Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie: Das integrative Praxishandbuch zu Achtsamkeit, Rational-Emotiver Verhaltenstherapie und Spiritualität [1. Aufl. 2019] 978-3-662-59469-8, 978-3-662-59470-4

Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie (kurz: AKST) integriert Achtsamkeit, kognitiv-verhaltenstherap

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German Pages XI, 183 [193] Year 2019

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Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie: Das integrative Praxishandbuch zu Achtsamkeit, Rational-Emotiver Verhaltenstherapie und Spiritualität [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-59469-8, 978-3-662-59470-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung – Das Haus der Sorge für die Seele (Hans-Arved Willberg)....Pages 1-4
Die Grundstruktur der AKST (Hans-Arved Willberg)....Pages 5-37
Das Achtsamkeitstraining (Hans-Arved Willberg)....Pages 39-86
Kognitive Seelsorge und Therapie im Einzelsetting (Hans-Arved Willberg)....Pages 87-134
Arbeitsmaterialien (Hans-Arved Willberg)....Pages 135-183

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Hans-Arved Willberg

Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie Das integrative Praxishandbuch zu Achtsamkeit, Rational-Emotiver Verhaltenstherapie und Spiritualität

Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie

Hans-Arved Willberg

Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie Das integrative Praxishandbuch zu Achtsamkeit, Rational-Emotiver Verhaltenstherapie und Spiritualität

Hans-Arved Willberg Waldbronn, Deutschland

ISBN 978-3-662-59469-8 https://doi.org/10.1007/978-3-662-59470-4

ISBN 978-3-662-59470-4 (eBook)

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Vorwort

„Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie“: Das Akronym dafür ist AKST. Darum habe ich gezögert, ob ich diese Bezeichnung wählen soll. Die Assoziation ist ja klar, wenn man das Wort ausspricht: AKST wie Axt? Was soll da zerschlagen werden? Wie passt das zum erforderlichen Fingerspitzengefühl in Seelsorge und Psychotherapie? Nun ja, zunächst ist es eben die pragmatische Abkürzung, die sich aus der angemessenen Bezeichnung ergibt. Aber etwas Sinn kann man der „Axt“ darin schon abgewinnen, wenn man nämlich an den gordischen Knoten denkt. Dem Mythos nach hatte das Orakel prophezeit, die Herrschaft über Asien werde gewinnen, wer den Knoten lösen konnte, der die Deichsel mit dem Zugjoch am Streitwagen des Königs Gordios verband. Die klügsten Köpfe waren schon daran gescheitert, als Alexander der Große sich das Problem betrachtete. Es gibt zwei Varianten der Legende: Die bekanntere ist der berühmte Schwerthieb, aber man erzählte auch von einem alternativen Lösungsweg: Statt sich wie die andern nur auf den Knoten selbst zu konzentrieren, habe er sich das ganze System angeschaut und festgestellt, dass er nur einen Stift an der Deichsel herausziehen musste, um die scheinbare hoffnungslose Verknotung zu beenden. Die Legende vom gordischen Knoten muss nicht das rücksichtlose Dreinschlagen symbolisieren, das die tatsächliche Komplexität des Problems ignoriert und der Verschlungenheit der Fäden, die sich darin zusammenknoten, überhaupt nicht gerecht wird, um eine rasche Lösung zu erzwingen, die mehr zerstört als heilt. Dieser Verdacht ist einer der Hauptgründe dafür, dass sich die Pastoralpsychologie insgesamt über Jahrzehnte hinweg den Kognitiven Therapien und der Verhaltenstherapie gegenüber, die man schon seit geraumer Zeit sinnvollerweise unter dem Begriff der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) zusammenfasst, reserviert verhalten hat. Man konnte sich nicht vorstellen, dass psychotherapeutische und tief gehende seelsorgerische Prozesse auch anders oder sogar noch effektiver als auf den langen und mitunter verschlungenen Wegen der Psychoanalyse zum Ziel kommen könnten. Gewisse andere Therapieformen mit pragmatischerer Vorgehensweise wollte man als Ergänzung akzeptieren, nicht aber als Ersatz der tiefenpsychologischen Wege. Einige dieser Therapieformen wurden aber von Psychoanalytikern entwickelt, die erkannt hatten, dass die analytische Methodik in vielen Fällen durchaus nicht die erhoffte Wirkung erzielte. Mittlerweile wurde viel Psychotherapieforschung betrieben und man kann darum heute feststellen, dass tiefenpsychologische Verfahren nur V

VI

Vorwort

dann angezeigt sind, wenn sich das Problem für die betroffene Person rational nicht fassen lässt und wenn ihr die Methodik liegt. Beides ist viel seltener der Fall als man früher einmal glaubte, insbesondere zu den Zeiten, in denen man noch weithin dachte, Psychoanalyse und Psychotherapie seien identisch. Aber das ist schon eine Weile her. Heute liegt es näher, wenngleich auch das ziemlich übertrieben wäre, eher die KVT mit der Psychotherapie zu identifizieren, weil sie zum Zugpferd der Psychotherapieentwicklung geworden ist. Ihr Erfolg lässt sich nicht leugnen; die vielen Darstellungen ihrer Wirkungsweise sind transparent, evident und neuropsychologisch begründet. Die KVT ist eine von den Richtungen der Psychotherapie, die aus der Einsicht entstanden, dass die psychoanalytischen Methoden den Knoten des psychischen Problems oft nicht lösen können, dass es aber auch noch andere und oft erfolgreichere Lösungswege gibt. Dem Duden nach bedeutet die Metapher „Den gordischen Knoten durchhauen“, „eine schwierige Aufgabe verblüffend einfach“ zu lösen. Die Lösung nach dem Muster des gordischen Knotens ergibt sich aus dem anderen Blickwinkel, den man sich zur Betrachtung des Problems erlaubt. In der Pastoralpsychologie hat sich mittlerweile die Richtung der Psychotherapie, die das explizit ins Zentrum ihrer Modelle gerückt hat, recht gut etabliert. Das Finden der überraschend einfachen Lösung, die unter Umständen das ganze komplexe Problem recht schnell und leicht durch das Ansetzen bei einem bestimmten Punkt aushebeln kann, der einfach bislang noch nicht im Blickfeld lag, ist das Markenzeichen der Systemischen Psychotherapie. Aber gerade darin ist sie eng mit den kognitiven Therapieansätzen verwandt. Entscheidend für solche manchmal „verblüffend einfachen“ Lösungen ist, sofern sie nicht durch therapeutische Manipulationen herbeigeführt werden, dass die betroffene Person es sich erlaubt, das Problem selbst aus einer anderen Perspektive als bisher zu betrachten, mit anderen Worten: Anders darüber zu denken. Das methodische Zentrum der AKST bildet die Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT) (Dryden & Branch 2008; Ellis 1993; Ellis 1996; Walen DiGiuseppe Wessler 2005), eine der Hauptformen der KVT (Stavemann 2005). Dort geht man davon aus, dass im Kern der meisten seelischen Verknotungen die so genannten Mussforderungen stehen: Die Person reagiert auf eine bestimmte Situation A auf eine ungünstige Weise C, weil sie ihr mit der irrigen Überzeugung B begegnet, keine andere Wahl zu haben. Das Problem muss ihrer Meinung nach so bewertetet werden, wie sie es tut, und es muss auf die Weise beantwortet werden, die sie wählt, selbst wenn dadurch unsinniger Schaden entsteht. Die kognitive Umstrukturierung als Weg und Ziel der Kognitiven Therapien, worunter der Lernvorgang des nachhaltigen Umdenkens zu verstehen ist, besteht in nichts anderem, als sich zugunsten einer nicht selten verblüffend einfachen und effektiven Sichtweise des Problems vom Rigorismus der bisherigen Bewertung zu verabschieden und sich dadurch eine andere Herangehensweise zu ermöglichen, die endlich zur erfolgreichen Problembewältigung führt. Die an diesem zentralen Punkt der KVT so ähnliche Schulrichtung der Systemischen Therapien hat den Eingang in Pastoralpsychologie und Seelsorge schon gefunden. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, als sei ein regelrechter „Hype“ daraus geworden. Dabei ist im Spektrum der Systemischen Therapien aber auch eine durchaus bedenkliche

Vorwort

VII

Tendenz festzustellen, die sich in der KVT nur dort wiederfindet, wo sich Anwender willkürlich von ihrem grundsätzlich als verbindlich angesehenen ethischen Selbstverständnis entfernen. Die Verfahren und Methoden der KVT sind als Hilfen zur Selbsthilfe im Sinne einer Dienstleistung definiert, mit der Rat und Hilfe suchende Menschen tatkräftig unterstützt, aber keinesfalls bevormundet und manipuliert werden. Oberstes ethisches Prinzip und therapeutisches Ziel der KVT ist die Selbstbestimmung der Personen, die ihren Dienst in Anspruch nehmen. Darin besteht das verbindende Merkmal der Humanistischen Psychotherapien, denen sie deswegen zuzuordnen ist. Manche Formen Systemischer Therapie lassen diese Maxime jedoch vermissen, noch dazu auf Wegen, die der Klientel selbst verborgen bleiben. Dort kann unter Umständen der Zweck die Mittel heiligen und die einzelne Person sozusagen „zu seinem Glück gezwungen“ werden. Löst ein Behandler den Gordischen Knoten der betroffenen Person oder dient er ihr nur, ihre eigene konstruktive Lösung zu finden und diese aufgrund freier Entscheidung zu vollziehen, sofern sie das auch selbst für sinnvoll hält? Die KVT steht in der sokratischen Tradition. Seelsorge und „Seelenführung“ (Psychagogik) wird darin mit Sokrates als Hebammendienst verstanden, durch den die Einzelnen zur reifen Zeit ihre eigene Wahrheit zur Welt bringen. Der Geburts- und Wachstumsprozess der Selbstbestimmung ist die Gegenbewegung zur Selbstentfremdung des Menschen. Selbstbestimmung ist Mündigkeit: Die Person kommt zu sich selbst, steht zu sich selbst, spricht für sich selbst, entscheidet für sich selbst. Die Theologie hat sich in der Vergangenheit als recht anfällig für Maximen der Fremdbestimmung gezeigt, aber immer und nur dort, wo sie sich, ihrem Dogma der Gottesebenbildlichkeit des Menschen entsprechend, auf die Gewissensfreiheit der Einzelnen besann, konnte sie wesentliche Beiträge zur Humanisierung der Menschheit leisten. Die KVT hat sich diese Freiheit auf die Fahne geschrieben. Es war darum nicht nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch ihren Weg in die wissenschaftliche Seelsorgelehre bahnen würde, sondern es ist auch endlich an der Zeit. In Nordamerika werden Formen der KVT schon seit langem in der praktischen Seelsorge angewendet, häufig geschieht das aber in einem fundamentalistischen theologischen Bezugsrahmen, damit oft auch als Mittel zum Zweck der Fremdbestimmung, und allermeist geschieht es ohne wissenschaftliche Begründung. Der deutschsprachige Raum kam in dieser Hinsicht insgesamt bis vor Kurzem praktisch wie theoretisch über bescheidene Ansätze nicht hinaus. Es ist aber etwas in Bewegung gekommen. 2015 hat Rainer Höfelschweiger mit seiner Habilitationsschrift „Albert Ellis und die Religion“ (Höfelschweiger 2015) einen ersten Schritt getan, um dieses große brachliegende Feld in der wissenschaftlichen Seelsorgelehre zu bestellen. Zwei Jahre später folgten zeitgleich mit den Dissertationen „Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie“ von Katja Dubiski (Dubiski 2017) und „Theorie der Kognitiven Seelsorge“ (Willberg 2017) aus meiner Feder zwei weitere Schritte dorthin. Mit meiner Theorie der Kognitiven Seelsorge habe ich eine wissenschaftlich fundierte, erkenntnistheoretisch begründete und theologisch offene Grundkonzeption der Kognitiven Seelsorge entwickelt. Daraus ergibt sich wie von selbst die Frage der praktischen Umsetzung, für die ich mit diesem Buch eine erste Vorlage gebe.

VIII

Vorwort

Literatur Dryden, W., Branch, R. (2008). The Fundamentals of Rational Emotive Behaviour Therapy: A Training Handbook. 2. Aufl. Chichester: John Wiley & Sons. Dubiski, K. (2017). Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie: Plädoyer für eine psychologisch informierte Seelsorge. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Ellis, A. (1993). Die rational-emotive Therapie: Das innere Selbstgespräch bei seelischen Problemen und seine Veränderung. 5., stark erw. Neuausgabe. München: J. Pfeiffer. Ellis, A. (1996). Training der Gefühle: Wie Sie sich hartnäckig weigern, unglücklich zu sein. Aus d. Amerik. v. G.H. Price. Landsberg a.L.: mvg. Höfelschweiger , R. (2015). Albert Ellis und die Religion: Poimenische Perspektiven der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie. Norderstedt: Books on Demand. Stavemann, H.H. (2005). KVT-Praxis: Strategien und Leifäden für die Kognitive Verhaltenstherapie. Weinheim, Basel: Beltz PVU. Walen, S.R., DiGiuseppe, R., Wessler, R.L. (2005). RET-Training: Einführung in die Praxis der rational-emotiven Therapie. Aus d. Amerik. v. A. Arnold. 2., um ein Nachwort erw. Ausg. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Willberg , H.-A. (2017). Theorie der Kognitiven Seelsorge. Ettlingen: KomBi.

Waldbronn Oktober 2019

Hans-Arved Willberg

Inhaltsverzeichnis

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Einleitung – Das Haus der Sorge für die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Grundstruktur der AKST . . . . . . . . . . . 2.1 Die kleinste Analyseeinheit . . . . . . . . . . 2.2 Der Betafaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das ABC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der Maria-Modus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das integrative Modell . . . . . . . . . . . . . 2.6 Der Glaube und die Glaubwürdigkeit . . . . 2.7 Das Liebesgebot und die Mussforderungen 2.8 Der dreifache Weg . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Zwischen Akzeptanz und Veränderung . . . 2.10 Die Praxisstruktur der AKST im Überblick Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 5 7 10 14 16 18 21 24 27 30 35

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Das Achtsamkeitstraining . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorbereitung und Einführungsmeeting . . . 3.2 Der Ablauf des gesamten Gruppentrainings 3.3 Thema 1: Zur Ruhe kommen . . . . . . . . . 3.4 Thema 2: Entautomatisieren . . . . . . . . . . 3.4.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Psychoedukation . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Hausaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Thema 3: Denkalternativen finden . . . . . . 3.5.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Psychoedukation . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Hausaufgabe . . . . . . . . . . . . . . .

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39 41 43 43 52 53 53 59 62 63 63 63 65 65

IX

X

Inhaltsverzeichnis

3.6

Thema 4: Achtsam kommunizieren 3.6.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Psychoedukation . . . . . . . 3.6.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4 Hausaufgabe . . . . . . . . . . 3.7 Thema 5: Akzeptieren . . . . . . . . 3.7.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Psychoedukation . . . . . . . 3.7.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . 3.7.4 Hausaufgabe . . . . . . . . . . 3.8 Thema 6: Positive Emotionen . . . . 3.8.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . 3.8.2 Psychoedukation . . . . . . . 3.8.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . 3.8.4 Hausaufgabe . . . . . . . . . . 3.9 Thema 7: Achtsamer Lebensstil . . 3.9.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . 3.9.2 Übung . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Thema 8: Persönliches Resümee . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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66 66 66 74 74 75 75 75 77 78 79 79 79 82 82 82 83 83 84 84

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Kognitive Seelsorge und Therapie im Einzelsetting 4.1 Die Beratung ist eine Dienstleistung . . . . . . . . 4.2 Die Einführung in die ABC-Methodik . . . . . . 4.3 Keine Problemlösung ohne Konkretion . . . . . . 4.4 Ein Modell-ABC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Analyse des Modell-ABCs . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Das A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Das C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Das B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Das D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Das E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Der Stress mit dem Stress . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Die Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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87 87 88 90 91 97 97 102 107 112 118 125 130 133

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Arbeitsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Der Autor

Dr. phil. Hans-Arved Willberg promovierter Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Theologe M.A. und M.Th., Philosoph M.A., Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut & Coach (DIREKT e.V.); seit vielen Jahren Praktiker in Seelsorge, Coaching, pychologischer Beratung und Seelsorgeausbildung.

XI

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Einleitung – Das Haus der Sorge für die Seele

Das Theoriemodell der AKST gleicht einem Haus, das zur Firma „Sorge für die Seele“ gehört (Abb. 1.1). Zu dieser Firma gehört eine Vielzahl von Initiativen, die sich der Sorge für die Seele widmen. Im Gesundheitswesen wird die „Sorge für die Seele“ aus einem ganzheitlichen Seelenverständnis heraus dort, wo sie das spirituelle Bedürfnis besonders berücksichtigt, als „Spiritual Care“ bezeichnet. Es könnte sein, dass diese Bezeichnung den herkömmlichen Seelsorgebegriff, der semantisch mit kirchlichen Amtsfunktionen und bestimmten religiösen Fragestellungen verbunden ist, zunehmend in den Hintergrund treten und verblassen lässt. Die mittlerweile von der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) postulierte biopsycho-sozio-spirituelle Konzeptionierung der Heilkunde insgesamt wird von vielen Schulrichtungen der Psychotherapie und der Seelsorge noch nicht wirklich geteilt. Entweder wird je nach Menschenbild die eine oder andere der vier Dimensionen einseitig hervorgehoben oder sie werden grundsätzlich verschiedenen Häusern zugeordnet. Dann mag man zwar schon generell ein ganzheitliches Menschenbild vertreten, betont aber für die Praxis das Dogma, die Kompetenzbereiche sollten möglichst unvermischt bleiben. Die Seelsorge erhält ihr eigenes Haus neben dem der Psychotherapie. Im besten Fall pflegt man ein freundschaftliches Verhältnis zur Nachbarschaft, man tauscht sich aus, lernt voneinander und schickt bisweilen auch Klientinnen und Klienten hin und her. Das Haus der AKST hingegen hat zwei gleichwertige Haupteingänge auf beiden Seiten. Der eine ist, dem immer noch gültigen Sprachgebrauch gemäß, mit „Seelsorge“ überschrieben, der andere mit „Psychotherapie“.1 Dieses Haus ist eine Art Praxisgemeinschaft von Seelsorge und Psychotherapie. Beide Genres haben ihre eigenen Räume darin, die ihren spezifischen Kompetenzen vorbehalten sind. Aber anders als sonst, wo nur der Flur

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Im Blick auf die Zielsetzung dieses Buches definiere ich diese beiden als die Haupteingänge, möchte aber betonen, dass es natürlich auch noch die anderen Eingänge der Lebenshilfe, Pädagogik und Beratung und vielleicht noch weitere gibt, je nach Begrifflichkeit.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H.-A. Willberg, Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59470-4_1

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Einleitung – Das Haus der Sorge für die Seele

Abb. 1.1 Das Haus der AKST

Sorge für die Seele Spiritual Care

spirituell erweitert e api her t o ych

therapeutisch Ps ge lsor

See

die Praxisräume verbindet, gibt es hier mehr Verbindendes als Trennendes. Den größten Teil des Hauses nutzen Psychotherapie und Seelsorge gemeinsam. Durch den Seelsorgeeingang eröffnen sich die Räume des Hauses in der Perspektive therapeutischer Seelsorge, durch den Therapieeingang erscheinen dieselben Räume in der Perspektive spirituell erweiterter Psychotherapie. Aus guten Gründen verwehrt der Gesetzgeber den Personen, die über keine psychotherapeutische Approbation verfügen, die Behandlung von psychischen Störungen und Erkrankungen, weil es sich dabei um heilkundliche Angelegenheiten handelt, die eine hohe Fachkenntnis verlangen. Keineswegs verwehrt sie der Seelsorgerin und dem Seelsorger aber, mit der Psychotherapie im gleichen Haus tätig zu sein, was auch ganz unsinnig wäre, da doch Seelsorge und Psychotherapie ihres gemeinsamen Themas wegen, der Sorge für die Seele, in weiten Teilen kongruent sind. Nur sind sinnvollerweise ein paar Räume des Hauses per Gesetz zur Behandlung von Störungen und Erkrankungen für approbierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten reserviert. Das Haus hat jedoch Zimmer genug, dass auch die Seelsorge ihr Areal abstecken kann, das sie allein für sich beansprucht. Das sind ebenso Kompetenzbereiche wie die der Psychotherapie, nur sind sie im Allgemeinen gesetzlich nicht so genau markiert. Trotzdem: Es gibt gewisse seelsorgerische Handlungen, die nur Klerikern zugesprochen sind, es gibt spezielle theologische Themen in der Seelsorge, die nach entsprechender Fachkompetenz verlangen, und es gibt konfessionelle Räume, die für Begegnungen von Menschen reserviert sind, die gemeinsame Glaubensanschauungen teilen. Sofern diese konfessionellen Räume sich in das Ganze des Hauses einfügen, haben auch sie dort auch ihren guten Sinn. Die Berechtigung, in den verschiedenen Kompetenzräumen des Hauses tätig zu sein, erhält natürlich nur, wer über diese Kompetenzen auch nachweislich verfügt. Für den Zutritt durch die Haupteingänge besteht hingegen keine Ausweispflicht. Man muss weder einer bestimmten Konfessionen angehören noch Kleriker sein noch Psychotherapeutin oder Medizinerin. Wichtig ist nur, dass man sich zur Sorge für die Seele berufen weiß und

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Einleitung – Das Haus der Sorge für die Seele

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verantwortlich damit umgeht. Prinzipiell ist da jede und jeder willkommen, ob „Laien“Seelsorger, Psychologische Beraterin, Coach, Sozialpädagogin, oder wer auch immer mit der ganzheitlichen Sorge für die Seele befasst ist. Allerdings werden sich gerade deshalb Personen, die dazu neigen, ihre eigene Konfession oder Profession zu verabsolutieren, kaum besonders wohl darin fühlen. Es ist ein offenes Haus. Vielen behagt so etwas nicht. Das Phänomen, dass Psychotherapie und Seelsorge grundsätzlich unterschieden werden, ist so jung wie die Psychotherapie selbst. Etwas großzügig gefasst ist „Psychotherapie“ ja eigentlich gar nichts weiter als ein Fremdwort für heilungsorientierte Seelsorge. Viktor Frankl, eine der Gründergestalten der Psychotherapie überhaupt, dessen sinnzentrierte Logotherapie sich gerade auch unter herkömmlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern großer Beliebtheit erfreut, hat die Entstehung der säkularen Psychotherapie damit in Verbindung gebracht, dass sich die Kirche den tatsächlichen Lebensproblemen der Menschen entfremdet habe. Was die Kirche versäumte, oblag nun der psychiatrisch gebildeten Ärzteschaft. Darum führte Frankl das Wort „Ärztliche Seelsorge“ als Bezeichnung für seine Psychotherapieschule ein (Frankl 1998). Das Haus der AKST unterscheidet sich noch auf eine weitere Weise deutlich von den Häusern üblicher Praxisgemeinschaften. Dort geht es fast immer vornehmlich um die Behandlung von Krankheiten. Aber in diesem Haus geht es vor allem um die seelische Gesundheit. Sie ist Ausgangspunkt, Leitfaden und Ziel aller Arbeit in seinen verschiedenen Räumen. Auch die Behandlung von Störungen, Konflikten und Entzweiungen aller möglichen Art, die den Tätigen dort begegnen, steht nicht unter dem Vorzeichen der Bekämpfung des Kranken, sondern der Förderung des Gesunden. Je gesünder jemand denkt und lebt, desto geringer ist seine Störungsanfälligkeit. Diese scheinbare Binsenweisheit ist für Medizin und Psychotherapie eine eher revolutionäre Erkenntnis, weil das bisherige so genannte „Gesundheitswesen“ eigentlich ein „Krankheitswesen“ war. In der Psychotherapie läuft die Förderung des Gesunden der Bekämpfung des Kranken erst seit Kurzem den Rang ab. Das Haus der AKST ist kein Krankenhaus, sondern ein Gesundheitshaus. Aus psychologischer Perspektive darf es der Positiven Psychologie zugeordnet werden, aus theologischer Perspektive einer lebensbejahenden Seelsorge auf dem Fundament konsequenter Rechtfertigungslehre, dominiert von Vertrauen, Hoffnung und Liebe, im Unterschied zu den ebenfalls krankheitszentrierten Modellen einer Seelsorge zur Bekämpfung von Sünde und Lastern. Allerdings kommt die Förderung der Gesundheit natürlich auch nicht ohne die Heilung von Krankheiten aus, seien sie medizinisch, psychisch, sozial oder spirituell zu verorten. Insbesondere hierfür bedarf es jener speziellen Kompetenzen. Achtsamkeitsbasiert ist die Kognitive Seelsorge & Therapie, weil Achtsamkeit die gesunde Basis ist, von der aus und zu der hin Psychotherapie und Seelsorge geschieht: Ausgangspunkt und Endpunkt spezieller Interventionen, wenn das Leben in der Achtsamkeit durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt ist. Die Pflege der Achtsamkeit ist das Übergreifende der mehr oder weniger strukturierten Maßnahmen zur Förderung der seelischen Gesundheit in den gemeinsamen Räumen von Psychotherapie und Seelsorge in

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Einleitung – Das Haus der Sorge für die Seele

diesem Haus. Was uns seelisch stört, raubt uns die Achtsamkeit. Der entscheidende Schritt zur Heilung solcher Störungen ist der achtsame Umgang damit. Wer seiner Störung zum Trotz wieder auf die Basis der Achtsamkeit zurückfindet, hat ihr damit schon die Macht über sich genommen. Seelisch gesund zu leben heißt achtsam zu sein. So also sieht das Haus der AKST im Grundriss aus. Jetzt schauen wir uns noch die Grundstruktur seiner Inneneinrichtung an.

Literatur Frankl, V.E. (1998). Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. 7. Aufl. Reihe Geist und Psyche. Hg. W. Köhler. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.

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Die Grundstruktur der AKST

2.1

Die kleinste Analyseeinheit

Die verschiedenen Formen der KVT legen ein Schema zugrunde, das durch die Buchstabenfolge S-O-R-K-C repräsentiert wird. Es steht für „die kleinste Analyseeinheit einer Verhaltensepisode“ (Kanfer et al. 1996, S. 244). Das bedeutet: Alles menschliche Verhalten unter Einbezug des Bewusstseins läuft, wenn man seine Abfolge in die kleinste Einheit zerlegt, nach diesem Schema. Das S-O-R-K-C bildet sozusagen die einzelnen Perlen an der langen Kette des Verhaltens im bewussten Zustand. Grundlegend für das Prinzip der Achtsamkeit genau wie das der Kognitiven Therapie und Seelsorge ist die Unterscheidung, dass ein Verhalten im bewussten Zustand nicht identisch mit einem bewussten Verhalten ist. Unter bewusstem Verhalten verstehen wir, dass jemand eine bewusste Entscheidung getroffen hat, dieses Verhalten zu wählen. Es sind zwei völlig verschiedene Angelegenheiten, entweder im bewussten Zustand eine rote Ampel zu überfahren, ohne es zu merken, oder dem Beifahrer zu sagen: „Es ist mir bewusst, dass ich jetzt bei Rot über die Ampel fahren werde“, obwohl der Fahrer sich in beiden Fällen sowohl im bewussten Zustand befindet als auch das gleiche Verhalten zeigt. Aber nur im zweiten Fall macht er sich bewusst, was er tut. Auch dann, wenn wir das unterlassen, treffen wir Entscheidungen, aber wir reflektieren sie nicht. Im ersten Fall könnte der Fahrer zum Beispiel daran gewöhnt sein, dass sich auf dieser Strecke, die er bestens kennt, noch nie eine Ampel befand. Er trifft darum die gewohnheitsmäßige Entscheidung, auf dem Straßenabschnitt, der jetzt mit der Ampel versehen ist, Gas zu geben und die eigentlich harmlose Umgebung nicht in den Blick zu nehmen. Diese Entscheidung fällt keineswegs unbewusst oder gar aus dem „Unterbewusstsein“ heraus. Sie hat sich nur durch Gewöhnung automatisiert, wie so vieles im Leben. Genauso sind auch die Vorgänge des Autofahrens selbst automatisiert: Während er lenkt, schaltet und auf die Pedale tritt, kann der Fahrer seinen Gedanken nachgehen, sich konzentriert unterhalten oder hingebungsvoll Musik hören. Aber natürlich bleibt er auch in der Lage, sich jederzeit wieder die Tätigkeit des Fahrens bewusst machen und darauf seine Aufmerksamkeit zu lenken. Die „kleinste Analyseinheit“ des Verhaltens kann also © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H.-A. Willberg, Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59470-4_2

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2 Die Grundstruktur der AKST

entweder mit einer bewussten Entscheidung oder mit einer nicht bewussten Entscheidung auftreten. Nicht bewusste Entscheidungen sind nicht reflektierte Entscheidungen. Sehr oft sind sie, wie im Beispiel des Autofahrers, nur darum nicht bewusst, weil sie automatisiert sind. Das kann, wie das Beispiel ebenfalls zeigt, sehr hilfreich sein, aber auch sehr gefährlich. An diesem Punkt liegt der gemeinsame Ansatz von Achtsamkeitstraining und Kognitiver Seelsorge und Therapie: Hier wie dort geht es darum, ungünstige und schädigende Automatisierungen zu entautomatisieren (Langer 2015) und dadurch fähig zu werden, das Verhalten in dieser Situation bewusst zu steuern. Das Schema S-O-R-K-C hat sich aus dem jahrzehntelangen Forschungsprozess der Verhaltenspsychologie und Verhaltenstherapie entwickelt. Diese Forschungen wurden zu einem großen Teil im weltanschaulichen Bezugsrahmen des Behaviorismus vollzogen. Dort wird der Mensch wie alle Natur als biologische Maschine angesehen. Alles menschliche Verhalten sei dadurch bestimmt, dass ein Stimulus (S) (Reiz, Situation) eine Reaktion (R) (Response) hervorruft, die dadurch bedingt ist, dass die Person eine Konsequenz (C) erwartet, die sie aus biologisch determinierten Gründen entweder vermeiden oder erreichen möchte. Je nachdem, wie vermeidenswert oder attraktiv die zu erwartende Konsequenz der Person erscheint, ist sie stärker oder weniger stark dazu motiviert, das entsprechende Verhalten zu zeigen. Darum nennt man die Konsequenz (C) auch Verstärker. Somit liegt also ein Prinzip S-R-C vor. Es ist uns allen wohl vertraut. Hunden zum Beispiel bringen wir das Verhalten bei, das wir uns wünschen, indem wir die Verstärker „Lob“ und „Leckerle“ einsetzen, wenn sie es zeigen, sowie Tadel und Bestrafung, wenn sie davon abweichen. Das führt aber nur zum Erfolg, wenn man das richtige Maß dafür findet. Zu viele Leckerle schaden der Erziehung und zu viel Bestrafung erst recht. Das für den Erfolg passende Verhältnis der Verstärker (C) zur gewünschten Verhaltensreaktion (R) nennt man in der Verhaltenstherapie das Kontingenzverhältnis (K). Damit erweitert sich das Schema S-R-C zum S-R-K-C. In der behavioristischen Verhaltenstherapie war man der Ansicht, dass mit der Formel S-R-K-C nicht nur das Verhalten und die Verhaltensänderung von Hunden und dergleichen, sondern auch von Menschen hinreichend benannt seien. Aber wo bleibt dann noch der Unterschied zwischen menschlicher Erziehung und Dressur? In der Tat verneinte der Behaviorismus, dass es eine menschliche Willensfreiheit gibt. Demnach unterscheidet sich der Mensch vom Tier nur graduell durch biologische Komplexität und sein angeblich freier Wille ist eine Illusion, die er sich vorzaubert, um mit jener Komplexität zurechtzukommen. Durch die so genannte Kognitive Wende ab den 1950er Jahren wurde dieses reduktionistische Bild vom menschlichen Verhalten überwunden. In der Verhaltenspsychologie behielt man nun das Schema S-R-K-C zwar bei, weil es ja nicht falsch ist, sondern nur im Fall des Menschen zu kurz greift, aber man erweiterte es um den entscheidenden Faktor der Organismusvariablen (O) zum S-O-R-K-C (Kanfer et al. 1996). Nun lag es auch, zeitgleich mit dem Aufblühen der Kognitiven Therapien, im Horizont der Verhaltenstherapie, den Unterschied zwischen Entscheidungen im bewussten Zustand und bewusst reflektierten Entscheidungen als wesentlichen Ansatz zum Verständnis der Entstehung von Störungen einerseits und zu ihrer Bewältigung andererseits zu betrachten.

