2001
 9783110506129, 9783828201705

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Hauptteil
Die Ökosteuer - eine ordnungspolitische Fehlleistung
Die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland - eine richtige Reform in die falsche Richtung
Konstitutionellökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit
Ex ante-Kontrolle versus ex post-KontrolIe im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen
Zum Freiheitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems
Die Rolle der Evolution in Hayeks Konzept freiheitssichernder Regeln
Konstitutionelle Äquivalenz und Ordnungswahl
Der Richter als Institution einer spontanen Ordnung
Direkte Volksrechte und die Effizienz des demokratischen Staates
Südkorea und Rußland: Wie man Wohlstand erarbeitet oder verspielt
Knut Wicksell: Zum Geburtstag des Begründers einer kritischen Vertragstheorie
Die Krise der sozialen Sicherung und die Globalisierung - Politische Mythen und ordnungspolitische Wirklichkeit
Ursachen systemischer Bankenkrisen: Erklärungsversuche, empirische Evidenz und wirtschaftspolitische Konsequenzen
Besprechungen
Theorie der Ordnungen
Wirtschaftsethische Perspektiven
The Elgar Companion to Public Choice
Erich Preiser und sein Werk nach drei Jahrzehnten
Wettbewerb und internationaler Handel
Ein Marktprozeßansatz in der Analyse des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) - insbesondere bei Publikums-Immobilienfonds
Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat
Der Markt der Tugend
Arbeitsmarkt und Beschäftigung: Deutschland im internationalen Vergleich
Ein neuer Dritter Weg?
Arbeit statt Sozialhilfe
On the Economics of Immobility
Politik und Währung
Wettbewerbsorientierte Reformen der Stromwirtschaft
Die Europäische Währungsunion
Finanzdienstleistungen und Finanzmärkte im Umbruch
Fairneß, Reziprozität und Eigennutz
Innovation und Diffusion von Normen
Ordnungspolitik in der Demokratie
Ronald Coase' Transaktionskosten-Ansatz
Globalisierung, Europäische Union und internationaler Standortwettbewerb
Privatization, Corporate Governance and the Emergence of Markets
Gesundheitsökonomik
Sozialstaatsprinzip und Marktwirtschaft
Arbeitspolitik für alle
Zur Deregulierung des Hochschulbildungssystems
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren

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ORDO Band 52

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 52 Begründet von Walter Eucken und Franz Böhm

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Herausgegeben von Hans Otto Lenel Helmut Gröner Walter Hamm Ernst Heuß Erich Hoppmann Ernst-Joachim Mestmäcker Wernhard Möschel Josef Molsberger Peter Oberender Alfred Schüller Viktor Vanberg Christian Watrin Hans Willgerodt

Lucius & Lucius · Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55122 Mainz Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen Nauklerstr. 47, D-72074 Tübingen Professor Dr. Helmut Gröner Universtität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Alfred Schüller Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Universität Marburg Barfüßertor 2, D-35037 Marburg Professor Dr. Peter Oberender Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart · 2001 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Satz: J. Fleischmann, Univ. Bayreuth Druck und Einband: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza/Thüringen ISBN 3-8282-0170-9 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch fìir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Vorwort Ziel des ORDO-Jahrbuches ist es, ordnungstheoretische Grundsatzfragen zu erörtern und die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse für aktuelle wirtschaftspolitische Fragestellungen zu nutzen. Der vorliegende Band 52 des Jahrbuches steht ganz in dieser Tradition. Bei der Auswahl der Beiträge hat sich die Schriftleitung davon leiten lassen, ein möglichst breites Spektrum an Themen abzudecken. Die Aufsätze in diesem Band unterstreichen, wie wichtig eine sorgfältig fundierte Ordnungstheorie als Wegweiser fur wirtschaftspolitisches Handeln ist. Was erwartet den Leser im Hauptteil dieses Bandes? Aktuellen wirtschaftspolitischen Reformvorhaben widmen sich die Aufsätze von Walter Hamm sowie von Norbert Berthold und Oliver Stettes. Beide Beiträge kommen fur ihre jeweiligen Themenbereiche zu ähnlichen Schlußfolgerungen: Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf besteht; jedoch kommt die Politik ihm in ungenügender Weise nach. So weist Hamm nach, daß die Ökosteuer zu erheblichen Fehlsteuerungen führt und mit ordnungspolitischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Berthold und Stettes zeigen im Rahmen ihrer institutionentheoretisch fundierten Analyse die zahlreichen Mängel der Reform der betrieblichen Mitbestimmung auf. Insbesondere übersieht diese Reform, daß freiwillige Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Belegschaft an Bedeutung gewinnen und die Belange der Arbeitnehmer wesentlich besser berücksichtigen als dies gesetzliche Regelungen tun können. Wettbewerbsfreiheit ist ein zentraler Begriff (ordo-)liberaler Wirtschaftspolitik. Was damit gemeint ist, bleibt jedoch vielfach unklar und ist aus theoretischer und normativer Sicht interpretationsbedürftig. Viktor Vanberg greift dieses Problem auf und unternimmt einen Versuch, es zu klären. Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union steht vor durchgreifenden Änderungen. Man will von einer ex ante-Kontrolle mittels Anmeldung zu einer ex post-Kontrolle mittels Abschreckung übergehen, wie Wernhard Möschel aufzeigt. Möschel hält dieses Vorhaben für bedenklich. Mit dem Freiheitsgehalt marktwirtschaftlicher Systeme befaßt sich Manfred Streit in einem Grundsatzbeitrag. Streit warnt, daß demokratische Prozesse in ihrer aktuellen Form geeignet sind, diesen Freiheitsgehalt zu gefährden. Er schlägt daher institutionelle Reformen vor, die die Selbstheilungskräfte marktwirtschaftlicher Systeme stärken. Frank Daumann weist eine maßgebliche Rolle der kulturellen Evolution in Hayeks Konzept freiheitssichemder Regeln nach. Das Paradigma vom „Staat als Monopolisten" ist schon des öfteren in diesem Jahrbuch diskutiert worden. Jörn Sideras knüpft an diese Diskussion an und entwickelt in seinem Beitrag das Prinzip der „konstitutionellen Äquivalenz". Ebenfalls mit der Theorie der kulturellen Evolution bei Hayek befaßt sich Stefan Okruch. Er beleuchtet die Rolle des Richters in dieser Theorie genauer und zeigt - insbesondere am Beispiel des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) - , daß die richterliche Rechtsfortbildung nicht nur positive Wirkungen hat.

VI · Vorwort Gebhard Kirchgässner präsentiert zu der Frage, ob indirekte Demokratien ineffizienter sind als direkte Demokratien, empirische Evidenz für die Schweiz. Wie wichtig ordnungspolitische Rahmenbedingungen für Prozesse der wirtschaftlichen Entwicklung sind, zeigt Erich Weede am Beispiel von Rußland und Südkorea. Vor 150 Jahren wurde Knut Wickseil geboren. Die Arbeiten des schwedischen Ökonomen haben maßgebliche Autoren einer modernen Konstitutionenökonomik beeinflußt. Jörg Markt würdigt das Werk Wicksells aus diesem Anlaß. Ordnungspolitische Probleme sozialer Sicherungssysteme sind in ORDO immer wieder behandelt worden. In diesem Band beleuchtet Bernhard Seliger die Stellung sozialer Sicherungssysteme im Prozeß fortschreitender Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Sogenannte systemische Bankenkrisen haben in den vergangenen Jahrzehnten an Zahl und Ausmaß zugenommen. Die Einflußfaktoren sind vielfaltig und in ihren Wechselwirkungen meist nur unzureichend untersucht. Paul-Günther Schmidt ordnet mögliche Einflußfaktoren in ein Erklärungsmodell ein und zieht daraus wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen. Unter anderem zeigt er, daß eine konsistente Ordnungspolitik nationale Bankensysteme weniger krisenanfällig macht. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Publikationen mit ordnungsökonomischem Bezug erfreulich zugenommen. Der interessierte Leser aus Wissenschaft und Praxis dürfte kaum über die Zeit verfugen, alle diese Publikationen zu verfolgen. Im vorliegenden Band wurde deshalb der Besprechungsteil im Vergleich zu den Vorjahren erheblich ausgeweitet, wobei neben den traditionellen Besprechungsaufsätzen auch Kurzbesprechungen aufgenommen worden sind. Die Schriftleitung dankt Jochen Fleischmann für sein großes Engagement und die Umsicht bei der Durchführung der redaktionellen Arbeiten, Jana Hardt, Anke Schmidt und Holger Koch für die dabei geleistete Unterstützung sowie Hannelore Hamel für die sorgfaltige Schlußdurchsicht der Beiträge. Die Schriftleitung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Inhalt Hauptteil Walter Hamm Die Ökosteuer - eine ordnungspolitische Fehlleistung I. Π. ΠΙ. IV.

Ausgangslage Mit der Ökosteuer verfolgte Ziele Zielkonformität der Ökosteuer Ordnungspolitisch bedenkliche Folgewirkungen auf Seiten der Steuerpflichtigen 1. Räumliche Diskriminierung von Verbraucherhaushalten 2. Benachteiligung privater Haushalte mit Nichtberufstätigen 3. Diskriminierende Besteuerung heimischer Unternehmen 4. Verzerrung des internationalen Wettbewerbs 5. Bürokratische Orgien V. Ordnungspolitische Mängel bei der Verwendung der (zweckgebundenen) Steuermittel 1. Mehr Beschäftigung durch niedrigere Lohnzusatzkosten? 2. Ursachenbezogene statt an Symptomen kurierende Maßnahmen 3. Steigende Subventionsflut 4. Punktuelles Denken und opportunistisches Handeln VI. Schlußfolgeningen Literatur Zusammenfassung Summary: The eco-tax - a mistake by Ordnungspolitik

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Norbert Berthold und Oliver Stettes Die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland - eine richtige Reform in die falsche Richtung I. Π. ΙΠ. IV.

Einleitende Bemerkungen Interessenvertretung durch Betriebsräte unter Anpassungsdruck Versagt der Markt bei der Gestaltung der betrieblichen Arbeitsbeziehung?... Die Reform der betrieblichen Mitbestimmung - Ausdruck von Staatsversagen? V. Einige wirtschaftspolitische Bemerkungen zum Schluß Literatur Zusammenfassung Summary: Co-determination in Germany - reform in the wrong direction

15 15 18 22 31 33 36 36

ΥΠ! · Inhalt Viktor Vanberg Konstitutionenökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit I. Einleitung Π. Die konstitutionenökonomische Perspektive ΙΠ. Wettbewerbsfreiheit und Wirtschaftsverfassung IV. Wettbewerbfreiheit als konstitutionelles Kriterium V. Wettbewerbsfreiheit als „Wert in sich" VI. Ordoliberalismus und normativer Individualismus VE. Schluß Literatur Zusammenfassung Summary: The „Freedom-to-compete" concept from a constitutional economics perspective

37 38 41 45 49 56 58 61 62 62

Wernhard Möschel Ex ante-Kontrolle versus ex post-Kontrolle im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen I. Begriffliche Klärung Π. Der geplante Systemwechsel auf EG-Ebene ΠΙ. Für und Wider der beiden Regelungsmuster 1. Abschichtungen 2. Kriterien 3. Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: Ex ante enforcement through prescreening versus ex post enforcement through deterrence within the competition law

63 64 66 66 67 71 71 72 73

Manfred E. Streit Zum Freiheitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems I. Fragestellung Π. Die systemtheoretische und institutionenökonomische Perspektive m . Freiheit und Recht IV. Gefährdungen der Freiheit V. Selbstheilungskräfte und institutionelle Korrekturen Literatur Zusammenfassung Summary: On the Content of Freedom of the Market System

75 75 76 77 79 80 81 81

Inhalt · IX Frank Daumann Die Rolle der Evolution in Hayeks Konzept freiheitssichernder Regeln I. Problemstellung Π. Hayeks Menschenbild ΙΠ. Hayeks Konzeption freiheitssichernder Regeln 1. Die Forderang nach individueller Freiheit 2. Das Handlungsmodell 3. Konkretisierung der freiheitssichernden Regeln 4. Problembereiche der Konzeption Hayeks 5. Potentielle Lösungsansätze IV. Hayeks Konzept der sozio-kulturellen Evolution 1. Evolution als Prozeß der Generierung von Verhaltensregeln 2. Die Einbindung der sozio-kulturellen Evolution in das Konzept der freiheitssichernden Regeln V. Ergebnis Literatur Zusammenfassung Summary: On the role of evolution in Hayek's concept of general rules

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Jörn Sideras Konstitutionelle Äquivalenz und Ordnungswahl I. Einleitung Π. Ordnungsökonomik und die Mehrstufigkeit von Systemen ΠΙ. Das Paradigma vom Staat als Monopolisten und das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz 1. Konstitutionelle und subkonstitutionelle Entscheidungsebene und das erweiterte Katallaxie-Paradigma 2. Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz und Voraussetzungen für dessen Realisierung: Bürgerbefähigung zur Regelgestaltung auf der institutionellen Meta-Ebene 3. Konstitutionelle Äquivalenz, Initiativrecht und internationale Problemdimension IV. Institutionelle Meta-Ebene, Property Rights-Theorie und Regelsetzungszuständigkeiten auf der konstitutionellen Ebene V. Konzeptionelle Anwendung: Kleinräumige Umweltexternalitäten, konstitutionelle Äquivalenz und Ordnungswahl VI. Schlußbetrachtungen Literatur Zusammenfassung Summary: Constitutional Equivalence and Economic Order

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Χ · Inhalt Stefan Okruch Der Richter als Institution einer spontanen Ordnung Einige kritische Bemerkungen zu einer Zentralfigur in Hayeks Theorie der kulturellen Evolution I. Orientierung Π. Grundlegendes zur Methodologie ΙΠ. Zur Theorie der kulturellen Evolution 1. Ordnung und Verhaltensregeln 2. Kulturelle Evolution und Wissen 3. Normeigenschaften und Prozeß der kulturellen Evolution 4. Rechtssystem und Rolle des Richters IV. Zur kritischen Würdigung des Konzepts Hayeks 1. Zur Selektion der Regeln 2. Zur Bedingtheit einer vorteilhaften kulturellen Evolution 3. Zur Bedeutung des Richters für die rechtliche Evolution V. Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: The Judge as an Institution of a Spontaneous Order: Some Critical Remarks on a Protagonist in Hayek's Theory of Cultural Evolution

131 131 133 134 135 135 136 138 138 139 140 148 149 152 153

Gebhard Kirchgässner Direkte Volksrechte und die Effizienz des demokratischen Staates I. Einleitung Π. Informationsvermittlung in der repräsentativen und der direkten Demokratie ΙΠ. Wirtschaftliche Auswirkungen der direkten Demokratie: Das Beispiel der Schweiz IV. Abschließende Bemerkungen Literatur Zusammenfassung Summary: Direct Popular Rights and the Efficiency of Democracy

155 158 163 167 170 172 173

Erich Weede Südkorea und Rußland: Wie man Wohlstand erarbeitet oder verspielt I. Einleitung Π. Ähnlichkeiten m. Kontraste IV. Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: South Korea and Asia: How to Grow Rich or to Remain Poor

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Inhalt · XI Jörg Maria Knut Wicksell: Zum Geburtstag des Begründers einer kritischen Vertragstheorie I. Einleitung Π. Knut Wickseil (1851-1926) ΙΠ. Das Einstimmigkeitsprinzip und dessen Grenzen bei Wicksell 1. Bereitstellung öffentlicher Leistungen 2. Verteilungsfragen IV. Wicksell als Begründer einer kritischen Vertragstheorie 1. Individualismus 2. Verfahrensgerechtigkeit 3. Verteilungsfrage V. Mangelnde Berücksichtigung der Entscheidungskosten - Möglichkeiten der Weiterentwicklung 1. Abstimmungsquorum 2. Gruppengröße 3. Paketlösungen VI. Schlußbemerkung Literatur Zusammenfassung Summary: Knut Wicksell: on the occasion of the 150th birthday of the founder of a critical contract theory

189 190 192 192 195 196 197 199 202 206 206 207 208 210 210 213 213

Bernhard Seliger Die Krise der sozialen Sicherung und die Globalisierung - Politische Mythen und ordnungspolitische Wirklichkeit I. Einfuhrung Π. Der Wohlfahrtsstaat im Wettbewerb der Systeme ΙΠ. Sechs Mythen über den Wohlfahrtsstaat und die Globalisierung 1. Der Mythos von der Konvergenz der Systeme 2. Der Mythos von der wohlfahrtsstaatlichen Abwärtsspirale 3. Der Mythos von der „Zweidrittel-Gesellschaft" 4. Der Mythos vom Nord-Süd-Konflikt und der Globalisierung 5. Der Mythos vom europäischen Gesellschaftsmodell 6. Der Mythos von der Kontrollierbarkeit der Ergebnisse sozialen Wandels. IV. Vier Wege aus der Krise zwischen nationaler Innovation und internationaler Imitation Literatur Zusammenfassung Summary: The crisis of the welfare state and the globalization - political myths and economic reality

215 217 221 221 222 224 226 228 229 231 233 236 237

XU · Inhalt Paul-Günther Schmidt Ursachen systemischer Bankenkrisen: Erklärungsversuche, empirische Evidenz und wirtschaftspolitische Konsequenzen I. Einleitung Π. Häufigkeit und Schwere systemischer Bankenkrisen ΙΠ. Erklärungsversuche 1. Krisenanfällige Rahmenbedingungen 2. Krisenauslösende Faktoren 3. Krisenverstärkende Katalysatoren IV. Erfahrungen im internationalen Vergleich 1. Lateinamerika 2. Angelsächsische Länder 3. Skandinavien 4. Japan 5. Südostasien V. Wirtschaftspolitische Konsequenzen Literatur Zusammenfassung Summary: Causes of Systemic Banking Crises: Theories, Empirical Evidence, and Policy Implications

239 241 246 247 251 256 260 260 262 263 265 266 270 275 279 280

Inhalt · Χ Ι Π

Besprechungen Theresia Theurl Theorie der Ordnungen Zu dem gleichnamigen Buch von Peter Engelhard und Heiko Geue

283

Carl Christian von Weizsäcker Wirtschaftsethische Perspektiven Besprechung des von Wulf Gaertner herausgegebenen Sammelbandes

289

Charles B. Blankart The Elgar Companion to Public Choice Besprechung des von Shughart und Razzolini herausgegebenen Sammelwerkes

295

Adolf Wagner Erich Preiser und sein Werk nach drei Jahrzehnten

301

Heinz Hauser Wettbewerb und internationaler Handel Besprechimg des Buches von Claudius Christi

309

Wolfgang Maennig Ein Marktprozeßansatz in der Analyse des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) - insbesondere bei Publikums-Immobilienfonds Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Alexander Oldenburg

315

Engelbert Theurl Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat Anmerkungen zu dem von Winfried Schmähl herausgegebenen Buch mit dem gleichen Titel

319

Jürgen Zerth Der Markt der Tugend Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Michael Baurmann

327

Urban Mauer Arbeitsmarkt und Beschäftigung: Deutschland im internationalen Vergleich Zu dem gleichnamigen, von Hartmut Berg herausgegebenen Sammelband

335

Hannes Hofmeister Ein neuer Dritter Weg? Bemerkungen zu dem gleichnamigen Aufsatz von Ralf Dahrendorf

339

X I V · Inhalt

Michael Weber Arbeit statt Sozialhilfe Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Holger Feist

343

Marcus Cieleback On the Economics of Immobility Zum gleichnamigen Buch von Peter A. Fischer

349

Arne Feddersen Politik und Währung Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Markus Freitag

353

Sven L. Eisenmenger Wettbewerbsorientierte Reformen der Stromwirtschaft Besprechung der gleichnamigen institutionenökonomischen Analyse von Lars Kumkar

359

Thomas Welsch Die Europäische Währungsunion Zum gleichnamigen, von Wolfgang J. Mückl herausgegebenen Buch

363

Martina Eckardt Finanzdienstleistungen und Finanzmärkte im Umbruch Anmerkungen zu dem von Peter Oberender herausgegebenen Sammelband

367

Dirk Wentzel Fairneß, Reziprozität und Eigennutz Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Axel Ockenfels

373

Marcus Mittendorf Innovation und Diffusion von Normen Anmerkungen zum gleichnamigen Werk von Stefan Okruch

381

Jochen Fleischmann Ordnungspolitik in der Demokratie Besprechung des gleichnamigen Buches von Ingo Pies

385

Ron Brinitzer Ronald Coase' Transaktionskostenansatz Zum gleichnamigen Buch, herausgegeben von Ingo Pies und Martin Leschke

391

Indira Gurbaxani Globalisierung, Europäische Union und internationaler Standortwettbewerb Anmerkungen zu dem Buch von Horst Rodemer und Hartmut Dicke

399

Inhalt • X V

Fred von Gunten Privatization, Corporate Governance and the Emergence of Markets Review of a book edited by Eckehard F. Rosenbaum, Frank Bönker and Hans-Jürgen Wagener

405

Manfred Hilzenbecher Gesundheitsökonomik Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Johann-Matthias Graf von der Schulenburg und Wolfgang Greiner

415

Jürgen Volkert Sozialstaatsprinzip und Marktwirtschaft Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Peter Thuy

421

Peter Thuy Arbeitspolitik für alle Besprechung des von Peter Ulrich herausgegebenen Bandes

429

Mark Oelmann Zur Deregulierung des Hochschulbildungssystems Anmerkungen zum Buch von Artur Woll „Reform der Hochschulausbildung durch Wettbewerb"

435

Kurzbesprechungen

441

Personenregister Sachregister Anschriften der Autoren

475 487 495

Hauptteil

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Walter Hamm

Die Ökosteuer - eine ordnungspolitische Fehlleistung

I. Ausgangslage Am 1. April 1999 ist das von der rot-grünen Koalition in Berlin beschlossene Ökosteuer-Gesetz in Kraft getreten. In fünf Stufen wird bis zum 1. Januar 2003 die Mineralölsteuer auf Dieselöl und Benzin um 30 Pfennig pro Liter (einschließlich Umsatzsteuer um 35 Pfennig je Liter) erhöht. Der elektrische Strom wird zunächst mit zwei, ab 2003 mit 4 Pfennig je Kilowattstunde besteuert. Heizöl wird mit 4 Pfennig je Liter (ohne Erhöhungsschritte) belastet. Auf Gas wird während des gesamten Zeitraums eine Steuer von 0,32 Pfennig je Kilowattstunde erhoben. Insgesamt werden aus der Ökosteuer allein im Jahre 2003 Mehreinnahmen für den Bundeshaushalt von 33 Milliarden DM erwartet. Die Länderhaushalte profitieren entsprechend ihrem Anteil an der Umsatzsteuer nur vergleichsweise bescheiden von diesem Geldsegen. Der Grundgedanke der Ökosteuer wird in Wissenschaft und Praxis weithin geteilt. Soweit durch Energieverbrauch Umweltschäden hervorgerufen werden, sollten die Verursacher dafür finanziell aufkommen. Das Ausmaß der Umweltschäden und der angeblich bevorstehenden Klimakatastrophe ist unter emstzunehmenden Naturwissenschaftlern allerdings strittig. Das gilt erst recht für die angeführte Ursache, nämlich den durch Verbrennung fossiler Energierohstoffe entstehenden wachsenden Kohlendioxid(C02)Ausstoß. Es muß zu denken geben, daß die stärkste Erwärmung des 20. Jahrhunderts in der Zeit von 1910 bis 1945 stattfand, also in einer Zeit, als durch Verbrennungsvorgänge ausgelöste C02-Emissionen noch eine vergleichsweise bescheidene Rolle spielten (Maxeiner 2000). Über 95 Prozent des C02-Ausstosses stammen aus natürlichen, vom Menschen nicht zu beeinflussenden Quellen. Das schließt freilich nicht aus, daß von dem anthropogen erzeugten Rest schädliche Klimawirkungen ausgehen. Wie dem auch sei: Im folgenden wird das politische Ziel, den C02-Ausstoß zu reduzieren, als gegeben hingenommen. Es ist zu prüfen, inwieweit die Energiepolitik und speziell die Ökosteuer dem Ziel gerecht werden. Die konkrete Ausgestaltung der Ökosteuer hat massive Kritik ausgelöst. In diesem Beitrag wird danach gefragt, inwiefern die Ökosteuer auf ordnungspolitische Bedenken trifft. Zunächst wird auf die mit der Ökosteuer verfolgten Ziele eingegangen, und es wird nach der Zielkonformität der Ökosteuer gefragt. Danach wird auf ordnungspolitisch bedenkliche Folgewirkungen auf Seiten der Steuerpflichtigen hingewiesen. Des weiteren sind ordnungspolitische Mängel bei der Verwendung der Steuermittel abzuhandeln. Einige Schlußfolgerungen runden den Beitrag ab.

2 • Walter Hamm

II. Mit der Ökosteuer verfolgte Ziele Die rot-grüne Koalition strebt mit der Ökosteuer ein doppeltes Ziel an: Erstens soll die Umweltverschmutzung durch die Verbrennung fossiler Energierohstoffe mit höheren Kosten belastet werden. Externe Kosten sollen den Verursachern angelastet werden. Ein noch sparsamerer Energieverbrauch soll auf diese Weise nahegelegt, die drohende Klimaerwärmung als Folge hoher C0 2 -Emissionen möglichst gering gehalten werden. Zweitens sollen die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge verwendet werden. Dadurch sollen die Lohnzusatzkosten für die Unternehmen und die Beitragslasten der Beschäftigten vermindert sowie Impulse für mehr Beschäftigung ausgelöst werden. Sinken die Arbeitskosten für die Unternehmen - so die Überlegung - , dann steige die Bereitschaft, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.

III. Zielkonformität der Ökosteuer Die Grundidee der Ökosteuer ist ordnungspolitisch richtig. Umweltschäden, die beim Verbrauch von Energie in Form von C02-Belastungen entstehen, sollten von den Verursachern getragen werden. Gegen dieses Prinzip wird jedoch durch die konkrete Ausgestaltung der Ökosteuer in vielfältiger Weise verstoßen: - Die Steuerbelastung von Benzin, Dieselöl, Heizöl, Gas und elektrischem Strom folgt nicht den beim Verbrauch entstehenden C02-Emissionen. Strom wird im Vergleich zu Heizöl und Erdgas seit 1999 etwa zweieinhalbmal so stark belastet, wenn man C0 2 -Emissionen und Primärenergieverbrauch als Maßstab nimmt. Die Mehrbelastung steigt in der (vorläufigen) Endstufe im Jahre 2003 auf das Fünffache (.Marquis 2000, 9). - Die C0 2 -Emissionen bei der Erzeugung elektrischer Energie sind höchst unterschiedlich, der Steuersatz je Kilowattstunde ist jedoch gleich hoch. Stein- und Braunkohle werden überhaupt nicht besteuert, sondern werden im Gegenteil hoch subventioniert, obwohl der C0 2 -Ausstoß beim Einsatz von Kohle außergewöhnlich hoch ist, verglichen etwa mit dem Einsatz von Erdgas. Die Widersprüchlichkeit dieser Politik wird offensichtlich aus Opportunitätsgründen bewußt in Kauf genommen. Die Bergarbeiter, die um ihre Arbeitsplätze fürchten müßten, sollen nicht verärgert werden. Der in Kernkraftwerken erzeugte Strom wird mit Ökosteuer belastet, obwohl keinerlei CO2Emissionen entstehen. Der unterschiedliche Wirkungsgrad alter und neuer Kraftwerke (Primärenergieeinsatz je Kilowattstunde) ist widersinnigerweise ohne Einfluß auf die Höhe der Ökosteuer. Entgegen den Absichten des Gesetzgebers entsteht kein Anreiz, Kraftwerke mit niedrigem Wirkungsgrad stillzulegen und möglichst nur noch Kraftwerke mit geringem C0 2 -Ausstoß zu betreiben. Der Gesetzgeber hat die falschen Bemessungsgrundlagen für die Ökosteuer gewählt. Die beim Primärenergieverbrauch entstehenden C0 2 -Emissionen hätten als Grundlage für die Steuerberechnung herangezogen werden müssen. - Nicht alle Energieverbraucher werden gleichermaßen mit Ökosteuern belastet. Gerade die größten Verbraucher sind nahezu vollständig ausgenommen (speziell große,

Die Ökosteuer - eine ordnungspolitische Fehlleistung · 3

energieintensiv produzierende Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft). Für andere Verbraucher gelten ermäßigte Steuersätze (z.B. öffentlicher Personennahverkehr). Die Landwirtschaft kommt in den Genuß großzügiger Sonderregelungen (Ermäßigimg des Dieselölsteuersatzes um 30 auf 50 Pfennig je Liter). Dem Gewächshausanbau wurde die Vergütung eines Teils der Mineralölsteuer zugestanden, weil sonst die Wettbewerbsfähigkeit mit niederländischen Anbietern nicht gewährleistet wäre. Pendler mit weiten Wegen zur Arbeitsstätte erhalten ohne Einzelnachweis eine steuerlich absetzbare - Entfernungspauschale von 70 Pfennig je Kilometer zwischen Wohnung und Arbeitsplatz; vom elften Kilometer an beträgt die Pauschale 80 Pfennig. Erst oberhalb von 10 000 DM virtuellen Fahrtkosten an sind Ausgabennachweise vorzulegen. Die heftige Kritik an der Ökosteuer seitens der Pendler ist mit diesem Verzicht auf rund eine Milliarde DM an Steuereinnahmen zwar abgebogen worden, aber um den Preis eines (zunächst nicht beabsichtigten) Verzichts auf die erwünschte „Verhaltensänderung bei den Verbrauchern" (.Metzger 2000, 4). Die Inkonsequenz bei der Besteuerung, ausgelöst durch das Bemühen, drohende Wählerstimmenverluste zu verhindern, läuft darauf hinaus, daß gerade energieintensive Aktivitäten von der Besteuerung ausgenommen werden. Die Ziele des Gesetzgebers werden nur lükkenhaft und inkonsequent verfolgt. Die als „Lenkungssteuer" hoch gepriesene Ökosteuer (.Metzger 2000, 4) versagt weithin.

IV. Ordnungspolitisch bedenkliche Folgewirkungen auf Seiten der Steuerpflichtigen 1. Räumliche Diskriminierung von Verbraucherhaushalten Die Entfernungspauschale für Pendler verbilligt weite Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Da auch Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel in den vollen Genuß der Entfernungspauschale kommen und da die tatsächlichen Fahrtkosten in diesem Fall niedriger sind als die steuerlich anerkannte Pauschale, wird weites Pendeln sogar prämiert. Widersinnigerweise macht es der Gesetzgeber reizvoll, Wohnungen weitab von der Arbeitsstätte zu wählen. Der Energieverbrauch wird auf diese Weise künstlich angeregt, der Berufsverkehr aufgebläht. Dumm sind diejenigen, die in Ballungsräumen nahe zu ihrem Arbeitsplatz wohnen und dort weit höhere Mieten zahlen müssen als die entfernt im Umland wohnenden Pendler. Verkehrsvermeidung und dadurch Energieeinsparung und Umweltentlastung? Die Ökosteuer bewirkt insoweit das Gegenteil. Auch steuersystematisch ist die ab 1. Januar 2001 geltende Entfernungspauschale bedenklich. Wer öffentliche Verkehrsmittel benutzt, hat wesentlich niedrigere Ausgaben für die Fahrten zur Arbeitsstätte als die ansetzbare Entfernungspauschale. Der Grundsatz, daß nur solche Werbungskosten steuerlich zu berücksichtigen sind, die tatsächlich entstanden und nachgewiesen werden, wird durchbrochen. Für die Autofahrer unter den Pendlern gilt das Entgegengesetzte: Die steuerlich anzuerkennenden Kosten der Fahrten zur Arbeitsstätte liegen regelmäßig - auch nach Erhöhung des Kilometersatzes - deutlich unter den tatsächlich entstehenden Kosten. Dies läuft auf eine Diskriminierung der

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auf das eigene Auto angewiesenen Pendler hinaus. In vielen Verkehrsbeziehungen gibt es kein Angebot von Fahrleistungen durch öffentliche und private Verkehrsuntemehmen. 2. Benachteiligung privater Haushalte mit Nichtberufstätigen Die Ökosteuer hat „Verteilungswirkungen. Dies ist politisch gewollt und mit einer freiheitlichen Grundordnung vereinbar", behauptet der Bundestagsabgeordnete der Grünen Metzger (2000, 4). Zwar liegt es im Sinne des Ökosteuer-Gesetzes, daß Einkommen zwischen Haushalten mit hohem und mit niedrigem Energieverbrauch umverteilt werden (Ausnahme: Weitpendler). Es ist jedoch politisch nicht belanglos, daß Nichtarbeitende, also Sozialhilfeempfanger, Arbeitslose, Rentner und Studenten, zwar voll von der Ökosteuer getroffen werden, aber nicht wie die Arbeitenden in den Genuß eines Ausgleichs in Gestalt sinkender Rentenversicherungsbeiträge gelangen, mithin einseitig belastet werden. Daß ausgerechnet eine rot-grüne Koalition, die das Ziel der „sozialen Gerechtigkeit" ständig plakativ verkündet, solche Einkommensumverteilungen zu Lasten der meist ärmsten Bevölkerungsschichten vornimmt und dies ausdrücklich noch als „politisch gewollt" bezeichnet, ist erstaunlich. Auch ordnungspolitisch ist diese Entwicklung bedenklich. Eine wichtige Aufgabe der Ordnungspolitik besteht zwar darin, die Wachstumskräfte zu fördern und dadurch mehr Beschäftigung zu schaffen. Eine „Soziale Marktwirtschaft" kommt jedoch ohne armutsbekämpfende Strategien nicht aus. Die Ökosteuer wirkt armutsverschärfend und hat insoweit kaum Lenkungswirkungen, weil arme Privathaushalte ohnehin schon zuvor zum Energiesparen gezwungen waren. Für einen kleinen Teil der betroffenen Haushalte hat die rot-grüne Koalition immerhin eine notdürftige und nur einen Teil der Mehrbelastung abdeckende Korrektur vorgesehen: An bedürftige Mieterhaushalte werden heizkostenvermindernde Sonderzahlungen geleistet. Unsystematisch verabreichte Pflästerchen sollen auch hier die Kritik an der Ökosteuer dämpfen.

3. Diskriminierende Besteuerung heimischer Unternehmen Die rot-grüne Koalition hat von vornherein darauf bestanden, die Energiebesteuerung in einem deutschen Alleingang zu erhöhen, auf ein international abgestimmtes Vorgehen also zu verzichten. Die ursprüngliche Zusage, weitere Erhöhungsschritte von einem Mitziehen der anderen EU-Länder abhängig zu machen, ist ohne Angabe von Gründen nicht eingehalten worden, obwohl weltweite Klimaveränderungen durch den Alleingang eines kleinen, wenn auch hochindustrialisierten Landes so gut wie überhaupt nicht herbeigeführt werden können - noch dazu dann, wenn die wichtigsten Energieverbraucher von der Ökosteuer ausgenommen werden. Die rot-grüne Koalition verteilt nahezu willkürlich Lasten und Subventionen, nimmt nur zum Teil auf Wettbewerbsnachteile deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb Rücksicht und bringt damit viele deutsche Unternehmen in erhebliche Schwierigkeiten - mit Folgen für das Arbeitsplatzangebot in Deutschland.

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Einige wenige Beispiele belegen diese Tatsachen: Unternehmen der Binnenschiffahrt und des Luftverkehrs sind vollständig von der Ökosteuer befreit. Eisenbahnunternehmen bezahlen nur die Hälfte der normalen Steuersätze. Für den Straßengüterverkehr gibt es keinerlei Sonderregelungen. Nicht nur der nationale Wettbewerb zwischen den Landverkehrsunternehmen wird auf diese Weise verzerrt. Auch im internationalen Wettbewerb sind deutsche Transportunternehmen zum Teil massiv benachteiligt. Das gilt vor allem für den ungeliebten Lastwagenverkehr. Ausländische Straßengüterverkehrsunternehmen können sich über die diskriminierende Besteuerung freuen. Die Schadstoffemissionen der Verkehrsunternehmen bilden keinen Maßstab für die Belastung mit der Ökosteuer. Große Unternehmen des produzierenden Gewerbes unterliegen einem ermäßigtem Steuersatz (20 Prozent der Normalsteuerbelastung). Die Hauptumweltverschmutzer genießen damit Privilegien, die den Umweltschutzzielen entgegenlaufen. Kleine Unternehmen etwa des Handwerks, des Handels und des Dienstleistungsgewerbes haben die Ökosteuer in voller Höhe zu bezahlen. Dadurch entstehen massive Wettbewerbsverzerrungen zugunsten der großen Unternehmen des produzierenden Gewerbes. Für Kühlhäuser landwirtschaftlicher Unternehmen gilt der ermäßigte Steuersatz, Handelsunternehmen müssen für die in vergleichbaren Kühlhäusern eingesetzte Energie den vollen Steuersatz bezahlen. Baustoffhändler, die Betonfertigteile selbst herstellen, sind uneingeschränkt ökosteuerpflichtig. Große Unternehmen des produzierenden Gewerbes, die gleichartige Betonfertigteile produzieren, haben ermäßigte Ökosteuersätze zu tragen. Gleiches wird ungleich besteuert. Nur der Verbrauch von Energie unterliegt der Besteuerung, also beispielsweise nicht die Erzeugung elektrischer Energie. Ökologisch noch so fragwürdige Kraftwerke mit hohem Schadstoffausstoß werden steuerlich genauso behandelt wie hochmoderne Kraftwerke mit geringer Umweltverschmutzung. Ungleiches wird gleich behandelt. Die Ziele der Ökosteuer werden auch insoweit verfehlt. 4. Verzerrung des internationalen Wettbewerbs In energiekostenintensiven Untemehmensbereichen wird der Wettbewerb im Außenhandel verzerrt, wenn ein Land im Alleingang hohe Ökosteuern einführt. Diesem Argument ist die rot-grüne Koalition nur in Teilbereichen der Wirtschaft gefolgt. Oben war bereits auf Sonderregelungen für die Binnenschiffahrt, den Luftverkehr, die Landwirtschaft, den Gewächshausanbau und für Großunternehmen der produzierenden Wirtschaft hingewiesen worden. Andere EU-Länder waren bisher nicht bereit, der deutschen Regelung zu folgen. Im Gegenteil sind beispielsweise Frankreich und die Niederlande dazu übergegangen, dem Straßengüterverkehr erhebliche Treibstoffsubventionen zu bezahlen und damit den Weltmarktpreis- und dollarkursbedingten Anstieg der Preise für Mineralöl zu dämpfen oder vollständig auszugleichen. Die Europäische Kommission in Brüssel hat sich auf die Seite Frankreichs und der Niederlande geschlagen, indem sie die Beihilfen für den Straßengüterverkehr dieser Länder - zunächst befristet - gebilligt hat.

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Deutsche Straßenverkehrsuntemehmen, die sich nach der Aufhebung von Marktzutrittsbeschränkungen (Kabotagevorbehalte) ohnehin schon massivem Wettbewerbsdruck aus dem Ausland ausgesetzt sehen, müssen neben den gestiegenen Dieselölpreisen als Folge der Angebotsverknappung auf den Welterdölmärkten und des gestiegenen Dollarkurses auch noch eine massive, in Stufen steigende Zusatzbelastung durch heimische Treibstoffsteuern verkraften. Die rot-grüne Koalition hat jede Steuerermäßigung fur das Straßenverkehrsgewerbe als Antwort auf die beträchtlichen Steuervorteile der ausländischen Konkurrenten abgelehnt. Es bleibt bei der Verzerrung des internationalen Wettbewerbs. Dasselbe gilt für viele kleine und mittlere Unternehmen der produzierenden Wirtschaft, die sich im internationalen Wettbewerb behaupten müssen und in vollem Umfang der Ökosteuer unterliegen.

