriktion“ (Jägel) des freien Durchgangs des aus der Lunge durch die Mundhöhle nach außen drängenden Luftstroms, s. o.: guttural, labial, dental ...; Während Vokale von sich aus tönen („Selbstlaute“), selbst deutlich klingen (L vōx – Stimme), sind Konsonanten für sich alleine allenfalls Geräusche, tönenden artikulierten Stimmcharakter erhalten sie erst mit Hilfe eines Vokals („Mitlaute“, L con-sonantes). Konsonanten werden gleichsam von Vokalen getragen. Isidor: „vocatae consonantes, quia per se non sonant, sed iunctis vocalibus consonant.“

4

Neben diese Gruppen stellt Brugmann die Spiranten, d. h. Reibelaute: stimmloses s = „scharf “ wie D Fuß und stimmhaftes z = „weich“ wie D sausen, f (v) und h; h- Laute nennt Brugmann auch „stimmlose Vokale“. In den Jahrhunderten davor hatten einige Forscher das s und f mit l, r, m und n zu den Liquiden oder semivocales gezählt.

Liquiden und Nasale

mutae = Stumme

consonans

spirantes = Reibelaute

II, 3 Einige indogermanische Wortreihen ▶ Die – allein schon durch die Fülle der offensichtlichen lautlichen Analogien sich manifestierende – nahe Verwandtschaft des G zum L war den antiken Sprachforschern natürlich auch schon aufgefallen, doch wegen der Beschränktheit ihres sprachlichen Horizontes nahmen sie eine direkte Abhängigkeit an; oft betrachtete man das L als einen Dialekt des G bzw. als ein Derivat eines griechischen Dialekts, nämlich des Äolischen. Einige wenige idg. Wortreihen können die Entstehung dieses Irrtums verständlich machen. Idg.

G

L

D

gwiwos krd mer angh nebhos ster

bios kardia mrotos > brotos ancho nephos aster

vīvus cor, cordis mortuus angustus nĕbŭla stēlla < sterela

quicklebendig, keck Herz Mord eng / Angst Nebel Stern / streuen

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Idg. dom / dem bhrater gwhormo sed sta derewo newos medhjo pet leuk aljos esti sewe /swe / se trejes septm dekm

G domos phrater thermos sedjo > hezo stasis drys neos mesos petomai leukos allos esti se > he treis septa > hepta deka

L dŏmus frāter formus sĕdēre stāre dūrus nŏvus mĕdĭŭs petere lūcēre ălĭŭs est sē trēs septem dĕcĕm

D „Dom“ Bruder warm sitzen Stand treu neu Mitte Feder leuchten Elend, E else ist sich drei sieben zehn

II, 4 Lautklang ▶ Der Autor einer bedeutenden lat. Grammatik des 17. Jh.’s, Scioppius, äußert sich noch sehr skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, der originalen Aussprache des klassischen Lateins auf die Spur zu kommen. Er behauptet, käme Cicero leibhaftig zu uns, würde weder er uns, wenn wir Lateinisch sprechen, verstehen noch wir ihn. Sein Latein käme uns „Arabice“ vor. Bemerkenswert sein Zusatz: Uns bleibe nur, zu ermitteln, wie das Latein nicht gesprochen wurde. ▶ Dennoch stehen wir betreffs der richtigen Aussprache der einzelnen Laute (Orthoepie) u. a. durch antike Zeugnisse und die Erkenntnisse der vergleichenden Sprachforschung des 19. und 20. Jh.’s auf recht sicherem Fundament. Als Quellen und Belege sind hier zu nennen zum einen die antiken Grammatiker, dann auch die Übertragung lateinischer Wörter besonders ins G, und zwar auf Inschriften, Münzen und natürlich in den Texten der Schriftsteller; die griech. Autoren Polybios und Plutarch z. B. sind da unerschöpfliche Fundgruben. ▶ Im vokalischen Bereich wichtig: e wird in e-Diphthongen als i gesprochen. G Timaios > L Timaeus / L Laelius > G Lailios. Auch das deutsche Lehnwort „Kaiser“ ist übrigens ein Beleg hierfür: < L Caesar. Ae wird also wie ai in „Kaiser“ gesprochen. Entsprechend ist oe nicht als Umlaut ö zu sprechen, sondern als oi: G Kroisos > L Croesus / L Cloelia > G Kloilia. Im Schulunterricht wird freilich ae meist wie ä und oe wie ö gesprochen. Eu ist e + u. L neuter ist also dreisilbig zu sprechen, nicht wie D Beute.

e ae

oe

eu

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Hierzu der antike Grammatiker Consentius: „si aliquis dicat ‚neutrum’ disyllabo, quod trisyllabum nuntiamus, barbarismum faciet.“ Die Diphthonge sind „in klassischer Zeit wirklich ‚Zweilaute’“. (Kühner) Im konsonantischen Bereich sind besonders wichtig c, r und s. Die Griechen haben das lateinische c stets mit k (kappa) wiedergegeben – sie hatten auch ein z! Durch griechische Transskriptionen, Lautklassifizierungen der antiken Sprachforscher und Lehnwörter im D ist erwiesen: Jedes c muss wie k gesprochen werden. So hieß Cicero bei den Griechen Kikeron, Caesar Kaisar, Cato Katon usw., umgekehrt transskribierten die Römer das griech. Korinthos mit Corinthus, Kimon mit Cimon usw.; Das Schriftzeichen k wird ausdrücklich „überflüssig“ genannt: „littera supervacua, quia nullam aliam vim habet quam c“ (Priscian, 6. Jh.). Bis zur Einwanderung der Langobarden in Italien im 6. / 7. Jh. wurde c immer wie k gesprochen (Holzweissig); Lehnwörter, die lateinisches c zu deutschem z machen, beweisen späte Übernahme (z. B. cella > Keller, später > Zelle). Erst im 7. Jh. zeigen sich auf Inschriften Schreibungen wie paze für pace. (Lindsay)

c

Das r nannte ein antiker Grammatiker „littera canina“, d. h. einen Laut, der dem Knurren eines Hundes ähnlich ist. Dass es sich um das gerollte r, das sog. „Zungenspitzenr“ handelte, wird ausdrücklich festgehalten: „Die Zungenspitze vibriert am harten Gaumen, mit zitternden Stößen wird der Laut hervorgebracht“ – „vibrato linguae fastigio.“ (Marius Victorinus)

r littera canina

Das h galt als „schwacher“ Buchstabe, „vocatur infirma, quia in metris (bei den Dichtern) despicitur nec consonantis habet locum“ (Marius Victorinus). Deshalb wird im Italienischen aus homo uomo, aus hora ora...

h

Wie genau die antiken Sprachwissenschaftler die Produktion der Laute beschrieben, zeigen folgende Beispiele (Marius Victorinus): „Die oberen Zähne werden auf die Unterlippe gedrückt, dabei die Zunge zurückgebogen, durch sanftes Hauchen produzieren wir den Laut.“

f l



„Am Ansatz der oberen Zähne drückt die Zunge auf den harten Gaumen, der Mund ist auseinandergezogen, mit sanftem Hauchen bringen wir den Laut hervor.“

s

Dass das s im klassischen Latein stimmlos („scharf ”) ist, beweisen Lautangleichungen (Assimilationen) im Wortinneren und Äußerungen antiker Grammatiker eindeutig. Vor s wird im Wortinneren ein vorangehender Konsonant durch Assimilation stimmlos gemacht: scribere → scribsi → scripsi. Bei der Buchstabenfolge bs bestätigen Sprachforscher der Antike ausdrücklich die Aussprache ps; z. B. sei urbs wie urps zu sprechen. (nach Holzweissig)

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II, 5 Betonung der Wörter – Längen / Kürzen ▶ Allgemein: Auch die Stelle des Akzentes im Wort ist ein Unterscheidungsmerkmal von Sprachen. Die Akzentuierungsweise ist in vielen Sprachen geprägt von rigider Eintönigkeit (Szemerenyi); in einigen Sprachen liegt der Akzent stets auf der ersten Silbe (z. B. im Tschechischen), in anderen auf der letzten (z. B. im Französischen); nicht so im Lateinischen: Hier ist für den Akzent die Quantität (Länge / Kürze) der vorletzten Silbe entscheidend (s. u.). ▶ Im Falle des L ist es wie mit jeder anderen Fremdsprache: Wenn man nicht „native speaker“ ist, überträgt man zunächst unwillkürlich die Artikulationsbesonderheiten der eigenen Muttersprache auf die Fremdsprache. Gegen dieses Trägheitsmoment muss man stetig ankämpfen: So ist z. B. die genaue Beachtung der Länge bzw. Kürze einer Silbe nicht nur für die lateinische Dichtung, jedenfalls für die der klassischen Antike, wesentlich; der Vers der Antike ist geprägt von der streng geregelten Abfolge von langen und kurzen Silben. Auch in der Prosa und in der gesprochenen Alltagssprache galt ein Verstoß als „Barbarismus“. Die deutsche Sprache hingegen wird, wie M. Opitz 1624 in seinem Buch von der deutschen Poeterey als erster erkannte, nicht von Länge und Kürze, sondern vom Akzent, vom Tongewicht beherrscht. Insofern soll die Mahnung eines ausgewiesenen Fachmanns ein Ansporn sein: „Der moderne Brauch, Vokalquantitäten ... als nicht existierend zu behandeln, ... ermangelt jeder sachlichen Rechtfertigung.“ (Leumann) ▶ Jedes lateinische Wort außer den sog. „Enklitika“, d. h. schwachtonigen, „sich (an das vorhergehende Wort) anlehnenden“ Wörtern (Muster: „wenn was ..." / L si quid ... – in beiden Fällen ist das zweite Wort unbetont) hat eine Betonungsstelle. Die Betonungsstelle hängt bei mehrsilbigen Wörtern von der Länge bzw. Kürze der vorletzten Silbe ab. Zu merken: 0 1 2 3

die letzte Silbe wird nie betont einsilbige Wörter werden auf eben dieser Silbe betont, damit sie „im Zusammenhang der Rede als Einheit hervortreten“ (Holzweissig). zweisilbige werden auf der ersten betont bei drei- und mehrsilbigen Wörtern gilt: ist die vorletzte Silbe lang, wird sie betont, ist sie kurz, wird die drittletzte betont

Diese Regelung nennt man den „3 – Silben – Akzent“ (Silben vom Wortende her gezählt) Wortende 3 2 (1) die letzte Silbe wird nie betont 3 2 1 - = lange Silbe

˘ = kurze Silbe

˘ 3 2 1

nātūra impĕrĭum

Entscheidend ist die vorletzte Silbe 25

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stress / pitch

Silbe

▶ Die altlateinische Anfangsbetonung wich dieser Dreisilbenbetonung, wobei strittig ist, ob es sich mehr um einen exspiratorischen (Stimmstärke – stress) oder musikalischen Akzent (Tonhöhe – pitch) handelte. Die stress-Theorie wurde besonders von der „deutschen Schule“, die pitch-Theorie von der„französischen Schule“ vertreten. ▶ Nur: Wann ist eine Silbe lang? Zuvor: Auch das Wort „Silbe“ kommt über das Wort L syllaba aus dem G und bedeutet „Zusammenfassung“, d. h. von Konsonant und Vokal. Im Minimalfall nennt man auch einen Vokal alleine „missbräuchlich“ Silbe. a) eine Silbe mit einem langen Vokal oder Diphthong ist lang = „Naturlänge“ (laudāre / caelum). b) vereinfacht gesagt: Folgen auf einen kurzen Vokal zwei oder mehr Konsonanten, wird die Silbe vor diesen Konsonanten für die Betonung als lang gewertet, nicht lang gesprochen = „Positionslänge“ (fenéstra). Die Positionslänge heißt gemäß der Erklärung antiker Philologen deshalb so, weil die Dichter sich darauf geeinigt haben (positio, im Sinne von „Einigung“), einen kurzen Vokal vor zwei oder mehr Konsonanten als lang zu behandeln.

Das muss nicht für den Fall gelten, dass der zweite „Konsonant“ ein l oder r ist (Muster: Pátroclus), denn die Liquiden l und r sind ja, wie oben gezeigt, keine echten Konsonanten, sondern Halbvokale, haben den Charakter von Vokalen; in vielen indogermanischen Sprachen haben die Liquiden daher silbenbildende Kraft, ersetzen Vokale, z. B. im Süddeutschen: „Hendl“, zweisilbig gesprochen wegen l. Ein alltägliches Phänomen ist diese „liquida sonans“, d. h. die aufgrund ihres vokalischen Charakters silbenbildende liquida, in den slavischen Sprachen, z. B. im Kroatischen: „Krk“. Die Konsonantengruppe muta cum liquida ließ somit wegen des „flüssigen“ r bzw. l (liquida) „raschere Aussprache zu und brauchte nicht lang gemessen zu werden“. (Lindsay)

▶ Lange und kurze Silben werden in Lehr- und Wörterbüchern, nicht aber in den Textausgaben, mit den aus der Antike überkommenen über einen Vokal gesetzten Zeichen oder gekennzeichnet: z. B. Isidor: „ makros (G), id est longa, virgula iacens est” (liegendes Stäbchen) „ brachys (G), id est brevis, pars circuli inferior“ (unterer Teil eines Kreises) ns nf

Lachmann

▶ Eine häufige Fehlerquelle ist die Nichtbeachtung der Regel, dass jeder Vokal vor ns und nf lang ist; das gilt besonders für zusammengesetzte Wörter (composita) mit der Vorsilbe (Präfix) con- und in-.

Donatus: „Si ita compositae fuerint, ut eas statim s vel f litterae consequantur, plerumque producuntur (gedehnt), ut īnsula, īnfula, cōnsilium, cōnfessio.“



Cicero: „Indoctus dicimus brevi prima littera, īnsanus producta (lang); inhumanus brevi, īnfelix longa.“

▶ Zu oft missachtet wird die „Lachmannsche Regel“, benannt nach dem bedeutenden Altphilologen und Germanisten (Text des Nibelungenliedes) Karl Lachmann (1850): Er entdeckte – vereinfacht gesagt –, dass, wenn der Präsensstamm eines Verbs 26

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(s. S. 74 ff.) besonders auf g endet, das PPP (s. S. 38, 75 ff., 95, 127 ff.) und dessen Ableitungen im Wurzelvokal in der Regel gelängt werden: „Ubi in praesenti media (b, d, g), participia passiva producuntur.“



ăg- o PPP lĕg- o tĕg- o frang- o ed- o

āctus → lēctus → tēctus … frāctus ēsum

āctor lēctio

▶ Wichtig ist das Endsilbenkürzungsgesetz: Konsonantisch auslautende (ursprünglich lange) Endsilben werden – außer vor s – gekürzt; daher: amāre → aber:

amās amăt

▶ Ein Vokal vor einem anderen Vokal wird meist gekürzt: „vocalis ante vocalem corripitur“; daher:

monēre, aber: rēs, aber:

monĕo rĕī

▶ Leider ist festzustellen, dass nicht nur international, sondern auch innerhalb Deutschlands bezüglich der Aussprache lateinischer Wörter ein ziemliches Durcheinander herrscht. Das mag u. a. auch daran liegen, dass es im Vulgärlatein der Kaiserzeit zum sog. „Quantitätenkollaps“ kam: Unbetonte Längen wurden gekürzt, betonte Silben gelängt. ▶ Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich neben der für die klassischen Autoren einzig legitimen

klassischen Aussprache die „pronuntiatio restituta“, bei der die lateinischen Vokalquantitäten nicht mehr beachtet wurden, sowie die „pronuntiatio Romana sive ecclesiastica“, also die bes. in der katholischen Kirche verbreitete Aussprache (Muster: „in tschälis“ für „in caelis“).

Kollaps

L in der Kirche

▶ Die Laute unterlagen in der späteren Antike einem starken Wandel, z. B. wurde ae / oe monophthongisiert

= 1 Laut wie D ä / ö. C wurde vor den hellen Vokalen e und i wie z gesprochen, Cicero = Zizero, -ti- wurde vor Vokal wie -tzi- gesprochen. Dies nennt man – kapitulierend? – die „traditionelle Aussprache“. Zum -ti- vor Vokal schreibt im 6. Jh. n. Chr. Cassiodor: „Iustitia cum scribatur, tertia syllaba sic sonat, quasi constet ex tribus litteris, t, z, et i, cum habeat duas, t et i, sed notandum quia in his syllabis iste sonus litterae z inmixtus inveniri tantum potest, quae constant ex t et i, et eas sequitur vocalis quaelibet.“

▶ Zum Abschluss: Wenn wir „Caesar“ mit „Zähsaah“ wiedergeben, machen wir alles falsch, was man nur falsch machen kann, denn:

c ae s a r



}

= k = ai - stimmlos = scharf - kurz - muss gerollt werden

=

Kaißarr

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II, 6 Fremdwörter und Sprichwörter als erste Brücken zur richtigen Aussprache ▶ Wenn man lateinische Wörter richtig aussprechen will, muss man sich zunächst von den Artikulationsgewohnheiten der deutschen Sprache lösen. bekannte deutsche im L richtig: Gewohnheit:

bekannte deutsche Gewohnheit:

im L richtig:

Italien Latium Forum Imperium Konsul Zensor Toga Insel Exil Pensum Humus Neutrum Ratio Aqua Villa Porta Nigra Million Focus Vakuum quasi Rektor Lektor

Ĭtălĭă Lătĭŭm fŏrŭm impĕrĭŭm cōnsul cēnsor tŏga īnsula exĭlĭŭm pēnsum hŭmŭs nĕŭtrŭm rătĭō ăquă vīllă porta nĭgră mīlle fŏcŭs văcŭŭm quăsĭ rēctŏr lēctŏr

plus minus Sankt Quinte Materie Form Prinzip Spezies Individuum Konfession super Libido Venus Amor Medium Philosoph Maximum Status sensibel Historie Akt Intellekt

plūs mĭnŭs sānctus quīntus mātĕrĭă fōrma prīncĭpĭŭm spĕcĭēs indĭvĭdŭŭm cōnfessĭō sŭpĕr lĭbīdō Vĕnŭs ămŏr mĕdĭŭm phĭlŏsŏphŭs māximum stătŭs sēnsĭbĭlĭs histŏrĭă āctus intellēctus

Mărĭŭs Tibĕrĭŭs Nĕrō Tĭtŭs Cătō

Vergil Vergĭlĭŭs Tacitus Tăcĭtŭs 2 Griechen: Platon Plătō Aristoteles Aristŏtĕlēs

Einige Namen Marius Tiberius Nero Titus Cato

▶ Vielleicht kann man anhand einiger bekannter Sprichwörter und Motti u. a. einige eingeschliffene (falsche) Aussprache- und Betonungsgewohnheiten abschütteln. 28

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lāpsus linguae nŏtā bĕnĕ stŭdĭŭm generale impĕrium Romanum mĕdĭās in res mănŭs mănŭm lăvăt in dŭbĭō pro reo qualis rēx, talis grex ex oriente lūx sĭmĭlĭă sĭmĭlĭbŭs per pĕdēs hŏmō hŏmĭnī lŭpŭs hīc Rhodus, hīc salta stēlla măris pūnctum sălĭēns



nōlēns, vŏlēns alter ĕgō fŏrŭm Rōmānum hŏmō săpĭēns cum grano sălis nūllă poena sĭnĕ lēgĕ → căvē cănĕm cuius rĕgĭō, eius rĕlĭgĭō in vino veritās quod lĭcĕt Iovi, non licet bŏvī vōx pŏpŭlī vōx Dĕī grădūs ad Parnassum sīc trānsit gloria mundi ultimă rătĭō quīntă essentiă

lang: lēx rēx vōx pāx

kurz: grex fax nex nix

nach dem „Jambenkürzungsgesetz” entwickeln sich Wörter mit jambischer Quantitätenstruktur (kurz – lang) oft zu Doppelkürzen; für einige Wörter sind gleichzeitig beide Messungen überliefert: mĭhĭ – mĭhī, tĭbĭ – tĭbī, hŏmŏ – hŏmō, ĕgŏ – ĕgō

Aus der katholischen Kirche (nach den Ausspracheregeln der Klassik): ōrā prō nōbīs Pătĕr noster Ăvē Maria Salvē Rēgīna Dominus vōbīscum Spīrĭtŭs sānctŭs ▶ Wie enorm wichtig die genaue Beachtung der Längen und Kürzen war, zeigen die sog. Homographen, d. h. Wörter, die zwar gleich geschrieben, aber unterschiedlich ausgesprochen werden und verschiedene Bedeutungen haben (Homonyme dagegen sind lautlich identisch, haben aber verschiedene Bedeutungen, z. B.: „Heide“ = a) Ungläubiger b) Landschaftstyp c) weiblicher Vorname). mālus Apfelbaum → Mast pīla Speere ōs Mund lēvis glatt ēdere herausgeben ēst er isst condītus eingelegt, gewürzt hīc hier fūgit er floh lēgit er las ālium Knoblauch pālŭs Pfahl lātus a) getragen b) breit



mălus pĭla ŏs lĕvis ĕdere ĕst condĭtus hĭc fŭgit lĕgit ălium pălūs lătus

schlecht Ball Knochen leicht essen er ist gegründet dieser er flieht s. u. Dehnungsperfekt er liest einen anderen Sumpf Seite

}

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rēmus Ruder Rĕmus rēfert es ist von Bedeutung rĕfert

Bruder des Romulus er bringt zurück, berichtet

Die Vorsilbe re- ist fast immer kurz mānĭbŭs den Seelen der Verstorbenen mănĭbŭs lēgī dem Gesetz lĕgī pāx Friede păx

(mit den) Händen gelesen werden genug! Schluss jetzt!



Also: Bei der Arbeit mit dem Wörterbuch bzw. beim Lernen der Vokabeln die Augen nicht ausschließlich auf die deutschen Erklärungen fixieren, sondern auch auf die Längen und Kürzen des besprochenen lateinischen Wortes achten!



In dieser Basisgrammatik werden im Folgenden nur in besonders wichtigen Fällen Silben mit Quantitätszeichen versehen.

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III Formenlehre A Einleitung 1 Wichtige Begriffe der Formenlehre und Erklärungen dazu ▶

declinatio, casus s. S. 36 ff.

Was heißt „declinatio“ / „casus“? Schwyzer erinnert daran, dass bei den älteren Es handelt sich um Metaphern: römischen Grammatikern declinatio noch jede „Abweichung“ von einer Grundform ist; erst seit declinatio – „Abbiegen, Biegung“ Donatus (4. Jh.) hat declinatio die uns geläufige casus – „das Fallen“ engere Bedeutung: „Beugung“ von Nomina.

▶ Der Ausdruck „Fall“ (G ptosis – L casus) geht wohl auf das griechische Astragal Würfelspiel zurück, bei dem es vier verschiedene „Fälle“ oder besser „Würfe“ gab; Die Astragaloi waren nämlich auf 2 Seiten rund, auf 4 mit Punkten bezeichnet: 4 Würfe – 4 griechische Kasus (ohne Vokativ). Eine andere antike Erklärung geht von dem Bild des „fallenden Griffels“ aus (vgl. Skizze).

nominativus = casus rectus = „aufrecht stehender Fall“, eigentlich eine „contradictio in adiecto“ – der Nom. „fällt“ ja nicht; der Nominativ stellt die Norm dar und ist selbständig. Der Vokativ zählt nicht zu den eigentlichen Kasus; auch viele antike Grammatiker haben den Vokativ für keinen echten Kasus gehalten, s. übernächste Seite und S. 163. Genitiv bis Ablativ als abhängige Kasus sind „casus obliqui“ = „schräge“ – werden „gebeugt“ (declinare), „weichen ab“ von der Norm des Nominativs.

▶ Woher haben die Fälle ihre Namen? Warum sind es sechs? (i. w. S. – s. o. Vokativ) Der antike Grammatiker Virgilius unternimmt einen Klärungsversuch: „Quare sex casus sunt? Quia sex negotia homines habent: nominant (nennen), generant (erzeugen), dant (geben), agunt (tun, treiben! – siehe übernächste Seite), vocant (rufen), auferunt (tragen weg).“ ▶ Was bedeutet eigentlich Konjugation? Auch dies ist eine Metapher: Ein antiker Grammatiker erklärt sie schlicht: „So wie Zugtiere unter ein Joch gespannt sind (con / iugum ≈ gemeinsam ein Joch) und ein und denselben Weg gehen, auf dieselbe Weise vereinigt die Konjugation viele (gleichartige) Verben mit einem Joch auf sich“ – auch dies nach dem G: „syzygia“ < zygon – Joch. Coniugatio heißt also frei übersetzt: Gruppenbildung.

Anzahl u. Namen der Fälle

s. S. 33, 162 ff.

Konjugation

s. S. 74 ff.

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Tempus

Modus

s. S. 82

s. S. 144

▶ „Tempus“ heißt eigentlich „Spanne“, d. h. Zeitspanne, zeitliche Ausdehnung. Idg. ten - / temp -, auch im L tendere = spannen, E tension, D „dehnen“ – tempus distentio animi (Augustinus) (s. S. 50, 82, u. a. Protension / Extension). ▶ Das deutsche terminologische Gegenstück zu L modus (Art / Weise) ist „Aussageweise“ und bezeichnet die „Stellungnahme des Sprechenden hinsichtlich der Realität des Verbalvorganges“ (Glinz). Die Modi haben grundsätzlich subjektiven Charakter, da es ja stets um eine Auffassung des Redenden geht, gleichgültig, ob es sich um den Indikativ („Wirklichkeitsform“: ich war), Konjunktiv (allg.: Modus der Vorstellung: ich wäre) oder Imperativ handelt („Befehlsform“: sei!) – das L kennt wie das D drei Modi. Der Ausdruck Modus geht wohl auf die (aristotelische) Logik zurück, in der 3 Arten (G tropoi → L modi) von Urteil unterschieden werden: assertorisch (wirklich), apodiktisch (notwendig) und problematisch (möglich), als Differenzierungen nach dem „Grad der Bestimmtheit“ (Hoffmeister). Der mittelalterliche (Sprach)philosoph Thomas v. Erfurt greift zur Erklärung des Begriffes „modus“ auf das griechische Vorbild „enklisis“ („Neigung“) zurück und definiert Modus in Anlehnung an die Tradition als „psychische Neigung“: „varia animi inclinatio varios eius affectus demonstrans, indicium („Anzeige“ – „ist so“ → Indikativ), imperium (Befehl → Imperativ), votum, dubium (Wunsch u. Zweifel → Konjunktiv).“

Der Indogermanist Brugmann schreibt: „Die Modi stellten seit urindogermanischer Zeit eine Aussage über eine Seelenstimmung des Sprechenden dar“ (s. S. 144).

▶ Zur Begriffsunterscheidung: 3 mal „verbinden“



Konjugation – „Verbindung“ morphologisch homogener Verben zu Gruppen Konjunktiv – „Verbindung“ der Aussage des NS mit der Aussage des übergeordneten Satzes (s. S. 144) Konjunktion – „Verbindung“ von Wörtern und Sätzen (und, weil...)

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DEKLINATION = „Abbiegen“ (vgl. „Beugung“) → S. 36 ff.

K

casus Fall S.162

K A S U S

nominativus

„Nenn-Fall“

genitivus allg.: „Bereichsfall“ vgl. L genus

dativus

„Gebefall“



accusativus

„Anklagefall“



ablativus (vocativus

„Wegtragefall“ „Anruf “)

nominare – nennen L genitivus („zur Zeugung / Geburt gehörig“) ist eine problematische Übersetzung aus dem G: genike („generell, allgemein, die Abstammung betreffend“). Die Griechen nannten diesen Kasus auch „Besitzerkasus“, die Römer „Vater- Fall“ (casus patricus).

dare – geben

Falsche Übersetzung aus dem G, die sich Jahrtausende gehalten hat. Richtig: Kasus des „Bewirkten“. Beispiel: „Ich male ein Bild“. Im 19. Jh. schreibt der Philosoph Trendelenburg hierzu: „Die Lateiner hätten ‚effectivus’ übersetzen sollen.“

casus Latinus, 3 Grundfunktionen Anrede – eine Art Kurzsatz „Der Vokativ ist eigentlich nichts anderes als der Nominativ, aber ohne Beziehung auf das Prädikat“ (Stegmann), er hat keine organische Verbindung zum Satz; denn ein Anruf bildet eine Art Satz für sich. (vgl. „Satz“, S. 105, 163)

N

numerus Anzahl

G

genus Geschlecht → S. 38 ff.

N U M E R U S

G E N U S



singularis



pluralis



masculinum femininum neutrum

L mas – L femina – L neutrum –

Mann, männlich Frau „keines von beiden“

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KONJUGATION =

„Verbindung“ (von Verben zu Gruppen)

→ S. 74 ff.



Person persona – Maske (s. S. 54)

1. ich / wir 2. du / ihr 3. er, sie, es / sie



Numerus numerus – Zahl

singularis pluralis



Tempus tempus – Zeit

praesens, praeteritum imperfectum, futurum (Fut. I), praeteritum perfectum, praeteritum plusquamperfectum, futurum exactum (Fut. II)



s. bes. S. 32, 74 ff., 82



}

gleichsam „Rollenspiel“ im Leben



Anm.: praeteritum – „vorbeigegangen“ (vgl.: Vergangenheit); im L also ein allgemeiner Begriff, im D ein spezieller („einfache Vergangenheit“).



Modus modus – Art / Weise S. 144

„Aussageweise“ – s. o. indicativus Wirklichkeit indicare – anzeigen coniunctivus D „Möglichkeit“ L: „verbindet“ NS mit HS imperativus Befehl imperare – befehlen



genus verbi oder Diathese handelnd und leidend

„Geschlecht des Verbs“ activum „Handlungsform“ G „energetikon“ passivum „Leideform“ G „pathetikon“



Verbformen werden bestimmt, indem man in dieser Reihenfolge, d. h. vom speziellsten zum generellsten Bestimmungsstück, gleichsam „vom Kleinsten zum Größten“, voranschreitet, z. B.: cogito – 1. Pers. Sg. Präs. Ind. Akt.



III A 2 Grundlegendes zur wissenschaftlichen Wortanalyse 19. Jh.

Wurzel

▶ Was Europa betrifft, kann man von einer wissenschaftlichen Wortanalyse ebenso wie von einer

wissenschaftlichen Phonologie erst im 19. Jh. reden. Im Zuge des Aufkommens der vergleichenden Sprachwissenschaft / Indogermanistik beginnt etwa 1850 auch für die lateinische Grammatik die Periode der „Verwissenschaftlichung“. Aus der indischen Grammatik mit ihrer subtilen Analyse der einzelnen Wortelemente (s. S. 13: Panini) wurden die den Griechen und Römern nahezu unbekannten Begriffe Stamm und Ablaut in die europäische Sprachwissenschaft übernommen – ebenso „wie vorher Wurzel und Suffix aus der von der arabischen abhangenden hebräischen Grammatik“. (Schwyzer)

▶ Im L wie im D lassen sich Wörter in Bestandteile mit je bestimmter Bedeutung zerlegen. Hierbei benutzt die metaphernreiche Sprache der Grammatik folgende Ausdrücke: „Wurzel“; sie stellt gleichsam den kleinsten gemeinsamen Nenner, das nicht weiter analysierbare Grundelement aller Wörter einer Wortfamilie dar: reit – en, Reit – er, Reit – er – ei, L: vic – tor, vic – tus, vic – tor – ia. An die Wurzel fügen sich Suffixe („hinten Angeheftetes“), seltener in den idg. Sprachen Präfixe („vorne ...“), 34

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D ge – geben, L te – tendi zu tendere, oder Infixe, bes. Nasale, L vinco zu vic –.

▶ Die Suffixe lassen sich gliedern in: A) Stammbildungssuffixe, L vic – tor, D Sieg – er → hierdurch wird die Bedeu tung des Wortes angegeben. B) Flexionssuffixe 1. im Nominalbereich: Kasusendungen, L victor – is, Sieger –s 2. im Verbalbereich: Tempuszeichen, L lauda – ba – t, D sieg – te, Stamm Moduszeichen, Personalendungen → hierdurch wird die grammatische Beziehung zu anderen Wörtern im Satz bezeichnet. Endung

Stamm

Endungen

Wurzel



Also: Wurzel + Stammbildungssuffix = Stamm; der Stammauslaut wird auch Kennlaut eines Stammes genannt; daher a- Deklination, a- Konjugation ...