2.2 Der Betafaktor

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Mit anderen Worten: Man fand zur Freiheit des Willens zurück und erkannte ihre große Bedeutung für die seelische Gesundheit. Man machte dabei aber nicht den Fehler, die Willensfreiheit als das Walten einer dualistisch gedachten unabhängigen Geistesmacht anzusehen. Wir können es so definieren: Freiheit des Willens ist für uns Menschen nur möglich in Bezug auf die realen Gegebenheiten. Von Freiheit des Willens lässt sich nur sprechen, wenn wir das, was wir wollen, auch können. Dieser Zusammenhang ist mit der Organismusvariablen (O) bezeichnet. Sie besteht aus drei Komponenten (Willberg 2017): Externale Faktoren Alpha-Variablen Äußere Belastungen

Internale Faktoren Beta-Variablen Bewertungen Kognitive Schemata

Gamma-Variablen Biophysische Veranlagungen (Gene, Hormone, Temperament, körperliche Befindlichkeit usw.)

Für das Verständnis der „kleinsten Analyseeinheit einer Verhaltensepisode“ bedeutet das: Die menschliche Reaktion (R) aufgrund eines Verstärkers (C), der in einem Kontingenzverhältnis (K) wirksam ist, erfolgt nicht mechanisch, sondern durch das Zusammenspiel des Verstärkers und der externalen und internalen Faktoren, die den Organismus der Person mehr oder weniger unabhängig von den augenblicklichen Verstärkern im gegenwärtigen Zustand beeinflussen. In der Beta-Variablen liegt das Moment der Willensfreiheit. Wir können viele Gegebenheiten gar nicht oder nur schwer verändern, aber wir können uns Gedanken darüber machen, wie wir sie bewerten wollen. Die Willensfreiheit eines Menschen, der sich in einer Gefängniszelle befindet und begreiflicherweise nichts lieber möchte als sie zu verlassen, ist unendlich groß, was seine Wünsche angeht. So gesehen ist die Willensfreiheit des Menschen so groß wie sein Vorstellungsvermögen. Aber wo ein Wille ist, da ist nicht immer auch ein Weg. Die Freiheit des Willens, zu tun, was der Eingesperrte will, endet an der unangenehm nahen nächsten Wand. Statt zum Beispiel mit dem Kopf dagegen zu schlagen, kann sich die Person aber darauf besinnen, wie sie am vernünftigsten mit der schwierigen Lage umgehen möchte. In dieser Hinsicht sind wir Menschen tatsächlich ziemlich frei. Wie wir über die schwierige Lage denken, ist das entscheidende Kriterium dafür, ob wir sie auf seelisch gesunde Weise bewältigen oder nicht. Das ist der Kern sowohl der Achtsamkeit als auch der Kognitiven Seelsorge und Therapie.

2.2 Der Betafaktor Aber man kann es auch übertreiben, so wie die Rigoristen unter den alten Stoikern. Sie idealisierten den Menschen, dessen vernünftiges Urteil völlig unabhängig von den äußeren Umständen und genauso auch von den eigenen Gefühlen und Stimmungen bleibt. Darauf kamen sie ihrer einseitigen Vorstellung von der menschlichen Vernunft wegen. Sie glaubten, diese sei ihrem Wesen nach völlig souverän. Wer sich irgendwie durch Affekte und äußere Umstände in seinen Urteilen und Entscheidungen beeinflussen lasse, der gehe dar-

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2 Die Grundstruktur der AKST

um immer einem Irrtum auf den Leim, denn wenn er sich nur wirklich auf seine Vernunft besinnen würde, dann könne kein Umstand oder Zustand die Freiheit seines Denkens und Entscheidens beeinträchtigen. Der menschliche Geist schwebt aber nicht über den Dingen, sondern er reflektiert sie. Eine völlige mentale Souveränität muss darum eine abstrakte Idee bleiben, mit der keiner etwas im praktischen Leben anfangen kann. Was wir geistig reflektieren, ist sinnlich und leiblich. Vernünftig nennen wir den Reflexionsvorgang, wenn er zu einem Urteil gelangt, das in Anbetracht einer bestimmten Situation (S) die Weiche zu einer Reaktion (C) stellt, die am besten dem authentischen Bedürfnis der Person (im Blick auf diese eine Situation) entspricht. Kurz gesagt: Vernünftig ist immer das, was im Blick auf die gerade konkret gegebene Situation sinnvoll erscheint, weil es im Unterschied zu den Alternativen gut tut. Das mental zu bestimmen, kann ziemlich schwer sein. „Das einzig Wahre“ kommt selten dabei heraus, viel häufiger ist das, was gerade noch am besten tut, ein geringeres Übel und ein bescheidener kleiner Schritt in die richtige Richtung. Unser vernünftiges Urteilsvermögen ist so frei und weit wie der Horizont, der sich ihm bietet. Die Grenzen des Horizonts werden durch die Alpha- und die Gammavariable bestimmt. Der Faktor Alpha ist für den Zelleninsassen das Eingesperrtsein. Auch wenn er sich ein sehr vernünftiges und hilfreiches Urteil darüber bildet, kann er nicht verhindern, dass es ihn stresst. Unvermeidlichen Stress durch den Faktor Alpha erfahren wir immer dann, wenn gewisse authentische Bedürfnisse trotz besten Willens und sehr vernünftigen Umgangs mit der Lage keine Erfüllung finden. Dieser Stress trifft auf die individuelle Veranlagung (Disposition) des Organismus wie ein Lastwagen auf die Brücke, über die er rollt (Abb. 2.1) (Willberg 2006, S. 10). Hält die Brücke der Belastung stand? Für diesen Faktor steht die Gammavariable. Alpha ist der Stress, den die reale (äußere) Belastung erzeugt, die so ist, wie sie ist, Gamma ist die (innere) Belastungsfähigkeit der Person in Bezug zu diesem Stress. Es liegt auf der Hand, dass die drei Variablen interagieren. Die Brücke kann auch unter der Last zusammenbrechen, wenn die Ladefläche leer ist, wenn also der mentale Umgang mit dem Problem sehr vernünftig und entlastend ist. Was zu viel ist, ist zu viel. Wenn die Belastung die gegebene Tragfähigkeit des Organismus über-

Gewichtung Belastung Veranlagung

Alpha-Variable: Belastung Beta-Variable: Gewichtung Gamma-Variable: Veranlagung Unser Organismus (O) kann nur so viel ertragen, wie seine Veranlagung (Disposition) zulässt. Entscheidend für unsere Belastbarkeit ist aber, wie wir unsere Disposition (uns selbst) und unsere Belastung (was uns widerfährt) gewichten.

Abb. 2.1 Das Zusammenwirken der Variablen „Veranlagung“, „Belastung“ und „Gewichtung“

2.2 Der Betafaktor

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Abb. 2.2 Der Zusammenhang von S und O im S-O-R-K-C

β Bewertung

S

Belastung

α

Stimulus

O

γ Veranlagung

Organismus

steigt, wird es aber auch viel schwerer für uns, bei den entlastenden Bewertungen zu bleiben oder sie überhaupt erst zu entwickeln. Die Faktoren Alpha und Gamma beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sondern sie können auch den Horizont der souveränen Vernunft ziemlich einengen. Je stärker die Brücke nachgibt, desto mehr neigen wir dazu, den Optimismus aufzugeben und nur noch „schwarz zu sehen“. Wenn wir diesem Drang nachgeben, vergrößern wir allerdings die Last dadurch und laufen überdies Gefahr, entlastende Situationsveränderungen und die wachsende Stabilisierung unserer Disposition falsch einzuschätzen. Entscheidend für unser Stressmanagement ist aber, dass umgekehrt der Faktor Beta auf die beiden anderen Variablen in hohem Maß Einfluss nehmen kann. Beta meint nicht nur die sachliche Bewertung, die wir den Gegebenheiten beimessen, sondern die Gewichtung, das heißt: ihre Bedeutung für uns selbst. Abbildung 2.2 (Willberg 2015b, S. 56) zeigt den Zusammenhang von „S“ und „O“ im S-O-R-K-C hinsichtlich der drei Variablen: Alpha geht aus dem Stimulus (der Situation) hervor, kommt somit von außen, nimmt aber auf den Organismus Einfluss: Ich werde zum Beispiel gemobbt und erfahre Stress dadurch, ich fange mir einen Virus ein und bekomme Grippe oder ich werde zusammengeschlagen und trage Knochenbrüche davon. Je nachdem, wie mein Organismus disponiert ist, wird er mit der Belastung besser oder schlechter fertig, und je nachdem, wie ich über die Belastung wie auch meine Disposition zur Problembewältigung denke, stärke oder schwäche ich diese mehr oder weniger durch meine Selbsteinschätzung und stelle mich jener in konstruktiver oder erschwerender Weise, und so weiter. Das gleichseitige Dreieck symbolisiert die Wechselwirkung der drei Faktoren. Was immer wir erleben und unser Bewusstsein erreicht, geht durch den Filter der OVariablen mit ihren drei Teilvariablen. Weil der Beta-Faktor „Bewertung“ nicht isoliert von den beiden anderen in Aktion treten kann, wird man der Realität nicht gerecht, wenn man ihn isoliert betrachtet, so als wären unsere Emotionen und Verhaltensweisen allein davon abhängig, ob wir „richtig denken“, und als gäbe es einen inneren Wachturm, auf den wir uns zurückziehen können, um aus sicherer Position gleichsam von oben herab auf die Niederungen von Belastung und Veranlagung zu blicken und zu entscheiden, was wir damit machen wollen. Darum greift auch die simple Vereinfachung „Du bist selber schuld, weil du nicht richtig denkst“ zu kurz. „Richtig denken sollen“ riecht nach Dogmatismus, als müsste man nur die richtigen Tasten drücken, um im Leben zurecht-

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2 Die Grundstruktur der AKST

zukommen. Und doch spielt der Beta-Faktor für uns Menschen die wesentliche Rolle zur konstruktiven Lebensgestaltung und zur Bewältigung unserer Probleme, weil er für das ethische, pädagogische und therapeutische Grundprinzip der Selbststeuerung (Bauer 2015) und Selbstwirksamkeit (Bandura 1997) steht. Die Alpha- und die Gammavariable kennzeichnen jeden Organismus. Ihr Zusammenspiel funktioniert auch ohne reflektierendes Bewusstsein. Wirklich menschlich, aber leider auch wirklich unmenschlich werden wir erst durch den Betafaktor.

2.3

Das ABC

Das S-O-R-K-C als kleinste Analyseeinheit des Verhaltens dient auch für die Praxis der KVT unter der Bezeichnung Situative Verhaltensanalyse als Raster, um initial anhand einer konkreten Situation herauszufinden, wie eine Reaktionsweise, die sich als Störung etabliert hat, ausgelöst wird und funktioniert (Hautzinger 1996). Zu diesem Zweck kann man auch das Kontingenzverhältnis (K) vernachlässigen. Wenn die Reaktion (R) problematisch ist, indem sie klar erkennbar auf ein Verhalten herausläuft, durch das die Person sich selbst und (oft auch) anderen Schaden zufügt, darf man das als eine Art Crash bezeichnen: Der Versuch, auf die gegebene Situation (S) (Stimulus) bedürfnisgerecht zu reagieren, ist verunglückt. Das ist passiert, weil die Wahrnehmung der Situation durch den Filter der Organismusvariablen (O) eine Fehleinschätzung zustande brachte. Einschätzungen sind Bewertungen. Maßgeblich für die Fehlreaktion ist somit der Faktor Beta. Diese Abfolge von Anlass, Fehlbewertung und Crash ist das Ausgangsschema der ABC-Methodik in der REVT. Im Original sagt man „Activating Event“ (A), „Belief“ (B) und „Consequence“ (C) dazu. Das A entspricht dem S im S-O-R-K-C, das B ist mit dem Betafaktor der Organismusvariablen identisch, das C ist hier aber nicht der Verstärker, sondern die Reaktion (Abb. 2.3). Der Verstärker hat allerdings auch im ABC-Modell seinen prominenten Platz: er wird dort zum „E“ (im Original „Effect“) und steht für die erfolgreiche Bewältigung des herausfordernden Anlasses (A) (Abb. 2.4). Als Erfolg ist in diesem Zusammenhang die authentische Bedürfniserfüllung hinsichtlich des Anlasses

Abb. 2.3 Das ABC der REVT im Verhältnis zum S-O-R-(K)C

β Bewertung

S

Belastung

α

Stimulus

O

γ Veranlagung

Organismus

Anlass

A

Anlass

R Response Reaktion

B

Bewertung

C

Crash

C Consequence Verstärker

2.3 Das ABC Abb. 2.4 Realistische Bewertung, angemessene Reaktion und Erfolg

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β Bewertung

S

Belastung

α

Stimulus

O

γ Veranlagung

Organismus

Anlass

A A

Anlass

Anlass

R Response Reaktion

C Consequence Verstärker

iB uC rB aC E

irrige Bewertung Crash= unangemessene Reaktion

realistische Bewertung

angemessene Reaktion

Erfolg

definiert. Verstärker ist der Erfolg E, weil es sich dabei um das konkrete Verhaltensziel handelt, das sich im Bezug auf den Anlass für die Person wirklich lohnt, da es ihr angemessen und damit ihrer (seelischen) Gesundheit dienlich ist. Der „Crash“ ist die hinsichtlich des Bedürfnisziels unangemessene Reaktion, man kann sie darum als uC bezeichnen (Abb. 2.4). Sie resultiert aus einer irrigen Bewertung iB. Die Analyse des iB, womit im Original der irrational Belief abgekürzt wird, spielt eine zentrale Rolle in der Methodik der REVT. Wir sprechen darum im Folgenden auch oft einfach von „dem iB“. Wenn sich die Person, die unter ihren unangemessenen Reaktionen leidet, weil sie ihr statt Bedürfniserfüllung nur unsinnigen Stress bringen, die Behauptung ihres iB bewusst macht, der sie dazu veranlasst, kann sie sich analog zur Unangemessenheit und Unsinnigkeit der Reaktion uC auch von seiner Unangemessenheit und Unsinnigkeit überzeugen. Dadurch ergibt sich ihr die Gelegenheit, die irrige Bewertung iB in eine realistische Bewertung rB zu verändern, die ihr eine angemessene Reaktion aC erlaubt, die zum gewünschten Erfolg E führt (Abb. 2.4). Um von der irrigen Bewertung iB zur realistischen Bewertung rB und mit ihr in das neue ABC zu gelangen, reicht es nicht, sich die Behauptung jener bewusst zu machen, sondern man muss sich auch mit ihr auseinandersetzen, um die passende Denkalternative D zum iB zu formulieren (Abb. 2.5). Im Original heißt dieser Vorgang Dispute, zu Deutsch Disputation. Das bedeutet, den iB vorbehaltlos gründlich einer Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit zu unterziehen. Weil das E als authentische Bedürfniserfüllung definiert ist, haben verordnete moralistische und dogmatische Zielbestimmungen des Bewältigungsziels in der ABC-Methodik nichts zu suchen. Die Person überlegt sich selbst, aktiv von der Helferperson unterstützt, wie ihr persönliches Bedürfnisziel in Bezug auf die Situation A aussieht und was sie vernünftigerweise denken kann, um es zu erreichen, statt in die Sackgasse zu geraten. Die

12 Abb. 2.5 Die Denkalternative bringt das neue ABC hervor

2 Die Grundstruktur der AKST

S A

O R iB uC D rB aC

C

Denkalternative

A

E

vernünftige Denkalternative zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie einer bestimmten Norm entsprechend „richtig“ ist, sondern dass sie stimmig ist. Das ist der Fall, wenn die Person mit Überzeugung sagen kann: „Ja, das stimmt“, weil sich ihr die Perspektive auf das ersehnte Bedürfnisziel dadurch eröffnet. Die Denkalternative ist das, was sie selbst „eigentlich“ darüber denkt, wenn sie nicht durch den selbstentfremdenden iB irritiert ist. Diesem ist sie eigentlich nicht seiner logischen Überzeugungskraft wegen gefolgt, sondern aus Gewohnheit, weil sie bislang noch keine überzeugende Alternative entwickelt hatte, die ihr wirklich glaubwürdig erschien. In den Kognitiven Therapien heißt dieser Prozess der Entwicklung und Etablierung von Denkalternativen Kognitive Umstrukturierung (Wilken 2006). Der gewohnheitsmäßige Automatismus der irrigen Bewertung, der zu schädigenden Reaktionen führt, wird durch den Nachvollzug seiner tatsächlichen Behauptung, die Bewusstmachung des eigentlich intendierten Bedürfnisziels und den Aufbau der Denkalternative entautomatisiert und ersetzt. Darunter ist weniger ein Ausradieren als ein Ausrangieren zu verstehen. Der gewohnte iB mitsamt dem ganzen neuronalen Schema von Erinnerungen, Gefühls- und Verhaltensimpulsen, Assoziationen und Fantasievorstellungen, in dessen Kontext er sich ausgebildet und eingenistet hat (Zorn und Roder 2011), lässt sich nicht einfach aus dem Gehirn entfernen, dazu ist er viel zu stark und weit in die Lebensgeschichte der Person zurück reichend in dessen Gesamtsystem verankert. Er wird auch in Zukunft zur Verfügung stehen und sich zur raschen und bequemen Scheinlösung von Problemen anbieten, wenn Anlässe (A) auftreten, die ihn triggern. Wir können uns aber neue Denkgewohnheiten antrainieren, die uns so vertraut werden und so glaubwürdig erscheinen, dass es uns meist nicht mehr schwer fällt, den alten Impulsen zu widerstehen. Um die neue Denk- und Verhaltensrichtung zur alten schädigenden Reaktionsweise noch besser sichtbar und handlich für die Anwendung zu machen, verändern wir die Positionierung der Buchstaben des ABCs (Abb. 2.6). Für den Erfolg der Kognitiven Umstruk-

2.3 Das ABC Abb. 2.6 Der Richtungswechsel

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A

B

Anlass

Bewertung

E

D

Erfolg

C

Crash

Denkalternative

turierung ist es eminent wichtig, dass sich die Person, nachdem sie sich die Unsinnigkeit ihres iB grundsätzlich bewusst gemacht hat, entschieden bei der Denkalternative positioniert. Solange sie von dieser noch konjunktivisch spricht, ist sie noch nicht genügend von ihrer Glaubwürdigkeit überzeugt. Aus dem konjunktivischen „ich würde/könnte/sollte diese Denkalternative bevorzugen“ muss das indikativische „So denke ich selbst“ werden. Das heißt: Mit dieser Bewertung des Anlasses bin ich bei mir selbst, sie entspricht mir selbst – ich bin persönlich davon überzeugt, weil sie für mich persönlich hinsichtlich meines authentischen Bedürfnisziels stimmig ist. Dadurch stellt sich die Person in den entschiedenen Widerspruch zu ihrem iB. Um sich von ihm zu lösen, bedarf es der „gnadenlosen“ Distanzierung. Das kann nur gelingen, wenn die Person ihren iB als eine fremde Stimme in sich identifiziert, auf die sie genauso gern verzichten kann wie auf einen Grippevirus. Seine realitätsverzerrenden Argumente sind, wenn sie einmal durchschaut sind, des Interesses nicht mehr wert. Wenn der iB sich wieder meldet, nervt er vielleicht wie ein Tinnitus, aber die Person verweigert ihm den Wahrheitsanspruch und das Bleiberecht. Sie versucht nicht, ihn zu unterdrücken, denn gerade dadurch würde sie sich wieder auf ihn einlassen, sondern sie entzieht ihm jegliche Aufmerksamkeit. Achtsam stellt sie rein beobachtend fest, dass er sich wieder meldet, ohne auf ihn einzugehen. Das alles ist nur möglich, wenn sie wirklich davon überzeugt ist, ihn sich tunlichst sparen zu können. Es geht bei der Kognitiven Umstrukturierung mitnichten um den Wechsel von einer dogmatisch verordneten „Lüge“ zu einer fremdbestimmten „Wahrheit“. Aber es geht sehr wohl um den radikalen Wechsel von fremdbestimmten dogmatisch verordneten Scheinwahrheiten, die von der betroffenen Person durchaus als Lüge entlarvt werden, weil sie ihr nur Schaden bringen, zu ihrer selbstbestimmten befreienden Wahrheit (Abb. 2.7), die es ihr erlaubt und ermöglicht, sich dem zu widmen, was ihr wirklich gut tut, was bedeutet: was sie wirklich braucht, nämlich die Erfüllung ihrer authentischen Bedürfnisse.

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2 Die Grundstruktur der AKST

Abb. 2.7 Selbstbestimmte Wahrheitsfindung

A

Anlass

B

Bewertung

C

Crash

LÜGE WAHRHEIT

E

Erfolg

D

Denkalternative

2.4 Der Maria-Modus Dieser Wechsel von der Lüge zur Wahrheit ist die Überwindung der Selbstentfremdung durch das „Kommen zu sich selbst“. Darin liegt das Wesen der Achtsamkeit. „Nicht bei sich sein“ oder „nicht bei Sinnen sein“ sind Ausdrücke, mit denen wir Zustände der Unachtsamkeit benennen. Formulierungen wie „zu sich kommen“ oder „zur Besinnung kommen“ meinen, dass eine Person in den wachen Bewusstseinszustand der Gegenwärtigkeit wechselt, um wirklich „ganz da zu sein“. Das ist identisch mit „ganz bei sich selbst sein“. Dies wiederum bedeutet, hinsichtlich der gegenwärtigen Situation (A) in lebendigem Kontakt zu dem momentanen authentischen Bedürfnis (E) zu sein. Im Blick auf das augenblicklich dominante authentische Bedürfnis zu entscheiden (B), wie ich mit der Situation umgehen möchte, heißt Selbstbestimmung. Ich entziehe mich damit den äußeren und inneren Diktaten, die mir eine Reaktion (C) verordnen wollen, die mein echtes Bedürfnis durch ein Pseudobedürfnis kompensiert oder mir die authentische Bedürfniserfüllung verbietet. Zum Beispiel kann das echte Bedürfnis nach liebevoller Beziehung durch ein Suchtverhalten kompensiert werden. Ein markantes Beispiel für das Verbotsdiktat findet sich im Neuen Testament. In Kapitel 10 des Lukasevangeliums wird erzählt, was sich abspielte, als der Rabbi Jesus mit seinen (männlichen) Schülern bei den Schwestern Marta und Maria einkehrte (Willberg 2019): Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden (Lukas 10,38–42).

2.4 Der Maria-Modus

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Der Tenor vieler Jesusgeschichten in den Evangelien zeigt deutlich, dass mit „dem Einen, das not ist“, nicht in erster Linie die kontemplative Wortmeditation, symbolisiert im „Sitzen zu Füßen Jesu“, um „seiner Rede zuzuhören“, gemeint ist, sondern die achtsame Freiheit von der Fremdbestimmung durch das Diktat, was „man“ – in diesem Fall eindeutig „die Frau“ – in Anbetracht einer konkreten Situation (A) zu tun und zu lassen hat. Marta verkörpert die Knechtung durch das Diktat der (chauvinistischen) Fremdbestimmung. Eine Frau hat sich nicht in Männerangelegenheiten einzumischen, sondern zu dienen. Die Wortwahl des griechischen Grundtextes stellt Marta pointiert als einen Menschen dar, der augenblicklich nicht bei sich selbst ist. Stattdessen „hat sie viel Sorge und Mühe“. Das Diktat verbietet ihr, sich jetzt mit ihrem authentischen Bedürfnis wahrzunehmen und ernstzunehmen. Darum zeigt sie eine Reaktion (uC), mit der sie der Situation (A) durchaus nicht gerecht wird: Sie landet in einem emotionalen und behavioralen „Crash“: Genau das, was sie ihrer Schwester vorwirft und was sie um jeden Preis vermeiden wollte, passiert ihr nun persönlich: Der Konflikt und der Druck in ihr wird so stark, dass sie sich aus dem Blickwinkel der damaligen sozialen Ordnung völlig daneben benimmt – sie beherrscht sich nicht mehr, es platzt aus ihr heraus, und sie weist nicht nur die Schwester schroff zurecht, sondern den verehrten Rabbinen selbst, es ist ein höchst peinlicher Aussetzer, von dem sie nichts hat als eine neue große Ladung Stress. Maria hingegen fügt sich nicht knechtisch dem Diktat der Fremdbestimmung. Sie bleibt bei sich selbst, indem sie auf ihr dominantes gegenwärtiges Bedürfnis achtet und es ernstnimmt, und sie folgt diesem Bedürfnis. Sie zeigt eine für sie selbst angemessene Reaktion (aC), weil sie damit auf die Erfüllung ihres authentischen Bedürfnisses (E) abzielt, und sie erlebt, dass sie dadurch im deutlichen Gegensatz zur unachtsamen Marta auch dem gerecht wird, was die Gesamtsituation jetzt erfordert: Ihr Bedürfnis trifft sich mit dem Bedürfnis des Rabbinen Jesus, dem nichts so wichtig ist als dass man hört, was er zu sagen hat, wie das Neue Testament ebenfalls vielfach bezeugt. Dazu braucht Maria gehörig viel Mut, denn sie durchbricht um der selbstbestimmten Freiheit willen ein mächtiges Tabu. Martas Weg ist der bequemere, denn sie eckt nicht an damit, aber sie zahlt den Preis der „vielen Sorge und Mühe“, weil sie sich selbst zur Sklavin macht. Achtsamkeitsbasiert ist die AKST, weil das ABC als die Kernmethodik der Kognitiven Seelsorge und Therapie auf das Prinzip der Achtsamkeit gegründet ist. Das Prinzip der Achtsamkeit ist der Wechsel vom Marta-Modus zum Maria-Modus. Nicht Marta als Person repräsentiert die Unachtsamkeit, sondern lediglich dieses eine ABC. Sie ist in einem Crash gelandet und kann daraus lernen. Sie kann sich bewusst machen, welcher „wunde Punkt“ berührt wurde, so dass sie die emotionale Kontrolle verlor. Gewiss reagiert Marta in vielen anderen Situationen achtsam und gewiss kann Maria genauso unachtsam sein wie sie gerade. Aber Jesus spürt, dass Maria eine Entscheidung getroffen hat: Sie hat nicht aus glücklichem Zufall „das gute Teil“ erwischt, sondern sie hat es auserwählt, wie es wörtlich im Grundtext heißt. Somit wird das schützende Urteil über Maria auch zur Einladung an Marta: „Du bist nicht besser oder schlechter als deine Schwester, aber lass dich trotzdem von ihr inspirieren, denn sie hat für sich selbst erkannt, worauf es im Leben vor allen Dingen ankommt, und sie hat sich entschlossen, mutig diesen Weg zu gehen.“ Es ist

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2 Die Grundstruktur der AKST

der Weg aus der Selbstentfremdung zurück zu sich selbst, aus der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung, aus der Knechtschaft in die Freiheit. Es ist der Weg der Achtsamkeit. Insbesondere Erich Fromm (1900–1980) hat diesen Wechsel unter dem Gesichtspunkt der Polarität der Daseinsmodi des Habens und des Seins entfaltet (Fromm 1992). Das Thema durchzieht nicht nur die Jesusgeschichten der Evangelien, sondern es prägt in vielfältiger Weise die gesamte Ethik des Neuen Testaments und kann als paradigmatische Grundbestimmung gesunder Spiritualität betrachtet werden (Willberg 2017). Der MartaModus steht für den Daseinsmodus des Habens, weil Marta ihre Identität von äußeren Kriterien abhängig macht, die sie als das Signum ihres Selbstwerts wie einen Besitz vorweisen kann. Der Maria-Modus steht für den Daseinsmodus des Seins, weil Maria ihre Identität nicht in Äußerlichkeiten sucht und ihren Selbstwert nicht durch den Vorweis eines Habens definiert, sondern nach der inneren Übereinstimmung ihres Willens mit dem hier und jetzt gegebenen Anspruchs des Lebens an sie strebt.

2.5 Das integrative Modell Wir können die Faktoren Alpha, Beta und Gamma der Organismusvariablen im S-O-RK-C-Modell nicht in enger Eingrenzung, aber doch schwerpunktmäßig den Komponenten des bio-psycho-sozialen Menschenbildes zuordnen, das die reduktionistischen und dualistischen Menschenbilder der überkommenen Humanwissenschaften abgelöst hat. Ebenso kann man nach dem Stand der neueren Psychotherapieforschung die Wirkungsbereiche integrativer Psychotherapieverfahren dort einsortieren (Wampold und Imel 2015). Demnach setzt sich eine effektive integrative Psychotherapie aus den Bestandteilen Beziehung, Erwartung und gesundheitsförderndes Verhalten zusammen (Willberg 2017).