5. Bürokratische Orgien Das „Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform" und die dazu mit monatelanger Verspätung erlassene Stromsteuer-Durchführungsverordnung sind ein bürokratisches Monstrum. Hunderttausenden von steuerpflichtigen Unternehmen und der für die ÖkoSteuereinziehung zuständigen Zollverwaltungen entstehen erhebliche zusätzliche Kosten. Den Unternehmen werden nicht nur eine weitere Steuererklärung und monatliche Vorauszahlungen abverlangt, sondern auch detaillierte Nachweise über den Energieverbrauch, über den Einsatz von Mineralölprodukten zu Heizzwecken oder zur Erzeugung von Prozeßwärme, über die Schwerpunkte der unternehmerischen Tätigkeit (Aufteilung der Wertschöpfung nach Branchen zwecks Zurechnung zu begünstigten und nicht begünstigten Wirtschaftszweigen), über den Anteil der Energieverwendung zu steuerbegünstigten Zwecken, über die Höhe der Energieerzeugung von Strom, über die Menge des daraus an andere Verbraucher abgegebenen Stroms und viele weitere Tatbestände. Alle diese Angaben müssen von den Zollämtern geprüft werden, Änderungen der steuerrelevanten Merkmale und Vorgänge müssen laufend überwacht und gemeldet werden. Die Unternehmen stöhnen unter der Last der zusätzlichen Erklärungs- und Meldepflichten, die hier nur in den Grundzügen erwähnt werden können. Ordnungspolitisch erwünscht wären weniger staatliche Gängelung, Fortschritte in der Entbürokratisierung, eine Ermutigung der unternehmerischen Initiative durch weniger staatliche Überwachung sowie einfache und nichtdiskriminierende Erhebungsmethoden. Mit der rot-grünen Ökosteuer wird das Gegenteil erreicht. Sie ist „extrem kompliziert und beschädigt die Akzeptanz des Umweltschutzes" (Schlecht 2001, 67f.). Der Hauptfehler ist darin zu sehen, daß die Ökosteuer als Verbrauchssteuer konstruiert worden ist und sich nicht am Schadstoffausstoß beim Einsatz der Primärenergie orientiert.

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V.

Ordnungspolitische Mängel bei der Verwendung der (zweckgebundenen) Steuermittel

1. Mehr Beschäftigung durch niedrigere Lohnzusatzkosten? Ein wesentlicher Grund für die hohen, beschäftigungshemmenden Arbeitskosten in Deutschland sind die weltweit höchsten Lohnzusatzkosten. Allein die Beiträge zur Sozialversicherung, die hälftig von den Unternehmen und ihren Mitarbeitern zu bezahlen sind, liegen bei 41 Prozent des Bruttolohns. Niedrigere Beiträge zur Sozialversicherung ließen unter sonst gleichen Umständen die Arbeitskosten sinken, könnten eine wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften bewirken und einen Beitrag zur Lösung des Problems der hohen Dauerarbeitslosigkeit leisten. Die rot-grüne Koalition hat deswegen festgelegt, daß die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge verwendet werden. Für die Arbeitenden geht diese Rechnung auf. Sie haben in der Tat „netto mehr in der Lohntüte als vor Einfuhrung der Ökosteuer" (Metzger 2000, 4). Freilich müssen sie aus dem versteuerten Lohn Ökosteuer für die Wärmeversorgung des Haushalts, für den Strom- und den Treibstoffverbrauch bezahlen. Wieviel vom höheren Nettoeinkommen übrigbleibt oder ob sogar eine Mehrbelastung eintritt, hängt vom Energieverbrauch des jeweiligen Haushalts ab. Anders liegen die Verhältnisse bei den Unternehmen, die nach den Vorstellungen der Politiker mehr Arbeitskräfte einstellen sollen. Entgegen einem weit verbreiteten Fehlurteil sinkt die Gesamtbelastung der Unternehmen mit Steuern und Abgaben regelmäßig nicht. Selbst die Großunternehmen, die einem stark reduzierten Steuersatz unterliegen, bezahlen im Regelfall fühlbar mehr Ökosteuer, als sie durch sinkende Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung entlastet werden. Die Unternehmen des produzierenden Gewerbes müssen zunächst die Stromsteuer (Normalsatz) an das zuständige Zollamt abführen und erhalten dann am Ende eines Kalenderjahres auf Antrag einen Teil der bezahlten Stromsteuer zurück, sofern die Stromsteuer 1000,- DM übersteigt. Dieser Sockelbetrag ist von allen begünstigten Unternehmen zu bezahlen. Außerdem müssen die Unternehmen nachweisen, in welchem Umfang sie von sinkenden Beitragssätzen für die Rentenversicherung (Arbeitgeberanteil) profitiert haben. Nur wenn die Stromsteuer die bereits erwähnten 1000,- DM jährlich um das 1,2-fache der Beitragsermäßigung übersteigt, wird bezahlte Stromsteuer erstattet. Auch ein begünstigtes Unternehmen wird also von der Stromsteuer zusätzlich belastet. Wovon dann Anreize zu Mehreinstellungen wegen niedrigerer Lohnzusatzkosten ausgehen sollen, ist schleierhaft. Allenfalls personalkostenintensive Dienstleistungsunternehmen mit niedrigem Stromverbrauch können Vorteile von dem „Verschiebebahnhof ' Ökosteuer - Rentenversicherungskasse erwarten, wobei zu berücksichtigen ist, daß die ohnehin minimale Beitragssenkung den Unternehmen nur zur Hälfte zugute kommt. Mit nennenswerten Beschäftigungswirkungen kann daher nicht gerechnet werden. Die Abgabenquote insgesamt, die erzwungenen Bürokratiekosten und damit

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die leistungshemmende, die unternehmerische Initiative drosselnde Gesamtbelastung der Wirtschaft vermindert sich auf diese Weise nicht, sondern steigt sogar. 2. Ursachenbezogene statt an Symptomen kurierende Maßnahmen Mit kräftigen Beschäftigungsimpulsen als Folge sinkender Lohnzusatzkosten wäre nur dann zu rechnen, wenn grundlegende Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme eingeleitet und die Beitragszahlungen vom Lohn abgekoppelt würden. Von solchen Schritten ist die rot-grüne Koalition weit entfernt. Die Ökosteuer vermindert nur um den Preis höherer Steuerlasten geringfügig die Sozialversicherungsbeiträge. Chancen für durchgreifende und nachhaltige Reformen der sozialen Sicherungssysteme sind dagegen verpaßt worden. Es wird lediglich an Symptomen kuriert. In der Gesetzlichen Krankenversicherung sind die - ohnehin unzulänglichen - Reformpläne vollständig gescheitert. Erst in der nächsten Legislaturperiode sollen sie weiterverfolgt werden. Entgegen ständig wiederholten Beteuerungen steigt der durchschnittliche Beitragssatz in der Gesetzlichen Krankenversicherung, weil die besonders beitragsgünstigen Betriebskrankenkassen gezwungen werden sollen, die Beiträge auf einen von Staats wegen festgesetzten Mindestbeitrag zu erhöhen. In der Arbeitslosenversicherung sind mögliche Beitragssenkungen vertagt worden, weil aus den Einnahmen der Bundesanstalt für Arbeit weithin erfolglose Programme zur „Schönung" der Arbeitslosenstatistik finanziert werden. Für die sogenannte „aktive Arbeitsmarktpolitik" sind 1999 und 2000 zusammen rund 90 Milliarden DM ausgegeben worden - mit minimalen Erfolgen für den dauerhaften Rückgang der Arbeitslosigkeit. Die Kürzung der für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Ausbildungsprogramme ausgegebenen Mittel hätte fühlbare Beitragssenkungen ermöglicht. Meldepflichten der Arbeitslosen auf den Arbeitsämtern hat die rot-grüne Koalition zu Beginn ihrer Tätigkeit gelockert und die Zumutbarkeitskriterien faktisch aufgeweicht. Neuerdings wird diskutiert, ob Arbeitslose wirksamer als bisher zur Weiterbildung und zur Annahme von Arbeitsangeboten verpflichtet werden können. So unstet ist die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik. Wann die neuen Pläne Wirklichkeit werden, ist ungewiß. Erfolgreiche Maßnahmen in anderen Ländern, etwa die Verkürzung der Bezugszeiten von Lohnersatzleistungen und die Verschmelzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, werden nicht einmal erwogen. Offensichtlich soll alles vermieden werden, was die Wahlchancen im Jahre 2002 verschlechtert, auch wenn dem Gemeinwesen dadurch Schaden entsteht, die Soziallasten unverantwortlich hoch gehalten werden, der Sozialkonsum zu Lasten der vernachlässigten investiven Ausgaben aufgebläht und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiter geschmälert wird. Eigentlich müßte es ein Warnsignal erster Ordnung sein, daß Deutschland - einst eines der progressiven und wachstumsstärksten Länder der EU - zusammen mit Italien zu den Schlußlichtem der EU-Mitgliedstaaten beim Wirtschaftswachstum und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gehört. In der Rentenversicherung ist mit der - zu späten und zu vorsichtigen - Kappung künftiger Leistungsansprüche und mit Einfuhrung einer privaten Zusatzversicherung zwar eine gewisse Korrektur der bedenklichen, auch demographisch bedingten Überfor-

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derung der kommenden Generation eingeleitet worden. Andererseits entwickelt sich die gesetzliche Altersversicherung immer stärker weg von einer Versicherung und hin zu einer nicht mehr beitragsorientierten staatlichen Veranstaltung: Aus der Rentenversicherung" soll künftig auch eine nicht mit Beitragszahlungen unterlegte „soziale Grundsicherung" in Höhe der Sozialhilfe bezahlt werden. Es lohnt sich für viele nicht mehr, beitragspflichtigen Tätigkeiten nachzugehen. Die Altersrente wird zu einer Staatsrente, die nach politischem Gutdünken manipuliert werden kann und die für die Abgabepflichtigen unberechenbar wird. Diese Entwicklung wird mit den ökosteuerbedingten sprunghaft steigenden Zahlungen aus dem Bundeshaushalt zugunsten der Rentenkasse gefördert. In früheren Jahren wurden solche Leistungen des Bundes mit den politischen Lasten begründet, die der Rentenversicherung auferlegt worden sind (z.B. Anrechnung von Kindererziehungs- und Ausbildungszeiten, kriegsbedingte Sonderlasten). Inzwischen gehen die auch aus der Ökosteuer gespeisten finanziellen Transfers aus dem Bundeshaushalt weit über diese Grenzen hinaus. Ordnungspolitisch bedenklich ist die durch die Ökosteuer forcierte zunehmende Verstaatlichung der Rentenversicherung aus mehreren Gründen. Die „bedarfsorientierte Mindestsicherung" aus der Rentenkasse zerstört den Versicherungscharakter; äquivalenzorientierte Rentenansprüche werden durch die staatlich verordnete Umverteilungspolitik zumindest erheblich verwässert. Die Selbstverantwortung der Bürger wird verdrängt vom Anspruchsdenken gegenüber dem Staat, der aber immer weniger imstande ist, die davon ausgelöste Flut von Forderungen und Wünschen zu erfüllen. Die Entwicklung müßte in die entgegengesetzte Richtung gehen: Die Masse der Bürger ist dank des in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegenen Lebensstandards durchaus in der Lage, verstärkt aus eigener Kraft Lebenskrisen in freier Entscheidung abzusichern und in eigener Verantwortung vorzusorgen. Der immer weiter um sich greifende Wohlfahrtstaat und die zunehmende Unfreiheit verschütten die Quellen der Wohlstandsmehrung, des Wirtschaftswachstums und zunehmender Beschäftigung. Die Sozialversicherung in ihrer heutigen Gestalt begünstigt bedenkliche Fehlentwicklungen. Es werden Ansprüche gezüchtet, die bei schrumpfender Bevölkerung nicht mehr aufrechterhalten werden können. Deswegen ist es falsch, die Ökosteuer als Vehikel der Umverteilung zu benutzen und dringend notwendige Reformen der sozialen Sicherungssysteme aufzuschieben. Die von Politikern verbreiteten Illusionen über die künftige Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung führen schon in wenigen Jahren zu Enttäuschungen, sind unverantwortlich gegenüber der kommenden Generation und werden berechtigte Vorwürfe über früheres Politikversagen zur Folge haben (Hamm 2000a). Über nachhaltiges Denken und Handeln in der Umweltpolitik wird unablässig gesprochen. In der Sozialpolitik steht diese Wende erst noch bevor. 3. Steigende Subventionsflut Mit der Ökosteuer soll die Umstellung der Produktion auf energiesparende Herstellungsmethoden und auf energiekostenextensive Erzeugnisse bewirkt werden. Dieses Ziel wird verfehlt, wenn aus der Staatskasse Belastungen durch die Ökosteuer vollstän-

10 • Walter Hamm dig oder zu wesentlichen Teilen erstattet werden. Der Anreiz oder der Zwang, die Produktpalette zu ändern und auf neue energiesparende Herstellungsverfahren überzugehen, wird beseitigt. Dennoch sind mit Einführung der Ökosteuer widersinnigerweise milliardenschwere neue Subventionen zugestanden worden. Die rot-grüne Koalition beteuert zwar ständig, ihr liege die Umstellung der Produktion auf innovative Erzeugnisse besonders am Herzen, was wegen der hohen deutschen Arbeitskosten und wegen des internationalen Wettbewerbsdrucks in der Tat unerläßlich ist. Dennoch verzichtet die rot-grüne Koalition auf den systematischen Abbau strukturkonservierender Subventionen, ja sie vergrößert deren Volumen noch beträchtlich. Mit vergleichsweise hohen Steuerlasten für erfolgreiche Unternehmen (die durch den Mittelentzug in ihrer Expansion gehemmt werden) werden hilfebedürftige, stagnierende Unternehmen alimentiert. Produktionsfaktoren werden in vergleichsweise unwirtschaftlichen Unternehmen gefesselt. Energiesparendes Wirtschaftswachstum, ein mit der Ökosteuer verfolgtes Hauptziel, wird unterbunden. Staatliches Gutdünken, das sich in zahlreichen Ausnahmeregelungen manifestiert, entscheidet darüber, wo wieviel Arbeitskräfte und Energie eingesetzt werden. Verfechter der Ökosteuer behaupten, die Ökosteuer stehe „nicht in einem Gegensatz zu einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung", sondern vervollkommne sie sogar {Metzger 2000, 5). Diese Ansicht wäre nur dann richtig, wenn auf alle Ausnahmeregelungen, speziell fur energiekostenintensive Betriebe, verzichtet worden wäre. Das Gegenteil ist richtig. Das ist auch der Grund, warum es zu schwerwiegenden Verzerrungen des Wettbewerbs und der Faktorallokation kommt. Die marktwirtschaftliche Lenkung über relative Preise wird durch neu eingeführte Subventionen in Milliardenhöhe gründlich verfälscht. Am klarsten wird dieser Tatbestand, wenn die Verhältnisse im Kohlebergbau betrachtet werden. Stein- und Braunkohle sind - obwohl Hauptverschmutzer der Umwelt - von der Ökosteuer freigestellt. Die Behauptung, „die Effizienzwirkungen des Marktes" würden mit der Ökosteuer „in den Dienst der Ökologie gestellt" (Metzger 2000, 5), wird auf diesem gesamtwirtschaftlich wichtigen Gebiet schlagend widerlegt. Im Falle der Kernkraft werden die Marktkräfte durch staatliche Reglementierung („Ausstieg aus der Kernenergie") ausgeschaltet. Die Erzeugung regenerativer Energie wird hoch subventioniert, ebenso die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Die Energiepolitik läuft auf eine Karikatur marktwirtschaftlicher Steuerung hinaus. Die Europäische Kommission sieht in den Sonderregelungen für Großunternehmen des produzierenden Gewerbes unerlaubte Beihilfen, die einstweilen nur vorübergehend geduldet worden sind. Wie sich die Europäische Kommission endgültig entscheidet, ist noch offen. Müssen die Ökosteuer-Privilegien beseitigt werden, wird sich die Bundesregierung entscheiden müssen, ob sie Verzerrungen des internationalen Wettbewerbs in energiekostenintensiven Branchen zu Lasten deutscher Anbieter (und damit auch auf Kosten des Arbeitsplatzangebotes in Deutschland) hinnimmt oder ihren Alleingang in der Energiebesteuerung aufgibt.

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4. Punktuelles Denken und opportunistisches Handeln Am Anfang der Überlegungen über die ökologische Steuerreform stand der Gedanke, mit einer mehij ährigen Festlegung der Steuererhöhungsschritte das staatliche Handeln für die Energieverbraucher einschätzbar und berechenbar zu machen. Dieses Ziel ist gründlich verfehlt worden. Um Kritik an der Ökosteuer seitens starker, der Koalition nahestehender Wählergruppen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat die rot-grüne Koalition das Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform mehrfach geändert und „nachgebessert". Neue Ausnahmeregelungen sind geschaffen, bereits bestehende geändert worden. Niemand kann davor sicher sein, daß es zukünftig zu weiteren Korrekturen be- oder entlastender Art kommt. Von Berechenbarkeit der staatlichen Energiepolitik und von Konstanz der Wirtschaftspolitik (Hamm 2000b, 101 ff.) kann keine Rede sein. Einige Beispiele fur dieses unablässige Herumfingern an politischen Stellschrauben seien genannt: Die Mietnebenkosten steigen als Folge der Heizölbesteuerung stark an, was zu Protesten der Mieterverbände gefuhrt hat. Also wird zur Besänftigung der Gemüter das Wohngeld kräftig erhöht. Von der steigenden Treibstoffbesteuerung sind besonders die Weitpendler betroffen. Also wird eine neue (etwa eine Milliarde DM jährlich kostende) Kilometerpauschale eingeführt. Die Landwirtschaft beklagt sich heftig über die Dieselölbesteuerung für ihre Traktoren. Also wird eine Sonderregelung für die Landwirtschaft geschaffen. Der öffentliche Personennahverkehr sieht in seiner Steuerpflicht einen Schlag gegen die Bemühungen, den Individualverkehr mit Personenkraftwagen einzudämmen. Also wird für die Personennahverkehrsuntemehmen die Ökosteuer reduziert. Die Lehre daraus für Lobbyisten aller Art lautet: Je heftiger der öffentliche Protest und je größer das Wählerpotential der jeweiligen Gruppe ist, desto besser sind die Aussichten, daß die rot-grüne Koalition einknickt und Ausnahmen einführt. Das Machtkalkül der Koalition bestimmt von Fall zu Fall das staatliche Handeln. Alle schönen Grundsätze werden punktuellem Denken geopfert. Opportunismus verdrängt Prinzipientreue, ordnungspolitisches Denken und Handeln fehlt (Schlecht 2001, 66ff.).

VI. Schlußfolgerungen Der Grundgedanke der Energiebesteuerung ist richtig: Insoweit durch den Verbrauch von Energie externe Kosten, insbesondere Umweltschäden, entstehen, sollten sie den Verursachern angelastet werden. Nur dann, wenn die externen Kosten in privatwirtschaftliche Rechnungen einfließen, funktioniert das Preissystem gesamtwirtschaftlich zufriedenstellend. Es gibt daher starke ordnungspolitische Argumente zugunsten der Anlastung von Kosten umweltgefährdender Aktivitäten (Karl 1998, 567f.; Hamm 2000a, 57f.). Daß hierbei einstweilen noch nicht befriedigend gelöste Meßprobleme entstehen und daß verschiedene Strategien zur Lösung des Anlastungsverfahrens miteinander konkurrieren, trifft zu (Knorr 1997, 367ff). Eine Ökosteuer ist jedoch zumindest ein brauchbares Verfahren, das nicht von vornherein abzulehnen ist.

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Die Bedenken gegen die in Deutschland eingeführte Ökosteuer sind anderer Art; sie richten sich vor allem dagegen, daß sich die Besteuerung erstens nicht an dem Ausmaß der Emission von Schadstoffen orientiert und daß die Besteuerung zweitens durch eine Fülle beschäftigungs- und verteilungspolitisch orientierter Ausnahmen durchlöchert ist (Sachverständigenrat 2000, Textziffer 385). Diese Sonderregelungen verursachen zahlreiche ordnungspolitische Mängel und verhindern, daß die vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ziele tatsächlich erreicht werden. Außerdem ergeben sich Widersprüche zu anderen Zielen der Politik (Beschäftigungs-, Mittelstands- und Außenhandelspolitik). Unglaublich komplizierte Vorschriften verursachen einen enormen bürokratischen Aufwand bei den Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung. Das Ziel, die Staatsund die Abgabenquote nachhaltig zu senken und das Steuerrecht zu vereinfachen, wird nicht erreicht. Fragwürdig ist ferner, daß im Vertrauen auf die kräftig sprudelnde Ökosteuerquelle auf überfallige grundlegende Reformen der sozialen Sicherungssysteme weitgehend verzichtet wird und daß die angestrebte Senkung der Sozialversicherungsbeiträge nur auf dem Umweg über steuerliche Zusatzbelastungen gelungen ist, und selbst das nur in höchst bescheidenem Maße. Die ohnehin schon beängstigende, weit überwiegend den notwendigen Strukturwandel hemmende Subventionsflut wird mit der Ökosteuer noch zusätzlich in europarechtlich fragwürdiger Weise erhöht. Insgesamt gesehen muß die Ökosteuer trotz ihres im Ansatz richtigen Grundgedankens als ordnungspolitischer Fehltritt bezeichnet werden. Die Neben- und Fernwirkungen vieler Sonderregelungen sind nicht bedacht worden. Punktuelles Denken hat die Orientierung an ökologischen Grundsätzen verdrängt. Opportunismus und das Schielen nach der Wählergunst bestimmen das politische Handeln. Dem Umweltschutz ist damit ein schlechter Dienst erwiesen worden. Literatur Hamm, Walter (2000a), Das Ende der Bequemlichkeit: Ein Leitfaden zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt am Main. Hamm, Walter (2000b), Konstanz der Wirtschaftspolitik: Was sie bedeutet und was sie nicht bedeutet, in: Bernhard Külp und Viktor Vanberg (Hrsg,), Freiheit und wettbewerbliche Ordnung: Gedenkband zur Erinnerung an Walter Eucken, Freiburg, Berlin und München, S. 101-122. Karl, Helmut (1998), Ökologie, individuelle Freiheit und wirtschaftliches Wachstum: Umweltpolitik in der Marktwirtschaft, in: Dieter Cassel (Hrsg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart, S. 551-597. Knorr, Andreas (1997), Die Entwicklung der Umweltpolitik aus ordnungspolitischer Sicht, ORDO, Band 48, S. 363-381. Marquis, Günter (2000), Deregulierter Strommarkt erfordert andere Energiepolitik, Elektrizitätswirtschaft, 99. Jg., Heft 14, S. 8f. Maxeiner, Dirk (2001), Das Böse und die edlen Wilden, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 86 vom 11.04.2001, S. 14. Metzger, Oswald (2000), Die Ökosteuer ist marktkonform, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft 86, Dezember, S. 4f. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2000), Chancen auf einen höheren Wachstumspfad, Jahresgutachten 2000/01, Stuttgart. Schlecht, Otto (2001), Ordnungspolitik fur eine zukunftsfähige Marktwirtschaft: Erfahrungen, Orientierungen und Handlungsempfehlungen, Frankfurt am Main.

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Zusammenfassung Exteme Kosten den Verursachern anzulasten ist ein aus marktwirtschaftlicher Sicht richtiger Weg. Das Funktionieren des Preissystems wird verbessert. Die deutsche Ökosteuer erfüllt diese Anforderungen nur höchst unvollkommen. Aus populistischen und wahltaktischen Motiven werden private Haushalte, große und kleine Unternehmen in unterschiedlicher Weise belastet. Die Höhe der Steuersätze orientiert sich nicht an der Emission umweltschädlicher Gase. Die Steinkohle, bei deren Verbrennung hohe Kohlendioxid-Emissionen entstehen, wird begünstigt. Die keinen Kohlendioxid-Ausstoß hervorrufenden Kernkraftwerke werden dagegen belastet. Da sich die rot-grüne Koalition an überfällige soziale Reformen nicht heranwagt, niedrigere Sozialabgaben aber zur Senkung der Arbeitskosten wünschenswert sind, werden die Beiträge zur Sozialversicherung mit Zuschüssen aus der Ökosteuer niedrig gehalten. Eine Einkommensumverteilung zu Lasten armer Privathaushalte wird dabei in Kauf genommen. Aus ordnungspolitischer Sicht sind vor allem vielfaltige diskriminierende, unsoziale, beschäftigungsdämpfende und wachstumshemmende Wirkungen der Ökosteuer zu bemängeln. Summary The eco-tax - a mistake by Ordnungspolitik Allocating social costs to the one who is responsible for them improves the workability of the price system and thus is a right way of economic policy in a market economy. The German eco-tax only imperfectly meets these requirements. For populist reasons private households, large and small companies are burdened in different ways. The rate of taxation does not depend on the emission of ecologically harmful gases. For example, nuclear power plants which do not cause any emission of carbon dioxide are taxed more heavily than power plants which bum hard coal - although burning hard coal causes massive emission of carbon dioxide. By introducing eco-taxation German government aims at keeping premiums for social security low. Thus for the governing parties (SPD - i.e. Labour Party - and the Greens) eco-taxation is a way of avoiding necessary liberal reform of German social security system. By doing so a redistribution of income at the expense of poor households is accepted willingly. From the view of Ordnungspolitik German eco-tax has discriminating effects, lowers employment and slows down growth.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Norbert Berthold und Oliver Stettes

Die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland - eine richtige Reform in die falsche Richtung

I. Einleitende Bemerkungen Nach langem Hickhack und regierungsinternen Querelen hat das Bundeskabinett die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes am 14. Februar 2001 mit einigen Korrekturen zum Referentenentwurf vom 15. Dezember 2000 gebilligt. Spätestens zum anstehenden Termin der Betriebsratsneuwahlen im Jahr 2002 soll das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen sein. Die Reform der betrieblichen Mitbestimmung hat eine Diskussion entfacht, welche an ihre Einfuhrung in den 70er Jahren erinnert. Der Rückfall in das Klassenkampfgetöse von Seiten der Gewerkschaften und Arbeitgeber mutet angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt, welche sich seit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 1972 vollzogen haben, anachronistisch an. Der folgende Beitrag soll der Versachlichung der hitzigen Debatte dienen und zeigen, in welchen Fällen eine gesetzliche Grundlage der betrieblichen Mitbestimmung aus volkswirtschaftlicher Sicht effizient ist und ob die geplanten Reformvorhaben der Bundesregierung den strengen Kriterien einer institutionenökonomischen Analyse genügen. Die Analyse ist in vier Teile gegliedert. Im Abschnitt Π werden die Anforderungen vorgestellt, denen sich die betriebliche Mitbestimmung im Zuge des Strukturwandels stellen muß. Im Abschnitt ΠΙ prüfen wir, unter welchen Umständen die Notwendigkeit zur gesetzlichen Regelung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen besteht. Abschnitt IV analysiert, ob vor diesem Hintergrund mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes positive Wohlfahrtswirkungen verbunden sind oder ob die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung auf polit-ökonomische Faktoren zurückzufuhren ist. Abschnitt V formuliert knapp einige Vorschläge, welche Aspekte eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes hätte berücksichtigen sollen, und faßt die wichtigsten Ergebnisse zusammen.

II. Interessenvertretung durch Betriebsräte unter Anpassungsdruck Die betriebliche Mitbestimmung scheint den Anforderungen des 21. Jahrhunderts und einer dynamischen Entwicklung hin zu einer „New Economy" nicht mehr gewachsen zu sein. Verbindliche gesetzliche Bestimmungen oder Vereinbarungen in Flächentarifen werden den differenzierten Anforderungen der Unternehmen im sich beschleunigenden strukturellen Wandel nicht mehr gerecht und behindern eine flexible, schnelle und adäquate Anpassung an die neuen Herausforderungen. Die Ausgestaltung der Ar-

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beitsbeziehungen verlagert sich auf das einzelne Unternehmen bzw. den einzelnen Betrieb als die künftig bedeutsamste Regelungsebene (Locke und Kochan 1995, 361). Das Management und die Belegschaft gewinnen an Freiheit in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen im eigenen Betrieb. Den Betriebsräten erwachsen aus dieser Entwicklung zusätzliche Aufgaben, fur die durch eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden sollen {Mitbestimmungskommission 1999,113ff.). Dabei wird die Gefahr gesehen, daß die betriebliche Mitbestimmung überfordert wird, da zur gleichen Zeit der Verbreitungsgrad der Institution Betriebsrat abnimmt und ihre rechtliche Grundlage von der ökonomischen Realität abrückt. Der Anteil der Arbeitnehmer in Deutschland, welche ihre Interessen gegenüber der Geschäftsleitung von einem Betriebsrat vertreten lassen, sinkt im Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft kontinuierlich. Mitte der 80er Jahre vertraten die Betriebsratsmitglieder noch sechs von zehn abhängig Beschäftigten, zehn Jahre später ist dieser Anteil auf unter die Hälfte geschrumpft (.Mitbestimmungskommission 1999, 54). Mit der Erosion der gesetzlich verankerten betrieblichen Mitbestimmung droht ein zentrales Merkmal der Arbeitsbeziehungen in Deutschland durch den Strukturwandel verlorenzugehen. Der sektorale Strukturwandel fuhrt dazu, daß die Beschäftigung in der Industrie absolut und relativ sinkt (Klodt et al. 1997). Der Grad der Verbreitung betrieblicher Interessenvertretung ist aber im privaten Dienstleistungssektor traditionell deutlich niedriger als in der Industrie (Mitbestimmungskommission 1999, 50f.; Hassel und Kluge 1999, 174). Die industrielle Massenproduktion ist mit Bedingungen verbunden, welche das Entstehen von Betriebsräten begünstigen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Betriebsrat die Interessen der Belegschaft vertritt, steigt mit zunehmender Unternehmensgröße.1 Die mindestoptimale Betriebsgröße liegt im industriellen Sektor in der Regel höher als im Dienstleistungsgewerbe, die mitbestimmungsfreie Zone wächst daher alleine aufgrund unterschiedlicher Produktionsbedingungen in den Wirtschaftsbereichen. Auf lange Sicht wird die betriebliche Mitbestimmung in doppelter Hinsicht in den Hintergrund gedrängt, weil neue Arbeitsplätze im Prozeß der schöpferischen Zerstörung heute in erster Linie durch Unternehmensneugründungen oder der Expansion der Beschäftigung in Klein- und mittleren Unternehmen entstehen, und zwar insbesondere im tertiären Sektor. Die Betriebsräte geraten aber noch durch eine zweite Entwicklung unter Druck. Im intrasektoralen Strukturwandel passen die Unternehmen ihre Organisationsform einem neuen Paradigma an.2 Unternehmen und Konzerne gruppieren die einzelnen Betriebe zu neuen Organisationseinheiten um. In diesem Prozeß der Reorganisation werden die integrierten Wertschöpfungsketten der tayloristisch aufgebauten Unternehmen aufgespaltet und insbesondere jene Arbeitsprozesse und Erzeugnisgruppen aus dem internen Wertschöpfungsverbund ausgelagert, welche aufgrund der vorangetriebenen Speziali-

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Müller-Jentsch und Ittermann (2000, 217), Mitbestimmungskommission (1999, 50), Wassermann 2000, 704). Bickenbach und Soltwedel ( 1998), Lindbeck und Snower (2000), Milgrom und Roberts ( 1995).

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sierung standardisiert werden konnten. Das Outsourcing entzieht solche Betriebsteile oder Produktionsprozesse und die damit verbundenen Beschäftigten dann dem Einflußbereich der betrieblichen Mitbestimmung, wenn sie im Zuge der Globalisierung ins Ausland verlegt werden oder wenn bei der Auslagerung in selbständige Unternehmen vorerst keine Betriebsräte fur die Interessen der Beschäftigten in den neuen Organisationseinheiten eintreten. Auch interne Veränderungen in den Untemehmensorganisationen in Form einer Divisionalisierung und der Bildung sogenannter fraktaler Betriebseinheiten3 werden als Bedrohung für die Effektivität eines Betriebsrates angesehen, wenn der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Organisation und rechtlicher Zuständigkeit der betrieblichen Interessenvertretung verloren geht (Wendeling-Schröder 1999, 282ff.). Hinzu kommt noch, daß die zunehmende Heterogenität in der Belegschaft den Betriebsräten eine repräsentative Interessenvertretung erschwert (Mitbestimmungskommission 1999, 40 und 80). Da diese auf die Existenz normaler Vollzeitarbeitsplätze in einer wohldefinierten Organisationseinheit ausgerichtet ist, gehen durch die rückläufige Zahl der Normalarbeitsverhältnisse mehr und mehr Arbeitnehmer dem Geltungsbereich der betrieblichen Mitbestimmung verloren ( Wassermann 2000, 699). Während die gesetzlich gesicherte Repräsentanz der Arbeitnehmer in Deutschland auf dem Rückzug ist, steigen auf der Gegenseite die Anforderungen an die Beschäftigten im Zuge des organisatorischen Wandels weiter an. Die Entscheidungsbefugnisse und Verantwortlichkeiten des einzelnen Mitarbeiters oder von Arbeitsgruppen in den Betrieben nehmen zu (Lindbeck und Snower 2000). Die Dezentralisierung von Verantwortung und Entscheidungskompetenz auf einzelne oder Projektteams bzw. von zentralen Leitungsorganen zu einzelnen Betriebseinheiten ist nur möglich, wenn die Mitarbeiter über die Kompetenz verfügen, flexibel, selbständig, zielgerichtet und eigenverantwortlich zu handeln. Die Bildung von Humankapital wird für einen Arbeitnehmer deshalb immer wichtiger {Lindbeck und Snower 2000). Die betriebliche Mitbestimmung steht damit vor neuen Herausforderungen. Wie kann sie die Bereitschaft der Arbeitnehmer erhöhen, in Humankapital zu investieren, wenn ihr Verbreitungsgrad zusehends schwächer wird und zudem Selbstmanagement und direkte Partizipation den Betriebsräten einen Großteil ihrer Hauptaufgaben abnehmen, inhaltliche Aspekte der Arbeitsbeziehung zu regeln? Die Antwort auf diese Frage muß klären, ob die offensichtlich mangelnde Attraktivität der Interessenvertretung durch Betriebsräte in den Wachstumsbranchen sowie in Klein- bzw. mittleren Unternehmen Ausdruck von Marktversagen ist und daher einer Korrektur in Form einer Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung bedarf. In den Blickpunkt des Interesses rückt damit das Spannungsfeld zwischen kollektiven Vereinbarungen und individuellen Absprachen zwischen Unternehmen und Beschäftigten.

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Fraktale Betriebseinheiten sind abteilungsübergreifende Netzwerke, welche auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind und sich bei der Zielverfolgung weitgehend selber organisieren (WendelingSchröder 1999, 283).