▶ Die elementarste und schlichteste Bauform eines Wortes ist das Wurzelwort: L sal, D Fuß – ohne jegliche An- und Einfügungen. Aus ursprünglich selbständigen Wörtern zusammengesetzte Wortgebilde heißen Komposita, wobei man das gleichsam umbaute „einfache“ Grundelement Simplex nennt, die Anbauteile „Vorderglieder“ und „Hinterglieder“, D unter-gehen, L inter-ire. Besonders an den Nahtstellen der Bauelemente eines Wortes kommt es oft zu lautlichen Veränderungen, in erster Linie zu Assimilationen, wobei das Wort Assimilation das nächstliegende Beispiel für dieses Phänomen ist: „Angleichung“: L ad + similis > assimilis. Eine Dissimilation liegt vor, wenn gleichartige Laute „unähnlich“ werden: L caelu- (Himmel) + leus > caeruleus – himmelblau. Innerhalb der Wurzel kommt es besonders bei Komposita zu Vokalveränderungen, wenn die Wurzelsilbe nicht mehr in Anfangsposition steht, sondern als Binnensilbe erscheint: L tenere / continere = „Vokalschwächung in Binnensilben bei Komposita“. Ansonsten nennt man die vokalische Stammabstufung in etymologisch zusammengehörigen Wortteilen – wie in der deutschen Grammatik – Ablaut: D binden, band, gebunden. Man unterscheidet zwischen:

Komposita Simplex Assimilation

Ablaut

qualitativem Ablaut: L tĕgo / tŏga und quantitativem Ablaut: L fīdus / fĭdes

▶ Analysebeispiel einer Stammformenreihe (vgl. S. 74 ff. + S. 94 f.) tangere – berühren, idg. tag I Präs. Akt. II Perf. Akt. TANGO TETIGI Nasalinfix im Präsensstamm a) Präfix in Form Ein Beispiel für die Relevanz der Sans- einer Reduplikation, s. S. 94 krit-Grammatik: diese teilte die Sans b) Vokalschwächung in kritverben in 10 Klassen ein, davon 3 Binnensilbe mit nasalierten Präsensstämmen; z. B. Nasalinfix ≈ L iungo, Nasalsuffix ≈ L sterno (Lindsay)

III PPP TĀCTUM a) Dehnung nach Lachmannscher Regel, s. S. 26 b) Assimilation: „weiches“ g > „hartes“ c wegen des „harten“ t des Suffixes.

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III B Deklinationsübersicht 1a Erklärungen zur Deklinationstabelle S. 38 f.

2 Dekl.-Prinzipien

▶ Wie die „Mauer“ andeutet, kann man – grob gesprochen – im L zwei Deklinationsprinzipien differenzieren: 1) „a / o- Prinzip“ 2) „k bis e- Prinzip“

Stamm

▶ Der „Stamm“ (endungsloser Grundbestandteil aller Formen) wird am leichtesten folgendermaßen ermittelt: a) in den vokalischen Deklinationen a, o, i, u, e: Abl. Sg. = Stamm (Länge) b) in der konsonantischen Dekl. (= k): Gen., -is weg! , d. h. vom Gen. Sg. die Endung -is abstreichen: also immer den Genitiv mitlernen! (s. S. 46) Bei den vokalischen Deklinationen lautet somit der Stamm auf einen Vokal, bei der konsonantischen auf einen beliebigen Konsonanten aus.

Sprachforscher klagen im 1. Jh. v. Chr. in Varros De lingua Latina über die Vermischung ( ) von i– und Konsonantenstämmen und das Einsetzen von –ĕ für –ī im Abl. Sg.; Caesar z. B. gebrauchte nach dem Zeugnis der Handschriften im Abl. Sg. sowohl igne als auch igni. Eine allgemeine Tendenz in der Geschichte der lat. Sprache ist, dass im Laufe der Zeit die i-Dekl. immer mehr Anteile an die / k-Dekl. „verlor“ (Altlat.: partim, klassisch: partem). Letztlich wegen dieser Durchmischung der Formen nennt man die k-, - und i-Dekl. seit jeher zusammenfassend die „3. Deklination“, d. h. man „zählte durch“: a = 1. Dekl….., e = 5. Dekl.; diese uralte, aus der Antike stammende Klassifikation liegt auch der Tabelle auf Seite 38 f. zugrunde.



Beim Lernen der Vokabeln Genitiv mitlernen! Das ermöglicht in Zweifelsfällen eine leichte Deklinationszuordnung, z. B. bei Substantiven auf -us, s. Seite 46 ff.

gemischt

Dekl.-Zuordnung

einzelne Kasus

Diese „Zweigleisigkeit“ zeigt sich am klarsten bei den Adjektiven: Adj. 1 / Adj. 2

▶ Der Nom. Sg. ist grundsätzlich in idg. Tradition entweder 1. endungslos, z. B. a- Dekl.: silva oder 2. erweitert durch Endungs-s, z. B.: o- Dekl. dominus < dominos; das u von dominus ist sekundär – so wird verständlich, dass dominus trotz des u in der Endung zur oDekl. gehört. Endungs-s hat oft die k- Dekl., immer die e- Dekl., fast immer die uDekl.. ▶ Der Gen. Sg. hat im Idg. prinzipiell ein s-haltiges Suffix, so z. B. in der a- Dekl. im altlat. familias, in der k, der i, der u; doch breitete sich im L von der o- Dekl. ausgehend (altlat. dominoi > domini) ein Endungs-i analogisch auch auf die a- Dekl. (flammai > flammae) und e- Dekl. aus (rei). ▶ Der Dat. Sg. endete prinzipiell auf -i; doch wurde in der a- Dekl. -ai zu -ae, in der oDekl. entwickelte sich -oi zu -o. Alle anderen Deklinationen haben das -i behalten.

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▶ Kennzeichen des Akk. Sg. ist -m; vgl. aber Neutrum-Regel: Nom. = Akk. ▶ Im Abl. Sg. erscheint in der Zeit des klassischen L grundsätzlich der blanke Stamm (Länge): in der a-Dekl. das -a, in der o-Dekl. das -o, in der i-Dekl. das -i, in der u-Dekl. das -u, in der e-Dekl. das -e. Nur in der k-Dekl. wurde an den Stamm ein kurzes -e angehängt. ▶ Der Nom. Pl. endete im ersten Deklinationsprinzip archaisch in der a-Dekl. auf -ai, das sich zu -ae entwickelte, in der o-Dekl. auf -oi, das zu -i wurde. Im zweiten Deklinationsprinzip erscheint im Nom. Pl. stets -s; Nom. und Akk. Pl. sind hier immer identisch. ▶ Der Gen. Pl. endete grundsätzlich auf -um; doch breitete sich von der a-Dekl. ausgehend (-arum) eine „Langform“ analogisch auch auf die o-Dekl. (-orum) und die e-Dekl. (-erum) aus. ▶ Dat. und Abl. Pl. sind immer identisch; im ersten Deklinationsprinzip ist die Endung -is (< -ais / -ois), im zweiten -bus / -ibus. ▶ Der Akk. Pl. endet grundsätzlich auf -s; zu beachten aber die Neutrum-Regel: Nom. und Akk. Pl. enden auf -a. ▶ Zur Semantik der nominalen Stammerweiterungssuffixe (s. S. 35): Subst.: Eigenschaft → -ia / -tia: iustitia – Gerechtigkeit -tus , -tutis: virtus – Tugend -tudo, -tudinis: fortitudo – Tapferkeit -tas, -tatis: pietas – Pflichtbewusstsein Tätigkeit → -io, -ionis: actio – Handlung -tus, -tūs: motus – Bewegung Handelnde Person → -tor, -toris: victor – Sieger Mittel / Werkzeug → -trum / -mentum: instrumentum – Werkzeug Adj.:

Fülle → Möglichkeit → Zugehörigkeit → Stoff →

-osus, -a, -um: -bilis / -ilis: -alis / -aris: -eus, -a, -um:

Wortbildung durch Suffixe s. S. 35

laboriosus – arbeitsreich facilis – leicht ausführbar familiaris – zur Familie gehörig aureus – golden

Die Kenntnis dieser Wortbildungselemente kann das „sture Pauken“ der Vokabeln minimieren, da sie dazu befähigt, Wortbedeutungen selber abzuleiten: orare – reden → orator – Redner / oratio – Rede Transfer

▶ Wenn man sich die Deklinationen der Substantive eingeprägt hat (von a bis i), kann man bei Beachtung der „Austauschpfeile“ auf der Deklinationstabelle S. 38 f. alle Formen der Adjektive, Partizipien (s. S. 127 ff.), Pronomina (s. S. 50 ff.) sowie – weiter unten – des Komparativs und Superlativs (s. S. 48), GU und GV (s. S. 136 ff.) leicht ableiten. Hinreichende Beispiele hierfür bieten die Seiten 40 ff.. 37

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III B 1b DEKLINATIONSTABELLE Endung des Nom. Sg. s. S. 46 f.

Neutrum: s. unten rechts

Subst. insula

vicus

Sg.

Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

ă ae ae am ā

us / r / um ī ō um ō

Pl.

Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

ae ārum īs ās īs

ī ōrum īs ōs īs

1

Adj.

m longus, miser,

f a, a,

n um um

a/o

Partizip S. 127 ff. teils Verb, teils Nomen vgl. „pars“

PPP

datus,

PFA

datūrus, a, um

a, um

Pronomen S. 50 ff. z. B. → Possessivpr. S. 55 100% a / o

mĕus, tŭus, sŭus, noster, vester,

a, a, a, a, a,

um um um um um

Demonstrativpr. Gen. Sg. - ius 70% a / o aber: Dat. Sg. - i (s. S. 56) is, ea, id qui, quae, quod ille, illa, illud 50% a / o (s. S. 66) u. a.

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nach Priscian im Nom. Sg. mind. 78 Endungen

nur bei Subst.:

Sg.

rex

Pl.

ars

{

Nom. ∞ Gen. ĭs ī em ĕ ēs um ĭbŭs ēs ĭbŭs

i

TURRIS VIS, Pl.: vires! MARE ANIMAL u. a.

s

turris

2

bes. 4 Adj. = k pauper, vĕtus dīvĕs, prīnceps im Nom. Sg. alle 1 endig „armer alter reicher Fürst”

PPA

manus

Nom. Sg.: 3 endig: 2 endig: 1 endig:

i- Dekl.

res

us ūs uī um ū ūs uum ĭbŭs ūs ĭbŭs

– ĭs ĭs ī im (Adj.: -em) ī ēs/ īs n: -ia ium ĭbŭs ēs/ īs n: -ia ĭbŭs

{

k

{

bes.:

{

m er is ns rs x

f is is ns rs x

ēs ĕī ĕī em ē ēs ērum ēbus ēs ēbus

n e z. B.: celer e fortis ns ingens rs sollers x felix

dans, dantis -nt-

für alle Dekl. gilt: Subst. 1) „Stamm“ (Gen., -is abstreichen!) endet auf mind. 2 Kons.: ars, art-is → vgl. PPA

2 NeutrumRegeln:

außer bes. „Verwandte“ (k): pater, mater, parentes, frater

1) Nom. = Akk.

u./ o. 2) Nom. und Gen. Sg. haben gleiche Silbenzahl, Nom. endet auf -es oder -is: Nom.: clādēs Gen.: clādis

2) Nom./ Akk. Pl. endet auf -a 39

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III B 1c Deklinationsbeispiele zur Tabelle S. 38 u. a. 1) Substantiv + Adjektiv

insula pulchra schöne Insel



a

vicus angustus enge Gasse

1 Adj.

Adj.

o

1

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

insula pulchra insulae pulchrae insulae pulchrae insulam pulchram insula pulchra

vicus vici vico vicum vico

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

insulae pulchrae insularum pulchrarum insulis pulchris insulas pulchras insulis pulchris

vici angusti vicorum angustorum vicis angustis vicos angustos vicis angustis



rex iustus gerechter König

legio nova neue Legion



k

Adj. 1

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

rex regis regi regem rege

iustus iusti iusto iustum iusto

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

reges iusti regum iustorum regibus iustis reges iustos regibus iustis

k

angustus angusti angusto angustum angusto

Adj.

legio legionis legioni legionem legione

1

nova novae novae novam nova

legiones novae legionum novarum legionibus novis legiones novas legionibus novis

40

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miles fortis tapferer Soldat

nomen ignobile (Neutrum!) unbedeutender Name

k

k

Adj. 2

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

miles militis militi militem milite

fortis fortis forti fortem forti

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

milites fortes militum fortium militibus fortibus milites fortes militibus fortibus

nomina ignobilia nominum ignobilium nominibus ignobilibus nomina ignobilia nominibus ignobilibus

turris vetus alter Turm

animal terribile (Neutrum!) schreckliches Tier

i

Adj. k!

Adj.

2

nomen ignobile nominis ignobilis nomini ignobili nomen ignobile nomine ignobili

i

Adj.

2

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

turris turris turri turrim turri

vetus veteris veteri veterem vetere

animal animalis animali animal animali

terribile terribilis terribili terribile terribili

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

turres turrium turribus turris turribus

veteres veterum veteribus veteres veteribus

animalia animalium animalibus animalia animalibus

terribilia terribilium terribilibus terribilia terribilibus

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exercitus Romanus römisches Heer

u

Adj. 1

res publica Staat

e

Adj.

1

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

exercitus exercitus exercitui exercitum exercitu

Romanus Romani Romano Romanum Romano

res rei rei rem re

publica publicae publicae publicam publica

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

exercitus exercituum exercitibus exercitus exercitibus

Romani Romanorum Romanis Romanos Romanis

res rerum rebus res rebus

publicae publicarum publicis publicas publicis

2) Substantiv + gesteigertes Adjektiv ( mons altior höherer Berg Komparativ = k

Steigerung: S. 48)

vir sapientissimus sehr weiser Mann

o

Superlativ / Elativ: o

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

mons altior montis altioris monti altiori montem altiorem monte altiore

vir viri viro virum viro

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

montes altiores montium altiorum montibus altioribus montes altiores montibus altioribus

viri sapientissimi virorum sapientissimorum viris sapientissimis viros sapientissimos viris sapientissimis

sapientissimus sapientissimi sapientissimo sapientissimum sapientissimo

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3) Substantiv + Partizip (Partizipien: s. S. 38 f., 127 ff.) urbs occupata besetzte Stadt

puer ludens spielender Knabe

o

PPP: a

PPA =

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

urbs urbis urbi urbem urbe

occupata occupatae occupatae occupatam occupata

puer pueri puero puerum puero

ludens ludentis ludenti ludentem ludente

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

urbes urbium urbibus urbes urbibus

occupatae occupatarum occupatis occupatas occupatis

pueri puerorum pueris pueros pueris

ludentes ludentium ludentibus ludentes ludentibus

4) Substantiv + Pronomen

a) Demonstrativpronomen + Substantiv (Demonstrativpronomina: s. S. 60 ff.)

condicio futura zukünftige Bedingung

k

illud oppidum (Neutrum!) jene Stadt

o

PFA: a

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

condicio condicionis condicioni condicionem condicione

futura futurae futurae futuram futura

illud illius illi illud illo

oppidum oppidi oppido oppidum oppido

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

condiciones condicionum condicionibus condiciones condicionibus

futurae futurarum futuris futuras futuris

illa illorum illis illa illis

oppida oppidorum oppidis oppida oppidis 43

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iste imperator dieser Feldherr

hoc tempus (Neutrum!) die jetzige Zeit

k

k

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

iste istius isti istum isto

imperator hoc imperatoris huius imperatori huic imperatorem hoc imperatore hoc

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

isti istorum istis istos istis

imperatores imperatorum imperatoribus imperatores imperatoribus

haec horum his haec his

tempus temporis tempori tempus tempore tempora temporum temporibus tempora temporibus

4b) Substantiv + Possessivpronomen (s. S. 55 f.) pater noster unser Vater

k

o

manus tua deine Hand

u

a

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

pater patris patri patrem patre

noster nostri nostro nostrum nostro

manus manus manui manum manu

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

patres patrum patribus patres patribus

nostri nostrorum nostris nostros nostris

manus tuae manuum tuarum manibus tuis manus tuas manibus tuis

tua tuae tuae tuam tua

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4c) Interrogativpronomen + Substantiv (s. S. 66) qui dies? welcher Tag?

quod signum? (n!) welches Zeichen?

e

o

Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

qui cuius cui quem quo

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

qui dies quorum dierum quibus diebus quos dies quibus diebus

dies diei diei diem die

quod cuius cui quod quo

signum signi signo signum signo

quae signa quorum signorum quibus signis quae signa quibus signis

4d) Indefinitpronomen + Substantiv (s. S.68) aliqua religio irgendein Bedenken

k Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

aliqua alicuius alicui aliquam aliqua

Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.

aliquae religiones aliquarum religionum aliquibus religionibus aliquas religiones aliquibus religionibus

religio religionis religioni religionem religione

miles quidam ein (gewisser) Soldat

k miles militis militi militem milite

quidam cuiusdam cuidam quendam < quem + dam quodam

milites militum militibus milites militibus

quidam quorundam < quorum + dam quibusdam quosdam quibusdam 45

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III B 2 Geschlecht der Substantive

S. 38/ 39 (Subst.) als „Folie“ benutzen!

Es ist sehr wichtig, das Geschlecht eines Substantivs zu kennen, um Genus-Kongruenzen im nominalen Bereich identifizieren zu können. Sanctius (16.Jh.) betont, eine Lehre vom Geschlecht der Substantive hätten wir nur den Adjektiven zu verdanken: „Nam si adiectiva non essent, nulla esset apud grammaticos de genere praeceptio (Lehre)“. Im L gibt es ja keinen das Geschlecht der Substantive klärenden Artikel (D „Geschlechtswort“).

Endung des Nom. Sg.

∞ m

k

{

n

meist

f

m / n

! „us- Schlange“

{

-us

(Substantive auf –us)

o-Dekl. m k-Dekl. f / n u-Dekl. m

1) STAMM = GEN., -is weg! 2) GESCHLECHT:

aber:

us 1 m

{

m

A meist gilt: STAMM endet auf: Guttural: Labial: Dental:

aber:

Land, Insel, Stadt und Baum auf -us man sich als weiblich merken muss: Aegyptus, Cyprus, Corinthus, mālus

n

{

lŏcus Pl. a) loci = Stellen in Büchern b) lŏcă (n) = Gegend 46

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Nasale:

f

hŭmus vulgus vīrus

Liquiden:

B „Eselsbrücken“ u. ä. m -or, ŏris der Imperator der Diktator aber: aequor n marmor

{

transfuga nauta pirata poeta Belga Persa

Nom. + Gen. Sg. lernen wegen:

f -ūs, -ūtis wie: -ās, -ātis -ĭō, -ĭōnis -tūdō, -tūdinis

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{ {

{

turris vīs mărĕ ănĭmăl

f n

m

i ~ f

n

f /n

m / n

f

aber:

aber:

dŏmŭs mănŭs Īdūs porticus tribus

dĭēs, m (selten f ) dies festus dies certa

{

{

(g/c) (b/p) (d/t)

+ Nom.– Endungs -s virtūs virtūt-is

(r/l)

fem.

masc.

orator oratōr-is

s

f

us 4 m „domus” flektiert heteroklitisch = nach versch. Dekl., teils u, teils o; Abl. Sg.: domo Gen. Pl.: domorum (neben domuum) Akk. Pl.: domos (neben domus)

fem.

(n) ōrātĭō ōrātĭōn-is

us 2 f „Ute“ (vgl. Abl.-Endung) die Sozietät die Universität die Religion die Opposition die Amplitude

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us 3 n

n -ŭs, -ŏrĭs das Tempus -ŭs, -ĕrĭs das Opus -mĕn, -mĭnĭs das Omen

dies und res sind die beiden meistgebrauchten Wörter der e-Dekl., auch die einzigen mit einem vollständigen Plural.

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III B 3 Steigerung der Adjektive und Adverbien → Deklinationsbeispiele: S. 42 Adjektive unterscheiden sich von den Substantiven in 3 Punkten: 1) die Motionsfähigkeit (3 genera), 2) die Bildung eines Adverbs, 3) die Steigerung (diese Seite von unten nach oben lesen – Steigerung!)

Formgleich sind:

SUPERLATIV….. „darüber hinausgehoben“ und ELATIV………… „herausgehoben“ D: „sehr groß“ D: „größte“

longissime

Adv. -e

a/o

Der Anlaut des Superlativsuffixes –simus (longissimus) wird assimiliert bei Adj. des Typs a) pulcher → pulcherrimus b) facilis → facillimus facilis / difficilis = 5 Adjeksimilis / dissimilis, tive auf -lis humilis

longissimus celerrimus

{

A REGELMÄSSIG

k

KOMPARATIV „Vergleich“

Neutrum des Komparativs = Adverb des Komparativs longius

longior celerior

-ior, -ior, -ius f

n

{

m

ab Gen. gleich (Neutrumregeln, S. 39!)

Der Komparativ wird gebildet, indem man im Positiv die Genitivendung abstreicht, d. h. in der a / o-Dekl. das –i, in der i-Dekl. das –is, dafür das Komparationssuffix –ior anfügt.

longe

celeriter / sapienter

Adv. -e

longus, a, um

POSITIV „gesetzt“ (Grundstufe)

Adj.

1

a/o

Adv. -iter / -nter cĕlĕr, cĕlĕrĭs, cĕlĕrĕ Adj.

2

i

Wie auf S. 36 ff. gezeigt, gliedern sich die lat. Adjektive in: 1) Adj. der a / o-Dekl., 2) Adj. der i-Dekl. („Mauer“). 48

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▶ Besonderheiten bei Adverbien: facilis → facile, difficilis → difficulter, alius → aliter ▶ Der Komparativ drückt nicht nur ein „mehr“ aus, sondern auch ein „ziemlich“ oder „allzu“: z. B.: tardius venisti – du bist zu spät gekommen ▶ quam nach Komparativ bedeutet „als“ : maior quam – größer als quam vor Superlativ bedeutet „möglichst“: quam celerrime – möglichst schnell ▶ quisque nach Superlativ bedeutet „gerade“: optimus quisque – gerade die Besten ▶ longe beim Sup. / Komp. bedeutet „bei weitem“: longe optimus – bei weitem der Beste B UNREGELMÄSSIG die „Allerweltsadjektive“ – kontrastierende Begriffe Grundkoordinaten in den Kategorien Quantität und Qualität: In den meisten Sprachen unregelmäßig. D gut – besser, viel – mehr. E bad – worse. Die Suppletivformen der unregelmäßigen Steigerung sind vielleicht „Überbleibsel einer älteren Sprachstufe, auf der Steigerungsformen des Adjectivums noch nicht existierten”. (W. Wundt) POSITIV

KOMPARATIV

bŏnus (gut) mĕlĭŏr mălus (schlecht) peior parvus (klein) mĭnŏr magnus (groß) maior < mag- ior multum (viel) plūs multi (viele) plūrēs

SUPERLATIV

vgl. Fremdwörter:

optimus pessimus minimus māximus

optimistisch pessimistisch minimal maximal

plūrimum plūrimi

„Plural“

< mag- simus

C UNVOLLSTÄNDIG Eine besondere Art der Steigerung nennt man die „unvollständige“, da hier der Positiv als Adjektiv nicht gebräuchlich ist.

extĕrĭŏr (weiter außen) intĕrĭŏr (weiter innen)

extrēmus intĭmus

extrem intim

sŭpĕrĭŏr (weiter oben) īnfĕrĭŏr (weiter unten)

sŭprēmus īnfĭmus

Summe Inferno (Unterwelt)

prĭor (weiter vorn) ultĕrĭŏr (weiter weg)

prīmus ultimus

primär Ultimatum

Auch das L kennt die sog. romanische Steigerung (wie E more / most ...), und zwar bei Adjektiven auf -us mit vorausgehendem Vokal, z. B. necessarius – magis necessarius – maxime necessarius.

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III C Pronomina L < G D

pronomen antonymia „Fürwort“ = „anstelle des Nomens“, Surrogat des Nennens

▶ Die auf den ersten Blick so unscheinbaren Pronomina bergen tiefgreifende anthropologische, psychologische und grammatische Implikationen in sich. 1 Der Mensch als Sinnenwesen und „Monade“ – Individualität des Einzelnen

Sinne

Raum Zeit

Monade

▶ Erkenntnis entspringt nach Kant aus 2 Grundquellen: der Rezeptivität der Eindrücke und der Spontaneität der Begriffe. Schon in seiner lateinischen Dissertation (s. S. 12) von 1770 bestimmt er Raum und Zeit als die Formen der sinnlichen Anschauung: „Principium autem hoc formale nostri intuitus, spatium et tempus“. Später definiert er im ersten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft, der „transzendentalen Ästhetik“ (G aisthesis – Wahrnehmung), Raum als die „subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein unsere äußere Anschauung möglich ist“, Zeit als „subjektive Bedingung, unter der allein alle Anschauung in uns stattfinden kann“. Der innere und der äußere Sinn sind beim Menschen koordiniert. Hierbei ist nach Gipper das Phänomen des Zeitlichen deshalb viel schwerer geistig zu erfassen als das des Raumes, weil „die unsichtbare Zeit zwar ständig erlebt wird, aber nicht wie der Raum unmittelbar sinnlich erfasst wird“, weshalb „Ausdrücke für Räumliches häufig als primär gekennzeichnet worden sind, während die Zeitausdrücke oft als sekundär erwiesen werden konnten“; er verweist hier auf die Übertragung von Räumlichem auf Zeitliches / Raum – Zeit – Metaphern, z. B. lange, davor ...; „die Zeit steht still“, „die Zeit verfliegt“. ▶ Die Wahrnehmungspsychologie spricht bezüglich der Räumlichkeit von Extension (etwa: allseitig ausgedehntes Nebeneinander), betreffs der Zeitlichkeit von Protension (etwa: lineares Nacheinander in unumkehrbarer Richtung). „Vi notionis imaginariae tempus recte repraesentatur per lineam rectam, quae fluxu puncti continuo gignitur“ (Chr. Wolff, 1736). In unserem Zusammenhang ist besonders wichtig, dass das erkennende Subjekt der Welt perspektivisch begegnet (Woodward); von seinem individuellen, wechselnden Standort aus erfährt der Einzelne den „Unterschied der Gegenden“ (Kant): links – rechts / oben – unten / hinten – vorne ... In der Leibniz- Monographie von Totok / Haase heißt es im Kontext der Monadenlehre (hier etwa: Lehre von der Bewusstseinssubstanz des Individuums): „Die Mitte des Welthorizontes nämlich ist ein Blickpunkt, der von nur einer einzigen Monade eingenommen werden kann. Am Blickpunkt hängt es, dass jedes Bewusstsein seine eigene Welt hat; denn er eröffnet die Durchsicht, und er bestimmt die Ansicht der Welt. Welt ist je meine Welt-Ansicht.“ ▶ Das menschliche Bewusstsein, „das wesentlich menschliche Grundphänomen, …, die anthropologische Grundverfassung, kraft derer der Mensch sich selbst wie die 50

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Welt zum Objekt machen kann und beide zugleich als Wirklichkeit konstituiert“ (Diemer), ist auf 2 Pole hin ausgerichtet:

einerseits: Dinge, „Außenwelt“ andererseits: Ich, „Innenwelt“

→ Intentionalität → Reflexivität

Ich Welt

III C 2 Sprachliche Korrelate ▶ Die räumliche Komponente dominiert also in der Gesamtorientierung des Menschen. Wir Menschen sind ego-zentrische „Sehtiere“. (Bühler) Bühlers „Origo-Modell“ (L origo – Ursprung) setzt 3 zentrale Positionszeigwörter an, die in je individueller „Egozentrik“ das Koordinatensystem der Orientierung, gleichsam eine je eigene Weltmitte fixieren und das „Zeigfeld“ (s. u.) eröffnen; Bühler schreibt: „Ich behaupte, dass 3 Zeigwörter an die Stelle von „o“ (o = origo) gesetzt werden müssen, wenn dieses Schema das Zeigfeld der menschlichen Sprache repräsentieren soll, nämlich die Zeigwörter hier, jetzt, ich.“

N

• ich • jetzt • hier

origo

o = origo = Ursprung

o = origo ist also der „Koordinatenausgangspunkt der Sehrichtungen“ (Bühler); origo steht gleichsam für den Focus des menschlichen Koordinationssystems im Zustand des Orientiertseins, des Bei–sich–Seins. Das entspricht dem Grundzug des Lebens: „ein von sich her strebendes Ausgreifen und auf sich versammelndes Einholen“ (Janke). In diesem Kontext spricht Kant von einem „focus imaginarius“. ▶ Entsprechend bildet diese Egozentrik auch in der grammatischen Klassifizierung und Systematisierung den „Ausgangspunkt“, etwa: ich = 1. Person, nicht nur in der Konjugation, sondern auch in der Deklination, (s. u. Pronomen, S. 55 ff.). Person–

{

Raum – Zeit – jetzt = 1. Zeit = Präsens Koordinaten hier = Zentrum bzw. Nullpunkt des Zeigsystems der Demonstrativpronomina (s. u.) III C 3 Zeigen und Nennen

• Der bedeutende griechische Grammatiker Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.) vollzog die Unterscheidung zwischen „Zeigwörtern“ und „Nennwörtern“. Dies 51

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Deixis

„ich“

entspricht der Unterscheidung zwischen Subjektivität und Intersubjektivität bzw. zwischen den 2 Feldern der Sprache, nämlich Zeigfeld und Symbolfeld. Apollonios schreibt: „Das Eigentümliche des onoma (Nennwort) ist es, die Qualität von zugrundeliegenden Körpern und Sachverhalten auszudrücken“, Zeigwörter dagegen (G deiktika) „zeigen“ nur auf etwas.

▶ Die Zeigwörter nennen also nicht – und damit abstrahieren sie nicht, „sie vertreten die Anschauung, ohne dass sie den Vorgang der Abstraktion durchlaufen“ (Bühler). Am Personalpronomen „ich“ hat Bühler das eingängig exemplifiziert:

„Ich kann jeder sagen, und jeder, der das sagt, weist auf einen anderen Gegenstand hin als jeder andere; man braucht so viele Eigennamen als es Sprecher gibt, um in der Weise, wie das Nennwörter vollbringen, die intersubjektive Vieldeutigkeit des einen Wortes ich in die vom Logiker geforderte Eindeutigkeit sprachlicher Symbole überzuführen. Und genauso ist es im Prinzip mit jedem anderen Zeigwort auch.“

III C 4 Zeigarten / Zeigfelder Zeigen

Um den deiktischen Nullpunkt (s. o. origo), das „hier“ und „jetzt“ des sich seiner selbst bewussten jeweils Einzelnen (→ Sprecher), lagern sich, sozusagen wie um einen feststehenden Punkt, nach den Parametern Nähe / Distanz – und zwar in lokaler, temporaler und gedanklicher Dimension – gestaffelte Zeigfelder, denen verschiedene Zeigarten korrespondieren, nämlich (Lewandowski):



Personale Deixis → ich, du, wir ... Lokale Deixis → hier, dort, dieses, jenes ... Temporale Deixis → heute, gestern ... → entsprechende Tempusformen

Seit dem „Junggrammatiker“ Brugmann (1904) unterscheidet man 3 Zeigfunktionen:



1. Person – „Ich – Deixis“ → Direktes Umfeld des Sprechers 2. Person – „Du – Deixis“ → Sphäre der angesprochenen Person 3. Person – „Jener – Deixis“ → Hinweis auf weiter Entferntes



Zeigen in der Wirklichkeit / Syntaktisches Zeigen



Bezogen sich z. B. die Demonstrativa (zeigende Fürwörter) ursprünglich wohl nur auf die unmittelbare Sinneswahrnehmung, behandelte „der Sprechende dann eben

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seine gesamte Vorstellungskraft nach Analogie der gegenwärtigen Anschauung ... Diese Pronomina sind die sprachliche Hinweisung auf etwas, dem der Sprecher seine Aufmerksamkeit zugewendet hat, und fordern den Angesprochenen auf, den Gegenstand ebenfalls ins Auge zu fassen“. (Wundt) An die Stelle des sachlichen Zeigens ist ein syntaktisches Zeigen getreten – man spricht hier von „Zeigzeichen in der sprachlichen Darstellung“. (Bühler)

▶ Deixis = Zeigen (i. w. S.) kann man also differenzieren in a) Hinweisung auf gegenwärtige Gegenstände – was vor Augen liegt → „erstes Erkennen“ (Apollonios Dyskolos) b) „Anapher“ – Rückbeziehung auf Abwesendes, aber schon Bekanntes →„zweites Erkennen“ Danach Priscian: „Prima enim cognitio est per demonstrativa pronomina, secunda vero per relativa.“ = deiktisch vs. anaphorisch ▶ Vor ca. 1800 Jahren stellte Apollonios Dyskolos allgemein fest: „Jedes Pronomen ist deiktisch und / oder anaphorisch, die der 1. und 2. Person nur deiktisch, die der 3. sowohl deiktisch als auch anaphorisch.“

Sprachökonomie

▶ Verweisende Ausdrücke im allgemeinen und Pronomina im besonderen – beide auf „origo“ hin geeicht – dienen der Sprachökonomie: z. B. er, dort, dann, das, neulich, mein ... „Verweisende Ausdrücke kommen in jedem längeren Text vor. Mit ihnen wird ein Prinzip der Sparsamkeit verfolgt, keine ausdrückliche Nennung zu verwenden, wenn eine Verweisung genügt“ (Lewandowski), s. S. 113.