O-Variable:

Integrative Psychotherapie:

Sozial Alpha-Variable ) Äußere Belastungen = Fremdbezug Echte Beziehung

Psychisch Beta-Variable ) Bewertungen = Selbstbezug Erwartung

Biologisch Gamma-Variable ) Biophysische Disposition = Lebensbezug Gesundheitsförderndes Verhalten

Die Einordnung „gesundheitsfördernden Verhaltens“ bei der Komponente „biologisch“ meint den Menschen als Teil der Natur und damit auch seinen kosmologischen Ort als Staubkörnchen im Universum. Das griechische bios ist der natürliche Lebenszusammenhang, der vom Schicksal bestimmt und durchwaltet wird. Nach jüdisch-christlicher Sichtweise ist darunter die Geschöpflichkeit des Menschen zu verstehen. Die biologische Komponente meint also unsere natürliche Disposition, wie, wo und unter welchen Umständen wir genetisch determiniert in den Naturzusammenhang hinein geboren werden und uns dort nach den Gesetzen der Natur entwickeln. Hier greifen dementsprechend auch die naturwissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen in den Humanwissenschaften. Auch das

2.5 Das integrative Modell

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S-O-R-K-C unter Absehung des Betafaktors geht hierin auf. „Gesundheitsförderndes Verhalten“ ist somit zu definieren als eine Lebensweise, die der (biologischen) menschlichen Natur gemäß ist und als Maßnahmen, die das unterstützen und sinnvoll kompensieren. Im Fokus steht die biologische, das heißt die leibliche Existenz. Im Katalog der therapeutischen Maßnahmen in dieser Hinsicht befinden sich das den realen Erfordernissen des individuellen Organismus angemessene Zeitmanagement, Ernährung, Fitnesstraining, gesunder Lebensraum, Medikationen und dergleichen mehr, wie natürlich auch der gesunde Umgang mit den begrenzenden Tatsachen unserer Vergänglichkeit wie körperlicher Krankheit und Behinderung, Sterben und Tod. In der integrativen Psychotherapie ist hier das verhaltenstherapeutische Moment verortet. Hierzu gehören diverse Trainingsaufgaben und strukturierende Hilfen wie zum Beispiel praktische Anweisungen zur Schlafhygiene, sexualtherapeutische Anwendungen, Selbstbeobachungsbögen, Tagebücher und der Gebrauch von Listen angenehmer Aktivitäten. Die Komponente „sozial“ nimmt alles in den Blick, was unter den Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehungen zu fassen ist. Für das gesunde Persönlichkeitswachstum wie dementsprechend auch für den Kontext von Seelsorge und Psychotherapie sind gesunde echte Beziehungen, die sich nicht in rein funktionalen Begegnungen erschöpfen, das Wichtigste und Wirkungsvollste. Zentrale Bedeutung hat hierbei das Kommunikationsverhalten. Nichts ist so beziehungsfördernd wie ein achtsam verständigungsorientierter Kommunikationsstil, der von Wertschätzung, Empathie und Echtheit geprägt ist (Tausch und Tausch 1990). Wiederum schwerpunktmäßig ist die Komponente „sozial“ dem Alphafaktor der Organismusvariablen zuzurechnen, denn die größten externalen Belastungen wie Entlastungen erfahren wir durch unsere soziale Umwelt. Entwicklungspsychologisch ist das evident: Wenn etwa ein kleines Kind ohne selbständig lebende Bezugspersonen bleibt, kann es nicht leben. Mit der Selbständigkeit geht zwar eine wachsende Unabhängigkeit von der unmittelbaren Unterstützung anderer Menschen einher, die selbst auf der einsamen Robinsoninsel ein langes Leben ermöglichen kann, was aber nur um den Preis erheblicher Bedürfnisdefizite erfahrbar ist, wobei paradoxerweise auch der idyllische Anteil der Robinsonexistenz darauf angewiesen ist, dass andere einem das kleine Reich nicht streitig machen. Auf den Nenner gebracht darf man behaupten, dass fast alle externalen Belastungen, die nicht durch biophysische (Schäden durch naturhafte Umweltereignisse inklusive) oder subjektive (idiosynkratische) Kognitionen hervorgerufen werden, zu wesentlichen Teilen aus dem bestehen, was Menschen anderen Menschen antun oder vorenthalten. Daraus folgt eine empirisch starke Kongruenz der Komponente „sozial“ mit dem Alphafaktor. Es sei an dieser Stelle wieder an das gleichseitige Dreieck erinnert, das die Interdependenz der drei Teilvariablen der Organismusvariablen symbolisiert. Natürlich sind die Komponenten „biologisch“ und „sozial“ respektive der Gamma- und der Alphafaktor wechselseitig eng aufeinander bezogen, wie auch die Komponente „psychisch“ unter starkem Einfluss der beiden anderen steht, umgekehrt aber auch die menschlichen Möglichkeiten der mentalen Einwirkung auf diese immens sind. Dennoch sind der Alpha- und der Gammafaktor aber auch noch durch ein gemeinsames Merkmal verbunden, das sie

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2 Die Grundstruktur der AKST

wesentlich vom Betafaktor unterscheidet: Dieser wirkt top down, die beiden andern in der Gegenrichtung, also bottom up. Das heißt: Die gesundheitspsychologisch maßgeblichen Prinzipien der Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung, die das Prinzip der Selbstbestimmung ermöglichen, sind nur durch den Betafaktor zugänglich und damit auch das, was wir mit Begriffen wie Freiheit, Mündigkeit, Verantwortungsfähigkeit, Selbständigkeit und Reife zum Ausdruck bringen. Das ist der Grund dafür, warum in der ABC-Methodik der Kognitiven Seelsorge und Therapie wie in den Kognitiven Therapien überhaupt der Betafaktor deutlich mehr fokussiert wird wie die andern beiden. Es gilt sich aber dessen bewusst zu sein, dass selbstbestimmte Veränderung umso schwerer ist, je mehr der Horizont des Betafaktors durch Probleme aus den beiden anderen eingeschränkt ist. Achtsamkeitsbasiert ist die Fokussierung (nicht aber die Fixierung!) auf den Betafaktor, weil ein authentisch selbstbestimmtes Leben nichts anderes als ein achtsames Leben ist. Die integrative Psychotherapie baut auf einer stabilen therapeutischen Vertrauensbeziehung und bedient sich je nach Bedarf der Klientel schulenübergreifend des Spektrums verhaltenstherapeutischer, sozialtherapeutischer, sozialpädagogischer und anderer beraterischer und praktischer unterstützender Anwendungen, aber im Zentrum des therapeutischen Handelns steht der Betafaktor, indem er dort unter dem motivationspsychologischen Begriff der Erwartung erscheint. Ein Synonym für „Erwartung“ ist Glaube. Wenn ich heute Abend ein Gewitter erwarte, kann ich gleichbedeutend auch sagen: „Ich glaube, dass es heute Abend ein Gewitter geben wird.“ In der REVT wird der Erwartungsfaktor dementsprechend Belief genannt. Das Wort beinhaltet sowohl die Erwartung als auch die Überzeugung. Ich glaube, dass es heute Abend ein Gewitter geben wird, weil ich überzeugt bin, die Schwüle und die aufziehenden Wolken angemessen zu bewerten. Falsche Erwartungen aufgrund irriger Bewertungen sind der Grund dafür, dass wir mit den Emotionen und Verhaltensweisen, die daraus hervorgehen, in den Crash geraten. Falsche negative Erwartungen können sogar zu „selbsterfüllenden Prophezeiungen“ werden, wenn Personen gänzlich darauf fixiert sind, dass eintreten wird, was sie befürchten – kurz gesagt: wenn sie daran glauben. Dasselbe trifft aber auch für positive Erwartungen zu. Das Phänomen wurde eingehend unter dem Gesichtspunkt der Placebowirkung erforscht. Der „Placeboeffekt“ als Wirksamkeit von Heilungserwartungen spielt in den verschiedenen Formen der Heilbehandlung quer durch alle Kulturen eine sehr große Rolle (Frank 1997). Dass dieser Faktor nicht nur implizit mitschwingt wie in vielen anderen Therapieverfahren, sondern dass er transparent, bewusst und willentlich die Mitte des therapeutischen Prozesses bildet, ist das Markenzeichen der gesamten KVT und der Grund für ihre herausragende Effektivität (Kirsch 1990).

2.6 Der Glaube und die Glaubwürdigkeit Man kann die „Placebowirkung“ manipulativ als Mittel der Fremdsteuerung verwenden, um durch den Anschein von Vertrauen gewünschte Wirkungen bei Personen hervorzurufen, die man therapeutisch behandelt, man kann die Heilkraft der Erwartung aber auch

2.6 Der Glaube und die Glaubwürdigkeit Abb. 2.8 Es geht um die Glaubwürdigkeit

A

Anlass

19

B

Bewertung

C

Crash

LÜGE unglaubwürdig glaubwürdig WAHRHEIT

E

Erfolg

D

Denkalternative

mit seiner Klientel in einem Klima echten Vertrauens offen thematisieren, um ihr dadurch die Ressourcen selbstbestimmter, selbstgesteuerter Erwartungen zu eröffnen. Das und nur das intendiert die AKST. „Glaube versetzt Berge“. In unserer Methodik geht es um diesen Glauben. Die Person überzeugt sich selbst von der Unglaubwürdigkeit der irreführenden Bewertung (iB), um ebenfalls für sich selbst zu formulieren, welche Denkalternative (D) sie im Bezug zur selben Ausgangssituation (A) in Richtung auf ihre Bedürfnisziel (E) stattdessen für glaubwürdig hält (Abb. 2.8). Der Gegensatz von Lüge und Wahrheit im ABC ist nicht dogmatischer Natur. So wenig die befreiende Wahrheit von außen verordnet werden kann, so wenig verfügt auch die Person darüber, die sie für sich entdeckt, als wäre sie ihr Besitz. Ihre Wahrheit offenbart sich immer nur wieder neu durch achtsame Vergegenwärtigung. Gefestigt wird sie nicht durch den starren Rahmen unserer Kategorisierungen, die wir uns schaffen, damit uns ein Schubladensystem von Begriffen den bequemen Zugriff auf sie ermöglicht. Wahrheit lässt sich nicht fassen und greifen, um sie zu haben, sondern nur glauben. Wahrheit ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeit bedeutet: Dieses da hat den Schein der Wahrheit. Nicht jeder Schein trügt. Es gibt selbstevidente Wahrscheinlichkeiten, die wir sinnvollerweise nicht in Frage stellen. Eins plus eins ist zwei, weil jeder sich ohne Weiteres selbst davon überzeugen kann. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass der Boden im dritten Obergeschoss, auf dem mein Stuhl steht, ihn den ganzen Tag lang tragen wird, ist schon nicht mehr ganz so hoch. Sinnvollerweise sprechen wir trotzdem nicht nur im Fall selbstevident logischer Aussagen wie „eins und eins ist zwei“ von Wissen, sondern auch selbst bei sehr komplexen Sachverhalten, die von den Experten für den Wissensfortschritt, die man bekanntlich Wissenschaftler nennt, nur vorsichtig als vorläufiger Wissensstand bezeichnet werden. Glaube und Wissen stehen also nicht im Widerspruch zueinander, sondern Wissen ist gar nicht anders als durch einen Glaubensakt zu haben. Das subjektive Wissen nennt man

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2 Die Grundstruktur der AKST

Gewissheit. Gewiss bin ich, wenn ich sagen kann: „Ich glaube, was ich weiß, denn ich bin überzeugt davon.“ Vieles von dem, was als Wissen in unserem Bewusstsein existiert, bleibt ohne Gewissheit: Es ist nur angelerntes Wissen oder aber ein intuitives Wissen, zu dem wir uns noch nicht bekennen. Die Überzeugungskraft, die bewirkt, dass wir den Glaubensakt vollziehen, uns auf ein Wissen einzulassen, ist das Gewissen. Das Gewissen veranlasst uns dazu, einem mehr oder weniger wahrscheinlichen Wissen Glaubwürdigkeit zuzuerkennen. Das Gewissen ist keineswegs nur eine moralische Instanz, sondern es tritt überall in Kraft, wo es darum geht, einem wahrscheinlichen Sachverhalt den Status des Wissens zu geben. Darin wiederum liegt allerdings höchste ethische Relevanz. Wenn ich doch eigentlich sehr gut wissen kann, dass eins und eins zwei ist, mich diesem Wissen aber willkürlich verweigere, wird diese Haltung rasch zum moralischen Problem, weil ich ohne Not nicht mehr im Leben zurechtkomme. Glaube ist unter diesem Aspekt der „Entschluss des Willens, das Wissen gelten zu lassen“, wie der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) treffend formulierte. Fichtes Begründung dafür ist durchaus pragmatisch: Dieser Willensentschluss ist das „freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können“ (Fichte 1981, S. 112).1 Mit anderen Worten: Wenn wir uns erstens nicht die Mühe machen, das Glaubwürdige vom Unglaubwürdigen zu unterscheiden, und wenn wir uns zweitens nicht dazu entschließen, das erkannte „uns natürlich darbietende“ Glaubwürdige als unsere Überzeugung gelten zu lassen, dann werden wir unserer Verantwortung im Leben nicht gerecht. Verantwortung heißt, auf eine Anrede die passende Antwort zu geben. Die Anrede ist der Anspruch des Lebens an uns. Alles, was uns im Leben begegnet, trägt den Anspruch in sich, dass wir darauf angemessen antworten. Angemessen ist nicht das, was uns von außen her als gehorsame Antwort diktiert wird, sondern das, was wir für glaubwürdig halten, weil es sich uns „natürlich darbietet“ und wir uns selbst davon überzeugt haben. Genau das haben wir unter Selbstbestimmung und Mündigkeit zu verstehen. In der REVT heißt die irreführende Bewertung „irrational Belief“ (ib) und die realistische Bewertung „rational Belief“ (rB), wie sich ja auch die ganze Schulrichtung RationalEmotive Verhaltenstherapie nennt. Das Rationale ist nichts anderes als das Glaubwürdige. Die ethische Relevanz dieser Unterscheidung wird deutlich, wenn wir „irrational“ durch „unvernünftig“ ersetzen. Unvernunft ist nicht identisch mit Unverantwortlichkeit, weil man auch bewusst und willentlich einer gewissen Unvernunft Raum gegeben kann, ohne dadurch Schaden anzurichten, aber alle Unverantwortlichkeit ist unvernünftig. Glaubwürdig erkanntem Wissen mit mehr oder weniger großer ethischer Bedeutung die Geltung abzusprechen, ist unvernünftig und unverantwortlich. Die Unglaubwürdigkeit schädigender Bewertungen (iB) zu erkennen und durch glaubwürdige Denkalternativen (D) vernünftige, verantwortliche Bewertungen (rB) an ihre Stelle zu setzen, um dem Leben dadurch die bedürfnisbestimmte Antwort (E) zu geben, die es von uns verlangt, ist der therapeutische 1

Fichte liegt mit dieser Verhältnisbestimmung von Glaube, Wissen und Gewissen sehr nah bei seinem philosophischen Vorgänger Immanuel Kant (1724–1804), der diese Verbindlichkeit, „das Wissen gelten zu lassen“, allerdings nur auf moralische Angelegenheiten bezog.

2.7 Das Liebesgebot und die Mussforderungen

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und ethische Sinn der ABC-Methodik. Beständig im Alltag in dieser Haltung zu bleiben, sich möglichst wenig von unglaubwürdigen Automatismen steuern zu lassen, sondern in Freiheit das gegenwärtig Glaubwürdige zu wählen, ist Sinn der Achtsamkeit.

2.7 Das Liebesgebot und die Mussforderungen Den Zustand des Gewissens, der sich durch die entschlossene Bejahung des Glaubwürdigen einstellt, kann man auch schlicht den inneren Frieden nennen. Vollständig ist der innere Friede nur, wenn er sich im Fremd-, Selbst- und Lebensbezug manifestiert, also hinsichtlich des Alpha-, Beta- und Gammafaktors beziehungsweise der sozialen, psychischen und biologischen Dimension. Das Streben nach Frieden in diesen drei Blickrichtungen zielt auf ein harmonisches Verhältnis und in diesem Sinne nach Einheit, und seine Verwirklichung ist im Grundprinzip jüdisch-christlicher Ethik, dem dreifachen Liebesgebot, zum Ausdruck gebracht: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“. Mit anderen Worten: Finde Frieden mit dem Leben als Schicksal, mit deinem sozialen Umfeld und im Verhältnis zu dir selbst. In dem Maß, wie der Mensch diesen Frieden verwirklicht, findet er Sinn. Das Übergreifende dieser Ausrichtung nennt man Spiritualität. Der vierte Bestandteil des bio-psycho-sozio-spirituellen Menschenbildes ist somit kein Zusatz, sondern das Movens der Selbsttranszendenz und Selbstverwirklichung in der Daseinswirklichkeit der drei anderen Dimensionen. Wenn der Mensch wirklich zu sich selbst kommt, wechselt er aus dem Daseinsmodus des Habens in den des Seins. Er lässt los, was ihn daran hindert, ganz da zu sein. Das bedeutet immer: Ganz dort zur Verfügung zu stehen, wohin die Person hier und jetzt gestellt ist und wofür sie gebraucht wird. Kriterium der Glaubwürdigkeit des Gebrauchtwerdens ist die Übereinstimmung mit dem eigenen authentischen Bedürfnis. Den Anspruch (A), den das Leben an mich in einer bestimmten Situation stellt, beantworte ich nur dann angemessen und in diesem Sinne mit Erfolg (E), wenn ich zu einer Antwort finde, die ihn auf eine Weise erfüllt, die meinem authentischen Bedürfnis entspricht. Selbstfindung bedeutet in diesem Sinne paradoxerweise die Befreiung zu Selbstlosigkeit und Selbstvergessenheit. So gesehen kann man auch von „Selbstverleugnung“ sprechen, was aber nicht mit einer feindseligen Einstellung sich selbst gegenüber zu verwechseln ist. Sich selbst auf gesunde Weise in Freiheit loslassen und hingeben kann nur, wer mit sich selbst in Frieden ist. Das meinen wir mit „Selbsttranszendenz“ und gerade darin liegt das Spezifikum menschlicher Selbstverwirklichung. „In dem Maße, in dem Personen von sich absehen können (Selbsttranszendenz) und sich mit anderen und anderem (Natur, Kosmos, höheres Wesen) verbinden können, erweitern sie auch ihr Selbst und verwirklichen dieses“, fasst der Theologe Anton Bucher zusammen (Bucher 2014, S. 40) und definiert auf diese Weise das Wesen der Spiritualität (Abb. 2.9) (Willberg 2017). Die menschliche Selbsttranszendenz strebt auf unserer Verbundenheit mit dem hin, worin wir de facto bereits eingebunden sind. Wir finden und verwirklichen uns selbst, wenn wir in diesem Gefüge verantwortlich in vernünftiger Ausrichtung am Glaubwürdigen „un-

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2 Die Grundstruktur der AKST

Abb. 2.9 Die Dynamik der Spiritualität

Höheres geistiges Wesen - Gott

Natur, Kosmos

VERBUNDENHEIT mit ...

Selbsttranszendenz

soziale Mitwelt

Selbstverwirklichung

Selbst

sere Bestimmung erfüllen“ (Fichte). Der Begriff „Spiritualität“ umfasst einerseits den Reifungsvorgang der Selbsttranszendenz und Selbstverwirklichung schlechthin, spirituell ist also schon alles Zu-sich-selbst-Kommen und Bei-sich-selbst-Bleiben des Menschen. Andererseits tritt die Spiritualität als Reifungsphänomen aber auch, wie schon Abraham Maslow mit seiner „Bedürfnispyramide“ gezeigt hat (Maslow 1996), in einer Reihenfolge in Erscheinung: Eine gesunde Selbstbezogenheit ist Voraussetzung einer gesunden sozialen Verantwortung und diese wiederum ist Voraussetzung einer gesunden Verbundenheit mit der „höheren geistigen Wirklichkeit“, von der die Religionen zeugen und die gemeinhin „das Göttliche“ oder „Gott“ genannt wird. Vielfach wird Spiritualität überhaupt erst in diesem Bereich angesiedelt, wodurch man aber den Begriff inadäquat verkürzt. Nicht zuletzt kann das auf ein bedenkliches Zerrbild von Spiritualität hinauslaufen, das sie einerseits auf ein Spezialgebiet für Esoteriker und Religiöse reduziert und sie andererseits in ein gesundheitsschädigendes Fahrwasser bringt, indem Selbstverwirklichung und soziale Verantwortung durch die Priorisierung spiritueller und religiöser Interessen übergangen und kompensiert werden. Der Mensch ist vor allem ein Beziehungswesen. Unser wichtigstes seelisches Bedürfnis ist das nach authentischer harmonischer Beziehung. Dieses Bedürfnis ist von dem übergreifenden spirituellen Bedürfnis her zu verstehen. Der Mensch erfährt sich am tiefsten selbst im Daseinsmodus des Seins, wenn er sich mit sich selbst, seiner Umwelt und dem Grund allen Daseins eins weiß. Gemeinsamer Nenner der verschiedenen Wege der Spiritualität ist das Streben nach diesem allumfassenden Einssein. Die Verwirklichung der Verbundenheit im Frieden ist die Liebe. Darum geht es im dreifachen Liebesgebot (3. Mose 19,18; Lukas 10,27). Rationale Denkalternativen zu irreführenden Situationsbewertungen, die in emotionale und behaviorale Crashs münden, orientieren sich, ob es der Person bewusst ist oder nicht, an dieser Direktive. Liebe im ethischen Sinn ist immer das glaubwürdig Lebensförderliche, das, was als angemessene Reaktion (aC) „wirklich gut tut“ in Bezug auf einen gegebenen Anlass (A). Die Unglaubwürdigkeit der irreführenden Bewertungen (iB) liegt in ihrem Gegensatz dazu. Deren Kern bilden nach Albert Ellis (1913–2007), dem Begründer der REVT, die rigiden Glaubenssätze (Beliefs) der Muss-

2.7 Das Liebesgebot und die Mussforderungen

23

Tab. 2.1 Mussforderungen, Kognitive Triade und Liebesgebot Mussforderungen nach Ellis Mein Schicksal muss sich mir so darbieten, wie es meinen Erwartungen entspricht, sonst ist das ganze Leben völlig unakzeptabel und unerträglich Mein Mitmensch muss sich so verhalten, wie es meinen Erwartungen entspricht, sonst ist er völlig unakzeptabel und unerträglich Ich selbst muss meinen perfekten Anspruch gegen mich selbst erfüllen, sonst bin ich völlig unakzeptabel und unerträglich

Kognitive Triade nach Beck Meine Zukunft steht unter einem schlechten Stern – ich bin darauf festgelegt, den Kürzeren zu ziehen ) Ich habe keine Zukunft. Meine Umwelt ist eine einzige Enttäuschung – von ihr ist nichts Positives zu erwarten ) Ich bin einsam und verlassen. Ich bin ein nichtswürdiger Versager – von mir ist nichts Positives zu erwarten ) Ich bin des Lebens nicht wert.

Liebesgebot „Liebe Gott . . .

. . . und deinen Nächsten . . .

. . . wie (auch) dich selbst.“

forderungen gegen uns selbst, die Umwelt und das Schicksal. Diese Postulate lassen nur ein Entweder-Oder zu und leugnen die differenzierten Urteile realistischer Wahrnehmung. Aaron T. Beck, der zweite große Pionier der Kognitiven Therapien neben Ellis, hat seine Schulrichtung, die auch offiziell den Namen „Kognitive Therapie“ trägt, zunächst in seiner Funktion als Experte für das Verständnis und die Behandlung von Depression entwickelt. Beck erkannte, dass das Kernproblem vieler Depressionen in der Kognitiven Triade besteht (Beck 1999). Man kann sie als die depressive Variante der drei Mussforderungen verstehen. In Tab. 2.1 (Willberg 2015a) sind Kognitive Triade, Mussforderungen und im Gegensatz dazu das dreifache Liebesgebot nebeneinander gestellt. Auch die Kognitive Therapie nach A.T. Beck basiert auf der „kleinsten Analyseeinheit einer Verhaltensepisode“ und setzt beim Betafaktor an, um eine Kognitive Umstrukturierung herbeizuführen. Sie arbeitet aber nicht den Belief im Kern der spontanen Situationsbewertung (B) heraus, sondern beschränkt sich auf die systematische Realitätsüberprüfung dieses automatischen Gedankens (Burns 1999). Sie entautomatisiert also die Situationsbewertung, aber sie analysiert nicht deren „heißen Kern“ (core belief). Das ist eine sehr effektive Herangehensweise, die allerdings die Mussforderungen und ihre Zusammenhänge eher unberücksichtigt lässt. Wir halten es für sinnvoll, beides in den Blick zu nehmen und die Untersuchung des jeweiligen ABCs auf jenen „heißen Kern“ zu konzentrieren (McMinn 1991). Im Bild gesprochen: Die automatischen Gedanken sind wie Rauch und Asche, die aus dem Schlot des Vulkans aufsteigen. Bei starken emotionalen Eruptionen werden auch sehr heiße Brocken herausgeschleudert. Aber die Magmamasse, die dahinter steckt, bleibt dennoch im Verborgenen. Um die emotionale Reaktion auch aus ihrer Entstehung heraus zu verstehen, braucht die betroffene Person jedoch auch den Einblick in ihren „heißen Kern“: Dort zeigt sich die Mussforderung in ihrer konkreten situationsbezogenen Gestalt. Die triadische Bezogenheit des Menschen zu sich selbst, seiner Umwelt und dem Schicksal eröffnet sich, wie wir sehen, aus verschiedenen Blickrichtungen und entsprechend mit verschiedenen Begrifflichkeiten, und es zeigt sich, dass diese verschiedenen

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2 Die Grundstruktur der AKST

Modelle kongruent sind. Offenbar handelt es sich um eine zeitlose gültige anthropologische Gegebenheit. Ein weiterer starker Hinweis dafür liegt darin, dass sich die REVT mit der Theorie der drei Mussforderungen, die sich bei Albert Ellis erst allmählich auf empirischem Weg herauskristallisiert hat, nahtlos dem triadischen Grundmodell der antiken stoischen Philosophie und ihrer Psychagogik anschließt, welches wiederum genau jene dreifache Bezogenheit repräsentiert (Hadot 1991). Die praktische Philosophie der Stoiker hat durch ihre psychagogische Wirkung außerordentlich prägenden Einfluss auf die Entwicklung der abendländischen Ethik gehabt, und zwar solcher Werte und Prinzipien, für die wir nur dankbar sein können, weil sie den Boden für Freiheit, Gleichberechtigung, Mündigkeit und Demokratie bereiteten. Die starke ethische Strömung des stoischen Humanismus mündete, als das Christentum im vierten Jahrhundert zur Staatsreligion des Römischen Reiches wurde, in dieses ein und setzte sich darin mit erstaunlicher Nachhaltigkeit bis in die Neuzeit hinein fort, um nach den Turbulenzen der industriellen Revolution und des nationalen Größenwahns im 20. Jahrhundert in Gestalt der Kognitiven Therapien im vergleichsweise bescheidenen Rahmen der Psychotherapie, jedoch auch abermals mit hoher Überzeugungskraft, wieder neu aufzukeimen. Diesem hoffnungsvollen Erbe weiß sich auch die AKST verbunden und verpflichtet.

2.8

Der dreifache Weg

Der Pastoralpsychologe Henri Nouwen (1932–1996) hat mit der Konzeption des dreifachen Weges die Umsetzung des dreifachen Liebesgebots als Wechsel vom Daseinsmodus des Habens zum Daseinsmodus des Seins konkretisiert (Nouwen 1984). Er spricht von den drei Spannungsfeldern unseres Verhältnisses zu uns selbst, zu den anderen und zu Gott. Ausgangspunkt des Wechsels sind ihm zufolge die schmerzlichen Erfahrungen der Einsamkeit anstelle der Selbstliebe, der Feindseligkeit anstelle der Nächstenliebe und der Illusion anstelle der Gottesliebe. Nouwen benennt damit die Merkmale der Selbstentfremdung. Nicht bei sich selbst zu sein bedeutet, sich in einem gestörten Verhältnis zu sich selbst, zu den andern und zu seinem Schicksal zu befinden. Einsamkeit ist in diesem Zusammenhang als die Unfähigkeit zu begreifen, mit sich selbst allein zu sein. Man weiß mit sich selbst nichts anzufangen, weil man sich selbst nicht traut. Man muss Ansprache und Anweisung von außen haben. Feindseligkeit kompensiert das fehlende Vertrauen zu anderen: Man muss sich vor ihnen schützen, sich gegen sie durchsetzen, sie übertrumpfen und in Schach halten. Die Illusion entspringt dem Zweifel, in diesem Leben am rechten Platz zu sein. Man kann sich nicht einfach „fallen lassen“, wie man zu sagen pflegt, weil man fürchtet, abzustürzen. Das Leben trägt nicht so, wie es gegeben ist; man braucht Absicherungen. So denkt man sich das Göttliche zurecht, um dem Schicksal beizukommen. Im Gegensatz dazu ist die wahre Gottesliebe reines, kindliches Vertrauen. Dementsprechend liegt das Kriterium dafür, ob Religionen oder spirituelle Praktiken die seelische Gesundheit fördern oder ihr eher schaden, in der Frage, ob und wie weit sie dieses Vertrauen stärken.

2.8 Der dreifache Weg

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Das Misstrauen in dieser dreifachen Beziehung äußert sich in der dreifachen Mussforderung. Die internalisierten Grundüberzeugungen (Beliefs) der Mussforderungen resultieren aus selbstentfremdenden seelischen Verletzungen, die das kindliche Urvertrauen getroffen und beschädigt haben. Durch die Interpretation entsprechender Erfahrungen ziehen wir uns auf Positionen des Misstrauens gegen uns selbst, die andern und das Leben zurück und verlieren dadurch den Frieden und die kindliche Natürlichkeit. Diese Positionen verfestigen sich zu jenen Grundüberzeugungen, die als motivationale Schemata in uns präsent bleiben (Epstein 1991; Grawe 2004) und durch auslösende Reize (A), die den ursprünglichen Situationen ähneln, aus denen sie entstanden, reaktiviert und in Form der automatischen Gedanken ins Bewusstsein treten. Mithin sind Einsamkeit, Feindseligkeit und (spirituelle) Illusion wohl auch die tieferen Ursachen der meisten psychischen und sozialen Störungen. Somit präzisiert sich die Grundfrage der Glaubwürdigkeit im ABC zur Frage der relationalen Vertrauenswürdigkeit und der Wechsel vom Haben zum Sein zeigt sich als Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen. Wenn eine Person sich selbst, seinen Mitmenschen und dem Leben (seinem Schicksal, Gott) authentisch vertraut, sprechen wir von überzeugter und überzeugender Lebensbejahung. Philosophisch betrachtet ist es erstaunlich, dass sich dem Menschen die als Glaubwürdigkeit zugängliche Wahrheit offenbar nur da erschließt, wo sie als bedürfnisbestimmte Denkalternative der Lebensbejahung ins Bewusstsein rückt, die überzeugend genug ist, um sich dafür zu entscheiden, sie als Wissen (Gewissheit) gelten zu lassen. Das gilt für Wissenschaft und Kunst gleich wie für Therapie und Seelsorge und kann nie der Subjektivität entbehren. Objektive Wahrheit mag es geben, aber sie berührt den Menschen nicht. Auch den ganz auf Objektivität erpichten Wissenschaftler treibt das starke Bedürfnis an, dass seine Lösungen erfreulich sind, weil er in die Hände klatschen und sagen kann: „So stimmt es!“ Stimmigkeit ist im Unterschied zur bloßen Richtigkeit ein subjektives, allerdings auch intersubjektiv teilbares Phänomen: Wenn die ganze Forschergruppe in die Hände klatscht, ist es für den Einzelnen noch schöner, denn die Glaubwürdigkeit seiner gefundenen Wahrheit erfährt noch mehr Bestätigung, dies aber nur, weil die andern sich auch persönlich davon überzeugt haben. Das philosophisch Erstaunliche an diesen Überlegungen ist die Evidenz dafür, dass es anscheinend keine wahrhaftige Alternative zur ungeteilten, überzeugten Lebensbejahung gibt. Wenn wir uns bejahend dem Leben öffnen und stellen, offenbart sich uns Wahrheit. Anderswo ist sie wohl nicht zu finden und wenn wir uns dem Leben verschließen, schenken wir einer Lüge Glauben. Ein weiterer Aspekt dieser erstaunlichen Feststellung ist, dass es für jede Lüge eine Wahrheit gibt. Wenn wir uns in einer lebensverneinenden Lüge verfangen haben, kann die Lage darum nicht hoffnungslos sein, sofern wir entschlossen genug sind, die Lüge als solche zu identifizieren und ihr die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Der Gedanke, der Lüge glauben zu müssen, weil es keine glaubwürdige Denkalternative dazu gibt, ist selbst eine Lüge. Zu jeder Lüge gibt es eine Wahrheit, wenn es auch Mühe kosten kann, sie sich bewusst zu machen. Und jede erschlossene Wahrheit, wenn sie wahrhaftig wahr und nicht nur oberflächlich richtig ist, hat eine befreiende Wirkung, wie Jesus einmal gesagt hat (Johannes 8,32).