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III. Versagt der Markt bei der Gestaltung der betrieblichen Arbeitsbeziehung? Aus ökonomischer Sicht sollten einer Belegschaft dann Kontroll-, Informations- und Mitbestimmungsrechte zugestanden werden, wenn ein Transfer dieser Rechte die Effizienz der Arbeitsbeziehungen erhöht. Dieser Fall ist dann gegeben, wenn entweder die Arbeitnehmer in betriebsspezifisches Humankapital investieren oder die Arbeitsbeziehungen eine spezifische Quasi-Rente durch Kooperation der Beteiligten generieren {Berthold und Stettes 2001a, 11 ff.)· Dabei sind Allokation und Verteilung untrennbar miteinander verknüpft (Aoki 1984, 68). Die Aussicht auf einen Anteil an der QuasiRente aus spezifischen Investitionen oder der Kooperation veranlaßt vor dem Hintergrund der Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen beide Vertragsparteien, explizite oder implizite bindende Vereinbarungen zu treffen, um die innerorganisatorische Effizienz herzustellen. Eine betriebliche Interessenvertretung konstituiert ein Informations-, Herrschafts- und Überwachungssystem, mit dessen Hilfe die ex ante-Aufteilung der QuasiRenten überwacht oder in ex post-Verhandlungen auf betrieblicher Ebene reguliert wird. Sie überwindet das Dilemma, daß die rechtliche und ökonomische Perspektive, welche Wirtschaftssubjekte in welchem Umfang spezifische Ressourcen in ein Unternehmen einbringen, voneinander abweichen kann (Zingales 1998, 498). Die betriebliche Mitbestimmung überträgt den Mitarbeitern Kontroll- und Verftigungsrechte in einem adäquaten Umfang, wodurch externe Effekte von Entscheidungen durch die Kapitaleigentümer internalisiert werden können. Eine betriebliche Interessenvertretung wird damit zu einem Bestandteil des Corporate Governance-Systems {Richter und Furubotn 1996, 430; Zingales 1998, 498). Im Idealfall ist sie im Interesse sowohl der Kapitaleigner als auch der Beschäftigten. Wenn die Übertragung von Verfugungs- und Kontrollrechten Pareto-superior ist, stellt sich die Frage, warum Unternehmen ihren Belegschaften nicht freiwillig Mitbestimmungsrechte einräumen, deren Volumen in Verhandlungen festgelegt wird. Das Coase-Theorem legt nahe, daß freiwillige Vereinbarungen über eine betriebliche Mitbestimmung potentiell auftretende Externalitäten effizient und effektiv internalisieren können. Die Implementierung mittels eines staatlichen Eingriffes unterliegt auf der Gegenseite dem Vorbehalt, die Beschäftigten könnten Unternehmensentscheidungen beeinflussen oder mitbestimmen, ohne am Risiko und den negativen Folgen beteiligt zu sein. Der Spielraum, sich ihrerseits opportunistisch zu verhalten und die Lasten der Allokationsverzerrung auf die Eigentümer abzuwälzen, erhöht sich {Richter und Furubotn 1996, 438; Schmidt und Seger 1998, 456). Nur wenn zwischen Belegschaft und Unternehmenseignern Interessenkongruenz herrscht, kann ausgeschlossen werden, daß die gesetzliche Regelung negative Effizienzwirkungen hervorruft. An einer grundsätzlichen Interessenharmonie sind aber Zweifel angebracht. Erstens betonen hierarchische Strukturen gerade in tayloristisch organisierten Unternehmen die Interessengegensätze zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung {Bickenbach und Soltwedel 1998). Es bleibt offen, ob eine betriebliche Interessenvertretung friedensstiftend oder -störend agiert, da in der Praxis sich unterschiedliche Typen von Betriebsräten herausgebildet haben {Frick 1997; Funder 1999 und die dort zitierte Literatur). Zweitens fallen die Interessen zwischen

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1999 und die dort zitierte Literatur). Zweitens fallen die Interessen zwischen Kapitalgebem (Eigen- und (quasi-)spezifisches Humankapital) einerseits und Beschäftigten ohne besondere Bindung an das Unternehmen andererseits zeitlich auseinander ( Weizsäcker 1984 und 1999). Eine gesetzliche Regelung kann aber letztere nicht von der Mitbestimmung ausschließen, da weder der Gesetzgeber noch die Gerichte in der Lage sind, beispielsweise die relevante Unterscheidung zwischen betriebsspezifischem und allgemeinem Humankapital eines Arbeitnehmers zu fällen. Die langfristige Gewinnperspektive oder im Extremfall die Überlebensaussicht eines Unternehmens steht auf dem Spiel, wenn die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zumindest kurzfristig mit einer Beeinträchtigung des Nutzens der Belegschaftsangehörigen verbunden sind und durch ein gesetzlich legitimiertes Veto der Mitarbeiter blockiert werden (Furubotn 1985, 35). Eine freiwillige Mitbestimmungsregelung sichert dagegen der Geschäftsleitung das Recht zu, die Vereinbarung zu kündigen und den langfristigen Bestand der Unternehmung zu sichern. Der staatliche Eingriff in die Vertragsfreiheit ist aus ökonomischer Sicht nur dann legitim, wenn Marktversagen vorliegt und Verhandlungen über eine freiwillige Einräumung von Mitbestimmungsrechten fur die Mitarbeiter scheitern, obwohl positive Wohlfahrtswirkungen existieren. Ein erster Ansatzpunkt ist das Vorliegen von externen Effekten, wenn der aus einzelwirtschaftlicher Sicht der Unternehmung oder der Beschäftigten effiziente Umfang an Partizipationsrechten vom gesellschaftlichen Optimum abweicht, da beide Seiten lediglich die ihnen zufallenden Nettorenten in ihr Kalkül aufnehmen {Freeman und Lazear 1995). Die Verhandlungsstärke entscheidet, ob zuviel oder zuwenig Beteiligung vereinbart wird. Setzen die Unternehmen ihre Präferenz fur weniger Entscheidungsrechte durch, sind die sozialen Nettogrenzerträge der Mitbestimmung in der Verhandlungslösung positiv, so daß eine Ausdehnung aus gesamtwirtschaftlicher Sicht effizient ist. Dagegen sind die Grenzerträge der Mitbestimmung negativ, wenn es den Beschäftigten gelingt, den Umfang der Partizipation über das gesellschaftliche Optimum auszudehnen. Eine gesetzliche Regelung könnte die sich daraus ergebenden Ineffizienzen korrigieren, indem sie einen Mitbestimmungsumfang festlegt, welcher zwischen den beiden Maximalansprüchen liegt. Sie wird aber stets dann problematisch, wenn der von den Unternehmen freiwillig eingeräumte Umfang der Beteiligungsrechte ohnehin schon nahe am gesellschaftlichen Optimum liegt, so daß die Kompromißlösung eines politischen Verhandlungsprozesses von diesem wieder abrückt (Berthold und Stettes 2001b). Da sich zudem die Höhe der Kooperationsrente von Betrieb zu Betrieb unterscheidet, wird eine allgemeine, fur alle Unternehmen verbindlich geltende Regelung ihr Effizienzziel verfehlen. Es ist demzufolge nicht gesichert, daß eine gesetzliche Bestimmung einer Verhandlungslösung überlegen ist. Es bleibt dann die Frage, unter welchen Umständen bei externen Effekten das Coase-Theorem seine Gültigkeit verliert und ein Eingriff des Staates in den Markt eine effiziente Lösung herbeiführen kann. Obwohl ein Arbeitnehmer aufgrund der Personengebundenheit von Humankapital weiterhin in einer Angebotssituation steht, in welcher er bei Opportunismus durch die Unternehmensleitung mit einer Leistungsverweigerung reagieren kann, wird seine individuelle Verhandlungsposition gegenüber der Unternehmensleitung dennoch in der Regel schwächer sein. Das Risiko,

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daß sich die Gegenpartei ex post opportunistisch verhält, ist für einen betriebsspezifisch ausgebildeten Arbeitnehmer im Unterschied zum Eigentum bei Sachkapital nicht diversifizierbar (Frick et al. 1999, 750). Er hat daher ein starkes Interesse, seine Voice-Funktion gegenüber dem Unternehmen zu nutzen. Im Extremfall kann er diese Option aber erst durch eine kollektive Interessenvertretung ausüben. Die betriebliche Mitbestimmung ist aus Sicht des Beschäftigten ein Kollektivgut und ihre Bereitstellung mit den gängigen Free Rider-Problemen verbunden (Zingales 1998, 500 und die dort zitierte Literatur). Zwischen der Belegschaft und der Geschäftsleitung besteht eine Asymmetrie in den Transaktionskosten, welche eine Coase-Lösung zur Internalisierung der externen Effekte verhindern kann, da ein analoges Gefangenendilemma auf der Unternehmensseite nicht existiert. Zudem unterliegen die Arbeitnehmer Liquiditätsbeschränkungen auf den Kapitalmärkten. Der Kapitalseite wird damit die Möglichkeit gegeben, durch eine Verschleppung des Verhandlungsprozesses ein für sie günstiges Ergebnis herbeizuführen, indem sie die finanziellen Ressourcen des Beschäftigten vor Vertragsschluß erschöpft. Die im Betriebsverfassungsgesetz festgelegte Option, daß auf Antrag der Mitarbeiter ein Betriebsrat eingerichtet werden muß, überwindet die Transaktionskostenasymmetrie zuungunsten der Arbeitnehmer, die Verpflichtung der Unternehmen zur Finanzierung der betrieblichen Interessenvertretung (§§ 20 und 40 BetrVG) das Trittbrettfahrerproblem innerhalb der Belegschaft. Der Umfang, in dem freiwillig Kontroll- und Verfügungsrechte übertragen werden, hängt zudem stark von den Bedingungen auf Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten ab {Levine und Tyson 1990, 214ff.; Levine 1992). Sind die Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt nur unvollständig über die Eigenschaften der Bewerber informiert, wird eine adverse Selektion produktivitätsschwacher Arbeitnehmer verhindern, daß Unternehmen freiwillig den optimalen Umfang an Partizipationsrechten anbieten.4 Die betriebliche Mitbestimmung enthält zum Schutz der Quasi-Renten für die Mitarbeiter Regelungen, welche die Arbeitsplatzsicherheit erhöhen. Der Kündigungsschutz ist effektiv größer. Unternehmen werden bei der Einstellung die Bewerber nur unzureichend bzw. lediglich unter Inkaufnahme hoher Screening-Kosten unterscheiden können, ob diese zum Pool der „guten" oder der „schlechten" Arbeitnehmer gehören. Der größere Arbeitsplatzschutz lockt aber vor allem die produktivitätsschwächeren „schlechten" Beschäftigten an. Unternehmen, welche freiwillig keine Partizipationsrechte übertragen, nutzen nämlich die Entlassungsdrohung und damit die Arbeitslosigkeit als Leistungsanreiz und sparen hohe Screening-Aufwendungen bei der Rekrutierung. „Schlechte" Mitarbeiter laufen in mitbestimmungsfreien Unternehmen eher Gefahr, ex post entlassen zu werden, da sie die ex ante geforderte Leistung nicht erfüllen können. Sie werden daher solche Unternehmen bevorzugen, die einen höheren effektiven Kündigungsschutz anbieten. Im Gegensatz dazu werden produktivere Beschäftigte durch die Entlassungsdrohung nicht abgeschreckt. Die durchschnittliche Produktivität in Unternehmen mit Mitbestimmung wird unter diejenige ohne Mitbestimmung fallen, da sie einen höheren Anteil an „schlechten" Mitarbeitern zu verzeichnen haben. Unternehmen mit freiwilligen Partizipationsregelungen werden deshalb höhere Einstellungskosten zu tragen haben, welche 4

Frick (1997, 178), Junkes und Sadowski (1999, 60), Levine und Tyson (1990, 218).

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ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Gütermärkten derart beeinträchtigen können, daß die betriebliche Mitbestimmung nur in einem suboptimalen Umfang eingerichtet wird. Eine gesetzliche Regelung überwindet die adverse Selektion, da sich die produktivitätsschwachen Arbeitnehmer auf alle Unternehmen gleichmäßig verteilen werden {Levine und Tyson 1990, 219). Bei freiwilligen und insbesondere mit einzelnen Mitarbeitern geschlossenen Vereinbarungen über die Mitbestimmung am Arbeitsplatz oder im Betrieb wird opportunistisches Verhalten der Geschäftsleitung in der Regel nicht oder lediglich in Extremfällen durch Dritte beobachtbar sein. Die Reputation der Unternehmung auf dem Arbeitsmarkt bleibt dann der verbleibende Kontrollmechanismus für die Beschäftigten, um der Hold up-Gefahr zu entgehen. Wenn ein Unternehmen die Glaubwürdigkeit verliert, daß es die ex ante getroffenen Vereinbarungen zur Sicherung der Quasi-Renten ex post auch einhält, werden die Bewerber ihre Bereitschaft zur Kooperation und zur Bildung betriebsspezifischen Humankapitals einschränken. Nun werden insbesondere Klein- und Mittelunternehmen sowie Unternehmensneugründungen in der Regel nur in einem geringeren Maße über die erforderliche Reputation auf dem Arbeitsmarkt verfügen. Gleichzeitig brauchen sie auch nur einen geringeren Reputationsverlust bei einem opportunistischen Verhalten zu befürchten als Großunternehmen. Diese nehmen in der Öffentlichkeit eine exponiertere Stellung ein und müssen deshalb eher mit Sanktionen durch qualifizierte Bewerber rechnen. Eine gesetzliche Mitbestimmung dient als Reputationsersatz für solche Unternehmen, welche vor dem Hintergrund unvollkommener Informationen auf dem Arbeitsmarkt nicht in der Lage sind, glaubhaft die Einhaltung freiwilliger Partizipationsrechte zu signalisieren (Dilger et al. 1999). Während das Gefangenendilemma im Grunde eher für eine staatliche Regelung der Finanzierung durch die Arbeitnehmer spricht, rechtfertigen die Reputationsdefizite, daß die Finanzlast der betrieblichen Mitbestimmung von den Unternehmen getragen wird. Die Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes implizieren, daß die Betriebe anstelle der Kosten zum Aufbau der notwendigen Reputation ein Pfand hinterlegen, welches die Belegschaft dann einlösen kann, wenn die Glaubwürdigkeit des Unternehmens aus ihrer Sicht nicht ausreichend ist, um opportunistisches Verhalten auszuschließen. Da das Betriebsverfassungsgesetz die Machtposition der Arbeitnehmer stärkt und deren Spielraum erweitert, ihrerseits gegen die Interessen der Anteilseigner oder der Gesellschaft opportunistisch zu handeln, bedarf eine gesetzliche Regelung neben der notwendigen Voraussetzung des Marktversagens zusätzlich auch der Erfüllung einer hinreichenden Bedingung. Die Vorteile des staatlichen Eingriffes müssen größer sein als die Summe aus den Vorteilen freiwilliger Partizipationsarrangements und den Kosten des Mißbrauchs durch die Arbeitnehmer und ihrer Vertretungsorganisationen (Furubotn 1985, 32). Die Einsparung an Transaktionskosten durch das Betriebsverfassungsgesetz muß also die direkten und indirekten Kosten der betrieblichen Interessenvertretung überkompensieren, sonst würde das Marktversagen lediglich durch Staatsversagen ersetzt. Eine erste Antwort auf diese Frage sollte sich in der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und Betriebe sowie der Produktivität der Beschäftigten widerspiegeln. Die empirischen Untersuchungen über die Auswirkungen der freiwilligen und gesetzlichen Mitbestimmung auf die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen und die Arbeitspro-

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duktivität lassen jedoch keinen eindeutigen Befund erkennen (vgl. z.B. Frick 1997; Addison et al. 2000). Der theoretischen und empirischen Ambivalenz wird das gültige Betriebsverfassungsgesetz insofern gerecht, als die Implementierung eines Betriebsrates nicht per se verpflichtend ist, sondern der Initiative der Belegschaft bedarf. Eine Differenzierung der Mitbestimmungsrechte nach Größe des Betriebes berücksichtigt, daß die Transaktionskosten der Kooperation und Kontrolle mit zunehmender Anzahl der an den Entscheidungsprozessen beteiligten Personen oder Gruppen zunehmen. Interessanterweise wird aber der zentrale Bereich bei der Aufteilung und dem Schutz von Quasi-Renten aus Kooperation und Humankapitalinvestitionen, die Lohnverhandlung, dem Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes durch die betriebliche Regelungssperre des § 77, 3 BetrVG entzogen. Die Sicherungsfunktion im Betriebsverfassungsgesetz beschränkt sich vielmehr auf die indirekte Beeinflussung der Quasi-Rente durch Veränderungen in der Arbeitsorganisation oder durch die Personalpolitik. Alles in allem überwindet im Idealfall ein Transfer von Mitbestimmungsrechten die Informationsasymmetrien auf dem Arbeitsmarkt sowie das Free Rider-Problem innerhalb der Belegschaften. Das Betriebsverfassungsgesetz könnte dann als ein institutionell effizientes Regelsystem interpretiert werden, welches sicherstellt, daß die Arbeitsbeziehungen kooperativer werden und die vereinbarten Anteile an den Quasi-Renten den Arbeitgebern und Arbeitnehmern ex post auch zufallen. Es stellt sich angesichts der Diskussion um die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes die Frage, ob die Voraussetzungen, welche aus institutionenökonomischer Perspektive für die Implementierung des Betriebsverfassungsgesetzes in den 70er Jahren gesprochen haben, auch noch in Zukunft erfüllt sind.

IV. Die Reform der betrieblichen Mitbestimmung - Ausdruck von Staatsversagen? Die Reformschritte können in drei Kategorien eingeteilt werden: 5 (1) Betriebliche Organisation und Arbeitsverhältnisse, (2) Finanzierung der betrieblichen Mitbestimmung und (3) Art und Umfang der übertragenen Verfügungsrechte. Kann man der Intention des Gesetzgebers, die Reichweite des Betriebsverfassungsgesetzes an veränderte ökonomische Strukturen in den Unternehmen anzupassen, noch folgen, stellt sich die Frage, ob angesichts der Dezentralisierungstendenzen in den industriellen Beziehungen diese Funktion - im Grunde vorbehaltlos - ausgerechnet auf die Tarifvertragsparteien übertragen werden kann (§ 3 BetrVG). Sowohl Arbeitgeberverbände als auch Gewerkschaften sind im Unterschied zu Belegschaften und Unternehmern von den Folgen aus Entscheidungen, welche durch tarifvertraglich festgelegte Vertretungsorgane gefällt werden, nicht betroffen. Ein Mißbrauch bzw. kollektives Moral Hazard ist deshalb nicht auszuschließen, denn im Unterschied zur alten Regelung existiert keine unabhängige Kontrollinstanz im Vorfeld einer gerichtlichen Auseinan5

Das reformierte Betriebsverfassungsgesetz kann von der Homepage des Bundesarbeitsministeriums heruntergeladen werden, www.bma.de.

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dersetzung, sobald Unternehmensleitungen sich den Vereinbarungen des Tarifvertrages widersetzen. Gewerkschaften können zwar die Mitbestimmungsrechte selber nicht direkt ausüben, aber durch die Implementierung geeigneter Mitbestimmungsorgane ihren Mitgliedern einen größeren Einfluß auf betriebliche Entscheidimgsprozesse verschaffen. Problematisch könnte dies insbesondere in solchen Fällen werden, in denen Unternehmen ihrer Belegschaft ohnehin freiwillig Partizipationsrechte übertragen haben, wobei gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern insgesamt jedoch gegenüber anderen Beschäftigtengruppen ein geringerer Einfluß zugestanden wurde und diese Diskriminierung aus Effizienzgesichtspunkten gerechtfertigt ist. Eine ähnliche Überlegung gilt auch für Gesamt- und Konzernbetriebsräte (§§ 47ff. und 54ff. BetrVG). Es ist nicht gesichert, daß die Interessen der Mitarbeiter des mitbestimmungsfreien Betriebes mit jenen übereinstimmen, welche von der Mehrzahl in anderen Unternehmensteilen geteilt werden, so daß betriebsübergreifende Entscheidungen zu Lasten der Beschäftigten gefällt werden können, welche auf einen Betriebsrat verzichten.6 Die betriebliche Praxis muß wohl erweisen, ob es sich dabei eher um ein theoretisches Gedankenkonstrukt oder um eine reale Bedrohung des unternehmerischen Dispositionsrechtes sowie der Präferenzen und negativen Koalitionsfreiheit nicht organisierter Beschäftigter handelt. Das Gefahrenpotential ist indes vorhanden. Einer Redefinition des rechtlichen Geltungsbereiches für die betriebliche Mitbestimmung ist angesichts der Veränderungen bei den Unternehmensstrukturen dennoch aus ökonomischer Sicht im Grunde Positives abzugewinnen. Damit wird die Voraussetzung geschaffen, daß Unternehmen und Belegschaften sich auf andere Beteiligungsformen einigen können, ohne mit dem Betriebsverfassungsgesetz in Konflikt zu geraten. Die Ausdehnung des personellen Geltungsbereiches muß dagegen als klassisches Staatsversagen bezeichnet werden. Die Berücksichtigung von Leiharbeitsverhältnissen im Wahlrecht ist nicht nachzuvollziehen (§ 7 BetrVG). Leiharbeitnehmer dienen ja gerade dazu, lediglich temporäre Lücken in der Belegschaft zu schließen. Sie werden aus diesem Grunde weder in betriebsspezifisches Humankapital investieren, noch an einer umfangreichen und langfristigen Kooperation interessiert sein, da sie ihre Entlohnung vom Entleihunternehmen erhalten. Aus diesem Grunde fuhren Mitbestimmungsrechte für diese Beschäftigtengruppe zu einer ineffizienten Verzerrung der Allokation von Property Rights und Risiko. Es stellt sich femer die Frage, ob Heim- und Telearbeiter besonders schutzbedürftig sind (§ 5 BetrVG). Die Trennung des Arbeitsplatzes vom Betriebsstandort erhöht die Kontrollprobleme für die Unternehmen erheblich. Die Geschäftsleitung hat deshalb von sich aus ein hohes Interesse, solche Arbeitnehmer bei der Formulierung der Vorgaben und Handlungsanweisungen einzubinden, um Shirking oder Koordinations- und Kommunikationsprobleme zu überwinden. Wenn man die Existenz „atypischer" Beschäftigungsverhältnisse und die daraus resultierende Dualisierung des Arbeitsmarktes beklagt (Riester 2001, 10), muß man berücksichtigen, daß ihr Vordringen in erster Linie auf zu rigide Bestimmungen im Kündigungsschutz zurückzufuhren ist (Bertold et al. 2000, 6

Ahnliches gilt auch für die Regelung, daß Gesamtbetriebsräte ohne Antrag der Beschäftigten in einem Betrieb das Wahlverfahren einleiten.

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14). Die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung ist demzufolge ein inadäquates Instrument, um dem Trend, daß „normale" Arbeitsverhältnisse mehr und mehr durch „atypische" Formen zurückgedrängt werden, entgegenzutreten. Die Vereinfachung des Wahlverfahrens ist grundsätzlich ein sinnvoller Schritt, um die Unternehmen von den (Transaktions-)Kosten der betrieblichen Mitbestimmung zu entlasten (§§ 14ff. BetrVG). Die Kostenersparnis bei den Wahlverfahren wird jedoch an anderer Stelle wieder einkassiert (§§ 9, 38 und 40 BetrVG). Angesichts der steigenden Anforderungen an die betriebliche Interessenvertretung wird deren materielle Ausstattung insbesondere in Kleinunternehmen bemängelt (Mitbestimmungskommission 1999, 82). Diese Position übersieht aber, daß gerade in Klein- und Mittelunternehmen die direkte Partizipation mit geringeren Transaktionskosten verbunden ist als der indirekte Weg über eine kollektive Interessenvertretung {Addison et al. 2000, 362). Während in Großunternehmen dem Schutzmotiv eine höhere Bedeutung zukommt, wird in Kleinund Mittelunternehmen der Aspekt einer vertrauensvollen Zusammenarbeit dominieren. Geschäftsleitung und Arbeitnehmer können den Wert einer Kooperation um so besser einschätzen, je kleiner der Betrieb ist, da der Mitarbeiter einen relativ hohen Beitrag zur Ertragslage und Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes leistet. Die höhere Transparenz von Leistung und Gegenleistung erleichtert die direkte Mitarbeiterbeteiligung. Das Gefangenendilemma der betrieblichen Mitbestimmung wird aber nicht nur aufgrund der direkten individuellen Beteiligungsformen an Bedeutung verlieren. Auch kollektive Interessenvertretungen abseits eines Betriebsrates können in Kleinunternehmen leichter organisiert werden. Mit abnehmender Betriebsgröße nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß die Belegschaft eine privilegierte Gruppe bildet (Olson 1965). In kleinen überschaubaren Gruppen steigen zudem auch die direkten Sanktionsmöglichkeiten zwischen den Beschäftigten. Trittbrettfahren bei der Kostenbeteiligung stellt dann kein gravierendes Hindernis zur Implementierung einer effektiven Kooperation zwischen Inhaber und Arbeitnehmern dar. Die gesetzliche Mitbestimmung gilt prinzipiell als ein institutionelles Arrangement, welches fur zentralisierte Entscheidungsprozesse in den Betrieben konzipiert ist (Mitbestimmungskommission 1999, 39). Vor diesem Hintergrund muß die Vergrößerung der Mitbestimmungsorgane kritisiert werden, impliziert sie nämlich gerade in Klein- und Mittelunternehmen eine zusätzliche Bürokratisierung der Entscheidungswege, welche den Anforderungen im dynamischen Wettbewerb völlig zuwiderläuft. Die Vermutung, daß die zusätzliche Kostenbelastung für die Unternehmen nicht durch entsprechende Einsparungen bei den Transaktions- und Reputationskosten kompensiert wird, ist daher gerechtfertigt. Der Reformansatz übersieht, daß gerade für Klein- und Mittelunternehmen die direkte Partizipation eine kostengünstigere Alternative zu der Implementierung eines Betriebsrates bildet. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, daß an vielen Orten Maßnahmen der direkten Beteiligung im Rahmen eines Human Resource-Managements komplementär zu der betrieblichen Mitbestimmung sind (Miiller-Jentsch 1995, 69). Ein inhaltlicher Schwerpunkt bei dem Reformansatz der Bundesregierung liegt bei der Übertragung zusätzlicher gesamtwirtschaftlicher Aufgaben. Die Kompetenzen der betrieblichen Interessenvertretung werden inhaltlich deutlich ausgedehnt. Die Betriebs-

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räte sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern (§ 80, 1 BetrVG). Hinter diesem gesellschaftlichen Auftrag steht die Absicht, die Durchsetzung des Rechtsanspruches auf eine Teilzeitbeschäftigung durch flankierende betriebliche Maßnahmen zu erleichtern. Ob eine Förderung der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus ökonomischer Sicht einen Staatseingriff rechtfertigt oder nicht, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Konstatiert man jedoch Handlungsbedarf, ist dennoch nicht nachvollziehbar, warum der Arbeitgeber und nicht die Gesellschaft als Ganzes die Kosten für die Korrektur eines potentiellen Marktversagens bzw. zur Bereitstellung des meritorischen Gutes tragen soll. Es muß vielmehr befürchtet werden, daß Gewerkschaften versuchen werden, über Koppelgeschäfte zwischen Betriebsräten und Unternehmensleitungen eine Arbeitszeitverkürzung „light" zu implementieren, welche auf tarifvertraglicher Ebene nicht durchsetzbar ist. Auch bei dem zweiten Versuch, Marktunvollkommenheiten an anderer Stelle durch die Mitbestimmung zu beheben, läuft der staatliche Eingriff in die ordnungspolitisch falsche Richtung. Mit dem betrieblichen Umweltschutz erhält der Betriebsrat einen weiteren neuen Aufgabenbereich hinzu (§ 89 BetrVG), welcher die Mitbestimmungsrechte de facto auf nahezu alle unternehmerischen Entscheidungsfelder ausdehnt. Es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die Belegschaft eines Unternehmens zum Hüter des Umweltschutzes avancieren sollte. Einzig der Sachverhalt, daß die Arbeitnehmer die Geschädigten und die Geschäftsleitung den Schadensverursacher darstellen, sichert die Effizienz des staatlichen Eingriffes. Die Zuweisung von Property Rights an die Geschädigten (Arbeitnehmer) fuhrt nur in diesem Fall gemäß dem Coase-Theorem zu einer effizienten Internalisierung durch bilaterale Verhandlungen. An dieser Sichtweise sind jedoch erhebliche Zweifel angebracht. Zum einen müßte der Schaden lokal auf den Betrieb begrenzt sein. In diesem Fall schädigt der Eigentümer jedoch sein eigenes Vermögen. Zum anderen werden bei negativen Umweltexternalitäten, welche nicht an den Betriebstoren halt machen, Eigentümer und Belegschaft gleichermaßen zu den Schadensverursachern gezählt werden müssen. Aus ökonomischer Sicht wird die Modifizierung des § 89 BetrVG damit zum ordnungspolitischen Sündenfall, die effiziente Korrektur der Marktunvollkommenheit zur Makulatur. Diese Fehlkonstruktion im Referentenentwurf verstößt aber zusätzlich gegen das Prinzip der effizienten Allokation von Risiko und Verfügungsrechten. Dem Betriebsrat werden Mitbestimmungsrechte zugestanden, welche ihm einen großen Einfluß in nahezu allen originär unternehmerischen Entscheidungskompetenzen zugestehen. Ein zusätzlicher Schutz der Quasi-Renten für Arbeitnehmer ist aber nicht erforderlich. Damit verbleibt das Argument, der betriebliche Umweltschutz sei das Resultat eines Kooperationsspieles zwischen Management und Belegschaft, welches jedoch ohne den gesetzlichen Eingriff nicht zustande käme. Dies implizieren zumindest Aussagen des Bundesarbeitsministers {Riester 2001, 9). Wenn Maßnahmen des betrieblichen Umweltschutzes die privaten Grenzkosten auf das Niveau der sozialen Grenzkosten anheben sollen, wird die Wettbewerbsfähigkeit eines Betriebes gegenüber Konkurrenzunternehmen abnehmen, wenn diese auf ähnliche betriebsspezifische Umweltmaßnahmen verzichten. Dies senkt aber die Kooperationsrente und damit auch die Kooperationsbereitschaft beider Seiten. Der Transfer von Mitbestimmungsrechten auf das Feld des Umweltschut-

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zes verbessert weder die betriebs- noch die volkswirtschaftliche Effizienz, sondern erhöht nur den Spielraum der Beschäftigten, sich opportunistisch zu verhalten. Die Implementierung sowohl der Aufgabe zur Förderung von Familie und Beruf als auch des betrieblichen Umweltschutzes verstößt gegen die Prinzipien - (1) Treffsicherheit, (2) statische und (3) dynamische Effizienz - , welche bei der Implementierung von Internalisierungsverfahren beachtet werden müssen. Es droht vielmehr die Gefahr, daß insbesondere der modifizierte § 89 BetrVG zum Erfüllungsgehilfen von zwei weiteren Regelungen mutiert, welche im Reformgesetz vorgesehen sind. Zum Zwecke der Beschäftigungssicherung und -förderung wird dem Betriebsrat ein Vorschlagsrecht im originär unternehmerischen Gestaltungsraum eingeräumt (§ 92a BetrVG). Wenn auch die Entscheidung letztlich der Geschäftsführung vorbehalten bleibt, führt diese Bestimmung zu einer Verzögerung und Bürokratisierung ausgerechnet in einem dynamischen Umfeld, in dem Schnelligkeit und Flexibilität als die zentralen Parameter über die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens entscheiden. Zudem können die Arbeitgeber durch die erweiterte Mitbestimmungskompetenz in Umweltfragen zu Koppelgeschäften gezwungen werden. Das Vorschlagsrecht für Betriebsräte impliziert die Ausdehnung der unternehmerischen Mitbestimmung in einer abgeschwächten Form auf Unternehmen, welche nicht die Voraussetzungen für eine Arbeitnehmerbeteiligung in den Aufsichtsräten erfüllen. Die explizite Koppelung der betrieblichen Bildung mit Entscheidungen des Arbeitgebers, welche die Quasi-Rente des einzelnen Beschäftigten beeinflussen, implementiert de facto einen gesetzlichen Anspruch auf Fort- und Weiterbildung (§ 97, 2 BetrVG). Beide Regelungen greifen damit in einem weit größeren Ausmaß als das geltende Recht direkt in die Dispositionsfreiheit des Arbeitgebers ein. Diese Einschränkungen sind lediglich dann gerechtfertigt, wenn die Gefahr durch opportunistisches Verhalten einer Geschäftsleitung im Zuge des Strukturwandels der letzten dreißig Jahre zugenommen hat. Nun ließe sich aus der steigenden Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitern die Schlußfolgerung ziehen, daß die Beschäftigten zunehmend in betriebsspezifisches Humankapital investierten. Dadurch erhöhte sich ihr Risiko, denn der Hold up-Erwartungswert der Arbeitgeber nähme zu. Ein großer Teil der Investitionskosten im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmer wird jedoch von den Unternehmen getragen {Institut der deutschen Wirtschaft 1999; Weiß 1994). Mehr als die Hälfte der Aufwendungen von Unternehmen für die betriebliche Bildung entfallen auf die Lohnfortzahlung. Die Qualifizierungsmaßnahmen finden überwiegend im Rahmen der täglichen Arbeitszeit statt oder können im Falle von Abend- oder Wochenendkursen auf diese angerechnet werden. Auch die direkten Kosten werden in hohem Maße durch den Betrieb finanziert. Häufig verbleibt als wichtigster Kostenbestandteil für die Arbeitnehmer nur die Last des Lernens.7 Die Humankapitalinvestition zerfallt damit in zwei Teile. Das Unternehmen stellt das Finanzkapital zur Verfügung, während der Arbeitnehmer dieses Finanzkapital in betriebsspezifisches Humankapital umwandelt. Ein Betrieb, welcher damit den eigentlichen Investor und Anspruchsberechtigten auf die Qua-

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Zu den unterschiedlichen Kostenbestandteile fur Arbeitnehmer und Arbeitgeber siehe z.B. Beer (1999).

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si-Rente stellt, kann den Grad der Spezifität der Ressource Humankapital jedoch nur in einem geringen Ausmaß beeinflussen. Damit ergibt sich eine entscheidende Implikation für die betriebliche Mitbestimmung. Die geplante Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes verletzt den Grundsatz eines effizienten Corporate Governance-Systems, wonach diejenige Partei unter den Investoren die Kontroll- und Verfügungsrechte ausüben sollte, welche den geringsten Einfluß auf den Spezifitätsgrad der Investition hat {Rajan und Zingales 1998). Die Arbeitnehmer gewinnen durch den Zugang zu den Finanzressourcen zusätzliche Verhandlungsmacht. Ihre Option Leistungs- und Kooperationsverweigerung erhält einen höheren Wert {Rajan und Zingales 1998, 405). Vor diesem Hintergrund werden sogar die momentanen Regelungen hinsichtlich des Umfangs der Mitbestimmungsrechte in Frage gestellt, ein zusätzlicher Transfer von Property Rights an die Beschäftigten ist indes auf keinen Fall erforderlich. Dies impliziert nicht, daß die Arbeitnehmer in Zukunft keine Mitspracherechte ausüben können oder sollten. Im Gegenteil, Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden sich statt dessen auf freiwilliger Basis auf den adäquaten Umfang der Partizipationsrechte einigen. Die Gefahr, daß der Staat durch den gesetzlichen Eingriff die Effizienz der Arbeitsbeziehung reduziert, statt die Marktunvollkommenheit zu beheben, hat im organisatorischen Wandel eher zugenommen. Dafür spricht auch noch ein weiterer Aspekt. Die Verweigerung zusätzlicher Mitbestimmungsrechte entschärft in dynamischer Sicht die Gefahr, daß unterschiedliche Beschäftigtengruppen versuchen, sich gegenseitig auszubeuten und dadurch die Handlungsfähigkeit eines Unternehmens einschränken. Die zunehmende Heterogenität innerhalb der Belegschaft im strukturellen Wandel verschärft die Interessenkonflikte innerhalb der Belegschaft bei der Aufteilung von Quasi-Renten aus spezifischen Investitionen. Dazu zählt nicht nur die Polarisierung zwischen Kern- und Randbelegschaft {Snower 1999) sowie zwischen Gering- und Hochqualifizierten {Saint-Paul 1999 und 2000), sondern insbesondere zwischen Jung und Alt {Berthold und Stettes 2001a, 30). Im organisatorischen Wandel nehmen die Komplementaritäten der Aufgaben und Tätigkeiten für den einzelnen Mitarbeiter einerseits und zwischen den Beschäftigten in einem Team anderseits zu {Lindbeck und Snower 2000). Das Hold up-Potential zwischen den verschiedenen Belegschaftsgruppen steigt, denn ein einzelner Mitarbeiter kann durch eine Einschränkung seiner Leistungsbereitschaft den Output jedes anderen Teammitgliedes negativ beeinflussen. Da das Betriebsverfassungsgesetz in der jetzigen Form den Anreiz erhöht, in betriebsspezifisches Humankapital zu investieren, drohen sich die Rentenkonflikte zu verschärfen. Um die Summe aller erwarteten Einbußen durch Hold up gering zu halten, werden die Eigner das Bestreben haben, den Zugang zu der kritischen Ressource Humankapital zahlenmäßig einzugrenzen {Rajan und Zingales 1998, 403). Ein allgemeiner faktischer Weiterbildungsanspruch droht deshalb zu einer Gefahr des betrieblichen Friedens zu mutieren. Gleiches gilt auch für die Übertragung von Verfügungsrechten. Unternehmen werden die Partizipationsmöglichkeiten nur auf individueller Ebene einräumen statt für die gesamte Belegschaft. Die Ausweitung der Schutzfunktion im Reformentwurf droht dagegen die Betriebe langfristig zu skierotisieren. Bisher beruhte die Analyse auf der Prämisse, daß die steigende Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitern im inter- und intrasektoralen Strukturwandel durch Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital befriedigt wird. Es spricht jedoch viel dafür, daß

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betriebsspezifische Qualifikationen gegenüber dem allgemeinen Humankapital an Bedeutung verlieren {Berthold und Stettes 2001a, 31ff.). Bei einem transferierbaren personengebundenen Wissen ist jedoch kein zusätzlicher Schutz für Quasi-Renten erforderlich, welcher über die bisherigen Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes hinausgeht, denn das Hold up-Risiko für den Arbeitnehmer verringert sich eher. Zudem beteiligen sich im Unterschied zu Aussagen der klassischen Humankapitaltheorie die Unternehmen auch an der Finanzierung von Investitionen in allgemeines Humankapital.8 Ein opportunistisches Verhalten der Unternehmensführung wird zunehmend unwahrscheinlicher, da diese mit der Finanzierung der allgemeinen betrieblichen Bildung den Mitarbeitern ein Pfand hinterlegt, mit dem sie die ex ante-Aufteilung der Kooperationsrente garantiert. Das Unternehmen verliert seinen Anteil der Quasi-Rente und damit die Chance auf die Amortisation der Investitionskosten, wenn der Arbeitnehmer das Vertragsverhältnis aufkündigt und das Unternehmen verläßt. Das Opportunismusrisiko sinkt aber noch aus einem zweiten Grund. In holistischen Organisationen steigen die Kontrollkosten zur Überwachung der Arbeitsleistung der Arbeitnehmer an (Snower 1999, 48ff.). Vor dem Hintergrund der Kündigungsschutzbestimmungen in Deutschland wird die Entlassungsdrohung des Arbeitgebers zur Abwendung von Shirking unglaubwürdiger, denn die Rechtfertigung der Kündigung vor dem Arbeitsgericht aufgrund eines personellen Fehlverhaltens fällt immer schwerer. Die Position des Beschäftigten in ex post-Verhandlungen über die Aufteilung von Quasi-Renten aus spezifischen Humankapitalinvestitionen oder Kooperationsrenten wird gestärkt, seine Verhandlungsmacht nimmt zu. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung wird aufgeweicht. Es ist fraglich, ob der Arbeitnehmer des hohen gesetzlichen Schutzes vor betrieblichen Veränderungen bedarf, wie er im künftigen Betriebsverfassungsgesetz vorgesehen ist. Ein de facto rechtlicher Anspruch auf Weiterbildung geht deshalb in die völlig falsche Richtung. Alles in allem schwächt sich im organisatorischen Wandel die Legitimation des staatlichen Eingriffes in die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher Ebene ab. Dies gilt insbesondere fur das Schutzargument zu Gunsten betriebsspezifischer Humankapitalinvestitionen seitens der Arbeitnehmer. Der kooperative Aspekt innerhalb der Arbeitsbeziehung als Determinante der unternehmerischen Wettbewerbsfähigkeit gewinnt zunehmend an Bedeutung und erleichtert das Zustandekommen freiwilliger Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Um ihre Reputation auf den Arbeitsmärkten zu erhöhen und hochqualifizierte Arbeitnehmer zu attrahieren, werden die Unternehmen mehr und mehr dazu übergehen, ein von ihnen finanziertes Weiterbildungsangebot an den Arbeitsvertrag anzukoppeln. Die geplante Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes erhöht die quasi-fixen Beschäftigungskosten für die Unternehmen, schützt die Insider und fordert die Dualisierung des Arbeitsmarktes eher, als sie abzubauen. Sie läuft letztlich damit ihrer eigenen Zielsetzung zuwider, die Beschäftigung zu fordern. Indem die Reform den Besitzstand spezifisch ausgebildeter Arbeitnehmer sichert, wird die Flexibilität der Unternehmen behindert. Die langfristigen Folgen der Besitzstandswahrung sind verheerend (Berthold 8

Ballot

( 1994), Pichler ( 1991 ), Stettes ( 1999),

Stevens

( 1999).

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und Stettes 2001c). Notwendige Anpassungen werden nicht nur behindert, sondern auch noch in die falsche Richtung gelenkt. Die betriebliche Mitbestimmung stimuliert inkrementale Innovationen (Mitbestimmungskommission 1999, 67). Der Prozeß der schrittweisen Verbesserung von Produkten und Fertigungsprozessen verringert die Wahrscheinlichkeit, daß bisher akkumuliertes Erfahrungs- und Anwendungswissen obsolet wird. Die Amortisationszeit des betriebsspezifischen Humankapitals ist länger als bei umwälzenden radikalen Innovationen. Es überrascht daher auch nicht, daß die deutsche Wirtschaft insbesondere in den Medium-Tech-Sektoren Wettbewerbsvorteile gegenüber der ausländischen Konkurrenz verzeichnet (Technologiebericht 2000; Legier et al. 2000), während sie in High-Tech-Bereichen mit radikalen Innovationen hinterher hinkt. Letztere werden jedoch im sich forcierenden strukturellen Wandel immer bedeutsamer für die langfristigen Einkommensperspektiven, da die Medium-Tech-Sektoren sich auf lange Sicht zunehmend dem internationalen Preiswettbewerb ausgesetzt sehen. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß das Betriebsverfassungsgesetz nicht zu den Exportartikeln Deutschlands in andere Industriestaaten gezählt werden kann (Institut der deutschen Wirtschaft 2001). Aus Sicht der ökonomischen Analyse sind von den vorgestellten Reformvorschlägen keine Wohlfahrtsgewinne zu erwarten. Statt dessen ist in Deutschland durch die geplante Novelle mit einer Verschlechterung der Standortbedingungen zu rechnen. In einem volatileren Umfeld beeinträchtigt die Komplementarität von Institutionen, welche zu Rigiditäten auf den Märkten fuhren, in erheblichem Maß die gesamtwirtschaftliche Effizienz (Berthold 2000; Saint-Paul 2000). Die Bedeutung des Risikokapitalmarktes als Finanzierungsquelle von Investitionen der Unternehmen und damit für die langfristige Beschäftigungsperformance steigt im strukturellen Wandel (Belke und Fehn 2000). Für die Entwicklung eines solchen Marktes zur Unternehmensfinanzierung und damit für das Investitionsverhalten der Unternehmen rückt das Ausmaß der relativen Schutzbestimmungen für Investoren und Arbeitnehmer als entscheidende Determinante in den Blickpunkt (Fehn 2001). Die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes stärkt das Übergewicht der Schutzbestimmungen zugunsten der Insider auf der Arbeitnehmerseite gegenüber den Kapitalgebern und erhöht den Spielraum für opportunistisches Verhalten von Seiten der Beschäftigten. Die Folgen sind fatal. Da mit der Ausweitung der Mitbestimmung keine positiven Effizienzwirkungen verbunden sind, senkt das reformierte Betriebsverfassungsgesetz die langfristigen Gewinnperspektiven und damit die Investitionsbereitschaft der Unternehmen. Die Arbeitgeber werden mit Zurückhaltung bei inländischen Investitionen und einer Zunahme von Direktinvestitionen im Ausland reagieren. Der Versuch, dem Hold up der Insider zu entgehen, wird von der Gesellschaft teuer bezahlt. Auf lange Sicht sinken die Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland. Von der Ausgestaltung der betrieblichen Mitbestimmung und ihrer geplanten Ausweitung profitieren einzig die Gewerkschaften und die von ihnen repräsentierten (fach-) spezifisch ausgebildeten Arbeitnehmer. Hoch- und Geringqualifizierte sowie die Arbeitslosen sind dagegen die Verlierer der Reform. Es überrascht nicht, daß sich die Gewerkschaften an vorderster Front zu Wort melden, wenn für die Ausdehnung der Mitbestimmungsrechte gefochten wird. Die Reform der betrieblichen Mitbestimmung dient in erster Linie dazu, der Erosion des Gewerkschaftseinflusses entgegenzuwirken. Der be-

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trieblichen Mitbestimmung liegt zwar im Prinzip der Gedanke zugrunde, daß die Betriebsräte von den Gewerkschaften unabhängig sind, im Alltag existieren jedoch zwischen beiden Institutionen wechselseitige Abhängigkeiten {Müller-Jentsch 1995, 6Iff.; 1999, 292ff.). Der organisatorische Wandel bedroht aber auf existenzielle Weise die deutschen Branchengewerkschaften und ihr Selbstverständnis als einziges Vertretungsorgan abhängig Beschäftigter. Aus der Perspektive einer Massengewerkschaft sind Hoch- und Unqualifizierte schwerer zu organisieren, da die Bedürfnisse innerhalb der beiden Subgruppen heterogener sind. Der spezifisch ausgebildete Facharbeiter, welcher das typische Mitglied einer Industriegewerkschaft9 repräsentiert, ist gleichzeitig aber auch der charakteristische Beschäftigte der tayloristischen Arbeitswelt. Die Zahl der organisierten Arbeitnehmer ist deshalb im freien Fall, und zwar insbesondere bei jungen Berufstätigen.10 Der Zusammenhalt zwischen der Gewerkschaft heutiger Prägung und den Arbeitnehmern geht deshalb im strukturellen Wandel mehr und mehr verloren. Bezeichnend für diese Entwicklung ist die schwindende Bindung von Betrieben und Beschäftigten an Tarifverträge (Müller-Jentsch und Ittermann 2000, 160). Insbesondere der Trend zu kleineren Untemehmenseinheiten gerät zur Bedrohung der Massengewerkschaften des Industriezeitalters. Undifferenzierte Einheitsforderungen gehen an den Bedürfnissen der Beschäftigten völlig vorbei. Es liegt auf der Hand, daß die Gewerkschaften versuchen, sich diesem Prozeß entgegenzustellen. Die beobachtbare Erosion des Einflusses auf die Arbeitsbeziehungen erschwert den Funktionären die effektive Vertretung ihrer Mitgliederinteressen. Sie wählen daher den Umweg über den Gesetzgeber. Die politische Einflußnahme und der daraus resultierende staatliche Eingriff ersetzen die abnehmende Verhandlungsstärke der Gewerkschaften bei der unmittelbaren Regelung der Arbeitsbeziehungen, um die Insider-Rente zu schützen (Saint-Paul 2000). Die politische Schlagkraft der Gewerkschaften ist im Vergleich zur ökonomischen Macht weiterhin beträchtlich. Das Betriebsverfassungsgesetz wird demzufolge dazu mißbraucht, ihren faktischen Machtverfall aufzuhalten. Es dient dazu, den Spielraum der Insider zu erhalten, damit sie auch in Zukunft die Folgen ihres beschäftigungsfeindlichen Verhaltens auf Dritte abwälzen können. Der zunehmende internationale Wettbewerb auf den Güter- und Kapitalmärkten sowie der sich beschleunigende technische Fortschritt machen dieses Unterfangen zwar mehr und mehr zunichte, aber um einen hohen Preis. Er geht insbesondere auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft. Die Novelle reiht sich damit ein in die Liste der Maßnahmen der Bundesregierung während der vergangenen zwei Jahre, welche die Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt wieder erhöht und den Schutz der Insider auf Kosten der Outsider weiter gestärkt haben. Die Reregulierung sendet ein völlig falsches Signal an in- und ausländische Investoren. Eine durchgreifende nachhaltige Belebung des Arbeitsmarktes und der Abbau der unerträglich hohen strukturellen Arbeitslosigkeit rücken in noch weitere Ferne. Gerade aus der Sicht von Komplementaritäten zwischen verschiedenen Institutionen muß die Reform skeptisch beurteilt werden. 9 Die Begriffe Branchen- und Industriegewerkschaften werden hier synonym verwendet. 10 Der Mitgliederbestand in Gewerkschaften und Organisationsgrad in der Wirtschaft hat alleine seit 1991 um ein Drittel abgenommen. Noch drastischer ist der Verlust an Attraktivität der Gewerkschaften für jüngere Arbeitnehmer mit über 60 Prozent (Miiller-Jentsch und Ittermann 2000, 91 und 94).