Pronomina – nominale und „verbale” Elemente



Antike Grammatiker sprechen von einer Mittelstellung einiger Pronomina; demnach weisen Pronomina ein verbales (Person) und ein nominales Element (Deklination) auf. Dagegen vermutet die moderne Forschung den Ausgangspunkt der Verbalflexion beim Nomen, z. B. schon Wundt (1900) und Sommer (1902). Gemäß dieser Theorie ist das Verb jünger als das Nomen, Personalendungen des Verbs werden als „suffigierte Pronomina“ gedeutet (Leumann). Besonders im Possessivpronomen sehen viele den Ursprung von Verbalelementen: z. B. meus → laudabam (s. S. 76).



Priscian zu Personal- u. Possessivpronomina (nach Apollonios Dyskolos): „Terminationi enim iniecerunt casualem declinationem, principio vero personalem divisionem ... Et si terminatio obtinet maxime partes orationis, finis autem pronominis casus est, obtinebit per finem, ut pronomen vocetur, quippe quo imitatur nominis proprietatem, id est casum, quamvis etiam verbi subiit proprietas, id est persona.“ „Pronomina ... nominis habent casus, verbi vero personas.“ 53

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„Überlappungen“ oder „Überschneidungen“ von Verb (dem Verb, nicht dessen Personalendung) und Nomen sind in der lateinischen Sprache zahlreich; man nennt sie infinite / nominale Verbformen, nominale, weil sie dekliniert werden, infinite, weil sie nicht die für Prädikate wesentlichen Personalendungen haben (infinitus – unbestimmt): s. Syntax, Abschnitt C, Nominale Verbformen.

III C 5 „Personen“

Maske „Rolle“

▶ In Alexandria, einem antiken Forschungszentrum, scheinen in vorchristlicher Zeit Philologen „durch die 3 Prosopa (G = Personen) des griechischen Dramas dazu angeregt worden zu sein, die 3 Personen oder Sprecherrollen des Pronomens und des Verbs ebenfalls als Prosopa zu bezeichnen“. (Fuhrmann) Die römischen Grammatiker übersetzten G prosopon mit persona = „Maske“, „Sprecherrolle“ – dem deutschen Wort Rolle liegt eine ähnliche Metaphorik zugrunde wie dem L persona: Rolle < L rotulus – „zunächst der Papierstreifen, auf den der Anteil des einzelnen Schauspielers, seine ‚Rolle’, geschrieben war“. (Fuhrmann)

Der römische Sprachforscher Varro spricht von der „triplex natura personarum“:



1. Person qui loquitur 2. Person ad quem 3. Person de quo

▶ persona bedeutet seit der Spätantike manchmal einfach Mensch.

Die 3 grammatischen Personen treten in 3 Formbereichen auf:



„m“

1. finite Verbformen = Verben mit Personalendungen = Prädikat 2. Personalpronomina 3. Possessivpronomina

Zudem sind sachlich auch die Demonstrativpronomina auf die Personen ausgerichtet (s. o. Deixis).

▶ Es kann nur spekuliert werden, warum im Idg. bestimmten Personen diese und nicht jene Laute zugeordnet wurden. Erklärungsversuch für das „m“ der 1. Person Sg. (L me, D mich, G me, Sl me, E me / L legebam …): G myein bedeutet: Augen und Lippen schließen, „mmm“ von sich geben, → in sich gehen – davon abgeleitet das Wort „Mystik“, also: „m“ steht für Abkehr von der Außenwelt, Rückzug in die Innerlichkeit, „mmm“ tönt nach innen = ich...

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III C 6 Personal- und Possessivpronomina Personalpronomina Possessivpronomina, Dekl.: wer? possidere – besitzen wessen?

1. Pers. Sg. ich

m

f

100% a / o (s. S. 38 ff.) Deklinationsbeispiele: S. 44

n mein

Nom. ĕgō mĕŭs, -a, -um Gen. mĕī mĕī, -ae, -ī vgl. Dat. mĭhī vgl. Deutsch: mĕō, -ae, -ō D: mich / mein Akk. mē „gedenket . . . Abl. mē meiner“ . . . E: me . . . Sl: me

m



2. Pers. Sg.

dein

du

Nom. tū Gen. tŭī Dat. tĭbī Akk. tē Abl. tē

t



3. Pers. Sg. /Pl.:



1. Pers. Pl.

Nom. Gen. Dat. Akk. Abl.



tŭŭs, -a, -um vgl. tŭī, -ae, -ī F: tu tŭō -ae, -ō . . . D: du / dein . . . . . . Sl: te

Die eigentlichen Personalpronomina kennen keine Geschlechtsunterschiede; das Pronomen der 3. Person (is, ea, id, s. S. 60 ff.), das „geschlechtig“ ist, „ist natürlich nicht ein Personalpronomen, sondern ein Anaphorikum“. (Szemerenyi)

wir

nōs a) nostrī b) nostrum (partitiv – s. S. 168) nōbīs quis nostrum? nōs „wer von uns?“ nōbīs

n

unser

noster,-a,-um vgl. nostrī, -ae, -ī F: nous / notre nostrō,-ae, -ō . . . Sl: nas . . . . . . D: uns

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2. Pers. Pl.

m

Nom. vōs Gen. a) vestrī b) vestrum (partitiv) Dat. vōbīs nēmō vestrum Akk. vōs „niemand von Abl. vōbīs Euch“

n

vester,-a,-um vestrī, -ae, -ī vgl. vestrō,-ae, -ō F: vous / votre . . . . . . Sl: vas . . .

v

reflexiv (Nom. nicht denkbar: Nom. - „sich sieht sich im Spiegel“) Gen. sŭī Dat. sĭbī „zurück“ zum Subjekt, nie selber Akk. sē / sese Subjekt, also nie Nominativ Abl. sē / sese Idg. reflexiv = „zurückgebogen“ zum Subjekt

f

euer

ihr

sein / ihr

sŭŭs,-a, -um sŭī, -ae, -ī sŭō, -ae, -ō . . . . . . . . . sewe / swe / se

vgl. D: sich / sein Sl: se / svoje

Das Reflexivpron. beginnt mit s, bezieht sich zurück auf das Subjekt = S daher: reflexiv = 2 mal S

Der Grammatiker Donatus zum „fehlenden“ Nominativ des personalen Reflexivpronomens: „SUI non habet nominativum, quia hoc pronomen tantum relativum est.“ (relativum hier: = reflexiv); L reflexivus ist eine neulateinische Bildung; Scioppius (17. Jh.): „sui reciprocum est, in se ipsum reflectitur.“ Beim personalen Reflexivpronomen unterscheidet das L wie das D formal nicht zwischen Sg. und Pl. (er wäscht sich / sie waschen sich), andere Sprachen tun das. Terminologisch lehrreich ist auch ein griechisches Vorbild für L reflexivum: „selbstleidend“- G autopathes

III C 7a Demonstrativpronomina < demonstrare – zeigen

Dekl.: 70% a / o (vgl. Dekl.-Tabelle S. 38) außer: Gen. Sg. -ius Dat. Sg. -i

Deixis - Zeigen < G deik- vgl. L digitus – (Zeige)finger L dicere – zeigen → sagen 56

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▶ In den idg. Sprachen sind die Dentale / „Zahnlaute“ d und t lautlich weitverbreitete deiktische (zeigende) Elemente. So im G, Sl, D: der, dieser, da, dort, deshalb, dann ... So auch im L: id, illud, istud, iste, tum, talis ... Ein weiteres deiktisches Element ist das -c, vgl. hic, haec, hoc; sic, tunc, ecce ...

deiktisches d / t und c

Sl to



vgl. D dort ← idg. to - d der da G to



L istud id illud tam, ita …

▶ Basierend auf der plausiblen Annahme eines ursprünglich dramatisch-situativen Gebrauchs der Demonstrativa spricht man in ihrem Zusammenhang von den „Urwörtern der Menschensprache“ oder vom „deiktischen Quellpunkt der darstellenden Sprache“. Die Demonstrativa gehören zu den „frühesten und unentbehrlichsten Hülfsmitteln der Sprache“. (W. Wundt)

▶ Priscian unterscheidet die lateinischen Demonstrativpronomina (i. w. S.) nach Zeigqualitäten folgendermaßen: ipse – selbst: Heraushebung einer genannten Person / Sache a) relativa is – dieser, der, er: vorwiegend Personalpron. 3. Pers. < G anaphorisch = zurückverweisend sui – reflexiv: „zurück“ zum Subjekt L referre – wiederbringen b) demonstrativa < G deiktisch

Urwörter

anaphorisch

hic – dieser (hier) deiktisch

iste – dieser (da) ille – jener (weiter weg)

▶ Er konstatiert eine dreifache Abstufung der Entfernungsverhältnisse zum Sprechenden: (s. o. Brugmann) Nähe Distanz

ille = Jener–Deixis → ille = Altlat. „ollus“, daher „ultimus“ – letzter iste = Du– Deixis hic = Ich–Deixis

„Hunc et istum in proximo notat; illum ostendit quidem longe stantem, sed in conspectu.“ (ein antiker Grammatiker)

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hic = Ich–Deixis

Eingängig Lorenzo Valla (15. Jh.): „De me loquens dicere debeo hoc caput, haec manus, haec civitas, de te vero “ “ “ istud “ , ista “ , ista “ , de tertia autem persona illud “ , illa “ , illa “ .“

vgl. hic = hier (bei mir); zur Aussprache belehrt uns ein antiker Grammatiker: „hic correptum pronomen, productum adverbium loci.“ also: hic – dieser / hīc – hier „Dreiersystem“

▶ So spricht die Wissenschaft bei den Demonstrativpronomina noch heute von dem „Dreiersystem des Lateinischen“ (Szemerenyi) mit hic – iste – ille, wozu noch das „neutrale is“ kommt (s. S. 60).

III C 7b Einige Beispiele zum „Dreiersystem“ 1. Pers. hic:

hic hŏmō hae litterae hic dĭēs haec tempora

2. Pers. iste:

istī philosophī – die von dir erwähnten Philosophen iste locus – die Stelle da, wo du bist (ihr seid) Da enger Bezug zur 2. Pers., oft mit tuus / vester verbunden: ista vestra simulatio iste tuus fŭror Hieraus ergibt sich der Nebenbegriff des Verächtlichen: „Die Zuweisung an den Bereich des anderen enthält ja ein Fortweisen aus dem eigenen, was leicht einer Ablehnung gleichkommt.“ (Hofmann / Szantyr)



Muster: „du mit deinem ...“

3. Pers. ille:

illa tempora illud Platōnis

– – – –

ich (manchmal auch alleine: hic – ich) dieser Brief hier der heutige Tag die jetzigen Zeitverhältnisse

– die damalige Zeit – jener berühmte Satz Platons

▶ Wie man sieht, handelt es sich hier nicht nur um eine „demonstratio ad oculos“ – vor dem leiblichen Auge, sondern auch um „demonstratio am Phantasma“ – vor dem geistigen Auge. (Bühler) Muster: „occurrit menti hortus ille paternus“ ▶ Wegen des Adressatenbezuges findet sich iste naturgemäß besonders in Dialogen, Reden und Briefen, in Gerichtsreden besonders bezogen auf den Prozessgegner, 58

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so z. B. unzählige Male in Ciceros Reden gegen Verres; in seinen objektive Distanz suggerierenden Kriegsberichten (3. Person) aus Gallien gebraucht dagegen Caesar iste nur an einer einzigen Stelle, wo er einen Gallier eine Rede mit starkem Appellcharakter halten lässt.

iste

Gegenüber dieser Du-Deixis in der Gesprächssituation entspricht das innertextlich verweisende iste lediglich einem verstärkten is und dient der Hervorhebung eines Nomens. Auch bezüglich im Wahrnehmungsfeld präsenter dritter Personen wird iste manchmal ohne besondere Beziehung auf die angesprochene zweite Person gebraucht.

▶ Bei Rückbezug auf zwei genannte Dinge verweist – entsprechend den Zeigfeldparametern – hic auf „das letztere“, ille auf „das erstere“, so wie im D dieser / jener:

Demosthenes et

Cicero. Hic

Zeigen

Romanus, ille Graecus fuit.

im Text

▶ So wie die 3 genannten Demonstrativa des Dreiersystems auch, wie oben gezeigt, is innertextlich verweisend gebraucht werden, kann man umgekehrt das demon- ← strationslose is, das „kein Wort ist, mit dem man direkt auf Personen oder Dinge → zeigen kann, auch Demonstrativum nennen, da es meist auf einen vorher erwähnten oder folgenden Gegenstand hinweist“ (Holzweissig), ebenso wie das zugehörige „ita“ in der Rede anaphorisch ( ← ) oder kataphorisch / präparativ ( → ) gebraucht wird, im 2. Fall sehr oft in Korrelation mit einem folgenden Relativpronomen: is, qui ... – derjenige, welcher.

Das Mehrzweckwort is wird in einigen Schulgrammatiken schlicht als „anaphorisches Pronomen“ oder Determinativpronomen klassifiziert; „determinieren“ meint hier die häufige Funktion von Pronomina, „das Substantiv, das sie begleiten, als Einzelgegenstand zu bestimmen“, z. B. ille lupus, mea spes, ea res. „Dabei wird dem im Substantiv liegenden allgemeinen Begriff der bestimmte Gegenstand oder etwa der einzelne Vorkommensfall unterschoben“ (Scherer); Äußerlich leicht erkennbar ist diese Funktion an der KNG-Kongruenz zu einem Nomen.

determinativ

Mnemotechnisch empfehlenswert ist eine Dreiteilung der Funktionen: · anaphorisch – er, sie, es:

Cicero venit. Video eum.

· kataphorisch – dieser, der

Is, qui venit, ...

· possessivisch (Gen.) – dessen, deren

Libri eius mihi noti sunt. 59

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III C 7c Demonstrativpronomina: Übersicht

70% a / o, Gen. Sg. –ius aber: Dat. Sg. –i

→ Deklinationsbeispiele: s. S. 43

neben den Demonstrativpronomina auch einige „Pronominaladjektive“, die in nächster Nähe zu Pronomina stehen, überwiegend gar solche sind und daher wie Demonstrativpronomina dekliniert werden: ŪNUS, SŌLUS, TŌTUS, ŪLLUS, ŬTĔR, ALTĔR, NĔŬTĔR, NŪLLUS + das Unikum ĂLĬŬS: Gen. Sg. alterius

Zur Länge des i im Genitiv schreibt Priscian: „In Latinis dictionibus (Wörter) difficile invenies i longam ante vocalem positam, nisi in genitivis in -ius desinentibus.” is Verweiswort

is

ein allein ganz irgendein welcher von beiden der eine von beiden keiner von beiden kein

is ea id, 2 Stämme: 1) i 2) e-

Sg. Nom.

unus – solus – totus – ullus – uter – alter – neuter – nullus –

Pl. ea

id

Gen. eius

iī (ei / i) eae

ea

eōrum eārum eōrum

Dat. eī

iīs / eīs

Akk.

eum eam id

eās

Abl.





eōs



ea

iīs/ eīs

So auch idem < is-dem = derselbe, wobei nur das is-Element dekliniert wird; -dem = Identitätspartikel

dieser, der · anaphorisch, wiederaufgreifendes Personalpron. er sie es · kataphorisch / präparativ, d. h. bezogen auf Folgendes is, qui ... · im Gen. auch possessivisch pater eius – dessen / deren Vater

→ vgl. ibidem

īdem wie identisch

eiusdem usw. (m vor d wird zu n, z. B. eundem < eum + dem,

idem ac / atque idem, qui

{

īdem eadem ĭdem

derselbe wie

vgl. D Scham → Schamde → Schande)

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ipse ipsa ipsum

Hervorhebung Isolierung

Sg.

Pl.

Nom. ipse ipsa ipsum ipsī ipsae ipsa ipsīus Gen. a/o Dat. ipsī

· selbst (im D indekl.), unmittelbar, gerade, sogar, persönlich ipse < is + hervorhebendes -pse =

Akk.

a/o scharfe Isolierung, Abl.

vgl. reapse – tatsächlich vgl. „Solipsismus“

ille illa illud

Sg.

Pl.

Nom. ille illa illud illī illae illa illīus Gen. a/o illī Dat. Akk. Abl.

a/o

· jener (weiter weg) · jener berühmte illud Platonis (s. o.)

aus diesem Pronomen wurde in den romanischen Sprachen der Artikel: il / le / la ... (das L hat keinen Artikel)

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iste ista istud

Sg. Nom.

iste

Gen.

Pl.

ista istud istī

Dat.

istīus istī

Akk.

a/o

istae ista a/o

· dieser (da), der da (bei dir) oft abwertend (s. S. 58)

Abl.

hic haec hoc

Nom. Gen.

Sg.

hic haec hoc hī huius

Dat.

huic

Akk.

hunc hanc hoc

Abl.

hōc

hāc

Pl.

hae HAEC a/o HAEC

hōc

Formal ist hic das schwierigste Demonstrativpronomen: 1. im Sg. in allen Kasus (außer Gen.) deiktisches Suffix -c,

· dieser (hier – bei mir); vgl. hīc = hier · auf unmittelbar Folgendes bezogen, z. B.: haec respondit: … = Folgendes nur 2 Wörter des L „verstoßen“ gegen Neutrum-Regel 2 (s. S. 39): 1) hic 2) qui (s. S. 66)

auch der Gen. Sg. erscheint mitunter mit diesem Suffix: huiusce, ebenso Pluralformen: hisce, hosce ... 2. „verstößt“ wie qui gegen Neutrum-Regel 2

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III C 8 qu-: Interrogativpronomen. Relativpronomen. Indefinitpronomen ? interrogativ = Frage

qu-

…, … relativ = Verweis zurück

indefinit = Unbestimmtheit

▶ Die Form des Fragezeichens ist aus dem Q des lateinischen Wortes quaestio (Frage) abgeleitet: Q > ?

Das Fragezeichen kam, ähnlich wie das Ausrufezeichen, erst in der Renaissance auf. Andere Satzzeichen gehen auf die Antike zurück, die z. B. Punkte (G stigme > L punctum - Stich, d. h. in das beschriebene Material) als Interpunktionszeichen schon kannte, und zwar oben, in der Mitte und unten, wodurch 3 Pausenabstufungen gekennzeichnet wurden (Isidor); ein unten gesetzter Punkt signalisierte einen schwachen Einschnitt (G komma – Schlag, Einschnitt > L subdistinctio). Doch blieb eine akkurate Benutzung der Satzzeichen offenbar auf den schulischen Bereich beschränkt. (Marrou)



Das Wesentliche zum Wandel der Interpunktion in der Textüberlieferung sagen Reynolds / Wilson: In den Texten der antiken Papyri “punctuation was never more than rudimentary. Texts were written without word-division, and it was not until the middle ages that a real effort was made to alter this convention in Greek and Latin texts.”



Einen wichtigen Meilenstein für die Entwicklung einer festen Regelung des Gebrauchs der Satzzeichen in der Neuzeit stellt der bedeutende italienische Buchdrucker Aldus Manutius in Venedig (ca. 1500) dar. Für seine Druckwerke legte er eine Interpunktionsregelung fest, die für die Folgezeit Vorbildcharakter hatte.



Die in dieser Tradition stehende und uns primär aus dem D vertraute neuzeitliche Interpunktionskonvention wird seit eh und je auf lateinische Texte – sowohl in lateinischen Lehrbüchern als auch in den Textausgaben lateinischer Autoren der Antike – übertragen: o tempora, o mores! (Cicero); Domine, quo vadis? (Johannesevangelium).



▶ idg.

kwi war das lautliche Zeichen des Fragens und der Unbestimmtheit.

Labiovelar



Der lateinische „Labiovelar“ qu- , d. h. velarer Guttural (Gaumensegel – Kehllaut: L velum – Segel, L guttur – Kehle) bei gleichzeitiger Lippenrundung (labium – Lippe) scheint der idg. Lautung am nächsten geblieben zu sein.



Das D hat das velare / gutturale Element aufgrund bestimmter „Lautverschiebungsgesetze“ verloren.



In G Dialekten: k-

D über hwi- ← idg. kwi zu w- (vgl. wie)

Exkurs zur Interpunktion



L qui

Sl koji

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▶ qu- wirkt lautlich wie ein eruptiv-affektischer Ausdruck der Verunsicherung ▶ Im D und L ist dieser Labio (-velar), da idg. Erbe, in paralleler Weise multifunktional: A ? Interrogativpronomen



interrogare – fragen

multifunktional



quōs libros legis?

welche Bücher liest Du?

libros, quōs legis

die Bücher, welche Du liest

B Relativpronomen relatum < referre

wiederbringen



Erinnerung:



G anaphora – L relatio: „relativum est ante latae rei recordativum“ (Wilhelm v. Ockham). Das Relativpronomen i. e. S. ist nur eines der vielen Relativpronomina i. w. S. (s. o. anaphorisch), es ist „nichts anderes als das anaphorische Zeigzeichen par excellence“. (Brugmann)

C Indefinitpronomen

si quōs legis

wenn Du welche liest



indefinitus – unbestimmt



„irgend- ...“



im „Kielwasser“ einer betonten Satzstelle (s. S. 67 f., Indefinitpronomina – „nach si, nisi ...“). Die Position solcher unbetonten Wörter (Enklitika) ist in der idg. Sprache auf die Stelle nach dem ersten betonten Wort des Satzes fixiert: Wackernagelsches Gesetz.



Muster: „Wenn was kommt, ...“ Für das L wird dieses Phänomen bestätigt durch Priscian: „Interrogativum est, quod cum interrogatione profertur, ut quis, quot..., cum suos servant accentus. Infinitum est interrogativorum contrarium, ut quis, quot …, cum in lectione gravi accentu („Tiefton“ ≈ unbetont) pronuntiantur.“



Diese Funktion von quis / qui erscheint im L fast ausschließlich im Nebensatz, im Hauptsatz bei den Klassikern hier und dort in Verbindung mit dem coniunctivus potentialis: dixerit quis – jemand könnte sagen (s. S. 145 ff.).

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Der Labiovelar fragt, der Dental (d / t) antwortet

(s. S. 57, demonstrativ / deiktisch) qu- ?

In der Antike differenzierte man zwischen

t- !

?

interrogativum

!

responsivum

korrelativ

quālis?



quantus?



quam?

tam!

(wie / so)



quot?

tot!

(wie viele / so viele)



usw.

D

wer?

der!



wann?

dann!

E

when?

then!



where?

there!



what?

that!

? ←



tālis!

(wie beschaffen / so beschaffen)

L

!

tantus! (wie groß / so groß)

▶ Das multifunktionale Pronomen qui, quae, quod gleicht in seinem Formenausbau zur Zeit der Klassik einem “Kampfplatz” sprachgeschichtlicher Entwicklungstendenzen; es ist ein “heteroklitisches” Wort, d. h. es wird nach verschiedenen Deklinationsmustern flektiert (s. S.36): 1. Dekl.- Prinzip 2. Dekl.- Prinzip

a / o- Dekl.

auf diese beiden Deklinationsprinzipien beziehen sich die Pfeilchen in der folgenden Deklinationsübersicht auf der nächsten Seite!

qui, quae, quod

k / i- Dekl.

qui ist in vielen pronominalen Bildungen das flektierte Basiselement, daher sehr wichtig, s. die folgenden Seiten

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Sg.

Endungen des Gen. und Dat. wie Demonstrativpronomen

{

Pl.

Nom. quī quae quod

quī ←

Gen. cuius

quōrum quārum quōrum ← ← ←

Dat.

cui

quae ←

QUAE

quĭbŭs quĭbŭs quĭbŭs → → →

Akk. quem quam quod → ←

quōs ←

Abl.

quĭbŭs quĭbŭs quĭbŭs → → →

quō ←

quā ←

quō ←

quās ←

„Verstoß“ gegen Neutrum-Regel 2, vgl. HAEC, s. S. 39, 62

QUAE

▶ Gen. und Dat. Sg.: im archaischen L und bei archaisierenden Autoren (z. B. Sallust) erscheint auch hier der Anlaut qu-: quoius, quoi: “c autem in dativo ponimus, ut sit differentia cui et qui.” (Terentius Scaurus) ▶ Als Abl. Sg. diente in alter Zeit auch qui (i-Dekl., für alle 3 Geschlechter), das in klassischer Zeit oft als Adverb gebraucht wird: qui fit? – wie kommt’s? Mit Negation wurde daraus das als Adverb und Subjunktion bekannte quin (s. S. 149), mit „Postposition” (s. S. 177) das auch von Cicero neben quocum gebrauchte quicum. ▶ Nom. / Akk. Pl. n: das in klassischer Zeit als Subjunktion gebrauchte quia (weil) – also noch mit regelmäßiger Neutrumendung – ist die ursprüngliche Form. Diese „Funktionsdopplung“ entspricht der des singularischen quod: aus dem Pronomen quod ist die Subjunktion quod (dass / weil) hervorgegangen. Eine instruktive Analogie im D ist die Entwicklung des Pronomens (Artikels) das zur Subjunktion dass. Viele idg. Sprachen weisen solche aus Pronomina abgeleiteten Subjunktionen auf. ▶ Dat. / Abl. Pl.: die alte (und deshalb von Sallust gerne verwendete) Form quīs wurde im Laufe der Zeit – wahrscheinlich, um einer möglichen Verwechslung mit quis (wer?) vorzubeugen – von quibus überlagert. Solche heteroklitischen „Ausweichbildungen“ sind auch bei Substantiven gebräuchlich: z. B. animabus (von anima, a-Dekl.) vs. animis (von animus, o-Dekl.), filiabus vs. filiis; hierbei weicht gleichsam das Femininum dem Maskulinum in ein anderes Deklinationsmuster aus.

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quis? wer?

quid? was ?

S

quis / quid (nur Sg.) und qui / quod (m / n) flektieren ab Gen. identisch aber: Neutrum-Regel 1: Nom. = Akk. (S. 39)

qui

f

bes.:

substantivisch selbständig, wie Subst., (steht allein)

quod

n

A

adjektivisch wie Adjektiv Bezug zu Nomen

„dreigeschlechtige Pronomina“

1 Substantivisches Interrogativpron. quis venit?

quae

m

1

Adjektivisches Interrogativpron. qui vir venit? welcher Mann kommt?

wer kommt?

s.S. 64

Nach Petrus Helias wird quis deshalb „substantivisch“ genannt, weil es „quaerit semper sibi responderi aliquod nomen substantivum“.

2

2 Substantivisches Indefinitpron.

3

Relativpronomen „wiederbringendes“ Pronomen, verweist zurück

indefinitus – unbestimmt (irgend...), s. S. 68 Indefinitpron.

vir, qui ...

der Mann,



welcher / der



Adjektivisches Indefinitpron.

s. S. 68 Indefinitpron.

si qui vir … falls irgendein Mann …

si quis … wenn (irgend)jemand … 4

am Satzanfang:

relativischer Satzanschluss: demonstrativ = dieser

(oft bei Caesar) Quibus rebus nuntiatis ... nachdem diese Dinge gemeldet worden waren, ... vgl. S. 127 ff. Diese Funktion von qui ist unter „Relativpronomen“ zu subsumieren, da es sich ja auch hier um einen Rückbezug auf etwas bereits Erwähntes handelt.

67

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III C 9 Indefinitpronomina Zusammensetzungen mit quis / qui

„Das L hat durch Erweiterung der alten Indefinita im In- und Auslaut eine große Varianzbreite des indefiniten Ausdrucks erhalten: ali- / -quam / -dam / -que ...“ (Wackernagel)

Deklinationsbeispiele: s. S. 45

• dekliniert wird nur das quis- / qui- Element INDEFINITPRONOMINA = unbestimmt ălĭ- ≈ irgend-

S substantivisch

A adjektivisch steht mit Nomen

selbständig (allein)

Ebenso wie Nom. / Akk. Pl. n. nicht -ae, sondern -a aliquis

In positiven Sätzen

In Sätzen mit Negation (und Fragen)

aliqui

aliqua aliquod

aliquis venit

aliqui vir venit

- (irgend) jemand kommt

- irgendein Mann kommt

{ {

quisquam

(s. S. 60, Pronominaladj.)

aliquid

meist gilt:

S

+



A

ălĭquis

ălĭqui

quisquam

ūllus

quicquam

ūllus

ūlla

ūllum

neque quisquam venit

neque ullus vir venit

- und niemand kommt

- und kein Mann kommt

68

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„Sonderform“ des Indefinitpronomens – angelehnt an Stützwörter (s. S. 64) vgl. „wenn du was willst“ Nach sī /nĭsī, ut / nē u. num, quō, ubi u. cum fällt ALI um.

Interrogativ- und Indefinitpronomen waren im Idg. nur durch Betonung unterschieden. L: 1) quis venit? 2) si quis … D: 1) wer kommt ? 2) da kommt wer

Si quis … wenn (irgend)jemand

S

A



quīvīs quaevīs quidvīs

quīvīs quaevīs quodvīs



quīlĭbĕt quaelibet quidlibet

quīlibet quaelibet quodlibet



quisque quidque

quisque quaeque quodque



quīdam quaedam quiddam

quīdam quaedam quoddam

{

Andere mit quis / qui zusammengesetzte Indefinitpronomina

jeder (beliebige) jeder ein (gewisser)

Verallgemeinernde Relativpronomina (NS)

quisquis quidquid

quīcumque quaecumque quodcumque



jeder, der

wer auch immer

Zu quisque u. ä.: Enklitisches -que löst Fragewörter zum positiv-Allgemeingültigen auf: quis? wer? quisque – jeder

ŭbi? wo? ŭbīquĕ – überall unde? woher? undĭquĕ – von überall her ŭtĕr? welcher von beiden? uterque – jeder von beiden, beide 69

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III D Zahlen Auch die Römer benutzten das dezimale Zahlensystem, dessen enorme Verbreitung „auf eine ursprüngliche Beihilfe der Fingersprache schließen lässt“ (Wundt). Hier kann natürlich nicht auf alle Einzelheiten eingegangen werden; Prinzipiell gilt: Die Kardinalzahlen bilden die „Folie“, von der durch Anfügung spezifischer Suffixe die anderen Zahlenarten abgeleitet werden.