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2 Die Grundstruktur der AKST

Die zentrale therapeutische Frage in der Anwendung der ABC-Methode lautet, nachdem die irreführende Bewertung (iB) als Lüge im Sinne einer unsinnigen, unglaubwürdigen Direktive entlarvt wurde, die in den „Crash“ statt zur Erfüllung des eigentlichen Bedürfnisziels führt: „Wenn das die Lüge ist – wie sieht dann die Wahrheit dazu aus?“ Wesentlich ist dabei die Unterscheidung zwischen dem Problem und der Person: Die Klientin ist nicht ihr Problem, sondern sie hat es. Das Problem der selbstschädigenden Lüge ist ein Problem der Fremdbestimmung. Nicht die Klientin selbst lügt (sollte sie wirklich lügen, würde sie sich gerade nicht mit ihrem tatsächlichen Problem konfrontieren), sondern sie glaubt einer Lüge, die sie sich selbst entfremdet, weil diese mit großer Überzeugungskraft auf sie einwirkt. Die Wahrheit hingegen ist die Angelegenheit der Selbstbestimmung. Es ist ihre eigene Wahrheit. So wie die Lüge ihr die Selbstkongruenz raubt, bringt ihre eigene Wahrheit sie zu sich selbst zurück. Von außen verordnete „Wahrheiten“ mögen richtig sein – wahrhaftig sind sie nicht. Sie agieren im Bewusstsein der Person als Lüge, weil sie verhindern, dass sie zu sich selbst kommt. Der Wechsel vom Haben zum Sein ist identisch mit dem Wechsel vom Irrtum zur Wahrheit, unabhängig von aller Konfession und Religion. Es versteht sich von selbst, dass dieser Wechsel nie abgeschlossen ist, weil der wohl größte Irrtum des Menschen in dem Dünkel besteht, von der Wahrheit Besitz ergriffen zu haben. Die Verführung durch die Schlange im Mythos vom Sündenfall besteht gerade nicht in der Vernebelung einer vom Menschen klar ergriffenen und begriffenen göttlichen Wahrheit, sondern in der Illusion, die Kindlichkeit des Vertrauens überwinden zu sollen, indem er sich eben diese Wahrheitserkenntnis sichert, um selbst zu sein wie Gott (Genesis 3). Diesem Misstrauensvotum stattzugeben ist die existenzielle Entzweiung, der so genannte „Sündenfall“. Die Neopsychoanalytikern Karen Horney (1885–1952), die prägenden Einfluss auf Albert Ellis ausübte, hat in dem illusorischen Postulat der eigenen Göttlichkeit die Ursache der Neurosen gesehen (Horney 2000). Weil der Mensch sich göttliche Urteilskompetenz über das Leben, die andern und sich selbst anmaßt, um sein Vertrauen durch Kontrolle zu ersetzen, gerät er unter die Zwangsherrschaft der Mussforderungen, die ja nichts anderes sind als gottgleiche Bestimmungen von „Gut“ und „Böse“, Schwarz und Weiß, um „klare Verhältnisse“ zu schaffen und aufrechtzuerhalten – vollkommene Kontrolle und Sicherheit, das Plagiat des Habens anstelle der Souveränität des Seins. Daran geht der Mensch zugrunde, als Einzelwesen wie als Gattung, denn daraus wird der Tod der Menschlichkeit. Wissenschaftliche Erklärungen dafür, dass Wahrheitserkenntnis im Sinne von Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Stimmigkeit notwendig mit Lebensbejahung verknüpft ist und auf diese Weise die seelische Gesundheit fördert, sind uns in den letzten Jahrzehnten zunehmend durch die neuropsychologische Forschung zugekommen. Offenbar können wir naturgemäße Wahrheit nur finden und überzeugt nachhaltig vertreten, wenn im Präfrontalen Cortex (PFC) des Gehirns die linksseitige Tätigkeit überwiegt. Dort sind die motivationalen Regelkreise der Annäherungsziele und der damit verbundenen positiven Emotionen zentriert. Die Kognitive Umstrukturierung der Kognitiven Therapien ist neuropsychologisch eine Verstärkung der Denkaktivität im linken PFC. Dadurch wird „der Kopf frei“, wie man umgangssprachlich zu sagen pflegt, Kreativität und Intuition können sich

2.9 Zwischen Akzeptanz und Veränderung

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entfalten, das Interesse kann sich ungestört auf lohnende Ziele richten, wofür das Wort Flow geprägt wurde (Csikszentmihalyi 2001). Der „Autopilot“ (Segal et al. 2008) wird zugunsten der Selbststeuerung (Bauer 2015) deaktiviert. Problematische Bewertungsautomatismen können unterbrochen werden, um zu freien Urteilen und Entscheidungen zu gelangen. Diese Veränderungen lassen sich alle unter den Begriff der Achtsamkeit fassen. Die signifikanten Auswirkungen expliziter Achtsamkeitsübungen wiederum auf die Tätigkeit des linken PFC können aufgrund des neuropsychologischen Forschungsbefunds heute als gesichert angesehen werden. Eng verknüpft mit der verstärkten Tätigkeit des linken PFC ist auch die Aktivierung des benachbarten Anterioren Cingulären Cortex (ACC), dem vorderen Teil des Gyrus Cinguli, der sich zwischen Großhirn und Limbischem System befindet und analog zu seiner Lage eine ausgleichende Funktion zwischen dessen oft starken und unreflektierten emotionalen Impulsen und dem PFC ausübt. Der aktivierte ACC filtert sozusagen diese Impulse, so dass sie präfrontal, das heißt: im Bewusstsein, leichter verarbeitet werden können. Außerdem spielt der ACC eine zentrale Rolle für die Generierung von Empathie und Mitgefühl und im Zusammenhang damit für das Empfinden der sozialen und spirituellen Verbundenheit (Newberg und Waldman 2012). Tab. 2.2 fasst die triadische Konzeption der ganzheitlich gefassten Kognitiven Umstrukturierung zusammen (Willberg 2017). Es wird deutlich, dass diese mit ihrem therapeutischen Kernelement der ABC-Methodik so oder so, ob therapeutisch Störungen angehend oder gesundheitsbildend, -erhaltend und -fördernd als Prinzip der Achtsamkeit, die Achse der menschlichen Persönlichkeits- und Glaubensentwicklung ist, die von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung, von der Abhängigkeit zur Freiheit, vom Haben zum Sein, vom Irrtum zur Wahrheit führt.

2.9 Zwischen Akzeptanz und Veränderung Etablierte Achtsamkeitstrainings wie die Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) (Kabat-Zinn 1998, 2006) und die Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT) (Segal et al. 2008; Crane 2011) werden grundsätzlich zur Stressreduktion bei psychisch mehr oder weniger gesunden Menschen sowie zur Stabilisierung und Prävention bei psychischen Störungen eingesetzt. Sie können, wie etwa in der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) der Borderlinestörung (Linehan 1996) oder der Acceptance and Commitment Therapy (ACT) (Ciarrochi und Bailey 2010), auch zentraler Bestandteil einer Therapie selbst sein, sollten dazu aber sehr gut und kontrolliert in diese eingebunden sein. Auch in der AKST greifen Achtsamkeitstraining und therapeutische Arbeit ineinander, aber bei größeren emotionalen Belastungen wird der Schwerpunkt auf die therapeutischen Aspekte gelegt. Der Grund dafür ergibt sich aus dem Charakter der irreführenden Bewertungen (iB). Je „heißer“ eine solche in Erscheinung tritt, das heißt: je größer ihre Überzeugungsmacht und der daraus entstehende emotionale Druck für die Person ist, desto schwieriger kann es für sie werden, die Souveränität achtsamen Umgangs damit aufrechtzuerhalten. Die irreführende Bewertung stellt sich so mächtig stark als Wahrheit dar, dass man sehr

Mussforderung gegen mich selbst

Individualität  Beta-Variable  psychisch  Erwartung Sozialität den andern  Alpha-Variable  sozial  Beziehung Spiritualität das Leben  Gamma-Variable  biologisch  Gesundheitspfege Abhängigkeit – Fremdbestimmung Daseinsmodus des Habens

Irrtum

Illusion

)

Spirituelle Offenheit

Gemeinschaft

Ziel 3-facher Weg Selbstsorge

Freiheit – Selbstbestimmung Daseinsmodus des Seins

Empfänglichkeit, Friede

Empathie Kognitive Umstrukturierung

Feindseligkeit

Wahrheit ACC Souveränität

) PFC

Herkunft 3-facher Weg Einsamkeit

Tab. 2.2 Der dreifache Weg der Kognitiven Umstrukturierung

Gott

den andern

Höchstes Gebot: Liebe dich selbst

28 2 Die Grundstruktur der AKST

2.9 Zwischen Akzeptanz und Veränderung

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geneigt ist, ihr zu glauben und ihrer Direktive zu folgen. Je weniger die Person ihr problematisches ABC reflektiert hat, desto weniger effektiv wird auch ihr Widerstand sein. Ihr fehlt schlicht das Know-how dazu. Zwar kann es sich in mancher Hinsicht durch wachsende Lebenserfahrung einstellen, aber leider ist das kein Automatismus: Offenbar werden sehr viele Menschen bis zum Ende ihrer Tage von ihren „iB’s“ dominiert, ohne sich dessen bewusst geworden zu sein; sehr viele andere kennen ihre „wunden Punkte“, wissen sich aber nicht zu helfen. Man darf auch davon ausgehen, dass die langen Wege des achtsamkeitszentrierten Meditierens und spiritueller wie religiöser Übungen die nötige Einsicht entstehen lassen können, sie sind aber nicht jedermanns Ding und nicht selten mit bestimmten ideologischen und konfessionellen Fremdbestimmungen behaftet. Die ABC-Methodik hingegen ergründet ohne Umschweife systematisch und transparent das Bewertungsproblem und erarbeitet ideologiefrei den direkten Weg zur Veränderung. MBSR, MBCT, DBT und ACT sind therapeutische Verfahren, die man zusammen mit etlichen weiteren der so genannten „Dritten Welle der Verhaltenstherapie“ subsumiert (Heidenreich und Michalak 2013). Ein Kennzeichen der Selbstdarstellungen dieser Therapien ist, dass sie auf der KVT gründen und sie als wesentliches Element in ihre Methodik aufnehmen (Hayes et al. 2012). Das geht schon aus der Bezeichnung „Dritte Welle“ hervor, weil unter der ersten Welle die klassische behavioristische Verhaltenstherapie und unter der zweiten die Ära der KVT verstanden wird. Teilweise, allen voran die ACT als das „Paradepferd“ der „Dritten Welle“, wird aber de facto die KVT trotz gegenteiliger Beteuerungen zugunsten einer aus buddhistischer Weltanschauung entlehnten transpersonalistischen Konzeption abgewertet. Im Zentrum dieses Denkens steht die „radikale Akzeptanz“. Hier wird einerseits zu Recht ein entscheidender Grundsatz der KVT fokussiert: Man kann sein Problem nur verändern, wenn man sich erlaubt, es zu haben. Andererseits wird aber auch aus der Not eine Tugend gemacht. Das kann bedeuten, zum Beispiel den Heilungserfolg einer Panikstörung bereits darin zu sehen, dass die Person die Panikattacken als Teil ihres Lebens akzeptiert und sie nur noch rein beobachtend und nicht wertend wahrnimmt, wenn sie auftreten. So ungemein hilfreich, entlastend und barmherzig das sein kann, so nahe scheint bei einseitiger Betonung dieses wertvollen therapeutischen Aspekts aber die Gefahr einer „Mogelpackung“ zu liegen, weil man dem Problem nicht auf den Grund geht, sondern stattdessen auch noch die destruktiven Muster selbst Gegenstand des Akzeptierens werden (Willberg 2016). Im Unterschied dazu postuliert die REVT und auf ihrer Spur die AKST eine radikale Akzeptanz des Menschen, der das Problem hat, wie auch eine radikale Akzeptanz der Tatsache, dass er das Problem hat, auf der anderen Seite aber auch die radikale Ablehnung der irreführenden Beliefs (iB). Unter dem Druck schwerer emotionaler Belastung kann die für den gesunden Umgang mit herausfordernden Lebenslagen (A) nötige Unterscheidung zwischen der fremdbestimmten Lüge, die sinnlos zur Schädigung führt, und der selbstbestimmten Wahrheit, die zur erfolgreichen Situationsbewältigung führt, verschwimmen. Zum Beispiel wird die Rechtfertigung eines Suizids unter Berufung auf „das Recht zur freien Selbstbestimmung“ zur Farce, wenn in Wirklichkeit die Fremdbestimmng durch einen lebensfeindlichen Belief zugrunde liegt. Wenn durch die Vereinseitigung des

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2 Die Grundstruktur der AKST

Abb. 2.10 Destruktivität vs. Konstruktivität

A

Anlass

B

Bewertung

C

Crash

destruktiv konstruktiv

E

Erfolg

D

Denkalternative

Gesichtspunktes der Akzeptanz Schaden entsteht, der durch die Erarbeitung einer lebensbejahenden Alternative des Denkens und Handelns verhindert werden könnte, muss man von therapeutischer Verantwortungslosigkeit sprechen. Kennzeichnend für den Weg in den „Crash“ (uC) ist die Destruktivität. Kennzeichen der Denkalternative (D) und des erfolgreichen Umgangs mit der Situation (A) ist die Konstruktivität (Abb. 2.10). Wenn also, was ja grundsätzlich durchaus förderlich ist, das „Recht auf freie Selbstbestimmung“ für ethische Konfliktsituationen in Anspruch genommen wird, kann man das nur gut heißen, wenn es sich nachvollziehbar genug um eine konstruktive Lösung handelt. Natürlich wird eine solche oft in der Wahl eines geringeren Übels bestehen. In Psychotherapie, Beratung und Seelsorge wird das Thema „Selbstbestimmung“ ideologisiert, wenn in dieser Frage mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man einer Person zumutet, die selbstschädigenden Folgen ihrer Angststörung oder Depression akzeptierend zu ertragen, sich aber zur Intervention genötigt sieht, wenn sie ein aggressives emotionales Problem entwickelt und andere dadurch schädigt. Wenn ein Mensch unter der Zwangsherrschaft destruktiver Gedanken keine therapeutische Unterstützung erhält, die das ursächliche Problem angeht, um es zu überwinden, gerät das Prinzip der „radikalen Akzeptanz“ zur Unbarmherzigkeit.

2.10

Die Praxisstruktur der AKST im Überblick

In Abb. 2.11 ist dargestellt, wie die beiden Schwerpunkte der AKST, das Achtsamkeitstraining und die therapeutische Arbeit, oder, je nach Bedarf und Kompetenz, auch Coaching oder psychologische Beratung, in der Praxis einander zugeordnet sind. Die AKSTTrainerin wird für beide Schwerpunktbereiche ausgebildet. Sie kann darum sowohl ein konventionelles kognitiv-verhaltenstherapeutisches Beratungsangebot als auch ein Achtsamkeits-Gruppentraining im Portfolio führen. Genauso gut kann aber auch das Zusam-

2.10 Die Praxisstruktur der AKST im Überblick

Erstkontakt

Anmeldung Gruppentraining Achtsamkeit

Anamnesefragebogen

Fragebogen zur Teilnahme am Achtsamkeitstraining

viel Stress

Erstgespräch

Krisenintervention Medizinische Behandlung etc.

Einführungsmeeting

Thema 1 verbindlich Psychotherapie Coaching Therapeutische Seelsorge Psychologische Beratung Paarberatung

Einzeltraining Achtsamkeit

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Paartraining Achtsamkeit

mäßig Stress

Thema 1 freiwillig

Weiteres Training Thema 2 ff. Nacharbeit bzw. Prävention oder parallel

Späteres Einführungsmeeting

Weiterer Trainingsturnus

Abb. 2.11 Die Abläufe der AKST im Überblick

menwirken zwischen einer Person, die nur das Gruppentraining anbietet, und einer anderen, die den therapeutischen oder beraterischen Part übernimmt, funktionieren. Wünschenswert ist dabei nur, dass Letztere tatsächlich die ABC-Methodik in den Mittelpunkt der Arbeit stellt, da diese auch im Achtsamkeitstraining eine Hauptrolle spielt. Der stärkste Synergieeffekt wird wahrscheinlich zustandekommen, wenn auch die therapeutische oder beraterische Seite die in diesem Buch vermittelte Konzeption verwendet oder jedenfalls REVT praktiziert. Die Voraussetzung der beiden Schwerpunkte impliziert zwei Zugänge. Der eine sind normale Erstkontakte mit potentieller Klientel für Psychotherapie, Coaching, therapeutische Seelsorge, psychologische Beratung oder Paarberatung.2 Aus dem Erstkontakt kann sich ergeben, dass die Person (oder das Paar) keinen vorrangigen individuellen Beratungsbedarf hat, sondern wahrscheinlich mehr vom Gruppenprogramm profitieren wird. Wenn wir uns erinnern, dass der Sozialitätsfaktor herausragende Bedeutung für Reifungsveränderungen und seelische Heilungsprozesse hat (Fiedler 1996) und wenn wir uns ferner die besonderen therapeutischen Chancen der Arbeit mit Gruppen bewusst machen, lässt sich vermuten, dass dies häufiger der Fall ist, als man denken mag. Da das Achtsamkeitstraining der AKST aus gutem Grund aber nicht als Teilprogramm einer übergreifenden 2

Für Familien- oder Teamberatung müsste wohl ein eigenes Programm entwickelt werden.

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2 Die Grundstruktur der AKST

Therapie konzeptioniert ist, sondern entschieden die Gesundheitsförderung fokussiert, muss vorab sichergestellt sein, dass die am Achtsamkeitstraining interessierte Person nicht primär einer krisenspezifischen Intervention bedarf. Normalerweise lässt sich das bereits beim Erstkontakt einigermaßen sicher feststellen, weil die Klientinnen und Klienten in der Regel schon ganz gut wissen, „wo sie der Schuh drückt“. In den meisten Fällen sucht die Person Therapie oder Beratung, weil sie sich in einer akuten Krise befindet. Wenn sich das beim Erstkontakt wenigstens andeutet, erfolgt ein diagnostisch geprägtes Erstgespräch auf der Grundlage des zuvor als WORD-Datei an die Person (bei Paaren an beide) ergangenen Anamnesefragebogens (Anhang 01), der zuvor ausgefüllt zurückgeschickt wurde. Aus diesem Gespräch geht hervor, ob die intendierte Therapie oder Beratung angezeigt ist oder ob andere Maßnahmen wie zum Beispiel Formen der akuten Krisenintervention oder eine medizinische Behandlung Priorität haben. Wenn das nicht der Fall ist, sollte in den folgenden Wochen und Monaten jedenfalls dort, wo die akute Problematik mit erheblichem Stress verbunden ist, wenn möglich in wöchentlichem oder zweiwöchentlichem Abstand veränderungsorientiert therapeutisch oder beraterisch gearbeitet und auf ein gleichzeitiges Achtsamkeitstraining verzichtet werden. Frühestens wenn sich die Krise im Abklingen befindet oder nach Beendigung der Therapie- oder Beratungsphase kann im Anschluss die Einzelperson oder das Paar je nach Bedarf im Selbstmanagement mit dem Achtsamkeitstraining fortfahren und sich dazu der in diesem Buch vorgegebenen Anleitungen bedienen oder in das Gruppentraining einsteigen. Sinnvoll ist, parallel dazu noch einzelne FollowUp-Beratungstermine anzuberaumen, in denen auch der bisherige Achtsamkeitstrainingsverlauf mit der Beratungsperson reflektiert wird. Der andere Zugang ist die krisenunabhängige Anmeldung zum Achtsamkeits-Gruppentraining. Es sei gleich vorab betont, dass die konkrete Ausgestaltung dieses Programms je nach Kontext und Zielgruppe auch stärker spirituell oder religiös akzentuiert sein kann, als dies in der hier vorgestellten Grundversion der Fall ist. Nur sollte immer vorausgesetzt werden können, dass die Adressaten diese spirituellen oder religiösen Schwerpunktsetzungen selbst auch wünschen. Im Rahmen einer allgemeinen Praxis für Psychotherapie etwa sollte dergleichen unterbleiben und stattdessen auf psychologische Transparenz und Nachvollziehbarkeit Wert gelegt werden. Es ist darum auch zu empfehlen, die in der Literatur so häufige Gleichsetzung von Achtsamkeit und Meditation zu unterlassen. Achtsamkeitsübungen sind zwar das Kernelement der meisten Meditationsverfahren, aber die Achtsamkeit dient dort normalerweise als Mittel zum Zweck spiritueller Ziele mit einem religiösen oder transpersonalistischen Bezugsrahmen. Das Training der Achtsamkeit im Kontext einer allgemeinen KVT-Praxis für Psychotherapie oder einer vergleichbaren Einrichtung unterscheidet sich von einem Meditationsweg signifikant dadurch, dass es tatsächlich rein kognitiv therapeutisch konzeptioniert ist, wobei das „Therapeutische“ hier weniger den Charakter des Heilenden als des Heilsamen annimmt. Andererseits ist es aber auch aus besagtem Grund eine optimale Vorbereitung für explizit spirituelle Meditationswege. Für entsprechend interessierte Personen liegt darum nichts näher, als an das Achtsamkeits-Gruppentraining einen für sie passenden explizit spirituellen Übungsweg anzuschließen und dafür möglicherweise ein bestimmtes Meditationsverfahren zu lernen.

2.10 Die Praxisstruktur der AKST im Überblick

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Die Arbeit mit Personen, die ihren religiösen Glauben als wichtige therapeutische Ressource für sich wahrnehmen, zentriert sich in einer allgemeinen AKST-Praxis nicht im Achtsamkeits-Gruppentraining, sondern im therapeutischen Einzelsetting. Der heutige Forschungsbefund zeigt deutlich, dass die Effektivität einer auf die spezifischen religiösen Denk- und Sprechweisen der Klientel zugeschnittenen Psychotherapie (Richards und Bergin 2008; Nielsen et al. 2001) mindestens so hoch ist wie eine Psychotherapie, die davon absieht, und dass sich keine Psychotherapierichtung für solche Zuschnitte besser eignet als die KVT (Anderson, Heywood-Everett, Siddiqi, Wright et al. 2015; Worthington et al. 2011; Willberg 2017 mit ausführlicher Darstellung des Gesamtbefunds). Insbesondere die ABC-Methodik der REVT kann ohne Weiteres die religiöse Terminologie der Klientel aufnehmen und ihr ganz ohne suggestive Beimischung innerhalb des vertrauten Rahmens ihrer religiös bestimmten „Heimatsprache“ dienen. Dies gilt aufgrund der großen Schnittfläche ihrer therapeutischen Grundkonzeption mit neutestamentlicher Ethik in besonderer Weise für eine christliche Klientel, aber auch für Angehörige anderer Glaubenssysteme, wie zum Beispiel Muslime. Anders ist es, wenn die AKST von vornherein deutlich genug erkennbar als Angebot einer religiösen Einrichtung in Erscheinung tritt. Dann lässt es sich in den Bereich der Seelsorge dieser Einrichtung einordnen und kann darum auch dem AchtsamkeitsGruppentraining eine konfessionelle Färbung und spirituelle Vertiefung geben. Wiederum im Gegensatz zur allgemeinen Praxis ist aber für den Fall, dass dort auch die therapeutische respektive psychologisch beratende Praxis angesiedelt ist, eine professionelle Zurückhaltung im Gebrauch konfessioneller Maßnahmen und Sprechweisen zu empfehlen, damit die Therapie nicht religiös überfrachtet wird (Tab. 2.3). Allerdings sind diese Relationen auch eine Frage der Struktur der jeweiligen religiösen Gemeinschaft. Die Schwerpunktsetzung in Tab. 2.3 gilt für geschlossene Systeme, bei denen Insider und „Außenstehende“ ziemlich deutlich unterscheidbar sind. Für offene Systeme wie das der Volkskirchen scheint ein abgestuftes Angebot sinnvoller zu sein. Hier sollte darum das Achtsamkeits-Gruppentraining spirituelle und konfessionelle Aspekte nur wenig einbeziehen, dabei den christlichen Kontext und die christliche Begründung aber nicht leugnen. Spirituelle Übungswege christlicher Meditation sollten dann aber als weiterführende Angebote, die erkennbar das Achtsamkeitstraining aufnehmen und fortsetzen, ins Programm genommen werden. Grundsätzlich wichtig ist, dass ein Achtsamkeitstraining mit religiösem oder spirituellem Design auch als solches nach außen hin erkennbar ist. Prinzipiell

Tab. 2.3 Schwerpunktsetzungen des religiösen Zuschnitts AKST im Rahmen einer . . . . . . allgemeinen Praxis . . . religiösen Einrichtung

Religiöser Zuschnitt auf Klientel Therapie & Beratung AchtsamkeitsEinzel- und Paarsetting Gruppentraining besser stark besser wenig besser wenig besser stark

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2 Die Grundstruktur der AKST

hat für die AKST zu gelten, dass niemand via Achtsamkeit dazu manipuliert wird, an einer bestimmten spirituellen oder religiösen Praxis und Gesinnung teilzuhaben. Die Einbeziehung von Achtsamkeit in ein therapeutisches Gefüge sollte dessen Wirksamkeit nicht schwächen. Darum unterscheidet die AKST deutlich die Schwerpunkte des Trainings der Achtsamkeit und der therapeutischen Interventionen. Die Idee der Achtsamkeit ist in allen Teilen der AKST präsent. Wenn eine Person aber die heilsame Kraft bewusst gepflegter Achtsamkeit für sich noch nicht entdeckt und erschlossen hat und sich in einer länger andauernden schweren, emotional hoch belastenden Krise befindet, werden vorrangig Maßnahmen zur Krisenbewältigung benötigt. Je nach Art der Krise kann dabei der Fokus auf medizinischen, psychotherapeutischen, beraterischen, sozialen, juristischen, ökonomischen oder spezifisch seelsorgerischen Hilfen liegen. Personen, die von einer solchen Krise akut betroffen sind, haben gerade zu viel Stress, um auch noch „in aller Ruhe“ ein intensives Achtsamkeitstraining zu integrieren. Im engeren Bezugsrahmen der AKST geht es in dieser Hinsicht um die Weichenstellung, welches Teilprogramm zu wählen ist: Verlangt die Krise jetzt nach Psychotherapie, Coaching oder vor allem nach spiritueller und sozialer Unterstützung? Die Frage stellt sich grundsätzlich beim Erstkontakt mit der Person, gleich mit welcher Vorentscheidung sie uns aufsucht. Sie muss darum auch Priorität haben, wenn sich jemand direkt zum Achtsamkeitstraining anmeldet. Im Fragebogen zur Teilnahme am Achtsamkeitstraining (Anhang 02) geht sie darum allen anderen Fragen voraus. Wenn diese Frage nach einer möglichen schweren akuten Krise mit „ja“ beantwortet wird, muss die Zulassung zur Teilnahme am Training vom Ergebnis eines vorgeschalteten Beratungsgesprächs mit der betreffenden Person abhängig gemacht werden. Stellt sich heraus, dass die Teilnahme besser vorerst unterbleiben sollte, kann die Gruppenleitung je nach Kompetenz und Problemlage selbst psychotherapeutische oder beraterische Hilfe anbieten oder konkrete Empfehlungen geben, wohin die Person sich mit ihrer spezifischen Notlage wenden kann. Die gewünschte Teilnahme am Achtsamkeitstraining kann auf einen späteren Turnus des Programms verschoben werden. Aus den Antworten auf die ersten Fragen des Fragebogens wird ersichtlich, ob die Angemeldeten derzeit unter übermäßigem Stress leiden. Wenn sich das herausstellt, werden sie darauf verpflichtet, in der Zeit zwischen dem Einführungsmeeting und der Gruppensitzung mit dem Thema 2 das Thema 1 „Zur Ruhe kommen“ zu absolvieren, zu dem eine zweitägige „Auszeit“ zur Trainingsvorbereitung und die Einübung der Progressiven Muskelentspannung (PM) gehört. Die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer (TN) sind eingeladen, freiwillig bei Thema 1 mitzumachen. Dem schließen sich in zweiwöchigem Abstand die sechs weiteren Themen an. Wenn ein Trainingsturnus durchgelaufen ist, folgt gleich der nächste. TN, die notgedrungen nicht zu allen Meetings kommen konnten oder aber zur Vertiefung ein weiteres Mal dabei sein wollen, sind im nächsten Turnus willkommen. Follow-up Meetings werden nicht angeboten, weil sich ehemalige TN immer auch zu einzelnen Terminen späterer Durchgänge anmelden können. Soweit der Überblick der Abläufe. Nun wenden wir uns zunächst den Bestandteilen und Methoden des Achtsamkeitstrainings und dann der kognitiv therapeutischen Komponente der AKST im Einzelsetting zu.