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V. Einige wirtschaftspolitische Bemerkungen zum Schluß Die gesetzlich verankerte betriebliche Mitbestimmung kann auch im 21. Jahrhundert eine einzel- und volkswirtschaftlich effiziente Institution sein und maßgeblich zur Verbesserung der weiterhin existierenden Beschäftigungskrise in Deutschland beitragen. Die Bundesregierung hat jedoch mit dem vorliegenden Reformgesetz vorläufig die Chance verpaßt, die Institution Mitbestimmung in adäquater Form zu modernisieren. Obwohl sie die Dezentralisierung und Individualisierung der Arbeitsbeziehungen als entscheidenden Trend des strukturellen Wandels erkannt hat, ist die Novelle dennoch alten Denkschemata treu geblieben und vom Geist der Zentralisierung und Überlegenheit staatlicher Eingriffe durchzogen. Es soll weiterhin einer gesetzlichen Lösung Priorität gegenüber Verhandlungslösungen eingeräumt werden ( Wassermann 2000, 702). Den Unternehmen wird ein Unverständnis für die Notwendigkeit freiwilliger Partizipationsformen unterstellt, welches in der Realität nicht mehr oder allenfalls noch in Einzelfällen vorhanden ist (Furubotn 1985, 28). Es wird übersehen, daß direkte Beteiligungsformen mit und ohne Betriebsrat auf dem Vormarsch sind.11 Die Betriebsverfassung der Zukunft muß Lösungen anbieten, welche den immer heterogeneren Interessen in der Gruppe der Arbeitnehmer und Unternehmungen gerecht werden. Sie muß gleichzeitig die Voraussetzung schaffen, daß der unternehmerische Entscheidungsprozeß sich beschleunigt. Das ist am besten möglich, wenn die Zusammenarbeit von Beschäftigten und Arbeitgebern auf dezentraler, betrieblicher Ebene organisiert wird. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Dezentralisierung der Lohnverhandlungen und gleichzeitig die Implementierung von Gewinnbeteiligungen als Lohnsystem {Berthold und Stettes 2001a, 38ff.). Die Partizipation der Belegschaft an dem Unternehmensüberschuß verringert die innerbetrieblichen Interessenkonflikte, indem sie das eigennützige Verhalten auf ein gemeinsames Ziel lenkt. Sie ist in diesem Sinne ein Instrument, mit dessen Hilfe die Verbindung zwischen organisatorischer Rente und Hierarchie innerhalb des Betriebes gelockert werden kann. Der Widerstand der verschiedenen Koalitionsteilnehmer gegen Veränderungen durch Rent-Seeking nimmt ab (.Milgrom und Roberts 1995, 252ff.). Die derzeitige Ausgestaltung der Tarifautonomie und der betrieblichen Mitbestimmung stehen jedoch einer komplikationsfreien Implementierung von Gewinnbeteiligungssystemen im Wege. Da eine Gewinnbeteiligung infolge der Beschäftigungsausdehnung zu einer faktischen Lohnsenkung führen kann oder der zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung vereinbarte Basislohn geringer ausfallt als der tarifvertraglich festgesetzte Fixlohn (Schares 1996; Michaelis 1998), ist fraglich, ob trotz einer ParetoVerbesserung betrieblich ausgehandelte Gewinnbeteiligungen nach der derzeitig geltenden Rechtsauffassung nicht gegen das sogenannte Günstigkeitsprinzip und damit letztlich gegen den § 77, 3 BetrVG verstoßen. Die Regelungssperre verhindert sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene effiziente vertragliche Lösungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer. Die Zahl der Alternativen mit zulässigen effizienten Kombinationen von pekuniären und nicht-pekuniären Lohnkomponenten wird unnötig 11 Müller-Jeittsch und Ittermann (2000, 225), Freeman und Kleiner (2000), OECD (1999, 179ff.).

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eingeschränkt (Furubotn 1985, 32). Partizipation der Arbeitnehmer an den Entscheidungsprozessen und Gewinnbeteiligungen gehen jedoch Hand in Hand (Levine und Tyson 1990; Gill und Krieger 2000). Leistungsorientierte Vergütungssysteme erfordern gemeinsame Zielvereinbarungen zwischen Arbeitnehmer und Geschäftsleitung (Bender 2000, 176). Der betrieblichen Interessenvertretung erwachsen hieraus neue Aufgaben bei den Entlohnungsfragen der Zukunft. Sie fungiert nicht nur als Verhandlungspartner fur die Geschäftsleitung, sondern mehr und mehr als Begleiter der direkten Partizipation auf individueller Ebene. Betriebsräte werden als Schiedsrichter und Kontrollinstanz die direkte Arbeitnehmerbeteiligung stärken und in solchen Fällen moderieren, in welchen das Verständnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber über die Rolle des Mitarbeiters differieren ( Weitbrecht und Mehrwald 1999, 114). Die Richtung fur eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes ist vorgezeichnet. Der Staat beschränkt sich auf die Festlegung von Mindestbedingungen. Diese sollten sich am Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer orientieren, die Überlebenschance der Unternehmungen aber nicht aus dem Auge verlieren. Offenkundige Probleme der gegenwärtigen rechtlichen Grundlage, wie ein ineffizientes Konfliktlösungsverfahren, sollten ausgemerzt, neue Schwierigkeiten, wie geringere Schwellenwerte, nicht mutwillig geschaffen werden. Ein entscheidender Schritt wäre getan, wenn es Arbeitnehmern und Arbeitgebern erlaubt würde, in individuellen Vereinbarungen oder Verhandlungen auf betrieblicher Ebene von den Mindestbedingungen des Betriebsverfassungsgesetzes abzuweichen. Es sollte allein den betrieblichen Akteuren überlassen bleiben, sich für die Lösungen zu entscheiden, die sie für günstig halten. Bei mündigen Arbeitnehmern ist dies eine pure Selbstverständlichkeit, eine Zwangsbeglückung durch den Staat ist verfehlt. Der einzelne Betrieb wird sich in Zukunft mehr und mehr als dominierende Ebene der industriellen Beziehungen herauskristallisieren. Die Vorschläge der Bundesregierung zur Reform der betrieblichen Mitbestimmung sind weitgehend mißglückt. Die Ausdehnung der Mitbestimmungsrechte auf Tarifparteien und „atypische" Beschäftigungsverhältnisse, die Neuregelungen zur Finanzierung der Mitbestimmungsorgane sowie die Ausweitung auf neue Aufgabengebiete stellen eine Abkehr von Effizienzerwägungen dar. Die Reform ist im besten Fall durchdrungen von paternalistischer Staatsgläubigkeit und einem Mißtrauen gegenüber marktwirtschaftlichen Lösungen, im schlechtesten Fall die Folge von Rent Seeking der beschäftigten Insider. Unabhängig davon, auf welche der beiden Seiten sich die Waage des Urteils zuneigt, verletzt die Gesetzesnovelle die Grundprinzipien effizienter Herrschafts- und Überwachungssysteme und impliziert daher ein Staatsversagen. Die Reform verpaßt zudem die Chance, durch eine Modifizierung der betrieblichen Regelungssperre die Lohnverhandlungen komplikationsfrei zu dezentralisieren und die Effizienz der Arbeitsbeziehungen zu steigern. Betriebliche Lohnverhandlungen und Vereinbarungen in FlächentarifVerträgen könnten sich in idealer Weise ergänzen. Ergebnisse aus der Auseinandersetzung zwischen den Tarifpartnern bieten Belegschaften und Kapitalgebern sowohl einen Orientierungspunkt als auch eine Rückversicherung bei betrieblichen Lohnverhandlungen. Die Abschlüsse in Unternehmen und Betrieben die-

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nen auf der Gegenseite als Kontrolle und Korrektiv überhöhter Bestimmungen aus zentralen Lohnverhandlungen und werden die Arbeitslosigkeit deutlich absenken helfen. Zusammengefaßt sollte die künftige Form der Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften, Betriebsräten und Unternehmen offen sein für differenzierte Lösungen, welche dem Entdeckungsverfahren Wettbewerb entspringen. Gesetzliche Regelungen oder vertragliche Vereinbarungen auf einer übergeordneten, zentraleren Ebene müssen einen ausreichenden Grad an Verbindlichkeit einnehmen, so daß sie als Rückfallpositionen dienen und Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen einen Mindestschutz vor einem opportunistischen Verhalten der Gegenseite bieten. Anderseits müssen sie flexibel und offen für abweichende dezentrale Vereinbarungen auf untergeordneten Regulierungsebenen sein, womit das Überwachungs- und Kontrollsystem den spezifischen Anforderungen im Betrieb oder in der individuellen Arbeitsbeziehung angepaßt werden kann. Der prinzipiellen Abdingbarkeit der Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes muß Vorrang vor einer staatlichen und kollektiven Bevormundung eingeräumt werden. Unterhalb der Betriebsratsebene müssen Beschäftigte als Einzelne oder in Gruppen differenzierte Vereinbarungen mit der Geschäftsleitung abschließen können, um die spezifischen Anforderungen der individuellen Arbeitsbeziehung oder von Projektteams zu erfüllen. Damit wird erstens der zunehmenden Heterogenität innerhalb der Belegschaft Rechnung getragen und zweitens ein Mechanismus implementiert, welcher Minderheiten vor der Ausbeutung durch eine Mehrheit schützt, wenn letztere entgegengesetzte Interessen verfolgt. Literatur Addison, John T., Claus Schnabel und Joachim Wagner (2000), Die mitbestimmungsfreie Zone - e i n Problemfeld?, Wirtschaftsdienst, 80. Jg., S. 361-365. Aoki, Masahiko (1984), The co-operative game theory of the firm, Oxford. Ballot, Gerard (1994), Continuing education and Schumpeterian competition: elements for a theoretical framework, in: Rita Asplund (Hrsg.), Human capital creation in an economic perspective, Helsinki, S. 160-174. Beer, Doris (1999), Betriebliche Weiterbildung fur geringqualifizierte Arbeitnehmer, in: Doris Beer, Bernd Frick, Renate Neubäumer und Werner Sesselmeier (Hrsg.), Die wirtschaftlichen Folgen von Aus- und Weiterbildung, München und Mehring, S. 165-194. Belke, Ansgar und Rainer Fehn (2000), Institutions and structural unemployment: do capital market imperfections matter?, Center for European Studies Working Paper 00.8, Harvard University, Cambridge MA. Bender, Gerd (2000), Dezentral und entstandardisiert: Neue Formen der Entgeltdifferenzierung, Industrielle Beziehungen, Band 7, S. 157-179. Berthold, Norbert (2000), Mehr Beschäftigung: Sisyphusarbeit gegen Tarifpartner und Staat, Bad Homburg. Berthold, Norbert und Oliver Stettes (2001a), Die betriebliche Mitbestimmung und die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Zeichen des strukturellen Wandels: Eine institutionenökonomische Analyse, Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge des Lehrstuhls für Volkswirtschaftlehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik Nr. 44, Bayerische Julius-MaximiliansUniversität, Würzburg. Berthold, Norbert und Oliver Stettes (2001b), Die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland: Gratwanderung zwischen Markt- und Staatsversagen, erscheint in WiSt, 30. Jg.

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ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Viktor Vanberg

Konstitutionellökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit „Die Wettbewerbswirtschaft wiederum ist ein kulturelles Wunderwerk, das auf ein hohes Maß von pflegehafter Verwaltungskultur, einsichtiger Grundsatzfestigkeit, Achtung vor der individuellen Freiheit, Liebe zur individuellen Freiheit, Willen, diese Freiheit zu behaupten, und von Rechtsbewußtsein angewiesen ist, das also nur bei hochgespannter Daueranstrengung eines politisch geschulten, freiheitsliebenden Volkes vor Verfall geschützt werden kann." F. Böhm (1950, XXXV) 1

I. Einleitung Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit teilt das Schicksal so mancher Standardbegriffe: Die Selbstverständlichkeit, mit der sie allenthalben benutzt werden, steht nicht selten im Kontrast zu der Interpretationsbedürftigkeit, die deutlich wird, wenn man genauer zu bestimmen sucht, was konkret mit ihnen gemeint ist. So besteht zwar unter Autoren, die sich der ordoliberalen Tradition zurechnen oder ihr nahestehen, einhelliger Konsens darüber, daß die Sicherung von Wettbewerbsfreiheit die wesentliche Richtschnur für eine ordnungspolitisch orientierte Wettbewerbspolitik darstellt.2 Daraus kann man aber keineswegs folgern, daß völliges Einverständnis darüber bestünde, was unter „Wettbewerbsfreiheit" genau zu verstehen ist. Nicht nur von Kritikern, die der ordoliberalen Tradition distanziert gegenüberstehen, ist die Interpretationsbedürftigkeit des Konzepts moniert worden. Auch unter Autoren, die dieser Tradition verpflichtet sind, ist seine inhaltliche Bedeutung und sein normativer Geltungsanspruch keineswegs unumstritten.

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Ahnlich heißt es bei Böhm an anderer Stelle (1980, 200): „Denn eine rational ablaufende Marktwirtschaft kommt nicht etwa dadurch zustande, daß man durch Gesetz die Gewerbefreiheit einführt und sodann die Dinge laufen läßt, wie sie laufen. Vielmehr fordert dieses sich selbst steuernde System das Vorhandensein und die dauernde Pflege und Verbesserung einer ganzen Reihe von politischen, rechtlichen, sozialen, zivilisatorischen Vorbedingungen, das Vorhandensein einer ziemlich hochgezüchteten sozialen Parklandschaft". Möschel (1984, 165) kennzeichnet den wettbewerbspolitischen Ansatz der ordoliberalen Tradition als einen „freedom-to-compete approach" - Erich Hoppmann (1988, 307) spricht wohl in diesem Sinne nur das Kernpostulat dieser Tradition aus, wenn er von der „Orientierung der Wettbewerbspolitik an der Wettbewerbsfreiheit" spricht, die Notwendigkeit betont, „den wettbewerblichen Prozeß ... gegen Beschränkungen zu sichern" (292), und feststellt: „Die Rolle des Staates kann es hier nur sein, die Wettbewerbsfreiheit aller aktiv zu sichern, indem er geeignete Spielregeln schafft und ihre Einhaltung überwacht" (360).

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In diesem Beitrages geht es darum, einige der Interpretationsprobleme, die das Konzept der Wettbewerbsfreiheit aufwirft, aus der Sicht der Constitutional Economics eingehender zu untersuchen und einen Versuch zu ihrer Klärung zu unternehmen. Zu einer solchen Klärung kann, so werde ich zu zeigen suchen, der konstitutionenökonomische Ansatz gerade deshalb einen Beitrag leisten, weil er die Unterscheidung zwischen der konstitutionellen Ebene der Wahl zwischen Regeln und der sub-konstitutionellen Ebene der Wahl innerhalb von Regeln mit besonderer Konsequenz zum analytischen Leitgesichtspunkt macht. Diese Unterscheidung liegt zwar auch dem ordoliberalen Forschungsprogramm zugrunde, sie ist aber in der Ausführung dieses Programms nicht immer mit gleichem Nachdruck betont worden. Mein Hauptargument wird denn auch sein, daß die mit dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit verbundenen Interpretationsprobleme ihre Ursache in dem Versäumnis haben, nicht mit ausreichender Konsequenz zwischen der konstitutionellen und sub-konstitutionellen Bedeutung des Konzepts zu unterscheiden, und daß sie sich vermeiden lassen, wenn man diese Unterscheidung konsequent im Auge behält.

II. Die konstitutionenökonomische Perspektive Die insbesondere durch Arbeiten von James M. Buchanan inspirierte Constitutional Economics3 geht von dem Gedanken aus, daß Menschen sich dadurch gemeinsam besserstellen können, daß sie wechselseitig Bindungen eingehen, in ähnlicher Weise wie sie durch den Tausch von Gütern oder Leistungen wechselseitige Vorteile realisieren können. Bei solchen gemeinsamen Bindungen geht es darum, daß die Beteiligten ihren Umgang miteinander gewissen Restriktionen - etwa bestimmten Spielregeln - unterwerfen. Die aus solchen gemeinsamen Bindungen erhofften Vorteile resultieren daraus, daß der zu erwartende Handlungsablauf unter den vereinbarten Restriktionen für alle Beteiligten wünschenswertere Eigenschaften aufweist, als es ansonsten der Fall wäre. Vereinbarungen oder Verträge, durch die solche wechselseitige Selbstbindungen erfolgen, werden in der Constitutional Economics allgemein als konstitutionelle Verträge oder Verfassungsverträge betrachtet. Der Begriff der Verfassung oder Konstitution wird damit weit allgemeiner gefaßt, als es seiner üblichen Verwendung im Sinne der Regelordnung staatlicher Gemeinwesen entspricht. Eine grundlegende, und offenkundige, Eigenschaft konstitutioneller Verträge liegt darin, daß sie gegenüber sub-konstitutionellen Transaktionen und Vereinbarungen systematische und legitimatorische Priorität genießen. Sie legen die Spielregeln fest, an die sich die Vertragsparteien bei der Ausführung von Handlungen und sozialen Transaktionen innerhalb des konstitutionell geregelten Handlungsbereichs binden, und sie geben damit das Kriterium an, nach dem zu entscheiden ist, welche Handlungen und welche Verträge in diesem Bereich zulässig bzw. nicht zulässig sind. Das heißt, die subkonstitutionelle Entscheidungsfreiheit der beteiligten Parteien ist notwendigerweise konstitutionell begrenzte Entscheidungsfreiheit.

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Für eine detailliertere Erörterung siehe etwa Vanberg (1998; 1999 und 2000).

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Entsprechend muß man die Interessenabwägungen, die die einzelnen bei ihren Entscheidungen im Rahmen von Verfassungen leiten, strikt unterscheiden von den Interessenabwägungen, die sie dazu veranlassen, konstitutionelle Bindungen einzugehen. Oder anders gesagt, man muß unterscheiden zwischen den konstitutionellen Interessen, die sich auf die Frage beziehen, welche unter möglichen alternativen Regelordnungen man vorzieht, und den sub-konstitutionellen oder Handlungs-Interessen, die sich auf die Frage beziehen, welche Strategiewahl man in einer konkreten Entscheidungssituation im Rahmen gegebener Regeln vorzieht. Der Umstand, daß die von den vereinbarten Spielregeln auferlegten Beschränkungen durchaus in konkreten Situationen mit den eigenen situationsspezifischen Handlungsinteressen in Konflikt geraten können, weil sie verlokkende Handlungsalternativen verbieten, ändert nichts an der Vorteilhaftigkeit der Verfassung, solange diese im konstitutionellen Interesse der Beteiligten liegt. Darin zeigt sich lediglich, daß die Vertragsparteien durch Verfassungsvereinbarungen ihre gemeinsamen konstitutionellen Interessen nur dann wirksam durchsetzen können, wenn sie auch Bedingungen schaffen, die dafür sorgen, daß auf der sub-konstitutionellen Ebene die Respektierung der Spielregeln in ausreichendem Maße im Handlungsinteresse aller Beteiligten liegt.4 Im Kontext der hier zu behandelnden Frage nach der Rolle von Wettbewerbspolitik interessiert natürlich vor allem die Anwendung der allgemeinen konstitutionenökonomischen Sichtweise auf den Bereich der Politik. Wie Buchanan betont hat, geht es ihm mit seinem Ansatz darum, die grundlegende Logik der ökonomischen Theorie marktlichen Handelns in konsistenter Weise auf den Bereich kollektiven, politischen Handelns zu übertragen.5 Das konstitutionenökonomische Paradigma versteht Buchanan dabei als Alternative zum wohlfahrtsökonomischen Maximierungsparadigma. Der herkömmlichen Wohlfahrtsökonomik mit ihrer utilitaristischen Fiktion einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion wirft Buchanan vor, den theoretischen Brückenschlag von der ökonomischen Analyse marktlichen Handelns zur Analyse politischen Handelns in verfehlter Weise zu versuchen, indem sie die Vorstellung individuellen rationalen Handelns im Sinne der Maximierung individuellen Nutzens auf die Ebene kollektiven, politischen Handelns überträgt und die Maximierung einer gesellschaftlichen Nutzenfunktion zum Kriterium „rationaler Politik" macht. Damit werde aber in einer mit dem methodologischen und normativen Individualismus des ökonomischen Paradigmas in4

In metaphorischer Sprechweise kann man sagen, daß es bei konstitutionellen Vereinbarungen um die Wahl des Spiels geht, das man spielen möchte, im Unterschied zu der Wahl von Spielzügen im Rahmen gegebener Regeln. Das Ziel, ein wünschenswertes Spiel zu spielen, ist entsprechend zu unterscheiden von dem Ziel, ein gegebenes Spiel möglichst erfolgreich zu spielen. In der ersten Frage sind die konstitutionellen Interessen der Beteiligten der relevante Maßstab, bei der zweiten geht es um ihre Handlungsinteressen, also ihre Interessen bezüglich der unter gegebenen Rahmenbedingungen zu wählenden Spielzüge. 5 Dieses Vorhaben erstreckt sich zum einen auf die Frage der systematischen Erklärung politischer Prozesse auf der Grundlage derselben theoretischen Annahmen, insbesondere der Annahme eigeninteressierten Handelns der beteiligten Akteure. Dies ist der Gegenstand der von Buchanan mitbegründeten Public Choice-Theorie. Das Buchanansche Projekt zielt zum anderen auf die Frage, welche Rolle Ökonomik als angewandte politische Ökonomie, also bei der beratenden Anleitung politischen Handelns spielen kann, d.h. als „Wirtschaftspolitik" im Sinne der deutschen Bezeichnung des Faches.

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konsistenten Weise „die Gesellschaft" als Quasi-Subjekt hypostasiert, mit all den daraus resultierenden Ungereimtheiten, die seit den Benthamschen Anfangen Anlaß fur vielfältige Kritik und fur fortlaufende Modifikationen der utilitaristischen wohlfahitstheoretischen Konstruktion geboten haben.6 Buchanan schlägt demgegenüber vor, die Verbindung zwischen der ökonomischen Theorie des Marktes und einer ökonomischen Theorie der Politik dadurch herzustellen, daß man den fur die Theorie des Marktes konstitutiven Gedanken der wechselseitigen Tauschvorteile, der „gains from trade", auch auf den Bereich der Politik anwendet. Damit wird man in Buchanans Sicht dem Verständnis von Ökonomik als der Wissenschaft von den „gains from trade" am ehesten gerecht, das in ihren klassischen Wurzeln, der politischen Ökonomie von Adam Smith, angelegt war. In diesem Verständnis ist Ökonomik die Wissenschaft von den Methoden sozial produktiver Kooperation, den Sozialtechnologien, die den Menschen erlauben, gemeinsame oder wechselseitige Vorteile zu erzielen. Während das Grundparadigma der Ökonomik als Wissenschaft von den „gains from trade" auf den marktlichen Tausch konzentriert ist, als einer Transaktion, bei der die Beteiligten durch ihre freiwillige Zustimmung zu erkennen geben, daß sie sich eine Besserstellung erhoffen, geht es Buchanan bei seinem Plädoyer für eine Generalisierung des „gains from trade"-Paradigmas darum, den Gedanken der wechselseitigen Besserstellung durch freiwillige Kooperation systematisch auch auf nicht-marktliche Handlungsbereiche auszudehnen. Im Sinne des „gains from trade"-Paradigmas wird auch kollektives politisches Handeln als mögliche Sozialtechnologie für sozial produktive, wechselseitig vorteilhafte Kooperation betrachtet. Kollektives politisches Handeln ist aus dieser Sicht ein Instrument, das die Mitglieder eines politischen Gemeinwesens, d.h. die Bürger, nutzen können, um Vorteile zu realisieren, die auf anderem Wege nicht oder weniger zweckmäßig zu realisieren wären. Politische Gemeinwesen werden als kooperative Unternehmen gesehen, in denen Menschen zum wechselseitigen Nutzen zusammenwirken, in ganz ähnlicher Weise, in der sie auch durch den freiwilligen Zusammenschluß in Genossenschaften, Verbänden oder Vereinen gemeinsame Vorteile zu erzielen suchen, ungeachtet der besonderen Merkmale, die solche Gemeinwesen ansonsten von „freiwilligen Vereinigungen" im üblichen Sinne unterscheiden. Dabei geht es vor allem auch um Vorteile, die durch die gemeinsame Bindung an Regeln realisiert werden können, also durch das, was Buchanan als „exchange of commitments" umschreibt. Maßstab dafür, welche Regelbindungen Vorteile für alle Beteiligten versprechen, sind die konsensfähigen konstitutionellen Interessen. Und letztendlicher Indikator dafür, ob eine Regelordnung im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten liegt, ist freiwillige Zustimmung, die freiwillige Bereitschaft, sich der Ordnung zu unterwerfen. Auch im Zentrum der ordoliberalen Konzeption steht, wie erwähnt, die systematische Unterscheidung zwischen einer konstitutionellen und einer sub-konstitutionellen Entscheidungsebene, zwischen der Wahl von Spielregeln und der Wahl von

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Zur näheren Erläuterung siehe etwa Vanberg (2000). - In einer der Buchananschen Sicht ähnlichen Weise hat Mestmäcker (1975, 416ff.) den wohlfahrtsökonomischen Ansatz aus ordoliberaler Perspektive kritisiert.

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Spielzügen im Rahmen einer gewählten Regelordnung.7 Als in politischen Gemeinwesen organisierte Gruppen, dies ist hier der Leitgedanke, können Menschen die Regelordnung gestalten, unter der sie leben. Sie haben Wahlmöglichkeiten bezüglich der Verfassung, durch die sie ihr Zusammenleben ordnen wollen. 8 Und ihre Verfassungswahl ist prioritär gegenüber den sub-konstitutionellen Entscheidungen, die sie im Rahmen der gewählten Spielregeln treffen dürfen. Sie bindet die Beteiligten in der Frage der zulässigen Spielzüge.9 Die Verfassungswahl ebenso wie die Pflege und Durchsetzung einer gewählten Verfassung sind notwendigerweise Angelegenheiten, die nur von organisierten Gruppen vorgenommen werden können. Und dort, wo es um die Verfassungswahl für die in einem territorial umschriebenen Raum zusammenlebenden Menschen geht, kann diese nur durch organisierte politische Gemeinwesen als Territorialverbände erfolgen, also in juristischer Sprechweise als öffentlich-rechtlicher Akt. Sie erfolgt, in Böhms Worten, notwendigerweise durch den Staat als dem Exekutivorgan der per se nicht handlungsfähigen Gesellschaft.10 Dabei ist, insbesondere bei politischen Gemeinwesen als intergenerationalen Verbänden, die Verfassungswahl nicht ein einmaliger, in sich abgeschlossener und endgültiger Akt, sondern sie erfordert in einer sich ständig wandelnden Welt und bei sich wandelnder Mitgliedschaft eine Anpassung an neue Einsichten und veränderte Gegebenheiten.

III. Wettbewerbsfreiheit und Wirtschaftsverfassung In den Kontext der erläuterten Konzeption ist die ordoliberale Vorstellung von der Rolle von Wirtschaftspolitik allgemein und von Wettbewerbspolitik insbesondere einzuordnen.11 Wirtschaftspolitik erhält ihren Auftrag aus der Entscheidung fur eine be7

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Zur Verwendung des Begriffs der „Spielregel" bemerkt Böhm (1980, 126, Fn. 3): „Der Begriff der .Spielregel' ist wichtig, erregt aber bei einigen Autoren Anstoß, denen es offenbar schwer fallt, der Geringschätzung Herr zu werden, die durch die Ideenassoziation: Roulette, Skat oder Fußball nahegelegt wird. Nun läßt sich aber schlechterdings nichts daran ändern, daß es Subordinationsordnungen und Koordinationsordnungen gibt und daß die Lenkung der Beteiligten bei Subordinationsordnungen durch Befehl und Weisungen, bei Koordinationsordnungen aber durch Spielregeln erfolgt und daß die moralisch-staatsbürgerliche Tugend dessen, der gelenkt werden soll, bei Subordinationsordnungen der Gehorsam und bei Koordinationsordnungen die Faimeß ist". In seinem Gedenkaufsatz für Walter Eucken hebt Böhm (1950, XLI) hervor, daß Eucken mit seinem Hinweis auf „Ordnungsmöglichkeiten" einen „Durchbruch ... in eine Welt der freien und verantwortlichen Wahl" bewirkt und zur „Belebung des Denkens in Ordnungsmöglichkeiten" (XLIII) beigetragen habe. So betont Wernhard Möschel (1989, 151) als zentralen Gedanken der Böhmschen Denktradition, „that all parties obey the rules of the game", und er stellt fest: „Behind this is a well developed theory of economic constitutionality". - D.J. Gerber (2001, 15) faßt die Auffassung der Begründer der Freiburger Schule mit den Worten zusammen: „The economy needed to be imbedded in a constitutionallegal framework. ... The economic constitutionalist concept ... promised that people were to choose their own constitution." „The community chooses its economic constitution, and from that point governmental decisions must be justified by reference to it" (17). Böhm (1960, 43) spricht von der „Erkenntnis der Wirtschaftsordnung als einer öffentlich-rechtlichen Institution und des Staates als des Trägers dieser Institution". Möschel (1992, 67) spricht von „einem spielregelorientierten Verständnis des Wettbewerbsrechts".

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stimmte Wirtschaftsverfassung. Ist eine Verfassungsentscheidung aufgrund der Einschätzung getroffen, daß das gewählte Spiel im Vergleich zu in Betracht kommenden Alternativen vorzugswürdig ist, so gibt sie die primäre Quelle der Kriterien ab, an denen die Angemessenheit von Wirtschaftspolitik zu messen ist. Aus „der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung, die mit der Option für das marktwirtschaftliche System und die privilegienlose Zivilrechtsgesellschaft getroffen worden ist" (Böhm 1980, 164),12 ergibt sich nach ordoliberalem Verständnis der zentrale Stellenwert des Kriteriums der Wettbewerbsfreiheit. Konstitutives Merkmal des Spiels „marktliche Wettbewerbsordnung" ist, daß die Beteiligten ihre Beziehungen durch freiwillige vertragliche Vereinbarungen koordinieren und daß es ihnen freisteht, sich mit attraktiven Leistungsangebot um die Gunst potentieller Tausch- und Kooperationspartner zu bewerben, in Konkurrenz mit anderen Anwärtern. Wenn man dieses Spiel des Leistungswettbewerbs seiner insgesamt wünschenswerten Funktionseigenschaften wegen spielen will, dann ist unabdingbar, daß das für sein Funktionieren konstitutive Prinzip der Vertragsfreiheit, und damit auch die Freiheit des Wettbewerbs mit attraktiveren Leistungsangeboten, erhalten und gesichert bleibt. In diesem Sinne kann Erich Hoppmann vom „Test der Wettbewerbsfreiheit" {Hoppmann 1988, 270) als dem Prüfstein einer solchen marktwirtschaftlichen Wettbewerbspolitik sprechen13 und davon, daß die „Wertsetzung, die in dem Ziel einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung enthalten ist" (294), der staatlichen Wettbewerbspolitik die Sicherung der Wettbewerbsfreiheit als Aufgabe vorgibt.14 In ähnlichem Sinne stellt Wernhard Möschel im Hinblick auf die von Franz Böhm, Ernst-Joachim Mestmäcker und ihm selbst vertretene Forschungstradition fest, die ordoliberale Sicht von Wettbewerbspolitik sei primär auf das Ziel der Sicherung individueller Handlungsfreiheit ausgerichtet {Möschel 1989, 142; 2001, 4, 9), und er betont, daß nach ordoliberalem Verständnis das Wettbewerbsrecht eingebettet sei in eine „umfassende Ordnungsidee", an deren Basis „wirtschaftliche Handlungsfreiheiten" {Möschel 1990, 167) stehen.15 Obschon dem Kriterium der Wettbewerbsfreiheit in der ordoliberalen Tradition offenkundig eine ganz zentrale Rolle zukommt, sind seine genaue Bedeutung und sein normativer Gehalt, wie eingangs bemerkt, keineswegs unumstritten. Interpretationsprobleme treten vor allem deshalb auf, weil nicht immer mit ausreichender Klarheit unterschieden wird zwischen der Rolle, die diesem Kriterium als Richtschnur für Wettbewerbspolitik im Rahmen einer marktlichen Wirtschaftsverfassung zukommt, und der Bedeutung, die ihm auf der konstitutionellen Ebene, also als Kriterium für die Gestal12 Die Entscheidung für die Wirtschaftsverfassung einer marktlichen Wettbewerbsordnung sieht Franz Böhm (1966) dabei im historischen Kontext der Ablösung einer feudalen Privilegienordnung durch eine privilegienfreie Privatrechtsordnung, in einem Ordnungswechsel, der in England eine Angelegenheit evolutionären Rechtswandels war und der sich auf dem europäischen Kontinent vor allem im Gefolge der französischen Revolution vollzog. 13 Hoppmann (1988, 359): „Freiheit des Wettbewerbs ist... Voraussetzung dafür, daß das Marktsystem seine Leistungen entfalten kann". 14 Hoppmann (1988, 252): „Wenn man also Wettbewerbspolitik als Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik begreift, ... hat Wettbewerbspolitik die Aufgabe, die Entscheidung für den Wettbewerb als einen gesamtwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus zu vollziehen". 15 Siehe nach. Möschel (1984, 159) und Mestmäcker (1998a, 105).

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tung der Wirtschaftsverfassung, zugeschrieben werden soll. Darauf hat etwa Dieter Schmidtchen (1988) in seinem Aufsatz „Fehlurteile über das Konzept der Wettbewerbsfreiheit" aufmerksam gemacht, in dem er sich mit der Frage des normativen Gehalts des Kriteriums der Wettbewerbsfreiheit auseinandersetzt. Aus der „Definition des Wettbewerbs als Spiel, das sich aus der Ausübung der Wettbewerbsfreiheit am Markt ergibt" (Schmidtchen 1988, 119), und aus dem Umstand, „daß das Wettbewerb genannte Marktspiel erst durch die Spielregeln konstituiert wird", folge, so argumentiert Schmidtchen, daß man nur unter Bezug auf diese Spielregeln angeben könne, worin Wettbewerbsfreiheit bestehe und was als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung zu werten sei. Wettbewerbsfreiheit bestehe dann nämlich in der Wahrnehmung der im Rahmen der Spielregeln zulässigen Handlungsoptionen, während Wettbewerbsbeschränkungen als spielregelwidrige, also verbotene Wettbewerbshandlungen anzusehen seien (119).16 Entsprechend habe eine die Wettbewerbsfreiheit sichernde Wirtschaftspolitik eine klar definierte Aufgabe. Sie habe „das zu tun, was der Schiedsrichter in einen Fußballspiel zu tun hat: nämlich zu entscheiden, ob ein Foul (Spielregelverstoß) vorliegt oder nicht und im Falle eines Spielregelverstoßes eine Sanktion zu verhängen" (131 f.). - Wenn man aber anerkenne, so argumentiert Schmidtchen, „daß man sinnvoll über Wettbewerbsbeschränkungen nur sprechen kann, wenn man eine Rechtsordnung unterstellt" (119),17 dann könne man Wettbewerbsfreiheit nicht gleichzeitig als normatives Kriterium für die Beurteilung der Spielregelordnung selbst heranziehen.18 Nun ist ja gerade in der ordoliberalen Tradition stets betont worden, daß Freiheit ,,'regelgebundene' Freiheit" {Hoppmann 1988, 151) ist, daß die Wettbewerbsordnung „ein System rechtlich verfaßter Freiheiten" (72) ist und daß der „Wettbewerbsfreiheit... durch die Spielregeln klar umrissene Grenzen gesetzt" (300) sind.19 Erich Hoppmann (1988, 291) spricht daher eine in dieser Tradition selbstverständlich akzeptierte Auffassung aus, wenn er feststellt: „Freiheit im Rahmen der Marktprozesse ist nicht absolut, sondern relativ zu verstehen. Sie kann nur bedeuten, daß jedem Teilnehmer ein gewisser

16 Schmidtchen (1988, 119): „Berechtigte Handlungen können keine Wettbewerbsbeschränkungen darstellen. ... Wenn jemand im Spiel zu Handlungen berechtigt ist, dann können diese Handlungen niemals gegen das Spiel verstoßen" . 17 Schmidtchen (1988, 119): „Im Hobbesschen Zustand der Anarchie gibt es ... keine Wettbewerbsbeschränkungen ... . Daraus erhellt femer, daß die jahrzehntelang und auch heute noch eifrig betriebene Suche nach Wettbewerbsbeschränkungen an sich verfehlt ist. Es gibt keine Wettbewerbsbeschränkungen vor aller Rechtsordnung". 18 Im Hinblick auf die Bewertung der Spielregeln stellt Schmidtchen (1988, 120) fest: ,Auf den ersten Blick könnte man meinen, das normative Kriterium sei die Wettbewerbsfreiheit selbst. Wenn eine petitio principii vermieden werden soll, muß dies ausscheiden, denn rechtliche Freiheit wird mit der rechtlichen Erlaubnis erst gesetzt und kann demgemäß nicht als Auswahlkriterium für das rechtlich zu Erlaubende gelten". 19 Böhm (1960, 202): „Die der marktwirtschaftlichen Ordnung spezifisch zugeordnete Freiheit ist die Privatautonomie, d.h. die Freiheit, die dem Privatrechtssubjekt zusteht". - „Den Wirtschaftsbeteiligten stehen zur Ausführung ihrer autonomen Pläne nur die Befiignisse zu, die das Privatrecht gewährt" (201).