Grundzahlen Reihenfolge Kardinalzahlen Ordinalzahlen cardo – Türangel ≈ Verankerungszahl eins, zwei, drei ... nur die Zahlen 1,2,3 werden dekl. → s.u. dann wieder ab 200

vgl. Intervalle in der Musik: Prim, Sekunde, Terz... erster, zweiter, dritter ... a/o

Multiplikativzahlen

Distributivzahlen

-mal

je...

als Adverbien unveränderlich

a/o

1 ūnus 2 duo 3 trēs 4 quattuor 5 quīnque 6 sex 7 septem 8 octō 9 novem 10 dĕcĕm

prīmus, -a, -um secundus / alter tertius quartus quīntus sextus septimus octavus nōnus dĕcĭmus

idg. sem = 1 (vgl. simplex) sĕmĕl „in die singulī bis Semmel bīnī ter biss der trīnī / ternī quater Kater“ quaternī quīnquiēs quīnī sexiēs . . . . . . dĕcĭēs dēnī

11 ūndĕcĭm 12 duodecim 13 trēdecim 14 quattuordecim 15 quīndecim 16 sēdecim 17 septendecim 18 duodēvīgintī 19 undēvigintī 20 vīgintī

ūndĕcĭmus

ūndĕcĭēs

{



-mus vīcēsimus

ūndēnī

-ies vīciēs

-ni vīcēnī

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. . . -ginta = zig

ZEHNER

-cēsimus o. -gēsimus

30 triginta tricēsimus 40 quadraginta quadragēsimus . . 100 centum centēsimus . -genti / -centi -centesimus HUNDERTER -gentesimus = -hundert . 200 ducenti a / o ducentēsimus 300 trecenti . . . . . 1000 mīlle mīllēsimus (indekl.) oft: Pl. n mīlia (i-Dekl.)



triciēs quadragiēs . centiēs . . . . ducentiēs . . . mīlliēs

Distributivzahlen zu beachten bei „Pluralwörtern“, d. h. pluralischen Wörtern mit Singular-, aber auch Pluralbedeutung: bina castra – 2 Lager binae litterae – 2 Briefe . . . ducēnī . . . mīllēnī

Das „Subtrahieren“ bei 18 / 19 (s. o.), 28 / 29 (duodetriginta / undetriginta) usw. ist vergleichbar mit dem „Subtrahieren“ bei der Bestimmung der Tage des Monats (s. S. 212) – und natürlich mit dem „Subtrahieren“ bei den uns vertrauten „römischen Zahlzeichen“: IV , IX, CD usw. (s. u.).

Nur die Grundzahlen 1, 2, 3 werden dekliniert (dann wieder ab 200, s. o).



1

Muster: Demonstrativpron. S. 38, 56 unus, una, unum unius uni unum, unam, unum uno, una, uno

2

Muster: qui S. 66

3

Muster: Adj. S. 39

duo, duae, duo tres, tres, tria duorum, duarum, duorum trium duobus, duabus, duobus tribus duo(s), duas, duo tres, tres, tria duobus, duabus, duobus tribus

2

mīlia

i-Dekl. (Pl. / n) mīlia mīlium mīlibus mīlia mīlibus

s. S. 60 Pronominaladjektive

71

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Zahlzeichen ursprünglich griech. Buchstaben, s. S. 20 III „Strichliste“, „Fingersystem“ V =

5

V= halbiertes X

L = 50 L = halbiertes [

10 entum 100

Ziffer mit kleinerem Zahlenwert vor einer mit größerem ist zu subtrahieren: XXI = 21, XIX = 19 LX = 60, XL = 40 CD = 400, DC = 600

ille 1000 D = halbiertes Φ Alltag

Anthropologie

D = 500

▶ In unserem Alltag sind lateinische Zahlwörter in den Fremdwörtern der verschiedensten Bereiche omnipräsent, was das Erlernen der lateinischen Numeralia enorm erleichtert: Dezimeter, Zentimeter, Millimeter, Cent, Prozent, primär, sekundär, singulär, binär usw; auf die Intervalle in der Musik als Orientierungspunkt für die Ordnungszahlen wurde schon oben hingewiesen. ▶ Anthropologisch scheint erwiesen zu sein, dass das Abzählen nach Fingern (s. o.) und Zehen als Ursprung unseres Zahlensystems zu gelten hat. So erkannte z. B. Fick, dass das idg. okto (acht) nichts anderes bedeutet als „2 Reihen der spitzen“ (Finger beider Hände – ohne Daumen); denn idg. ak / ok bedeutet „scharf, spitz“ (vgl. L acer), to steht für „zwei“. Das altindische Wort für 20 ist visaiti (L viginti) und bedeutet: „die beiden Dekaden“, d. h. an Händen und Füßen.

idg.

▶ Besonders bei den Zahlwörtern ist die Übereinstimmung der idg. Sprachen gleichsam mit Händen zu greifen, auch wenn hier und dort ein ungeübter Betrachter Voltaires provokante These bewahrheitet sehen könnte, die Etymologie sei die Kunst, in der die Vokale gar nichts, die Konsonanten nur ganz wenig gelten.

1 bis 10

▶ Das Idg. hatte zwei Wörter für „eins“: oinos und sem; oinos kennt auch das Altlat., die Parallele zum D und E liegt auf der Hand, klassisch wurde aus oinos unus. Idg. sem findet sich in semel, singulus, simplex wieder. Idg. duwo / dwo ist wie im L ein Dual (s. S.180), den auch das deutsche Mittelalter kennt: zwo. Im Gotischen, d. h. im Ostgermanischen, heißt zwei twai. Idg. trejes lautet im G treis, im L tres, im D drei. 72

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Bei der Zahl vier sind die Zusammenhänge komplizierter: idg. kwetwores hat sich am reinsten im Slavischen gehalten (Altkirchensl.: četvero), im L wurde es zu quattuor, im Gotischen zu fidwor, im D zu vier. Idg. penkwe erscheint im G als pente, im L als quinque, im Sl. als pet. Das f in fünf und das v in vier ist durch die 1. oder germanische Lautverschiebung zu erklären, bei der idg. Verschlusslaute zu Reibelauten wurden. Der Konsonantismus des Idg. war noch arm an Reibelauten, diese entwickelten sich verstärkt in den Einzelsprachen, ganz besonders im D. (Bach) Idg. seks gleicht dem lat. sex und dem deutschen sechs. Bei der Zahl sieben haben wir „eine der schönsten indogermanischen Wortgleichungen“ vor uns. (Szemerenyi) Idg. septm heißt im Altindischen sapta, im G hepta, im L septem, im D sieben. Das idg. dekm heißt im L decem, im Gotischen taihun, im Althochdeutschen zehan, im Neuhochdeutschen zehn. Dass im D bei der „ersten Lautverschiebung“ aus idg. k- Lauten ein h wurde, lässt sich besonders deutlich an der Zahl hundert aufzeigen: idg. kmtm, L centum, D hundert. So wurde z. B. aus dem idg. kun im G kyon, im L canis, im D dagegen Hund. Von den Ordnungszahlen werden primus und secundus nicht auf der Basis der Grundzahlen gebildet: primus ist verwandt mit prae / pro und bedeutet so viel wie „der Vorderste“, secundus ist abgeleitet von dem Verb sequi und bedeutet: „der Folgende“.

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III E Konjugationsübersicht 1a Erklärungen zur Konjugationstabelle S. 78 f. →Tempussystem S. 82 Begriff

synthetisch analytisch

Lateinisch Deutsch

Stämme

▶ „Coniugatio quasi colligatio, eo quod sub una regula quasi sub uno iugo multa (verba) coniungit”(Commentum Einsidlense zur „großen“ Grammatik des Donatus), s. S. 31. ▶ Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen „synthetischem“ und „analytischem“ Sprachtypus; „synthetisch“ heißt „zusammensetzend“, „analytisch“ bedeutet „auflösend“. Für die Konjugation heißt das: Verschmelzen die Bestimmungselemente (Stamm, Tempuszeichen, Moduszeichen, Personenbezeichnung) zu einem Wort, spricht man von synthetischen Formen, erscheinen sie isoliert als einzelne Wörter, von analytischen Formen. Das Lateinische zeigt – wie viele ältere Sprachen der idg. Sprachenfamilie – bei den finitenVerbformen, d. h. Verbformen mit Personalendung (S. 78 f.), überwiegend synthetischen Formenbau (ca. 75% – nur im Perfektstamm Passiv kommt es zur Analyse = umschreibende Konjugation = coniugatio periphrastica passiva; zur seltenen coniugatio periphrastica activa s. S. 157). Die deutsche Verbalflexion dagegen ist, außer beim Imperativ (geh!), vom analytischen Formenbau geprägt: L Romam venerat vs. D Er war nach Rom gekommen. Hierbei sind die deutschen Umschreibungen im Futur, Perfekt, Plusquamperfekt und im Passiv wohl auf den Einfluss des Vulgärlateinischen oder des Romanischen zurückzuführen. ▶ Lateinische Verben weisen maximal 3 verschiedene Stämme auf, d. h. unveränderliche Basiselemente, welche die Grundbausteine ganzer morphologischer Gruppen oder, einfacher gesagt, ganzer Felder von Verbformen bilden. Die 3 Stämme sind:

I II III

Präsensstamm Aktiv (= Präsensstamm Passiv) Perfektstamm Aktiv Perfektstamm Passiv

Die mit diesen 3 Stämmen als den Basiselementen gebildeten morphologischen Gruppen oder „Stammblöcke“ werden in dieser Grammatik folgendermaßen graphisch symbolisiert (s. S. 78 ff): Aktiv I Präsens- ≈ stamm



II Perfekt- stamm Aktiv

Passiv

III Perfektstamm Passiv

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Die jeweils ersten Formen dieser „Stammblöcke“, also im Aktiv jeweils die 1. Person Singular im Präsens und Perfekt, im Perfektstamm Passiv das PPP (S. 38, 94 f., 129), sind die sog. „Stammformen“ (S. 94 f.). Um den jeweiligen Stamm selbst zu ermitteln, streicht man von diesen Stammformen die Personalendung (ich…) ab, d. h. im Präsens Aktiv das –o (zur a-Konjugation s. u.), im Perfekt Aktiv das –i, der Perfektstamm Passiv wird durch das PPP repräsentiert.

{



Stammformen

Anhand dieser 3 Stämme als der elementaren Grundbestandteile aller Formen des jeweiligen Stammblocks sind alle anderen Formen leicht ableitbar.

▶ Die lateinischen Konjugationen sind in 4 Hauptgruppen die „Grundform“ gegliedert: „Ordines verborum sunt quattuor.“ (Charisius, 4. Jh.) Infin. Präs. Akt. -āre 1 1. a- Konj. Die Konjugationszuordnung erfolgt am leichtesten -ēre 2 2. e- Konj. über den Infin. Präs. Akt. = die Grundform, wie sie z. B. -ĕre 3 3. k- Konj. in Vokabelverzeichnissen von Lehrbüchern geboten wird. -īre 4 4. i- Konj. Wörterbücher dagegen bieten die 1. Pers. Sg. Präs. Ind. Akt., anstelle des Infinitivs wird meist eine Kennziffer geboten: 1 bis 4

Stämme u.

{

Konjugationen

1 bis 4

Zur konsonantischen (= k) Konjugation zählt man traditionell auch die u-Stämme: z.B. tribuere.

Im Infin. Präs. Akt. der e- Konj. ist das e vor der Infinitivendung -re lang, in der k kurz, hier ist das e nur ein eingeschobener kurzer „Brückenvokal“. Merke: langes e ist echtes e

-ēre -ĕre

▶ Die wenigen Verben der -Konj. („gemischte“) sind im Infin. Präs. Akt. in der Bildeweise deckungsgleich mit der k-Konj., die anderen Formen sind (nur) äußerlich überwiegend mit der i- Konj. konform (z. B.: capere, capio). ▶ Ein Unikum: in der 1. Pers. Sg. Präs. Ind. Akt. (sowie in Passiv) wird in der a- Konj. der Stammauslaut -a von der Personalendung -o „geschluckt“ ( laudao > laudo = Kontraktion). Die sich ergebende Form ist bezüglich des Endungsbereiches äußerlich analog der entsprechenden Form der k- Konj. (Konsonant vor -o, z. B.: mitto). Orientieren Sie sich bei der Konjugationszuordnung an den Infinitiven (Präs. Akt.), s. o. -re. ▶ Wie der Name es sagt, endet der Präsensstamm der Verben der k- Konj. mit einem Konsonanten; um lautliche Härten zu vermeiden (Konsonant am Stammende trifft auf Konsonant der Personalendung bzw. des Tempuszeichens -ba- im Imperfekt), fügte man an den entsprechenden Nahtstellen „Brückenvokale“ unmittelbar an den Stamm an. Außer im Imperfekt sind sie kurz.

-ao > -o -aor > -or

k = konsonantisch

▶ Die i- Konj. übernahm zum Teil in Analogiebildung diese „Brückenvokale“, obwohl sie sie ja „eigentlich“ nicht brauchte und im Altlatein auch nicht hatte (Altlat.: audibam, klassisch: audiebam).

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Brückenvokale



Auch das b- Futur der a- und e- Konj. arbeitet mit „Brückenvokalen“ – zwischen Tempuszeichen b und Personalendung, eben dort, wo Konsonant auf Konsonant stößt (s. o.); es sind dieselben Brückenvokale wie im Präs. Ind. der k- Konjugation.



Die Stellen der „Brückenvokale“ sind in der Tabelle auf S. 78 f. mit einem blauen Kreis markiert.



Allgemeine Regel für „Brückenvokale“ in der k- Konj. (in Analogie auch in der i- Konj.) sowie im b- Futur der a- / e- Konj.:

i u e

vor vor vor

s, t, m nt b, r

→ nominale Verbformen: PPA, GU, GV (s. S. 127 u. 136)

▶ Die „Personalendungen“ scheinen im Idg. mit Pronomina zusammenzuhängen: s. S. 53 Personalendungen

1. Sg.: idg. Erbe ist die Doppelbesetzung -o / -m → vgl. L 2. Sg. -s G 3. Sg. -t L 1. Pl. -mus 2. Pl. -tis 3. Pl. -nt

me – mich sy – du iste, vgl. S. 57 deiktisches tom + s = 1. + 2. Pers. Sg. = wir t + s = 3. + 2. Pers. Sg. = ihr n + t = 2 verschiedene Zeichen der 3. Person Sg. = sie

Synthese vs.

▶ Beim Vergleich des Perfektstamms Aktiv mit dem Perfektstamm Passiv springen sogleich Analogien

Analyse im

zwischen den Formen des Hilfsverbs esse (s. S. 90) in den analytischen Bildungen des Passivs und dem Endungsbereich der aktivischen Formen ins Auge; auch wenn diese äußerlich analogen Formen genetisch verschieden sind, ist diese Parallelität doch unter lernpraktischem Aspekt von beachtlichem mnemotechnischen Wert: laudaverat / laudatus erat (Plusqu. Ind.), laudaverit / laudatus erit (Fut. II). Im Perfekt Konj. ist die Analogie nicht auf Anhieb erkennbar, da das ursprüngliche laudavisit (Passiv: laudatus sit) sich u. a. aufgrund des Rhotazismus (s zwischen Vokalen wird zu r) zu laudaverit entwickelte.

Perfektstamm

Die 3. Pers. Pl. Fut. II Aktiv müsste „eigentlich“ laudaverunt heißen (Passiv: laudati erunt); da diese Form aber eine Verwechslungsmöglichkeit mit der 3. Pers. Pl. Perf. Ind. (laudaverunt) mit sich brächte, wurde sie zu laudaverint modifiziert, was auch in der 3. Pers. Pl. zu einer Formengleichheit Fut. II / Perf. Konj. führte; hier war es schon früh zu einer „Vermischung“ gekommen.

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▶ Zur Semantik der verbalen Stammerweiterungssuffixe (s. S. 35): Diese sind bei weitem nicht so zahlreich wie die nominalen (S. 37); die wichtigsten sind:

• wiederholte / verstärkte Handlung → -tare: ventitare – häufig kommen (verba iterativa / intensiva) • Eintritt / Entwicklung der Handlung → -sc-: cognoscere – kennen lernen (verba incohativa) Dieses sc-Suffix bleibt auf den Präsensstamm beschränkt, da dieser die Handlung in ihrer Entwicklung ausdrückt (cognosco), im Perfektstamm „fällt es weg“ (cognovi), d. h. wäre es fehl am Platze, da hier ja die Handlung in ihrem Abschluss („perfekt“) gekennzeichnet wird (s. S. 82 Tempussystem).

Wortbildung durch Suffixe s. S. 35

Die folgende Konjugationsübersicht arbeitet zweigleisig: Die für alle Konjugationen geltende Tabelle auf S. 78 f. hebt nach einem „Setzkastensystem“ oder „Baukastenprinzip“ nur die jeweils spezifischen Bauelemente der Verbformen optisch hervor, d. h. Brückenvokale, Tempuszeichen und Moduszeichen; erfahrungsgemäß ist dieses „reduktionistische“ Verfahren lernpsychologisch wesentlich nachhaltiger als die Präsentation seitenlanger, nach Konjugationsgruppen parzellierter Paradigmentafeln. Auf der Grundlage dieser Tabelle werden dann auf S. 80, gleichsam zum Zwecke der Verständniskontrolle, „fertige“ Konjugationsbeispiele in der 3. Pers. Sg. geboten, da die 3. Person die am häufigsten gebrauchte ist. Bei der Arbeit mit beiden Tabellen ist es wichtig, die Stammformenübersicht (S. 94), die in Gestalt der Stämme die Basiselemente der Verbformen bietet, stets im Auge zu behalten.

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III E 1b KONJUGATIONSTABELLE

Präsensstamm: laudā re Infin. Präs. Akt.

A K T I V

P E R F E K T S T A M M A K T I V

I

Präsensstamm

a / e-Konj. Fut. I

-B-

II

Plusqu.

Fut. II

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Konjugation:

78

a

e, k,

Infin. Präs. Akt. (-re)

k/

-ō s t . .

e

Modus- + a zeichen:

-m s t -BA- mus tis nt

Impf.

Perf.

-ō s t mus tis nt

/i - am ēs et . .

-m s t . i . . -m s t . . .

K

Akt. = Pass.

Präs.

Für alle

KONJUNKTIV

INDIKATIV

Präs. stamm:

P R Ä S E N S S T A M M

monē re

Futur mit Vokalwechsel

Die einzelnen Konjugationen unterscheiden sich nur im Präsensstamm Perfektstamm

- ī - erim istī eris it erit imus erimus istis eritis ērunt erint -m - eram erās s erat Infin. Perf. Akt. (-isse) t eramus s. S. 134 mus eratis tis erant nt - erō eris erit erimus eritis erint

Arten der Perfektbildung: (s. S. 95) = Präs.st.

Dehnung Verdopplung

(auch x = g / c + s)

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Infin. + Imp.

überwiegender „Rest” facĕre capĕre rapĕre fugĕre u.a

dic -ĕ-re Brückenvokal

audī re

Konjugationen gilt: - or ris tur . . .

wie Aktiv

wie Aktiv

a / e-Konj. -B-

III

- or ris tur . .

-r ris -BA- tur . . . k/

/i - ar ēris ētur . .

(wie Aktiv)

Infin.... (wie Aktiv)

essem essēs esset . 2 .

1

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eram PPP erās erat . 2 1 .

P R Ä S E N S S T A M M P A S S I V

PPP

erō eris erit . 2 erunt

r ris tur mur mini ntur

BRÜCKENVOKALE: i vor s, t, m u vor nt e vor b, r

sim sīs sit . 2 .

PPP

Personen:

-r ris tur . . .

PPP sum s. S.90 PPP es est . . 1 2 Wörter = analytisch

1

-r ris tur . . .

P E R F E K T S T A M M

Beispiele/ Auflösung s. nächste Seite 79

P A S S I V

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III E 1c Konjugationsbeispiele (3. Pers. Sg.) zur Tabelle S. 78 f. S. 78 f. als „Folie“ benutzen!

Deutsche Wiedergabe: Indikativ → S. 83 f. Konjunktiv → S. 144 ff. → S. 214

a- Konj. I laudat laudet laudabat laudaret laudabit

laudatur laudabatur laudabitur

Stammformen → 94 / 95 laudetur laudaretur

I

laudo (< laudao) Aktiv ≈ Passiv s. S. 74 f.

II laudavit laudaverit III laudatus est laudatus sit II laudavi laudaverat laudavisset laudatus erat laudatus esset III laudatus, a ,um laudaverit laudatus erit



zum „Stern” s. S. 95

e- Konj. I monet moneat monebat moneret monebit II monuit monuerit monuerat monuisset monuerit

monetur monebatur monebitur

moneatur moneretur

I

moneo

III monitus est monitus sit II monui monitus erat monitus esset monitus erit III monitus, a, um

k- Konj. I dicit dicat dicebat diceret dicet II dixit dixerit dixerat dixisset dixerit

dicitur dicebatur dicetur

dicatur diceretur

III dictus est dictus sit dictus erat dictus esset dictus erit

I

dico

II dixi III dictus, a, um

80

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i- Konj. I audit audiat audiebat audiret audiet

auditur audiebatur audietur

II audivit audiverit audiverat audivisset audiverit

audiatur audiretur

III auditus est auditus sit auditus erat auditus esset auditus erit

I audio

II audivi III auditus, a, um

▶ Die Formen der - und i-Konjugation sind, wie dargelegt, äußerlich weitgehend deckungsgleich; eine Ausnahme bleibt festzuhalten: 2. Pers. Sg. Präs. Ind. Pass.: caperis ( ) vs. audiris (i). Im Konj. Impf. bleibt die auf S. 78 notierte Bilderegel gültig: „Infin. Präs. Akt. + Personalendung“: caperet / audiret. I capit capiat capiebat caperet capiet

capitur capiebatur capietur

capiatur caperetur

III captus est captus sit captus erat captus esset captus erit

II cēpit cēperit cēperat cēpisset cēperit

/i

I capio

II cēpi III captus, a, um

Imperative ▶ Da Befehle sich nicht auf Abgeschlossenes beziehen, werden sie nicht mit dem Perfektstamm, sondern dem Präsensstamm gebildet.

Für den Sg. des gewöhnlichen Imperativs (Imp. I) gilt die einprägsame Regel: Stamm = Befehl , der Plural wird mit –te erweitert; Das ist vergleichbar mit dem D: Geh! / Geht!



Imp. I

a lauda! laudate!

e mone! monete!



k dic! dic-i-te!

i audi! audite!

Brückenvokal 81

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In der k- und - Konjugation halten sich aber nur ganz wenige Verben äußerlich an die genannte Regel „Stamm = Befehl“:

Imp. II

Nebenformen

dīc! dūc! fac! fer!

In Wirklichkeit ist ein kurzes Endungs –ĕ abgestoßen worden (Apokope). Bei den übrigen Verben bleibt dieses –ĕ erhalten: cole! (k), cape! ( )

▶ Zum seltenen Imp. II, der sich nicht auf eine aktuelle Situation, sondern allgemein auf die Zukunft richtet, belehrt uns der antike Grammatiker Diomedes: „Modus imperativus temporis futuri gaudeto tu, gaudeto ille, pluraliter gaudetote vos, gaudento illi.“ Zum Imp. Passiv: siehe unter Deponens, S. 97

▶ Von den sog. Nebenformen sind bes. wichtig die – nicht mit dem Infin. Präs. zu verwechselnden – Formen auf -ēre und -re: -ēre ersetzt manchmal die Endung -ērunt in der 3. Pers. Pl. Perf. Ind. Akt. (laudavere ≈ laudaverunt), -re steht mitunter für -ris in der 2. Pers. Sg. im Präsensstamm Passiv (laudabare ≈ laudabaris); „v-haltige“ Formenbildungselemente im Perfektstamm Aktiv werden manchmal ausgestoßen: laudarunt ≈ laudaverunt / laudassem ≈ laudavissem.

Nominale Verbformen finite u. infinite Verbformen

▶ Die Konjugationsübersicht auf S. 78 f. umfasst die finiten Verbformen, d. h. Verbformen mit Personalendung; im Satz besetzen sie stets die Prädikatsstelle (S. 107 f.). Da die sog. infiniten Verbformen, d. h. Verben ohne Personalendung, die somit nicht Prädikat eines Satzes sein können, den lateinischen verbalen Stil prägen (s. S. 110, 125), indem sie oft satzwertige Konstruktionen initiieren, werden diese Verbformen im Kontext der Satzlehre präsentiert:

Partizipien Infinitive

→ S. 127 → S. 131

Gerundium u. Gerundivum Supinum

→ S. 136 → S. 142

III E 2 Tempussystem → D S. 214 f.

Angesichts der 3 Dimensionen der subjektiven Zeitwahrnehmung, der 3 Zeitstufen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, ist die Existenz der 6 Tempora im L wie im D auf den ersten Blick erstaunlich; z. B. bezeichnen dicebat und dixit beide die Vergangenheit. Der Unterschied liegt außerhalb des rein Zeitlichen: Durch die beiden „Vollzugsstufen“ a) Verlauf / Andauer (= Präsensstamm), b) Abschluss (= Perfektstamm) kommt es gleichsam zu einer „Doppelung“ der Zeiten: 3 x 2. Hierbei sind Plusquamperfekt und Futur II „relative“ Tempora, d. h. ein Verbalinhalt fixiert zeitlich den anderen. In der Geschichte der idg. Sprachen ist das lat. Tempussystem mit dieser binär- symmetrischen Struktur ein grundlegendes Novum. Schon Ciceros Zeitgenosse Varro differenzierte: Präsensstamm = Unvollendetes, Perfektstamm = Vollendetes: infecta / perfecta. Die strenge Unterscheidung zwischen Tempus /

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Zeitstufe und Aktionsart wurde von den stoischen Philosophen der griechischen Antike eingeführt, blieb aber nahezu 2 Jahrtausende wenig beachtet; heute ist sie in jedem Fremdsprachenunterricht selbstverständlich.

Zeitstufe

Tempus

Aktionsart bzw.: Aspekt

P R Ä S E N S S T A M M

P E R F E K T S T A M M

Präsens

Imperfekt „nicht vollendet“

-BA-

„gegenwärtig“

a tempus descriptivum b Hintergrund c Bühnenbild d verbleibend e LINEAR

Futur I

Perfekt „vollendet“

Plusquamperfekt „mehr als vollendet“

Futur II = in der Zukunft (siehe Endung) vollendet



e’ PUNKTUELL d’ vorwärtsdrängend c’ Auftritt b’ Vordergrund a’ tempus narrativum

Impf. / Perf. Präs. •

Fut. I

VZ: Plusqu.

Fut. II

Perf.

meist: NS Zeit Fut. II

Vergangenheit

sich entwickelnd, nicht abgeschlossen = IMPERFEKTIV

Zukunft

„künftig“

-B-

Gegenwart

(wie geschieht es?)

Gegenwart (idg. Perf.)

+ Erzählzeit (idg. Aorist) s. S. 180 ff.

Vergangenheit

HS

vollendet, abgeschlossen = PERFEKTIV

Zukunft

Fut. I

-BA- Die Funktion spiegelt sich in der Form wider: idg. bhwam – ich war; agebam – „ich war beim Treiben“, vgl. umgangssprachlich: „ich war am Lesen“ – „Verlaufsform“. Die idg. Wurzel ist bhu, vgl. auch G physis – das Wachsen. Selbstredend auch das griechische Vorbild für L imperfectum: paratatikos – „sich daneben ausdehnend“.

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-B- Dieselbe Wurzel bhu mit ihrer Betonung des für den Präsensstamm charakteristischen Aspekts der Entwicklung liegt auch dem im archaischen Latein in allen Konjugationen vertretenen bFutur (s. Tabelle S. 78) zugrunde (z. B. audibo!), das aber im Laufe der Zeit in der k- / i- Konj. (s. Tabelle S. 78) vom „Futur mit Vokalwechsel“ überlagert wurde; dieses zeigt nicht zufällig die Modusvokale des Konjunktivs des Präsens,-a- und -e-; für die idg. Ursprache nimmt man nämlich eine Entstehung des Futurs aus dem Konjunktiv an. So kennen z. B. nicht alle idg. Sprachen ein Futur, auch das Germanische hat für dieses keine besondere Form. Über die ursprüngliche Identität Konjunktiv / Futur schreibt schon ein bedeutender Pionier der wissenschaftlichen Grammatik der Neuzeit, Philipp Buttmann, im Jahre 1811: „Die lateinische Sprache bestätigt diese Theorie durch die nahe Übereinkunft des Futurs… mit dem Konjunktiv“ (d. h. in der k- / i-Konjugation), denn wie das Futur ist ja der Konjunktiv semantisch primär vom Aspekt des Prospektivischen (s. Konjunktiv S. 144) geprägt. Warum bei diesem „Futur mit Vokalwechsel“ in der 1. Pers. Sg. das -a- des „lateinischen Konjunktivs“, erst ab der 2. Pers. Sg. das primäre -e- des „indogermanischen Konjunktivs“ gewählt wurde, wird wohl ungeklärt bleiben.

▶ Impf. vs. Perf.

Von besonderer Relevanz sind die Tempora Imperfekt und Perfekt, erstens wegen der Häufigkeit dieser Verbformen, zweitens, weil hier im L und im D divergierende sprachgeschichtliche Entwicklungswege festzuhalten sind: Das lateinische Impf. ist auf den Aspekt des „Nicht-Vollendeten“ fixiert geblieben; das D hat hierfür kein Äquivalent (s. S. 215). Das lateinische Perfekt hat neben dem ursprünglichen Gegenwartsbezug („vollendete Gegenwart“) auch noch die Funktion der idg. „Erzählzeit“ Aorist übernommen, die sich im D im epischen Präteritum wiederfindet (s. S. 181).

{



· Dauer / durativ



· Wiederholung / iterativ

Imperfekt



· Versuch / konativ



· konstatierend / feststellend

{





Perfekt

(in der Erzählung ist das Impf. meist das Tempus der Exposition)

(auch im D Perfekt: „er hat es getan“) → Gültigkeit einer isolierten Einzelheit

· historisch / erzählend





(im D Präteritum: „Dann traf er“) → Glied einer Kette von Ereignissen (story)



· präsentisches Perfekt



z. B.: consuevi – bin gewohnt novi – ich weiß

Ein antiker Lehrsatz fasst den Unterschied zwischen Imperfekt und Perfekt griffig zusammen: „perfecto procedit (was geschah dann?), imperfecto insistit oratio (was war damals?)“.

▶ Plusquamperfekt steht immer für die „Vorvergangenheit“, ist immer mit Plusquamperfekt zu übersetzen („hatte getan, war gegangen“); Futur II wird im D meist mit Präsens oder Perfekt wiedergegeben (cum venero,… - „wenn ich komme / gekommen bin…“).

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III E 3 Klassen von Verben Stämme: s. S. 74 ff. Bei weitem nicht alle Verben der lateinischen Sprache weisen – ebenso wenig wie im Deutschen – das ganze auf S. 78 / 79 vorgeführte Spektrum der möglichen Formen auf. Für den Deutschen überraschend sind bes. die sog. „Deponentien“ (S. 96 f.), (scheinbar) passivische Verbformen, die aktivisch übersetzt werden; Auch die „Defectiva“ verlieren das Verblüffende, wenn man bedenkt, dass das Perfekt zunächst präsentische Funktion hatte, die Erzählfunktion ist sprachgeschichtlich sekundär (S. 84). Zum Passiv schreibt Wackernagel: „Man sollte sich über das Dasein eines Passivs wundern. Es ist ein Luxus der Sprache. Der passivische Satz stellt nichts anderes dar als die Umkehrung des normalen aktivischen Satzes. Viele Sprachen haben überhaupt kein Passiv.“

TRANSITIVE Antike: „verba transitiva“ i.e.S. nach G „metabasis“ i.w.S.

„gehen hinüber“ 1. zum Akkusativ-Objekt 2. ins Passiv (s. S. 108)

Aktiv Präs.laudat stamm er lobt

Passiv laudatur er wird gelobt

transitive Verben = Verben, die ein persönliches Passiv bilden können

Perf.laudavit stamm er lobte

INTRANSITIVE

laudatus est er wurde gelobt

„gehen nicht hinüber“ 1. zum Akkusativ-Objekt 2. ins Passiv bes. Verben der Bewegung

Präs.it stamm er geht

selten: itur - man geht u. ä.