Literatur

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Das Achtsamkeitstraining

Achtsam zu leben bedeutet, im Frieden mit sich selbst, den andern und seinem Schicksal zu sein. Der entscheidende Gesichtspunkt der Achtsamkeit ist darum, wie auch die betreffende Literatur durchweg zeigt, die Akzeptanz. Dieser Aspekt spielt auch in den Therapien der „Dritten Welle der Verhaltenstherapie“ eine zentrale Rolle. Naturgemäß wird die triadische Akzeptanz in der einzelnen Person sehr durch die Erfahrung gefördert, diese Akzeptanz auch in anderen und vor allem durch andere zu erfahren. Von dorther ist auch die bevorzugte Wahl des Gruppensettings in diesen Therapieformen zu verstehen. Marsha Linehan etwa, Psychologieprofessorin an der Universität von Seattle und Begründerin der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) für Borderliner, hält die Arbeit in der Gruppe für „besonders heilsam“, da dort „die Möglichkeit bestehe, Menschen zu begegnen, die ähnliche Schwierigkeiten haben“, das führe zu gegenseitiger Bestätigung und Unterstützung und man lerne voneinander (Linehan 1996, S. 13). Linehan legt aber auch sehr großen Wert auf die diadische Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin. Entsprechend liegt auch der Erfolg der Depressionsprävention durch MBCT sehr wahrscheinlich zu einem erheblichen Teil an den ermutigenden Beziehungserfahrungen im Gruppensetting. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der therapeutischen Beziehung in den Therapien der „Dritten Welle“, besonders aber auch in verschiedenen Variationen der Kognitiven Verhaltenstherapie, eine sehr hohe und bisweilen die zentrale Bedeutung beigemessen wird. Besonders hervorgetan hat sich die KVT in der Entwicklung von Sozialkompetenztrainings (Hinsch und Pfingsten 1998; Ullrich und De Muynck 1998). Bereits der Neopsychoanalytiker Harry Stuck Sullivan (1892–1949) erklärte „das Auftreten von Angst und Depression vollständig aus der gestörten Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen. Angst entsteht als Folge eines Mangels an Geborgenheit und Sicherheit. [. . . ] Depressionen sind die Folge der Unterbrechung von Geborgenheit und Zugehörigkeit durch Trennung oder Verlust von der zentralen Bezugsperson“, berichtet Martin Hautzinger, eine der Koryphäen der KVT in Deutschland (Hautzinger 2003, S. 127). Er sieht nicht nur hierin einen Vorgänger der kognitiv verhaltenstherapeutischen Sicht des Zusammenhangs, der Entstehung und der Behandlung von Angst und Depres© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H.-A. Willberg, Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59470-4_3

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Das Achtsamkeitstraining

sion, sondern auch im Werk des Psychiaters Gerald Klerman (1928–1992), der schon in den 60er Jahren die Grundform der Interpersonellen Psychotherapie schuf (Markowitz und Weissman 2012). Diese hat von den 90ern an in Gestalt eines durch A.T. Becks Depressionstherapie geprägten integrativen Ansatzes, der die wesentliche Rolle von Beziehungserfahrungen sowohl für die Ätiologie als auch die Therapie psychischer Störungen berücksichtigt und dabei auch die Erkenntnisse zur Verlustverarbeitung aus John Bowlbys Bindungsforschung aufnimmt, weltweite Verbreitung erfahren und sich auch in Mitteleuropa etabliert (Schramm 1996). Wenn wir also das Training der Achtsamkeit in den Kontext der KVT setzen und dabei die außerordentliche Relevanz der zwischenmenschlichen Beziehung hervorheben, dann liegt das durchaus in einer Linie mit dem Erkenntnisfortschritt in der KVT selbst. Die Voraussetzungen für den Erfolg des Trainings sind Kontinuität und Intensität.  Kontinuität bedeutet, den Trainingsmaßnahmen Priorität zu geben. Die regelmäßige Durchführung der Trainingselemente darf nur in echten Ausnahmefällen unterbrochen werden. Sie haben ihren festen Platz im Terminkalender. Diese Termine sind so wichtig wie zum Beispiel das tägliche Erscheinen am Arbeitsplatz zur festgesetzten Zeit.  Intensität bedeutet, keine der Maßnahmen des Trainings halbherzig durchzuführen. Es ist ganz normal, es zum Beispiel mit Langeweile oder Enttäuschungen zu tun zu bekommen. Die ermutigenden Trainingseffekte sind nicht gleich greifbar oder gehen zwischenzeitlich wieder verloren. Das wird sich ändern, wenn die übende Person trotzdem dran bleibt und entweder die Übungen genau so gestaltet, wie sie dargestellt sind, oder sie in einer Weise verändert, die für sie noch effektiver ist. Selten geht aber höhere Effektivität aus größerer Bequemlichkeit hervor. Wer sich nicht an diese beiden Prinzipien hält, braucht sich hinterher nicht zu beklagen, das Training habe ihm „nichts gebracht“. Alle Bestandteile des Trainings haben ihren guten Sinn. Sie sind logisch nachvollziehbar und wissenschaftlich begründet. Der Misserfolg liegt nicht am Training, sondern daran, dass man es nicht ernst genommen hat. Wenn der Stress groß ist, kann es besonders schwer sein, die beiden Prinzipien einzuhalten. Wie soll ich das schaffen, wenn in meinem Alltag „Land unter“ ist? Wenn ich den Boden unter den Füßen verloren habe und ich mich nur noch schwimmend über Wasser halte? In der Tat, dann wird wahrscheinlich nichts daraus. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein. Es kann sich um eine chronische Überlastung durch äußere Umstände handeln. Es kann aber auch am ungünstigen Zeitmanagement liegen oder an einer Mischung von beidem. Es geht hier nicht darum, den TN einen bestimmten Lebensstil vorzuschreiben. Aber für die Dauer des Trainings ist es unabdingbar, dass sich die beiden Prinzipien „Kontinuität“ und „Intensität“ realistisch verwirklichen lassen. Die Mindestanforderung einer erfolgreichen Teilnahme ist darum, das individuelle Zeitmanagement darauf einzurichten. Anders geht es nicht.

3.1 Vorbereitung und Einführungsmeeting

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3.1 Vorbereitung und Einführungsmeeting Offizieller Anmeldeschluss für das Achtsamkeits-Gruppentraining ist vier Wochen vor dem Einführungsmeeting. Sofern noch Platz in der Gruppe ist, sollte jedoch später Angemeldeten die Teilnahme nicht verweigert werden, aber sie müssen das Handicap einer verkürzten Vorbereitungszeit in Kauf nehmen. Die verbleibende Zeitspanne ermöglicht es den Angemeldeten, noch rechtzeitig die zweitägige Auszeit planen zu können, die ein verbindliches Element zu Trainingsbeginn für Personen ist, die augenblicklich unter übermäßigem Stress leiden, aber auch den anderen als freiwillige Option empfohlen wird. Der Hinweis auf eine akute Stressbelastung, die dem Erfolg des Trainings im Weg stehen könnte, ergibt sich aus den Fragen 2 und 3 sowie ergänzend dazu auch noch den Fragen 4 bis 6 des Fragebogens zur Teilnahme am Achtsamkeitstraining (Anhang 02), den die Angemeldeten gleich mit der Anmeldebestätigung als E-Mail-Anhang erhalten. Mit derselben Mail bekommen auch alle die Anweisungen und Unterlagen für Thema 1. Das ermöglicht ihnen, schon gleich mit der Planung und Durchführung von Thema 1 zu beginnen. Je früher man damit anfängt, desto besser ist die Vorbereitung auf das folgende Training. Die Stressgeplagten unter den Angemeldeten erhalten dann aber auch noch eine entsprechende Rückmeldung durch die Gruppenleitung mit der Aufforderung, spätestens jetzt das Thema 1 in Angriff zu nehmen. Wenn aus der ersten Antwort des Fragebogens hervorgeht, dass womöglich erst einer akuten Krisenbewältigung der Vorzug gegeben werden sollte, meldet die Kursleitung auch dies den betroffenen Personen gleich zurück und lädt sie zu einem zwanzigminütigen (kostenlosen) Beratungsgespräch über mögliche Maßnahmen in der Praxis oder am Telefon ein. Dem kann gegebenenfalls ein therapeutisches oder beraterisches Erstgespräch folgen, das durch den Anamnesefragebogen (Anhang 01) vorbereitet wird. Das Einführungsmeeting ist Teil des Achtsamkeitstages (Michalak et al. 2007). Vorzugsweise nimmt man einen Samstag dafür. Der größte Teil dieser Zusammenkunft ist dem Abschluss des jeweils zurückliegenden Durchgangs gewidmet. Das Einführungsmeeting für die Neuen bildet den letzten Programmpunkt. Die TN des zurückliegenden Turnus begrüßen die Neuen und bringen ihre Erfahrungen ein, um diese mit den Inhalten und der Organisation bekannt zu machen. Das hat nicht nur den Vorteil, dass die frischen Erlebnisse und Erkenntnisse der alten TN den neuen einen authentischen Eindruck des Trainings vermitteln. Es wird durch ihr Mitwirken auch von vornherein deutlich, dass die Leitungsperson nur Primus inter pares ist. Das ganze Training lebt von der eigenen wahrgenommen Verantwortung der Einzelnen für sich selbst, die Gruppe (die Leitungsperson eingeschlossen) und das jeweilige gemeinsame Thema. Die besondere Rolle der Leitungsperson besteht nur in den Leitungsfunktionen, die sie als Dienstleistung für die anderen übernimmt, zu denen natürlich auch viel An-Leitung gehört. Die Ausübung von Leitungsfunktionen benötigt zu ihrem Gelingen den Respekt der andern, aber es ist unsinnig, das in einer Gemeinschaft mündiger Personen mit einem hierarchischen Unterschied

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Das Achtsamkeitstraining

zu verbinden. In einem hierarchischen Verhältnis zwischen Leitung und TN wird das Training der Achtsamkeit eines wesentlichen Elements beraubt, das in der AKST aber eine entscheidende Rolle spielt: der Achtsamkeit im Sozialverhalten. Achtsamkeit ist freie Selbstbestimmung im konkreten situativen Kontext. Im Rahmen des Gruppentrainings ist dieser natürlich erheblich sozial definiert. Die Tiefenwirkung des Trainings hängt darum in hohem Maß von der Achtsamkeit im kommunikativen Miteinander der Gruppe ab. Ein weiterer Vorteil der Begegnung zwischen der alten und der neuen Gruppe liegt in dem Angebot für TN der alten, sporadisch oder auch ganz auch beim neuen Training mitzumachen. Dadurch wird das „Fremdeln“ reduziert, das sonst eintritt, wenn bis dato noch unbekannte Personen zu den Meetings erscheinen. Das Programm des Achtsamkeitstags kann folgendermaßen aussehen: 10.00–12.00

Gruppenmeeting mit dem letzten Thema des Trainingsprogramms

12.00–13.30

Gemeinsames Mittagessen Gemeinsamer Spaziergang Abschlussmeeting

13.30–15.00 15.00–17.00

17.30–19.30

Einführungsmeeting für die neue Gruppe

Thema 7 „Achtsamer Lebensstil“. Ein zentraler Aspekt dieses Themas sind achtsame Priorisierungen und Zielbestimmungen. Es passt gut ans Ende des Programms, weil es hier um die (weitere) Zukunftsperspektive der Teilnehmenden geht. Zum Beispiel können die Teilnehmenden selbst etwas dafür vorbereiten und mitbringen. Nicht unter dem Gesichtspunkt einer weiteren Trainingseinheit. Thema 8 „Persönliches Resümee“. Möglichkeit für alle TeilnehmerInnen (die Leitung eingeschlossen), die persönlichen Lernerfahrungen zusammenzufassen sowie den gegenwärtigen Standort auf dem Weg der Achtsamkeit und seine weitere Richtung zu bestimmen Zum Beispiel in gemütlichem Ambiente mit Imbiss, den Mitglieder der Vorgängergruppe vorbereitet haben.

Der Zeitplan des Einführungsmeetings kann so aussehen: 17.30–17.45 17.45–18.15

Teil I Teil II

18.15–18.30

Teil III

18.30–19.00

Teil IV

19.00–19.30

Teil V

Persönliche Kurzvorstellung aller Anwesenden. Überblick des Gesamttrainings durch die Gruppenleitung. Die neuen TN können Fragen dazu stellen, die alten ergänzen und erläutern aus ihrer Erfahrung. Ausgehend von den Fragen (2) und (3) des Fragebogens wird das Thema 1 „Zur Ruhe kommen“ erklärt. Exemplarische Entspannungsübung mit Progressiver Muskelentspannung, Einladung zu Rückmeldungen und Fragen im Anschluss. Lockerer Ausklang mit Gelegenheit zu weiteren Berichten aus der alten Gruppe und Fragen aus der neuen.

3.2 Der Ablauf des gesamten Gruppentrainings

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3.2 Der Ablauf des gesamten Gruppentrainings Mit Frage 14 des Fragebogens zur Teilnahme am Achtsamkeitstraining wird sondiert, welche Wochentage und Tageszeiten für die Teilnehmerschaft am günstigsten sind. Ansonsten empfiehlt es sich, die Planung weitestehend nicht von den Präferenzen der TN abhängig zu machen, um einen fortlaufenden Rhythmus von zwei Wochen zu ermöglichen. Damit können nahtlos vier Durchgänge pro Jahr aneinandergefügt werden. Tab. 3.1 zeigt die Aufteilung der Themen und die mögliche Terminplanung im Jahresablauf. Die Turnuslänge von acht Sitzungen entspricht dem Gruppentraining der MBCT (Segal et al. 2008). Von dort können auch noch nach Bedarf weitere inhaltliche Elemente in das AKST-Training aufgenommen werden.

3.3 Thema 1: Zur Ruhe kommen Personen, die damit rechnen, dass sie im Verlauf des Trainings Schwierigkeiten bekommen werden, können erst damit beginnen, wenn sie Thema 1 bearbeitet haben. Ob das zutrifft oder nicht, geht im Fragebogen aus den Fragen (2) und (3) hervor. Kandidaten mit geringerem Stresslevel wird empfohlen, ebenfalls an Thema 1 teilzuhaben, aber sie werden nicht darauf verpflichtet. Die Auszeit Es ist sehr zu empfehlen, Thema 1 gleich mit der Auszeit zu beginnen. In manchen Mannschaftssportarten kann das Team eine Spielunterbrechung beanspruchen, um sich eine „Auszeit“ zu nehmen. Sie dient dazu, die bisherige Spielstrategie zu reflektieren und sie neu zu bestimmen. Genau darum geht es auch hier. Die Merkmale und Maßnahmen bestehen in Folgendem:  Zwei bis drei Tage ohne alle sonstigen Verpflichtungen.  Angenehme, ruhige Umgebung, möglichst in schöner Natur.  Verzicht auf Handy und Internet; ausgenommen ist der Zugriff auf den Kalender für die Planungsphase in der zweiten Hälfte.  Zunächst dem körperlichen Bedürfnis nach Erholung Priorität geben: Ausschlafen, Spazierengehen etc.  In der zweiten Hälfte schriftliche Erarbeitung des Zeitplans für die Dauer des Achtsamkeitstrainings. Das Merkblatt 02 zum Thema 1 „Zur Ruhe kommen“ (Anhang 04) erhalten auch die weniger stressgeplagten TN. Ihnen wird ebenfalls die Auszeit empfohlen, aber sie werden nicht darauf verpflichtet. Die Aufgabe, einen persönlichen Zeitplan anzufertigen, gilt aber auch ihnen. Ob sie gleich mit der Umsetzung des Plans beginnen oder erst zu Trainingsbeginn, bleibt ihnen selbst überlassen.

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Das Achtsamkeitstraining

Tab. 3.1 Möglicher Jahresplan des Achtsamkeit-Gruppentrainings KW 03

Zeitplan Tag der Meeting 6 Achtsamkeit Meeting 7 Einführungsmeeting

Turnus 1 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 Tag der Achtsamkeit

Turnus 2 16 [. . . ] 27 Turnus 3 28 [. . . ] 39 Turnus 4 40 [. . . ] 50 51 [. . . ] 02

Thema 7. Achtsamer Lebensstil 8. Persönliches Resümee 0. Begegnung alte & neue TN – Überblick, Organisation, Fragen usw.

Meeting 1

1. Zur Ruhe kommen 2. Entautomatisieren

Meeting 2

3. Denkalternativen finden

Meeting 3

4. Achtsam kommunizieren

Meeting 4

5. Akzeptieren

Meeting 5

6. Positive Emotionen

Meeting 6 Meeting 7 Einführungsmeeting

7. Achtsamer Lebensstil 8. Persönliches Resümee 0. Begegnung alte & neue TN – Überblick, Organisation, Fragen usw.

wie oben – Meeting 1 bis Einführungsmeeting

wie oben – Meeting 1 bis Einführungsmeeting

wie oben – Meeting 1 bis Meeting 5

Winterpause

Die Liste angenehmer und gesundheitsfördernder Aktivitäten Die Planungsphase im zweiten Teil der Auszeit beginnt damit, dass sich die Person eine Liste von Aktivitäten erstellt, die sie gern tut und von denen sie weiß, dass sie ihr gut tun. In diese Liste gehören Aktivitäten, die ohnehin schon in ihrem Zeitplan vertreten

3.3 Thema 1: Zur Ruhe kommen

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sind, aber auch solche, die sie eigentlich erfreulich und sinnvoll findet, für die sie aber „leider nie Zeit“ hat. Die Liste sollte mindestens 10 Aktivitäten enthalten. Sie gleicht einem Baukasten, aus dem so viele Bausteine wie möglich in die konkrete Wochenplanung eingefügt werden. Es gilt, das eigentlich frustrierende „Eigentlich“ durch genau geplante Verhaltensweisen zu ersetzen. Die genaue Planung mit hoher Priorität ist unverzichtbar, weil es sonst unter Stress mit hoher Wahrscheinlichkeit nur beim guten Vorsatz und dem bedauernden „Eigentlich wollte ich . . . “ bleibt. Angenehme Aktivitäten haben zum Kennzeichen, dass man sich auf sie freuen kann. Sie wirken motivationsverstärkend als Zielpunkte, auf die man geduldig zusteuert, solange man Tätigkeiten ausführt, die unvermeidlich sind, aber nur wenig oder keine Freude machen. Als solche sind sie Verstärker im Sinne von Belohnungen. Für gesundheitsfördernde Maßnahmen trifft das nicht unbedingt zu, weil sie oft erst einmal unbequem sind und Überwindung brauchen. Aber auch sie werden zu positiven Verstärkern, indem sie eine doppelte Belohnungswirkung entfalten, wenn man über die Hürde der Überwindung hinweggekommen ist: Einerseits durch den gesundheitsfördernden Effekt selbst, der als etwas Angenehmes empfunden wird, andererseits durch das gestärkte Selbstbewusstsein, weil man etwas tut, worauf man stolz sein kann. Unter dem Vorzeichen der notwendigen Stressreduktion haben Aktivitäten, die der körperlichen Gesundheit dienen, Priorität. Aber unter dem Blickwinkel des Gesamttrainings ist der Begriff „Gesundheitsförderung“ viel weiter zu fassen. Das darf auch schon bei der Erstellung der Liste Berücksichtigung erfahren: Welche Aktivitäten, die einen fördernden Einfluss auf die seelische und geistige Gesundheit haben, können als feste Bausteine in die Wochenplanung integriert werden? Auch hier mag manches erst einmal Überwindung kosten, weil „aller Anfang schwer“ ist. Aber wenn man hinein kommt und Erfolgserlebnisse hat, kann auch ganz bald eine angenehme Aktivität daraus werden, auf die man sich freut. Verhaltensweisen, die förderlich für die körperliche, seelische und geistige Gesundheit sind und zugleich als angenehme Aktivitäten empfunden werden, haben zweifellos den nachhaltigsten stressreduzierenden Effekt und begünstigen zudem eine lebensbejahende und dankbare Einstellung, weil sich „der Pool der positiven Emotionen“ füllt (Willberg 2018). Unter den Bausteinen sollten sich nur wenige „große Klötze“ befinden, weil solche nur schwer in alltägliche Wochenplanungen passen. Vorrang sollten Aktivitäten haben, die nur wenig Aufwand brauchen und einen regelmäßigen Platz im Kalender finden. Von Zeit zu Zeit sollte aber auch ein „Highlight“ dabei sein, wobei kleinere Höhepunkte in kürzeren Abständen stärker und sicherer wirken als zum Beispiel der eine große Jahresurlaub, auf dem alles Ausharren hinzustreben scheint, der dann aber auch ganz leicht mit Erwartungen behaftet wird, die der Realität nicht gerecht werden. Der persönliche Zeitplan Dieser Plan soll von vornherein die nötige Kontinuität und Intensität des Trainings gewährleisten. Es geht darum, die alltäglichen Verpflichtungen, die Erfordernisse des Trainings und eine für die Achtsamkeit förderliche Lebensweise unter Einbezug der soeben

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Das Achtsamkeitstraining

beschriebenen Liste für die Dauer des Gruppentrainings zu integrieren. Das sollte man nicht dem Zufall überlassen. Der Plan beinhaltet folgende Elemente:  Präzise tägliche Zeiteinteilung für die Dauer des Trainings.  Regulierung des Schlafverhaltens dem tatsächlich individuellen Schlafbedürfnis entsprechend.  Die täglichen Achtsamkeitsübungszeiten.  Die zweiwöchentlichen Gruppentrainingstermine.  Das Achtsamkeitstagebuch zur Selbstbeobachtung.  Verbindlich für die Stressgeplagten: Tägliche Übungszeiten für Progressive Muskelentspannung. Eine genaue Zeiteinteilung liegt Menschen, deren Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit erhöht ist, stärker als anderen Charakteren. Aber auch diese können sich normalerweise gut an exakte Zeitpläne halten, wenn ihnen bewusst ist, welchen Wert das für sie hat. Für die Zeit des Gruppentrainings ist das sorgfältige Zeitmanagement aus besagten Gründen unabdingbar. Zudem ist das eine gute Übung, die dem dauerhaften achtsamen Lebensstil sehr gut zustatten kommt, sofern man sie nicht übertreibt. Stressprobleme führen oft zu Schlafstörungen und ungünstiges Schlafverhalten führt wahrscheinlich noch häufiger zu Stressproblemen. Bei jedem erwachsenen Menschen hat sich ein ihm persönlich angemessenes Schlafmaß herausgebildet. Für die anstehende Zeitplanung gilt es zunächst, dieses wieder neu einzuschätzen und zu justieren. Achtsamkeit ist etwas Alltägliches, aber es kommt wesentlich zu ihrer Einübung im Alltag darauf an, sich auch tatsächlich im Alltag kontinuierlich und intensiv auf sie zu besinnen. Sonst verwässert sie und löst sich auf oder kommt erst gar nicht zustande. Der Modus der täglichen Achtsamkeitsübungszeiten muss aber auch realistisch sein. Darum wird der Teilnehmerschaft nur ein Minimalprogramm zur Pflicht gemacht, das jedoch zweifellos für viele schon Herausforderung genug ist. Der Atemraum Die Grundübung ist der Atemraum (Michalak et al. 2007). Hier wird sozusagen für jeweils kurze Zeit in Reinform praktiziert, was im Lauf der Zeit als eingeübte Selbstverständlichkeit den ganzen Alltag durchziehen und prägen soll: Das rein wahrnehmende Beobachten des eigenen Atems. „Rein wahrnehmend“ bedeutet, alle dabei aufkommenden Urteile auch nur als solche wahrzunehmen, ohne auf sie einzusteigen, und stattdessen stets wieder neu zur Atembeobachtung zurückzukehren. Genau erklärt und eingeübt wird das im Meeting zu Thema 2, weil es inhaltlich am besten dorthin passt: Die reine Atembeoachtung ist nämlich praktisch vollzogene Entautomatisierung. Wir unterbrechen auf diese Weise das Treiben und Getriebensein des Alltags. Statt auf immer neue kognitive und affektive Impulse immer neu einzusteigen, steigen wir bewusst und willentlich für eine kurze Zeit aus. Mithin ist der Atemraum unsere Auszeit im Alltag.

3.3 Thema 1: Zur Ruhe kommen

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Das Pflichtprogramm des Achtsamkeits-Gruppentrainings beschränkt sich darauf, solche Unterbrechungen zunächst einmal nur als kurze Übungszeiten vorzunehmen. Das erlaubt die notwendige Kontinuität auch dort, wo die Umstände eher ungünstig erscheinen. Es ist aber hilfreich und empfehlenswert, diese Zeiten immer wieder länger auszudehnen, besonders dann, wenn der empfundene Druck, unbedingt sofort eine Lösung finden und eine Entscheidung treffen zu müssen oder eine bestimmte emotionale Belastung nicht aushalten zu können, sehr stark wird – auch wenn das paradox erscheint. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nämlich um jene Mussforderungen, die uns kein Glück bringen, weil sie uns die Freiheit rauben, auf eine Situation (A) unserem tatsächlichen Bedürfnis (E) entsprechend zu reagieren. Darin liegt der Sinn eines Satzes wie „Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam“ (Trungpa 1992). Entautomatisierung ist immer auch Entschleunigung. Ich gönne es mir, innezuhalten, statt mich zu Reaktionen (uC) hinreißen zu lassen, die womöglich weder mir noch andern gut tun. Morgenübung und Achtsamkeitstagebuch Das Basismodell der Morgenübung beansprucht mindestens eine Viertelstunde Zeit. Sie beginnt mit der Atemraumübung, gefolgt vom Achtsamkeitstagebuch und einer Prämeditation. Für das Tagebuch erhalten die TN eine tabellarische Vorlage (Anhang 05). Das Tagebuch dient vor allem der genauen Selbstbeoachtung. Die übende Person trägt stichwortartig ihre schönen und schwierigen Erfahrungen mit der Achtsamkeit am Vortag ein. Dann gibt sie sich selbst eine „Note“ mit Kommastelle (z. B. 1,7) für ihre Disziplin in der Einhaltung ihres Zeitplans. Wichtig ist dabei, hier wirklich nur diese Leistung einzuschätzen und den Wert nicht mit anderen Faktoren wie zum Beispiel der emotionalen Selbstkontrolle zu vermischen. Am Ende der Woche berechnet sie den Durchschnittswert der Tagesnoten. Nach insgesamt drei Wochen mit Durchschnittswerten von 2,0 oder besser belohnt sich die Person mit einer spürbar erfreulichen Prämie für ihren Erfolg.1 Dazu kann sie, wenn sie will, auf die Liste der angenehmen Aktivitäten zurückgreifen, die sie sich auch bereits in der Zeit zwischen Anmeldung und Einführungsmeeting erstellt hat (Merkblatt 02): Die Devise für den Einsatz dieses Verstärkers lautet: „Das gönne ich mir jetzt, denn das habe ich mir verdient: . . . .“ Nächster Schritt des morgendlichen Eintrags in das Achtsamkeitstagebuch ist die Einschätzung des Achtsamkeitswertes vom Vortag. Für diesen gibt es keine Noten, weil es sehr darauf ankommt, die Achtsamkeit nicht als eine Leistung zu verstehen. Stattdessen wird der Tageswert dem eigenen Empfinden nach auf einer Skala von 0 bis 10 eingetragen. Worum es geht, wird ersichtlich, wenn man sich eine solche Skala für die Einschätzung eines täglichen Depressions- oder Wohlbefindlichkeitswertes denkt. Da geht es natürlich auch nicht um eine Leistung. Der Achtsamkeitswert resultiert daraus, ob die schönen oder 1

Die Festlegung der Disziplinwerte wie auch das zu erreichende Maß, um den Verstärker zu aktivieren, kann individuell modifiziert werden, wenn es dafür gute Gründe gibt. Sie erinnern sich: Es handelt sich dabei um den Kontingenzfaktor K im S-O-R-K-C-Modell. Wie der zu bestimmen ist, hängt von der individuellen Disposition der Person ab.

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Das Achtsamkeitstraining

die schwierigen Erfahrungen mit der Achtsamkeit überwiegen. Der Wert 10 auf der Skala würde bedeuten, den Tag über durchgängig sehr schöne Erfahrungen mit der Achtsamkeit gemacht zu haben, im Wert 0 würde sich das Gegenteil ausdrücken. Am Ende der Woche fügt die übende Person die Achtsamkeitswerte aller Tage zur wöchentlichen Achtsamkeitskurve zusammen, für die es im tabellarischen Tagebuch ebenfalls eine Vorlage gibt. Nach dieser Rückschau folgt die prämeditative Phase der Morgenübung (Rabbow 1954; Hadot 1991).2 Die Person konzentriert sich zunächst wieder auf die rein wahrnehmende Beobachtung ihres Atems, um von diesem Zustand ausgehend nun ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, so realistisch wie möglich zu imaginieren, was heute auf sie zukommen wird. „Realistisch“ meint hier weder „optimistisch“ noch „pessimistisch“, sondern unabhängig von Wunsch und Befürchtung das, was tatsächlich zu erwarten ist. Das nimmt sie in den Blick und stellt sich mental darauf ein. Abschließend formuliert und memoriert sie mit Ausrichtung auf diese Vorstellung ihre heutige Tagesparole, in deren Wahl sie ganz frei ist. Sie sollte nur nicht den Fehler machen, sich das von Tag zu Tag mühsam neu auszudenken. Es empfiehlt sich, die Morgenübung an jedem Sonntag etwas auszudehnen, um noch einmal anhand des Achtsamkeitstagebuchs die zurückliegende Woche Revue passieren zu lassen. Auf jeden Fall sollte man nicht versäumen, am Ende der Woche den Durchschnitt des Disziplinwerts zu berechnen und die wöchentliche Achtsamkeitskurve zu zeichnen (Anhang 05). Das ist auch vor den Gruppenterminen ratsam, um für den Erfahrungsaustausch präpariert zu sein. Je besser man sich sowohl die Fortschritte als auch die Schwierigkeiten auf dem Weg bewusst macht, desto besser kann man rechtzeitig die richtigen Konsequenzen ziehen und sehen, was sich bewährt. Die Tagesparole Sie wird am Ende der Morgenübung formuliert und alle drei Stunden in der Atemraumübung erinnert. Die übende Person kann sie sich am Ende der Übung (laut) vorsagen oder sie auch schon in deren Verlauf im Rhythmus des Atems meditierend gedanklich wiederholen. Es können schlichte Formulierungen wie „Du wirst es schaffen!“ sein, vorausgesetzt, dass sie Glaubwürdigkeit für die Person besitzen. Es können die rationalen Denkalternativen (rB/D) aus einem ABC sein, das die Person gerade durchgeführt hat. Sie kann aber auch für jeden Tag der Woche dieselbe Parole verwenden. In diesem Fall kommt es nur darauf an, dass sie ihr grundsätzlich Glaubwürdigkeit zuspricht. Durch das beständige Wiederholen prägt sich die Formulierung dem Gedächtnis tief ein und entfaltet dort seine Eigenwirkung. Aus der hinduistischen Überlieferung sind solche „Einreden“ (Grün 2003) als Mantras bekannt. Aber gerade auch in der abendländischen Tradition haben derlei Praktiken einen hohen Stellenwert. 2

Die Praxis der Prämeditation spielte in der stoischen Psychagogik eine zentrale Rolle und ging von dorther in die christliche Seelsorgelehre ein. Sie hat sich bis heute in Form der so genannten „Stillen Zeit“ als Grundübung christlicher Spiritualität erhalten.

3.3 Thema 1: Zur Ruhe kommen

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Für Menschen, die sich mit dem Training der Achtsamkeit auch den Segen der christlichen Spiritualität erschließen wollen, kann das ein Bibelspruch sein, wie zum Beispiel der Wochenspruch, in dem das Thema des jeweiligen Sonntags im Kirchenjahr zur Sprache kommt. Die Grundstruktur der Tagzeitengebete lädt sie außerdem ein, auch liturgische Elemente dieser Tradition in die Zeit des Atemraums aufzunehmen (Steindl-Rast 2015). Aber dergleichen mag man sich auch für später aufbehalten, um diese Zeiten nicht zu überladen. Allzu leicht verzerrt sich dann das Aufatmen der Entlastung zum Seufzen über einen neuen Stressfaktor. Hier gilt wie so oft eher die Devise „Weniger ist mehr“! Die folgende Tabelle stellt die Achtsamkeitsübungen für die Zeit des Gruppentrainings im Tagesablauf dar. Der Aufwand dafür ist viel geringer, als man vielleicht meinen mag. Fast immer ist es möglich, auch im Verlauf eines arbeitsreichen Tages drei bis vier Mal ein bis drei Minuten Zeit finden, um ganz für sich zu sein, auch wenn man dabei im Auto sitzt oder etwa die Toilette aufsuchen muss, um sich dem Zugriff der Forderungen für einen Moment zu entziehen. Die Uhrzeiten orientieren sich an einer Schlafzeit von 22.00 bis 5.30 und dienen hier natürlich lediglich als Anhaltspunkte, nur sollte sich jede übende Person um ihre individuelle Regelmäßigkeit bemühen. 6.00 9.00 12.00 15.00 18.00 21.45

15 min. 1–3 min. 1–3 min. 1–3 min. 1–3 min. 5 min.