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,Spielraum' gesichert bleibt, in dem er nach eigenen Zielen und Wünschen selbst bestimmen kann".20 Wenn aber Wettbewerbsfreiheit ein regelbezogenes Konzept ist, wenn Wettbewerbsfreiheit an Spielregeln gebunden und in ihrem spezifischen Inhalt durch Spielregeln definiert ist, dann ist keineswegs offenkundig, in welchem Sinne dieses Konzept gleichzeitig als Maßstab für die Spielregeln selbst herangezogen werden kann. Wenn „Wettbewerbsfreiheit" in der Wahrnehmung der Handlungsrechte besteht, die eine Regelordnung den Akteuren einräumt, wie kann „Wettbewerbsfreiheit" dann gleichzeitig das Kriterium dafür abgeben, welche Handlungsrechte die Regelordnung einräumen sollte. Was ist dann mit „Spielregeln, die die Wettbewerbsfreiheit sichern" (Hoppmann 1988, 309), oder mit „Spielregeln gegen Wettbewerbsbeschränkungen" (294) gemeint und was mit „rules against unfair competition ... which impairs free action" (Möschel 1989, 160)?21

Ein ordoliberaler Ansatz zur Wettbewerbspolitik, der gerade den Gedanken der ordnungspolitischen Gestaltung des wettbewerblichen Regelrahmens betont, kann aus dem Umstand, daß Wettbewerbsfreiheit stets regelgebunden ist, ganz offenkundig nicht die relativistische Folgerung ziehen, daß „Wettbewerbsfreiheit" deshalb nur als ein rein immanentes Kriterium anwendbar ist, als ein Kriterium also, das lediglich relativ zu einer gegebenen Regel- oder Rechtsordnung einen angebbaren Sinn hat, das aber zum Vergleich zwischen alternativen Regelordnungen nichts sagen kann.22 Denn neben der Regeldurchsetzung sieht dieser Ansatz die Hauptaufgabe von Wettbewerbspolitik ja ausdrücklich darin, den Regelrahmen im Sinne einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung gestaltend zu pflegen, den wettbewerblichen Prozeß durch Regeln so zu „'lenken', daß die .Wettbewerbsfreiheit' fiir die Teilnehmer erhalten bleibt" (Hoppmann 1988,299). Aus dem genannten Umstand wird man aber wohl folgern müssen, daß mit „Wettbewerbsfreiheit" auf den beiden Ebenen, der sub-konstitutionellen und der konstitutionellen Ebene, nicht dasselbe Kriterium gemeint sein kann. Im einen Falle geht es um ein Kriterium, an dem die im Rahmen einer Wirtschaftsverfassung ausgeführten Hand-

20 Hoppmann (1988, 359): „Das Marktsystem vollzieht sich notwendigerweise innerhalb einer bestimmten sozialen, rechtlichen und institutionellen Ordnung, die durch Gesetz und Gewohnheit gegeben ist; sie ist der Rahmen, innerhalb dessen sich der Wirtschaftsverkehr vollzieht. Zu diesem Rahmen gehören die Verhaltensregeln, die den allgemeinen Charakter des Marktprozesses bestimmen ähnlich wie Spielregeln den Charakter eines Spiels". 21 Die gleiche Frage stellt sich, wenn E.-J. Mestmäcker von einer „Gesetzgebung gegen Wettbewerbsbeschränkungen" (1998a, 106) spricht, bzw. von den „rules of the game of freedom of competition" (1998b, 343) und von „rules against restrictions on competition" (343). 22 Eine gewisse relativistische Tendenz klingt bei Schmidtchen (1983, 15, 18) an, wenn er aus dem zutreffenden Umstand, daß die „Festlegung dessen, was Marktteilnehmer dürfen, ... Ausdruck von Werturteilen (ist), die sich räumlich-zeitlich und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden" (Schmidtchen 1988, 120), folgert: „Von Freiheitsgefahrdung kann nur in bezug auf ein gegebenes .assignment' von .property rights' und nur in bezug auf ein gegebenes Wertesystem gesprochen werden" (1983, 18). - Auch zu der Frage, in welchem Sinne das Kriterium der „Freiheitlichkeit" zum Vergleich alternativer Regelordnungen herangezogen werden kann, vermag, wie im folgenden zu zeigen sein wird, ordnungsökonomische Analyse Klärendes beizutragen, ein Umstand, der aus dem Blick geraten kann, wenn man betont: „Eine erfahrungswissenschaftlich orientierte Wettbewerbstheorie ist vom Ansatz her außerstande, solche Kriterien eigenständig zu entwickeln" (Schmidtchen 1983, 15).

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lungen zu messen sind (nämlich: ob sie den geltenden Spielregeln entsprechen oder nicht), im anderen Falle geht es um ein Kriterium, das auf Eigenschaften der Regelordnung selbst abstellt (nämlich ob es sich um eine „freiheitliche" Ordnung handelt).

IV. Wettbewerbfreiheit als konstitutionelles Kriterium Auf der sub-konstitutionellen Ebene beinhalten „Sicherung von Wettbewerbsfreiheit" und „Verhinderung von Wettbewerbsbeschränkungen" einen eindeutigen Auftrag an die Wettbewerbspolitik. Was als legitime Äußerung von Wettbewerbsfreiheit zu schützen und was als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung zu werten ist, bemißt sich nach den auf der konstitutionellen Ebene vereinbarten Spielregeln.23 Sicherung von Wettbewerbsfreiheit bedeutet hier, die geltenden Spielregeln durchzusetzen und regelwidrige Handlungen zu unterbinden, wobei dies - entgegen der eingeschränkten Ausrichtung des üblichen Wettbewerbsrechts24 - konsequenterweise nicht nur im Hinblick auf private Wirtschaftsakteure, sondern auch im Hinblick auf staatliche Akteure gelten sollte.25 Nicht ganz so offenkundig ist jedoch, wie das Kriterium der Wettbewerbsfreiheit auf der konstitutionellen Ebene zu interpretieren ist, in welcher Weise es eine ordnungsgestaltende Wettbewerbspolitik anleiten soll, die die „Spielregeln für die Marktteilnehmer" (Hoppmann 1988, 272) festlegen soll.26 Denn es ist keineswegs selbstverständlich, was unter „freiheitssichemden Spielregeln" (Hoppmann 1988, 360) zu verstehen ist und wie die Grenze zwischen „legitimate competitive behavior" (Möschel 1984,166) und wettbewerbsbeschränkendem Verhalten gezogen werden sollte. Was allgemein unter einer freiheitlichen Ordnung zu verstehen ist, hat Franz Böhm (1966) in seinen Ausführungen zur Privatrechtsordnung als einer privilegienfreien Regelordnung fur den Verkehr unter Rechtsgleichen und Gleichfreien mit hinreichender Klarheit beschrieben.27 Außer Frage steht, daß damit eine Regelordnung gemeint ist, die Raum läßt für individuelle Handlungsfreiheit und fur Wettbewerb, und zwar in zweierlei Hinsicht, einerseits, was die Frage der Abgrenzung privater Handlungsrechte gegen-

23 Um diese Ebene geht es, wenn es bei Hoppmann (1988, 314) heißt, daß „Zwang, Irreführung und Betrug als Wettbewerbsbeschränkungen anzusehen" sind. 24 Hoppmann (1988, 366): „Vor allem aber ist das GWB nicht auf hoheitliche und hoheitlich veranlaßte Wettbewerbsbeschränkungen anwendbar, so daß die hoheitliche Gewalt zwar die Spielregeln wie ein Schiedsrichter überwacht, bei ihren eigenen Aktivitäten jedoch nicht verpflichtet ist, sie zu respektieren". 25 Hoppmann (1988, 132): „'Verhinderungen von Wettbewerb' bzw. Wettbewerbsbeschränkungen können durch hoheitliche Maßnahmen oder durch beschränkende Verträge zwischen Privaten zustande kommen". 26 Hoppmann (1988, 299): „Wettbewerbspolitik hat es de lege ferenda mit der Neuformulierung derartiger Verhaltensregeln oder mit der Anpassung bestehender Regeln zu tun". 27 Böhm (1960, 174): „Dieses Unterworfensein von Individuen ... unter ein für alle gleiches, nur die Prozedur regelndes Gesetz ist aber identisch mit dem, was politisch, sozial und rechtsstaatlich als Freiheit bezeichnet wird. Es ist eine Freiheit, die ihre Grenze findet in der gleichen Freiheit aller übrigen Mitglieder der Gesellschaft. Ein solches Freiheitssystem nannten die Griechen .Isonomia'". - Möschel (1989, 149) spricht von einer „normative order that is based on the equality of rights and on personal liberty".

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über dem Staat anbelangt, und andererseits, was die Frage der wechselseitigen Abgrenzung der Handlungsrechte der Individuen untereinander anbelangt. Beim ersten Aspekt geht es um das Verhältnis zwischen dem Ausmaß, in dem Verfügungsrechte von den Individuen selbständig wahrgenommen werden können, und dem Ausmaß, in dem Verfügungsrechte kollektiver Kontrolle durch staatliche Organe unterliegen. Anders gesagt, es geht um die Abgrenzung des durch allgemeine Spielregeln koordinierten Bereichs privaten Handelns, d.h. der spontanen Ordnung der Privatrechtsgesellschaft, von dem durch Organisationsregeln bestimmten Bereich öffentlich-rechtlichen Handelns, des Staates.28 Den offenkundigen Kontrast zu einer „freiheitlichen" Ordnung in diesem Sinne bildet eine sozialistische Ordnung, die darauf ausgerichtet ist, wirtschaftliche Handlungsrechte weitgehend unter kollektive, politische Kontrolle zu nehmen. Je stärker sich die Grenze zulasten privater Verfügung und zugunsten politischer Kontrolle verschiebt, je stärker also der Spielraum für individuelle Handlungsfreiheit oder Privatautonomie eingeschränkt wird, um so weniger kann man in diesem Sinne von einer Ordnung sprechen, in der Wettbewerbsfreiheit herrscht.29 Unter einer Wirtschaftspolitik, die sich um „freiheitssichernde Spielregeln" bemüht, wäre dementsprechend eine regelgestaltende Politik zu verstehen, die darauf bedacht ist, einen möglichst großen Spielraum für individuelle Handlungsfreiheit zu sichern. Was dabei unter einem „möglichst großen Spielraum" zu verstehen ist, läßt sich aus ordoliberaler Sicht freilich nicht so beantworten, wie dies manche anarcho-libertäre Autoren tun, die für eine ausschließlich auf privater Koordination basierende Ordnung plädieren und keinen legitimen Platz für staatliches Handeln sehen. Aus ordoliberaler Sicht ist zumindest eine staatliche Sicherung der Rahmenordnung notwendige Voraussetzung dafür, daß eine auf privater Koordination beruhende Ordnung Bestand haben kann.30 Die Frage, wie denn die Grenze zwischen staatlicher Autorität und privaten Handlungsrechten gezogen werden sollte, muß entsprechend in differenzierterer Weise beantwortet werden. Die Argumente, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, lassen sich nicht einfach aus einem vorgegebenen Kriterium „Wettbewerbsfreiheit" herleiten, son-

28 Während es bei Organisationsregeln typischerweise um Geèotsregeln geht, also um Regeln, die ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, sind die Spielregeln, auf denen die spontane Ordnung der Privatrechtsgesellschaft basiert, Feréoteregeln, also Regeln, die den Bereich zulässiger Handlungen negativ eingrenzen durch den Ausschluß verbotener Handlungen. In diesem Sinne kann Hoppmann (1988, 360) davon sprechen, daß „Spielregeln, die die Freiheit sichern, ... bestimmte Eigenschaften ausweisen)", daß es dabei um „abstrakte" Regeln geht, die Freiheitsräume negativ definieren (292). 29 Auf diesen Aspekt stellt Hoppmann (1988, 128) ab, wenn er sagt: „Sobald man jedoch danach fragt, welche Art von Verhaltensregeln das Marktsystem steuern und wie sie zu entwickeln sind, stellt sich die Frage, wie ein staatliches und politisches System beschaffen ist, das mit den Wertgrundlagen eines Marktsystems kompatibel ist". 30 Böhm (1980, 115): „Die Privatrechtsgesellschaft bedarf, damit die Privatrechtsordnung die Pläne aller ihrer Mitglieder systemgerecht koordinieren kann, einer Mitwirkung politischer Herrschaftsfunktionen, wenn auch nur in bescheidenem Umfang und wenn auch bloß pfleghaftgärtnerischen Charakters".

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dem dürften auf die Vor- und Nachteile abstellen, die zu bedenken sind, wenn man diese Grenzziehung in der einen oder anderen Art vornimmt.31 Beim zweiten der oben unterschiedenen Aspekte von „Wettbewerbsfreiheit" als einem konstitutionellen Kriterium geht es nicht um die Abgrenzung privater Handlungsrechte gegenüber dem Staat, sondern um die wechselseitige Abgrenzung der Freiheitsräume der Individuen untereinander. Es geht darum, wie die Spielregeln, die den Bereich privater Verfiigungsrechte konstituieren, die Handlungsspielräume abgrenzen, die den Individuen als Privatrechtssubjekten in ihrem Umgang miteinander eingeräumt werden.32 Ein in dieser Hinsicht relevanter Kontrast wäre nicht der zwischen Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft, sondern etwa der zwischen einer wettbewerblichen Ordnung und einer Zunftordnung, die der Handlungs- und Wettbewerbsfreiheit der Beteiligten äußerst enge Grenzen setzt. Was diesen zweiten Aspekt anbelangt, so mag der Schluß naheliegen, im Sinne des Kriteriums Wettbewerbsfreiheit sei eine Regelordnung um so eher zu empfehlen, je größer der Spielraum ist, den sie für individuelle Handlungsfreiheit einräumt. Eine solche Empfehlung würde aber augenscheinlich zu kurz greifen. Denn, wenn Spielregeln, wie oben erläutert, als gemeinsame Bindungen zum wechselseitigen Vorteil dienen sollen, dann kann minimale Beschränkung des individuellen Handlungsspielraums keine zweckdienliche Richtschnur sein.33 In einer privilegienfreien Privatrechtsordnung im Sinne Franz Böhms,34 in der für alle Beteiligten dieselben Spielregeln gelten, besteht zwangsläufig eine Symmetrie zwischen den Handlungsfreiheiten, die man selbst genießt, und den Äußerungen der Handlungsfreiheit anderer, die man hinzunehmen hat. Bei der Frage, welchen Spielregeln sie den Vorzug geben sollen, werden die Beteiligten daher abwägen müssen zwischen den Vorteilen eines stärkeren Schutzes vor unerwünschten Auswirkungen des Handelns anderer und den Nachteilen einer entsprechenden stärkeren Einschränkung des eigenen Handlungsspielraums. Eine solche Abwägung wird dabei unter dem Gesichtspunkt vorzunehmen sein, wie wünschenswert die allgemeinen Funktionseigenschaften sind, die man von Regelordnungen unterschiedlicher Ausgestaltung erwarten kann. Ihr gemeinsames Interesse sollte entsprechend darauf gerichtet sein, Spielregeln zu wählen, die die wechselseitigen Beschränkungen von Handlungspielräumen in Art und Ausmaß so festlegen, daß die besten Chancen für die Realisierung wechselseitiger Vorteile bestehen. Oder anders gesagt, wünschenswert werden die Spielregeln sein, die die günstigste Ba-

31 Dies hat wohl auch Möschel (1991, 417) bei seiner Bemerkung im Auge: „Gefordert ist immer, die Vor- und Nachteile verschiedener institutioneller Arrangements in ihrer Totalität zu sehen und gegeneinander abzuwägen". 32 Die beiden hier unterschiedenen Aspekte werden bei Hoppmann (1988, 291) gemeinsam angesprochen, wenn er feststellt: „Das zentrale Problem ist es also, den Spielraum jedes einzelnen Teilnehmers gegen die Spielräume der anderen abzugrenzen. Zu den , anderen' gehören auch der Staat bzw. die Regierung". 33 In diesem Sinne bemerkt Hoppmann (1988, 292), „die durch Spiehegeln der genannten Art begrenzte Wettbewerbsfreiheit (dürfe nicht) mit Laissez-faire" verwechselt werden. 34 Böhm (1980, 105) spricht vom „Privatrecht, das die Beziehungen, die Befugnisse und den Verkehr zwischen Gleichberechtigten regelt," und von der „aus Gleichberechtigten und Gleichfreien bestehende^) Privatrechtsgesellschaft" (140).

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lance zwischen den Nachteilen der Einschränkung eigener Handlungsfreiheit und dem Schutz vor unerwünschten Handlungen anderer bieten. Ganz im Sinne dieser Überlegungen spricht auch etwa Erich Hoppmann davon, daß das zentrale Problem der Regelsetzung darin liege, „den Spielraum jedes einzelnen Teilnehmers gegen die Spielräume der anderen abzugrenzen" (1988, 291), und er merkt dazu an, daß diese Spielräume nicht nur zu eng, sondern „auch zu weit gefaßt sein" können.35 „Die wettbewerblichen Spielregeln", so Hoppmann (1988, 299f.), „können etwa Verbote für sozial und kulturell unerwünschte Verhaltensweisen enthalten (Verbot von Kinderarbeit, Verbot von Umweltveranreinigungen, Verbot und Bestrafung von Betrug und Irreführung, Verbot von schädlichen oder gefahrlichen Waren u.a.m.). Sicher kann der Bereich solcher Verbote auch derartig eng gezogen sein, daß viele wünschenswerte Wettbewerbshandlungen unterbleiben. Deshalb sind die Regeln jedenfalls legitimerweise immer Gegenstand der wissenschaftlichen und politischen Diskussion und auch Gegenstand von Verbesserungen und Anpassungen. Andererseits kann der durch die Regeln abgesteckte Bereich auch zu weit sein. Dann sind einzelne Marktteilnehmer in der Lage, Methoden anzuwenden, durch die die .Wettbewerbsfreiheit' anderer Marktteilnehmer beschränkt wird." Wenn Hoppmanns abschließender Verweis auf das Kriterium der „Wettbewerbsfreiheit" auch den Schluß nahelegen könnte, damit sei ein Maßstab vorgegeben, an dem eindeutig abzulesen sei, was bei der Festlegung von Spielregeln als zu enger oder zu weiter Spielraum anzusehen ist,36 so dürfte aus dem oben Gesagten doch deutlich geworden sein, daß dem nicht so ist.37 Wenn die durch die Spielregeln vorzunehmende Abgrenzung von Handlungsspielräumen eine Frage von Vorteils- und Nachteilsabwägungen ist, dann wird über sie nicht unabhängig von den Einschätzungen der betroffenen Personen zu entscheiden sein. Mit anderen Worten, welche Spielregeln und welche Spielraumabgrenzungen als wünschenswert anzusehen sind, wird, in der Terminologie der Konstitutionenökonomik, nicht unabhängig von den konstitutionellen Interessen der betroffenen Individuen zu beantworten sein. Angesichts der Ubiquität externer Effekte, also des Umstandes, das mit jeglichem menschlichen Handeln auch immer Auswirkungen auf nicht an den betreffenden Entscheidungen beteiligte Dritte verbunden sind, geht es dabei insbesondere um die Frage der Abgrenzung zwischen solchen Auswirkungen, gegen die betroffene Dritte ein Einspruchsrecht haben sollen, für die die Verursacher also verantwortlich gemacht werden können, und solchen Auswirkungen, die von betroffenen Dritten toleriert werden müssen.38 35 Hoppmann (1988, 361): „Jedoch können die durch derartige Regeln abgesteckten Handlungsspielräume auch zu weit gefaßt sein. ... Hier ergibt sich dann die staatliche Aufgabe, das System der freiheitssichernden Spielregeln zu verbessern". 36 Hoppmann (1988, 262): „Die Spiehegeln ... müssen Handlungen verbieten, durch die wettbewerbliche Handlungs- und Entschließungsfreiheit unangemessen eingeschränkt wird bzw. eingeschränkt werden kann". 37 Möschel (1981, 96) stellt denn auch im Hinblick auf die an Hayeks Freiheitsdefinition orientierten Abgrenzungsbemühungen Hoppmanns fest, „daß die alles entscheidende Frage, anhand welcher Kriterien solche Wettbewerbsbeschränkungen ermittelbar sein sollen, in der von Hayek-Hoppmannschen Tradition bis heute schwerlich befriedigend beantwortet werden konnte". 38 Ausführlicher dazu Buchanan und Vanberg (1988).

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Wie die wechselseitige Abgrenzung von Handlungsspielräumen zum Wohle aller Beteiligten am zweckmäßigsten vorzunehmen ist, dürfte im übrigen eine Angelegenheit sein, in der die Menschen auf Erfahrung und Lernen angewiesen sind.39 In diesem Kontext ist das gleichermaßen von Böhm wie von Hayek betonte Argument relevant, daß man die Spielregeln marktlicher Ordnung als das Produkt eines sich über unzählige Generationen hinziehenden, weitgehend unreflektierten „Lernprozesses" betrachten kann, in dem Erfahrungen bezüglich der Vorteils- und Nachteilsbilanz alternativer Regelungen zum Tragen gekommen sind. Die marktliche Wettbewerbsordnung kann in diesem Sinne als eine Spielregelordnung empfohlen werden, für die sich in der Geschichte menschlicher Ordnungsexperimente herausgestellt hat, daß sie die Abgrenzung individueller Handlungspielräume in einer Weise vornimmt, die eine für alle Beteiligten wünschenswerte Handelnsordnung möglich macht.40

V. Wettbewerbsfreiheit als „Wert in sich" Der Unterschied in der inhaltlichen Bedeutung, die dem Kriterium der Wettbewerbsfreiheit auf der sub-konstitutionellen Ebene einerseits und auf der konstitutionellen Ebene andererseits beigelegt werden muß, hat entscheidende Konsequenzen für die Frage des normativen Geltungsanspruches, der für dieses Kriterium erhoben werden kann. Die Notwendigkeit, hier zwischen der konstitutionellen und der sub-konstitutionellen Verwendung des Kriteriums der Wettbewerbsfreiheit zu differenzieren, wird insbesondere deutlich, wenn man die in der ordoliberalen Tradition verbreitete Formel von der „Wettbewerbsfreiheit als Wert in sich" näher untersucht. Wenn es etwa bei Möschel (1989, 147; 2001, 4) heißt, „(t)he actual goal of the competition policy of ordoliberalism lies in the protection of individual economic freedom of action as a value in itself', oder wenn man bei Hoppmann (1988, 199) liest, der Wettbewerb sei „ein Ziel in sich selbst, weil sich in ihm wirtschaftliche Freiheit manifestiert", dann könnte es so scheinen, als solle hier für eine an individueller Freiheit und Wettbewerbsfreiheit orientierte Wettbewerbspolitik kategorische, nicht weiter hinterfragbare Geltung beansprucht werden. Nun dürfte die Formel von der Wettbewerbsfreiheit als „Wert in sich" von denen, die sie verwenden, sicherlich nicht so verstanden werden. Es wird in entsprechenden Zusammenhängen aber auch nicht immer ausreichend deutlich gemacht, wie man sie denn genau verstehen sollte. Hier kann es wiederum, so meine ich, der Klärung dienen, wenn man die konstitutionelle Logik des ordoliberalen Ansatzes mit größerer Konsequenz verfolgt und die Unterschiede in der Bedeutung be39 Hoppmann (1988, 135) bemerkt dazu: „Eine erschöpfende Aufzählung und Klassifikation von Praktiken, die Wettbewerbsfreiheit verhindern, ist nicht möglich, weil im Evolutionsprozeß immer neue Probleme entstehen. Es läßt sich deshalb auch kein lückenloses, widerspruchsfreies System von Rechtssätzen, die Verhinderungen von Wettbewerb ausschließen, formulieren. ... (D)ie Anpassung des Systems von Rechtsregeln ... ist eine ständige Aufgabe von Gesetzgebung, Rechtsprechung und erfahrungswissenschaftlicher Analyse". 40 Dabei ist freilich zu bedenken, daß mit,.marktlicher Wettbewerbsordnung" nur ein allgemeiner Ordnungstyp umschrieben ist, der im einzelnen sehr unterschiedlich durch Regeln gestaltet werden kann.

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achtet, die dem Kriterium der „Wettbewerbsfreiheit" auf der sub-konstitutionellen und auf der konstitutionellen Ebene zukommt. Im sub-konstitutionellen Sinne geht es bei der Frage der Wettbewerbsfreiheit darum, daß die Spielregeln einer marktlichen Wettbewerbsordnung durchgesetzt und regelwidrige Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit unterbunden werden. Auf dieser Ebene mag man von Wettbewerbsfreiheit insofern als einem „Wert in sich" sprechen, als mit der vorgelagerten konstitutionellen Entscheidung fur eine marktliche Wettbewerbsordnung zwangsläufig eine Entscheidung für Wettbewerbsfreiheit getroffen wird und daher die Frage, ob Wettbewerb wünschenswert ist, auf dieser Ebene nicht mehr zur Diskussion steht. Auf der sub-konstitutionellen Ebene hat die Norm der Wettbewerbsfreiheit in diesem Sinne kategorische Geltung als zwangsläufige Folge der konstitutionellen Entscheidung für eine marktliche Wirtschaftsverfassung. Ihre Geltung ist nicht daran zu messen, ob einzelne Wettbewerbshandlungen von allen als wünschenswert betrachtet werden, sondern daran, ob sie als konstitutionelle Norm, als allgemeine Spielregel, für alle wünschenswert ist. Auf der konstitutionellen Ebene geht es bei der Frage der Wettbewerbsfreiheit um Eigenschaften von Regeln und von Regelordnungen. Wenn man auf dieser Ebene für eine Wettbewerbspolitik plädiert, die Wettbewerbsfreiheit sichert, so plädiert man dafür, die Regelordnung in einer bestimmten Weise zu gestalten, „durch .Spielregeln' die gewünschten wettbewerblichen Marktprozesse" {Hoppmann 1988, 238) zu schaffen. Wie auch immer man im einzelnen die Eigenschaften von Regelordnungen spezifiziert, die dem Kriterium der Wettbewerbsfreiheit genügen, die Frage, warum es denn wünschenswert sein sollte, unter einer solchen Ordnung zu leben, kann offenkundig nicht befriedigend mit dem Hinweis beantwortet werden, Wettbewerbsfreiheit sei ein „Wert in sich". Denn anders als im sub-konstitutionellen Kontext geht es auf der konstitutionellen Ebene ja nicht mehr um die Frage, was man konsequenterweise wollen muß, wenn man sich für eine marktliche Wettbewerbsordnung entschieden hat, sondern um die Frage, warum es überhaupt wünschenswert sein soll, in einer marktlichen Wettbewerbsordnung zu leben. Unterscheidet man in dem angesprochenen Sinne strikt zwischen der Frage, warum Wettbewerbsfreiheit gesichert werden muß, wenn man sich für eine marktliche Ordnung entscheidet, und der Frage, warum „man Wettbewerb als gesamtwirtschaftliches Ordnungs- und Koordinierungsprinzip" {Hoppmann 1988, 243) überhaupt wünschen sollte, dann läßt sich auch etwa die Frage nach der „ökonomischen Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs" ohne die Schwierigkeiten beantworten, mit denen Erich Hoppmann (1967) in seiner Auseinandersetzung mit der instrumentalistischen Wettbewerbskonzeptionen von Kantzenbach augenscheinlich zu kämpfen hatte. Dann ist es nämlich keineswegs erforderlich, die Rede „von einer gesamtwirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit" {Hoppmann 1967, 81) generell als Ausdruck kollektivistischer Denkmuster zurückzuweisen. Dann kann man eine Instrumentalisierung des Wettbewerbs im Sinne spezifischer „gesamtwirtschaftlicher Ziele" durchaus mit dem Argument kritisieren, daß sie mit der konstitutionellen Entscheidung für das Spiel „marktlicher Wettbewerb" unvereinbar ist, und gleichzeitig die Entscheidung dafür, dieses Spiel zu spielen, mit dem Argument seiner „gesamtwirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit" verteidigen, mit dem Argument, daß es ein

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Spiel darstellt, das allen Beteiligten größere Vorteile verspricht, als sie sie unter anderen Spielregeln, insbesondere unter den Regeln einer instrumentell-diskretionären Wirtschaftspolitik, erwarten können.41 Das Argument der „ökonomischen Vorteilhafligkeit" hat auf der konstitutionellen Ebene seinen legitimen Platz, nicht auf der sub-konstitutionellen Ebene. Auf der subkonstitutionellen Ebene, also im Spielverlauf, wird Wettbewerb von den Marktteilnehmer keineswegs immer als vorteilhaft empfunden.42 Den Vorteilen, die man daraus zieht, daß andere dem Wettbewerb ausgesetzt sind, stehen Nachteile gegenüber, die einem daraus erwachsen, daß man selbst dem Wettbewerb ausgesetzt ist. Das Argument, mit dem die Bereitschaft eingefordert werden kann, diese Nachteile in Kauf zu nehmen, kann nicht aus ökonomischen Vorteilskalkülen auf der sub-konstitutionellen Ebene gewonnen werden, sondern nur aus dem Umstand, daß das in Frage stehende Spiel im Vergleich zu relevanten Alternativen ein für alle Beteiligten wünschenswertes Spiel ist.43 Die Forderung, die im Spielverlauf unvermeidlich auftretenden ökonomischen Nachteile hinzunehmen, gründet sich in diesem Sinne auf einer Ethik der Fairneß, einer Ethik, die verlangt, daß alle sich an Spielregeln halten, deren allgemeine Geltung fur alle wünschenswert ist.44 Denn angesichts der Tatsache, daß „ein Marktteilnehmer seinen individuellen ökonomischen Vorteil unter Umständen auch dadurch vergrößern (kann), daß er sich dem Wettbewerb mehr oder minder weitgehend entzieht" (Hoppmann 1988, 244), folgt aus dem Umstand, daß das Spiel „marktlicher Wettbewerb" ein für alle wünschenswertes Spiel ist,45 nicht per se, daß die einzelnen deshalb auch einen Anreiz hätten, sich an die Spielregeln zu halten. Die attraktivste Option besteht in der Tat darin, in einer ansonsten wettbewerblichen Ordnung zu leben, selbst aber nicht an die Spielregeln dieser Ordnung gebunden zu sein.46 Je mehr Beteiligte eine solche Posi41 Die explizite Unterscheidung zwischen der sub-konstitutionellen und der konstitutionellen Ebene dürfte auch das Verständnis erleichtem, wenn man bei Hoppmann (1988, 185f.) liest: „Ein wettbewerblich ablaufender Marktprozeß wird gewünscht, weil sich in ihm bestimmte wirtschaftliche, insbesondere unternehmerische Freiheiten manifestieren. ... Man wünscht Wettbewerb also wegen bestimmter Eigenschaften, die er aufweist. Insofern sagt man, Wettbewerb sei ein Ziel in sich selbst. Femer möchte man Wettbewerb, weil er bestimmte ökonomische Auswirkungen hat. Man wünscht ihn als nützliches Instrument". - Dies gilt auch für seine Feststellung: „Wettbewerb als unmittelbarer Zweck ist also Mittel zur Verwirklichung der Idee der wirtschaftlichen Freiheit als einem allgemeinen Zweck. Jedoch ist wirtschaftliche Freiheit als allgemeiner Zweck selbst wieder Mittel... zur Verwirklichung einer freien, demokratischen Gesellschaft als einem .ultimate social goal'" (186). 42 Mestmäcker (1995, 125): „Es gehört zu den bestimmungsgemäßen Wirkungen erfolgreichen Wettbewerbs, daß er die Wettbewerber schädigt". 43 In diesem Sinne kann Mestmäcker (1995, 124) von den „Freiheit und Wohlstand sichernden Wirkungen" des Wettbewerbs sprechen, die sich „anhand juristischer Alltagserfahrung, d.h. aufgrund der Interessen der unmittelbar betroffenen Vertragspartner und Wettbewerber, nicht aufweisen" lassen. 44 Böhm (1980, 126, Fn.) spricht diesen Gedanken an, wenn er von der „Fairneß" als der Tugend spricht, die in einer auf allgemeinen Spiehegeln beruhenden Koordinationsordnung gefordert ist. 45 Hoppmann (1988, 245): „Die Marktteilnehmer genießen wechselseitig ökonomische Vorteile jeweils vom Standpunkt ihrer eigenen Zwecke. Wettbewerb ist also ökonomisch vorteilhaft, ... weil er für alle Marktteilnehmer die genannten Vorteile bietet". 46 Wenn es bei Hoppmann (1988, 80f.) heißt: „Wenn ein Markteilnehmer solche Vorteile (des Wettbewerbs, V.V.) genießen will, muß er jedoch den Partnern der Marktgegenseite ebenfalls die Vorteile

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tion einzunehmen bestrebt sind, um so mehr entschwinden freilich die Vorteile, die eine wettbewerbliche Ordnung zu bieten hat. In diesem Sinne kann Hoppmann (1988, 244) feststellen: „Wenn alle Marktteilnehmer aus dem Wettbewerb einen ökonomischen Vorteil ziehen sollen, darf deshalb niemand die Möglichkeit haben, dem wettbewerblichen Prozeß auszuweichen". Die gleichen Überlegungen helfen auch bei der Klärung des Verhältnisses zwischen dem ordoliberalen Kriterium der Wettbewerbsfreiheit und einem wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterium. So hält etwa Möschel dem Konzept der Pareto-Eíñzienz im Unterschied zu utilitaristischen Konzepten aggregierter Gesamtwohlfahrt47 zugute, es gründe, wie der ordoliberale Ansatz, „auf der Autonomie des einzelnen als dem obersten Wert, auf einem Konsensprinzip, wenn der einzelne von einem anderen etwas will" (Möschel 1991, 414), stellt dann aber einschränkend fest: „In der Sprache der Philosophie erfordert Pareto-Eíñzienz Zustimmung aller auch nur potentiell Betroffener, also ein Prinzip der Einstimmigkeit. Stellt man die Ubiquität externer Effekte in Rechnung, wird deutlich, daß der Maßstab rasch auf Grenzen der Praktikabilität stößt" (417). Dazu ist anzumerken, daß die Frage der Praktikabilität des Konsensprinzips auf der subkonstitutionellen Ebene ein deutlich anderes Gewicht hat als auf der konstitutionellen Ebene. Mit dem Verweis auf die „Ubiquität externer Effekte" wird zu Recht der offenkundige Umstand angesprochen, daß auf der sub-konstitutionellen Ebene über die Wünschbarkeit einzelner Wettbewerbshandlungen wohl schwerlich Konsens zu erzielen sein dürfte, da es stets negativ Betroffene geben dürfte, die Einspruch einlegen werden. Dies schließt aber keineswegs aus, daß nicht alle Beteiligten gute Gründe haben können, einem allgemeinen Regelsystem zuzustimmen, das ihnen abverlangt, für sie nachteilige externe Effekte regelkonformer Wettbewerbshandlungen anderer im Spielverlauf hinzunehmen, da das Spiel insgesamt wünschenswerte Funktionseigenschaften hat. Daher kann trotz der „Ubiquität externer Effekte" im Spielverlauf auf der konstitutionellen Ebene durchaus Konsens über Spielregeln erzielt werden, und dieser Konsens sollte für eine Konzeption, die „auf der Autonomie des einzelnen als dem obersten Wert" (Möschel 1991, 414) aufbaut, der maßgebliche Indikator für die „Effizienz" der betreffenden Regelordnung sein. In diesem Sinne kann man dann in der Tat sagen: „Bei einem

des Wettbewerbs zubilligen", so ist das „muß" daher nur im Sinne einer ethischen Forderung, nicht im Sinne einer faktischen Notwendigkeit zu verstehen. - Im Hinblick auf die Anreize, sich den Regelanforderungen einer wettbewerblichen Ordnung einseitig zu entziehen, stellt Böhm (1980, 164f.) fest: „Die ,Sünde', von der hier die Rede ist, besteht nun darin, daß die Wirtschaftsbeteiligten der Versuchung erliegen, die Einkommenserwartungen, die sie bei ordnungskonformer Handhabung des Systems haben, dadurch zu verbessern, daß sie - soweit ihnen das objektiv möglich ist - für ihre eigene Person oidiamgsinkonform handeln, oder daß sie ihre politischen Mitbestimmungsrechte und ihren politischen Einfluß verwerten, um die amtierende Staatsgewalt zu veranlassen, zugunsten einer bestimmten Gruppe von Bürgern eine ordnungsinkonforme Ausnahme zuzulassen, und daß die amtierende Staatsgewalt diesem Einfluß nachgibt'. 47 Mit kritischem Bezug auf solche Konzepte betont Möschel (1991, 416): ,Aber jetzt entsteht ein Konflikt zum Ziel des Freiheitsschutzes. In individuelle Rechte darf eingegriffen werden, wenn dies zur Steigerung der Gesamtwohlfahrt beiträgt". - Möschel (1989, 149): „Ordo-liberalism treats individuals as ends in themselves not as the means of another's welfare".

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solchen Zugang besteht auch kein Konflikt zwischen einem Freiheitsziel und einem Effizienzziel" (.Möschel 1991, 414).48 Die Unterscheidung zwischen einer sub-konstitutionellen und einer konstitutionellen Beurteilung von Wettbewerb steht unausgesprochen auch hinter Überlegungen, die U. Fehl und C. Schreiber (1997, 220) zu der Frage anstellen, wie „die Vorteilhaftigkeit von Wettbewerb oder seine soziale Erwünschtheit zu begründen" (220) sind. Der Umstand, daß Wettbewerb immer einige Wirtschaftssubjekte schädigt, läßt sie ebenfalls den Schluß ziehen: „Wettbewerb wäre mit dem Pareto-Kriterium überhaupt nicht denkbar" (220). Auch das aus der Wohlfahrtsökonomik bekannte Kompensationskriterium erlaubt nach ihrer Einschätzung keine befriedigende Antwort, wenn man es im Sinne der „Kompensation in jedem Einzelfall" interpretiert. Eine tragfähige Antwort sehen sie jedoch im Gedanken „einer Generalkompensation oder faktischen Entschädigimg über die Zeit" (220). „Eine solche Form der Entschädigung", so meinen sie, „liegt vor und rechtfertigt die Erwünschtheit von Wettbewerb". - Wenn das Urteil darüber, ob eine „solche Form der Entschädigung" vorliegt, nicht von einem externen Beobachter, sondern den betroffenen Personen selbst zu treffen ist, dann läuft ein solcher Verweis auf die legitimierende Rolle einer „Generalkompensation" aber wohl auf nichts anderes hinaus als einen Appell an die konstitutionellen Interessen der Betroffenen. Damit wird gesagt, daß es bei der Frage der Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs nicht um die subkonstitutionelle Frage der Vorteilhaftigkeit einzelner Wettbewerbshandlungen, sondern um die konstitutionelle Frage der Vorteilhaftigkeit einer wettbewerblichen Regelordnung geht. Und die Entscheidung für eine solche Ordnung wird damit befürwortet, daß sie als Regelordnung - als „Spiel" - Funktionseigenschaften aufweist, die sie für alle wünschenswert und damit zustimmungsfähig machen, auch wenn sie im Spielverlauf mit für sie nachteiligen Wettbewerbshandlungen anderer rechnen müssen. Wenn das Argument für eine wettbewerbliche Wirtschaftsverfassung an die konstitutionellen Interessen der Beteiligten appelliert, so bedeutet dies, daß Wettbewerbsfreiheit auf der konstitutionellen Ebene, also als Attribut einer Wirtschaftsverfassung, nicht als ein „Wert in sich", sondern als ein auf Interessen begründeter Wert betrachtet wird, wobei es freilich um Interessen bestimmter Art geht, eben die konstitutionellen Interessen der Beteiligten, d.h. ihre Interessen bezüglich der Art von Regelordnung, unter der sie zu leben wünschen. In dieser Weise interpretiert, stellt auch das ordoliberale Plädoyer fur eine marktliche Wettbewerbsordnung nicht auf den Anspruch ab, daß eine solche Ordnung „Wettbewerbsfreiheit" als einen „Wert an sich" realisiert, sondern stützt sich auf das Argument, daß eine solche Ordnung im konstitutionellen Interesse der Men-

48 Im diesem Sinne läßt sich auch Hoppmanns „non-Dilemma These" interpretieren, die These, daß im „Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung ... Wettbewerbsfreiheit und ökonomische Vorteilhaftigkeit zwei Aspekte des wettbewerblichen Prozesses" (Hoppmann 1988, 307) sind. Diese These besagt dann, daß eine Ordnung der Wettbewerbsfreiheit aufgrund ihrer Funktionseigenschaften eine wünschenswerte Regelordnung ist. So kann man wohl Hoppmanns Aussage verstehen: „Erhaltung des wirtschaftlichen Wettbewerbs ist ökonomisch vernünftig. Insofern sind Wettbewerbsfreiheit und ökonomische Vorteilhaftigkeit... ein einheitlicher Wertkomplex" (247).