Perf.iit stamm er ging

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DEFECTIVA „defekt“ Präs.stamm

Formen: Perfektstamm Übersetzung: analoge Zeit des Präsensstamms

Aktiv

Passiv

Übersetzung: odi et amo – ich hasse und liebe Perf.- ōdit er hasst stamm mĕmĭnit er erinnert sich

andersartige defectiva: inquam / aio (beide = „sagen“)

odisse – hassen meminisse – sich erinnern

DEPONENTIEN (s. S. 96 f.) aktivische Formen bzw. passivische Bedeutung „auf Deponie“, „abgelegt“ Präs.stamm

passivische Form, aktivische Bedeutung

sĕquĭtur er folgt

Übersetzung Perf.stamm

sĕcūtus est er folgte

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SEMIDEPONENTIEN A Aktiv Präs.stamm

audet gaudet sŏlĕt cōnfīdit

(aktivische Bedeutung) Passiv

er wagt

Perf.stamm

ausus est er wagte gāvīsus est sŏlĭtūs est cōnfīsus est

audere – wagen gaudere – sich freuen solere – gewohnt sein confidere – vertrauen

SEMIDEPONENTIEN B Präs.stamm

(aktivische Bedeutung) revertitur er kehrt zurück

Perf.- revertit stamm er kehrte zurück

Partizip Perfekt: reversus

reverti – zurückkehren 87

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III E 4 verba anomala 1: Erklärungen und Übersicht G / L anomalus – ungleichmäßig ▶ Die idg. Grundsprache weist 2 Hauptklassen der Konjugation auf: I II

thematische Konjugation (G thema – Stamm): Zwischen Wurzel (S. 34) und Endung wird ein Stammerweiterungsvokal gefügt. In den vokalischen Konjugationen (a, e, i) ist das – oft – der Vokal am Ende des Präsensstammes; in der k- Konj. sind es die „Brückenvokale“ (S. 76 ff.). athematische Konjugation: Die Endung tritt unmittelbar an die Verbalwurzel – ohne Stammerweiterungsvokal. Im L finden sich nur wenige Reste dieser Konjugationsform, und zwar in Einzelformen der hier behandelten „verba anomala“. Man kann hier von halbthematischer Konjugation sprechen: fer-i-mus vs. fer-t. I und II sind hier zusammengewachsen; das entspricht dem im L verbreiteten Phänomen des Konkretismus (Zusammenwachsen, vgl. S. 83 f., 145 und 180). Hier zeigt sich, dass die in der lateinischen Grammatik der Antike (und Neuzeit) übliche Einteilung in 4 Konjugationen „unwissenschaftlich ist, da sie oft Formen ungleichen Ursprungs zusammenwirft“ (Lindsay); z. B. gehört das a von stare zur Wurzel, ist kein Stammerweiterungsvokal, wird aber zur thematischen aKonj. gezählt. Bei laudare ist laud die Wurzel, das angehängte a der Stammerweiterungs- oder Stammbildevokal.

▶ Zu den „ungleichmäßigen Verben“ gehört z. B. in allen idg. Sprachen das Hilfsverb: D „sein“, L „esse.“ D: er ist, sie sind – L: est, sunt, vgl. D: du willst, wir wollen, L: vis, volumus alle mit u- Perf.: fui, potui, profui, volui, nolui, malui

{

ESSE – sein + Komposita:

POSSE – können, vgl. E: possible („potentiell“) PRŌDESSE – nützen („für etwas [gut] sein“)

VELLE – wollen + Komposita: FERRE – tragen (+ Komposita)

NŌLLE (verneintes velle) MĀLLE (< magis velle)



ĪRE

– gehen (+ Komposita)

Perf.: tulī s. u. Perf.: iī, iistī (īstī) …

▶ Die ursprüngliche lateinische Endung des Infin. Präs. Akt. -se ist in esse erhalten. ▶ Bei velle / nōlle / mālle ist dieses -se assimiliert zu -lle (velle < vel-se). ▶ Bei ferre und īre endet der Infin. Präs. „vertraut“ auf -re, das -re von ferre ist entstanden aus fer-se (Assimilation), das -re von ire aus i-se (Rhotazismus = s zwischen Vokalen wird zu r, wie bei „normalen“ Verben: laudā-se > laudāre). ▶ Im Präsensstamm ist ferre das leichteste dieser Verben, die Wurzel fer- bleibt unverändert; konjugiert wird nach der k- Konj., abgesehen von den 3 fehlenden „Brückenvokalen“ im Präs. Ind.; daher ist es verständlich, dass um dieses Wort ein 88

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Gelehrtenstreit entbrannte: An dem idg. Alter der athematischen Flexion sei hier nicht zu zweifeln, sagten die einen (Wackernagel, Walde / Hofmann), den anderen schien die Erklärung durch jüngere lateinische Synkope (Vokalschwund, also feritis > fertis, d. h.: ferre = gewöhnliches Verb der k- Konj.) bei weitem vorzuziehen zu sein (Leumann, Sommer, Szemerenyi). Fazit: Die Diskussion um den Grenzgänger ferre spiegelt gut die Polarität der beiden Grundarten der idg. Konjugation. ▶ Für die anderen Verben ist signifikant, dass 1) der Präs. Ind. verschiedene Stämme zeigt, 2) hier an einigen Stellen der „Brückenvokal“ fehlt. ▶ esse / velle / nōlle / mālle haben im Konj. Präs. den alten idg. OptativModusvokal -i- (vgl. laudaverim, vgl. S. 145), nicht wie die „normalen” Verben den Modusvokal -a- oder -e-. Einzuprägen sind 4 heteroklitische Verben (uneinheitlich flektiert) mit suppletiven Stammformen („Ersatzformen“, Muster E: go, went, gone). ▶ esse, sum, fui - sein ▶ ferre, fero, tuli, lātum - tragen ▶ tollere, tollo, sustuli, sublātum - aufheben / beseitigen ▶ incipere, incipio, – A inceptum - anfangen coepi B coeptum



Schwierige Stammformen einiger Komposita von ferre (bes. wegen Assimilationen):



afferre,

affero, attuli,

allātum

< ad- – herbeitragen u. a.



auferre,

aufero, abstuli,

ablātum

< ab- – wegtragen u. a



cōnferre, cōnfero, contuli,

collātum

< con- – zusammentragen u. a.



īnferre,

īnfero, intuli,

illātum

< in-



offerre,

offero, obtuli,

oblātum

< ob- – entgegenbringen u. a.



referre

refero

relātum

< re- – zurücktragen u. a

rettuli

– hineintragen u. a.

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Präsensstammblock (S. 74 / 78 ff.) der verba anomala „wackeln“ nur im Präs. Ind.

ESSE

POSSE

Ind. Präs.

sum es est sumus estis sunt

Impf.

eram < erās erat . . erant

Fut. I

erō < eris erit . . erunt

PRODESSE

Konj. sim sīs sit . . . esam

essem essēs esset . . .

eso

Imp.: es, este PFA: futurus, a, um Infin. Futur: futurum esse = fore Im Impf. Ind. und Fut. I war der Rhotazismus wirksam (s. o.).

possum potes potest possumus potestis possunt poteram poterās poterat . . .

possim possīs possit . . .

prōsum prōdes prōdest prōsumus prōdestis prōsunt

prōsim prōsīs prōsit . . .

possem possēs posset . . .

prōderam prōderās prōderat . . .

prodessem prodessēs prodesset . . .

poterō poteris poterit . . poterunt

prōderō prōderis prōderit . . prōderunt

pot- sum > possum: beginnt die Form von esse mit s, wird ts zu ss assimiliert, beginnt die Form von esse mit e, bleibt pot-

prod- esse: beginnt die Form von esse mit e, erscheint die Grundform prod, sonst pro-

t vor e, d vor e

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VELLE

MĀLLE

vult vŏlŭmŭs vultis vŏlunt

vĕlim vĕlīs vĕlit . . .

nōlō nōn vīs nōn vult nōlumus nōn vultis nōlunt

nōlim nōlīs nōlit . . .

mālo māvīs māvult mālumus māvultis mālunt

mālim mālīs mālit . . .

Impf.

volēbam volēbas volēbat . . .

vellem vellēs vellet . . .

nōlēbam nōlēbās nōlēbat . . .

nōllem nōllēs nōllet . . .

mālēbam mālēbās mālēbat . . .

māllem māllēs māllet . . .

Fut. I

vŏlam vŏlēs vŏlet . . .

Präs.

vŏlō vīs

NŌLLE

PPA: vŏlēns

nōlam nōlēs nōlet . . .

mālam mālēs mālet . . .

PPA: nōlēns Imp.: nōlī / nōlīte bes. + Infin. = Verbot: Noli venire! - Komm nicht!

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FERRE

IRE

Präs.

ferō fers fert ferimus fertis ferunt

feram ferās ferat . . .

ĕō

ĕunt

ĕam ĕās ĕat . . .

Impf.

ferēbam ferēbas ferēbat . . .

ferrem ferrēs ferret . . .

ībam ībās ībat . . .

īrem īrēs īret . . .

Fut. I

feram ferēs feret . . .

īs it īmus ītis

Imp.: fer, ferte s. S. 82

ībo ībis ībit . . ībunt

Imp.: ī, īte PPA: ĭēns, ĕuntis PFA: itūrus, a, um GU/GV: ĕund-

Caesar constituit sibi Rhenum esse transeundum (vgl. S. 134, 138) Von diesen verba anomala bilden nur ferre und ire passivische Formen, ire selten: itur in antiquam silvam.Bei ferre „fehlt“ im Präs. Ind. Pass. an 2 Stellen der Brückenvokal: ferris, fertur, ebenso im Infin. Präs. Pass: ferri

III E 5 verba anomala 2: fieri Konglomerat

facere



In der Formenlehre der lat. Sprache ist das verb fieri ein Unikum, ein janusköpfiges Konglomerat, das nur unter Berücksichtigung der Geschichte der lat. Sprache verstehbar wird. Zwei ursprünglich voneinander getrennte, selbständige Verben in vollem systematischen Ausbau sind hier gleichsam vermengt worden, haben sich zu einem äußerlich disparaten Formenkomplex verschlungen.



Das eine Verb ist facere (machen, tun), das im Altlatein ursprünglich auch im Präsensstamm Passiv regelmäßig gebildet wurde (facitur), das andere ist fieri (geschehen, werden), das zunächst auch autark war, einen aktivischen Infinitiv Präsens (fiere) und ein gewöhnliches aktivisches Perfekt (fii) hatte. Die o. g. „Verschlingung“ dieser beiden Verben führte im klassischen Latein dazu, dass fiere im Präsensstamm mit seinen aktivischen Endungen auch noch die Funktion eines Passivs von facere übernahm, dass aufgrund des neuen – partiell passivischen – Charakters dieses Wortes der aktivische Infinitiv verschwand und nur ein passivischer blieb, eben fieri (s. Infinitive S. 134). Das alte Perfekt zu fiere/ fieri (fii) wurde dafür vom PPP von facere (factum) überlagert und verdrängt.



fieri

▶ suppletiv

In der Momentaufnahme des Formenbestands des klassischen Lateins zeigt fieri also eine suppletive Formenbildung („Ersatzbildung“), der also verschiedene Wurzeln zugrunde liegen, im Präsensstamm die idg. Wurzel bhu (werden), die schon auf S. 83 (Tempussystem) thematisiert wurde; mit dieser Wurzel ist das Verb fieri dazu prädestiniert, den Grundcharakter des Präsensstamms zu repräsentieren, nämlich den der Entwicklung.

kurz:

fieri hilft facere im Präsensstamm Passiv aus; facere hilft fieri im Perfektstamm (Passiv) aus.

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fĭĕrī

fĭĕrī

1

= Passiv von facere

2

geschehen, werden

(der Infin. hat eine passivische Endung, die finiten Formen dagegen aktivische Personalendungen!)

AKTIV facere I facio

nicht wie sonst: Präs. stamm Akt. = Präs.stamm Pass. (s. S. 74 / 78)

PASSIV fīō = i- Konj. fīs fit das i ist lang, auch vor Vokal . .

1

Pōns a militibus fit Fiat lūx! fit, ut …

II fēcī

fīō = i- Konj. fīs fit . .

2

P R Ä S E N S S T A M M

= fieri 1 (…wird gebaut) = fieri 2 (Es werde Licht!) = fieri 2 (es geschieht, dass …)

III factum Pōns a militibus factus est = fieri 1 Facta est lūx = fieri 2 factum est, ut … = fieri 2 (es geschah, dass …)

futurus

Part. Fut. von esse Part. Fut. von fieri 2

P E R F E K T S T A M M

Die Komposita von facere auf -ficere bilden „normales“ Passiv (Präs. stamm Akt. = Präs. stamm Pass.); Die Komposita von facere auf -facere bilden Passiv mit -fīō. Also: perficit – perficitur / patefacit – patefit 93

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III E 6 Stammformen. Die wichtigsten Stammformen (als erste Orientierung) s. S. 74 ff.

▶I

1 2 Präs.3 stamm 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

agō k augeō e cadō k caedō k capiō cēdō k cēnseō e cingō k claudō k cōgō k cōgnōscō k colō k crēdō k currō k dō a

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

AKTIV

dēserō k dētegō k dīcō k discō k dŏceō e sum - faciō ferō (k) flectō k gerō k iaciō īnstruō k invādō k eō - iubeō e

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

legō k maneō e mittō k mŏvĕō e pellō k petō k pōnō k poscō k possum - premō k quaerō k răpĭō rĕgō k rĕlinquō k e rīdĕō

 D: S. 222 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

scrībō stō suādeō tangō tendō teneō tollō trăhō vĕnĭō vertō vĕtō vĭdĕō vincō vīvō volvō

k a e k k e k k i k a e k k k

46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

scrīpsī stĕtī suāsī tetigī tetendī tenuī sustulī trāxī vēnī vertī vĕtŭī vīdī vīcī vīxī volvī

s 2 s 2 2 u s D Pr. u D D s Pr.

Aktiv = Passiv vgl. S. 74

Konjugationsgruppe

Art der Perfektbildung (s. rechts oben) ▶ II Perf.stamm

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

ēgī auxī cecidī cecīdī cēpī cessī cēnsuī cīnxī clausī coēgī cōgnōvī coluī crēdidī cucurrī dĕdī

D s 2 2 D s u s s D v u 2 2 2

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

dēseruī dētēxī dīxī didicī docuī fuī fēcī tulī flexī gessī iēcī īnstrūxī invāsī iī iussī

u s s 2 u (u) D - s s D s s Pr. s

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

lēgī D mānsī s mīsī s mōvī D pĕpŭlī 2 petīvī v pŏsŭī u poposcī 2 pŏtŭī u pressī s quaesīvī v răpŭī u rēxī s relīquī D rīsī s

Wie es beim Lernen der Vokabeln im Falle der Substantive wegen der Deklinationszuordnung unerlässlich ist, den Genitiv mitzulernen, muss man sich bei den Verben die Stammformen einprägen; das tut man am besten anhand eines guten „Grundwortschatzes“, z. B. Grundwortschatz Latein (Langenscheidt).

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PASSIV zur Perfektbildung im Aktiv: („Stern“-Symbol nach Bayer u. a.) Pr. = Präs.stamm

auch x = g + s/ c + s

Dehnung (D) ≈ Ablaut

2 = Verdopplung

z. B.: v – laudāvī u – monuī s – mīsī 2 – pependī Dehnung – vēnī Pr. – dēfendī

← laudāre ← monēre ← mittere ← pendere ← venīre ← defendere

▶ Perfektbildungen auf v/u zeigen bes. die Verben der vokalischen Konjugationen; sie haben sich jedoch auch auf die k ausgedehnt. Diese Bildungen auf v/u sind Neubildungen des L. ▶ Perfektbildungen mit Reduplikation, s und Dehnung finden sich in vielen idg. Sprachen; in der lat. Grammatik nennt man sie traditionell „unregelmäßig“, weil sie sich nicht einfach aus dem Präsensstamm ableiten lassen.

▶ III = PPP (a / o-Dekl.) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

āctum auctum - caesum captum cessum cēnsum cīnctum clausum coāctum cōgnitum cultum crēditum cursum dătum

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

dēsertum dētēctum dictum - doctum - factum lātum flexum gestum iactum īnstrūctum invāsum itum iussum

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

lēctum mānsum missum mōtum pulsum petītum pŏsĭtum - - pressum quaesītum raptum rēctum relictum rīsum

46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

scrīptum suāsum tāctum tentum sublātum tractum ventum versum vĕtĭtum vīsum victum vīctum volūtum

Bei diesen Formen auf -um, von denen die auf -sum und -xum sprachgeschichtlich sekundär sind, handelt es sich um eine Art etablierte „didaktische Reduktion“; ältere Grammatiken differenzieren zwischen -us (m) bei transitiven und -um (n) bei intransitiven Verben (s. S. 85). Da diese Formen auf -um äußerlich dem SUP I gleichen (s. S. 142), spricht man hier mitunter auch vom „Supinstamm“.

{

PPP endet auf: - tum - sum oder - xum

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III E 7 Die Stammformen der wichtigsten Deponentien ▶ Antike

Idg. Medium

Der Begriff „Deponens“ („ablegend“) wurde von den antiken römischen Grammatikern gebildet, war aber schon bei ihnen in seiner Bedeutung umstritten; von ihren verschiedenen Begriffsinterpretationen trifft keine den Wesenskern dieser Verbalklasse. Eine Erklärung operiert auf der formalen Ebene und wirkt etwas „bemüht“: „Deponens per antiphrasin (G) dicitur, id est e contrario, quia verbum r littera finitum (d. h. in der 1. Pers. Sg. Präs. Ind. Pass.) eam deponere non potest et, cum sit passiva specie, activam non habebit, ut nascor, non enim dicimus nasco“ (Charisius). Diese Erklärung steht der „klassischen“ nahe: „Ablegen der aktivischen Formen“. Eine andere Erklärung ist semantisch orientiert und legt das Gewicht auf das „Ablegen“ der passivischen Bedeutung: „Plerique putant dictum esse deponens ab eo, quod r litteram non deponit (s. o.); sed falsum est. (…) Ideo ergo illa verba deponentia dicuntur, quod … significationem ... deponunt … passivam.“ (Explanatio in donatum)

▶ Das Deponens laviert also gleichsam zwischen Aktiv (Bedeutung) und „Passiv“ (Form); es entspricht grundsätzlich der 3. idg. Handlungsart oder Diathese („Verhaltensweise“), dem Medium; das Deponens ist somit eine der vielen Relikterscheinungen in der lat. Sprache (s. S. 180: Konkretismus). Im G ist das Medium als eigenständige Diathese – neben Aktiv und Passiv – weit verbreitet, die Griechen nannten es auch so: G mesotes – Mitte: „handelnd und leidend zugleich“ (Scholia Vaticana zu Dionysios Thrax); in der idg. Sprachgeschichte stellt es offenbar eine Vorstufe zum Passiv dar. Die beiden wichtigsten Aspekte des Mediums – und damit auch des Deponens – sind erstens die Reflexivität (mutatur – er ändert sich, im D also „analytisch“ mit dem Reflexivpronomen wiedergegeben), zweitens die innige Beteiligung des Subjekts an der Verbalhandlung. Es handelt sich primär um Verben, die „ihren Schauplatz in der Sphäre des Subjekts haben, in denen das ganze Subjekt als beteiligt erscheint“. (Brugmann) Viele Deponentien betonen somit die Selbstbezüglichkeit des Menschen – körperlich wie seelisch: versari – sich aufhalten; meditari – nachsinnen, überlegen, laetari – sich freuen, misereri – sich erbarmen.

Also: das Deponens gehört genetisch zur dritten idg. Handlungsart: „Medium“ – „Mittelding“ zwischen Aktiv und Passiv:

Aktiv vertit er dreht

Medium vertitur er dreht sich vgl.: morari, versari niti, queri ...

Passiv vertitur er wird gedreht

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Die Stammformen der wichtigsten Deponentien ( wie bei „normalen“ Verben: a, e, k, , i ) passivische Form / aktivische Bedeutung

P R Ä S E N S S T A M M

P E R F E K T S T A M M



a 1 2 3 4 5 6 e 7 8 9 10 k 11 12 13 14 15



1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15



(s. S. 86)

hortor 16 sĕquor arbitror 17 nancīscor cunctor 18 adipīscor cōnor 19 ūtor moror 20 vehor vēnor 21 oblīvīscor cōnfiteor 22 proficīscor mĕrĕor 23 ulcīscor vĕrĕor 24 aggredior tueor 25 mŏrior fungor 26 pătior lābor 27 orior lŏquor i 28 ōrdior nītor 29 partior quĕror 30 potior hortātus arbitrātus cunctātus cōnātus morātus vēnātus cōnfessus mĕrĭtus veritus tuitus fūnctus lāpsus lŏcūtus nīsus/nīxus questus

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

sĕcūtus na(n)ctus adeptus ūsus vectus oblītus profectus ultus aggressus mortuus passus ortus ōrsus partītus potītus

 D: S. 222

▶ Infinitiv → S. 134



Imperativ im Passiv – äußerlich wie Infin. Präs. Akt.: -re, Pl.: -mini z. B.: loquere! – sprich!



Das „PPP“ der Deponentien kann man wegen der aktivischen Bedeutung auch Partizip Perfekt Aktiv nennen.

▶ Das GV (s. S. 136 f.) der Deponentien hat passivische Bedeutung, z. B.: hortandus – einer, der ermuntert werden muss; Selten auch das PPP: victoriā adeptā – nachdem der Sieg errungen worden ist / war.

▶ ▶

Deponentien „rauben“ sich PPA und PFA aus dem Aktiv, z. B.: sequens – folgend (s. S. 129). Part. Perf. einiger Deponentien haben GLZ-Funktion: arbitratus – in der Meinung, veritus – aus Furcht (s. S. 129, 156).



Da Deponentien sich auf die aktivische Bedeutung beschränken, stellt sich bei ihnen, anders als bei den Stammformen S. 94, die Alternative persönliches Passiv (-us, m) vs. unpersönliches Passiv (-um, n) erst gar nicht. Daher wird das Partizip Perfekt hier traditionell mit der Endung -us präsentiert.

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IV SYNTAX A Grundlegendes Syntax „Setzen“

Dionysios Thrax (s. S. 14) verwendet als erster G syntaxis in dem uns geläufigen grammatischen Sinn: G syntaxis – „Zusammenstellung”, „Ordnung“ / D „Wortfügungslehre“, „Satzlehre“, L constructio / perfectio sermonis / scientia organica. (Thomas v. Erfurt) Alle Sprechtätigkeit besteht darin, Sätze zu bilden. „Satz“ kommt bekanntlich von „setzen“ (vgl. L positio – Setzen / propositio – Satz), vordergründig vom Zusammensetzen von Wörtern zu einer organischen Einheit – wie bei einem belebten Körper bzw. einer Kette spricht man daher von Satzgliedern; letztlich besagt aber „Satz“, dass dieses sprachliche Gebilde etwas „setzt“, d. h. „zu ihm als einer besonderen Wirklichkeit Stellung nimmt“. (Porzig)

1 Umstrittener Satzbegriff

Was ist ein Satz?

▶ Simeon betont, auf die Frage „Was ist ein Satz?“ gebe es bis heute keine einheitliche Antwort; nicht nur die Grammatiker hätten sich nicht geeinigt, sondern auch nicht die Philosophen; die Schuldefinition des Satzes sei nur durch die didaktische Notwendigkeit zu rechtfertigen, ansonsten sei sie unzureichend. Sie lautet: „Ein Satz ist ein durch Wörter ausgedrückter Gedanke.“ Diese Definition bietet auch die ausführlichste wissenschaftliche Grammatik des Lateinischen in deutscher Sprache (Stegmann): „Satz ist der Ausdruck eines Gedankens in Worten. Gedanke ist der geistige Akt, durch den der Mensch zwei Begriffe zu einer Einheit zusammenfaßt“, nach Kants Definition des Denkens: „Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen“. ▶ In der modernen linguistischen Literatur gibt es hunderte verschiedene Definitionen des Satzes – sie erfolgen aus verschiedenen Blickwinkeln: philosophisch-logisch, psychologisch, syntaktisch-grammatisch ... Glinz stellt fest: „‚Satz’ ist weder ein wissenschaftlich scharfer Begriff noch eine überzeitliche Idee oder feststehende Bedeutung.“ 2 Urteil, Satz

Platon

Zunächst zum Satzbegriff der traditionellen Grammatik: Da er aus der „Logik“ übernommen wurde, operiert er mit den Grundbegriffen der Strukturanalyse „logischer“ Urteile. Grundlegend ist Platons Definition des Satzes (im Dialog Kratylos) als Verbindung von Nomen / G onoma und Verb / G rhema. Im späteren Dialog Sophistes gibt er 3 Grundbestimmungen des Satzes:

1. Verknüpfung von Nomen und Verb (im Sinne von Subjekt und Prädikat); 2. Ein Satz ist notwendig ein Satz „über etwas“, 3. hat eine bestimmte Qualität: a) wahr b) falsch 98

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„Für Platon ist der Satz mehr als der Ort der Wahrheit, er ist zugleich auch die Form, in der die Seele denkt.“ (Mojsisch / Rehn)

▶ Mit Platons Schüler Aristoteles setzt man oft den Beginn der „logischen Grammatik“ an. Wie schon sein Lehrer stellt Aristoteles fest, dass der Satz (G logos) die Struktur des „Etwas – über – etwas – Sagens“ hat, G ti kata tinos – daher G kategorumenon (vgl. „Kategorie“) = L praedicatum. In seiner Schrift Vom Satz rekurriert Aristoteles auf seine Kategorienschrift: Dort steht die je individuelle Substanz im Zentrum als das eigentlich Seiende, der Einzelsubstanz stehen die zweitrangigen Akzidentien gegenüber; analog bildet in der Schrift Vom Satz das „Subjekt“ den Mittelpunkt des Satzes, auf das die einzelnen Prädikate bezogen sind. Das „Zugrundeliegende“, G hypokeimenon / L subiectum, ist letztlich das Individuelle, die „erste Substanz“ = Substanz im eigentlichen Sinne, etwas, was nach Kant nur als Subjekt, nicht als Prädikat existieren kann; diesem Zugrundeliegenden werden allgemeine Prädikationen zugewiesen. Der spätantike Aristoteles-Kommentator Simplikios schreibt zum Verhältnis Individuelles – Art – Gattung: „Dass die Art im Individuellen ihr Sein hat, hat er als bekannt übergangen, wie z. B. Mensch in den je einzelnen Menschen. Ebenso hat die Gattung, auch wenn sie in erster Linie über die Art ausgesagt zu werden scheint, nichtsdestoweniger in der individuellen Wesenheit ihr Sein.“ Diese Schätzung der jeweils individuellen Substanz durch Aristoteles wird auf Raffaels Fresko „Die Schule von Athen“ (1510 bis 1511) in den Vatikanischen Museen in Rom durch Aristoteles’ Handhaltung sinnlich greifbar. Er weist mit seiner Rechten nach unten auf das Hier und Jetzt, auf ein einzelnes „dieses Etwas“ (G tode ti), welches, wie der spätantike Aristoteles-Kommentator Ammonios schreibt, gleichsam „unter die Deixis fällt“ (s. S. 52 ff.: Pronomen), während sein Lehrer Platon mit seiner Rechten nach oben, ins Reich der allgemeinen Wesenheiten weist. Dieses „Zugrundeliegende“ also nennt Aristoteles „hypokeimenon“, das Ausgesagte „kategorumenon“. Durch spätantike Vermittlung (Martianus Capella und Boethius) sind diese beiden fundamentalen Begriffe in lateinischer Fassung als „subiectum“ und „praedicatum“ zu uns gekommen und haben bekanntlich Schule gemacht. Hierzu lautet eine Kernstelle bei Boethius: „Simplicium vero enuntiationum (Sätze) partes sunt subiectum et praedicatum.“

Aristoteles

Die für die europäische Geistesgeschichte fundamentale Bedeutung der Begriffe „Subjekt“ u. „Prädikat“ ▶ Dieser Subjektsbegriff ist scharf zu trennen vom neuzeitlichen „Subjekt“ als der „Grundlage der Perzeption und des Wollens“ (Leibniz), vom „Ich“ (vgl. subjektiv). Eher kann man ihn noch mit dem modernen Objektsbegriff in Verbindung bringen; denn die neuzeitliche Entsprechung zu L subiectum ist ja in der deutschen grammatischen Terminologie „Satzgegenstand“. Im E und F bedeuten subject / subject

Subjekt

Objekt

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matter bzw. sujet immer noch Gegenstand. In der neuzeitlichen philosophischen Terminologie und in deren Nachfolge in der deutschen Sprache im allgemeinen „hat sich die Bedeutung der Begriffe Subjekt und Objekt ... in der Zeit zwischen Descartes und Leibniz, vielleicht im Zusammenhang mit dem Wechsel vom Lateinischen in die jeweilige Landessprache, umgekehrt“ (Kible); von der Scholastik, in der der Begriff Objekt zum ersten Mal auftaucht, bis zum 18. Jh. war das Subjekt das „Reale“, das Objekt „das, was als Eindruck, Vorstellung... im Vorstellenden ‚objiziert’, d. h. dem ‚Realen’ entgegengestellt wurde“. (Eucken)

Wende

Logik

▶ Dieser neuzeitliche Wandel des Subjektsbegriffes manifestiert sich exemplarisch in Kants „kopernikanischer Wende“, jener „Revolution der Denkungsart“, dass sich nämlich nicht unsere Erkenntnis nach den Gegenständen (früher ≈ Subjekt), sondern die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten, dass wir also von den Dingen und deren Substanz „nur das erkennen, was wir selbst in sie legen“ (Kritik der reinen Vernunft). In den Prolegomena schreibt Kant: „Nun scheint es, daß wir im Bewußtsein unserer selbst, dem denkenden Subjekt, dieses Substantiale haben.“ So spricht man vom „modernen Subjektivismus“ als dem prägenden Merkmal der neuzeitlichen Geistesgeschichte. ▶ Anders als in seiner Erkenntnislehre – und damit anders als in unserem heutigen Alltagsgebrauch – arbeitet Kant in der von und seit ihm so genannten formalen Logik, wie die Grammatik, mit dem Begriff Subjekt in der auf Aristoteles rekurrierenden Prägung, denn die Logik habe „seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts tun dürfen“, aber auch „bis jetzt keinen Schritt vorwärts tun können“ und sei so „allem Anschein nach geschlossen und vollendet“. (Kritik der reinen Vernunft). In seinem Logik-Handbuch zu Vorlesungen spricht Kant von Subjekt und Prädikat als der „Materie des Urteils“. Ein antiker locus classicus bei Boethius zum Umfangsverhältnis zwischen Subjekt und Prädikat lautet: „Praedicatum semper maius est subiecto vel aequum. Maius, ut cum dico homo animal est. Animal praedicatum, homo subiectum; Maius est animal homine, de pluribus enim quam ipse homo praedicatur. Rursus aequale est, cum sic dicimus: homo risibilis est (kann lachen)… Proprium enim hominis, quod est risibile. Ut autem minus praedicatum inveniatur quam subiectum, fieri non potest.“ ▶ In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant Urteilskraft als „das Vermögen der Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine“ bzw. als das Vermögen, „zum Besonderen das Allgemeine zu finden“, er spricht von der „facultas diiudicandi“ als Klassifikation des Mannigfaltigen in Gattung, Art und das Besondere. Diese fundamentale Denkform findet in einer berühmten spätantiken Einführung in die Kategorienlehre des Aristoteles Niederschlag in der sog. „arbor Porphyriana“, so genannt nach dem Verfasser der Schrift, dem Schüler und Biographen Plotins, 100

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Porphyrios. Diese Einführung war im Mittelalter eine der meistgelesenen und verbreitetsten Schriften auf philosophischem Gebiet. Dieser „Baum“ sieht in graphischer Darstellung – etwas abgeändert – so aus:

Baum des Porphyrios

„Substanz“ i. w. S. „Seiend“ Körperliches

Unkörperliches

Lebewesen sterbliche L. Menschen

unsterbliche L.

u.s.w.