Atemraum, Achtsamkeitstagebuch & Prämeditation & Tagesparole Atemraum & Tagesparole Atemraum & Tagesparole Atemraum & Tagesparole Atemraum & Tagesparole Atemraum & Dankbarkeitsübung

Die Abendübung Den Abschluss des Tages bildet eine weitere Atemraumübung, der sich nun aber noch die Dankbarkeitsübung anschließt (Anhang 05). Auch hierfür wird wieder das Achtsamkeitstagebuch benötigt. Es enthält für jeden Tag drei Zeilen, in die mindestens drei Erfahrungen im Lauf des zurückliegenden Tages eingetragen werden, die von der übenden Person als dankenswert angesehen werden. Sie soll sich diese Erfahrungen aufmerksam vor Augen führen, nicht aber über ihre Empfindungen in dieser Hinsicht nachgrübeln. Das Auswahlkriterium ist die sachliche Einschätzung: „Das ist (eigentlich) dankenswert“, nicht das Gefühl. Es kann sich um konkrete neue Ereignisse dieses Tages handeln, aber auch um andere, allgemeinere Wahrnehmungen, die jetzt gerade ins Bewusstsein kommen. Natürlich können sich die Eintragungen auch wiederholen, nur ist darauf zu achten, dass keine routinemäßige Pflichtübung daraus wird. Darum empfiehlt es sich auch, nach dem Aufschreiben noch einige Momente in der Atemübung zu bleiben, um sich die Stichpunkte noch einmal inhaltlich zu vergegenwärtigen, um danach ohne viele weitere Worte und Aktionen ins Bett zu gehen und sich dort erneut nochmals daran zu erinnern. Die Übung soll auch und gerade dann durchgeführt werden, wenn sie zur Herausforderung wird, weil sich die Person augenblicklich gar nicht dankbar fühlt. Untersuchungen haben gezeigt, dass allein die kontinuierliche Praxis einer solchen schlichten Übung das Bewusstsein für

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Das Achtsamkeitstraining

das tatsächlich Dankenswerte im Alltag deutlich steigern und damit die emotionale Befindlichkeit signifikant verbessern kann (Emmons und McCullough 2004). Den Tag mit Dank zu beschließen erleichtert es, ihn dankbar anzunehmen und ihn im Frieden loszulassen. Das Unverarbeitete des Vortags überlagert dadurch weniger den nächsten Tag. Er kann, getrennt von der Vergangenheit durch den Schlaf, als neue Gabe und Aufgabe und somit auch als Neuanfang dankbar empfangen werden. Das je neue Loslassen ist auch eine Übung der Demut: Unfertiges, Ungelöstes, Misslungenes bleibt zurück, das man gern noch zu einem guten Ende gebracht hätte. So ist jeder Tagesabschluss auch eine kleine Sterbeübung, so wie jeder Tag in sich das ganze Leben repräsentiert, da sich unser Dasein immer nur in diesem einen Heute ereignet, das so ist, wie es ist, und nicht, wie wir es gern hätten. Die antike abendländische Psychagogik wie auch die buddhistische Achtsamkeitslehre legten großen Wert darauf, in dem Bewusstsein zu leben, dass es immer nur auf diesen einen heutigen Tag ankommt, als wäre es der einzige und letzte. An jedem Tag mit sich selbst, der Umwelt und dem Schicksal so versöhnt zu sein, dass man im Frieden Abschied nehmen kann, galt als hohes Weisheitsziel. Auch die Ethik des Neuen Testaments setzt einen wesentlichen Schwerpunkt darauf, ganz im Heute gegenwärtig zu sein, statt sich von der Sorge um die Zukunft und der Last der Vergangenheit bestimmen zu lassen. Progressive Muskelentspannung In den Wochen zwischen Anmeldung und Einführungsmeeting haben die Stressgeplagten die heilsame, aber auch herausfordernde Aufgabe zu bewältigen, nicht nur mit der Umsetzung ihres revidierten stressreduzierenden Zeitplans zu beginnen und dabei bereits die sechs kurzen Achtsamkeits-Übungszeiten zu integrieren, sondern auch noch täglich bei maximaler Priorität eine Dreiviertelstunde für die Langform der Progressiven Muskelentspannung (PM) zu reservieren. Vom Einführungsmeeting an können sie die Entspannungsübungszeit auf die Mittelform reduzieren und nach einer Weile der eigenen Einschätzung gemäß oder nach Absprache mit der Trainingsperson zur Kurzform übergehen (Willberg 2007). Langform und Mittelform sind kostenlos in einer vom Verfasser gesprochenen Version online erhältlich, die Anleitung zur Kurzform, die nur noch wenige Minuten beansprucht, erhalten die TN mit dem Merkblatt zu Thema 1; diese Anleitung können sie sich dann selbst geben. Der Erfolg des Entspannungstrainings hängt wiederum sehr von den Faktoren Kontinuität und Intensität ab. Konkret heißt das für die PM:  Tägliches Üben, auch wenn das vorübergehend langweilig erscheint und man daran zweifelt, dass sich der Aufwand lohnt.  Konsequenter Verzicht auf Abkürzungen: Die Kurzform kommt erst zur Anwendung, wenn Langform und Mittelform lang genug praktiziert wurden. Man hört immer wieder von Personen, die PM einmal für sich ausprobieren, das sei „nicht ihr Ding“. Es gibt allerdings nur wenige körperliche oder psychische Kontraindikationen. Teilnehmende mit schweren körperlichen Problemen können hierzu ihre Ärztin

3.3 Thema 1: Zur Ruhe kommen

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konsultieren. Personen mit akuten psychischen Problemen, bei denen die Verwendung von PM eher nicht angeraten ist (z. B. Psychosen), nehmen ohnehin nicht am Achtsamkeitstraining der AKST teil. Bei den meisten anderen liegt das Problem wahrscheinlich in Vorurteilen und Ungeduld, weil die körperliche Wirkung sachlich gesehen bei allen gleich ist. Andererseits entsteht durch eine ablehnende Haltung wieder neuer Stress, der natürlich den Entspannungseffekt der Übung neutralisieren kann. Personen mit Vorbehalten sollten ermutigt werden, sich trotzdem darauf einzulassen. Wenn sie nicht bereit sind, sich für die neue Erfahrung zu öffnen, werden sie wahrscheinlich auch mit den expliziten Achtsamkeitsübungen Mühe haben. Bei stärkeren Vorbehalten gegen die PM sollte aber keinesfalls Druck auf die Person ausgeübt werden. Es gibt ja in der Tat auch andere Möglichkeiten hoch dosierter Stressreduktion. Es ist nur unabdingbar für die Stressgeplagten unter der Trainingsteilnehmerschaft, dass sie dann eine solche regelmäßige und gleichermaßen intensive Entspannungsmaßnahme auch wirklich an die Stelle des vorgesehenen PM-Trainings setzen. Wer nur halbherzig gegen das Übermaß seiner momentanen Stresserfahrung angeht, wird vom anschließenden Achtsamkeitstraining kaum viel erwarten dürfen. Wir wählen als Verfahren zur Stressreduktion die PM, weil ihre Wirkungsweise gut nachvollziehbar ist, weil sie leicht zu praktizieren ist und weil sie sich über Jahrzehnte hinweg insbesondere im Rahmen der KVT bewährt hat und ihre hohe Effektivität als wissenschaftlich gesichert gelten darf (Grawe et al. 1995). Wir orientieren uns an der „klassischen“ Systematik ihres Erfinders Edmund Jacobson (Jacobson 2011), weil es keinen ersichtlichen Grund gibt, sie als überholt zu betrachten. „Progressiv“ heißt die PM zum einen, weil fortschreitend (= progressiv) eine Muskelpartie des Körpers nach der anderen erst angespannt und dann wieder ganz bewusst und aufmerksam gelöst wird. Das Prinzip dabei ist denkbar einfach: So wie der Ausschwung eines Pendels zu einem Punkt B davon abhängt, dass es bis zu einem Punkt A in seine Gegenrichtung gezogen wurde (Abb. 3.1) (Willberg 2007), kommt der EntspannungsefAbb. 3.1 Pendel als Symbol des Entspannungseffekts

A

Bewegung nach A

Bewegung nach B

B

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3

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Das Achtsamkeitstraining

Brust, Schultern und obere Rückenpartie 10

8 Nacken und Hals 7

Untere Wangenpartie und Kiefer

6

Obere Wangenpartie, Augen und Nase

Bauchmuskulatur Nichtdominanter Oberarm

4

Nichtdominante Hand und Unterarm

3

Nichtdominante Oberschenkel

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Nichtdominante Unterschenkel

15

5 Stirn

Nichtdominante Fuß

2

Dominante Oberarm Dominante Hand

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Dominante Fuß Dominante Unterschenkel

16

13

1 und Unterarm 11 Dominante Oberschenkel Abb. 3.2 Die 16 Muskelpartien

fekt dadurch zustande, dass zunächst die Anspannung erzeugt wird. In der Langform, die zuerst eingeübt wird, geschieht das nacheinander mit allen 16 Muskelpartien des Körpers (Abb. 3.2) (Willberg 2007). In den kürzeren Formen werden jeweils mehrere Muskelpartien zusammengefasst. Zum anderen ist die PM „progressiv“, weil fortschreitend die Trainingsdauer bei gleich bleibender Intensität verkürzt wird, da sich ein Konditionierungseffekt einstellt. Das heißt: Der Organismus lernt durch das beständige Üben die Entspannung, was letztlich dazu führen kann, dass sich die Praxis des Muskelanspannens erübrigt und durch noch kürzere Vergegenwärtigungsformen ersetzt werden kann, deren Effektivität aber nicht geringer ist als die der zuvor geübten Formen.

3.4 Thema 2: Entautomatisieren Die Meetings von Thema 2 an bis Thema 7 haben alle dieselbe Grundstruktur: Teil I dient der Reflexion der zurückliegenden Phase. Ab Thema 3 geschieht das nur noch anhand des Achtsamkeitstagebuchs und durch die Besprechung der Hausaufgaben, mit denen das letzte Thema vertieft und das nächste vorbereitet wird. Teil II ist für die Psychoedukation reserviert: Hier wird praxisbezogen das neue Thema in Form eines Vortrags entfaltet, der aber dialogische Form annehmen kann, weil die TN eingeladen sind, sich an der Erarbeitung des Themas aktiv zu beteiligen. Teil III ist für Übungen da und in Teil IV werden die neuen Hausaufgaben vorgestellt. Bei Letzteren ist darauf zu achten, dass kein größerer zusätzlicher Faktor für die Zeitplanung daraus wird, da die Teilnehmerschaft damit schon genug zu tun hat. Stereotyp kann die Hausaufgabe folgendermaßen eingeführt werden: „Richten Sie in der Zeit bis zur nächsten Sitzung Ihre Aufmerksamkeit im Alltag beson-

3.4 Thema 2: Entautomatisieren

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ders auf [. . . ] und machen Sie sich Notizen dazu, die wir dann das nächste Mal miteinander reflektieren. Dazu können Ihnen folgende Maßnahmen behilflich sein: [. . . ].“ 45 min. Teil I: Reflexion 35 min. Teil II: Psychoedukation 30 min. Teil III: Übung 10 min. Teil IV: Abschluss

Rückblick auf die erste Phase, vor allem anhand des Achtsamkeitstagebuchs. Das ABC der Entautomatisierung & das nicht-wertende Beobachten. Reine Atembeobachtung. Im Anschluss Reflexion der Übung. Hausaufgabe: Mit dem ABC-Schema problematische Automatismen analysieren. Noch offene Fragen beantworten.

3.4.1 Reflexion Die Phase von der Anmeldung bis zu dieser ersten Gruppensitzung nach dem Einführungsmeeting ist wahrscheinlich für einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer ziemlich herausfordernd. Es ist darum angebracht, im ersten Teil des Meetings mehr Zeit für die Reflexion des bisherigen Wegs einzuplanen als bei den späteren Sitzungen. Im Mittelpunkt des Rückblicks stehen die ersten Erfahrungen mit dem Achtsamkeitstagebuch. Folgende Leitfragen empfehlen sich für den Reflexionsteil:  Berichten Sie bitte aus Ihrem Achtsamkeitstagebuch. Worüber freuen Sie sich im Rückblick? Welchen Schwierigkeiten sind Sie begegnet?  Wenn Sie mit der PM begonnen haben: Berichten Sie bitte auch, wie es Ihnen damit gegangen ist.  Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?  Gibt es Fragen und Kommentare zu den Merkblättern?  Auf welche weiteren Fragen zum Training brauchen Sie jetzt eine Antwort?  Was werden Sie bis zum nächsten Meeting verändern oder intensivieren? Der weitere Zweck dieses Meetings besteht darin, das ABC einzuführen, dabei die Funktionsweise der automatischen Gedanken zu vermitteln, davon ausgehend das Prinzip der Entautomatisierung zu erläutern und die praktische Verwirklichung des Prinzips durch die Übung des nicht-wertenden Beobachtens einzuführen und zu demonstrieren, die sich auf das Beobachten des Atems fokussiert.

3.4.2 Psychoedukation Das ABC der Entautomatisierung und das nicht-wertende Beobachten Die bewusste menschliche Wahrnehmung ist ein unablässiger Strom von Sinneseindrücken (A), die das Gehirn selbsttätig im Moment ihres Auftretens interpretiert (B). Diese Interpretation ereignet sich zugleich auf zwei Ebenen: der rationalen und der emotiven.

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3

Das Achtsamkeitstraining

Statt „Interpretation“ können wir auch „Urteil“ sagen. Jedes Urteil dieser Art führt eine Reaktion (C) in uns herbei, die ebenfalls auf den beiden Ebenen stattfindet. Wir erläutern den Vorgang mit einem Beispiel. Wir stellen uns folgende Situation vor: I

Ich gehe spazieren und nehme ein Rosenbeet am Wegrand wahr.

A Sinneseindruck Ich sehe und rieche (Rosen)

B Rationales Urteil Es ist ein Rosenbeet

Emotives Urteil Schön!

C Rationale Reaktion Hier ist der Weg, dort ist das Beet

Emotive Reaktion Freude

Da sich auch die Reaktion (C) im Bewusstsein ereignet, ist sie zugleich wieder ein neuer Sinneseindruck (A), auf den wieder eine Reaktion (C) folgt. In unserem Beispiel kann das etwa rational bedeuten, dass ich meine Augen den Weg entlang vorwärts richte, dadurch vermeide, in das Rosenbeet zu treten und durch die entstandene Veränderung der Blickrichtung nun einen neuen und weiteren ganz anderen Sinneseindruck erhalte, nämlich den Container für den Glasmüll, den ich aufsuchen möchte. Emotional mag es bedeuten, dass ich Lust verspüre, näher an das Beet heranzutreten, um den Duft noch stärker aufzunehmen. Jedes C wird also wieder zu einem neuen A: Ich sehe den Müllcontainer und die leeren Glasgefäße kommen mir in den Sinn, die ich dorthin trage. Rational urteile ich: „noch 200 Meter“, mein emotives Urteil lautet: „Schwer, der Sack, der Arm tut weh!“. So hängt ein ABC am andern wie die Waggons eines endlosen Zuges. Wie das Beispiel zeigt, vermischen sich die je neuen inneren Sinneseindrücke, die aus den automatischen Urteilen des Gehirns über die wahrgenommene Wirklichkeit resultieren, die „C’s“ also, die zu neuen „A’s“ werden, mit den gleichermaßen unablässig eintretenden äußeren Sinneseindrücken, die das Gehirn genauso interpretiert. Äußere und innere Sinneseindrücke bewirken in ihrem Wechselspiel wie in einem Kaleidoskop alle möglichen Formen ständig fluktuierender Interpretationen. An dieser Stelle stehen wir vor einem begrifflichen Problem, das in der Achtsamkeitsliteratur leider nicht konsequent berücksichtigt wird: Wir müssen nämlich zwischen Interpretation respektive Urteil einerseits und Bewertung andererseits unterscheiden. Unter der Bewertung verstehen wir ein Urteil über das Urteil. Konkret: Die Bewertung entsteht daraus, dass wir das spontane Urteil des Gehirns mit einem Wert versehen. Das sei wieder anhand unseres Beispiels erläutert: A Sinneseindruck Ich sehe und rieche (Rosen)

B Rationales Emotives Urteil Urteil Es ist ein Schön! Rosenbeet Bewertung Es sind Rosen – die muss ich jetzt haben!

C Rationale Emotive Reaktion Reaktion Hier ist der Weg, Freude dort ist das Beet (Pseudo-)Rational-emotive & behaviorale Reaktion Ich beschließe, auf dem Rückweg einige Rosen zu stehlen und sie in den leeren Sack zu stopfen, damit es niemand sieht

3.4 Thema 2: Entautomatisieren

55

Das etwas krasse Beispiel zeigt, dass unsere emotionalen und behavioralen Probleme nicht aus den unmittelbaren Urteilen des Gehirns selbst entstehen, sondern erst aus den Bewertungen, die wir ihnen sozusagen anheften. Dadurch wird die rationale Reaktion auf einmal ziemlich unvernünftig und die emotionale Reaktion verursacht Schaden, wenn sie zur Tat führt. Zwar können auch die unmittelbaren Urteile des Gehirns irrig sein: Ich bin zum Beispiel neu in der Gegend und habe einen falschen Weg eingeschlagen, der gar nicht zum Glascontainer führt. Die mannigfachen Fehlurteile dieser Art können die schlimmsten Folgen haben, aber seelische Schäden entstehen normalerweise nicht daraus, es sei denn, die Fehlurteile sind selbst Symptome eines bereits vorhandenen seelischen Schadens, etwa eines Wahns. Allerdings dürfen wir nicht darüber hinweggehen, dass die Wirklichkeit des ABCs noch komplexer ist. Jene rationalen und emotiven Urteile des Gehirns, die wir durch unsere Bewertungen aufnehmen und einer guten oder schlechten Richtung zuführen, präsentieren sich unserem Bewusstsein auch schon durch einen Bewertungsfilter. Dieser Filter wirkt wie eine Brille, durch die wir die Wirklichkeit sehen, und das Urteil, dass durch die Färbung entsteht, sei sie rosa oder schwärzlich, kann durchaus einen seelisch schädigenden Einschlag haben. Das Gehirn setzt den Filter jedem spontanen rational-emotiven Urteil auf. Zumindest als erwachsene Menschen sind wir nicht in der Lage, Sinneseindrücke in reiner (kindlicher) Unbefangenheit aufzunehmen. Wir haben uns im Leben eingerichtet und im Prozess unserer Entwicklung einige grundsätzliche Bewertungsmuster im Gedächtnis etabliert, die uns zur Orientierung für die Erfüllung unserer seelischen Grundbedürfnisse dienen. Man nennt sie die motivationalen Schemata (Grawe 2004). Sie bilden den Bewertungsfilter. Der bereits vorgegebene Bewertungsfilter hat wiederum maßgeblichen Einfluss auf die aktuellen Bewertungen, die wir anlässlich eines bestimmten Sinneseindrucks vornehmen. Auch das können wir nun in unser Beispiel einfügen: A Sinneseindruck Ich sehe und rieche (Rosen)

B Rationales Urteil Es ist ein Rosenbeet

Emotives Urteil Schön!

Bewertungsfilter ) Privateigentum ist Unrecht – was dein ist, ist auch mein. Bewertung Es sind Rosen – die muss ich jetzt haben!

C Rationale Reaktion Hier ist der Weg, dort ist das Beet

Emotive Reaktion Freude

Pseudorationale Emotive Reaktion Reaktion Das ist die Chance, Gerech- Gier tigkeit walten zu lassen! (Pseudo-)Rational-emotive & behaviorale Reaktion Ich beschließe, auf dem Rückweg einige Rosen zu stehlen und sie in den leeren Sack zu stopfen, damit es niemand sieht

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3

Das Achtsamkeitstraining

Auch das ist wieder ein krasses Beispiel, um zu verdeutlichen, dass dann, wenn sich problematische Bewertungsmuster in die motivationalen Schemata gemischt haben, eben auch problematische Schlussfolgerungen daraus resultieren. In der REVT heißen solche problematischen Bewertungen irrational Beliefs (iB). Leider wird man wohl davon ausgehen müssen, dass es keinen erwachsenen Menschen gibt, der keine iBs in sich abgespeichert hat, die unter Umständen ein hohes schädigendes Potenzial entfalten können, wenn er ihnen auf den Leim geht. Die iBs sind bereits im Bewertungsfilter präsent und bieten sich immer dann, wenn ein Anlass (A) sie triggert, die kindliche Unbefangenheit des Urteils zu einer „erwachsenen“ Schlussfolgerung zu ergänzen, die dann aber leider der Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird, sondern ihr den Stempel des Eigenwillens aufprägt. Die Wirklichkeit muss dann so sein, wie der iB es verlangt. Wir tun ihr Gewalt an. Das ist es, was wir als Mussforderung bezeichnen. Die irrationale, unrealistische Situationsbewertung des Rosendiebs könnte aus einer Mussforderung hervorgehen, die behauptet: „Ich muss selbst festlegen, was Recht und Unrecht ist (mir bleibt gar nichts anderes übrig), und ich muss dann jede Gelegenheit nutzen, um mein (so definiertes) Recht durchzusetzen, weil die Welt um mich herum so ungerecht ist (und das Schicksal mir so übel will), dass ich andernfalls völlig untergehe.“ Die Wirklichkeit zu leugnen und sie durch eine eigenwillige Interpretation zu ersetzen, die niemand gut tut, ist eigentlich eine sehr präzise Definition von Lüge. Es gibt, Gott sei Dank, für jede solche Lüge eine Wahrheit, und es zeichnet uns Menschen aus, dass wir sie erkennen und ihr folgen können. Der rationale Belief (rB) antwortet auf die realitäts-fremde Bewertung des iB mit einer realistischen Einschätzung der Situation (A). Er verhindert und durchkreuzt somit die irrationale Schlussfolgerung. Irrationalität (Unvernunft) ist nichts anderes als Wirklichkeitsentfremdung und Rationalität (Vernunft) nichts anderes als Realismus. Mit dieser Aussage ist ein weiteres begriffliches Problem geklärt, dem man sehr oft begegnet, wenn von „Vernunft“ und „Rationalität“ die Rede ist: Viele Menschen verwechseln Vernunft und Intellekt. Aber der Intellekt kann höchst unvernünftig sein, wenn er durch iBs und andere Fehlurteile zu höchst problematischen Schlussfolgerungen gelangt. Wer die Vernunft mit dem Intellekt verwechselt und sie darum kritisch sieht, gibt andererseits gern der Irrationalität den Vorzug. „Irrationalität“ heißt auf Deutsch „Unvernunft“, allerdings will das aber eigentlich kaum jemand, der sich für sie ausspricht. Die Unstimmigkeit liegt wiederum an einer Verwechslung: Man bezeichnet intuitive Vorgänge wie das so oft zitierte „Bauchgefühl“ als „irrational“, obwohl sie es mitnichten sind, sofern sie der Wirklichkeit gerecht werden. I

Wichtig: Achtsam zu sein bedeutet, die unmittelbar aus den Sinneseindrücken entstehenden Urteile mitsamt ihrer Bewusstwerdung durch den Bewertungsfilter genau so, wie sie das Gehirn gerade generiert, einfach nur beobachtend zur Kenntnis zu nehmen.

Achtsamkeit ist der Riegel, den wir zwischen die rational-emotiven Urteile samt dem Bewertungsfilter und unsere Neigung schieben, uns auf dessen Bewertungsvorgabe fest-

3.4 Thema 2: Entautomatisieren

57

zulegen, indem wir auf den darin enthaltenen Bewertungsimpuls nicht eingehen. Das Eingehen kann in Zustimmung oder Ablehnung bestehen. Wenn wir eine Bewertung in uns bekämpfen, sind wir mindestens genauso stark mit ihr beschäftigt, wie wenn wir ihr folgen. Das Paradebeispiel für diesen Sachverhalt sind Zwangsgedanken. Indem eine Person mit aller Macht verhindern möchte, bestimmte Gedanken nicht zu denken, die sie einer Mussforderung wegen tabuisiert, ist sie fatalerweise ständig mit eben diesen Gedanken beschäftigt; je mehr sie sich dagegen wehrt, umso stärker drängen sie sich ihr auf. Sie kann nur frei davon werden, wenn sie den Mut fasst, diese Gedanken einfach sein zu lassen. Die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks zeigt, worum es geht: Wir können etwas nur sein lassen, wenn wir es sein lassen. Diese Gedanken treten auf, weil der Bewertungsfilter das so arrangiert. Ich gehe weder bestätigend noch ablehnend auf sie ein, sondern nehme sie schlicht zur Kenntnis. Ich nehme also wahr, dass sie da sind, und begnüge mich mit dieser Wahrnehmung. Sie sind jetzt eben, warum auch immer, Teil meiner Realität. Sie sind, und alles, was ist, darf auch sein. Ich widersetze mich nicht mit einer Mussforderung der Realität, sondern ich akzeptiere die Realität, wie sie ist. Der endlose Strom meines Bewusstseins besteht aus rational-emotiven Urteilen und Reaktionen, die keineswegs frei von Fehleinschätzungen sind, aber solche Fehler bleiben, selbst wenn ihre Folgen tragisch sind, im Spielraum des Natürlichen. Wer keine Fehler macht, der lernt auch nicht. Auch Tiere machen, obwohl sie wahrscheinlich durch ihren Instinkt unmittelbar und gänzlich in den Naturzusammenhang eingebunden sind, dem sie angehören, viele Fehler, und auch sie können nur auf diese Weise lernen. Fraglich aber ist, ob ein Tier wirklich unnatürlich oder gar widernatürlich werden kann. Der Mensch jedenfalls ist dazu in der Lage, und das Unnatürliche haftet ihm an, weil es unablösbarer Teil seines Bewertungsfilters ist. Wenn der Mensch trotzdem so weit wie möglich natürlich, was in seinem Fall heißt: menschlich sein will, muss er sich darin üben, auf die irrationalen Bewertungsimpulse (iB), die in seinem Bewusstseinsstrom auftauchen, konsequent nicht einzugehen. Ich mag eine Neigung zum Rosendiebstahl in mir tragen und vielleicht sogar einen zwanghaften kleptomanischen Drang. Mein Bewertungsfilter mag mir bei jeder Gelegenheit nahe legen, Neigung und Drang nachzugeben. Durch die Entautomatisierung der Achtsamkeit verschaffe ich mir die Freiheit, souverän zu entscheiden, wie ich mich dazu verhalten will. Entautomatisierung bedeutet, aus den Angeboten, die das Gehirn uns aufgrund des Bewertungsfilters macht, nicht automatisch aktuelle Bewertungen zu folgern, sondern das ganze Paket des bewertungsgefilterten rational-emotiven Urteils ohne Wertung nur zur Kenntnis zu nehmen. Ich sehe, was sich in meinem Bewusstseinsstrom ereignet, aber ich ziehe keine wertenden Schlüsse daraus, weder bejahende noch ablehnende, und das gilt gleichermaßen für angenehme rational-emotive Urteile wie für unangenehme. Es ist, wie es ist, und ich nehme einfach nur wahr, dass es so ist, wie es ist, sei es angenehm oder unangenehm. Die Vorentscheidung, nicht-wertend mit den Urteilen und ihrer Färbung durch den Bewertungsfilter umzugehen, die im Bewusstseinsstrom auftauchen, ist wiederum ein ganz normaler Akt des Urteilens, nur sozusagen auf einer „höheren“ Ebene, weswegen man auch Metakognition dazu sagt. Das ist nicht mit einer metaphysischen „Höhe“ zu ver-

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Das Achtsamkeitstraining

wechseln. Eher das Gegenteil ist der Fall: Wir heben nicht ab, um uns von der Realität zu entfernen, sondern wir „bleiben auf dem Teppich“. Diese Metakognitionen sind realistisch und nüchtern. „Meta“ sind sie nur, weil wir uns der spezifisch menschlichen Fähigkeit bedienen, uns Gedanken über unsere Gedanken zu machen. Dazu beziehen wir eine wohlwollend wachsame Grundposition: Alles, was im Bewusstseinsstrom in Erscheinung tritt, darf sein; wir heißen es weder gut noch schlecht. Wir lassen es, im Bild gesprochen, an uns vorbei fließen und nehmen es nur wohlwollend betrachtend aufmerksam wahr. Dazu haben wir uns entschieden, wir erinnern uns immer neu daran und kommen darauf zurück. Das heißt nun aber keineswegs, dass wir überhaupt nicht mehr werten. Aber wenn wir uns in der Achtsamkeit üben, werden wir das viel seltener tun als sonst. Zwar fallen wir immer wieder in Bewertungsautomatismen zurück, die uns nicht gut tun, weil uns der Unterschied zwischen Bewertungsfilter und aktueller neuerlicher Bewertung aus dem Blick gerät, aber wir können wieder zur Grundeinstellung zurückkehren, wenn wir es merken. Dadurch, dass wir auf diese Weise mehr Abstand zu unseren ungünstigen Bewertungsmustern finden, wird unser Blick für das wirklich Wert-volle frei, das im Bewusstseinsstrom erscheint. Wertvoll ist immer das, was in einem gerade gegebenen Kontext konstruktiv weiterhilft. Vieles von dem, was der Bewusstseinsstrom hervorbringt, ist richtig und vielleicht sogar großartig und erhaben. Wertvoll ist aber nur das, was wir jetzt gerade in einem kreativen Prozess, den wir durchlaufen, gut brauchen können. Solche Bewusstseinsinhalte inspirieren uns. Sie wirken belebend, ermutigend und erhellend auf uns. Dergleichen „fischen“ wir gern aus dem Bewusstseinsstrom heraus, um es zu behalten und auf konstruktive Weise weiterzuverabeiten. Dieser Prozess kann dann wieder viel Raum und Zeit beanspruchen. Mir kommt zum Beispiel im achtsamen Zustand die Idee für ein Buch. Mir kommen hundert andere Ideen für Bücher, aber die 99 anderen lasse ich vorüberziehen, weil sie mich nicht inspirieren. Aber diese eine unterscheidet sich von all den andern, weil sie jetzt gerade passt. Ich kann sie brauchen, denn sie bringt mich jetzt gerade weiter. Daraus wird deutlich: Durch die Übung der Achtsamkeit entziehen wir uns keineswegs notwendig dem Modus der Aktivität, aber bereichern ihn durch ein Mehr an Kreativität. Um das nachhaltig zu trainieren und zu intensivieren, gönnen wir uns aber kontinuierlich auch die Phasen der passiven Achtsamkeitsübung, bei der wir eine definierte Zeit lang im Status des konsequenten Nicht-Wertens verweilen. Auch dann mögen uns kreative Ideen kommen, aber wir halten sie jetzt nicht fest, sondern vertrauen darauf, dass sie uns nicht verloren gehen. Wenn sie wichtig sind, werden sie sich wieder melden. Wir können auch mehr oder weniger automatisierte Vorgänge, die längere Zeit dauern, in dieser konsequent nicht-wertenden Haltung ausüben, wie zum Beispiel Gehen oder Geschirrspülen. Tabelle 3.2 fasst die zuletzt beschriebenen Vorgänge zusammen. Szenisch kann man sich dazu zum Beispiel denken, dass sich im Bewusstseinsstrom der Person auf dem Hinweg zum Glascontainer jene problematischen Fantasien eingestellt haben, die sie aber entautomatisiert wahrgenommen hat, ohne darauf einzugehen oder sich darin abwehrend zu verfangen. Dadurch bewahrte sie sich die Freiheit, denselben Sinneseindruck nochmals unbelastet anders aufzunehmen, wodurch eine kreative, konstruktive Idee in ihr auftauchen konnte. Das Beispiel zeigt zudem, was konstruktive Ideen von unsinnigen,

3.4 Thema 2: Entautomatisieren

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Tab. 3.2 Entscheidungsfreiheit durch Entautomatisierung A Sinneseindruck I

B Rationales Emotives Urteil Urteil Bewertungsfilter ))) Privateigentum ist Unrecht – was dein ist, ist auch mein.