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sehen liegt, daß sie eine Regelordnung darstellt, unter der zu leben fur Menschen wünschenswert ist.49 Mit einer solchen Interpretation läßt sich auch der bisweilen vermutete Konflikt zwischen den ordoliberalen Zielvorgaben fur Wirtschaftspolitik und den Legitimationsanforderungen für Politik in einem demokratischen Gemeinwesen auflösen.50 Dann geht es bei dem Postulat, daß Wirtschaftspolitik die Aufgabe der Sicherung und Pflege einer marktlichen Wettbewerbsordnung wahrzunehmen habe, nicht um den Anspruch, dem demokratischen Souverän „ein noch über der Demokratie stehendes Gesetz" (Mesimäcker 1978, 10) verordnen zu können. Es geht dabei vielmehr darum, konstitutionelle Bindungen zu empfehlen, die allen Bürgern zum Vorteil gereichen, und die Politik mit der Aufgabe der Pflege einer Regelordnung zu betrauen, die im gemeinsamen Interesse aller Bürger liegt. Daß Freiheit im erläuterten Sinne als Attribut einer Regelordnung kein kategorischer, sondern ein hypothetischer, an Interessen gebundener Wert ist, scheint mir im übrigen eine zwangsläufige Schlußfolgerung aus dem zentralen Böhmschsrv und ordoliberalen Gedanken der Konstitutionalisierung von Privatrechtsordnung und marktlicher Wettbewerbsordnung zu sein.51 Wenn mit einer solchen Konstitutionalisierung eine freiheitliche Ordnung und damit die in ihr geltende Privatautonomie nicht mehr als „Wert in sich" verteidigt werden, sondern damit, daß sie im konsensfahigen konstitutionellen Interesse aller Beteiligten liegen, so ist dies nur ein scheinbarer Verlust. Denn der Anspruch kategorischer Geltung, den aufgegeben zu haben Knut Wolfgang Nörr (1993; 1994, 116ff.) Franz Böhm und den Ordoliberalen vorwirft52, verliert ohnehin dort seine Wirksamkeit, wo die in Frage stehende Wertüberzeugung nicht geteilt wird. Mit der Feststellung, daß Privatautonomie als „Status innerhalb der Privatrechtsgesellschaft" (Böhm 1980, 113) „keineswegs etwa ein Geschenk der Natur ... ist, sondern ein gesellschaftliches Bürgerrecht", daß es dabei nicht um „ein naturales Können, sondern ein soziales Dürfen" geht, weist Böhm lediglich auf den schwerlich zu bestreitenden Sachverhalt hin, daß es vor oder jenseits einer soziale Anerkennung genießenden Regelordnung keine individuelle Autonomie im Sinne geschützter Handlungsfreiheit gibt.53 Wenn individuelle Freiheitsrechte in diesem Sinne auf eine verfassungsmäßige

49 Ausführlicher dazu Vanberg ( 1997). 50 Mestmäcker (1975, 419): „Die Lehre von der Wirtschaftsverfassung ... formuliert die politische Potenz des Ökonomischen ... nicht um der demokratischen Regierung in den Arm zu fallen, sondern um sie instand zu setzen, ihren rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Aufgaben in Unabhängigkeit gerecht werden zu können". - Siehe zu dieser Frage Mestmäcker (1975, 407f.) sowie Mestmäcker (1978, 10). 51 Im Kontext seiner Erörterungen zur Privatrechtsordnung und zur Privatautonomie betont Böhm (1980, 109): „Dieses Postulat, daß alle Mitglieder der Gesellschaft den nämlichen Status haben sollten, ist nun freilich kein privatrechtliches, sondern ein politisches, verfassungsrechtliches Postulat". 52 Zu der von Nörr vorgebrachten Kritik siehe auch Mestmäcker (1995, 122ff. und 1998, 101). - Vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls Mestmäcker (1975, 392). 53 Böhm bringt an anderer Stelle zwar die Privatautonomie mit der Idee „eines aus der Humanitätsidee abgeleiteten Naturrechts" (1980, 203) in Verbindung, dies ändert aber nichts daran, daß der Gedanke der Konstitutionalisierung von Privatrechtsordnung und marktlicher Wettbewerbsordnung den Kern seines systematischen Ansatzes ausmacht. So spricht er denn auch ausdrücklich von „der verfassungs-

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Grundlage gestellt werden und damit nicht durch ihren „überpositiven Wert"54, sondern aus den Vorzügen gerechtfertigt werden, die eine freiheitliche Verfassungsordnung für die Menschen wünschenswert machen, so muß dies keineswegs bedeuten, daß sie damit der Beliebigkeit politischer Entscheidungen überantwortet werden.55 Das Kriterium, das die politische Verfassungswahl aus einer solchen Sicht zu disziplinieren hat, nämlich die konsensfähigen konstitutionellen Interessen der betroffenen Personen, bietet zwar als ein auf Interessen bezogener Standard keinen absoluten Maßstab. Es dürfte aber einen wirksameren Ansatzpunkt für den Schutz individueller Freiheitsrechte bieten als der Appell an „absolute" oder „überpositive" Werte, über die kein Konsens besteht. Eine so verstandene Konstitutionalisierung von Freiheitsrechten bindet sie an die Interessen der Individuen, aus deren freiwilliger Zustimmung Verfassungsordnungen ihre Legitimation allein herleiten können. Auf sie trifft wohl kaum der Vorwurf zu, hier komme ein „antiindividualistischer Zug" und ein „unbestimmter Kollektivismus" zum Vorschein,56 der dem Individuum jegliche „Bedeutung um seiner selbst willen" aberkenne.57 Was man in Nörrs Kritik an Böhm und dem Ordoliberalismus vermißt, ist eine Beachtung der grundlegenden Unterscheidung zwischen der konstitutionellen Ebene, auf der Individuen gemeinsam mit anderen in Freiheit die Regelordnungen wählen und gestalten können sollen, unter denen sie zu leben wünschen, und der sub-konstitutionellen Ebene, auf der Individuen ihre verfassungsmäßig verbürgten Freiheitsrechte ausüben. Beachtet man diese Unterscheidung, so kann man in durchaus konsistenter Weise ein Freiheitsverständnis vertreten, das die Freiheit des Individuums als Privatrechtssubjekt an die Verfassung gebunden sieht, die Verfassung selbst aber wiederum in ihrer Legitimation an die freiwillige Zustimmung der betroffenen Individuen bindet.58 politischen Grundentscheidung, die mit der Option für das marktwirtschaftliche System und die privilegienlose Zivihechtsgesellschaft getroffen worden ist" (164). 54 Bei Böhm, so meint Nörr (1994, 116) „verlieren die wirtschaftlichen Freiheitsrechte durch Institutionalisierung und Relativierung jeden überpositiven Wert". - Siehe auch Nörr (1995, 64): „Denn Böhm betrachtet die herrschaftsfreie Wirtschaftsordnung zwar als eine vom Staat unterschiedene, nicht aber als ihm vorgegebene Ordnung im Sinne etwa eines naturrechtlichen Postulats, einer ordre naturel. Vielmehr bedarf es des Staats als Verfassungsgebers zur Entscheidung über die Errichtung oder nicht - einer herrschaftsfreien Wirtschaftsordnung auf seinem Gebiet". - Nörr (1995, 64): „Auch die Institution des Privatrechts beruht somit auf dem Willensentschluß des pouvoir constituant". 55 Diese Gefahr sieht Nörr (1993, 8) bei Böhm gegeben: „So gelangen wir in das Reich der Kontingenzen, ... wo die freiheitliche Wirtschaftsverfassung dem Ermessen der politischen Ordnung anheim gegeben ist". - Weiter heißt es bei Nörr (1993, 9): „Durch die Institutionalisierung ... nehmen die Freiheitsrechte am Schicksal der Institution teil; wenn also der Staat die Entscheidung für die herrschaftsfreie Ordnung des Wettbewerbs widerruft, laufen die wirtschaftlichen Freiheitsrechte leer. Nichts hindert den Staat an dieser Entscheidung, denn die wirtschaftliche Entscheidung ist ihm nicht vor-, sondern nachgeordnet. Der sekundäre und instrumentale Charakter der wirtschaftlichen Freiheitsrechte offenbart so die letztlich hyphotetisch-kontingente Natur des ganzen Theoriegebäudes." 56 Nörr (1994, 120): „Die Institutionalisierung findet ihren Grund und Zweck in der Gemeinschaft, mündet also in einen unbestimmten Kollektivismus ... . Man kann in dieser Welt des Wettbewerbs, wie sie von Böhm gestaltet wird, die antiindividualistischen Züge nicht übersehen". 57 Mit Blick auf Böhm und den Ordoliberalismus moniert Nörr (1993, 18): „Als Quelle und Träger des Privatrechts hat das Individuum keinen selbständigen Ort, keine Bedeutung um seiner selbst willen, sondern ist untrennbar verknüpft mit der Privatrechtsgesellschaft und dem Marktmechanismus". 58 Eine solche Interpretation des ordoliberalen Ansatzes würde die Akzente anders setzen, als dies Nörr (1993, 21) mit der Feststellung tut: ,ΛΙβο auch der Ordo ist dem einzelnen vorgegeben; die indi-

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VI. Ordoliberalismus und normativer Individualismus Wenn man „individuelle Freiheit" zum Maßstab einer Regelordnung nimmt, so kann man dies in zweierlei Weise tun. Man kann einmal darauf abstellen, daß eine „freiheitliche Ordnung" bestimmte Eigenschaften aufweist, im Sinne der obigen (Kap. IV) Erläuterungen. Man kann damit aber auch auf die Frage abstellen, ob eine Regelordnung auf der freiwilligen Zustimmung der ihr Unterworfenen beruht, ob sie ihre Legitimation aus der freien Entscheidung der betroffenen Individuen schöpft. Entsprechend gilt es zwischen zwei Fragen zu unterscheiden, nämlich auf der einen Seite der Frage, inwieweit eine Regelordnung Raum gewährt fur individuelle Freiheit und welche Vorzüge eine freiheitliche Ordnung aufzuweisen hat, und auf der anderen Seite der Frage, inwieweit eine Regelordnung für sich in Anspruch nehmen kann, auf der freiwilligen Zustimmung der ihr unterworfenen Personen zu beruhen. Argumente, die auf wünschenswerte Funktionseigenschaften einer "freiheitlichen Ordnung" abstellen, also jene Art von Argumenten, wie sie von Befürwortern einer solchen Ordnung typischerweise vorgebracht werden, können nicht per se eine solche Ordnung im Sinne eines normativen Individualismus legitimieren. Sie spielen fraglos eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Menschen davon zu überzeugen, daß es in ihrem Interesse liegt, sich für eine solche Ordnung zu entscheiden. Für die Frage ihrer Legitimation kommt es aber allein auf die (durch solche Argumente motivierte) freiwillige Zustimmung der Betroffenen an. Interpretiert man den ordoliberalen Gedanken, daß individuelle Freiheit als ein „Wert in sich" zu betrachten sei, nicht nur als eine Aussage darüber, welche Eigenschaften eine wünschenswerte Regelordnung aufweisen sollte, sondern auch als ein Argument zur Frage der Legitimation von Regelordnungen, dann kann man ihn im Sinne des Postulats verstehen, daß die Wahl von Regelordnungen durch die freie Entscheidung der betroffenen Individuen bestimmt sein sollte. So interpretiert drückt das ordoliberale Konzept einen normativen Individualismus aus, der besagt, daß in sozialen Dingen nur das als wünschenswert gelten kann, was für die betroffenen Individuen wünschenswert ist.59 Da das, was Individuen für wünschenswert halten, letztlich nur in ihren freien Entscheidungen Ausdruck finden kann, ist die Freiheit der Wahl zwischen relevanten Alternativen die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß eine soziale Ordnung den Anspruch erheben kann, fur die in ihr lebenden Menschen wünschenswert zu sein. Interpretiert man die Rede von der „individuellen Freiheit als Wert in sich" in diesem Sinne, so ist sie Ausdruck desselben normativen Individualismus, der in der konstitutionellen Ökonomik Buchanans mit der Formel umschrieben wird, daß die freiwillige Zustimmung der betroffenen Individuen das grundlegende Legitimationskriterium ist, an dem soziale

viduelle Sphäre, der individuelle Freiheitsraum ist vom Ordo umrahmt ... und vom Ordo kann sich seine Freiheit nicht lösen. Wenn wir daher nach dem Freiheitsverständnis fragen, das der Idee des Ordo innewohnt, dann stoßen wir wiederum wie bei Böhm ... auf ein Individuum, das seine Bestimmung von außen, vom Ordo, von der Ordnung erfahrt". 59 In diesem Sinne kann man wohl Möschel (1990, 167) interpretieren, wenn er im Hinblick auf die „umfassende Ordnungsidee" des ordoliberalen Ansatzes feststellt: „An seiner Basis stehen wirtschaftliche Handlungsfreiheiten. Dies bedeutet ein Denken von den einzelnen Entscheiden! her."

Wettbewerbsfreiheit ' 57

Transaktionen oder Arrangements zu messen und an dem Politikempfehlungen zu prüfen sind.60 Im Sinne eines solchen normativen Individualismus liegt, um Franz Böhms Formel zu verwenden, die Attraktivität von Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft {Böhm 1966) darin, daß es dabei um eine Regelordnung geht, die freiwillige Verträge zum prinzipiellen Instrument sozialer Koordination macht.61 Der Markt ist in diesem Sinne eine Arena freiwilliger Kooperation, ein institutionelles Arrangement, dessen Spielregeln darauf ausgerichtet sind sicherzustellen, daß nur solche soziale Transaktionen und Arrangements Zustandekommen, die auf der freiwilligen Zustimmung der beteiligten Parteien beruhen.62 Und eine „Verbesserung des Marktes" besteht aus dieser Sicht darin, die institutionellen Rahmenbedingungen so umzugestalten, daß die Chancen der Realisierung von Vorteilen freiwilliger Kooperation erhöht werden und der Spielraum für die Durchsetzung von nicht auf freiwilliger Zustimmung beruhenden Transaktionen und Arrangements verringert wird. Im Hinblick auf den Markt als eine solche institutionell abgesicherte Arena freiwilliger vertraglicher Koordination kann Möschel (1984, 160) feststellen: „Market transactions are carried out voluntarily, are signs of economic liberty of action". Nun kann man, wie oben eingehender erörtert wurde, von Freiheit und damit von freiwilliger Zustimmung in einem inhaltlich bestimmten Sinne nur dort sprechen, wo eine Regelordnung existiert, die die Freiheitsräume der Beteiligten gegeneinander abgrenzt und damit - angesichts des Umstandes, daß Menschen sich mit ihren Handlungen unvermeidlich immer irgendwelche Beschränkungen auferlegen - festlegt, welche Beschränkungen als Beeinträchtigung von Freiwilligkeit anzusehen sind und welche nicht. Als „freiwillig" sind in diesem Sinne solche Transaktionen oder Arrangements zu werten, die gemäß den geltenden Spielregeln zustande kommen. Dies bedeutet jedoch: Die Freiwilligkeit der in einer Regelordnung stattfindenden Transaktionen kann nur diese Transaktionen legitimieren, hat also nur sub-konstitutionell Legitimationskraft, kann aber die Regelordnung selbst nicht legitimieren. Ein konsistenter normativer Individualismus verlangt, daß das Kriterium der „individuellen Freiheit" von der sub-konstitutionellen Ebene auf die konstitutionelle Ebene übertragen wird, daß man den Gedanken der legitimierenden Funktion freiwilliger Zustimmung auch auf die konstitutionelle Ebene selbst anwendet, so wie dies Buchanan mit seiner Idee der Generalisierung des „gains from trade"-Paradigmas fordert. Was eine marktliche Wettbewerbsordnung in diesem Sinne legitimiert, sind nicht die von 60 Diesen Gedanken kann man auch hinter Möschels (1984, 162) Hinweis auf „consent or individual autonomy as ethical norm" vermuten und auch hinter Mestmäckers (1998a, 102) Verweis auf Kants Idee einer „Vereinigung von Menschen, die für sich selbst verantwortlich sind und ihre Selbstbestimmung nach Rechtsregeln verwirklichen". 61 Böhm (1960, 26) spricht von der Privatrechtsordnung, die „nur Gleichberechtigte und mithin für die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen zwei Rechtssubjekten grundsätzlich nur den zweiseitigen Rechtsakt, den freiwilligen Vertrag kennt". 62 Böhm (1980, 202): „Die der marktwirtschaftlichen Ordnung spezifisch zugeordnete Freiheit ist die Privatautonomie ... . Die Privatautonomie soll den Menschen instandsetzen, seine eigenen Angelegenheiten ... zu besorgen. Soweit er die individuellen Kräfte anderer Privatpersonen in Anspruch nimmt, so ist er hierzu nur auf Grund freiwilliger Hilfe oder frei geschlossener Privatverträge berechtigt".

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ihren Befürwortern zu Recht betonten positiven Funktionseigenschaften, sondern die freiwillige Zustimmung, die sie von den unter ihr lebenden Menschen erfährt. Stellt auf der sub-konstitutionellen Ebene die durch die Regelordnung konstituierte Privatautonomie die Legitimationsquelle für marktliche und allgemein privatrechtliche Transaktionen dar, so muß man im Sinne eines normativen Individualismus auf der konstitutionellen Ebene die Legitimationsquelle für Regelordnungen konsequenterweise in einer individuellen Autonomie sehen, die sich in jener Form äußert, in der sie sich auf dieser Ebene nur äußern kann, nämlich als freiwillige Vereinbarung von Ordnungen bzw. als freiwillige Entscheidung für eine Ordnung. Anders gesagt, wenn man die Bedeutung von Freiheit und individueller Autonomie nicht auf Privatautonomie beschränken will, also auf die Handlungs- und Vertragsfreiheit von Privatrechtssubjekten im Rahmen einer gegebenen Regelordnung, sondern darunter auch versteht, daß Menschen in der Wahl der Regelordnung frei sein sollen, auf die sie sich untereinander einigen können oder der sie sich anschließen möchten, dann wird man dem Prinzip der Privatautonomie das an die Seite stellen müssen, was man als das Prinzip konstitutioneller Autonomie bezeichnen könnte, d.h. das Postulat, daß die Individuen auch auf der konstitutionellen Ebene als diejenigen zu respektieren sind, deren Präferenzen den alleinigen Letztmaßstab dafür bilden, was als wünschenswert gelten kann. Was auf dieser Ebene individuelle Freiheit und freiwillige Zustimmung sinnvollerweise bedeuten können und wie auf dieser Ebene Freiwilligkeit am wirksamsten gesichert werden kann, ist offenkundig eine Frage, die wesentlich schwerer zu beantworten ist als die Frage, was individuelle Autonomie im Kontext einer gegebenen Regelordnung bedeutet. Daß die Anwendung des Kriteriums individueller Freiheit und individueller Autonomie auf dieser Ebene besondere Schwierigkeiten aufwirft, bedeutet aber sicherlich nicht, daß wir es hier ignorieren könnten.

VII. Schluß Interpretiert man das der ordoliberalen Konzeption zugrundeliegende normative Kriterium im oben erläuterten Sinne, dann stellt das ordoliberale Plädoyer für eine marktliche Wettbewerbsordnung im Kern nicht allein darauf ab, daß eine solche Ordnung individuelle Handlungsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit sichert und daß man deshalb aus der Bejahung des Wertes „Freiheit" zu einer Bejahung dieser Ordnung kommen müsse, - was ja auch bedeuten würde, daß das Argument für eine marktliche Ordnung nur in dem Maße greift, in dem Freiheit als Wert geschätzt wird, und dort seine Kraft verliert, wo solche Wertschätzung fehlt. Es gründet sich vielmehr auf das Argument, daß eine solche Ordnung aufgrund ihrer wünschenswerten Funktionseigenschaften im konsensfähigen konstitutionellen Interesse der Beteiligten liegt und in diesem Sinne, als Regelordnung, für alle zustimmungsfähig ist. Die Empfehlung einer solchen Ordnung richtet sich damit an die eigenen Interessen der Empfehlungsadressaten, an deren kon-

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stitutionelle Interessen. An diesen Interessen sind auch „Wertsetzungen" letztlich zu 63

messen. Mit dem Anspruch, daß eine freiheitliche Wettbewerbsordnung im konsensfahigen konstitutionellen Interesse der betroffenen Menschen liegt, einem Anspruch, den Walter Euchen und Franz Böhm zwar nicht in solchen Worten, aber ganz gewiß in der Sache vertreten haben,64 gewinnt die Empfehlung einer solchen Ordnung eine neue und, wie ich denke, wesentlich tragfähigere Grundlage, als sie der Rekurs auf Wettbewerbsfreiheit als „Wert an sich" zu bieten vermag. Ihre Durchsetzung dient dann einer Regelordnung, die im gemeinsamen Interesse aller liegt, die aber durch die ständige Versuchung der Beteiligten, durch Regelübertretungen65 oder durch das Erwirken von Sonderbehandlung und Privilegien Vorteile zu erzielen, gefährdet ist und gegen daraus drohende Erosion verteidigt werden muß. Die Legitimation freiheitlicher Wettbewerbsordnung aus den konsensfähigen konstitutionellen Interessen aller Beteiligten macht in diesem Sinne auch darauf aufmerksam, daß mit einer Wettbewerbspolitik, die die Wettbewerbsordnung gegen Regelverstöße privater Marktakteure verteidigt, nur ein Teil, und zwar vermutlich nur der einfachere Teil, des Problems der Sicherung einer solchen Ordnung gelöst ist. Die größere Schwierigkeit liegt darin, den konsensfähigen Regelinteressen entgegen den allgegenwärtigen Interessen an privilegierender Sonderbehandlung Geltung zu verschaffen und zu verhindern, daß sich die geltende Regelordnung durch staatliche Privilegienvergabe auf schleichendem Wege zunehmend vom Ideal einer Ordnung für Rechtsgleiche entfernt.66 Anders gesagt, die größere Schwierigkeit dürfte darin liegen, das Problem in den Griff zu bekommen, das Franz Böhm mit dem Konzept der „Refeudalisierung" um-

63 Möschel (1981, 92f.): „Eine Präferenz für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, innerhalb derer die einzelnen ihre beliebigen individuellen Pläne mit dem Instrument des Vertrages untereinander zu koordinieren suchen, beruht auf Wertsetzungen, die ich einmal als Freiheits-, Effizienz-, Demokratieund Rechtsstaatsargument systematisiert habe". 64 Im Hinblick auf das Postulat, die Regierung „auf die Aufgabe zu beschränken, die Rahmenordnung zu setzen, zu pflegen und ihre Einhaltung zu überwachen" (Böhm 1980, 156), stellt Böhm fest: „Das entspricht nicht bloß dem Verfassungsauftrag, sondern es liegt auch ... im Interesse aller Mitglieder der Privatrechtsgesellschaft und somit aller Staatsbürger, daß sich die Regierung an diesen Auftrag hält" (158). - Möschel (1990, 167) bemerkt zu dem von Eucken und Böhm begründeten Denkansatz: „Hinter all dem steht eine vertragstheoretisch begründete Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit im Unterschied zu utilitaristischen oder sonstigen fremdbestimmten Konzepten". - Siehe auch Möschel (2001, 6): „The actual basis of ordoliberal competition is deduced ... from an appreciation of law and justice based on contract". - Vgl. auch Mestmäcker (1975, 416). 65 Daß eine Regelordnung im konsensfähigen konstitutionellen Interesse aller Beteiligten liegt, sichert ihr keineswegs automatischen Gehorsam, da man natürlich auch Vorteile aus der Übertretung von Regeln ziehen kann, deren Geltung man ansonsten wünscht. Daß man in diesem Sinne zwischen Regelgeltungsinteresse und Regelôe/o/gungsinteresse unterscheiden muß, hat Franz Böhm (1960, 165) sehr plastisch mit folgenden Worten ausgedrückt: „Ein Dieb ist kein Revolutionär, sondern ein konservativer Ordnungsfreund. Er wünscht eine Ordnung, an die sich alle halten, bloß er nicht". 66 Hoppmann (1988, 303f.): „Werden jedoch durch die Regeln bestimmte Gruppen, Personen, Unternehmen u.s.w. bezeichnet und herausgehoben und ihnen besondere Rechten oder Pflichten übertragen, so sind die Regeln nicht mehr allgemein, sondern erzeugen .Privilegien* bzw. .Diskriminierungen'. ... Deshalb sind staatliche Privilegien oder Diskriminierungen die Grundlage für Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit durch staatlichen Zwang, d.h. fur staatliche Wettbewerbsbeschränkungen".

6 0 · Viktor Vanberg schrieben hat, 6 7 ein Problem, das in neuerer Zeit unter dem Stichwort „rent-seeking" in der Public Chocie-Theorie intensiv diskutiert worden ist. W e n n es aber stimmt, daß „die wichtigsten Gefahrdungen freien Wettbewerbs v o m Staate" ( M ö s c h e l 1990, 172) ausgehen, 6 8 w e n n „der wirklich böse Bube i m ganzen Spiel der Staat ist" ( M ö s c h e l 1992, 73), dann ist in der Tat „ein verändertes wettbewerbspolitisches Erkenntnisinteresse" (61) geboten. Dann muß Wettbewerbspolitik, in den Worten Hoppmanns

(1988, 303), „ihren Schwerpunkt in der systematischen Beobachtung

der Staatstätigkeit und der Unterlassung staatlicher Wettbewerbsbeschränkungen" haben. 6 9 Damit rückt aber auch eine Frage in den Vordergrund, die in der ordoliberalen Tradition bislang eher geringere Beachtung gefunden hat, der aber die besondere A u f merksamkeit der Constitutional Economics gilt, die Frage nämlich, w i e die Spielregeln der Politik gestaltet werden müssen, wenn die größtmögliche Chance bestehen soll, daß die konsensfahigen konstitutionellen Interessen der Bürger gegen privilegiensuchende Sonderinteressen zur Geltung kommen. Hier liegt die Herausforderung in einer werbspolitik

für die Politik,

Wettbe-

insbesondere darin, einen Ordnungsrahmen für die Politik

zu schaffen, in dem der politische Wettbewerb auf ihren eigenen Erfolg bedachte Politiker dazu anhält, sich fur die konsensfahigen Interessen der Bürger einzusetzen, - so w i e die „unsichtbare Hand" des Wettbewerbs die Produzenten im Markt dazu anhält, den Konsumenteninteressen zu dienen.

67 Böhm (1980, 158f.): „Empirisch freilich liegen die Dinge so, daß bei jeder Ordnung, die auf die organisierende Kraft von Spielregeln angewiesen ist, für jeden Teilnehmer ... die Möglichkeit besteht, durch Spielregelverletzungen Vorteile zu erlangen. Natürlich auf Kosten anderer Teilnehmer oder Teilnehmergruppen. Auch in der Marktwirtschaft besteht die Möglichkeit, das Mogeln zu einer Einnahmequelle zu machen ..., etwa durch Kartellbildung. Ungleich viel wirksamer ist jedoch der Versuch von Teilnehmergruppen, sich an die Tatsache zu erinnern, daß ihre Mitglieder ja auch Wähler und Mitträger der Volkssouveränität sind, und diese Qualität ihrer Beitragszahler im Raum des Staats und der Politik zur Geltung zu bringen. Hier setzt man sich gar nicht erst dem Odium aus, selbst zu mogeln, sondern erhebt mit dem besten Gewissen von der Welt die Forderung an den Gesetzgeber oder an die Regierung, das Mogeln zum Gesetzgebungs- oder Regierungsprogramm zu erheben. Wer sich als Souverän betätigt, lebt gleichsam auf einer Alm, wo es keine Sünde gibt, wo man Schutzzölle, Steuerprivilegien, direkte Subventionen, Preisstützungen, Starthilfen für Monopolisierungen und sogenannte Marktordnungen' fordern und mit solchem Tun seine soziale und politische Reputation sogar noch wirksam vermehren kann. .. Der Staat ist es in eigener Person, der veranlaßt werden soll, sich zugunsten einer Gruppe und auf Kosten anderer Gruppen von Staatsbürgern über die Spielregeln der geltenden Ordnung hinwegzusetzen. " - Die Anfälligkeit fur Privilegiensuche und das daraus resultierende „Interventionssystem" hat Böhm (1950, XXXVI) als „die spezifische Krankheit der Verkehrswirtschaft" bezeichnet. 68 Möschel (1992, 61): „Die zentralen Gefährdungen einer Wettbewerbsordnung rühren von staatlichen Maßnahmen her". - Möschel (1990, 172fT.) diskutiert einige Lösungsansätze dafür, wie „man den Gesetzgeber einerseits an die Kette legen und wie ... man ihn andererseits zum Abbau vorhandener Beschränkungen ... bewegen" (171) kann. 69 Hoppmann (1988, 367): „Es genügt nicht, wenn die hoheitliche Gewalt dafür sorgt, daß Privatrechtssubjekte den Wettbewerb nicht beschränken. ... Es sind vielmehr institutionelle Vorkehrungen und rechtliche Sicherungen erforderlich, um auch hoheitliche Beeinträchtigungen des Marktsystems unmöglich zu machen. Insofern verlangt die Wettbewerbsordnung eine konstitutionelle Beschränkung der Staatsgewalt".

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Summary The „Freedom-to-compete" concept from a constitutional economics perspective Within the ordoliberal tradition the ,,freedom-to-compete" concept plays a central role as guide line for competition policy. Its precise meaning and normative content are, however, not entirely unambiguous. The purpose of this article is to analyze some of the ambiguities surrounding the "freedom-to-compete" concept from a constitutional economics perspective and to argue that these ambiguities can be eliminated if a careful distinction is drawn between the constitutional and the sub-constitutional meaning of the concept.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Wernhard Möschel

Ex ante-Kontrolle versus ex post-KontrolIe im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen Das Thema ist aktuell geworden durch die Reformvorschläge der EG-Kommission in ihrem Weißbuch vom April 1999 (.EG-Kommission 1999) und in ihrem Verordnungsentwurf vom September 2000 (.EG-Kommission 2000, EG-Kommission 2001a, Tz. 37 f f ) . Die Ausführungen sind so gegliedert: - Ich beginne mit einer begrifflichen Klärung des Gegenstandes und verdeutliche ihn mit Regelungsbeispielen aus dem deutschen, dem europäischen und dem USamerikanischen Recht. - Ich stelle dem das Reformkonzept der Kommission gegenüber und - diskutiere dann Für und Wider der beiden hier untersuchten Regelungsmuster. Auf diesem Abschnitt liegt das Schwergewicht. Das Ergebnis wird sein: Die Aufgabe einer ex ante-Kontrolle ist wettbewerbspolitisch riskant. Wir werden über kurz oder lang auf EG-Ebene mit einer kompensierenden Einführung echter Kriminalstrafen, d.h. hier Gefängnisstrafen, bei einzelnen Kartellrechtsverstößen rechnen müssen.

I. Begriffliche Klärung Ex ante und ex post meinen in unserem Zusammenhang, ob ein Marktteilnehmer, der eine potentiell wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise praktizieren will, vor ihrer Durchführung eine Kontrollinstanz, in der Regel eine Behörde, einschaltet. Dies mag freiwillig geschehen; er mag dazu verpflichtet sein. In Deutschland haben wir eine ex ante-Kontrolle mit Anmeldepflicht bei den Widerspruchskartellen nach § 9 Abs. 1-3 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und bei den Freistellungskartellen im Sinne von § 10 Abs. 1 GWB. Hinzu treten die Anerkennung von Wettbewerbsregeln nach § 26 Abs. 2 S. 1 GWB, die Freistellung von Lizenz- und sonstigen Verträgen, die gegen § 17 Abs. 1 oder § 18 GWB verstoßen, nach § 17 Abs. 3 und die präventive Fusionskontrolle nach den §§ 35 f. GWB. In all diesen Fällen erfolgt eine vorherige Prüfung durch die Kartellbehörde. Bei der ex post-Kontrolle ist zu unterscheiden: In zwei Fällen besteht eine Anmeldepflicht. Doch darf die ins Auge gefaßte Maßnahme sofort praktiziert werden. Dies gilt für Einkaufskooperationen nach §§ 4 Abs. 2/9 Abs. 4 GWB sowie für die Empfehlungen nach § 22 Abs. 2-5 GWB. In den meisten Fällen der ex post-Kontrolle besteht keine Anmeldepflicht. Dies gilt für die Verbotstatbestände: Kartellverbot nach § 1 GWB, Verbot von vertikalen Preis- und Konditionenbindungen nach § 17 GWB, das Verbot wettbewerbsbeschränkender Lizenz- und sonstiger Verträge nach § 17/18 GWB (soweit

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nicht angemeldet), die Mißbrauchsverbote nach §§ 19, 20 und 21 GWB, das Empfehlungsverbot nach § 22 Abs. 1 GWB und verbotswidrig vollzogene Zusammenschlüsse. Zur ex post-Kontrolle ohne Anmeldepflicht gehört schließlich die Mißbrauchsaufsicht über Ausschließlichkeitsbindungen nach § 16 GWB. Weitere Anwendungsbeispiele finden sich in den Sonderregeln für bestimmte Wirtschaftsbereiche nach §§28 ff. GWB. Auf EU-Ebene haben wir gegenwärtig eine ex ante-Kontrolle mit Anmeldepflicht bei den Einzelfreistellungen vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag gemäß Art. 81 Abs. 3/Art. 6 Verordnung Nr. 17, der sogenannten Kartellverordnung, und bei der präventiven Fusionskontrolle {Wils 1999). Eine ex post-Kontrolle greift beim Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag für nicht angemeldete und für nicht anmeldepflichtige Vereinbarungen ein (Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 17) und für solche Vereinbarungen, die unter eine Gruppenfreistellungsverordnung fallen. Gleiches gilt für das Mißbrauchsverbot nach Art. 82 EG-Vertrag und für verbotswidrig vollzogene Zusammenschlüsse (Art. 14 FKVO). Bei Art. 82 EG-Vertrag bleibt die Erteilung eines Negativattestes nach Art. 2 VO Nr. 17 möglich; doch kommt dies praktisch kaum vor. In den USA besteht eine ex ante-Kontrolle für die größeren Untemehmenszusammenschlüsse nach Section 7A Clayton Act in der Form des Hart-Scott-Rodino Antitrust Improvements Act von 1976, für reine Exportkartelle, die einer Registrierungspflicht bei der FTC unterliegen ( Webb-Pommerene Act von 1918); hinzu tritt seit 1982 die Zertifizierungsmöglichkeit für sog. Export Trading Companies. Sie wird vom Department of Commerce im Benehmen mit dem Department of Justice ausgeübt (näher Paulweber 2000, 25 ff.). Freiwillige Anmeldungen sind seit 1984 möglich für Forschungs- und Entwicklungskooperationen, die im Jahre 1993 auf Produktionskooperationen ausgedehnt wurden (Prüfung nach einem rule of reason-Standard, keine Strafbewehrung, kein dreifacher, sondern nur einfacher Schadenersatz eines betroffenen Dritten). Die Unternehmen nutzen diese letzteren Möglichkeiten kaum; sie ziehen es vor, ihre Kooperation geheim zu halten. Daneben gibt es die informelle Praxis der sogenannten advisory opinions (Federal Trade Commission) oder der sogenannten business review letters (Department of Justice). Sie haben keine bindende Wirkung in einem strikten Sinne. Praktisch können sich die Unternehmen auf solche Auskünfte in der Weise verlassen, daß die jeweilige Antitrust-Behörde bei unverändertem Sachverhalt später kein Verfahren einleitet. Im übrigen ist die amerikanische Praxis durch eine ex post-Kontrolle gekennzeichnet: Dies gilt für Section 1 und 2 Sherman Act ebenso wie für die Verbotstatbestände nach Section 2 und 3 Clayton Act (Preisdiskriminierung, Alleinbezugs- und Koppelungsvereinbarungen), für die „normale" Fusionskontrolle nach Section 7 Clayton Act und für die umfassenden Handlungsmöglichkeiten der FTC nach der Generalklausel des Section 5 FTC-Act. Auf die privatrechtliche Durchsetzung komme ich zurück.

II. Der geplante Systemwechsel auf EG-Ebene Das geplante Reformvorhaben auf EG-Ebene läßt das Mißbrauchsverbot nach Art. 82 EG-Vertrag und die präventive Fusionskontrolle unberührt. Der entscheidende Wechsel

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liegt im Übergang vom bisherigen System des Verbots in Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag mit ausschließlich von der Kommission auszuübendem Administratiworbehalt nach Abs. 3 Vorschrift zu einem System der Legalausnahme: Art. 81 Abs. 1 und 3 sind integriert und unmittelbar anzuwenden. Einer vorgängigen Klärung seitens einer Kartellbehörde bedarf es nicht mehr. Läßt man Art. 10 des Verordnungsentwurfs mit der Möglichkeit deklaratorischer Entscheidungen zur Nichtanwendbarkeit von Art. 81 und Art. 82 einmal beiseite - sie werden ausschließlich von Amts wegen und aus Gründen des öffentlichen Interesses erlassen und sollen nach Auffassung der Kommission eher abstrakte Rechtsfragen klären - , so ist dies ein Übergang von einer ex ante-Kontrolle durch Anmeldung auf eine ausschließliche ex post-Kontrolle mittels Abschreckung (Möschel 1999 und 2000). Die Motive der Kommission waren lange unklar. Das ohnehin eher oberflächliche Argument von der Arbeitsentlastung steht nicht im Vordergrund. Es hat allenfalls insofern einen gewissen Stellenwert, als eine Befreiung der Kommission von den bisherigen Freistellungsverfahren nach Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag es der Kommission eher erlauben könnte, sich auf die Verfolgung der gravierendsten Kartellverstöße zu konzentrieren wie Preis-, Gebiets- und Quotenkartelle. Die Beteiligten halten ein System der ex post-Kontrolle durch Abschreckung auch und gerade unter dem Aspekt des Wettbewerbsschutzes für effizienter, jedenfalls wenn man das Reformvorhaben in seiner Gesamtheit in den Blick nimmt. Der innerste Kern freilich liegt in einem veränderten Verständnis von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung: Das durch die bisherige Trennung von Art. 81 Abs. 1 und 3 EG-Vertrag ermöglichte zu juristische Verständnis einer Wettbewerbsbeschränkung als die einverständliche Beseitigung von Ungewißheit im Hinblick auf das Marktverhalten von Konkurrenten sei zu uferlos und durch eine integrierende Berücksichtigung des Abs. 3 auf einen ökonomisch sinnvollen Pfad zu bringen. Aus dieser Sicht wird das überkommene, kritische Vorverständnis gegenüber Kooperationen zwischen Wettbewerbern verabschiedet. Solche Kooperationen haben keinerlei Vermutung der Wettbewerbsschädlichkeit mehr gegen sich (EG-Kommission 1999, Tz. 78; EG-Kommission 2001a). Das berühmte Diktum Adam Smiths, wonach Kaufleute des gleichen Gewerbes selten zusammenkommen, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, ohne daß das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann (Smith 1974, 112), wird der Dogmengeschichte überantwortet. Aus dem gleichen Ansatz, den die Kommission einen „stärker wirtschaftlichen" zu nennen beliebt, soll die Anwendung von Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag „auf Unternehmen mit einer gewissen Marktmacht" beschränkt bleiben. Solche Ideen wurden schon im 19. Jahrhundert geäußert (Möschel 1972, 11 ff.). Sie haben die Debatte um ein modernes Kartellrecht mehr oder minder ständig begleitet. Prüfen wir Für und Wider!