Tiere

Sokrates Platon u.s.w. = Substanz i. e. S.

d. h.:

{

Gattungen Arten

Extension

{

zweite Substanzen

maximale

das „Generellste“

„universalia“

minimale Extension

L individuum < G atomon, vgl. „Atom“ – „unteilbar“ = Aristoteles’ „erste Substanz“, G hypokeimenon = L subiectum

„Hypokeimenon enim apud Aristotelem duo maxime significat: tum (1.) in enuntiatione rem, de qua altera dicitur (subiectum apud grammaticos), tum (2.) in rerum natura substantiam actionibus quasi substratam. Utraque vi hypokeimenon a Latinis subiectum translatum est… Ita subiectum media aetate (Mittelalter) substantiam pollet (bedeutet) substratam neque aliter apud Cartesium (Descartes) et Spinozam.“ (Trendelenburg)

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▶ Auf Platon und Aristoteles zurückgreifend, der von einer Schichtung der Begriffe nach „oben“ (Universales) und „unten“ (Partikulares) spricht, bezeichnet Hans Leisegang die oben skizzierte Denkform in seinem bedeutenden Buch Denkformen als die pyramidale. In dieser Begriffspyramide sind, wie oben erwähnt, die sog. „ersten Substanzen“, da je Individuelles, nicht Prädikat einer Aussage, nur die sog. „zweiten Substanzen“, als Arten und Gattungen, sind Prädikate; das, was von einem subiectum ausgesagt werden kann, nennt man praedicabile – das „Aussagbare“, im Hinblick auf das individuelle subiectum ein Allgemeines / Universales; allgemein, weil es alles vereinigt, universal, weil es alle Dinge einer Klasse zu einem einzigen macht, wie z. B. das Wort „Mensch“ (nach William of Sherwood), d. h. die Vielheit des Wirklichen wird zur Einheit des Begriffs gebracht. Griffig formuliert Eco das Problem: „Das Drama besteht darin, dass der Mensch immer im allgemeinen redet, während die Dinge jeweils einzelne sind.“

Für Aristoteles liegt das Subjekt eines wissenschaftlichen Urteils im Bereich der „zweiten Substanzen“, da der Gegenstand der Wissenschaft das Allgemeine sei; hier folgt er seinem Lehrer.





.... praedicatum (über etwas) ... subiectum (sub – unter, von Petrus Abaelardus auch fundamentum genannt)

Es gehört zu dem weltgeschichtlich einmaligen Beitrag der Griechen zur „Entdeckung des Geistes“ (Snell), dass, wie Leisegang betont, Platon der Schöpfer der Begriffspyramide mit den integralen Bestimmungsstücken Subjekt und Prädikat und damit der Schöpfer der Theorie des logischen Urteils ist: „Hier an der Quelle wird zugleich der feste Zusammenhang zwischen der Begriffspyramide und dem Denken klar, das bis zu Kant und Hegel als das logische schlechthin galt... Die Begriffspyramide ist unser geistiges Ordnungsschema.... Die Urteile dienen zur Bestimmung eines Gegenstandes zum Zweck seiner Einordnung in ein solches System ..., Urteile, die an den zu ordnenden Gegenständen (Subjekten) Merkmale (Prädikate) hervorheben.“ Der Begriff der Gliederung dominiert den ganzen Bereich der Sprache, „die Sprache ist im Äußerlichsten und Innerlichsten, im Größten wie im Kleinsten gegliedert, und sie ist gleichzeitig auf allen diesen Stufen Mittel zur Gliederung der Wirklichkeit“. (Porzig)

Grammatik und Logik als Disziplinen der „sieben freien Künste“ Antike

▶ Dass die Grammatik der Antike auf sehr weite Strecken hin syntaxlos war und dass die heute in den Schulen gängige Satzgliedgrammatik eine Schöpfung des 19. Jh.’s ist, wurde schon im einleitenden Teil dieser Grammatik dargestellt. Dass sich in der antiken Tradition die Grammatik fast ausschließlich auf Laut- und Formenlehre 102

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beschränkte, hängt u. a. zusammen mit der gleichsam bildungsorganisatorischen Trennung zwischen Grammatik und Logik im Kanon der allgemeinbildenden Fächer der Antike und des Mittelalters. Das antike Bildungsprogramm ist zusammengefasst in den „septem artes liberales“, den sieben „freien“, d. h. „eines freien Mannes würdigen Künsten“. Dieses Programm rekurriert auf das griechische Konzept der „enkyklios paideia“ (etwa: Allgemeinbildung, vgl. Enzyklopädie) und ist als festes System greifbar „wahrscheinlich schon bei Aristoteles, bestimmt aber um die Wende vom 4. zum 3. Jh. v. Chr.” (Kühnert). Noch heute kennt man den „magister artium“ (M. A.). Die sieben Fächer waren: drei sprachlich-logische, vier „mathematische / pythagoreische“ Fächer:

Trivium: Quadrivium:

Grammatik, Dialektik / Logik, Rhetorik Musik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie



Das Ziel war, wie in neuzeitlichen pädagogischen Konzepten, etwa bei Humboldt, eine formale Verstandesschulung, Ausbildung zur Urteilsfähigkeit und Vermittlung einer gewissen geistigen Kultur.



„Das System der artes liberales übermittelt dem Abendland die spätantike Bildungstradition. Dem christlichen Mittelalter bedeutet es die zeitlos gültige Ordnung alles Wissens. Die Gesamtheit der artes liberales kann der Philosophie gleichgesetzt werden.“ (E. R. Curtius)



Man kann hierbei also, überspitzt formuliert, von einer Art Arbeitsteilung zwischen Grammatik und Logik sprechen. Die Kompendien der Spätantike zu den artes liberales zeigen sehr deutlich: Die Grammatik beschränkt sich auf den beschriebenen engen Rahmen, die Logik untersucht – stets in Anlehnung an die logischen Schriften des Aristoteles (Organon) – in einem Dreischritt die Themenbereiche Begriff, Satz, Schluss. Die Grammatik bildet das „fundamentum liberalium artium“ (Cassiodor), sie ist eine Art Hilfswissenschaft.



▶ Im Zeitalter der Scholastik beginnt für die Grammatik mit dem Eindringen der Dialektik und der Rezeption des „neuen Aristoteles“ (in erster Linie durch neue lateinische Übersetzungen aus dem G) eine neue Phase; „die traditionellen Redeteile werden auf ihren philosophischen Gehalt hin durchleuchtet.“ (Roos) ▶ Für die rationalistische Grammatik des 17. Jh.’s ist „Sprache ein direkter Reflex des Denkens“ (Schmidt); um die Grundlagen der Grammatik zu begreifen, müsse man die Vorgänge im Verstand kennen. Über die neuen Impulse im 19. Jh. (Satzgliedgrammatik / Indogermanistik) wurde schon auf den Seiten 15 bis 17 gesprochen (vgl. S. 106).

Scholastik

Neuzeit

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Erweiterte Ansätze Urteil Satz

▶ Der oben skizzierte „aristotelische“ logische Sprachgebrauch von Satz beschränkt sich also auf Aussagesätze, weil nur hier zwischen wahr und falsch differenziert werden kann. Dieser Satzbegriff deckt natürlich nicht die Vielförmigkeit der sprachlichkommunikativen Lebenswirklichkeit ab. Nach Protagoras (s. S. 13) besteht die Leistung der Sprache in 1. Aufforderung, 2. Ausruf, 3. Frage, 4. Antwort; d. h.: Das Urteil ist nur eine Unterart des Satzes. Die Natur, d. h. Komplexität der Sache brachte es bereits in der Antike mit sich, dass in der wissenschaftlichen Erörterung der Satzarten neben der Logik auch Grammatik, Psychologie und allgemeine Anthropologie ihr Recht einforderten. Ein Anonymus unter den spätantiken Aristoteles-Kommentatoren schreibt: „Die Kräfte der vernunftbegabten Seele sind zweifach gegliedert; die einen sind auf das Leben bezogen, die anderen auf das Erkennen. Durch die Erkenntniskräfte denken wir, und was wir denken, sagen wir in Aussagesätzen aus. Durch die auf das Leben bezogenen Kräfte begehren wir. Aus diesen Kräften ergeben sich Fragen, Wünsche und Befehle.“ Urteil / Aussage Befehl / Wunsch • !

Frage ?







Satz Satz

Urteil / Aussage

So betont um 800 n. Chr. Alkuin bezüglich der Satzarten, das Urteil gehöre in den Bereich der Logik, doch seien die „species interrogativa et vocativa … non ad dialecticos, sed ad grammaticos pertinentes“. Besonders Befehle / Wünsche und Fragen sind Träger des Affektiv-Emotionalen; solche Sätze werden gewöhnlich stärker betont, liegen stimmlich in höheren Registern. Für das L bestätigt dies – unter dem für die actio (Vortrag) wichtigen Aspekt der rhetorischen Psychologie – z. B. der Rhetorikprofessor Quintilian. Hierher gehört auch die Lehre von den Modi (bes. S. 144 : Konjunktiv), welche die Griechen treffend enkliseis, d. h. psychische Neigungen, nannten (L varia animi inclinatio, vgl. S. 32).

▶ Besonders seit der Neubegründung der Sprachwissenschaft im 19. Jh. bemüht man sich verstärkt um die Klärung des Verhältnisses Satz / Urteil, Grammatik / Logik und Psychologie (Elling). Das liegt natürlich auch daran, dass sich neben dieser Neupositionierung der Sprachwissenschaft eben zu dieser Zeit die Psychologie, 104

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wie andere Disziplinen, von der Philosophie, deren Teil sie bislang gewesen war, emanzipierte und sich die Etablierung als autonome, deskriptive Wissenschaft „um den Preis inhaltlicher und methodologischer Anleihen bei der Naturwissenschaft erkaufte“ (Scheerer). Besonders H. Paul spricht von der Unzulänglichkeit unserer herkömmlichen grammatischen Kategorien, wobei „alle grammatischen Verhältnisse einfach aus den logischen abgeleitet werden“. Diese Kategorien seien ein „sehr ungenügendes Mittel, die Gruppierungsweise der Sprachelemente zu veranschaulichen. Unser grammatisches System ist lange nicht fein genug gegliedert, um der Gliederung der psychologischen Gruppen adäquat sein zu können.“ ▶ Fasst man den Satzbegriff weit, kann man z. B. auch eine blanke Interjektion (etwa: „ach!“), die ein Symptom eines emotionalen Erlebnisses darstellt, in ihrer kommunikativen Funktion als „affektiven Kurzsatz“ bezeichnen. Auch in der Geschichte der Sprachwissenschaft war im 17. Jh. Leibniz, das vielseitige Genie, wegweisend, z. B. durch seine Vision einer weltumspannenden vergleichenden Sprachwissenschaft; in seinen Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand spricht er beiläufig vom „vollständigen Sinn“ der Interjektionen: „Im übrigen können nach meiner Meinung nur Interjektionen für sich allein bestehen und alles in einem Wort sagen, wie z. B.: Ach, Wehe!“ Solche „eingliedrigen Sätze“ stellen Abkürzungen oder Verdichtungen von mehrgliedrigen Sätzen dar. Brugmann fasst sie unter 4 Punkten zusammen: Interjektion, Vokative, Imperative und Impersonalia (unpersönliche Ausdrücke = es ...). „Seit urindogermanischer Zeit kamen so namentlich Ausdrücke für Naturerscheinungen vor“, z. B. L pluit – D es regnet. ▶ Eine gängige Unterscheidung zwischen „Wort“ und „Satz“ bietet Saussure (20. Jh.): „Wörter sind Einheiten der Benennung, der Satz eine Einheit der sprachlichen Kommunikation und enthält immer diese oder jene Elemente der Benennung.“ „Kommunikative Bezüge“ und das „Sinnganze“ sind jetzt „neue“ Bezugsgrößen in der Diskussion. Zwar beinhaltet schon eine ganz frühe Definition von Satz in der ersten Schulgrammatik Europas (Dionysios Thrax, vgl. S. 14) als wesentliches Bestimmungsstück einen „in sich geschlossenen Sinngehalt“; als Ziel des Satzes wird von Thomas v. Erfurt bestimmt: „generare perfectum sensum in animo auditoris“ (= Kommunikation). Doch im Laufe des 20. Jh.’s erweitert sich die klassische Satzgrammatik unter dem Einfluss der Hermeneutik (S.111) einerseits, die das Was, und der Linguistik andererseits, die das Wie der Mitteilung im Auge hat, unter dem Aspekt der Kommunikation als der „dem Menschen eigenen durch Mitteilung erwirkten Gemeinschaft gegenseitigen bewußten Verständlichwerdens“ (Jaspers) zur Textgrammatik (S. 113), d. h. nicht mehr der isolierte Satz, sondern die Struktur des Textganzen und die textbildenden Faktoren stehen im Focus der Untersuchung.

Urteil

Satz

19. Jh. Logik vs. Psychologie

Wort / Satz

Kommunikation

Text

Text

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IV A 3 Die klassische Satzgliedgrammatik – Expansion / Reduktion. Transformationsgrammatik 5 Satzglieder



Die „traditionelle“ Grammatik (s. S.16) unterscheidet 5 Satzglieder (bzw. 4 Satzglieder + 1 Satzgliedteil, s. S. 109). Von fundamentaler Bedeutung für das Erfassen der Struktur eines Satzes als eines Gebildes von Satzgliedern ist die Einsicht, dass diese Satzglieder in ihrer äußeren Erscheinungsform – bei Wahrung ihrer wesentlichen Funktion – eine mannigfaltige Varianzbreite aufweisen.



Hierzu Wilhelm v. Ockham (13./14. Jh) : „Et isto modo etiam una propositio (Satz) potest esse pars propositionis. Haec enim (propositio) vera est: ‚homo est animal: est propositio vera’, in qua haec tota propositio ‚homo est animal’ est subiectum, et ‚propositio vera’ est praedicatum.“



Weiter entwickelt erscheint die Expansionstheorie etwa bei Scioppius (17. Jh.); z. B. sei in dem Satz „Quaeritur, quis naves primus invenerit“ der NS „quis naves primus invenerit“ das „suppositum“ (damals ein geläufiges Äquivalent für „subiectum“). Im vollen systematischen Ausbau findet man diesen Ansatz in der heute geläufigen Becker-Herlingschen Satzgliedgrammatik, wie sie hier und auf den folgenden Seiten behandelt wird.

Subjekt

Objekt

1 WORT: Caesar Galliam subegit. wer? o. was? EXPANSION: Notum est Caesarem Galliam subegisse ACI als Subjekt (s. S. 131)

Satzglieder

Caesar consilium suum proponit. wen? o. was? Caesar proponit, quid sui consilii sit. „Objektsatz“

als Chamäleon

Adv. Best. Tum in Gallia duae erant factiones.

wann?

Attribut Caesar bellum Gallicum describit was für ein?

Cum Caesar in Galliam venit, duae ibi erant factiones.

Caesar bellum, quod in Gallia gessit, describit.

„Adverbialsatz“

„Attributsatz“

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Werden Satzglieder nicht durch ein Wort, sondern durch eine Wortgruppe oder einen ganzen NS / GS ausgedrückt, spricht man von expandierten Satzgliedern; Nebensätze / Gliedsätze sind Glieder des „Großsatzes“ oder „Gliedersatzes“. Das gesamte Satzgefüge nennt man auch Periode (s. S. 117). Kurz: ein NS ist ein zur Satzform expandiertes Satzglied.

expandierte Satzglieder

Periode

Prädikat :



Nur das Prädikat kann nicht zum Gliedsatz expandieren, es erscheint immer entweder als Vollverb oder als Hilfsverb + PN (s. nächste Seite), bleibt also immer an die Wortart Verb gebunden und ist fast immer mit einer Personalendung versehen, außer beim ganz seltenen „historischen Infinitiv“ (z. B. bei Sallust), der für ein Prädikat steht. Dieses Phänomen der Expansion / Reduktion der Satzglieder bildet den Ausgangspunkt der sog. Transformationsgrammatik, als deren Archeget Noam Chomsky gilt. Die Transformationsgrammatik untersucht die Umwandlung grammatischer Strukturen in neue Strukturen, die grammatisch äquivalent sind, denn: „It is important to observe that the grammar is materially simplified when we add a transformational level.“

finite Verbformen

Transformation

IV A 4 Basismodell des Systems der Satzglieder und Erklärungen ▶ Subjekt und Prädikat bilden das Zentrum, den Kern, gleichsam die Schaltzentrale des Satzes. Von diesem „Satzkern“ ausgehend nennt man die anderen Satzglieder „Satzergänzungen“. Priscian: „Partes orationis sunt secundum dialecticos („Logiker“) duae, nomen et verbum (im Sinne von Subjekt und Prädikat), quia hae solae etiam per se coniunctae plenam faciunt orationem, alias autem partes ‚syncategore mata’ (‚Mitbezeichnende’), hoc est consignificationes, appellabant.“

H. Brinkmann interpretiert das Subjekt-Prädikat-Verhältnis als Spannungsverhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit: „Vom Subjekt blicken wir auf kommende Möglichkeiten voraus; vom Prädikat, der nunmehr erreichten Wirklichkeit, aus blicken wir auf das Subjekt zurück und erkennen, daß die eine mit dem Prädikat gesetzte Wirklichkeit unter den Möglichkeiten war, die mit dem Subjekt eröffnet wurden.“



„Abstrichmethode“ nennt man das Verfahren, alle Satzerweiterungen herauszustreichen, um so zum Kern des Satzes vorzudringen. „Uns ist keine andere linguistische Methode bekannt, die zur Erfassung der Grundform unserer Sätze führt“ (Duden IV); z. B.: Die Rosen blühen in unserem Garten.



Im Abhängigkeitsgefüge des Satzes kommt dem Prädikat die entscheidende Position zu – von ihm sind notwendige oder freie Ergänzungen abhängig. Schon Priscian sieht im Verb / Prädikat den Kernbestandteil der Sprache. Als „Zeitwort“ setzt es die thematisierte Sache „in die Zeit und damit in einen Bezug zur Welt“ (Niggli). Daher ist das Prädikat „das eigentliche Kraftzentrum in der geistigen Gesamtform des Satzes“. (Glinz)

Satzkern

Satzergänzungen

S. 110 Verb = Kraftzentrum

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PN

Attribut

▶ Das Prädikat wird gebildet von a) einem sog. „Vollverb“ (er läuft) oder b) einem „Hilfsverb“ mit Prädikatsnomen (er ist Läufer), d. h. einem Nomen, das mit dem Hilfsverb das Prädikat bildet. Da dieses Hilfsverb die Funktion hat, das Subj. mit dem PN zu verbinden, nennt man es seit dem frühscholastischen Philosophen Petrus Abaelardus „copula“ – Band. In diesem Fall spricht man auch von einem „aufgelösten Prädikat“. (Madvig)

Ein PN kann jedes Nomen sein, auch eine nominale Verbform (s. S. 127 ff. und 138).



PN ist Subst.: PN ist Adj.: PN ist Pronomen: PN ist Partizip: PN ist GV:

Caesar dictator est. Caesar crudelis est. Quidquid id est, … Caesar occisus est. (= Perfekt Passiv, s. S. 38, 79, 95) Rhenus transeundus est. (s. S. 138)

▶ In jüngster Zeit wird das Attribut vielfach „nur“ als „Satzgliedteil“ bezeichnet, da es keine kategoriale Selbständigkeit besitze, nur an eines der 4 Satzglieder angegliedert sei. Nach dieser Konzeption also: 4 Satzglieder + 1 Satzgliedteil. ▶ Zu intransitiven / transitiven Verben (Akk.-Objekt) schreibt Thomas v. Erfurt:

Objekt

transitive, intransitive Konstruktion s. S. 85



„constructio intransitiva – nititur identificari ad idem“ = Prädikatshandlung bleibt auf Subjekt beschränkt.



„constructio transitiva – nititur diversificari ad diversum“ = Prädikatshandlung „geht hinüber” (transit) auf ein „diversum“ (obiectum).



„Et sciendum, quod istae duae differentiae, transitivum et intransitivum, sumuntur in constructionibus metaphorice, id est per quandam similitudinem transitus realis.“ Seine beiden Beispiele lauten:

1. intransitiv: Socrates currit. Subj. Präd. 2. transitiv:

Socrates percutit Platonem. Subj. Präd. Obj. (das Schlagen „geht hinüber“ auf Platon)

„Objekt“ (das der Handlung des Verbs Gegenüberliegende) wurde erst im 19. Jh. zum gängigen grammatischen Terminus. Vorher war hierfür der Begriff appositum verbreitet. „Transitive Verben“ fassen die antiken Grammatiker oft weiter (+ Gen., Dat., Akk., Abl.), die traditionelle Definition beschränkt sich auf die Ergänzung durch Akkusativ. Muster bei Priscian: „Aristophanes Aristarchum docuit.“

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▶ Zum PV (Prädikativum) s. S. 139 In einigen lateinischen Grammatiken der jüngsten Zeit wird das PV als spezifisch lateinisches Phänomen als weiteres Satzglied gezählt.

Objekt P R Ä D I K A T

Attribut

was für ein? / welcher? zu jedem Nomen in jeder Funktion

wem? wen? Akk.

transitiv S. 85

Subjekt Prädikat wer? was?

→ S. 98, 107, 110

PV

selten: wessen? im L wie im D ist das Genitivobjekt eine Relikterscheinung. D: eines Besseren belehren, der Stütze berauben L → Genitiv S.167 Ablativ S. 175 (selten als Objekt)

was tut er? was ist er? copula + PN was geschieht mit ihm?

P R Ä D I K A T

Adverbiale Bestimmung

wo tut er? wann tut er? wie tut er? ... 109

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IV A 5 Dependenzgrammatik: Relevanz für das Lateinische

dependentia

▶ Der Terminus dependentia („Abhängigkeit“) ist ein im Rahmen der Syntaxtheorie des Mittelalters entwickelter Begriff; er findet sich etwa bei dem „Modisten“ Martinus de Dacia (13. Jh.). Die mittelalterliche Satzkonstruktionsordnung mit dem Verb im Zentrum „liegt bis zum 18. Jh. der Satzanalyse zugrunde. Hierbei werden die Satzglieder bestimmt nach einem auf das finite Verb ausgerichteten praecedere und sequi.“ (Pfister)

im Mittelalter

Verb als Mittelpunkt

▶ Die Dependenzgrammatik des 20. Jh.’s lehnt das klassische Satzgliedmodell ab und spricht von einer verbalen Satzgliedebene (incl. Infin., Part., ...) und einer nichtverbalen Satzgliedebene.

Verbalnomina sehr wichtig

Das Verb bildet (wieder!) den Satzmittelpunkt, „um den herum sich der Satz gruppiert“ (Elling). Die Dependenzgrammatik lehrt, dass „der Anfangsknoten einer jeden Satzstruktur mit dem Verbalbegriff besetzt ist, dass gerade und allein dem Verb die Eigenschaft zukommt, bestimmte nominale Einheiten in seiner Umgebung zuzulassen bzw. zu verlangen“. (Weber)

▶ In unserem (lat.) Kontext muss dem insofern Relevanz eingeräumt werden, als es bei der großen Vorliebe des Lateiners für verbalen Stil (s. u. die Verbalnomina, bes. Infinitive und Partizipien) und die durch Verbalnomina initiierten satzwertigen Konstruktionen eminent wichtig ist, diese Verbformen aufgrund ihrer strukturleitenden Funktion stets primär ins Auge zu fassen. „Immer zuerst zu Verbformen, dann zu deren Erweiterungen!“ – heißt die Strategie bei der Satzerschließung. Sensibilisieren Sie sich für Verbformen – besonders für die nominalen! (s. u.)

{ {

Ein Beispiel: Helvetii omnium rerum inopia adducti legatos de deditione ad Caesarem miserunt. (S. 129) Die Abhängigkeiten in diesem Satz lassen sich folgendermaßen darstellen:

Verbalbereich I mit Prädikat als Zentrum

A „obere Satzebene“: MISERUNT ... (Satzkern) legatos ad Caesarem

„Spirale“



→ S. 107, 108, 125 Verbalbereich II mit nominaler Verbform als Zentrum

B „untere Satzebene“ „verkürzter Satz“:

„veranlasst durch den Mangel an allen Dingen“

(Helvetii)

de deditione ADDUCTI (veranlasst)

typisch: die „Rangfolge“ der Wörter im Abhängigkeitsgefüge steht in inopia gegenläufigem Verhältnis zur Stellung der Wörter im Satz. rerum Daher: Meiden Sie die „Wort-für-Wortomnium Methode“!

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In B liegt eine durch eine nominale Verbform (hier: PPP) initiierte „satzwertige Einheit“ vor (s. S.127 ff. PC und S. 139 PV).



Um einen Vorgeschmack auf solche „satzwertigen Einheiten“ im L zu geben, seien hier 2 Beispiele aus dem Deutschen angeführt, wie sie auch – nur sehr viel häufiger – im L auftreten:



Infinitiv: „Im Theater sieht man Schauspieler auf der Bühne stehen.“



satzwertige Einheit mit Infinitiv

deutsche Beispiele

Partizip: „Beide Männer, ein wenig hinter ihm stehend, schlugen auf ihn ein.“ (Duden, IV) satzwertige Einheit mit Partizip



Da in der deutschen Sprachgeschichte (ab dem 15. / 16. Jh.) solche Partizipialkonstruktionen als Imitationen lateinischen Stils erwiesen sind, bieten sie eine sehr gute muttersprachliche Ausgangsbasis für das Verständnis lateinischer Stileigenheiten.

IV B Text- und Satzerschließung

1 Hermeneutik



Sprachliche Kommunikation besteht in der Vermittlung von „Sinn“ durch die von Platon und Aristoteles in ihrem Zeichencharakter (G semeion – Zeichen) erkannte Sprache; „generare perfectum sensum in animo auditoris“ – sagt Thomas v. Erfurt.



Zeichen, so auch die der Sprache, wollen gedeutet werden; die Kunst des Deutens heißt „Hermeneutik“, nach Hermes, dem Gott der griechischen Mythologie / Religion; er „erklärt“ (G „hermeneuei“) den Menschen göttliche Befehle, übersetzt sie in eine den Menschen verständliche Sprache. „Die Leistung der Hermeneutik ist es, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt’ in die eigene zu übertragen.“ (Gadamer) Einen Zeitgenossen zu verstehen, der dieselbe Sprache spricht, ist mitunter schwer; schwerer wird es, wenn ein Übersetzen aus einer fremden Sprache dazwischengeschaltet werden muss; noch schwerer, wenn es sich nicht nur um einen Text / Äußerung in einer anderen Sprache, sondern auch aus einem anderen – womöglich gar antiken – Kulturkreis handelt. Für den heutigen Übersetzer eines antiken lateinischen Textes, für jemanden also, der in eminenter Weise einen Text aus einer anderen Welt vor sich hat, gilt erst recht die Feststellung Gadamers, dass der geschichtlich-gesellschaftliche Kontext, der Erfahrungs- und Verstehenshorizont des Rezipienten / Lesers mitbestimmend ist





Kommunikation

Zirkel

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In B liegt eine durch eine nominale Verbform (hier: PPP) initiierte „satzwertige Einheit“ vor (s. S.127 ff. PC und S. 139 PV).



Um einen Vorgeschmack auf solche „satzwertigen Einheiten“ im L zu geben, seien hier 2 Beispiele aus dem Deutschen angeführt, wie sie auch – nur sehr viel häufiger – im L auftreten:



Infinitiv: „Im Theater sieht man Schauspieler auf der Bühne stehen.“



satzwertige Einheit mit Infinitiv

deutsche Beispiele

Partizip: „Beide Männer, ein wenig hinter ihm stehend, schlugen auf ihn ein.“ (Duden, IV) satzwertige Einheit mit Partizip



Da in der deutschen Sprachgeschichte (ab dem 15. / 16. Jh.) solche Partizipialkonstruktionen als Imitationen lateinischen Stils erwiesen sind, bieten sie eine sehr gute muttersprachliche Ausgangsbasis für das Verständnis lateinischer Stileigenheiten.

IV B Text- und Satzerschließung

1 Hermeneutik



Sprachliche Kommunikation besteht in der Vermittlung von „Sinn“ durch die von Platon und Aristoteles in ihrem Zeichencharakter (G semeion – Zeichen) erkannte Sprache; „generare perfectum sensum in animo auditoris“ – sagt Thomas v. Erfurt.



Zeichen, so auch die der Sprache, wollen gedeutet werden; die Kunst des Deutens heißt „Hermeneutik“, nach Hermes, dem Gott der griechischen Mythologie / Religion; er „erklärt“ (G „hermeneuei“) den Menschen göttliche Befehle, übersetzt sie in eine den Menschen verständliche Sprache. „Die Leistung der Hermeneutik ist es, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt’ in die eigene zu übertragen.“ (Gadamer) Einen Zeitgenossen zu verstehen, der dieselbe Sprache spricht, ist mitunter schwer; schwerer wird es, wenn ein Übersetzen aus einer fremden Sprache dazwischengeschaltet werden muss; noch schwerer, wenn es sich nicht nur um einen Text / Äußerung in einer anderen Sprache, sondern auch aus einem anderen – womöglich gar antiken – Kulturkreis handelt. Für den heutigen Übersetzer eines antiken lateinischen Textes, für jemanden also, der in eminenter Weise einen Text aus einer anderen Welt vor sich hat, gilt erst recht die Feststellung Gadamers, dass der geschichtlich-gesellschaftliche Kontext, der Erfahrungs- und Verstehenshorizont des Rezipienten / Lesers mitbestimmend ist





Kommunikation

Zirkel

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Horizonte



Vor-Urteil

Rezeptive Textverarbeitung

fremde



Sprachgemeinschaft



beim hermeneutischen Prozess; er nennt dieses Faktum „hermeneutischer Zirkel“. Gadamer erklärt die Möglichkeit, einen solchen Text zu erfassen, mit der „Verschmelzung des geschichtlichen und des gegenwärtigen Verstehenshorizontes“. Um 1800 bezeichnete Hamann geschichtliches Verstehen als „Sichhineinversetzen ins Vergangene“, das aber zugleich das Verstehen der Gegenwart voraussetze. Geschichtliches Verstehen sei eine „vis divinandi“, eine „Divination in die Seele des Urhebers“. Hierbei abstrahiert man gleichsam von sich selbst. Kurz: Wir müssen auch hier Vor-Urteile abbauen und uns einlassen auf das Fremde. Die moderne Linguistik spricht hier vom Problem der rezeptiven Textverarbeitung und untersucht kognitive Aktivitäten bei der „Integration von Vorwissen und Textinformation“. Demnach werden durch Textinformationen Teile des im Langzeitgedächtnis gespeicherten Vorwissens aktiviert und zur Textinformation in Beziehung gesetzt, dann Schlussfolgerungen gezogen, um „sinnvolle“ Zusammenhänge herzustellen. (nach Schoenke) Gerade bei der Bearbeitung antiker Texte beruht die Schwierigkeit darauf, dass die „fremde Sprachgemeinschaft nicht bloß andere Sprachzeichen, sondern eine andere Denk- und Anschauungsweise besitzt, daß sie die Welt anders auffaßt und gliedert, daß sie ihr mit anderem Gefühl und Willen gegenübertritt“. (Porzig) Abschließend hierzu Gadamer: „Eine philosophische Hermeneutik wird zu dem Ergebnis kommen, daß Verstehen nur so möglich ist, daß der Verstehende seine Voraussetzungen ins Spiel bringt. Der produktive Beitrag des Interpreten gehört in einer unaufhebbaren Weise zum Sinn des Verstehens selber. Das legitimiert nicht das Private und Arbiträre subjektiver Voreingenommenheiten, da die Sache, um die es jeweils geht, vollen Disziplinierungswert behält. Wohl aber ist der unaufhebbare, notwendige Abstand der Zeit, der Kulturen, der Klassen, der Rassen ein übersubjektives Moment, das dem Verstehen Spannung und Leben verleiht.“

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IV B 2 Textus

L textus – Geflecht, Gewebe, Zusammenhang (der Rede)

▶ In den 60er Jahren des 20. Jh.’s entwickelte sich eine auf die Faktoren des strukturellen Zusammenhangs von Texten ausgerichtete neue Forschungsrichtung der modernen Sprachwissenschaft, die sogenannte „Textlinguistik“; sie kann beim Bemühen um das Erfassen der Textstruktur sehr hilfreich sein. Der Begriff „Text“ (L textus – Geflecht, vgl. Textilien) war z. B. in der Antike eher ein Thema der Rhetorik als der Grammatik und in der Geschichte der europäischen Sprachwissenschaft nicht so intensiv behandelt worden wie der Satzbegriff. Dieses Bemühen um den Text als einen „übersatzmäßigen Verflechtungszusammenhang“ (Scherner) richtet sich auf das Eruieren der Fäden und Maschen dieses Geflechtes. Anders als in der klassischen „Satzgliedgrammatik“ ist in der „Textgrammatik“ für die Definition der Redeteile deren Funktion für die Konstitution des Textganzen maßgeblich. Hierfür wurde ein differenzierter Begriffsapparat aufgebaut. In den folgenden Zeilen zur Textgrammatik stützt sich der Verfasser vornehmlich auf die Arbeiten von Schoenke, Fink / T. Meyer und F. Meier. ▶ In einer Kohärenz- bzw. Kohäsionsanalyse (L cohaerere – zusammenhängen) werden über Satzgrenzen hinweg semantische („Sinn“) und textsyntaktische (s. u.) Relationen im Textganzen gesucht – der „transphrastische“ Zusammenhang wird eruiert („transphrastisch“, eine hybride Begriffsbildung: L / G etwa: über die Länge des Textes hinweg mitgeteilt). Der Text wird untersucht als „ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten“. (Harweg) ▶ Unter textsyntaktischem Aspekt richtet sich das Augenmerk auf Konnektoren, die Personenverteilung, die Verwendung der Tempora („Tempusprofil“), Verwendung der Modi; man untersucht sozusagen äußerlich die „Zusammenstellung“ (G syntaxis) dieser Kohärenzfaktoren im „Gewebe“. ▶ Unter textsemantischem, inhaltlichem Aspekt wird der Bedeutungszusammenhang der Wörter im „Gewebe“ untersucht; in erster Linie relevant sind hier Referenzen (Bezugnahmen), „Verweiswörter“, sog. „Proformen“, d. h. „sprachliche Einheiten, die sich auf andere sprachliche Ausdrücke beziehen“ (Schoenke), Pronomina z. B. weisen überwiegend auf Bekanntes zurück; aus der Antike übernahm man hierbei für die Verweisform „rückwärts“ den bei Apollonios (s. S. 52 ff.) grundlegenden Begriff „anaphorisch“, für die Verweisform „vorwärts“ griff man auf die neuzeitliche Analogiebildung „kataphorisch“ zurück. Wichtige Faktoren und Indikatoren des semantischen Zusammenhangs sind Wortwiederholungen (Rekurrenzen), Sach- und Bedeutungsfelder. ▶ Die durch diese Verweisrelationen aufgebaute Informationsstruktur des Textes nennt man Textphorik (G phora = Lauf / Bewegung). Besonders die Prager Schule entwickelte eine Lehre von der funktionalen Satzperspektive, wobei „Sätze primär

Textlinguistik

Kohärenz

Textsyntax

Textsemantik

Textphorik Thema Rhema

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der Übermittlung neuer Informationen dienen“; der Satz wird hierbei in „Thema“ (= alte Information) und „Rhema“ (= neue Information) gegliedert. (nach Elling)

Textpragmatik

▶ Die „Textpragmatik“ (G pragma = Sache) untersucht den „sachlichen“, historischen Hintergrund, die Verwendungssituation des Textes. Hier kann man eine autorenbezogene Intention (Ausdruck eines Gefühls), eine gegenstandsbezogene Intention (z. B. Darstellen von Ereignissen, Behandlung philosophischer Probleme) und publikumsbezogene Intention unterscheiden (z. B. Lehrgedicht, Brief).