C Rationale Reaktion Pseudorationale Reaktion Das ist die Chance, Gerechtigkeit walten zu lassen!

Emotive Reaktion

Gier

Riegel der Entautomatisierung ))) Wohlwollendes nicht-wertendes Wahrnehmen statt Eingehen oder Abwehr SinnesRationales Emotives Rationale Emotive eindruck II Urteil Urteil Reaktion (Idee) Reaktion Bewertungsfilter ))) Pseudorationale Reaktion Ich möchte es schön haben zuhause! Ich kaufe eine Rose Vorfreude und pflanze sie auf den Balkon! Riegel der Entautomatisierung ))) Passiv-Variante: Wohlwollendes nicht-wertendes Wahrnehmen statt Eingehen oder Abwehr ))) Aktiv-Variante: Das passt mir gerade genau ins Konzept!

irrelevanten oder destruktiven Einfällen unterscheidet: Sie sind auf ein authentisches Bedürfnis bezogen, das jetzt gerade auf Erfüllung wartet. Es bleibt der Leitungsperson des Gruppentrainings überlassen, diesen grundlegenden psychoedukativen Teil nach eigenem Gutdünken auszugestalten. Wichtig ist nur, dass dies in für die TN erkennbarer Übereinstimmung mit Merkblatt 05 in Anhang 06 geschieht, das sie entweder ausgedruckt bei der Sitzung oder schon zuvor als E-Mail-Anhang erhalten. Am einfachsten für die Leitungsperson und vielleicht am sinnvollsten für die Teilnehmerschaft ist es, sämtliche verbleibende Anhänge in einem E-Mail-Paket nach dem Einführungsmeeting zu versenden. Dann können sich die TN nach eigenem Interesse und eigenverantwortlich einen Überblick verschaffen und vorbereiten. Sie sollten nur bei jeder Sitzung auf die jeweils aktuellen Materialien hingewiesen werden.

3.4.3 Übung Reine Atembeobachtung Das reine nicht-wertende Beobachten der Inhalte des Bewusstseinsstroms braucht eine ruhige, ausgeglichene Ausgangsposition, wie ein Boot, das nur dann seinen geraden Kurs durch die Wellen findet, wenn der Skipper das Steuer beständig ruhig in der Hand behält. Man mag das auch eine notwendige Mitte oder Achse der Achtsamkeit nennen. Die Medi-

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3

Das Achtsamkeitstraining

tationspraktiken verschiedener Kulturen und Religionen, das Christentum eingeschlossen, stimmen weitgehend darin überein, dass diese Achse der Beständigkeit unser Atem ist. Wenn wir ruhig sind, atmen wir auch ruhig, und wenn wir ruhig atmen, kommen wir zur Ruhe. Der Atem ist ein selbstregulatives System. Er kommt nicht dadurch zur Ruhe, dass wir irgendwie Einfluss auf ihn nehmen. Damit schränken wir seine natürliche Funktion nur ein, wie einen Fluss, den man durch Eindämmung künstlich den eigenen Zwecken gefügig machen will. Wenn wir in den Genuss des ruhigen Atmens kommen wollen, müssen wir den Atem selbst seinen Weg finden lassen. Das gelingt, indem wir ihm die Bahn bewusst frei geben: Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf den Atem und schauen ihm dankbar und vertrauend dabei zu, wie er sich selbst reguliert. Wenn er uns zum Beispiel flach erscheint, glauben wir, dass er einen guten Grund dafür hat und akzeptieren dieses Phänomen, ohne es kritisch zu sehen oder uns dagegen zu wehren. Wir greifen nicht ein, wir beobachten nur. Das reine Beobachten des Atems erfolgt somit nach demselben Prinzip wie das reine Beobachten der Inhalte des Bewusstseinsstroms. Tatsächlich lässt sich auch das eine vom andern gar nicht trennen. Die Beobachtung der Inhalte des Bewusstseinsstroms und die Atembeoachtung fluktuieren ständig. Wenn wir wirklich nur die Sinneswahrnehmungen beobachten, erleben wir das im ruhigen Rhythmus des Atems, und wenn wir diesen fokussieren, bleibt uns selbstverständlich die Wahrnehmung aller anderen Eindrücke erhalten, auch wenn sie etwas in den Hintergrund tritt. „Reine Atembeobachtung“ meint also nicht, dass wir nichts mehr wahrnehmen als nur den Atem, sondern dass wir unablässig und ungezwungen immer wieder neu die Aufmerksamkeit auf den Fluss des Atems zurück lenken. Wenn wir mit der Aufmerksamkeit bei unserem Atem sind, dann sind wir ganz bei uns selbst. Wenn die Aufmerksamkeit hingegen auf die Inhalte des Bewusstseinsstroms gerichtet ist, begegnet uns darin immer auch der Bewertungsfilter, und wir haben oft Mühe, davon Abstand zu halten. Im Gefühl einer starken Kränkung zum Beispiel drängt sich die Bewertung des Filters mächtig auf und wir sind sehr geneigt, sein Urteil für die sichere Wahrheit zu halten. Wir sind durch die emotionale Überflutung verwirrt und stehen in Gefahr, uns vom Filter die Bewertung vereinnahmen und dadurch das Handeln diktieren zu lassen. Durch die Fokussierung auf den Atem wenden wir uns bewusst und entschlossen davon ab und können dadurch den nötigen Abstand gewinnen, um innerlich unabhängig zu urteilen und zu entscheiden. Es ist sehr wichtig, die Fokussierung auf den Atem vom Ankämpfen gegen bestimmte Inhalte des Bewusstseinsstroms zu unterscheiden. Wenn mir der Bewertungsfilter zum Beispiel suggeriert, die Verhaltensweise eines anderen Menschen sei eine entsetzliche Beleidigung und meine pseudorationale Reaktion darauf mich dazu drängt, ihm das übel heimzuzahlen, geht es überhaupt nicht darum, diese Impulse zu unterdrücken. Das kann schädigenden Stress verursachen und führt oft dazu, dass man die Beherrschung verliert, wenn der Druck zu groß wird. Achtsamer Umgang mit solchen emotionalen Aufwallungen besteht in nichts anderem als der nicht-wertenden Feststellung, dass es so ist,

3.4 Thema 2: Entautomatisieren

61

wie es ist, und der Konzentration auf den Atem. Wenn uns das in einer angespannten Situation schwer fällt, können wir oft auch etwas räumlichen und zeitlichen Abstand schaffen, um den Atem wieder ruhig werden zu lassen und uns auf seinen ruhigen Rhythmus einzuschwingen. Aber auch wenn das nicht möglich oder ungünstig ist, können bereits einige Momente des Innehaltens, um wieder Kontakt zum eigenen Atem aufzunehmen, uns vor einer unbesonnenen Reaktion bewahren. Dieses Achten auf den Atem bedeutet ganz einfach, in der jeweiligen Situation still, ruhig und besonnen zu bleiben. Die Atemwahrnehmung ist die Entkoppelung der automatischen Reaktion, die es uns ermöglicht, den Riegel der Entautomatisierung einzuschieben. Auch wenn wir bereits unbesonnen reagiert haben und dem anderen zum Beispiel eine gekränkte Antwort gegeben haben, bleibt das Prinzip gleich. Auf jeder Eskalationsstufe bleibt uns die Freiheit erhalten, zu unserem Atem und auf diese Weise wieder zur Besinnung zurückzukehren. Dadurch gewinnen wir den nötigen Abstand, um nun deeskalierend mit der Situation umzugehen. In der Tat: Es ist eigentlich ganz einfach, man muss es nur tun. Einfach ist auch die Übung. Die größte Schwierigkeit für die Teilnehmerschaft kann in der irrigen Meinung liegen, etwas „richtig machen“ oder „richtig empfinden“ zu müssen. Es kommt darauf an, diesen Irrtum bei der Einführung zum Üben zu klären. Es geht überhaupt nicht darum, etwas zu machen, sondern es geht ausschließlich um den schlichten Akt des Wahrnehmens. Das meinen wir mit „Beobachtung“. Merkblatt 04, die Anleitung zur Übung der Atembeobachtung für das Selbstmanagement, vergleicht den Vorgang mit der Verwendung eines Fernglases: Mit bloßem Auge ist in der Ferne sehr gut ein Turm zu erkennen. Entsprechend kann ich natürlich auch ohne besondere Aufmerksamkeit die Tätigkeit meines Atems erkennen. Nun nehme ich das Fernglas in die Hand, richte es auf den Turm aus und stelle es scharf. Analog dazu besteht die ganze Technik der Atemübung darin, sich auf den Atemvorgang zu fokussieren. Wenn der Turm klar im Fernglas zu sehen ist, betrachte ich ihn. Auf die Atemübung übertragen heißt das: Wenn meine Aufmerksamkeit beim Atem angekommen ist, mache ich nichts anderes mehr als wahrzunehmen, dass ich atme und wie ich atme, und ich bestimme selbst, wie lang ich in diesem Zustand verweilen möchte. Mit den anderen Inhalten des Bewusstseinsstroms, die sich mir jetzt präsentieren, gehe ich genauso um: Ich lasse sie einfach kommen und gehen, ohne sie zu bewerten. Für die Übung der reinen Atembeobachtung selbst sollten zehn Minuten eingeplant werden. Die ersten zehn Minuten stehen für die Einführung zur Verfügung und die restlichen zehn Minuten dienen der Reflexion im Gruppengespräch. Im Gruppensetting und überwiegend auch zuhause ist es normal, die Übung im Sitzen durchzuführen. Die wenigen Anweisungen dazu befinden sich auf Merkblatt 04. Hilfreich ist es, wenn geeignete Stühle mit einer widerständigen Rückenlehne zur Verfügung stehen.

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3

Das Achtsamkeitstraining

3.4.4 Hausaufgabe Mit dem ABC-Schema problematische Automatismen analysieren Die Einführung in das Thema „Entautomatisierung“ dürfte genügend grundlegendes Verständnis für das Phänomen der realitätsentfremdenden problematischen Bewertungen mit schädigender Wirkung bei der Teilnehmerschaft hervorgebracht haben. Damit ist das nächste Thema „Denkalternativen finden“ vorbereitet. Es dürfte den TN bewusst geworden sein, dass der souveräne, achtsame Umgang mit Situationen (A) verloren geht, wenn sich dysfunktionale Inhalte des Bewertungsfilters mit hoher Überzeugungskraft automatisch in Szene setzen. Das ist häufig mit starken Emotionen verbunden, aber wahrscheinlich mindestens ebenso häufig sehr gut psychisch und sozial integriert. In diesen Fällen wird das Problem der betroffenen Person nur dann als solches bewusst, wenn sie ein Problem damit bekommt, das heißt: Wenn sie sich mit den schädigenden Auswirkungen ihrer irrationalen Bewertungen auf unangenehme Weise konfrontiert sieht. Die „iBs“ treiben oft salonfähig und inkognito ihr Unwesen, aber „an den Früchten sollt ihr sie erkennen“. Das Achtsamkeitstraining würde sein Ziel verfehlen, wenn das Entautomatisieren an den Grenzen irrationaler Bewertungen halt machen würde, weil sie entweder verborgen bleiben oder die emotionale Überflutung die Unterscheidung zwischen Beobachten und Für-wahr-halten aufhebt. Dies ist einerseits die Schnittstelle des Achtsamkeitstraining zur Therapie, andererseits dürfen aber die „iBs“ mitsamt den Schäden, die sie anrichten, keineswegs als das Spezifikum psychischer Störungen und Erkrankungen betrachtet werden, mit dem „seelisch gesunde“ Menschen nichts oder nur wenig zu tun haben. Gewiss hat jeder Mensch mit ihnen zu tun und mancher nach außen hin „Gesunde“ viel mehr, als ihm lieb und bewusst ist. Zu Recht haben weder die stoischen noch die christlichen Traditionen der kognitiven Psychagogik das Prinzip der kognitiven Umstrukturierung vorzugsweise seelisch gestörten Menschen zugedacht oder gar für sie reserviert, sondern es als für jedermann notwendiges Kernelement der Persönlichkeits- und Glaubensreifung angesehen. Wir erinnern uns, dass es dabei um die jedem Menschen aufgegebene Überwindung der Selbstentfremdung durch den Wechsel vom Daseinsmodus des Habens zu dem des Seins geht. Im Sinne der Sorge für die Seele im allgemeinen Sinn heißen Weg und Ziel des Vorgangs „Lebenskunst“, im Sinne konfessioneller christlicher Seelsorge „Heiligung“, wobei zu betonen ist, dass Letztere nur dann authentisch ist, wenn sie aus Ersterer hervorgeht.3 Die Hausaufgabe zur Vorbereitung des nächsten Meetings besteht nun darin, anhand des ABC-Rasters, das den TN in Anhang 07 zur Verfügung gestellt wird, bei sich selbst und aufgrund von Beobachtung bei andern problematische Bewertungen zu identifizieren und ihren Mechanismus nachzuvollziehen, die durch die unreflektierte Übernahme von 3

Diese Zuordnung war zu weiten Teilen der Geschichte des Christentums eine stark verankerte und sorgfältig fundierte Sichtweise, gipfelnd in der Lehre des Thomas von Aquin und danach im christlichen Humanismus der Renaissance, sie geriet aber danach in Misskredit, was u. a. dazu beitrug, dass überhaupt eine Konkurrenz zwischen „Seelsorge“ und „Psychotherapie“ entstehen konnte.

3.5 Thema 3: Denkalternativen finden

63

automatischen Impulsen aus dem Bewertungsfilter entstanden und die betreffende Person zu schädigendem Verhalten bewegten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Kriterium „schädigend“ nicht erst dann zutrifft, wenn das Verhalten ausgeführt wurde, sondern auch dann, wenn es unterdrückt oder kompensiert wurde, sofern das nicht aus der Einsicht in die Irrationalität des zugrunde liegenden iB resultierte. Ein Beispiel dafür ist starke Wut in einem Beziehungskonflikt, wenn man etwa dem andern „an die Gurgel fahren“ könnte und Entsprechendes fantasiert, es aber der verbleibenden Vernunft wegen nicht so weit kommen lässt, trotzdem aber die Stimmung miserabel und der Stress übermäßig hoch ist. Die Frage ist immer, ob nun ein Verhalten zur Ausführung kam oder nicht, ob die dazu bewegende Emotion gut tut oder nicht. Veränderungsbedürftig sind alle emotionalen und behavioralen Reaktionen (uC), die nicht gut tun.

3.5 Thema 3: Denkalternativen finden 30 min. Teil I: Reflexion

45 min. Teil II: Psychoedukation 35 min. Teil III: Übung 10 min. Teil IV: Abschluss

Rückblick auf die die Phase seit Thema 2, vor allem anhand des Achtsamkeitstagebuchs; Besprechung der Hausaufgabe. Denkalternativen finden: Das ABC der kognitiven Umstrukturierung. Durchführung eines exemplarischen ABCs. Hausaufgabe: Achtsames Kommunizieren üben und die Erfahrungen damit notieren. Noch offene Fragen beantworten.

3.5.1 Reflexion Die Reflexionsteile dieser und der folgenden Sitzungen bedürfen nun keiner näheren Erklärung mehr. Leitfragen für die Reflexion der zurückliegenden Phase wurden oben unter Thema 2 vorgeschlagen. Wichtig ist, sowohl genügend Raum für die Erfahrungen mit dem Achtsamkeitstagebuch als auch für die Besprechung der Hausaufgaben zu gewähren und Klärungsfragen zufriedenstellend zu beantworten.

3.5.2

Psychoedukation

Denkalternativen finden Bei diesem Gruppentreffen werden der bisherige Lernstoff über die Entautomatisierung um das „D“ und das „E“ zum ABC-Grundschema der AKST ergänzt. Dazu kann im Psychoedukationsteil auf die Darlegungen im ersten Hauptteil dieses Buches zurückgegriffen

64

3

Das Achtsamkeitstraining

werden. Es ist aber ratsam, dabei nicht zu sehr in die Details zu gehen. Auf den Begründungszusammenhang mit dem S-O-R-K-C kann verzichtet werden. Den TN liegt das Merkblatt 06 (Anhang 08) vor, das sinnvollerweise in den Vortrag der Gruppenleitung einzubeziehen ist. Der psychoedukative Teil ist dieses Mal didaktisch so konzipiert, dass die Methodik zunächst anhand eines konkreten Fallbeispiels aus den Hausaufgaben der TN dialogisch vermittelt wird. Diese verwenden nun dazu vorerst zum Mitschreiben folgende Vorlage (Übungsraster 02 in Anhang 08): A Anlass

B >>>> Bewertung

E Erfolg alternative Bewertung & Reaktion: Ruhig atmen und vergegenwärtigen: Allmählich abklingende Wut Ich fantasiere, dass sie mich schneidet, Auch der Racheimpuls lässt nach. aber es kann auch anders sein. Ich Gesunder Abstand zu X. weiß es nicht. Und wenn es so ist, Offenheit für eine konstruktive will ich trotzdem konstruktiv damit Reaktion. umgehen. Ich weiß noch nicht, wie das aussehen kann, aber ich vertraue, dass sich eine gute Lösung auftun wird.

160

5

Arbeitsmaterialien

Übungsraster 01 A Anlass

B Bewertung(simpuls)

C Emotive & behaviourale Reaktion

Entautomatisierung >>> alternative Bewertung & Reaktion:

A Anlass

B Bewertung(simpuls)

C Emotive & behaviourale Reaktion

Entautomatisierung >>> alternative Bewertung & Reaktion:

A Anlass

B Bewertung(simpuls)

C Emotive & behaviourale Reaktion

Entautomatisierung >>> alternative Bewertung & Reaktion:

A Anlass

B Bewertung(simpuls)

C Emotive & behaviourale Reaktion

Entautomatisierung >>> alternative Bewertung & Reaktion:

5

Arbeitsmaterialien

A

Anlass

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B

Bewertung

LÜGE WAHRHEIT

E

Erfolg

D

Denkalternative

C

Crash

162

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Arbeitsblatt 08 Merkblatt 06 Thema 3: Denkalternativen finden Unsere Beschäftigung mit dem Thema „Entautomatisierung“ machte deutlich, wie wichtig es ist, glaubwürdige Denkalternativen zu den unglaubwürdigen Bewertungen zu finden, die uns zu problematischen Reaktionen veranlassen. Glaubwürdig ist, was logisch nachvollziehbar einen guten Sinn ergibt. Die irreführenden automatischen Bewertungen „iB“ sind nur dem Schein nach logisch. Wenn wir sie entautomatisiert betrachten, wird uns klar, dass sie ihre oft so überzeugend und nachdrücklich behaupteten „Wahrheiten“ nur vortäuschen. Was vorgetäuscht und unglaubwürdig ist, kann man auch als Lüge bezeichnen. Unsere „iBs“ sind die Lügen, denen wir auf den Leim gehen. ) Das Gute daran ist: Wo es eine Lüge gibt, da gibt es auch eine Wahrheit! Zweck der ABC-Methode ist nicht nur, die Scheinwahrheit der irreführenden Bewertung zu entlarven, sondern auch die passende Antwort darauf zu finden. Das ist die Denkalternative (D), mit der wir nicht in den Crash (C) geraten, sondern der Herausforderung der Situation (A) mit Erfolg (E) begegnen. Im Gegensatz zum „Crash“ ist „Erfolg“ an dieser Stelle als das zu definieren, was uns und unseren Mitmenschen im Bezug auf diese eine konkrete Situation gut tut. Gut tut einem Lebewesen, wozu wir Menschen ja nun einmal auch zu rechnen sind, immer die Erfüllung eines authentischen Bedürfnisses. Wenn wir zum Beispiel Hunger haben, tut es uns gut, etwas zu essen. Wenn wir mehrere sind (das ist bei Menschen die Regel), tut es uns wie den andern gut, unser Essen zu teilen. Dieselben Prinzipien gelten auch für unsere seelischen Bedürfnisse. Die überzeugenden, das heißt: wirklich glaubwürdigen Denkalternativen zu finden, macht uns mitunter erst einmal Mühe, weil wir uns so stark an die Automatismen der Lügen gewöhnt haben. Aber die Mühe lohnt sich! Um ihnen auf die Spur zu kommen, müssen wir die richtigen Fragen stellen. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir uns klar machen, dass eine Denkalternativen im ABC aus den zwei Faktoren hervorgeht, die wir soeben betrachtet haben und jetzt nochmals zusammenfassen: 1.) Die Denkalternative ist das klar formulierte direkte Gegenteil der irrationalen Bewertung iB Die dementsprechende Frage heißt darum schlicht: „Wenn iB die Lüge ist, wie lautet dann die Wahrheit?“

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2.) Die Denkalternative leitet sich vom Ziel her: Der erfolgreichen Bewältigung (E) der herausfordernden Situation (A) Dementsprechend lautet die passende Frage dazu: „Wenn der ‚Crash‘ daraus hervorgeht, dass mir die irreführende Bewertung (iB) die Reaktion auf den Anlass (A) diktiert, wie sieht dann der erfolgreiche (souveräne) Umgang (E) mit demselben Anlass aus, wenn mein ‚iB‘ mich überhaupt nicht beeinflusst?“ Daraus ergibt sich dann wieder die konkrete Frage nach der Denkalternative: „Wenn ich mit der Bewertung iB in den Crash gerate – was kann ich dann denken, um angesichts desselben Anlasses (A) das Ziel zu erreichen, diese Situation mit Erfolg (E) zu bewältigen?“

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Übungsraster 02 A Anlass

B >>>> Bewertung

E Erfolg Crash

C >>>> Crash

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Arbeitsblatt 09 Merkblatt 07 Thema 4: Achtsam kommunizieren Die Probleme unachtsamen Kommunizierens bestehen aus folgenden Komponenten:    

Ich mache mich dem andern nicht verständlich. Ich verstehe den andern nicht. Ich verstehe mich selbst nicht. Wir verständigen uns nicht.

Das Gegenstück zu diesen vier Problemen sind die vier Übungswege der kommunikativen Achtsamkeit, die wiederum in einen Basis- und einen Konfliktbereich zu untergliedern sind: Basisbereich:  Sich achtsam verständlich machen  Achtsam zuhören Konfliktbereich:  Sich selbst verstehen  Sich verständigen Verstehen ist nicht erklären! Einen Menschen zu verstehen bedeutet, die Welt sozusagen mit seinen Augen zu sehen. Verstehen ist das persönliche Nachvollziehen und Mitvollziehen dessen, was die Person bewegt und wie sich darum auch das, was sie erlebt, für sie anfühlt. Das Verstehen ist also wesentlich mit Emotionen befasst, denn eine Emotion ist das, was einen Menschen innerlich bewegt. Wenn sich zwei Menschen verstehen, können sie nicht nur wechselseitig ihre Gedankengänge zutreffend nachzeichnen, sondern vor allem fühlen sie sich voneinander verstanden. Sie schwingen sich sozusagen auf eine gemeinsame emotionale Wellenlänge ein. Sie empfinden eine empathische Verbundenheit. Achtsame Kommunikation ist die Wahrnehmung und Verbalisierung des gegenwärtig Bewegenden in der anderen Person und bei sich selbst. Was dich bewegt und was mich bewegt steht in einem Resonanzverhältnis zueinander: Wenn ich wirklich auf das achte, was den andern gerade bewegt, achte ich zugleich auch auf das, was mich selbst bewegt, und umgekehrt. In kommunikativen Konflikten geht diese empathische Resonanz verloren. Achtsamkeit im Konfliktbereich bedeutet, sie wiederzugewinnen.

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1. Sich achtsam verständlich machen Die Aufgabe, sich verständlich zu machen, umfasst grundsätzlich zwei Aspekte:  Die klar verständliche Ausdrucksweise und  die Situationsangemessenheit. Die Schwierigkeiten, die Menschen in diesen beiden Bereichen mit dem Kommunizieren haben, sind recht unterschiedlich. Wenn Sie Ihr eigenes Kommunikationsverhalten betrachten: Welche Unachtsamkeits-Probleme kennen Sie in dieser Hinsicht von sich selbst? Wie kann es aussehen, wenn Sie sich stattdessen achtsam verhalten?

Ich

Du

Ich Du Ich

Du

Drei Hauptformen von kommunikativen Situationstypen können unterschieden werden: 1. Situationstyp „Recht durchsetzen“. Hier geht es darum, dass die eine Person (ein) Recht hat und die andere nicht. Das kann ein berechtigter Anspruch sein oder die Richtigkeit einer Aussage. Dieser Situationstyp erlaubt ein selbstbewusstes Eintreten für das Recht(e), was aber keineswegs mit Rechthaberei gleichzusetzen ist. Meine Position ist groß, deine klein, weil das Recht auf meiner Seite ist. 2. Situationstyp „Beziehung“. Hier geht es nicht darum, dass der eine Recht hat und der andere nicht, sondern um emotionale Angelegenheiten, die danach verlangen, dass man sich verständigt. Situationsangemessen begegnen sich beide auf Augenhöhe. 3. Situationstyp „Um Sympathie werben“. Damit wird die Umkehrung des ersten Situationstyps beschrieben. Es ist klar: Wenn das Recht auf der Seite des andern ist, benötige ich ein wesentlich anderes Kommunikationsverhalten als er, wenn ich trotzdem bekommen möchte, was ich will.

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Problemlösung

Verständigung

Wie Sie sehen, kann man die Situationstypen eigentlich auf zwei reduzieren:  Entweder geht es um die Frage des Rechtes und der Richtigkeit  oder es geht um emotionale Angelegenheit und darum, sich zu verständigen. Sehr oft gelangen Konflikte zu keiner befriedigenden Lösung, weil der erste Typ verwendet wird, obwohl der zweite benötigt würde. So wichtig sachlich richtige Problemlösungen sind: Wenn nicht zuerst das Fundament der emotionalen Verständigung gelegt ist, bauen wir das Lösungshaus auf Sand. Darum gilt als Faustregel für alle gemeinsamen Angelegenheiten, in denen eine Art des Kommunizierens gebraucht wird, um zu einem guten Ziel zu kommen, und die mit einer persönlichen, emotional wirksamen Bedeutung für die Einzelnen verbunden sind: Erst die Verständigung, dann die Problemlösung! ) Mit anderen Worten: Erst das Fundament, dann das Haus. Konfikt: Wir haben ein Problem miteinander

Wir haben miteinander ein Problem

Wenn das Fundament der Verständigung gelegt ist, verändert das Problem, das bis jetzt zwischen uns stand, seinen Charakter, selbst wenn es inhaltlich dasselbe bleibt. Es fühlt sich völlig anders an, wenn es nicht mehr zwischen uns steht. Wir können uns wieder vertrauen und uns dem Problem gemeinsam stellen. Dadurch wird unsere Beziehung jetzt wahrscheinlich sogar noch enger.

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Literaturempfehlungen zur Ergänzung und Vertiefung dieses Abschnitts: Rüdiger Hinsch, Simone Wittmann, Soziale Kompetenz kann man lernen (Hinsch und Wittmann 2003) Hans-Arved Willberg, Vom Teufelskreis zum Engelskreis: Sozialkompetenz in der Partnerschaft, Lebenshilfen aus dem Institut für Seelsorgeausbildung (ISA), Bd. 3 (Willberg 2010) 2. Achtsam zuhören So wie es uns oft nicht gelingt, etwas so zum Ausdruck zu bringen, dass die andere Person es ohne Weiteres nachvollziehen kann, verstehen wir auch oft nur allenfalls ansatzweise, was sie uns eigentlich sagen wollte, und reagieren dann auf dieses Bruchstück oder gar allein auf das, was wir missverstanden haben, was natürlich zur Folge hat, dass sich dann auch das Gegenüber wieder missverstanden fühlt. Viele Menschen machen aus der Not eine Tugend und gewöhnen sich an, grundsätzlich die Aussagen anderer nur als Anknüpfungspunkte des eigenen Monologisierens zu verwenden, ihnen das Wort abzuschneiden und auf sie einzureden. Unachtsame Paar- und Gruppengespräche sind vom Neben- und Gegeneinander der Einzelaussagen geprägt, deren Zusammenhang nicht selten nur mühsam oder gar nicht zu begreifen ist; echter Dialog hingegen als tatsächliches Eingehen aufeinander ist immer achtsam. Es gibt nur einen Weg, der uns garantiert, das Gehörte auch wirklich so zu verstehen, wie das Gegenüber es meinte: Wir müssen ihm rückmelden, was bei uns angekommen ist. Dabei geht es nicht um eine wortgetreue Wiederholung der Aussage, sondern um deren sachlichen und emotionalen Gehalt. Das kommt zustande, wenn die hörende Person die aufgenommene Aussage in eigenen Worten zusammenfasst, was man als Paraphrasieren bezeichnet. Ein sehr hilfreicher zweiter Effekt dieser Praxis liegt darin, dass dies erheblich zur sinnvollen Strukturierung des Gesprächs beiträgt. Beständiges gegenseitiges Paraphrasieren ist das A und O eines gehaltvollen und verständnisvollen Dialogs. 3. Bei Konflikten das eigene ABC für sich klären Bei emotionalen zwischenmenschlichen Konflikten ist die Dringlichkeit, das Problem klar zu benennen und es durch aufmerksame Paraphrasierung zu verstehen, am höchsten, tragischerweise aber auch am schwersten. Stark emotionale Zustände der Angst, Depression und Aggression blockieren im Gehirn die Fähigkeit der Empathie. Stattdessen drängen sich uns mit Macht irrationale Interpretationen der Situation (A) aus dem Bewertungsfilter (B) auf und es gelingt uns nicht mehr adäquat, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wir sind in diesen Momenten sehr geneigt, unsere irreführenden Bewertungsideen (iB) für die reine Wahrheit zu halten. Wenn wir in solchen Zuständen

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versuchen, interaktiv Konflikte zu lösen, scheitern wir allzu leicht und bewirken stattdessen ihre Eskalation. Die erste Weichenstellung vom Konflikt zum Frieden ist die Entautomatisierung des Reagierens (C). Dem folgt die zweite Weiche der Positionierung dem Problem gegenüber. Wir verlassen den Standpunkt des Rechthabens und Verurteilens. Wir wechseln die Perspektive: Nicht du bist das Problem, sondern ich habe ein Problem! Je nach dem Grad unserer emotionalen Blockade und der Befindlichkeit der anderen vom Konflikt betroffenen Person können wir nach diesen beiden Weichenstellungen entweder gleich das klärende Gespräch suchen oder wir können das Problem, das wir ja nun vornehmlich als unser eigenes betrachten, erst einmal für uns selbst analysieren, indem wir uns das eigene ABC bewusst machen:  Worin besteht mein persönliches emotionales und behaviorales Problem (C) in diesem Konflikt?  Was genau nehme ich zum Anlass (A) für die Problemreaktion?  Mit welcher Bewertung (B) interpretiere ich den Anlass (A), so dass meine Reaktion (C) daraus hervorgeht? 4. Bei Konflikten das eigene ABC gemeinsam klären Das Vorgehen der gemeinsamen Klärung des eigenen ABCs erfolgt am besten diszipliniert systematisch, damit unterwegs nicht unversehens neue Verständigungsprobleme und daraus auch neue Eskalationen entstehen. Zudem kann sich so ein hilfreiches Ritual entwickeln, das den mitunter schwierig zu findenden Weg zurück in die Konstruktivität erleichtert. Vorauszusetzen ist natürlich die beiderseitige Bereitschaft zu diesem Verfahren. Wenn es auf beiden Seiten zu einer emotionalen Verstimmung gekommen ist, sollte auch der andere Partner die Durchführung für sich in Anspruch nehmen. Mithilfe des folgenden Übungsrasters können Sie ein eigenes Beispiel für ein gelingendes dialogisches ABC rekonstruieren. Vergegenwärtigen Sie sich einen beliebigen Beziehungskonflikt, den Sie selbst erlebt haben und in dem Sie zu keiner befriedigenden Klärung gelangten. Schreiben Sie in die rechte Spalte, wie der Konflikt durch die systematische Mitteilung des ABCs bewältigt hätte werden können. Experimentieren Sie danach bis zum nächsten Meeting weiter mit dem dialogischen ABC; wenn es sich ergibt, auch mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner oder einer sonst näher stehenden Person gemeinsam bei einem tatsächlichen aktuellen Konfliktfall. Versäumen sie aber nicht, ihr Einverständnis zu erbitten und vorab zu erklären, worum es geht.