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III. Für und Wider der beiden Regelungsmuster 1. Abschichtungen Vorweg lassen sich einige Vereinfachungen treffen. a. Fusionskontrolle Bei der Fusionskontrolle läßt sich im Rechtsvergleich eine deutliche Bewegung weg von der ex post-Kontrolle hin zu einer ex ante-Kontrolle feststellen. Niemand befürwortet eine Umkehr dieser Bewegung. Dies hat im wesentlichen zwei Gründe: Angesichts des Investitionscharakters von Unternehmenszusammenschlüssen ist das Bedürfnis nach Planungssicherheit für die Beteiligten, d.h. hier Rechtssicherheit, überragend. Das streitet für eine ex ante-Kontrolle. Hinzu treten die bekannten Schwierigkeiten mit der Entflechtung einmal vollzogener Unternehmenszusammenschlüsse. Bei einer ex post-Kontrolle wären diese Schwierigkeiten nachgerade systemprägend. b. Hardcore-Kartelle Sogenannte Hardcore-Kartelle bleiben von der Frage ex ante- oder ex post-Kontrolle unberührt. Da diese Kartelle per definitionem keine Legalisierungschance haben, werden sie in keinem kartellkritischen System angemeldet. Das Argument der Kommission, solche Kartellreformen würden von der Anmeldemöglichkeit nach Art. 81 Abs. 3 EGVertrag nicht erfaßt, ist zwar richtig. Die Schlußfolgerung, auch deshalb sei auf den Administrativvorbehalt nach Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag zu verzichten, ist indes evident unrichtig. Diese Art von Kartellen hat mit Anmeldungen noch nie etwas zu tun gehabt. c. Mißbräuchliches Ausnutzen einer marktbeherrschenden Stellung Einer ex post-Kontrolle unterliegen Verhaltensweisen, die von Art. 82 EG-Vertrag oder im deutschen Recht von den §§ 19 f. GWB erfaßt werden können. Auch daraus läßt sich entgegen verbreiteter Argumentation kein Argument für eine Gleichbehandlung mit Kartellen gewinnen. Es geht bei diesen Vorschriften - ähnlich wie im Bereich des UWG - um Einzelverhaltensweisen, die im Verdacht stehen, aus wettbewerblicher Perspektive „unreinlich" zu sein. In den Worten eines Kollegen der Nationalökonomie: Es geht um wettbewerbspolitischen „Schweinkram". Ein konkretes Marktverhalten wie eine Lieferverweigerung, ein Koppelungsverlangen, bestimmte Formen der Rabattpolitik u.ä. erregen Anstoß. Erst im zweiten Zugriff stellt sich dann die Frage, was dagegen im Einzelfall rechtlich gemacht werden kann, was wiederum die weitere Frage nach einer eventuell bestehenden Marktmacht aufwirft. Zugleich sind solche Verhaltensweisen - im deutlichen Unterschied zu Kartellvereinbarungen - im Markt sichtbar. Es gibt Betroffene, welche den

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Wirkungen solchen Verhaltens konkret ausgesetzt sind. Sie haben dann die grundsätzliche Chance, sich dagegen zu wehren, sei es mit Hilfe eines Dritten (Beschwerde bei einer Kartellbehörde), sei es gegebenenfalls aus eigener Kraft mit Mitteln des privaten Rechts. Ein Anmeldeverfahren wäre hier wiederum ziemlich funktionslos. Belegt wird dies durch die bereits mitgeteilte Beobachtung, daß vorgängige Negativatteste der Kommission in Richtung Art. 82 EG-Vertrag praktisch kaum vorkommen. d. Vertikale Bindungen Ganz ähnlich liegt es bei vertikalen Bindungen. Es gibt immer Betroffene. Solche Verhaltensweisen sind im Markt sichtbar. Sie haben von daher unter dem Aspekt ex ante oder ex post eine ganz andere Qualität als Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern. Section 1 Sherman Act und Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag erfassen überdies solche vertikalen Bindungen im Ausgangspunkt materiell in gleicher Weise wie horizontale Vereinbarungen. Es ist mittlerweile unstreitig, daß dies wettbewerbspolitisch zu undifferenziert ist. In den USA hat sich u.a. deshalb die Trennung von per se-Verboten und von rule of reason-Sachverhalten entwickelt. Gleichzeitig griff der Gesetzgeber schon im Jahre 1914 mit der Verabschiedung des Clayton Act ein. Reformnotwendigkeiten ergaben sich ebenso auf EG-Ebene. Die ausgedehnte Verabschiedung sog. Gruppenfreistellungsverordnungen, deren Schwergewicht gerade bei vertikalen Bindungen liegt, hängt damit zusammen. Es wäre aber sachwidrig, wegen eines in Richtung vertikaler Bindungen grundsätzlich einzuschränkenden Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag eine ex ante-Kontrolle insgesamt zu beseitigen, also auch dort, wo sie gegebenenfalls Sinn machen könnte. Für solche ex ante-Kontrolle kommt der gesamte Bereich horizontaler Kooperationen in Betracht, der nicht aus Hardcore-Kartellen besteht. Dies sind in Deutschland die §§ 2 ff. GWB, in den USA horizontale rule of reason-Sachverhalte und auf EG-Ebene alles, was bislang dabei in Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag bzw. seiner praktischen Ersatzform des sog. comfort letters erledigt wurde. Das ist nicht gerade wenig {EGKommission 2001b, Schaubilder 1 - 3 nach Tz. 229). 2. Kriterien Kriterium für eine Wahl zwischen ex ante- und ex post-Kontrollarrangement sollte die Effizienz des Wettbewerbsschutzes sein. Folgende Aspekte fallen ins Gewicht: a. Information Eine ex ante-Kontrolle ermöglicht Transparenz und Information. Dies gilt nicht nur für eine Kartellbehörde, sondern auch für betroffene Dritte, Konkurrenten, Zulieferer, Abnehmer einschließlich Verbrauchern. Noch vor wenigen Jahren war sich die Kommission dessen wohl bewußt: „Die Anmeldungen sind für die Kommission eine unerschöpfliche Quelle der Information über Geschäftsvorhaben" (EG-Kommission 1996,

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Rn. 188). Bei einer ex post-Kontrolle fehlt dieser Mechanismus. Überzeugende Ersatzoptionen sind nicht erkennbar. Sektorenuntersuchungen bringen kaum etwas. Das belegen namentlich die US-amerikanischen Erfahrungen. Informationen als Nebenprodukt von Fusionskontrollfallen, die nach Brüssel kommen, ermöglichen einen allgemeinen Einblick in Marktverhältnisse. Sie wirken als Navigatoren hin zu kartellrechtlich bedenklichen Absprachen aber bestenfalls nur bei den unmittelbar fusionsbeteiligten Unternehmen. Eine Intensivierung von Kronzeugenregelungen, von sogenannten leniency programs, bezieht sich auf Hardcore-Kartelle. Diese haben mit der Frage ex ante/ex post indes, wie gezeigt, nichts zu tun. b. Rechtssicherheit Rechtssicherheit ist fur die Beteiligten ein wesentlicher Gesichtspunkt. Er mag fur eine F & Ε-Kooperation oder fur ein Rationalisierungskartell von geringerem Gewicht sein als typischerweise bei einem Unternehmenszusammenschluß. Doch verringert sich lediglich das relative, nicht das absolute Gewicht des Gesichtspunkts. Eine Selbstveranlagung der Unternehmen oder ihrer Anwälte im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag wird diese Sicherheit schwerlich liefern. Den beteiligten Unternehmen fehlen vielfach die erforderlichen Marktdaten. Sie haben nicht die Aufklärungsbefugnisse einer Kartellbehörde, in der Regel auch nicht deren Erfahrung und Sachverstand. Eine Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag wird dann schnell zur Spekulation. In den USA, dem Land mit ausgeprägter ex post-Kontrolle mittels Abschreckung, sind die Rechtsunsicherheiten auf dem Felde des antitrust unverändert hoch. Im board einer corporation sitzt immer der Geist des Senators Sherman mit am Tisch. Die gegenwärtige Anmeldepraxis in Brüssel führt zwar nur ganz selten zu förmlichen Entscheidungen. 90% der Fälle werden bekanntlich mit comfort letters oder sonst auf informellem Wege abgeschlossen. Für die Praxis bleibt dies alles in allem ein befriedigendes Verfahren. Die Unternehmen schätzen die Auskunft der zuständigen Kartellbehörde jedenfalls allemal höher ein als die Auskunft eines Anwaltes. Die Vorstellung der Kommission, hier mit ausgedehnten Bekanntmachungen, Leitlinien u.ä. helfen zu wollen, bringt nur ganz Begrenztes. Die Schwierigkeiten in der Kartellrechtspraxis liegen nicht so sehr im Abstrakt-Normativen, sie liegen im Tatsächlichen. Jeder Fall ist anders.

c. Kohärenz Angesichts der Kompetenzverteilung zwischen nationalen Kartellbehörden, nationalen Gerichten einerseits und EG-Kommission, europäischen Gerichten andererseits wird die Kohärenz in der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag zum Problem. Was eine Zusammenarbeit zwischen den Kartellbehörden, die Generaldirektion Wettbewerb in Brüssel mit eingeschlossen, anbelangt, wird man eine positive Prognose stellen dürfen. Schwer vorstellbar ist dies bei den nationalen Gerichten, von Helsinki bis Palermo und von Lissabon bis demnächst Budapest. Dies gilt jedenfalls für Zivilverfahren, bei denen üblicherweise die Parteien Herren des Verfahrens sind (Beibringungs-

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grundsatz, Dispositionsmaxime). Eine bessere Option gegenüber dem Systemwechsel, den die Kommission vorschlägt, wäre schlicht die dezentrale Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag durch die jeweiligen nationalen Behörden unter der koordinierenden Letztverantwortung der Kommission (Monopolkommission 1999, Tz. 61 ff.). Die Errichtung eines solchen Koordinierungssystems ist ohnehin beabsichtigt. d. Subsidiarität Die Kommission verbindet den Übergang zu einer ex post-Kontrolle mit dem Gedanken einer erwünschten stärkeren Subsidiarität in der Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln. Sieht man genauer hin, erkennt man: Die postulierte Subsidiarität ist im Wesentlichen eine scheinbare. Die Kommission behält sich ein Evokationsrecht vor, nicht nur gegenüber nationalen Kartellbehörden, auch gegenüber nationalen Gerichten. Letzteres gilt so lange, wie ein Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, wobei eine eingetretene Rechtskraft auch nur inter partes, nicht etwa erga omnes wirken würde. Scharf formuliert: Die Organe der Mitgliedstaaten mutieren letztendlich zu Hilfstruppen der Kommission. e. Abschreckungswirkung Zentral ist die Frage, bei welchem System die höhere Abschreckungswirkimg zu erzielen ist. Ein Anmeldesystem gibt der Kartellbehörde die Möglichkeit, schon im Vorfeld der Praktizierung horizontaler Vereinbarungen aktiv auf ihre wettbewerbsverträgliche Gestaltung hinzuwirken. Bei den Kartellbeteiligten führt es zu disziplinierenden Wirkungen; sie schließen die Verträge eher kartellrechtskonform ab, um auf diese Weise eine Freistellung zu erlangen. Ähnlich verringert sich ein Anreiz, von der erlaubten Kooperation zu einer verbotenen überzugehen. Denn die Unternehmen wissen, daß die Behörde „weiß". Letzteres ist ein Gesichtspunkt, der allgemeinere Bedeutung hat. Die Kommission stellt mit ihrem Vorschlag Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit letztlich auf eine Stufe. Dies ist geeignet, die erörterte Abschreckungswirkung im Mark zu treffen, nämlich insoweit, wie die Aufrechterhaltung des Rechtsbewußtseins auf diesem Felde gefährdet wird. Abschreckung ist ja nicht nur im alten Feuerbachschen Sinne als Androhung von Sanktion zu verstehen, sie hat diese wohl wichtigere kulturelle Komponente der Aufrechterhaltung des Rechtsbewußtseins. Es wäre Primitivökonomie, wenn man diese Dimension menschlicher Verhaltensbeeinflussung außer Acht ließe. Dies gilt um so mehr, als man Zweifel haben kann, ob der Wettbewerbsgedanke in den europäischen Regierungen und bei den Bevölkerungen wirklich stabil verankert ist. Berücksichtigt man die zahlreichen Verstöße gegen die europäischen Beihilfevorschriften, die Bemühungen, national champions zu kultivieren, die weitgehende Akzeptanz des service public-Gedankens, so scheint Skepsis auf. Die anstehende Erweiterung der EU wird in dieser Richtung schwerlich einen positiven Impuls bringen. Auf eine forcierte zivilrechtliche Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen kann man nach den bisherigen Erfahrungen in den europäischen Verhältnissen nicht

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setzen. Die Verkoppelung des unbestimmten Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag mit einem noch unbestimmteren Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag erleichtert Zivilklagen jedenfalls nicht. Zu Recht ist die Frage gestellt worden, ob Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag überhaupt self-executing im Sinne der EuGH-Rechtsprechung sein, ob er ohne vorgängige Behördenentscheidung unmittelbare Rechte und Pflichten zwischen Privatrechtsparteien begründen kann (Mestmäcker 1999, 523 ff.; Wissenschaftlicher Beirat 2000, Tz. 7). f . Durchsetzungskosten Es scheint ausgemachte Sache zu sein, daß ein System der ex post-Kontrolle geringere Durchsetzungskosten verursache als ein System der ex ante-Kontrolle ( Wils 1999). Richtig ist daran zunächst: Es werden die Ressourcen frei, die innerhalb eines Anmeldesystems gebunden sind. Das beschreibt das Bild indes nicht vollständig. Gegenzurechnen sind die innerhalb eines Anmeldesystems bestehenden Möglichkeiten, Freistellungen zu dosieren und diese auf spezialisierte Behörden zu konzentrieren, welche entsprechende Sachkunde aufbauen können. Zu fragen ist ferner nach dem Gewicht der Ermittlungskosten innerhalb eines Systems der ex post-Kontrolle. Eine eindeutige Antwort scheint sich nicht aufzudrängen. g. US-amerikanische Erfahrungen Eine Einräumung ist zu machen: Ein System der ex post-Kontrolle durch Abschreckung kann wirksam sein {Möschel 2000, 66). Das zeigen die Erfahrungen des USamerikanischen Antitrust-Rechts. Es weist mit seiner Trennung von per se-Sachverhalten einerseits und rule of reason-Sachverhalten andererseits freilich einen anderen Charakter auf als das in Aussicht genommene EG-System, wonach zunächst verbotene Wettbewerbsbeschränkungen grundsätzlich allesamt zulässig sein können. Ein solches System setzt im übrigen eine Fülle flankierender Regelungen voraus, die in Europa nicht vorhanden sind. - Eine zivilrechtliche Verfolgung von Kartellverstößen bedingt die Möglichkeit eines pretrial discovery-Verfahrens. Der Privatmann wird sozusagen zum Staatsanwalt. - Erfolgshonorare fur Anwälte schaffen einen Anreiz zur Rechtsverfolgung. Sie gelten jedoch in Europa weithin als sittenwidrig. - Treble damages liefern einen zusätzlichen Anreiz. Amerikanische Urteile, welche solche punitive damages enthalten, werden in Europa freilich in der Regel nicht anerkannt. Sie verstoßen hier gegen den ordre public. - Man darf die Negativseiten amerikanischer Rechtsdurchsetzung nicht übersehen. Die hohe Rechtsunsicherheit wurde bereits erwähnt. Zivilklagen lassen sich in den USA überdies als Instrument der Einschüchterung, in unserem Zusammenhang als Instrument der Wettbewerbsbeschränkung einsetzen. Ein zu Unrecht Beklagter bleibt auf seinen eigenen Kosten, namentlich beträchtlichen Anwaltskosten, sitzen. Das zwingt fast die Parteien zu einem Arrangement.

Ex ante-Kontrolle versus ex post-Kontrolle • 71 Man muß weiter bedenken: Unabhängige private Klagen, also solche, die nicht lediglich „follow on-cases" nach Entscheidungen der Antitrust-Behörden sind, konzentrieren sich auf Unternehmensverhalten, welches im Markt sichtbar ist und ein klar identifizierbares Opfer aufweist. Horizontale Vereinbarungen, gerade auch Hardcore-Kartelle, werden auf diesem Wege dagegen weniger häufig vor die Gerichte gebracht {Paulweber 2000,24).

3. A u s b l i c k Das anstehende Reformvorhaben der Kommission ist nicht von politischer Seite ausgedacht worden. Es stammt aus einer technokratischen Ecke. Eine interne Arbeitsgruppe der Generaldirektion Wettbewerb hatte die Pläne über einen Zeitraum von zwei Jahren ausgearbeitet, bis sie im März 1999 den Kartellbehörden der Mitgliedstaaten und einen Monat später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Wouter Wils, Mitglied des Juristischen Dienstes der Kommission und Mitglied dieser Arbeitsgruppe, hatte in einem Vortrag die Grundlinien dieser Vorschläge wissenschaftlich vorbereitet {Wils 1999). Nach gegenwärtigem Kenntnisstand sind - je nach Standpunkt - die Chancen oder Risiken, daß diese Vorschläge im Wesentlichen umgesetzt werden, hoch. Mittlerweile zeichnet sich ein möglicher nächster Schritt ab. Anfang Juni dieses Jahres präsentierte Wouter Wils auf einem Wettbewerbssymposium am Europäischen Universitätsinstitut in Florenz ein Papier, wonach ein Übergang zu Kriminalstrafen, d.h. hier Gefängnisstrafen, als Sanktion auf Verstöße gegen Art. 81 ff. EG-Vertrag wettbewerbspolitisch zwingend sei {Wils 2001). Dies folgt US-amerikanischem Vorbild. Andere Optionen verwirft er: - Ein Anmeldesystem hält er für nutzlos; das kann niemanden überraschen. - Private Verfolgung zu ermutigen, helfe nicht viel. Das mag vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kommissionsvorschläge schon erstaunlicher erscheinen. - Eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, Wettbewerbsverstöße zu entdecken, löse fur sich allein das Problem nicht. Kurz: In der Logik der Kommissionsvorschläge liegt die Einführung von Gefängnisstrafen als Sanktion für Kartellverstöße. Nach Wouter Wils ist eine Änderung des primären Gemeinschaftsrechts dafür nicht erforderlich, ebenso wenig müsse die Gemeinschaft eigene Gefängnisse bauen.

Literatur EG-Kommission (1996), Grünbuch zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Beschränkungen, KOM (96) 721 endg., Brüssel. EG-Kommission (1999), Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, Amtsblatt EG, 42. Jg., C 132 vom 12.5.1999, S. 1-33. EG-Kommission (2000), Vorschlag fìir eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln, KOM (2000) 582 endg., Brüssel.

72 · Wernhard Möschel EG-Kommission (2001a), Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, Amtsblatt EG, 44. Jg., C 3 vom 6.1.2001, S. 230. EG-Kommission (2001b), XXX. Bericht über die Wettbewerbspolitik 2000, Luxemburg. Mestmäcker, Ernst-Joachim (1999), Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, Band 17, S. 523-529. Möschel, Wernhard (1972), 70 Jahre deutsche Kartellpolitik, Tübingen. Möschel, Wernhard (1999), Europäische Wettbewerbspolitik auf Abwegen, Wirtschaftsdienst, 79. Jg., S. 504-512. Möschel, Wernhard (2000), Systemwechsel im Europäischen Wettbewerbsrecht?, Juristenzeitung, Band 55, S. 61-67. Monopolkommission (1999), Kartellpolitische Wende in der Europäischen Union?, BadenBaden. Paulweber, Michael (2000), The End of a Success Story? The European Commission's White Paper on the Modernisation of the European Competition Law. A Comparative Study about the Role of the Notification of Restrictive Practices within the European Competition and the American Antitrust Law, Journal of World Competition, Vol. 23, S. 3-48. Smith, Adam (1974/1776), Der Wohlstand der Nationen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München. Wils, Wouter P. J. (1999), Notification, Clearance and Exemption in E. C. Competition Law: An Economic Analysis, Economic Law Review, Vol. 24, S. 139-156. Wils, Wouter P. J. (2001), Does the effective enforcement of Articles 81 and 82 EC require not only fines on undertakings but also individual penalties, in particular imprisonment?, http://www.iue.it/RSC/competition 2001 (papers).html., S. 1-77. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium fur Wirtschaft und Technologie (2000), Reform der europäischen Kartellpolitik, BMWi-Dokumentation Nr. 480, Berlin. Zusammenfassung Die EG-Kommission plant, das Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft durchgreifend zu verändern. Das bisherige System des Verbots in Artikel 81 Abs. 1 EG-Vertrag mit Freistellungsvorbehalt nach Abs. 3 der Vorschrift soll in ein System der Legalausnahme überfuhrt werden. Artikel 81 Abs. 1 und 3 EG-Vertrag sind dann integriert und unmittelbar anwendbar. Eine vorgängige Klärung seitens einer Kartellbehörde entfallt. Dies ist ein Übergang von einer ex ante-Kontrolle mittels Anmeldung zu einer ex post-Kontrolle mittels Abschreckung. Der Verfasser klärt flir die deutsche, die europäische und die US-amerikanische Rechtsordnung, in welchem Mischungsverhältnis dort Elemente der ex ante-Kontrolle und der ex post-Kontrolle vorhanden sind. Er hält die Vorschläge der EG-Kommission für wettbewerbspolitisch riskant. Er prüft dies anhand der Kriterien Transparenz, Rechtssicherheit, Kohärenz der Rechtsanwendung, Subsidiarität, Abschreckungswirkung und Durchsetzungskosten. In der Logik der Kommissionsvorschläge dürfte die Einführung von Gefängnisstrafen als Sanktion für Kartellverstöße liegen.

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Summary Ex ante enforcement through prescreening versus ex post enforcement through deterrence within the competition law The EU Commission plans to fundamentally change the competition law of the European Union. According to these plans, the current system of a prohibition in Art. 81 Sec. 1 of the Treaty with the possibility of an exemption subject to a decision according to Art. 81 Sec. 3 would be replaced by a system of an automatic statutory exemption. Article 81 Sec. 1 and Sec. 3 of the Treaty would then be directly applicable as one integrated rule. A prior examination by the competition authorities would not take place any more. This would be a change from an ex ante enforcement through prescreening to an ex post enforcement through deterrence. The author shows the mixture of elements of ex ante control and of ex post control in the German, the European and the US American legal systems. He assumes the proposals of the EU Commission to be risky in terms of competition policy. He tests this hypothesis against the criteria of transparency, legal certainty, coherency of legal enforcement, subsidiarity, deterrence effects and costs of enforcement. The logic of the proposals of the EU Commission implies the introduction of imprisonment as a sanction for antitrust offenses.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Manfred E. Streit

Zum Freiheitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems „People who praise individual freedom ought to be even more suspicious of the legislation, as it is precisely through legislation that the increase in the powers of officials has been and still is being achieved." Bruno Leoni (1991)

I. Fragestellung Zu den Mißverständnissen in der ordnungspolitischen Diskussion gehört es, wenn von freier Marktwirtschaft die Rede ist und wenn Befürworter marktorientierter Reformen als Neoliberale nahezu beschimpft werden. Das so provozierte Mißverständnis besteht darin, daß der Freiheitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems übersehen wird, zumindest aber ideologisch in Frage gestellt werden soll. Ihn zu erörtern ist Zweck dieses Aufsatzes. Dabei werde ich wie folgt vorgehen: Zunächst sollen systemtheoretische Darlegungen den Weg bereiten zu systemrelevanten Institutionen im Sinne von sanktionsbewehrten Regeln (Teil Π). Von da fuhrt die Argumentation zur Beziehung zwischen Recht als einer Kategorie solcher Institutionen zu dem gesellschaftlichen Grundwert der Freiheit (Teil ΙΠ). Sodann soll den Gefährdungen der Freiheit nachgegangen werden, die von der vorherrschenden Form von Demokratie ausgehen (Teil IV). Das führt zur abschließenden Frage, ob mit Selbstheilungskräften im System zu rechnen ist und welche institutionellen Korrekturen sie nahelegen (Teil V).

II. Die systemtheoretische und institutionenökonomische Perspektive1 Das marktwirtschaftliche System gehört zur Klasse der sich selbst organisierenden Systeme. Die Selbstorganisation ist Folge zweier zusammenwirkender Teilprozesse: - der Selbstkoordination durch Verträge zwischen den eigenverantwortlich handelnden Akteuren und - der Selbstkontrolle durch ihre Wettbewerbshandlungen. Die Akteure werden dabei durch sogenannte externe Institutionen2 in ihrem Verhalten beschränkt. Im Falle der Selbstkoordination ist dies das Vertragsrecht. Im Falle des Wettbewerbs ist es das Wettbewerbsrecht. Aus der Sicht der Akteure re1 Vgl. hierzu meine Ausführungen an anderer Stelle (Streit 2001, 139-150). 2 Institutionen sind in Anlehnung an Kiwit und Voigt (1995) definiert als Verhaltensregeln für eine angebbare Gruppe von Akteuren, deren Durchsetzung entweder innerhalb der Gruppe bewirkt wird (interne Institutionen) oder durch eine Organisation wie dem Staat (externe Institutionen, vgl. hierzu Streit 2001, 152).

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Wettbewerbs ist es das Wettbewerbsrecht. Aus der Sicht der Akteure reduzieren die genannten Institutionen die Komplexität ihrer ökonomischen Umwelt, indem sie vorgeben, mit welchen Handlungen anderer nicht gerechnet werden muß. Auf die sonstigen Eigenschaften systemrelevanter Institutionen wird noch einzugehen sein (Teil ΠΙ). Die beiden genannten Teilprozesse wirken insofern zusammen, als der vertragliche Austausch wesentliches Element des Wettbewerbsprozesses ist.3 In ihm entstehen die koordinationsrelevanten Signale, die Preise. Die externen Institutionen wirken disziplinierend auf den Gebrauch der Wettbewerbsfreiheit. Ähnliches gilt für das Vertragsrecht. Es diszipliniert die Akteure beim Gebrauch der Vertragsfreiheit.

III. Freiheit und Recht Vertragsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit {Hoppmann 1967, 230f.) sind also die beiden Kategorien der Handlungsfreiheit, deren Gebrauch die genannten Teilprozesse der Selbstkoordination und der Selbstkontrolle konstituiert. Die Selbstkoordination wird zugleich auf mehrfache Weise durch die externen Institutionen des Rechts begünstigt und gesichert: - durch die Gewährleistung der Privatautonomie, d.h. durch die Anerkennung des Privateigentums und die Sicherung der Wahmehmungsmöglichkeiten der Handlungsfreiheit mit Hilfe des Privatrechts; die rechtlich gleichgeordneten Akteure werden so veranlaßt, ihr Wirtschaften mit anderen durch Verträge und deren Vollzug in den Fällen zu koordinieren, in denen sie eine Kooperation mit diesen zur Realisierung ihrer selbstgesetzten Ziele benötigen; - durch rechtliche Vorkehrungen, mit denen ein Mißbrauch der Privatautonomie zu Lasten anderer vermieden werden soll; dem dient vor allem die Sicherung des Wettbewerbs als Anreiz zur Erbringung wirtschaftlicher Anpassungs- und Entwicklungsleistungen. Der „soziale Kosmos", zu dem sich „ein Nebeneinander freier, gleichberechtigter und autonom planender Individuen von selbst zusammenfügt", kann nach dem vorherrschenden Rechtstyp als „Privatrechtsgesellschaft" (Böhm 1966, 80) bezeichnet werden. Wenn berücksichtigt wird, auf welch vielfältige Weise das Recht die Handlungsfreiheit in ihrem Gebrauch im Hinblick auf andere beschränkt und konstituiert, ist es „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann" {Kant 1790, 390f.). Aufgrund dieser Definition ist zu fragen: Welche Eigenschaften sollte das Recht haben, um als Regelwerk der Freiheit gelten zu können? Es müßte universalisierbar sein, d.h. die Rechtsregeln wären daraufhin zu prüfen, - ob sie allgemein gültig sind, d.h. ausnahmslos und unbefristet auf alle Akteure Anwendung finden;

3

Der Wettbewerbsprozeß besteht im Kern aus zwei zusammenwirkenden Teilprozessen: dem Austauschprozeß, auf den hier Bezug genommen wird, und dem Parallelprozeß (Streit 2000, 9 9 f f ) .

Freiheitsgehalt · 7 7

- ob sie offen sind, d.h. nur spezifische Handlungen untersagen und damit eine unbekannte Zahl von Handlungsmöglichkeiten zulassen; - ob sie bestimmt sind, d.h. nur solche Handlungen untersagen, die von Umständen abhängen, die zu kennen oder festzustellen vernünftigerweise von den Betroffenen erwartet werden kann. Die Ausprägung dieser Eigenschaften bestimmt im konkreten Fall den Grad der Universalisierbarkeit einer Verhaltensregel und damit die Möglichkeit für andere, verläßliche Erwartungen bilden zu können. Universalisierbarkeit steht einmal in Verbindung zum Prinzip der Allgemeingültigkeit, wie es dem erwähnten Rechtsverständnis von Kant zugrunde liegt.4 Ferner beschreibt es Eigenschaften des Rechts, wie es das Entstehen einer spontanen oder ungeplanten Ordnung des Zusammenwirkens von Akteuren nach dem Verständnis von Hayek begünstigt.5 Universalisierbare Rechtsregeln definieren die Handlungsspielräume der Akteure, innerhalb derer sie durch Verwertung ihres persönlichen Wissens über Umstände in ihrer ökonomischen Umwelt autonom Dispositionen treffen und andere zur Realisierung ihrer Wirtschaftspläne durch Verträge gewinnen können. Die Handlungsspielräume sind auch kreativ zur Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten nutzbar, sofern diese nicht gegen durch das Recht untersagte Handlungen verstoßen. Das macht die Offenheit der Regeln und des damit generierten ökonomischen Systems aus. Die so begründete spontane Ordnung menschlichen Handelns ist eine Folge der „Freiheit unter dem Recht" (Hayek 1960, 153, eigene Übers.). Abweichungen von der Universalisierbarkeit erfordern zusätzlichen, fallbezogenen Erwerb von Wissen über das Verhalten anderer. Bezogen auf Tauschhandlungen oder Transaktionen, verursacht dies zusätzliche Transaktionskosten und damit Störungen der Selbstorganisation des Systems auf der Grundlage der Handlungsfreiheit.6

IV. Gefahrdungen der Freiheit Die Universalisierbarkeit wird durch Einsatz des Rechts als wirtschaftspolitischem Steuerungsinstrument eingeschränkt mit negativen Folgen für die Handlungsfreiheit und damit fur die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Systems. Die Steuerungsversuche ergeben sich aus einem politischen Willensbildungsprozeß, in dem auf Stimmenfang bedachte politisch Handelnde und rentensuchende Interessenvertreter zusammenwirken. Der Prozeß ist vielfach analysiert worden und hat zu robusten Untersuchungsergebnissen gefuhrt.7 Die in diesem Prozeß geschaffenen Renten beinhalten in der Regel

4 Auch Hayek (1976, 28) verweist bei seiner Interpretation von Universalisierbarkeit auf Kant. Allerdings interpretiert er das Erfordernis als Test auf Verträglichkeit (Konsistenz) einer Regel mit dem dazu gehörigen Regelsystem (Hayek, ebenda). 5 Vgl. hierzu Hayek (1973, 50f.). 6 Ähnlich Hayek (1973, 51), der vermutet, daß eine spontane Ordnung durch Erfordernisse spezifischer Handlungen, wie sie auf Dirigismen zunickgehen, dazu fuhren, daß die Ordnung nicht verbessert, sondern zerstört wird. 7 Einen breitangelegten interdisziplinären Überblick gibt Weede (1990).

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eine Diskriminierung, entweder einer Kategorie von Vertragsparteien oder von Gruppen von Steuerpflichtigen, und damit Verstöße gegen das Prinzip der Allgemeingültigkeit von Rechtsregeln. Als Beispiele seien Manipulationen des Vertragsrechts, etwa Kündigungsschutzvorschriften bzw. subventionsträchtige Steuererleichterungen angeführt. Um die privat- und steuerrechtlichen Privilegien gewähren zu können, werden den von der Privilegierung Begünstigten spezifische Rechtspflichten in Form spezifischer Tatbestände auferlegt, die sie selbst herbeizuführen und nachzuweisen haben. Für das davon betroffene Recht bedeutet das, daß es an Offenheit einbüßt. Letzteres hat zur Folge, daß die Handlungsfreiheit durch Quasidirigismen angetastet wird. Damit verringert sich auch der rechtlich eingegrenzte Handlungsspielraum der Akteure. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß Renten in der Regel Kompensationen fur oder Schutz vor Wettbewerbswirkungen beinhalten (Buchanan 1980). Am Beispiel von Handelshemmnissen und Gewerbezulassungsbeschränkungen wird dies besonders deutlich. Durch sie wird die Selektionskraft des Marktprozesses ebenso geschmälert wie sein Restabilisierungspotential durch Anpassung. Veränderungen in der ökonomischen Umwelt der Akteure (z.B. im Konsumverhalten, in den Produktionstechniken, im Zugang zu Ressourcen und in der internationalen Arbeitsteilung) können wegen der so bewirkten Verringerung der Entwicklungsfähigkeit des ökonomischen Systems nicht reibungsarm verkraftet werden. Beschäftigungseinbußen sind die Folge. Hieraus erwächst wiederum politischer Druck, der dazu führt, daß versucht wird, ihn mit einer erneuten systemschädigenden Ausweitung staatlicher Rechtsetzung zu Lasten der Handlungsfreiheit abzufangen. Dabei dürfte die skizzierte Verursachungskette den Verantwortlichen häufig nicht bewußt sein. Häufig wird sie von ihnen schlicht ignoriert in dem Bestreben, den wirtschaftspolitischen Gestaltungsanspruch aufrechtzuerhalten. Wichtig dürfte für die politisch Handelnden ohnehin sein, daß eine Symptomkorrektur im Unterschied zu einer Ursachentherapie in der Regel den artikulierten Interessen entspricht und alte politische Besitzstände unangetastet läßt. Die laufende Diskussion über eine Reform des Arbeitsrechts und der Arbeitsmarktregulierungen, die von vielen als Ursachen des Beschäftigungsproblems identifiziert wurden, belegt diesen Vorgang nur zu sehr.8 Das Ergebnis des zuvor beschriebenen Prozesses ist eine zunehmende institutionelle Regelungsdichte, die den Staat zum Organisator des Wirtschaftsprozesses aufrücken läßt. Die gesetzten Institutionen legen sich behindernd über die ökonomischen Aktivitäten und schränken so die Entwicklungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems ein. Der Vorgang ist mit „institutioneller Sklerose" (Olson 1982) treffend beschrieben worden. Wird nach den politischen Begründungen gefragt, mit denen das Recht als Steuerungsmittel fungiert, wird häufig genug die soziale Gerechtigkeit und mit ihr das Sozialstaatsprinzip in Anspruch genommen.9 Wenn die freiheitsbeschränkenden Folgen der Regelsetzung berücksichtigt werden, ergibt sich daraus ein anhaltender Konflikt zwischen den beiden gesellschaftlichen Grundwerten der Freiheit und der Gerechtigkeit, der sich in Systemschädigungen niederschlägt. 8 9

Vgl. hierzu die konstruktive Kritik des Sachverständigenrates (1999, 165ff.). Eine eindringliche Kritik des Mißbrauchs des Adjektives „sozial" lieferte Hayek (1967).

Freiheitsgehalt · 7 9

V. Selbstheilungskräfte und institutionelle Korrekturen Zu fragen ist abschließend, ob es Selbstheilungskräfte im System gibt, die die skizzierte „institutionelle Sklerose" beenden helfen und Anreize zur Reform der staatlichen Regelungstätigkeit geben. Vor allem zwei Kräfte sind hier zu nennen. Einmal ist es die Abwanderung der Akteure in die sogenannte Schattenwirtschaft10 als einem Sektor, in dem die Abgaben- und Regelungslasten relativ gering sind. Der mit der Abwanderung vollzogene stille Protest gegen die Sklerose und gegen den Staat als Wirtschaftsorganisator dürfte durchaus disziplinierenden Einfluß auf den politischen Willensbildungsprozeß haben." Die zweite Kraft mit gleicher Wirkung dürfte der sogenannte Systemwettbewerb oder der Wettbewerb zwischen den (nationalen) Institutionensystemen sein.12 Mit der Schattenwirtschaft ist der Systemwettbewerb insofern verwandt, als sein Kernprozeß in der Abwanderung der Akteure von nationalen Standorten mit ökonomisch als unvorteilhaft beurteilten Institutionensystemen besteht. Dies geschieht durch ihre Dispositionen im grenzüberschreitenden Verkehr von Gütern und Faktoren. Die so ausgelösten transnationalen Güter- und Faktorbewegungen lösen ihrerseits disziplinierende Wirkungen aus, wenn sie im politischen Willensbildungsprozeß thematisiert werden. Die Debatte über den Standort Deutschland, aber auch über die Chancen und Risiken, die in der sog. Globalisierung gesehen werden, belegt dies.13 Die erwartbaren politischen Reaktionen auf diese Entwicklung dürften Versuche sein, das schwer steuerbare, sich selbst isolierende ökonomische System mit Mitteln des Rechts zu schließen, d.h. seine Komplexität zu verringern. Im Falle der Schattenwirtschaft wären dies Mittel des Steuerstrafrechts, im Falle der Außenwirtschaft bzw. Globalisierung wären es Beschränkungen des grenzüberschreitenden Handels und der Faktorbewegungen mit negativen Folgen für den internen Wettbewerb und damit für die Entwicklungsfähigkeit des Systems. Das bedeutet, daß der Freiheitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems in einer Art Teufelskreis weiter verringert wird. Die einzig zweckmäßige Reaktion und damit auch die Antwort auf die Frage, was getan werden müßte, um den Selbstheilungskräften zu entsprechen, kann nur in einer freiheits- und marktorientierten, entschlackenden Reform des sklerotischen Systems bestehen. Das bedeutet nichts anderes, als daß die gruppenorientierten, rentenschaffenden Privilegien zurückgenommen werden müßten. Eine Ursachentherapie würde es zudem erfordern, die Anreize für politisch Handelnde, Renten zu schaffen, durch eine Änderung der politischen Verfassung zu beseitigen.14 Die Chancen, beides zu erreichen, dürften sehr gering sein. Hinsichtlich der Verfassungsreformen stellte Hayek (1979, 31) resignierend fest: „It is an illusion to expect from those who own their positions to their 10 Zum Phänomen der Schattenwirtschaft vgl. Schneider und Enste (1999). 11 Die disziplinierende Wirkung dürfte durch die Abnahme des Aufkommens an Steuern und Beiträgen ausgelöst werden. 12 Eine Analyse der verschiedenen Aspekte dieses Phänomens findet sich bei Streit und Wohlgemuth (1999). 13 Auch die deregulierenden Wirkungen des Binnenmarktprogramms der EU und der damit verbundenen rechtlichen Betonung der durch den EG-Vertrag konstituierten ökonomischen Grundfreiheiten sind in diesem Zusammenhang zu sehen (vgl. hierzu Streit und Mussler 2001,420-448). 14 Eine Diskussion solcher Vorschläge findet sich bei Leipold (1988, 275ff.).