Textsorten

In den verschiedenen „Textsorten“ der lateinischen Literatur überwiegen – wie besonders Fink / Meyer u. a. gut herausgearbeitet haben – spezifische sprachliche Mittel: In narrativen Texten z. B. überwiegt von den Tempora das Perfekt (bzw. Imperfekt, Plusquamperfekt, s. S. 83 f.), in dialogischen Texten mehr Präsens und Perfekt, in der Rede ist die Gewichtung je nach Art der Rede (Lobrede, Gerichtsrede, politische Rede) und Teil der Rede (Exposition, Erzählung, Bericht, Schlussappell – peroratio) verschieden. Bezüglich des Gebrauchs der Personen dominiert in narrativen Texten die 3. Person, in dialogischen die 1. und 2. (Frage / Antwort), in der Rede ist aufgrund der oben angedeuteten Vielschichtigkeit zu differenzieren (in der Erzählung die 3. Person, im Appell die 2.). Von den Modi dominiert in narrativen Texten der Indikativ, in dialogischen mitunter auch Konjunktiv und Imperativ, in der Rede ist die Verteilung wieder verschieden (narratio: Indikativ; peroratio: Konjunktiv / Imperativ). Narrative Texte gebrauchen vorwiegend temporale Konnektoren, dialogische Texte besonders logische.

kataphorisch anaphorisch

Pragmatik: Verwendungssituation,

kommunikative Funktion, historischer Hintergrund

transphrastischer Zusammenhang Thema Rhema Phorik

IV B 3 Dekodieren und Rekodieren ▶ Das sukzessiv sich verstärkende und stabilisierende Ineinander von Erkenntnis des Einzelnen aus einer Antizipation des Ganzen einerseits und adäquatem Erfassen des 114

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Ganzen aus dem Begreifen des Einzelnen andererseits stellt den Weg des Denkens beim „Dekodieren“, d. h. Erschließen eines Textes / Satzes dar. „Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, und das Ganze aus dem Einzelnen. Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion.“ (Droysen)

Teil / Ganzes

Wenn man sich an die Übersetzung eines lateinischen Textes macht, muss man sich daher zunächst einen vorläufigen Überblick über Form und Inhalt des Textes verschaffen, darf sich also auf keinen Fall gleich in den ersten Satz „verbeißen“. Hierbei gilt als allgemeine Orientierung: „Die auffälligsten Anzeichen für Aufbau und Gedankenzusammenhang sind Wiederholungen, die Wiederkehr von gleichen oder ähnlichen Elementen sowohl formaler als auch inhaltlicher Art.“ (Fuhrmann / Hermes / Steinthal / Wilsing)

▶ Beim „Dekodieren“ antiker Texte kommt erschwerend die große historisch-kulturelle Distanz hinzu. Die für ein richtiges Verstehen und Übersetzen eines Textes / Satzes nötigen Antizipationen werden, wie Nickel betont, bestimmt durch den individuellen historisch-kulturellen Erfahrungshorizont des Lesers, seine grammatisch-sprachlichen Kenntnisse, seine Kontextarbeit, seine pragmatischen Kenntnisse, seine Kenntnisse der antiken Realien, der Präsuppositionen, d. h. der Begriffe und Sachverhalte, die der Autor bei seinen ursprünglichen Adressaten als bekannt voraussetzt, die wir uns aber oft erst mühsam erschließen müssen. Stolpersteine sind z. B. verschiedene Konnotationen: Im L ist z. B. das Wort „rex“ in der Zeit der römischen Republik negativ besetzt, das Wort „König“ im D hat nicht unbedingt eine negative Konnotation. ▶ Vor einem Verstehen / Übersetzen eines lateinischen Satzes müssen – meist – zunächst lexikalische („Vokabeln“) und morphologische Probleme („Formen“) geklärt werden, freilich nur bis zu einer gewissen Vorstufe, denn die Bedeutungsbreite der Wörter und die Vieldeutigkeit der Formen können erst im weiteren Verstehensprozess zur Eindeutigkeit geführt werden, denn: „Das Erschließen und Übersetzen lateinischer Texte ist ein ständiges Vermuten, Verwerfen und Verifizieren“ (Glücklich) – oder mit Poppers Worten: „Der Fortschritt des Wissens besteht aus Vermutungen und Widerlegungen.“ Kant in seiner Logik: „Wenn wir über einen Gegenstand meditieren, müssen wir immer schon vorläufig urteilen und das Erkenntnis gleichsam schon wittern...“ Über diese vorläufigen Urteile schreibt er: „Auch Antizipationen könnte man sie nennen.“ ▶ Also: Unter morphologischem wie unter semantischem Aspekt ist der Äußerungszusammenhang von entscheidender Bedeutung. Die lexikalische Bedeutungsvielfalt, der Bedeutungsumfang eines Wortes (Extension), aus den verschiedensten Kontexten extrahiert, erscheint in jedem Einzelfall durch das jeweilige textuelle Umfeld eingeengt, gleichsam fixiert (Intension). (nach Weinrich)

Distanz

Vermutungen, Widerlegungen

Extension Intension

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Wortbedeutung?

„Rekodieren“

{

Intension

Extension

Die hermeneutische Grundforderung, alles Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, rekurriert auf die antike Rhetorik, wo man metaphorisch von einem Verhältnis von caput und membra sprach.

▶ Zum Problem des Übersetzens („Rekodieren“) schreibt Karl Popper in seiner Autobiographie: „Jeder, der einmal übersetzt hat und der sich darüber Gedanken gemacht hat, weiß, daß es keine Übersetzung gibt, die grammatikalisch korrekt und außerdem nahezu wörtlich ist. Eine gute Übersetzung ist eine Interpretation des Originaltextes; ich würde soweit gehen zu sagen, daß eine gute Übersetzung eines nicht trivialen Textes eine theoretische Rekonstruktion sein muß. Sie wird vielleicht sogar zum Teil schon ein Kommentar sein.“ Auf den folgenden Seiten wird versucht, zunächst vom Äußerlichen her in einer Art zentripetalem Dreischritt – Satzerschließung a) Periode, b) Wortstellung / Wortblöcke ..., c) Konstruktionsmethode – einen Weg in den Kern des Satzgefüges / Satzes aufzuzeigen, um von dort, sozusagen von innen heraus, gleichsam zentrifugal auf der syntaktischen Ebene, besonders über die im Lateinischen so dominanten nominalen Verbformen, in die Satzerweiterungen vorzustoßen. Hierbei wird notgedrungen zum Zwecke der Darstellung „getrennt, was zusammengehört“ – es handelt sich ja um Beobachtungen, die bei der Satzerschließung ineinander greifen, womit kein strenges zeitliches Nacheinander gemeint ist.

IV B 4 Kurze Vorbemerkung zur Bedeutung der Rhetorik in der Antike Geschichte der Rhetorik

▶ Dass die eigentliche Rhetorik (G rhetor – Sprecher, Redner) als Kunst des öffentlichen Überredens / Überzeugens ein eminentes Politikum ist, zeigen in der Antike die politischen Umstände ihres Aufkommens. Aristoteles bringt die Begründung der Rhetorik mit dem Sturz der Tyrannis in Syrakus auf Sizilien (Magna Graecia, s. S. 20) und dem damit verbundenen Demokratisierungsprozess in Verbindung und nennt als Archegeten der rhetorischen Kunst Korax und Tisias. Folgerichtig ist somit auch der Wandel der Stellung der Redekunst in Rom anlässlich des Wechsels der Staatsform von der Republik zum Prinzipat (Kaiserreich) unter Augustus; die eloquentia zog sich in den Schulbetrieb zurück und erstarrte zu realitätsferner Routine ohne politische Wirkung. 116

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▶ Im Zuge der Ausbildung der Rhetorik als einer „Kunst“ im Griechenland des 5. Jh.’s v. Chr. (vgl. Sophisten, S. 13) kam es zu einer Ausbreitung der Rhetorik auf die gesamte Literatur. Da nämlich seit dem 5. Jh. die Rhetorik in der höheren Bildung und Erziehung die Hauptrolle spielte und „die sprachliche und literarische Erziehung der Antike fortan in lebendigem Kontakt mit der Öffentlichkeit stand“, war „die Rhetorisierung der Literatur eine notwendige Folge dieses Kontakts“, die Rhetorik wurde zu einem „Schmelztiegel der Literatur, der Philosophie, der Öffentlichkeit und der Schule“. (Lausberg) ▶ Der rhetorisierte Stil der griechischen und lateinischen Literatur ist besonders geprägt von der Kunst des Periodenbaus; Perioden sind z. T. weit ausladende Fügungen von HS und NS (s. u.). Im Vergleich mit modernen Texten muten daher antike Texte an „wie hochgetakelte Fregatten der alten Seefahrer“. (Diemke)



Hierbei waren die Forderungen z. B. an einen Geschichtsschreiber andere als an einen Redner; die narrative / historische Periode ist meist einfach gebaut und hat mäßigen Umfang (z. B. Caesar), die rhetorische / oratorische Periode hat gewöhnlich den größten Umfang und ist am Ende rhythmisiert („Klauselrhythmus“). Der unumstrittene Meister der Kunst des lateinischen Periodenbaus ist Cicero.



Der antiken christlichen Literatur „fehlt im Ganzen die antike Formschönheit“ (Norden). Das lateinische Mittelalter gilt stilistisch geradezu als Epoche des Niedergangs, auch bei guten Schriftstellern findet man grammatische Fehler. Ausnahmen bilden Autoren wie Johannes v. Salisbury und die Schule von Chartres: „Angesichts des umfassenden und feinsinnigen Studiums der antiken Literatur, das man hier pflegt, hat man von einem Humanismus der Schule von Chartres gesprochen.“ (Hirschberger)



Im Zeitalter der Renaissance nahm man sich wieder Cicero zum maßgeblichen Vorbild. Ein Elogium auf den „poeta laureatus“ Francesco Petrarca aus dieser Zeit lautet: „Primus ex lutulenta barbarie os caelo attollere ausus est.“ Perfekte Stilisten sind etwa Erasmus und sein Freund Thomas Morus.

Rhetorik und Literatur

Periode

Mittelalter

Renaissance

IV B 5 Satzerschließung a) Perioden. Klassifikation von Nebensätzen / Gliedsätzen ▶ „Periode nennt man ein aus einem Hauptsatze und einem Nebensatze zusammengesetztes Satzgefüge, in dem sich die Einheit eines Gedankens darstellt.“ (Stegmann) 117

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Periode

Klammern

Hypotaxe Parataxe

Stellung der NS



G „periodos“ – „das Herumgehen“, L „circuitus“, „orbis“ – etwa im Sinne von „Schließen eines Satzkreises“. Nach Isidor bestimmt die Atemlänge die Grenzen der Länge der Periode: „Periodos autem longior esse non debet quam ut uno spiritu proferatur.“

▶ Zur Ermittlung des HS und der Struktur der Periode empfiehlt es sich, zunächst die NS in einer Art negativem Ausschlussverfahren anhand von Kommata, Wörtern, die NS einleiten (S. 120: Relativpronomen, Subjunktionen, Fragewörter) und finiten Verbformen (Prädikat, s. S. 82, 107) auszuklammern. Bei besonders komplexen Perioden kann das Markieren des Anfangs und Endes der einzelnen NS mit einem Bleistift hilfreich sein. Markierungsvorschläge: 1. NS [ ] 2. NS < > 3. NS ( ) usw. ▶ Diese Vorgehensweise ist deshalb empfehlenswert, weil die Römer wie die Griechen – wie dargelegt – die Kunst, breit ausladende Perioden zu bauen, schon im Schulunterricht systematisch geübt haben (Hypotaxe = Unterordnung), im D dagegen die Konstruktion ineinander geschachtelter Sätze nicht so beliebt, uns nicht so vertraut ist; hier wird die Parataxe (Nebenordnung) bevorzugt. ▶ Zur Stellung der NS: Enthält der NS zeitlich Früheres, wird er meistens vorangestellt, enthält er Späteres, folgt er im allgemeinen nach. Vorangestellt werden NS, die eine inhaltliche Voraussetzung des HS enthalten – die meisten Konditionalsätze und Konzessivsätze. Relativsätze folgen meist ihrem Bezugsnomen nach, ebenso Final- und Konsekutivsätze. Einige leicht überschaubare Periodenformen:

KÄSTCHENMETHODE



HS über NS

2

Glieder

{

SCHACHTELMETHODE NS: Einrücken nach rechts

Caesar exploratores misit, fallend

steigend

qui iter hostium cognoscerent.

Cum Caesar in Galliam venit, duae ibi erant factiones.

118

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KÄSTCHENMETHODE



HS über NS

SCHACHTELMETHODE NS: Einrücken nach rechts Die Stadt Vesontio in Gallien:

3

{

Flügelperiode

Glieder

Nam omnium rerum, quae ad bellum usui erant, summa erat in eo oppido facultas. Die Stadt Vesontio:

Cum Caesar tridui viam processisset,

Brückenperiode

nuntiatum est ei Ariovistum cum suis omnibus copiis ad occupandum Vesontionem contendere, quod est oppidum maximum Sequanorum.

Die Stadt Vesontio:

4

{

Glieder

χ chiastische Periode a b b a Sprungperiode

(Die „Kästchenmethode“ wurde von Bayer und Maier eingeführt, die „Schachtelmethode“ von Steinthal; Nomenklatur der Periodenformen z. T. nach Fink)

Reliquum spatium, quod est non amplius pedum sescentorum, qua flumen intermittit, mons continet magna altitudine. Scipio referiert seinen kosmischen Traum:

Quae cum intuerer stupens, ut me recepi, „Quis hic“, inquam, „est tantus et tam dulcis sonus, qui complet aures meas?

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Nebensätze / Gliedsätze werden klassifiziert besonders nach I dem einleitenden Wort: A Relativsatz liber, quem lego B Indirekte / abhängige Frage nescio, quid faciam C subjunktionaler Nebensatz do, ut des II der Satzgliedfunktion: A Subjektsatz B Objektsatz C Attributsatz D Adverbialsatz

→ S. 150 → S. 148, 162 → bes. S.149 → Expansion, bes. S. 106, 124

III Speziell die Adverbialsätze klassifiziert man nach folgenden Sinnrichtungen: → bes. S. 149 (Semantik)

A Temporalsatz (als, während, nachdem, ...) B Kausalsatz (da, weil) C Konzessivsatz (obwohl, obgleich) D Konsekutivsatz (so dass) E Finalsatz (damit, um zu) F Konditionalsatz (wenn, falls) u. a.

IV B 5 Satzerschließung b) Wortstellung, Wortblöcke, Hyperbata. Besonderheiten des lateinischen Stils ▶ Aufgrund der auf der Flexionsfülle der lateinischen Wörter beruhenden Signaldeutlichkeit der Endungen sind die grammatischen Beziehungen der Wörter recht leicht zu erkennen. Dies ermöglicht bei Wahrung der Beziehungsdeutlichkeit eine sehr viel freiere Wortstellung als in den neueren Sprachen; in diesen kompensiert gleichsam die rigide Wortstellungsregelung den Verlust der Formenvielfalt.

usuelle Satzstellung

▶ Die gewöhnliche Wortstellung im lateinischen Satz (usuelle Stellung – vgl. E usual – oder „grammatische Wortstellung“) unterscheidet sich vom Deutschen. Im L steht gewöhnlich das Subjekt am Anfang, das Prädikat am Ende, die Ergänzungen in der Mitte, im D dagegen steht ja das Prädikat nicht am Ende eines HS, wohl aber im NS (sprachgeschichtlich beruht Letzteres auf dem Einfluss des Lateinischen). ▶ Gelegentlich (deshalb „okkasionelle Wortstellung“ – vgl. E occasion – oder „rhetorische Satzstellung“) weist ein Satz nicht die gewöhnliche Struktur auf, betonte Begriffe 120

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stehen am Anfang, gleich welches Satzglied; die für den Gedanken bedeutendsten Glieder erscheinen am Anfang und am Ende. (Menge)

okkasion.

Soll z. B. ein Subjekt betont werden, setzt man es, weil es ungewöhnlich ist, ans Ende: Apud Helvetios longe nobilissimus et ditissimus fuit Orgetorix.

Subjekt

▶ Für das Prädikat nimmt man in der idg. Ursprache eine dreifache Stellung an: Anfang, Mitte, Ende.Wie oben gezeigt, steht das Prädikat im lateinischen Satz gewöhnlich am Ende, im D in Aussagesätzen an zweiter Stelle. Bei Befehlen steht im L (oft) – wie im D (immer) – das Prädikat in Anfangsposition: Egredere ex urbe, Catilina, libera rem publicam metu! Auch bei Antithesen steht das Prädikat oft am Anfang: Conatus est Caesar reficere pontem, sed ... ▶ Adjektive werden bei „objektiv” klassifizierendem Charakter nachgestellt: homo Romanus ius civile ordo equester Sind sie „subjektiv“ wertend, bes. bei Lob / Tadel, Größe / Grad, werden sie vorwiegend vorangestellt: optimus consul pulchra virgo summa flagitia ▶ Das Possessivpronomen steht meist hinter dem Nomen: pater noster Das Demonstrativpronomen steht meist vor dem Nomen: hic mons

Satzst.

Prädikat

Adjektive

Pronomina

▶ Das Genitivattribut steht gewöhnlich hinter dem Nomen: amor parentum odium Hannibalis bei stärkerer Betonung wird es vorangestellt, bes. als Teil eines Gesamtbegriffes: terrae motus belli fortuna

Genitivattribut

▶ Im L – wie anscheinend in der idg. Ursprache – ist eine von Behaghel aufgedeckte Tendenz festzustellen, Wortgruppen so zu setzen, dass der Umfang der Glieder innerhalb gereihter Wörter und Wortgruppen zunimmt (Scherer u. a.).

Gesetz der

contra ius, contra auspicia, contra omnes divinas et humanas religiones

wachsenden Glieder

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Klimax

Isokola

Anapher

Wortblöcke

Hyperbaton

Dieses Gesetz der wachsenden Glieder gilt in gleicher Weise für semantische Kraft wie Ausdehnung des sprachlichen Umfangs.

▶ Der terminus technicus für eine steigernde, meist dreiteilige Aufzählung ist Klimax (G = Leiter); jedes Glied übertrifft hier das vorangehende an Wichtigkeit. Als Muster bes. einprägsam ist Caesars veni, vidi, vici. Eine Aufzählung mit abnehmender Wichtigkeit nennt man Antiklimax. ▶ Neben den „wachsenden Gliedern“ sind jedoch auch Isokola („gleiche Glieder“) beliebt: Neque tam servi illi dominorum quam tu libidinum, neque tam fugitivi illi ab dominis quam tu ab iure et legibus, neque tam barbari lingua et natione illi quantum tu natura et moribus, neque tam illi hostes hominibus quam tu diis immortalibus.

– hier kombiniert mit dem Stilmittel Anapher (G = Wiederaufnahme), d. h. Wiederholungen eines Wortes / einer Wortgruppe an aufeinander folgenden Satzanfängen.

▶ Das L neigt enorm dazu, Sätze in Wortblöcke zu gliedern, die „Sinnschritten“ entsprechen, in denen sich das sprachliche Verstehen vollzieht; solche Wortblöcke nennt man auch „Sinngruppen“, „Übersetzungseinheiten“, „Wort-Sinn-Einheiten“. Sie sind „syntaktisch und begrifflich in sich geschlossene Wortfügungen, die klar umrissene Vorstellungen auslösen“ (Schmidt). Hier sind besonders die für das L charakteristischen – bereits erwähnten und weiter unten zu besprechenden – Einheiten mit nominalen Verbformen zu nennen, neben z. B. „präpositionalen Blöcken“ mit GV / GU (s. S. 136) ad eas res conficiendas ad omnia pericula subeunda besonders Partizipialkonstruktionen (S. 127 ff.) und ACI (S. 131 ff.); vgl. auch S. 110: „Verbalbereiche“: Re frumentaria comparata equitibusque delectis iter in ea loca facere coepit. (vgl. S. 127 ABL. ABS.) Germanico bello confecto multis de causis Caesar statuit sibi Rhenum esse transeundum. (vgl. S. 127) (vgl. S.131 ACI und S. 137 f. GV)

Sehr wichtig ist, dass hierbei bes. Partizipien oft in „gesperrter“ Stellung erscheinen (Hyperbaton = zusammengehörende Wörter stehen nicht nebeneinander; sie bilden eine Klammer, die dazwischenliegende Wörter übersteigt, G hyperbainein = übersteigen) → Verzahnung = „partizipiale Klammer“ (s. S. 127 ff.):



civitas ob eam rem incitata … hac oratione ab Diviciaco habita … id maximam putat esse laudem …

Klammer

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Besonders im Falle der Partizipien spiegelt diese Wortstellung die von Subjekt und Prädikat. Die Leistung des Hyperbaton liegt darin, „auch dem einfachen Satz die kyklische Spannung zwischen auflösungsbedürftigen und auflösenden Bezugsgliedern zu verleihen und ihn so als einer Periode gleichwertig erscheinen zu lassen“. (Lausberg)

▶ Ein großer Kenner des lateinischen Stils schrieb 1846: „Wer die alten Sprachen nur mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet, der wird nicht in Abrede stellen, daß es ein charakteristisches Merkmal, ja ein Prinzip des antiken Stils ist, die Rede fortschreiten zu lassen in Gegensätzen ...; aus diesem Charakter des Sprechens fließt ihre Neigung zum Teilen und Sondern.“ (Nägelsbach)

Ergo histrio hoc videbit in scaena, non videbit sapiens vir in vita? satis eloquentiae, sapientiae parum Hier liegt gleichzeitig ein Asyndeton vor (G = unverbunden), d. h. Reihung ohne Bindewort; außerdem ein Chiasmus (s. u.).

▶ Zum Parallelismus (den Nägelsbach „Anapher” nennt) und Chiasmus (Stellung über Kreuz, umgekehrte Ordnung) sagt Nägelsbach: „Wer sich aber das Auge für chiastische und anaphorische Gliederung der Rede geschärft hat, dem drängen sich diese Figuren in allen Sätzen und Perioden auf, die nur irgend groß genug sind, um entsprechende Glieder und Redeteile in sich aufzunehmen.“

... ut aut voluptates omittantur maiorum voluptatum adipiscendarum causa aut dolores suscipiantur maiorum dolorum effugiendorum gratia.



... quos neque armis cogere neque auro parare queas.



fragile corpus, animus sempiternus

▶ Der Chiasmus ist benannt nach dem griech. Buchstaben „chi” = χ ( a b / b a )

Antithese u. a.

Asyndeton

Parallelismus

Chiasmus

Laudant eos, qui aequo animo moriantur; qui alterius mortem aequo animo ferant, eos putant vituperandos.

▶ Die genannten rhetorischen Fachbegriffe stammen wie der Terminus „Rhetorik” aus dem Griechischen; Im Griechenland des 5. Jh.’s v. Chr. hatten die sog. „Sophisten“ (s. S. 13) die Sprachforschung entscheidend vorangetrieben. Hier sind an erster Stelle Protagoras und Gorgias zu nennen. Einen gültigen Abschluss der rhetorischen Forschung jener Zeit stellt das wohl bedeutendste Rhetorik-Lehrbuch aller Zeiten dar, die Rhetorik des Aristoteles.

Begriffe der Rhetorik

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IV B 5 Satzerschließung c) Konstruktionsmethode ▶ Eine sehr häufig angewandte Satzerschließungsmethode bzw. Verständniskontrollmethode (eine Art Nachbauen des Satzes) ist die sog. Konstruktionsmethode. Hierbei geht man mit Blick auf das klassische Modell der Satzglieder unter Beachtung der „Expansion“ folgendermaßen vor: für HS und NS gilt: Sg.

{

{

Präd.

1

Pl.

Satzkern

vgl. S.107, 109

NumerusKongruenz (wenn Subj. nominal)

Sg. Subj.

2

Pl.

3

1 + 2 übersetzen

4

Erweiterungsfragen

a) meist ein Nomen im Nominativ b) oder schon in Personalendung des Präd. enthalten (nicht in Anfangssätzen) c) expandiert (in den Grenzen eines einfachen Satzes): Notum est Caesarem Galliam subegisse. (ACI als Subj., s. S. 106, 135) – was ist bekannt? d) expandiert zu NS / GS (s. S. 106, 120): Eadem nocte accidit, ut esset luna plena. – was passierte? → Antwort im NS / GS

z. B.: wem / wen? Objekt

was für ein? / welcher? Attribut

wie, wo, wann, warum ... tut er? adverbiale Bestimmung

entweder ein Wort oder in expandierter Form: (s. S. 106, 120) Multis de causis Caesar statuit sibi Rhenum esse transeundum.

Caesar de causis, quas commemoravi, Haedui, cum se suaque ab eis defendere Rhenum transire decreverat. non possent, legatos ad Caesarem mittunt.

Was stellte Caesar fest? → ACI als Obj.

Was für Gründe? → Relativsatz als Attribut

Warum schickten die Häduer Gesandte? → adverbialer Nebensatz

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Grundsätzlich:

Bei „verbleibenden“ / ungeklärten Wortblöcken empfiehlt es sich, immer zuerst evtl. vorliegende nominale Verbformen ins Auge zu fassen (Partizip, Infinitiv, GU / GV, SUP), da Verben in der syntaktischen Valenz und Dependenz meist dominant sind (s. S. 107, 110); von ihnen ausgehend lassen sich untergeordnete Elemente und satzwertige Einheiten erschließen (PC, ABL. ABS., ACI ...). Der Lateiner liebt diese Verbformen und den verbalen Stil überaus.



Was die Prädikate auf der höchsten Satzebene sind, sind die nominalen Verbformen in den satzwertigen Einheiten auf den unteren Satzebenen (→ praedicatum nominale, S. 110).

IV C Nominale Verbformen mit enormer syntaktischer Relevanz: Partizipien, Infinitive, Gerundium, Gerundivum, Supinum. Prädikativum 1 Nominale Verbformen: Einführung

Verb

Nomen

▶ Wie unter „Dependenzgrammatik“ (s. S. 110) und „Konstruktionsmethode“ (s. S. 124) angedeutet, befinden wir uns bei den nominalen Verbformen im Herzstück der lateinischen Syntax. Es war bereits die Rede von der Vorliebe des Lateiners für verbalen Stil; das muss hier spezifiziert werden: Es handelt sich um einen verbalen Stil in nominaler Verpackung – die nominalen Verbformen sind oft verkappte Prädikate mit nominalen Endungen. Zunächst erscheinen sie äußerlich als „normale“ Adjektive / Substantive (Endung!), sind jedoch ganz anders „geladen“, eben verbal. Aufgrund ihrer verbalen Kraft oder Valenz sind sie z. B. mit Objekten und adverbialen Bestimmungen erweitert und stoßen Tore zu neuen Satzbereichen auf, initiieren „satzwertige Konstruktionen“ und sind somit gleichsam „Schlüsselwörter“ bei der Satzerschließung. ▶ Stellung: Da diese nominalen Verbformen – wie das Prädikat im Satzkern – in den von ihnen dominierten Verbalbereichen eine Endposition bevorzugen, läuft der ungeübte Übersetzer Gefahr, die vorausgehenden Wörter nicht in ihrer Abhängigkeit / Dependenz von den nominalen Verbformen zu erkennen (s. S. 110). Noch einmal:

Schlüsselwörter

Stellung

Immer zuerst zu Verbformen, dann zu deren Erweiterungen! 125

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Grundsätzlich:

Bei „verbleibenden“ / ungeklärten Wortblöcken empfiehlt es sich, immer zuerst evtl. vorliegende nominale Verbformen ins Auge zu fassen (Partizip, Infinitiv, GU / GV, SUP), da Verben in der syntaktischen Valenz und Dependenz meist dominant sind (s. S. 107, 110); von ihnen ausgehend lassen sich untergeordnete Elemente und satzwertige Einheiten erschließen (PC, ABL. ABS., ACI ...). Der Lateiner liebt diese Verbformen und den verbalen Stil überaus.



Was die Prädikate auf der höchsten Satzebene sind, sind die nominalen Verbformen in den satzwertigen Einheiten auf den unteren Satzebenen (→ praedicatum nominale, S. 110).