B

A

„Mein Problem ist, dass ich mich sehr ärgere.“ Besonders dann, wenn damit zu rechnen ist, dass auch der Partner gekränkt ist, kann es ratsam sein, an dieser Stelle hinzuzufügen: „Es ist mir wichtig, dass du das jetzt nicht als Vorwurf verstehst!“ „Ich nehme zum Anlass, was du über XY gesagt hast“. Negativbeispiel: „Mein Anlass war, dass du mich mit deiner Aussage XY sehr verletzt hast.“ – Die Verletzung gehört unter „B“!

Beispiel

„Ich ärgere mich sehr darüber, weil ich fantasiere: Du sagst das jetzt, um mich zu belehren und zu demütigen.“ Benennung des „heißen Kerns“ der Bewer„Ich ärgere mich so darüber, weil ich es unertung (iB) träglich finde, von dir so ungerecht behandelt zu werden.“ Entscheidend für die Verständigung ist die klare Information über den Inhalt der Fantasie. In manchen Fällen, besonders bei starken emotionalen Reaktionen, bleibt die Information unvollständig, wenn nicht auch der „heiße Kern“ benannt wird. Entscheidend zur Klärung ist aber, dass der Partner die Fantasie versteht.

Sachliche Benennung des Anlasses seiner Reaktion (C). Hier ist es wichtig, keine Bewertung des Anlasses hineinzumischen, da so die problematische Bewertung auf den Anlass projiziert würde und der Partner sich zu Recht einem Vorwurf ausgesetzt sehen würde. Benennung der automatischen Bewertung (Fantasie)

Schritt Partner I Bitte um Hilfe bei der Klärung seines persönlichen Problems, das zum Konflikt geführt oder beigetragen hat. C Benennung seines persönlichen emotionalen Problems in dem Konflikt (aus dem unter Umständen auch ein behaviorales Problem resultierte)

Übungsraster 03 Eigene Übung

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Bitte an Partner II, diese Aussage „Kannst du bitte noch mal zusammenfasnochmals in eigenen Worten zusammenzu- sen, was jetzt bei dir angekommen ist?“ fassen Dieser Schritt ist sehr wichtig, weil andernfalls die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Partner II das vorgestellte ABC doch persönlich nimmt und anderweitig missversteht und dann ungünstig darauf reagiert. Partner II Sachlich zutreffende und möglichst genaue Zusammenfassung dieses ABCs in eigenen Worten bei besonderer Berücksichtigung der emotionalen Bestandteile und ohne jedes Interpretieren und Kommentieren. Partner I Bestätigung, sich verstanden zu „Danke, ich glaube, dass es bei dir so anfühlen oder sachliche Korrektur der gekommen ist, wie ich es gemeint habe.“ Zusammenfassung. „Danke, aber [dies und jenes] habe ich anders gemeint“ (bzw. „auch noch gesagt“): . . . Bitte an Partner II, zu den Inhalten der „Kannst du mir jetzt bitte sagen, wie das, Fantasie (B) (und zu nichts anderem) Stelwas ich fantasiere, aus deiner Sicht ist?“ lung zu nehmen. Partner II Sachliche Beurteilung der problemati„Ich kann jetzt verstehen, warum du so schen Fantasie (B) von Partner I und reagiert hast. Aber was du fantasierst, Darlegung seiner tatsächlichen eigenen liegt ganz daneben. Ich war nur gerade Begründung des Anlasses (A). müde und etwas gereizt; ich wollte dich überhaupt nicht belehren oder sogar demütigen. . . . “ Partner I Aufnahme der Erklärung von Partner II. „Danke, das erleichtert mich. So ist es okay für mich.“

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Arbeitsblatt 10 Merkblatt 08 Thema 5: Akzeptieren Durch die täglichen Achtsamkeitsübungen, die Ihnen mittlerweile zur guten Gewohnheit geworden sein dürften, haben Sie sich nunmehr bereits sehr damit vertraut gemacht, die augenblicklichen Wahrnehmungen anzunehmen, wie sie sind. Alles, was ist, darf auch sein. Wir müssen es nicht schön finden, aber wir können es akzeptieren. Des Weiteren haben Sie beim letzten Thema „Achtsam kommunizieren“ erfahren, dass auch für den verständigungsorientierten Dialog gilt: die gegenseitige Akzeptanz ist sowohl als Willensentschluss Voraussetzung für das Gelingen als auch ihre Vertiefung Ergebnis des Gesprächs. Die Grundlage der Akzeptanz ermöglicht emotionale Verständigung. Die empathische und sympathische Resonanz, die dadurch zwischen uns Menschen entsteht, öffnet uns die Tür von der Akzeptanz zur Liebe. Akzeptanz können wir selbst bewirken und pflegen, wenn wir achtsam mit uns selbst umgehen und achtsam kommunizieren. Der Übergang von der Akzeptanz zur Liebe ist fließend und es macht keinen Sinn, zwischen beiden klar unterscheiden zu wollen. Vielleicht kann man sagen, dass die Liebe in einem Verhältnis zur Akzeptanz steht wie die Frucht zur Saat. Wir können säen, aber die Frucht wächst von selbst, zu ihrer Zeit und auf ihre Weise. So bleibt die Liebe immer das Ideal, das wir durch unser eigenes achtsames Verhalten annähern, aber nicht unmittelbar erreichen können. Wir können ihr aber durch Achtsamkeit den Weg bereiten. Toleranz wird zur Gleichgültigkeit, wenn sie keine Grenze kennt. Sinnlos Destruktives kann nur wirksam bekämpft werden, wenn es auch klar als solches benannt wird. Die Achtsamkeit sensibilisiert uns aber dafür, zwischen der differenzierten Ablehnung bestimmter Verhaltensweisen und Erfahrungen und der pauschalen Ablehnung von Personen und des Lebens zu unterscheiden. Das ermöglicht uns einen großen Spielraum der Toleranz. Im zwischenmenschlichen Bereich beginnt sie bereits dort, wo wir zwar bestimmte Verhaltensweisen anderer Menschen verurteilen, dabei aber einräumen, dass wir nicht verstehen, was sie dazu motiviert. Somit hüten wir uns davor, Menschen pauschal nur der äußeren Erscheinung nach als innerlich schlecht oder böse zu verurteilen.

Ablehnung

Toleranz

Akzeptanz

Liebe

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Die Liebe gibt der Akzeptanz und der Toleranz das Maß. Wenn wir uns von bestimmten Verhaltensweisen und Erfahrungen distanzieren, dann gelingt uns das sinnvoll nur in der Ausrichtung auf die Liebe. Andernfalls fehlt uns entweder die Entschiedenheit oder wir antworten dem Destruktiven selbst mit Destruktivem. Auch die Gerechtigkeit ist nur dann wirklich gerecht, wenn sie sich an der Liebe orientiert. Wenn sie das unterlässt, gerät sie in Konkurrenz zur Barmherzigkeit. Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist genauso ungerecht wie Toleranz ohne Grenze. Der Weg der Achtsamkeit geht von der Toleranzgrenze aus und mündet in die Liebe. Insofern kann man auch sagen: Das Hoheitsgebiet der Liebe erstreckt sich auch über das Terrain der Toleranz. Wir sind tolerant im Namen der Liebe. Toleranz heißt eigentlich „Duldung“. Echte Geduld ist nichts anderes als die unangenehme Seite der Münze „Achtsamkeit“. Liebe wächst in dem Maß, in dem wir auch die Schattenseiten und Hässlichkeiten des Lebens, der anderen und von uns selbst freundlich und geduldig zulassen. In der Tabelle sind die verschiedenen Aspekte von Ablehnung, Toleranz, Akzeptanz und Liebe zusammengestellt. Hier zeigt sich auch nochmals deutlich, welchen Platz die Akzeptanz im Gesamtgefüge der Ethik hat. Achtsamkeit ist Kultivierung der Akzeptanz und damit Wegbereitung der Liebe. Wenn wir uns das bewusst machen, können wir auch üben, uns im Zustand der Achtsamkeit auf die Liebe auszurichten. Eine Hilfe dazu ist die folgende Hausaufgabe. Sie können die Hausaufgabe zum Beispiel in ihre Morgenübung integrieren, müssen diese dazu aber ausdehnen. Sinnvoll kann auch sein, wenn Sie sich wieder eine kleinere oder auch längere „Auszeit“ dafür gönnen. Nehmen Sie sich jedenfalls genügend Zeit und widmen Sie sich zuerst wieder Ihrer gewohnten Übung der Atembeobachtung. Fangen Sie erst mit den Eintragungen in das Raster ein, wenn Sie spürbar zur Ruhe gekommen sind. Wir kommen zum ersten Teil der Übung:  Schätzen Sie zunächst ein, wie Sie derzeit ihr Verhältnis zu sich selbst, den Mitmenschen und dem Schicksal (Gott, dem Leben) empfinden, und kreuzen sie jeweils in Übungsraster 04 die Stärke der positiven Empfindung an. 0 ist sehr schlecht und 4 sehr gut.  Denken Sie beim Verhältnis zu den Mitmenschen an die konkreten Beziehungen, die derzeit eine emotionale Bedeutung für Sie haben. Machen Sie sich die angenehm empfundenen Beziehungen bewusst, aber konzentrieren Sie sich bei dieser Übung vor allem auf das, was Ihnen Not macht. Gegebenenfalls können Sie die Einschätzung auch für mehrere Beziehungen einzeln vornehmen. ) Beispiel 1: Eine bestimmte Person in ihrem beruflichen Umfeld hat sich Ihnen gegenüber früher in einer Weise verhalten, für die Sie ihr immer noch ziemlich böse sind. Sie

Ich lehne das Verhalten meines Mitmenschen ab, aber nicht ihn selbst. Er ist nicht sein Verhalten.

Ich bereue mein eigenes Verhalten, aber lehne mich deswegen nicht selbst ab. Ich bin nicht mein Verhalten.

Ich selbst muss meinen perfekten Anspruch gegen mich selbst erfüllen. Weil ich mich nicht so erfahre, bin ich völlig unakzeptabel.

differenziert Ich wehre mich gegen Schicksalsschläge, weil sie mich zutiefst kränken und überfordern. Aber ich lehne darum nicht das ganze Leben ab.

Mein Mitmensch muss sich so verhalten, wie es meinen Erwartungen entspricht. Weil ich ihn nicht so erfahre, ist er völlig unakzeptabel.

Ablehnung pauschal Mein Schicksal muss sich mir so darbieten, wie es meinen Erwartungen entspricht. Weil ich es nicht so erfahre, ist das ganze Leben völlig unakzeptabel. Ich verstehe mein Schicksal nicht und ich sehe nicht, was daran gut sein soll. Aber was ich nicht verstehe, muss ich darum auch nicht verurteilen Es darf sein, wie es ist. Ich verstehe meinen Mitmenschen nicht in seinem Verhalten und seinen Ansichten. Aber was ich nicht verstehe, muss ich auch nicht verurteilen. Er darf sein, wie er ist. Ich verstehe mich selbst nicht und sehe mich ziemlich weit weg von meinen Idealen. Aber ich gebe mich deswegen nicht auf. Ich darf sein, wie ich bin.

Toleranz

Ich freue mich über meinen Mitmenschen, obwohl manches an ihm ist, was mir nicht gefällt. Ich vertraue auf seine Fähigkeit zum Guten und hoffe darauf.

Ich freue mich über mein Schicksal, auch wenn es mich enttäuscht. Ich empfinde Vertrauen und Hoffnung für mein Leben.

Liebe

Ich bejahe mich selbst und Ich freue mich über mich empfinde Frieden dabei. Ich selbst, obwohl ich mich bin gut so, wie ich bin. ziemlich weit weg von meinen Idealen sehe. Ich vertraue auf meine Fähigkeit zum Guten und hoffe darauf.

Ich bejahe meinen Mitmenschen und empfinde Frieden dabei. Er ist gut so, wie er ist.

Ich bejahe mein Schicksal und empfinde Frieden dabei. Es ist gut so, wie es ist.

Akzeptanz

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kreuzen in der Spalte „Vergangenheit“ die 0 an. Augenblicklich kommen Sie aber ganz gut mit ihr aus: Sie wählen für „Gegenwart“ die 3. Wenn Sie aber an die Zukunft denken, wünschen Sie sich eigentlich, nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten zu müssen: Sie kreuzen darum in der Spalte „Zukunft“ die 1 an.

Übungsraster 04

Mein derzeitiges Verhältnis zu . . . . . . mir selbst . . . bestimmten Mitmenschen . . . dem Schicksal (dem Leben überhaupt, Gott)

. . . im Blick auf Vergangenheit 01234   

Gegenwart 01234   

Zukunft 01234   

Nun folgt der zweite Teil der Übung: Kehren Sie zunächst wieder in den Zustand der ruhigen Atembeobachtung zurück.  Vergegenwärtigen Sie sich Ihre Einschätzungen zwischen 2 und 0 und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Vorstellung, die Ihnen dabei am deutlichsten in den Sinn kommt, das heißt: die Sie emotional momentan am stärksten in Anspruch nimmt.  Nehmen Sie rein beobachtend wahr, welche Gefühle, Gedanken, Erinnerungen und Fantasien sich im Blick auf dieses Verhältnis jetzt einstellen.  Versuchen Sie nun, in Ihrer Vorstellung den Weg von der pauschalen Ablehnung bis zur Liebe diesem Verhältnis gegenüber zu vollziehen. Dazu können Sie die Tabelle oben mit den verschiedenen Aspekten zu Hilfe nehmen. ) Beispiel 2: Sie haben wahrgenommen, dass Sie die zurückliegende verletzende Erfahrung mit der der Person aus Beispiel 1 emotional noch stark belastet. Ihre pauschale Abwertung dieses Menschen, die als Reaktion auf sein Verhalten in Ihnen zustande kam, dominiert noch sein Bild von ihm und überschattet auch das Verhältnis zu ihm in Gegenwart und Zukunft. Im achtsamen Zustand erlauben Sie es sich nun, ganz aufmerksam den Blickwinkel auf die Person zu verändern, angefangen damit, dass Sie das verletzende Verhalten von der Person selbst unterscheiden. Sind Sie nun in der Lage, die Person selbst und vielleicht auch einen Teil ihrer Anschauungen und Verhaltensweisen zu tolerieren? Können Sie noch weiter gehen und Empathie für sie empfinden? Vielleicht gelingt es Ihnen, auf diese Weise in der Vorstellung sogar bis zur Akzeptanz durchzudringen. Aber lassen Sie sich Zeit dabei, seien Sie ehrlich und verzichten Sie auf jeden moralischen Druck!

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 Gehen Sie so ungezwungen, aber doch auch systematisch eine der Einschätzungen zwischen 2 und 0 nach der anderen durch und verschieben Sie dadurch die Gewichte der Waage zwischen Ablehnung und Liebe ein Stück weit in Richtung Liebe. Sinnvoll und hilfreich kann es sein (aber das ergibt sich vielleicht auch ganz von selbst für Sie aus dieser Übung), diese Vorstellungen (Imaginationen) auch in die Dankbarkeitsübung am Abend hinein zu nehmen. Dafür lassen sich zwei Optionen denken:  Sie nehmen mit Dank die von Liebe und Akzeptanz bestimmten Beziehungen in den Blick.  Sie fokussieren sich auf das Dankenswerte gerade im Blick auf die Verhältnisse, die nur von Toleranz oder auch von Ablehnung bestimmt sind. Insbesondere bei pauschalen Ablehnungen ist davon auszugehen, dass wir einer automatischen Interpretation durch unseren Bewertungsfilter auf dem Leim gehen. Wenn Sie merken, dass Ihre Abneigung in einem bestimmten Verhältnis besonders groß ist und Sie emotional an dieser Stelle eher blockiert sind, dann analysieren Sie das Problem bitte mit einem ABC und arbeiten Sie die Vorstellung von der im Sinne der Achtsamkeit erfolgreichen Bewältigung (E) und der Denkalternative (D) heraus, die dann wahrscheinlich in einem differenzierterem und realistischerem Urteil bestehen wird.

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Arbeitsblatt 11 Merkblatt 09 Thema 6: Positive Emotionen 1. Die Bedürfnisschwerpunkte Aus der Persönlichkeitspsychologie wissen wir, dass sich die seelischen Grundbedürfnisse des Menschen in vier Hauptrichtungen erstrecken:  Wir wollen gern tun und lassen können, was wir selber mögen. Wir brauchen genügend neue Anregungen, um das Leben zu genießen. Wir haben aber auch ein Grundbedürfnis, das auf derselben Achse den Gegenpol bildet:  Wir brauchen Sicherheit, Kontrolle und Beständigkeit. Diese Bedürfnispolarität kann man als die Selbstverwirklichungsachse bezeichnen. Das heißt: So richten wir unser Lebenshaus ein. Der eine liebt es weit, der andere eng. Zwei weitere polare Bedürfnisschwerpunkte bilden die Beziehungsachse:  Wir wollen gern eigenständig entscheiden, eine wichtige Persönlichkeit sein und uns positiv von den andern unterscheiden.  Auf der anderen Seite haben wir das Bedürfnis, sehr gut in die Gemeinschaft mit anderen Menschen eingebunden zu sein. Hier geht es also darum, ob wir in unserem weiten oder engen Lebenshaus mehr für uns sein wollen oder die Gemeinschaft bevorzugen. Der eine braucht mehr Distanz, der andere mehr Nähe. Diese Bedürfnisse haben wir alle, aber wir setzen unsere Schwerpunkte unterschiedlich, je nachdem, wie wir geprägt sind. Die Schwerpunktsetzungen reichen tief in die Kindheit zurück und sind recht stabil im Gehirn verankert. Daraus folgt: Für unser psychisches Wohlbefinden ist es wichtig, dass unsere seelischen Grundbedürfnisse möglichst dem individuellen Bedürfnisschwerpunkt gemäß Erfüllung finden.

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Angst vor Abhängigkeit Freiheit-Neues erfahren

Selbstbestimmung

Gemeinschaft Angst vor Einsamkeit

Angst vor Vereinnahmung

Sicherheit-Beständigkeit Angst vor Kontrollverlust

Ein wichtiges Bedürfnis in der Erwartung vor Augen zu haben, dass es Erfüllung findet, ruft angenehme Gefühle in uns hervor, so wie auch die Erfüllung selbst. Umgekehrt sind die Gefühle unangenehm, wenn es so aussieht, als fände es keine Erfüllung. Dann haben wir Angst und versuchen, die Nichterfüllung zu vermeiden. So hat jedes seelische Grundbedürfnis auch eine „Grundform der Angst“ als Kehrseite.  Wer besonders viel Wert auf Sicherheit und Beständigkeit legt, hat naturgemäß dementsprechend viel Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.  Wer vor allem nach Freiheit strebt und stets Neues entdecken und erleben will, hat naturgemäß vor dem Gegenteil Angst: in die Erstarrung trostloser Abhängigkeiten zu geraten.  Wer das Hauptgewicht auf harmonische Beziehungen legt, hat Angst vor dem Alleinsein.  Wer es bevorzugt, seinen eigenen Weg zu gehen, fürchtet sich davor, in der Gemeinschaft seine Eigenständigkeit zu verlieren. Wie die Abbildung zeigt, entstehen durch die beiden Achsen vier Quadranten. Es gibt alle möglichen Kombinationsmöglichkeiten für die individuellen Bedürfnisschwerpunkte. Theoretisch könnten Ihre auch z. B. sowohl ganz unten rechts als auch ganz oben links liegen. Das würde heißen: Sowohl Freiheit und Selbstbestimmung als auch Gemeinschaft und Sicherheit wären ihre dominierenden Bedürfnisse. Aber so weit gespannte Bedürfnisschwerpunkte sind wohl eher selten. Normalerweise ordnen wir uns selbst ziemlich eindeutig einer bestimmten Seite zu und werden auch von unseren Mitmenschen so wahrgenommen. Wie schätzen Sie sich selbst ein? Markieren Sie Ihre Bedürfnisschwerpunkte in der Abbildung. Erspüren Sie dazu bitte achtsam, wie Sie Ihrem Empfinden nach sind und verzichten Sie ganz darauf, sich so zu definieren, wie Sie angeblich „eigentlich“ sein sollten.

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2. Annäherungs- und Vermeidungsziele Bedürfnis und Angst sind immer die beiden Seiten derselben Münze, aber es kommt entscheidend darauf an, welche Seite wir in den Blick nehmen. Dementsprechend unterscheiden wir zwischen Annäherungszielen und Vermeidungszielen. Zum Beispiel kann ich mein Bedürfnis nach harmonischer Gemeinschaft aus dem Blickwinkel der Erfüllungserwartung oder aus dem der Angst vor Enttäuschung betrachten und angehen. Im ersten Fall könnte das bedeuten, dass ich eine Beziehung konstruktiv pflege, weil sie mir wichtig ist (Annäherungsziel), im zweiten Fall könnte ich versuchen, auf die andere Person Einfluss zu nehmen, damit sie mich nicht verlässt (Vermeidungsziel). Das Beispiel zeigt, dass die Gefahr, in einen emotionalen und verhaltensmäßigen „Crash“ zu geraten, größer ist, wenn wir uns von Vermeidungszielen dominieren lassen. Angst ist zwar durchaus nicht immer ein schlechter Ratgeber, aber wenn sie uns das Verhalten diktiert, ist sie es doch. Angst ist das Hauptgefühl des Pessimismus, während Freude den Optimismus emotional bestimmt. Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an Pessimismus, um nüchtern genug zu bleiben und sich vor echten Gefahren zu hüten. Aber unsere gesunde Motivationskraft liegt im Optimismus. Der Pessimismus tut uns nur gut, wenn er im Dienst des Optimismus steht. Das bedeutet: Er stellt sich ihm nicht in den Weg, sondern er bremst ihn nur, wo er andernfalls den Realitätsbezug verlieren würde. Widmen Sie sich nun der Selbsteinschätzung mit Übungsraster 05. Dort sind die Annäherungs- und Vermeidungsziele aufgeführt, wie sie sich aus der wissenschaftlichen Erarbeitung eines klinischen Fragebogens hierzu ergaben. Kreuzen Sie spontan und wieder ganz ohne den Gedanken, wie es „eigentlich sein sollte“, links in der Tabelle an, wie Sie die Stärke Ihrer Annäherungs- und Vermeidungsziele einschätzen, und rechts, wie Sie derzeit deren Erfüllung oder Nichterfüllung erleben. Achten Sie darauf, dass die Fragen und Antwortmöglichkeiten zu den Vermeidungszielen (unten) anders formuliert und geordnet sind als bei den Annäherungszielen. Verbinden Sie danach Ihre Ankreuzungen wie im Beispiel abgebildet miteinander. 0 1 2 3 4

0 1 2 3 4

libevolle Intimität zu erfahren mit anderen zusamen zu sein anderen zu helfen unterstützt zu werden anerkannt zu werden Überlegenheit zeigen zu können unabhängig zu sein gute Leistung zu erbringen

Dort, wo die Linien am engsten zusammen kommen, liegen Ihre größten emotionalen Defizite, weil

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 dort die Annäherungsziele am stärksten und ihre Erfüllung am geringsten sowie  die Vermeidungsziele am stärksten und die Bestätigung der Angst vor dem, was vermieden werden soll, am größten ist. Im Beispiel ist das Bedürfnis der Person, Unterstützung von anderen zu erhalten, sehr groß, aber sie erlebt auch in hohem Maß, dass sie das nicht erfährt. Es fragt sich nun, was sie tun kann, um deutlich mehr Hilfe von anderen zu bekommen. Steht ihr vielleicht ein Vermeidungsziel dabei im Weg? Außerdem sehen Sie nun auf einen Blick an den angekreuzten Werten in der rechten Spalte, ob die Annäherungsziele oder die Vermeidungsziele in Ihnen dominieren.  Falls Sie feststellen, dass insgesamt die Vermeidungsziele bei Ihnen dominieren, schauen Sie sich bitte zum einen an, worin sich das vor allem verdichtet. Welche Konsequenz wollen Sie daraus ziehen? Liegt es vielleicht an automatischen Bewertungen, die noch mit der ABC-Methodik bearbeitet werden könnten?  Zum andern wenden Sie sich bitte nun Ihren Annäherungszielen zu und überlegen Sie, was Sie unternehmen können, um ihnen noch mehr Gewicht zu geben. Wir können das Gewicht bestimmter Annäherungsziele, die bislang nicht besonders stark sind, dadurch erhöhen, dass wir sie mit bewusstem Interesse verfolgen und dadurch vergrößern. Dem liegt das psychologische Prinzip zugrunde, dass wir Menschen Freude an sinnvollen Tätigkeiten in dem Maß entfalten, wie wir sie praktizieren. Voraussetzung ist natürlich, schon einen gewissen Wunsch in sich zu spüren, darin Erfüllung zu finden. Zweitens können wir die Dominanz der Vermeidungsziele dadurch verringern, dass wir uns überhaupt mit höherer Intensität auf Annäherungsziele konzentrieren. Das wahrgenommene Annäherungsziel muss dabei nicht unbedingt die optimistische Antwort auf ein bestimmtes Vermeidungsziel sein. Es geht darum, insgesamt den „Pool der positiven Emotionen“ durch befriedigte Annäherungsziele zu füllen. Dadurch verliert sich allmählich die Vormachtstellung der Vermeidungsziele. Die Angst beherrscht uns nicht mehr; sie darf sein, aber sie muss uns dienen, punktuell dort, wo sie realistisch ist.

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Übungsraster 05 Annäherungsziele Mir ist wichtig und ich wünsche mir . . . sehr wichtig: 4 wichtig: 3 ich weiß nicht so richtig: 2 nicht besonders wichtig: 1 gar nicht wichtig: 0 01234 liebevolle Intimität zu erfahren  mit anderen zusammen zu sein  anderen zu helfen  unterstützt zu werden  anerkannt zu werden  Überlegenheit zeigen zu können  unabhängig zu sein  gute Leistungen zu erbringen  Kontrolle zu haben  Wissen und Fähigk. zu erweitern  spirituelle Erfahrungen zu machen  das Leben zu genießen  mich selbst zu verwirklichen  mir selbst Gutes zu tun 

Vermeidungsziele Ich finde es schlimm . . . sehr schlimm: 4 schlimm: 3 ich weiß nicht so richtig: 2 nicht besonders schlimm: 1 gar nicht schlimm: 0 01234 allein zu sein  gering geschätzt zu werden  mich zu blamieren  kritisiert zu werden  von andern abhängig zu sein  Konflikte mit andern zu erleben  mich verletzbar zu machen  hilflos oder ohnmächtig zu sein  zu versagen 

Zurzeit erlebe ich die Erfüllung dieses Ziels . . . 4: sehr stark 3: stark 2: ich weiß nicht so richtig 1: wenig 0: gar nicht 0 1 2 3 4 Was kann und will ich ändern?              

Zurzeit mache ich diese Erfahrung . . . 4: gar nicht 3: wenig 2: ich weiß nicht so richtig 1: ausgeprägt 0: sehr ausgeprägt 0 1 2 3 4 Was kann und will ich ändern?         

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5

Arbeitsmaterialien

Arbeitsblatt 12 Übungsraster 06

Thema 1. Zur Ruhe kommen

Übungsziel Entspannen, Zeitmanagement, regelmäßige AchtsamkeitsÜbungszeiten 2. EntautoKonsequentes Nicht-Bewerten, matisieren Gewahrsein, Atembeobachtung, Besonnenheit 3. DenkVertraut werden mit der ABCalternativen Methodik & ihrer Anwendung bei emotionalen „Crashs“ 4. KommuDeeskalation & gegenseitiges nizieren ABC bei Konflikten, verständigungsorientiertes Gespräch 5. AkzepVersöhntes Verhältnis zu mir tieren selbst, den andern und dem Schicksal 6. Positive Dominanz von AnnäherungsEmotionen zielen, erfüllte Bedürfnisschwerpunkte Insgesamt hat mir das Training vor allem Folgendes gebracht:

Einschätzung des Trainingserfolgsa 01234 Woran lag es? 











Auf meinem weiteren Weg werde ich mich auf folgende Ziele konzentrieren: a

stark positiv verändert: 4; positiv verändert: 3; kaum positiv verändert: 2; nicht positiv verändert: 1; verschlechtert: 0.

Literatur

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Literatur Hinsch, R., Wittmann, S. (2003). Soziale Kompetenz kann man lernen. Basel, Berlin: Beltz. Lazarus, A.A. (Hg.) (1978). Multimodale Verhaltenstherapie. Aus d. Amerik. v. W. Stifter u. H.A. Stiksrud. Frankfurt a.M.: Fachbuchhandlung für Psychologie. Willberg, H.-A. (2010). Vom Teufelskreis zum Engelskreis: Sozialkompetenz in der Partnerschaft. Lebenshilfen aus dem Institut für Seelsorgeausbildung (ISA), Bd. 3. Norderstedt: Books on Demand.