IV C Nominale Verbformen mit enormer syntaktischer Relevanz: Partizipien, Infinitive, Gerundium, Gerundivum, Supinum. Prädikativum 1 Nominale Verbformen: Einführung

Verb

Nomen

▶ Wie unter „Dependenzgrammatik“ (s. S. 110) und „Konstruktionsmethode“ (s. S. 124) angedeutet, befinden wir uns bei den nominalen Verbformen im Herzstück der lateinischen Syntax. Es war bereits die Rede von der Vorliebe des Lateiners für verbalen Stil; das muss hier spezifiziert werden: Es handelt sich um einen verbalen Stil in nominaler Verpackung – die nominalen Verbformen sind oft verkappte Prädikate mit nominalen Endungen. Zunächst erscheinen sie äußerlich als „normale“ Adjektive / Substantive (Endung!), sind jedoch ganz anders „geladen“, eben verbal. Aufgrund ihrer verbalen Kraft oder Valenz sind sie z. B. mit Objekten und adverbialen Bestimmungen erweitert und stoßen Tore zu neuen Satzbereichen auf, initiieren „satzwertige Konstruktionen“ und sind somit gleichsam „Schlüsselwörter“ bei der Satzerschließung. ▶ Stellung: Da diese nominalen Verbformen – wie das Prädikat im Satzkern – in den von ihnen dominierten Verbalbereichen eine Endposition bevorzugen, läuft der ungeübte Übersetzer Gefahr, die vorausgehenden Wörter nicht in ihrer Abhängigkeit / Dependenz von den nominalen Verbformen zu erkennen (s. S. 110). Noch einmal:

Schlüsselwörter

Stellung

Immer zuerst zu Verbformen, dann zu deren Erweiterungen! 125

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Partizip S. 127

vorne Verb hinten Adjektiv Verbaladjektiv

GV S. 136 ff.

Nominale Verbformen

vorne Verb hinten Adjektiv

Infinitiv S. 131

GU S. 136 ff.

SUP S. 142

vorne Verb hinten Substantiv

Verbalsubstantiv

vorne Verb hinten Substantiv

▶ Die hier behandelten Verbalkategorien bilden die Großgruppe der verba infinita, d. h.: von Verben abgeleitete nominale Formen ohne Personalendungen; für sich allein sind solche Formen daher grundsätzlich nie Prädikat eines Satzes, welches ja immer eine Personalendung aufweist (s. S. 82, 108). ▶ In Antike und Mittelalter differenzierte man weitgehend nicht scharf zwischen Partizip, Gerundium, Gerundivum und Supinum; der Sammelbegriff lautete: participialia. ▶ Zwar sind die Bezeichnungen gerundium und gerundivum antik, doch die heute übliche strenge GU

begriffliche Unterscheidung zwischen GU und GV ist nicht antiken Ursprungs, sie entstammt der philologischen Diskussion der neueren Zeit. Im Altertum diente der Ausdruck modus gerundi („Modus des Verrichtens“) oft als nicht weiter differenzierte Kennzeichnung: „Gerundi verbum ideo dicitur quod nos aliquid gerere significat“ (Cledonius). Noch in der Renaissance zählt Lorenzo Valla (15. Jh.) die gerundia (späteres GU und GV) zu den Partizipien: „Gerundia licet (auch wenn) a participiis differant, tamen proprie inter participia numerari possunt.“ Etwas mehr als 100 Jahre später unterscheidet Sanctius schon genauer zwischen einem participium adiectivum (später = GV) und verbum participiale (später = GU), vgl. S. 136 ff.

GV

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IV C 2 Partizipien → PC / ABL. ABS.: Erklärungen und Graphiken Verb Nomen ▶ Zur Etymologie des Wortes „participium“ schreibt der antike Grammatiker Servius:

„Participium est quasi particapium: habet enim a nomine genera et casus, a verbo tempora et significationes, ab utroque numerum.“



Partizipien heißen also so, weil sie „participant“ (William of Sherwood). Priscian nennt das Partizip „nomen verbale“ bzw. „modus verbi casualis“. Die Griechen nannten es „metoche“ = Teilhabe (an Verb und Nomen), im D nennt man es „Mittelwort“ – nach Priscian: „medium inter verbum et nomen“; dazu heißt es schon im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm: „Darum heiszet es ein Mittelwort, weil es etwas vom Zeitworte, und etwas vom Nennworte in sich hat.“ Aus dem deutschen Mittelalter ist eine wörtliche Übersetzung Notkers des Deutschen überliefert: „teilnemunga“.



Kurz: Das Partizip steht in der Mitte zwischen Verb und Nomen (Adjektiv) –



vorne Verb, hinten Adjektiv

teils – teils

▶ Exkurs zur Nomenklatur: So wie das Relativpronomen – wie gezeigt – nur eines neben vielen anaphorischen Pronomina (L relativa) ist, also nur das Relativpronomen par excellence ist, so ist das Partizip nur ein „Mittelwort“ neben anderen (s. S. 125: nominale Verbformen).

▶ Das Kennzeichen des PPA (s. Graphik) ist -nt- ≈ D -nd-, z. B. laufend; Bei Verben der k-, - und i- Konjugation ist der Brückenvokal e zu beachten: legens, capiens, audiens. Im Nom. Sg. konnte sich das t vor dem Endungs-s nicht halten: laudants > laudans: Dental d / t vor s wird ausgestoßen, vgl. ponts > pons, Genitiv: pontis. (Dekl.beispiele s. S. 43)

-ns, -ntis

▶ Verwendung von Partizipien: bei Cicero maßvoll, Caesar geht weiter, maßlos bei Spätlateinern. (Hofmann / Szantyr) ▶ Das Partizip ist also formal ein Nomen (Adjektiv), inhaltlich dagegen eine verbale Aussage über das jeweilige Bezugsnomen im KNG. → Zum attributiven / prädikativen Partizip vgl. S. 139: PV

KNG /

▶ In den Konstruktionen PC / ABL. ABS. haben die Partizipien Prädikatsfunktion (vgl. S. 110, 122, 125), die Bezugsnomina Subjektsfunktion; dadurch sind diese Konstruktionen „satzwertig“ (Satz im Satz); hierbei spricht man auch von einem „verkürzten NS“.

PC /

▶ Partizipien stehen sehr oft in geschlossener Wortstellung = partizipiale Klammerstellung; das Partizip bildet gerne – in Analogie zur üblichen Prädikatsposition – den

Klammer

PV

ABL. ABS. satzwertig

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PC vs. ABL. ABS.

Abschluss des satzwertigen Blockes: Helvetii ... adducti / bello ... confecto, s. Graphik (vgl. S. 110, 122).

▶ In der Antike nannte man den ABL. ABS. griffig „ablativus copulatus“ = 2 Ablative gekoppelt, d. h. Nomen + Partizip. Eine recht junge Bezeichnung ist AMP (Ablativ mit Partizip) = Nomen im Ablativ + Partizip im Ablativ. Die Bezeichnung „ablativus absolutus“ ist etwas irreführend, da der ABL. ABS. syntaktisch natürlich eine Satzgliedfunktion erfüllt: Adverbiale. „Losgelöst“ (L absolutus) impliziert hier, dass das Bezugsnomen – bei Tilgung des Partizips – im Satzganzen gleichsam ein Fremdkörper wäre, was in der Graphik durch die Mauer symbolisiert wird, während das Partizip beim PC („verbundenes Partizip“) getilgt werden kann, ohne dass das Bezugsnomen seine Einbindung in den Rahmensatz verliert; dies sollen in der Graphik die Haken verdeutlichen. Dieses prüfende „Ausblenden“ des Partizips wird von Richter – Reichhelm / Stosch treffend „Deletions-Test“ genannt. Instruktiv ist hier das E, welches dem PC / ABL. ABS. analoge Konstruktionen besitzt: a) Partizipialkonstruktion mit gleichem Subjekt (vergleichbar mit dem lat. PC): Being poor she could not buy a new dress → E: related participle. b) Partizipialkonstruktion mit eigenem Subjekt (vergleichbar mit dem lat. ABL. ABS.): Her father being poor she could not buy a new dress → E: absolute participle.

unverrichteter Dinge

Caesare duce ente

▶ Auch das Deutsche kennt (in Nachahmung lateinischen Stils) dem ABL. ABS. vergleichbare, zu Redewendungen erstarrte, absolute Konstruktionen: „unverrichteter Dinge“, „sehenden Auges“ – man könnte von einem „genitivus absolutus“ sprechen; das G hatte einen solchen, das Gotische einen „dativus absolutus“; F: la paix concluse. ▶ Die Sonderform „nominaler ABL. ABS.“ (s. Kreis in der Graphik auf S. 130) beruht wohl auf einem Defizit der lateinischen Sprache. In der Antike war nämlich kein PPA von „esse“ in Gebrauch (abgesehen von der künstlichen Formation Caesars: „ens“). „Caesare duce ente“ – hätte man im Mittelalter sagen können; in der Philosophie des lateinischen Mittelalters, in der die Ontologie – anders als in der römischen Antike – wieder zum Thema wurde, war das PPA „ens“, eine Analogiebildung zu G „on“ = „seiend“, ein sehr geläufiger Begriff. Zum (fehlenden) PPA von „esse“ bemerkt der antike Grammatiker Charisius: „deficit enim Latinus sermo.“ Speziell bezüglich der philosophischen Terminologie schreibt Chr. Wolff: „Non modo in Ontologia termini philosophici occurrunt, quos ignoravit vetus Latium.”

Zeitverhälnis s. S.156

▶ Die nominalen Verbformen Partizip und Infinitiv drücken nicht absolute, sondern relative Zeitangaben aus (s. S. 156), d. h. die im Partizip enthaltene Zeitangabe gilt nur in Hinsicht auf das Prädikat: PPA – gleiche Zeit wie Prädikat = gleichzeitig = GLZ Beispielsätze S. 183 PPP – vor dem Prädikat passiert = vorzeitig = VZ PFA – passiert nach dem Prädikat = nachzeitig = NZ 128

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Partizipien → PC / ABL. ABS. Stämme: S. 74 ff., 94 ff. Dekl.beispiele S. 43

Aktiv

Präs.stamm

PART. FUT. AKT. = PFA –urus a / o laudaturus -urus wie futurus

NZ vgl. S. 142 SUP

PART. PERF. PASS. = PPP laudatus a / o

Perf.stamm

1.

PC

Rahmensatz

Zeitverhältnis s. S.156

GLZ

PART. PRÄS. AKT. = PPA laudans, laudantis -NT-

F O R M E N

K O N S T R U K T I O N E N

Passiv

Partizip

VZ

kurz: Partizip verbindet sich in KNG-Kongruenz mit Nomen oder Pronomen im Rahmensatz (meist Subj. oder Obj.) zu einer satzwertigen Einheit (alle Kasus möglich). = verbundenes Partizip = participium coniunctum =PC Partizipien schließen meist Satz- und Sinnblöcke ab. („Klammer“) → S. 110, 122

satzwertig Helvetii Subj.

omnium rerum KNG PC

inopia adducti legatos ad Caesarem miserunt. PPP Präd. D (wörtlich, s. u.): Die Helvetier schickten, durch den Mangel an allen Dingen veranlasst, Gesandte zu Caesar.

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2. K O N S T R U K T I O N E N

kurz: Partizip im Abl. bildet in KNG-Kongruenz mit Nomen oder Pronomen im Abl. eine satzwertige Einheit, wobei aber dieses Nomen NICHT zum Rahmensatz gehört. = losgelöster Ablativ = ablativus absolutus = ABL. ABS.

ABL. ABS. Rahmensatz



Partizip

satzwertig

Bello

Helvetiorum

Nomen im Abl.

confecto PPP

Partizip im Abl.

ABL. ABS.

legati Gallorum ad Caesarem convenerunt. Subj. Präd. D (NS, s.u.): Nachdem der Helvetierkrieg beendet war, kamen Gesandte der Gallier bei Caesar zusammen.

Sonderfall: nominaler ABL. ABS. = ohne Partizip, als Ersatz: NOMINA ...consulibus ...duce ...invito... u. a…

Muster: Caesare duce – unter Caesars Führung Caesare invito – gegen Caesars Willen C. Caesare M. Bibulo consulibus –unter dem Konsulat des ... Hannibale vivo – zu Lebzeiten Hannibals Cicerone auctore – auf Veranlassung Ciceros Romulo rege – unter der Regierung des Romulus

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PC: Ü B E R S E T Z U N G

1) wörtlich → nur PC (für ABL. ABS. im Deutschen keine Parallele) relativisch → nur PC (beim ABL. ABS. kein Anknüpfungsnomen im Rahmensatz) 2) NS subjunktional

3) 2 gleiche Sätze

4) Präpositionale Wendung

als, während, nachdem TEMPORAL weil KAUSAL obwohl KONZESSIV u. a. und (dann) Partizip zu gleichwertigem und deshalb Prädikat machen und trotzdem bei / nach wegen trotz

Partizip zum Substantiv mit Präposition machen

ABL. ABS.:

Unterordnung

Beiordnung + Einordnung

nennt man die Übersetzung mit NS

nennt man die Übersetzung mit 2 gleichen Sätzen

nennt man die Übersetzung mit präpositionaler Wendung

IV C 3 Infinitive → ACI / NCI: Erklärungen und Graphiken ▶ Zur Etymologie: „infinitus“ – „nicht eingegrenzt“; Der Begriff Infinitiv wurde gebildet nach dem G „aparemphatos“ = „nicht deutlich bezeichnend“ d. h.: nicht bestimmt bezüglich Person, Numerus, Modus → daher nicht Prädikat (außer als extravagantes Stilmittel: infinitivus historicus – etwa bei Sallust). Infinitive gehören mit den Partizipien, GU / GV und SUP zu den nominalen Verbformen (ohne Personalendung) und liegen als solche meist auf einer untergeordneten Satzebene.

„nicht bestimmt“

▶ Im ACI (accusativus cum infinitivo) hat der Infin., vergleichbar dem Partizip im PC / ABL. ABS., Prädikatsfunktion, der Akkusativ Subjektsfunktion. Der ACI ist 131

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satzwertig





Wesentlich für den ACI ist: „omne verbum infinitum habet pro supposito (Subjekt) accusativum.“ (Scioppius) Der ACI ist aber kein selbständiger Satz, sondern nur ein Satzglied im Rahmen eines Satzes; beim ACI Variante 1 (siehe Graphikseite): ACI als Objekt (z. B.: was wissen wir?)



beim ACI Variante 2 (siehe Graphikseite): ACI als Subjekt (z. B.: was ist bekannt?)



Idg.

▶ Der ACI ist in den idg. Sprachen weit verbreitet, z. B. im D: Ich höre dich singen, E: I wish him to go, L, G, u. a. Da auch das D – freilich in sehr eingeschränktem Umfang – den ACI kennt, befindet man sich hier in heimischen Gefilden. Den deutschen ACI ( ≈ lat. ACI, bes. Variante 1 A) erklärt der Duden knapp, aber gut: „Konstruktion, in der das Akkusativobjekt des ersten Verbs zugleich Subjekt des zweiten im Infinitiv stehenden Verbs ist.“; z. B.: Ich höre dich singen. Du singst. ▶ Im ACI bezieht sich ein Reflexivpronomen (s. S. 56)

Reflexivpronomen

„se“ als Subjektsakk.

Akk. im ACI multifunktional

gleichsam ein Satz im Satz, eine satzwertige Konstruktion: Akkusativ = „Subjektsakkusativ“ Infinitiv = „Prädikatsinfinitiv“

a) meist auf das Subjekt des Satzes, in den der ACI eingebettet ist, b) oder auf das Subjekt des ACI, also den Subjektsakkusativ:



Ariovistus dixit neminem secum sine suo interitu pugnavisse. • •

▶ se ist sehr oft Subjektsakkusativ eines ACI, kann alle Genera im Sg. und Pl. ausdrücken: er, sie, es; sie (Pl.) Unabhängig von der Gestalt des Subjekts „passt ‚se’ immer als Subjektsakkusativ“ (bei Reflexivität): → S. 56 Pater dicit se venturum esse. D: er (der Vater) Subj. Mater dicit se venturam esse. D: sie (die Mutter) Subj. Parentes dicunt se venturos esse. D: sie (die Eltern) Subj. ▶ Beim ACI genau prüfen, welche Funktion ein Nomen im Akkusativ hat! 1. Subjektsakkusativ 2. Objekt – wie üblich 3. PN – Kasuskongruenz zum Subj., welches ja im ACI als Akk. erscheint: „Scio Caesarem dictatorem fuisse.” PN 132

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Kurz: Alles, was sonst im Nominativ steht, erscheint im ACI als Akk.; der Nom. ist im ACI „verboten“. Manchmal – z. B. in Orakelsprüchen – wird diese Ambivalenz des Akkusativs im ACI gezielt zum Zwecke der Verschleierung eingesetzt; der eroberungslustige Pyrrhus aus „Übersee“ fragt das Orakel um Rat; ihm wird geantwortet: Dico te Romanos vincere posse (wer wen?). ▶ ACP = Akkusativ mit Partizip – lässt sich mit ACI vergleichen: Video flores florentes – ich sehe die Blumen blühen

→ s. S. 139: PV

ACP

▶ Wie Partizipien enthalten auch Infinitive nur relative Zeitangaben; die Zeitangabe gilt lediglich in Bezug auf das „Kopfverb“ (vgl. S. 156 Zeitverhältnis).

Infinitiv Präsens – GLZ zum



Infinitiv Perfekt – VZ zum



Infinitiv Futur – NZ zum

▶ Besonders „gefahrenträchtig“: Der Begriff GLZ ist wörtlich zu nehmen: Infinitiv Präs. drückt die gleiche Zeit aus wie das „Kopfverb“; steht das „Kopfverb“ in der Gegenwart, ist auch der Infin. Präs. mit Gegenwart zu übersetzen. Steht das Kopfverb in der Vergangenheit, ist auch der Infin. Präs. prinzipiell mit Vergangenheit zu übersetzen. Hinsichtlich der Zeit „haftet der Infin. Präs. wie eine Klette“ am Kopfverb. Analoges gilt für das PPA im PC / ABL. ABS.

Zeitverhältnis S. 156

Beispielsätze S. 185

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Zeitverhältnis: s. S. 156

Infinitive → ACI / NCI Stämme: S. 74, 78, 94

Aktiv Präs.stamm

F O R M E N

INFIN. PRÄS. AKT.: laudare

-re

INFIN. FUT. AKT.: PFA + esse -urus, a, um laudaturum esse Perf.stamm

INFIN. PERF. AKT.:

INFIN. PRÄS. PASS.:

bei

GLZ

NZ

unveränderlich, SUP, S.142

INFIN. PERF. PASS.:

VZ

PPP + esse laudatum esse

laudavisse

ACI

-ri

laudari k/ : -i dici INFIN. FUT. PASS.: „PPP -um“ + iri laudatum iri

-isse

K O N S T R U K T I O N E N

Passiv

kurz: ACI = von einem „Kopfverb“ bzw. unpersönlichen Ausdruck abhängige satzwertige Einheit, bestehend aus einem Akk. mit Subjektsfunktion und einem Infinitiv mit Prädikatsfunktion.

1

2

unpersönlichen Ausdrücken

„Kopfverben“ A Rezeption (z. B. sehen) B Reflexion / Emotion (z. B. denken) C Artikulation / Kommunikation (z. B. sagen)

constat – es steht fest apparet – es ist klar notum est – es ist bekannt u. a.

Deutsch: ES… Urteil, Feststellung

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1 Scimus

{

„Satz im Satz“

K O N S T R U K T I O N E N

Caesarem Galliam subegisse

2 Notum est

A

I

ACI als Obj. ACI als Subj.

„Subjekts- „Prädikats akkusativ“ infinitiv“ Deutsch: NS DASS…. Subj. ….... Präd.

1

Wir wissen, dass Caesar Gallien unterworfen hat.

2

Es ist bekannt, dass Caesar Gallien unterworfen hat.

Sonderfall: Bei PFA, PPP und GV ist im ACI oft esse zu ergänzen = Ellipse

A

D: NS DASS… 135

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Verben, die je nach Konstruktion / syntaktischem Kontext verschiedene Bedeutungen haben:

ACI IST

..., ut (NS), S. 149 SOLL



überzeugen erinnern sehen der Ansicht sein

überreden ermahnen dafür sorgen dafür stimmen

persuadere (ad) monere videre censere

Ergänzung: sog. NCI

= Nominativ + Infinitiv immer Passiv (Nom. = Subj. / Caesar clemens fuisse dicitur N I

= Präd.)

Man sagt, dass… (oder: Caesar soll ... gewesen sein) bes. im NCI: videri = scheinen: Caesar aegrotus fuisse videtur.

IV C 4 Gerundium / Gerundivum

Verb Nomen GU / GV: Nominale Verbformen, gebildet mit dem Präsensstamm (in k-, - und i Konjugation mit Brückenvokal -e-) + nd + Endungen der a / o- Dekl. (GV) bzw. o-Dekl. (GU): z. B. dandum, monendum, legendum, capiendum, audiendum GU

Gerund- ium = substantivisches Suffix, vgl. gaud- ium (Freude), etwa: „Verrichtungssubstantiv“ (gerere – verrichten)

GV

Gerund- ivum = adjektivisches Suffix, vgl. aest- ivum (sommerlich), etwa: „Verrichtungsadjektiv“

GU / GV = nd-Formen.

Vorsicht:

lateinisches nt (PPA) = deutsches nd laudantes

/

lobende

lat. nd: keine genaue Entsprechung im Deutschen!

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ohne KNG-Kongruenz zu einem Nomen

GU

Verbalsubstantiv

GV

Verbaladjektiv

aktivisch

nur Sg. / n ab Gen.

≈ deklinierter Infinitiv das Gehen des Gehens

passivisch

Sg. + Pl. m+f+n

GV in antiker Terminologie: 1 Partizip Präsens Passiv 2 Partizip Futur Passiv

daher in KNG-Kongruenz zu einem Nomen (außer bes. beim unpersönlichen -ndum: nunc est bibendum, s. u.) ▶ Während der Infinitiv also im D mit Hilfe des Artikels dekliniert wird, geschieht das im L, welches den Artikel ja nicht kennt, durch die eigene Formkategorie GU. ▶ Gemäß der oben referierten antiken Terminologie fasste man also das GV als passivisches Präsensstamm-Gegenstück zum PPP auf (vgl. auch die formale Nähe zum PPA: -nt-); deshalb ist das GV entweder



1. präsentisch 2. futurisch

{

oder

GU

GV

s. u. „es geschieht“ / „es muss geschehen“

Dagegen ist das GV nie perfektiv / vorzeitig, diese Funktion erfüllt ja das PPP.

F O R M E N

GU: Nominativ = Infinitiv errare humanum est Pl.

Sg.

laudandus -nda -ndum ndi ndae ndi ndo ndae ndo ndum ndam ndum ndo nda ndo GU

-ndi ndorum ndis ndos ndis

-ndae ndarum ndis ndas ndis

-nda ndorum ndis nda ndis

GV

präpositionslos erscheint gemäß der Neutrumregel 1 (Nom. = Akk., vgl. S. 39) im Akkusativ des GU auch der „blanke“ Infinitiv (wie im Deutschen: „ich will lernen“). Priscian: „Infinitivis verborum tam Graeci quam nos frequenter utimur loco nominum: et illi quidem pro omni casu, nos autem pro nominativo vel accusativo. Nominativus: bonum est digito monstrari. Accusativus: debet illam rem facere.“ Auch der Infinitiv des ACI (als Obj., s. S. 135) ist ein Akkusativ; dieser ACI (Typ 1 A) ist demnach eine Art doppelter Akkusativ: ein Nomen im Akkusativ + ein Infinitiv im Akkusativ – beide als Objekt zum Kopfverb; beim ACI als Subjekt ist der Infinitiv ein Nominativ. Der NCI ist analog ein doppelter Nominativ, vgl. S. 136 und S. 173.

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Erscheinungsformen des GU und GV: GU als Verbal-Substantiv oft mit

• Obj. - librum legendo - durch das Lesen des Buches

{ • Adv. - pulchre cantando - durch schönes Singen

{

• als Gen. attr. - ars cantandi - die Kunst des Singens • mit Präp. - ad legendum - zum Lesen

als Verbal-Substantiv

ad – zum in – beim

• mit nachgest. CAUSA (= um zu) - legendi causa • -ndo: fast ausschließlich Ablativ - docendo discimus

äquivalent

{

GV

(durch Lehren...) GU + Akk.obj.

oft: (s. GU) es geschieht

„unecht“

sog. GV-Konstruktion

keine Form von ESSE → kein „müssen“

damit es geschieht

Faustregel

GV als PV

„echt“

es muss geschehen

GV als PN mit Form von ESSE = müssen mit Negation = nicht dürfen vgl. E: you mustn’t

Obj. Libros legendo delectamur. – GU Kasus

Libris legendis delectamur. – GV KNG (durch das Lesen von Büchern...) DARE, TRADERE, MITTERE, CURARE u.ä.:

Caesar pontem faciendum curat. (sorgt dafür, dass… / lässt...)

Ceterum censeo Carthaginem esse delendam. („echtes“ GV oft im ACI) - Übrigens bin ich der Ansicht, dass Karthago zerstört werden muss.

Die Person, die etwas tun muss, steht oft im Dativ: DATIVUS AUCTORIS Rhenus Caesari transeundus est. - Der Rhein muss von C. überquert werden.

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Bei intransitiven Verben erscheint das „echte“ GV nur in unpersönlicher Konstruktion ( -ndum, lernpraktisch: ohne KNG-Kongruenz zu einem Nomen): Necessitati parendum est. – Man muss sich der Notwendigkeit fügen.

▶ Das GV als participium necessitatis drückt recht selten auch ohne eine Form von esse eine „Wertigkeit“ aus („müssen“ u. a.): GV als Attribut

-wert, -bar, -lich:

acta et agenda – Getanes und zu Tuendes (= sog. deutsches GV) homo non ferendus – ein unerträglicher Mensch



Wegen des rein nominalen Bezuges nennt man diese Funktion des GV auch die „attributive“; ein einprägsames Wortspiel bei Plinius d. J.: aut facere scribenda aut scribere legenda – entweder Beschreibenswertes leisten oder Lesenswertes schreiben



Beispielsätze S. 187

IV C 5 Prädikativum = PV ▶ Das PV ist ein Sonderfall des Adverbiale. ▶ In der grammatischen Systematik ist das PV – anders als die Mehrzahl der bis zu 2500 Jahre alten grammatischen Fachbegriffe – ein junger Terminus, der sich in der philologischen Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts etabliert hat. Begriffsgeschichtlich geht er auf einen Fachausdruck der antiken Logik / Dialektik zurück: L praedicativus – behauptend, aussagend (G = „kategorisch“ – im Gegensatz zu G „hypothetisch“).

▶ Mit dem Begriff PV belegte man diejenigen nominalen Erweiterungen in einem Satz, die sowohl mit einem Nomen kongruieren als auch eine adv. Best. zum Prädikat (oder zu einer anderen Verbalhandlung) beinhalten, also – grob gesprochen – zwischen Attribut (Bezug zum Nomen) und adv. Best. (Bezug zum Prädikat) stehen = „Doppelbezug“: 1. zum Nomen , 2. zum Prädikat ▶ Diese nominale Erweiterung des Prädikats kann ein Substantiv, Adjektiv, Partizip oder GV sein – sie ist im Kasus, Numerus und Genus an das Bezugsnomen angeglichen (s. o.) = KN(G)-Kongruenz; nur ganz selten liegt beim Substantiv keine Genus-Kongruenz vor.

Begriff

Doppelbezug

KN(G)

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Nebenaussage

▶ Da das PV eine nominale Nebenaussage zu einem Nomen enthält, die sich als eigenständiger Satz ausdrücken ließe, nennt H. Paul (19. Jh.) das PV, das er wohl als erster 1880 als besonderes Satzglied anerkannt wissen will, ein „abgeschwächtes Prädikat“.

PV / PN

Kurz: Das PV ist ein nominales Prädikat.

▶ Das PV ist eine nähere Bestimmung zu einem Vollverb, anders als das PN, welches ja mit Hilfsverb / copula steht. Das PN ist ein notwendiger Teil des Satzes, das PV ein nicht notwendiger. Hierbei ist zu beachten, dass auch Verben wie „machen zu“, „wählen zu“, „halten für“, „ernennen zu“, „sich erweisen als“ zu den sog. „kopulaartigen“ Verben gehören, die als solche einer Ergänzung durch ein PN bedürfen (s. u. doppelter Akkusativ, S. 173).

PV / Attr.

▶ Das PV drückt also nicht einfach eine Eigenschaft des Nomens aus (Attribut), sondern: Es gilt zwar für das Nomen, aber nur für den Moment der Prädikatshandlung (Subst., Adj.) oder zumindest auf diese bezogen (Partizip, GV).

Deutsch

▶ Lateinische prädikative Substantive und Adjektive werden im D oft mit vorgeschaltetem „als“ übersetzt, Adjektive oft auch schlicht als Adverb – bei Partizip und GV: siehe dort! Abgrenzung zu anderen Satzgliedern: • Attribut:

– pulchrum carmen cantamus

– Bezug nur zum Nomen

• PV: – Cicero primus orationem habet – sowohl zum Nomen als auch zum Präd. (Vollverb) • Adverbiale: – primo bibimus, tum cantamus

– nur zum Präd.

• PN: – carmen pulchrum est

– einerseits zum Nomen, andererseits zum Hilfsverb / copula

Beispiele: • Subst. als PV – Ämter / Positionen – Lebensalter

– Cicero consul orationem in foro habuit (als Konsul...). – Cicero adulescens permulta didicit.

• Adj. als PV – Reihenfolge – Cicero primus orationem habuit (als erster...). – körperliche Zustände – Cicero salvus e Graecia rediit (D: Adverb). – seelische Zustände – Cicero laetus rediit (D: Adverb). 140

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• Partizip als PV – PC / ABL. ABS. → S. 127 ff.

– Helvetii omnium rerum inopia adducti legatos ad Caesarem mittunt. – Bello Helvetiorum confecto totius fere Galliae legati ad Caesarem convenerunt.

• GV als PV → S.138

– Caesar pontem in Rheno faciendum curat.

IV C 6 Bestimmte superlativische Adjektive

Adjektivische Attribute in der Nähe zum PV (partitiver Gebrauch einiger Adjektive)

▶ In der Nähe zum PV können einige superlativische Adjektive der Orts-, Zeitangabe / Reihenfolge stehen, für deren richtige Übersetzung es entscheidend ist, zu erkennen, ob der Beurteilungsgegenstand ein Ding ist oder viele Dinge umfasst. A

B 1

2

3

1

summus mons der höchste Berg (rein attributiv) was für ein? / welcher?

summus mons die Spitze des Berges der Berg, und zwar da, wo er am höchsten ist.

Im Fall B für den Deutschen überraschend: Das Adjektiv kongruiert mit dem Substantiv, gilt aber nur für einen Teil

media insula die Mitte der Insel

media insula die mittlere Insel analog:

ultimo die primo mense media nocte

A oder B A oder B A oder B

u. a.

Im Falle A gebraucht also auch der Deutsche ein Adjektiv, im Falle B ein entsprechendes Substantiv. 141

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IV C 7 SUPINUM

Verb Nomen participialia

▶ Das SUP gehört nach antiker Auffassung zusammen mit den Partizipien und GU / GV zum „modus participialis”, weiter gefasst – unter Einbeziehung der Infinitive – zu den infiniten Verbformen (vgl. S.126). Diomedes: „Participialis verborum modus est, cuius verba, quod sunt participiis similia, participialia dicuntur ut legendi, legendo, legendum, lectum, lectu (s. u.), legendum est.“ ▶ „Supinum“ – auch dies (natürlich) eine Übersetzung aus dem G: „hyptios“ (
Donnerstag (Donar).

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Stunden / Nachtwachen

horae sexta hora = „Siesta“ 6 = Mittagsschlaf

vigiliae Nachtwachen

6

3

9

Tag

sole occidente

2

3

1

4

Nacht

Stundenlänge verschieden je nach geograph. Breite und Jahreszeit (Minutenu. Sekundenzählung unbekannt)

prima luce

Längenmaße: · pes, pedis – Fuß · passus, us – Schritt · milia passuum – „Meilen“ Münzen: · as, assis · sestertius = 2½ As ·