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power to hand out gifts that they will tie their own hands by inflexible rules prohibiting all special privileges". Für den Entzug von rentenschaffenden Privilegien dürfte gelten, daß er massiven politischen Widerspruch bei den begünstigten Gruppen und deren Vertreter auslösen würde, dem sich auf Wiederwahl bedachte politisch Handelnde kaum entziehen könnten. Dem ausgelösten Widerspruch stünden zwar wünschenswerte Funktionsverbesserungen des marktwirtschaftlichen Systems als Reformerträge gegenüber. Diese wären in ihren Folgen aber breit gestreut und deshalb nicht gleichermaßen wahrnehmbar wie der Entzug von Privilegien. Eine Umkehr des Prozesses der Rentenschaffung dürfte deshalb schwerlich möglich sein. Auch hierfür gibt es genügend Beispiele aus der Reformdiskussion in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten. Als Versuch, Reformwiderstand dadurch abzubauen, daß die betroffenen Gruppen bzw. deren Vertreter in die Vorbereitung der Reformschritte einbezogen werden, kann die „konsensuale Wirtschaftspolitk" durch „Bündnisse" auf den verschiedenen Politikfeldem gewertet werden. Das dabei praktizierte Zusammenwirken von politisch Handelnden und Interessenvertretem steht für eine bedenkliche „Vergesellschaftung des Staates" (Böckenförde 1989, 234). Bei allen Vorbehalten gegenüber dieser Form von Wirtschaftspolitik15 läßt sich nur hoffen, daß die ökonomischen Folgen der institutionellen Sklerose und des beschriebenen Reformstaus Chancen für politisch Handelnde eröffnen, das Unumgängliche auch gegen gruppenegoistischen Widerspruch zu tun. Literatur Böhm, Franz (1966), Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO, Band 17, S. 75-151. Böckenforde, Ernst-Wolfgang (1989), Staat und Gesellschaft, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Band 5, Freiburg u.a.O., S. 228-235. Buchanan, James M. (1980), Rent-Seeking and Profit-Seeking, in: James M. Buchanan, R.D. Tollison und G. Tullock (Hrsg.), Toward a Theory of the Rent-Seeking Society, College Station, S. 3-15. Hayek, Friedrich A. von (1960), The Constitution of Liberty, Nachdruck 1990, London und Henley. Hayek, Friedrich A. von (1967), What is Social? - What Does it Mean?, in: Friedrich A. von Hayek, Studies in Philosophy, Politics and Economics, London and Henley, S. 237-247. Hayek, Friedrich A. von (1973), Law Legislation and Liberty, Vol. 1: Rules and Order, Chicago. Hayek, Friedrich A. von (1976), Law Legislation and Liberty, Vol. 2: The Mirage of Social Justice, Chicago und London. Hayek, Friedrich A. von (1979), Law Legislation and Liberty, Vol. 3: The Political Order of a Free People, Chicago. Hoppmann, Erich (1967), Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik; wiederabgedruckt in Klaus Herdzina (Hrsg.), Wettbewerbstheorie, Köln 1975, S. 230-243. Kant, Immanuel (1781, 1788, 1790), Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk (mit verbindendem Text zusammengefaßt von R. Schmidt), 8. Aufl., Stuttgart 1960.

15 Ausgesprochen skeptisch beurteilt diese Ausprägung des Korporatismus der Wissenschaftliche Beirat beim BundesministeriumfiirWirtschaft (2000). Er findet sich mit seiner Skepsis in Übereinstimmung mit der Mehrzahl von Analysen und Bewertungen dieser Form von Politik.

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Kiwit, Daniel und Stefan Voigt (1995), Überlegungen zum institutionellen Wandel unter der Berücksichtigung des Verhältnisses interner und externer Institutionen, ORDO, Band 46, S. 117-147. Leipold, Helmut (1988), Ordnungspolitische Konsequenzen der ökonomischen Theorie der Verfassung, in: Dieter Cassel, Bernd-Thomas Ramb, H.-Jörg Thieme (Hrsg.), Ordnungspolitik, München, S. 257-283. Leoni, Bruno (1991), Freedom and the law, 3. Aufl., Indianapolis. Olson, Mancur (1982), The Rise and Decline of Nations: Economic Growth, Stagflation and Economic Rigidities, New Haven. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1999), Wirtschaftspolitik unter Reformdruck, Stuttgart. Schneider, Friedrich und D. Enste (1999), Shadow Economies around the World - Size, Causes and Consequences, Lectiones Jenenses, Band 8, Jena. Streit, Manfred E. (2000), Theorie der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Düsseldorf. Streit, Manfred E. (2001), Jenaer Beiträge zur Institutionenökonomik und Wirtschaftspolitik, Contributiones Jenenses, Band 8, Baden-Baden. Streit, Manfred E. und Werner Mussler (2001), Wettbewerb der Systeme und das Binnenmarktprogramm der Europäischen Union, in: Manfred E. Streit, Jenaer Beiträge zur Insitutionenökonomikund Wirtschaftspolitik, Baden-Baden, S. 420-447. Streit, Manfred E. und Michael Wohlgemuth (1999), Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Contributiones Jenenses, Band 7, Baden-Baden. Weede, Erich (1990), Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, Tübingen. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium (2000), Aktuelle Formen des Korporatismus, in: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.), Gutachten von Februar 1998 bis Juli 2000, Stuttgart, S. 2077-2105. Zusammenfassung Die Untersuchung erfolgt in vier Schritten. Der erste ist systemtheoretisch und institutionenökonomisch. Es wird dargelegt, welche Teilprozesse das marktwirtschaftliche System kennzeichnen und inwiefern diese Prozesse durch das Recht als einer Kategorie von Institutionen konstituiert werden. In einem zweiten Schritt wird der Beziehung zwischen Freiheit und Recht nachgegangen mit dem Ergebnis, daß der Freiheitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems durch das Recht definiert ist. Der dritte Schritt ist politisch-ökonomisch und den Hypothesen gewidmet, die erklären helfen, wie das Recht als Steuerungsinstrument in politischer Absicht eingesetzt wird. Daraus lassen sich Gefahrdungen der Freiheit ableiten, die von der Demokratie als Regierungsform in ihrer vorherrschenden Verfaßtheit ausgehen. Der letzte Schritt ist wiederum systemtheoretisch und institutionenökonomisch. Er bezieht sich auf die Doppelfrage, welche Selbstheilungskräfte als Reaktionen auf die Gefährdung der Freiheit erkennbar sind und welche institutionellen Korrekturen sie nahelegen. Summary On the Content of Freedom of the Market System The paper is divided into four parts: First, systems theory will be used to identify those institutions which are constitutive to a market system. Secondly, it will be shown

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that there exists a relationship between the law as a category of (external or formal) institutions and freedom as a basic value. Thirdly, those political, legislative processes will be traced which tend to endanger freedom and which are characteristic of the prevailing form of democracy. Finally, it will be asked whether self-healing forces will emerge when freedom is endangered in this way, which institutional reforms will promote those forces, and what are the chances of success of such reforms.

ORDO • Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Frank Daumann

Die Rolle der Evolution in Hayeks Konzept freiheitssichernder Regeln

I. Problemstellung Hayeks Werk zerfallt augenscheinlich in zwei Bereiche, die sich offenbar nicht logisch zusammenfuhren lassen (Wilhelm 1972, 179f.). So postuliert Hayek (1983, 192) zum einen ein System freiheitssichernder Regeln, auf deren Grundlage eine spontane Ordnung im Sinne der Interaktion der Individuen entsteht. Dieses Regelsystem hat bestimmten Anforderungen zu genügen, damit es ein Maximum an individueller Gegenüberfreiheit gewährleisten kann: Die einzelnen Regeln sollen universal, abstrakt, offen und gewiß sein, um die Individualsphären der Individuen äquidistant abzugrenzen. Diesen Anforderungen steht scheinbar Hayeks Vorstellung der „Zwillingsidee der Evolution und der spontanen Ordnung" (Hayek 1969g, 128) gegenüber: Nicht nur die Handelnsordnung im Sinne der Gesamtheit der individuellen Interaktionen, die durch ein bestehendes Regelwerk determiniert werden, ist Ergebnis evolutorischer Prozesse, sondern auch dieses Regelwerk selbst.1 Nun ist nach Hayek die Ergebnisoffenheit ein maßgeblicher Charakterzug derartiger Prozesse. Insofern scheint der Entstehungsprozeß des Regelwerks nicht zwangsläufig zu gewährleisten, daß Regeln hervorgebracht werden, die das Prädikat freiheitssichernd verdienen (Hayek 1980, 124). Freiheitssichernde Regeln und evolvierte Regeln sind somit keinesfalls deckungsgleich (Radnitzky 1984, 23f.; Loy 1988, 130ff.; Zintl 1983, 196ff.). In diesem Aufsatz soll dieser vermeintliche Widerspruch aufgelöst werden. Hierzu sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: 1. Wie ist das Konzept der allgemeinen Regeln beschaffen und welche Defizite weist es auf? 2. Lassen sich die Defizite dieses Konzepts durch ergänzende Prinzipien oder durch eine extensive Auslegung von Hayeks Werk beseitigen? 3. Wie läßt sich gegebenenfalls Hayeks Theorie der Regelevolution in das Konzept der allgemeinen Regeln einpassen? 1 Diese Zwillingsidee zeichnet sich dadurch aus, daß einerseits „... in einem - lediglich durch allgemeine Regeln gesteuerten - Prozeß aus vielfaltigen separaten Handlungen der einzelnen Akteure ein unintendiertes Handlungsergebnis („Ordnungsergebnis") hervorgeht..." und andererseits „... daß sich die allgemeinen Regeln, die die Grundlage spontaner Ordnung bilden, selbst in einem Prozeß allmählicher Entwicklung als unintendiertes Produkt des Zusammenspiels individueller Bestrebungen herausbilden und verändern..." ( Vanberg 1981, 8).

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Der Aufsatz ist deshalb wie folgt aufgebaut: Zunächst wird die Basisannahme der libertären Ordnungskonzeption Hayeks, sein Menschenbild, dargelegt. Anschließend wird das Konzept der freiheitssichernden Regeln erläutert und werden dessen Defizite veranschaulicht. Danach sollen denkbare Ansätze zur Beseitigung dieser Defizite aufgezeigt werden. Schließlich werden Hayeks Überlegungen zur Regelevolution vorgestellt. In diesem Zusammenhang soll gezeigt werden, wie sich die Regelevolution in das Konzept der freiheitssichernden Regeln einfügt.

II. Hayeks Menschenbild Nach Hayek unterscheiden sich die Individuen nicht nur hinsichtlich ihrer Präferenzen und ihrer Ressourcenausstattung, sondern auch im Hinblick auf ihr Instrumentalwissen (iStreit 1992). So ist davon auszugehen, daß Individuen unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen,2 was zwangsläufig individuell verschiedenartige Präferenzstrukturen impliziert. Zudem erfolgt nach Hayek (1952, 143) die menschliche Wahrnehmung der tatsächlichen Gegebenheiten selektiv und durch subjektive Theorien geleitetet (Subjektivität des Wissens). Menschliches zielgerichtetes Handeln basiert daher immer auf der Begrenztheit und der subjektiven Interpretation individuell in unterschiedlichem Ausmaß verfügbarer Informationspartikel und wird zudem zwangsläufig mit der Ungewißheit über das Eintreten zukünftiger Umweltzustände, also durch mehr oder minder zutreffende Erwartungen, konfrontiert.3 Schließlich weisen die Individuen eine unterschiedliche Ausstattung an Ressourcen auf, wobei hierunter neben materiellen Gütern auch immaterielle Güter sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums zu subsumieren sind.4 Die Ressourcen der Individuen sind somit zudem durch ihre Begrenztheit charakterisiert. Die individuell unterschiedliche Zielsetzung, Ressourcenausstattung und Informiertheit haben zur Folge, daß Individuen Handlungsalternativen unterschiedlich erkennen, bewerten und ausüben.

2

3 4

Dafiir finden sich zumindest implizite Belege, denn ohne die Existenz individuell unterschiedlicher Zielsetzungen wäre die Forderung nach Privatsphäre im Sinne eines Spielraumes, innerhalb dessen das Individuum nach eigenen Zielen handeln kann (Hayek 1980, 147ff.), sinnlos. Hayek ( 1969d, 171 ; 1976b, 103f., 121 ) verwendet hierfür den Begriff „konstitutionelle Uhwissenheit". Zu einem derartigen Ressourcenbegriff vgl. Albert (1978, 165) und Coleman (1974/75, 758, 760; 1979, 25; 1991, 33ff.).

Rolle der Evolution · 85

III.

Hayeks Konzeption freiheitssichernder Regeln

1. Die Forderung nach individueller Freiheit Die beschriebenen anthropologischen Spezifika rechtfertigen nach Hayek die Forderung nach Freiheit des Individuums.5 Diese individuelle Freiheit kann jedoch nicht eine totale sein - denn dadurch würden die Spielräume der anderen Individuen zwangsläufig zu stark eingegrenzt6 - , vielmehr muß sie als Gegenüberfreiheit verstanden werden, die allen Individuen im gleichen Umfang zu gewähren ist {Hayek 1979, 22). Damit einher geht notgedrungen der Verzicht auf eine Privilegierung oder auch Diskriminierung bestimmter, willkürlich ausgewählter Gruppen oder Einzelpersonen (Hayek 1953, 38ff.; 1983,186). Individuelle Freiheit äußert sich nun in einem Spielraum - der Privatsphäre (Hayek 1980, 147ff.) - , innerhalb dessen der einzelne unabhängig vom Willen anderer frei nach seinen eigenen Zielen handeln kann, soweit es ihm eben seine Ressourcen ermöglichen (Hayek 1983, 21ff.). Dieser Spielraum zeichnet sich dadurch aus, daß Dritte allenfalls ein Minimum an intentionalem Zwang ausüben können (.Hayek 1983,14). Damit erhält das Phänomen Zwang seine inhaltliche Verortung: Unter Zwang versteht Hayek (1983, 27) „... eine solche Veränderung der Umgebung oder der Umstände eines Menschen durch jemand anderen ..., daß dieser, um größere Übel zu vermeiden, nicht nach seinem eigenen zusammenhängenden Plan, sondern im Dienste der Zwecke des anderen handeln muß." Somit zeichnet sich das Phänomen Zwang7 nach Hayek (1983,162) im wesentlichen durch zwei Charakteristika aus, nämlich durch 1. die Androhung negativer Sanktionen, die daraufgerichtet ist, 2. beim Bedrohten ein bestimmtes Verhalten zu erreichen.8

Vgl. hierzu auch Galeotti (1991) und Dietze (1977, 107ff., 126). Nach Zeitler (1995, 161ff.) gibt es bei Hayek nicht nur eine normative Grundlage für die Forderung nach individueller Freiheit; vielmehr finden sich bei Hayek noch Ansätze einer epistemologischen Begründung. Individuelle Freiheit ist deshalb notwendig, damit das dezentral bei den Individuen vorhandene Wissen auch genutzt werden kann. Zudem lassen sich in Hayeks Argumentation auch Indizien für ein instrumentelles Verständnis der individuellen Freiheit ausmachen: So ist Freiheit Vorbedingung, daß Individuen ihre Ziele realisieren können. 6 Popper (1980a, 156ff., Anm. 4 und 6 zu Kapitel 7; 1980b, 58, 153f.) bezeichnet dies als „Paradoxon der Freiheit". 7 Hayek (1983, 161) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Zwang durch Umstände („compulsion") und Zwang durch Menschen („coercion"), wobei das erste Phänomen für die individuelle Freiheit unschädlich ist. 8 Kritische Einwände zu Hayeks Definition des Begriffs „Zwang" finden sich beispielsweise bei Baumgarth (1978), Galeotti (1991), Rothbard (1980) und Viner (1961). Insbesondere ist vor allem die Ansicht Hayeks (1983, 166fT.), der Staat dürfe nur zur Vermeidung schweren, durch andere Individuen ausgeübten Zwangs eingreifen, Gegenstand der Kritik. So bleibt Hayek eine Konkretisierung der unterschiedlichen Grade des Zwangs schuldig (Viner 1961, 231), weswegen sich der Zeitpunkt, ab dem staatliches Eingreifen zu rechtfertigen ist, nicht bestimmen lasse (Hoy 1984, 20).

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Zur Sicherung eines für alle Individuen äquivalenten Freiheitsspielraums ist eine Rechtsordnung in Form eines Bündels kodifizierter freiheitssichernder Regeln nötig {Hayek 1979, 23), die bestimmte Anforderungen zu erfüllen haben.9 2. Das Handlungsmodell Zur Verdeutlichung von Hayeks Konzeption freiheitssichernder Regeln wird nun im folgenden ein einfaches Handlungsmodell skizziert, das auf dem methodischen Individualismus10 fußt.11 Ein beliebiges Individuimi I, das sich durch die Spezifität der Ausprägungen der Eigenschaftskategorien Ej bis En auszeichnet, kann in verschiedene Situationen S kommen, in denen es eine Handlungsalternative A ausüben kann. Diese wahrgenommene Handlungsalternative kann wiederum zu unterschiedlichen Handlungsergebnissen HE führen. Das tatsächliche Handlungsergebnis beeinflußt wieder die Eigenschaften des Individuums. Abbildung 1: Das Handlungsmodell

Hayeks Überlegungen in diesem Zusammenhang sind maßgeblich durch Kant sowie die schottischen Moralphilosophen geprägt (Hayek 1969d, 178; 1969c, 114ff.; 1969f.; 1979, l l f . ; 1976a, 12; 1983, 207ff.; Gray 1995, 4ff., 56 ff.; Kukathas 1989; Streit 1992, 15ff.). Dorn (1991) weist zudem auf Anleihen Hayeks aus Bastíais Werk hin. 10 Vgl. hierzu den Überblicksartikel von Meran (1979). 11 Dies liegt auch deswegen nahe, da Hayeks Konzeption freiheitssichernder Regeln handlungsbasiert ist, wie etwa am folgenden Zitat deutlich wird: „Gerechtigkeit kann nur sinnvoll auf menschliche Handlungen bezogen werden und nicht auf einen Zustand als solchen, es sei denn, es würde klargemacht, ob er durch jemanden bewußt herbeigeführt wurde oder hätte herbeigeführt werden können" (Hayek 1969c, 114).

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Die oben bezeichneten anthropologischen Spezifika zeichnen sich nun dadurch aus, daß Individuen hinsichtlich der Eigenschaftskategorien Ei bis En unterschiedliche Ausprägungsbündel aufweisen. 3. Konkretisierung der freiheitssichernden Regeln Hayeks Konzeption freiheitssichernder Regeln beruht auf einer Verknüpfung von Elementen des Rechtsstaats und des klassischen rule of law-Gedankens (Galeotti 1991, 281). Daher nimmt bei Hayek die Unterscheidung zwischen Regeln mit Gesetzescharakter (allgemeine Regel gerechten Verhaltens oder nomos) und Befehlen (Thesis) einen maßgeblichen Stellenwert ein. Während der Regel mit Gesetzescharakter die Attribute universal, offen, abstrakt, gewiß und widerspruchsfrei zuzuordnen sind, ist ein Befehl „nur auf bestimmte Personen anwendbar" oder dient „den Zwecken der Herrschenden" {Hayek 1969e, 212).12 Um ein größtmögliches Ausmaß an individueller Freiheit zu sichern und die „Individualsphären vor äußerem Zugriff, vor gezieltem Zwang" zu schützen (Zintl 1983, 167), bedarf es daher einer Rechtsordnung deren Bestandteile ausschließlich Regeln mit Gesetzescharakter sind. Für die weiteren Überlegungen ist nun ausschließlich das Merkmal der Universalität von Bedeutung.13 Zu analytischen Zwecken können bei einer Regel der Anwendungsbereich und der Regelungsinhalt unterschieden werden.14 Unter dem Anwendungsbereich sind dabei die individuellen, zeitlichen, räumlichen und sonstigen situativen Gegebenheiten zu verstehen, unter denen eine Regel unabhängig von deren Inhalt und Ausgestaltung anzuwenden ist. Insofern bezieht sich der Anwendungsbereich in der Lesart des oben skizzierten Handlungsmodells auf die Kategorien Individuum und Situation. Beim Regelungsinhalt handelt es sich um das materiale Substrat einer Regel. Hierbei kann eine Ausgestaltung sich der Kategorien Individuum, Situation, Handlungsalternative und Handlungsergebnis bedienen. Im Rahmen des Anwendungsbereichs sind die Kriterien personelle Indifferenz, zeitliche Konkretisierung und räumliche Indifferenz notwendige Voraussetzungen für das Attribut freiheitssichernd im Sinne Hayeks.15 Das Kriterium personelle Indifferenz erfordert eine Anwendung einer Regel auf alle Individuen (Hayek 1979, 25) unabhängig ihrer individuellen Merkmale und verbietet damit eine Anwendungsbeschränkung auf ausgewählte Personen oder Personenkreise (Hayek 1983, 185; 1981a, 58; 1969e, 21 lf.). Individuelle Ausprägungen der Eigenschaftskategorien Ei bis E„ dürfen daher nicht herangezogen werden, um Individuen von der Anwendung einer bestimmten Regeln auszuschließen oder die Anwendung auf 12 Siehe weiterhin Hayek (1969a, 49ff.; 1969c, 112f.; 1969d, Uli.·, 1983, 180ff.). 13 Zu den anderen Eigenschaftskategorien siehe Daumann und Hösch (1998) sowie Daumann (2000). Vgl. auch Dietze (1977, 126ff.) und Dorn (1991, 308f.). 14 Ähnliche Unterscheidungen finden sich beispielsweise bei Popper (1980a, 130) und bei Mackie (1983, 108). 15 Mackie (1983, 105) bezeichnet dies als „Irrelevanz numerischer Unterschiede". Demnach sind Individuen grundsätzlich gleich zu behandeln: Lediglich die Existenz eines qualitativen Unterschiedes kann eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.

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eben einen derartig gekennzeichneten Personenkreis einzuschränken. Dieses rein formale Kriterium erlaubt jedoch durchaus eine differenzierte Behandlung der Individuen anhand unterschiedlicher personeller Merkmale im Rahmen der Ausgestaltung des Regelinhalts. Insofern genügt beispielsweise eine Subventionierung von Binnenschiffern dem Kriterium der personellen Indifferenz, da die Regel auf alle Individuen angewandt wird, obgleich sich der Regelinhalt nur auf Individuen, die ein Binnenschiffahrtsgewerbe betreiben, bezieht. Eine weitere Forderung, die Hayek an den Anwendungsbereich einer freiheitssichernden Regel stellt, ist die zeitliche Konkretisierung: Eine Regel hat zeitlich unbeschränkt zu gelten; eine rückwirkende Geltung ist ausgeschlossen (Hayek 1983, 270). Ergänzt werden diese Anforderungen durch die räumliche Indifferenz: Der Anwendungsbereich einer Regel hängt nicht von räumlichen Gegebenheiten ab; vielmehr ist eine räumlich unabhängige Geltung der Regeln zu garantieren.16 Regeln, die die Eigenschaften der personellen und räumlichen Indifferenz sowie der zeitlichen Konkretisierung erfüllen, gewähren den Individuen eine formelle Gleichbehandlung, also im engeren Sinne „Gleichheit vor dem Gesetz". Damit bleiben jedoch nach wie vor Differenzierungen nach individuellen und situativen Eigenschaftskategorien möglich. Eine Subventionierung der Stahlindustrie, in deren Genuß nur die Produzenten eines ausgewählten Landstrichs kommen, ist mit den bisherigen Forderungen problemlos vereinbar. Diese Anforderungen allein werden daher von Hayek als noch nicht ausreichend erachtet. Deswegen stellt er weitere Forderungen an den Regelungsinhalt. Hayek will die Isonomie durch eine partielle situative Indifferenz ergänzt wissen. Situative Indifferenz erfordert den Verzicht auf konkrete Umstände im Regelungsinhalt, die die Anwendimg der Regel einschränken; eine Regel darf sich vielmehr nur „auf solche Bedingungen ..., die jederzeit und überall auftreten können ..." (Hayek 1983, 181) beziehen. Dies stellt ihre Anwendbarkeit für eine unbekannte Anzahl von zukünftigen Fällen sicher (Hayek 1981b, 152). Hayek (1969e, 211) spricht in diesem Zusammenhang von „objektiven Umständen". Im Rahmen des Handlungsmodells bedeutet dies, daß die Regel abhängig von den Situationen, in denen sich ein Individuum befinden kann und die sich durch die entsprechenden Ausprägungen der Eigenschaftskategorien si bis Sm exakt identifizieren lassen, ausgestaltet werden kann. Die bisherigen Kriterien würde beispielsweise eine Subvention aller in Not geratenen Unternehmen erfüllen. Weiterhin ergänzt Hayek die formelle Seite der personellen Indifferenz um materielle Aspekte: Bei freiheitssichernden Regeln ist auszuschließen, daß „deren prinzipielle Auswirkung auf einzelne identifizierbare Individuen oder Gruppen beabsichtigt oder bekannt wäre ..." (Hayek 1981b, 152). Eine implizite Differenzierung nach individuellen Eigenschaftskategorien kann demzufolge dann vorgenommen werden, wenn die Regel nicht deshalb geschaffen wird, damit die mit ihr verbundenen Auswirkungen benennbare Individuen positiv oder negativ betreffen. Neben der impliziten Differenzierung erlaubt Hayek auch eine explizite Differenzierung nach individuellen Eigenschaftskategorien: Freiheitssichernde Regeln dürfen im 16 Vgl. Hayek (1983, 270); kritisch hierzu Leoni (1961, Iii.).

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Regelinhalt eine Unterscheidung nach Klassen von Individuen bemühen.17 Die explizite Differenzierung setzt jedoch voraus, daß ihr in allen Klassen die jeweilige Mehrheit zustimmt (Hayek 1983,186). Damit lassen sich Regeln, die Hayeks Universalitätskriterium erfüllen, wie folgt charakterisieren: 1. Die Anwendung der Regeln erfolgt unabhängig von individuellen Eigenschaftskategorien sowie örtlichen Gegebenheiten und ist in Hinsicht auf die Anwendungsdauer konkretisiert. 2. Die Regel kann eine Differenzierung nach nicht einmaligen situativen Merkmalen vorsehen etwa in der Form: Wenn ein Individuum sich in der auch zukünftig vermutlich auftretenden Situation Si befindet, dann darf es nicht für die Handlungsalternative Ai optieren. 3. Der Regelinhalt darf eine implizite Differenzierung nach individuellen Merkmalen nur dann vornehmen, wenn damit nicht die grundsätzlichen Auswirkungen auf einzelne benennbare Individuen beabsichtigt ist. 4. Der Regelinhalt kann eine explizite Differenzierung nach individuellen Eigenschaftskategorien vorsehen. Dabei muß eine mehrheitliche Zustimmung sowohl der eingeschlossenen als auch der ausgeschlossenen Gruppe vorliegen.

4. Problembereiche der Konzeption Hayeks An Hayeks Konzept freiheitssichernder Regeln wird in mancherlei Hinsicht Kritik geübt (Daumann 2000). Vor dem Hintergrund des Zwecks des Regelwerks, die Freiheit zu sichern, werden insbesondere die folgenden beiden Kritikpunkte vorgebracht: 1. Die Anwendung von Hayeks Universalitätskriterium biete keinen wirksamen Schutz gegen symmetrische Beschneidungen der Freiheit (mangelnder Schutz vor symmetrischen Freiheitsbeschränkungen). 2. Das Universalitätskriterium sei aufgrund der realiter unterschiedlichen Betroffenheit der Individuen nicht in der Lage, Diskriminierungen und Privilegierungen zu unterbinden (mangelnder Schutz vor asymmetrischen Freiheitsbeschränkungen). a. Mangelnder Schutz vor symmetrischen Freiheitsbeschränkungen Ein maßgeblicher Kritikpunkt, der in der einschlägigen Literatur hervorgebracht wird, bezieht sich auf die mangelnde Eignung von Hayeks Universalitätskriterium, einen maximalen individuellen Freiheitsspielraum zu garantieren. So führen Robbins (1961, 69) und Rees (1963, 355) an, daß auch durch Gesetze, die Hayeks Kriterium der Universalität erfüllen, die also allgemein im Hayekschen Sinne sind, umfangreich

17 „Ein Gesetz kann vollkommen allgemein sein, indem es nur formale Eigenschaften der darin vorkommenden Personen erwähnt, und doch für verschiedene Klassen von Menschen verschiedene Vorkehrung treffen..." (Hayek 1983, 272).

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Zwang ausgeübt werden könne. Mit derartigen allgemeinen Gesetzen lasse sich demnach die individuelle Freiheit gleichmäßig fur alle Individuen begrenzen. So erfüllt beispielsweise die Regel „Du sollst keinen Zins nehmen!" durchaus dieses Kriterium: Im Anwendungsbereich ist den Anforderungen der personellen und räumlichen Indifferenz genüge getan, da weder Eigennamen noch räumliche Begrenzungen angeführt werden, die den Geltungsbereich der Regel einschränken. Ebenso läßt sich die Geltungsdauer exakt spezifizieren. Auch wird die Regel den Anforderungen der partiellen situativen Indifferenz gerecht. Eine Unterscheidung nach Klassen wird nicht bemüht; zudem kann davon ausgegangen werden, daß die prinzipielle Auswirkung auf einzelne identifizierbare Individuen nicht beabsichtigt oder bekannt ist. Durch eine Vielzahl derartiger Regeln lasse sich nun der individuelle Freiheitsspielraum so stark einengen, daß der Zielsetzung nach Maximierung der individuellen Gegenüberfreiheit keinesfalls mehr entsprochen werde. Selbst wenn die Kritik an Hayeks Konzeption des Zwangs zurückgewiesen wird, ist der Vorwurf, das Hayeks che Universalitätsprinzip schütze nur mangelhaft vor symmetrischen Freiheitsbeschränkungen, offenbar gerechtfertigt. b. Mangelnder Schutz vor asymmetrischen Freiheitsbeschränkungen In der Literatur wird weiterhin moniert, daß die Möglichkeit einer impliziten Differenzierung nach individuellen Merkmalen Diskriminierungen bzw. Privilegierungen einzelner Gruppen oder Personen erlaube, zumal das Kriterium „fehlende Absicht in bezug auf Wirkungen auf benennbare Individuen" nicht wirksam umzusetzen sei. Selbst allgemein gültige Regeln, die keine explizite Differenzierung nach individuellen Merkmalen vorsehen, könnten ihre positiven oder negativen Wirkungen nur für bestimmte benennbare Gruppen oder Individuen entfalten.18 Beispielsweise gelte das Verbot, am Sonntag Sport zu treiben, für die gesamte Bevölkerung, diskriminiere jedoch in einem vornehmlich durch Protestanten bewohnten Land andere, eindeutig benennbare Konfessionsgruppen und Glaubensgemeinschaften (.Barry 1979, 92f.). Insofern ließen sich durch vermeintlich freiheitssichernde Regeln, die sicherlich auch die sonstigen Anforderungen erfüllen würden, einzelne Bevölkerungsgruppen gezielt diskriminieren oder auch privilegieren. Wie vorhin erwähnt, gestattet Hayek darüber hinaus eine explizite Differenzierung des Regelinhalts anhand individueller Merkmale. Kritiker sehen durch eine derartige Bildung von Individuenklassen, innerhalb derer ein identischer Regelinhalt anzuwenden ist, die Gefahr einer übermäßigen Ausdifferenzierung. So könnten die Klassen so gestaltet werden, daß die Universalitätseigenschaft einer Regel vollständig ausgehöhlt werde (Hamowy 1971, 364f.; Leoni 1961, 64ff., 68f.; Bouillon 1995, 70f.). Dies wird auch von Hayek (1983, 272) erkannt, weswegen er den oben angeführten Test der mehrheitlichen Zustimmung innerhalb der Klassen fordert {Hayek 1983, 186).

18 Siehe hierzu vor allem Barry (1979, 93), Baumgarth (1978), Crespigny (1975, 64), Hamowy (1971, 363), Robbins (1961, 69), Shenfield ( 1961, 57) und Watkms (1961, 39).

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Dieser Test erweist sich jedoch zumindest aus zwei Gründen als unzulänglich: Zum einen ergeben sich bei der exakten Abgrenzung der Personenklassen z. T. unlösbare Schwierigkeiten (Hamowy 1971, 361f.), und zum anderen erweist sich das Vetorecht einzelner Klassen (Brittan 1980, 39f.; Watkins 1961,40) als äußerst problematisch.19 So fuhrt Brittan (1980, 39f.) an, daß sich aufgrund dieses Tests die Mafia erfolgreich gegen die Einführung eines Gesetzes zur Bekämpfimg des organisierten Brigantentums wehren könne. Offenbar erweisen sich also Hayeks Kriterien als ungenügend, um Diskriminierungen und Privilegierungen zu unterbinden. Tatsächlich erlauben Hayeks Kriterien, die an freiheitssichernde Regeln zu stellen sind, Differenzierungen nach individuellen Merkmalen. Insofern ist der Vorwurf der Diskriminierung einzelner Personengruppen im Sinne einer immanenten Kritik abzulehnen. Was jedoch Hayek im Zusammenhang mit der expliziten Differenzierung weitgehend schuldig bleibt, ist entweder eine Konkretisierung der individuellen Merkmale, nach denen eine Differenzierung des Regelinhalts nach Personengruppen vorgenommen werden kann, oder zumindest die Darstellung eines Verfahrens, mit dem derartige Merkmale zuverlässig gewonnen werden können. Sinngemäß Gleiches wird bei der impliziten Differenzierung vermißt: Weder eine Konkretisierung noch ein Verfahren zur Konkretisierung der Kombinationen aus situativen Eigenschaftskategorien und zu untersagenden Handlungsaltemativen wird bei Hayek benannt.20 5. Potentielle Lösungsansätze Eine Beseitigung der aufgezeigten Defizite scheint entweder durch eine Rückbesinnung auf die Abwischen Wurzeln von Hayeks Überlegungen in Form zusätzlicher Anforderungen an den Regelinhalt - also durch eine extensive Auslegung von Hayeks Werk (so etwa Gray 1995, 64) - oder durch die Einführung eines „Verfahrens", das diese Konkretisierung gleichsam automatisch vornimmt, möglich zu sein. Der erste Weg ist jedoch - wie im folgenden gezeigt werden soll - nicht ohne den zweiten Weg gangbar: Durch die Berücksichtigung der Forderung nach Symmetrie der Handlungsspielräume und nach moralischer Neutralität lassen sich nur scheinbar die aufgezeigten Schwachstellen vermeiden. Bestehen Regeln den Test, „daß man sich in die Lage des anderen versetzt und sich fragt, ob man auch in diesem Fall, daß man selbst der Betroffene ist, zu den Handlungsanweisungen stehen würde" (Mackie 1983, 116), dann genügen sie dem Kriterium der Symmetrie der Handlungsspielräume, das bei Mackie (1983, 116) als zweite Stufe der Universalisierung („Sich selbst in die Lage des anderen versetzen") bezeichnet wird.21

19 Zeitler (1995, 227 ff.) weist zudem auf große organisatorische Probleme bei der Umsetzung hin. 20 Dies ist jedoch auch nicht zu erwarten gewesen, da Hayek nicht von einer konstruktivistischen Setzung der Regeln ausgeht, sondern von einem Entwicklungsprozeß. Regeln bilden sich demzufolge im Laufe der Zeit heraus und werden durch den Gesetzgeber „entdeckt". Vgl. etwa Hayek (1969d). 21 Vgl. auch Gray (1995, 64), der dies als „Erfordernis der Unparteilichkeit zwischen Handelnden" bezeichnet. Vgl. hierzu auch. Bouillon (1995, 63f.).

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Nach Maßgabe dieses Prinzips werden auf der Grundlage des Wertgefüges eines bestimmten Individuums die Privatsphären der einzelnen Individuen gleichmäßig abgesteckt, was bedeutet, daß bei anderen Wertvorstellungen sich eine andere Abgrenzung ergeben würde. Dieses Prinzip gewährleistet somit nur, daß die Privatsphären aller Individuen den gleichen Umfang haben unabhängig davon, wie dieser dann individuell ausgenutzt wird. Legt man Hayeks Kriterien zugrunde, würde ein Verbot von Mischehen als allgemeine Regel gelten können: Da eine explizite Differenzierung nach der individuellen Eigenschaftskategorie Konfession erfolgt, müßte die Regel den Mehrheitstest bestehen. Geht man davon aus, daß die Mehrheit der Angehörigen beider beteiligten Konfessionsgruppen einem derartigen Verbot zustimmen würde, wären nun Hayeks Anforderungen zur Gänze erfüllt. Ein derartiges Verbot impliziert jedoch zugleich eine konkrete Moralvorstellung, die von den zur Mischehe bereiten Personen nicht unbedingt geteilt wird.22 Ein Verbot von Mischehen zwischen verschiedenen Konfessionsgruppen wäre nach der Symmetrie der Handlungsspielräume dann zu legitimieren, wenn der Betrachter sobald er einem Partner der anderen Konfessionsgruppe zugeneigt ist - das Verbot auch gegen sich gelten lassen würde. Dies setzt jedoch voraus, daß die dem Verbot zugrundeliegende Moralvorstellung von allen Individuen geteilt wird. Davon kann jedoch nicht immer ausgegangen werden; vielmehr unterscheiden sich die Moralvorstellungen der Individuen, wodurch es faktisch zu einer asymmetrischen Beschränkung der individuellen Freiheit derer kommt, die von den regelbildenden Wertvorstellungen stark abweichende Werte besitzen. Regeln müssen daher nicht nur dem Kriterium der Symmetrie der Handlungsspielräume genügen, sondern auch Handlungen nach unterschiedlichen Präferenzen und Wertvorstellungen ermöglichen. Mackie (1983, 117f.) führt daher eine dritte Stufe der Universalität, die moralische Neutralität, ein und fordert damit eine Berücksichtigung der „unterschiedlichen Vorlieben und konkurrierenden Ideale" bei der Ausgestaltung der Regeln. Dies wird dann erfüllt, wenn der Regelinhalt sich durch „einen annehmbaren Kompromiß zwischen den verschiedenen vorfindlichen Standpunkten" auszeichnet (Mackie 1983, 118). Ein „annehmbarer Kompromiß" postuliert jedoch die Zustimmung der Individuen; er setzt hypothetische Einstimmigkeit voraus.23 Damit ist der Weg zu einer vertragstheoretischen Erweiterung des Hayekschen Universalitätskriteriums beschritten. Durch eine alleinige Verschärfung des Regelinhalts läßt sich somit das eingangs skizzierte Problem nicht lösen. Es muß also auf ein „Verfahren" zurückgegriffen werden, das die geforderte Konkretisierung ermöglicht. Neben der vertragstheoretischen Lösung des aufgezeigten Problems bietet das Hayekschz Evolutionsverständnis eine weitere Lösungsvariante an: Die von Hayek genannten Kriterien freiheitssichernder Regeln bilden eine Schablone, die durch die Regelevolution ausgefüllt wird. Ergebnis der Regelevolution sind situative und individuelle Kriterien, die in die Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen der Individuen eingebettet

22 Nach Mackie (1983, 116) sind „Unterschiede [zwischen den Personen; Einfügung des Verfassers] ... dann relevant, wenn sie sich von jedem Standpunkt aus als relevant erweisen". 23 Vgl. zur Unterscheidung Urvertrag, impliziter Vertrag und hypothetischer Vertrag Ballestrem (1983).

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sind und die die Grundlage fur eine differenzierte Behandlung von Individuen bilden können, da eben eine Differenzierung auf dieser Basis von allen Individuen akzeptiert und nicht als diskriminierend empfunden wird. Die Regelevolution kann damit als Prozeß zur Herausbildung von situativen und individuellen allgemein anerkannten Differenzierungskriterien interpretiert werden. Sie ist auf diese Weise dem vertragstheoretischen Einstimmigkeitsprinzip äquivalent. Im folgenden soll nun das derartige Verständnis des Zusammenspiels zwischen den Kriterien, denen freiheitssichemde Regeln zu genügen haben, und der Evolution des Regelwerks dargelegt werden. Insbesondere soll also den folgenden Fragen nachgegangen werden: Wie können nun Hayeks evolutionstheoretische Überlegungen in diesem Kontext verortet werden? Können sie eine Lösung für die angeschnittenen Probleme bieten?

IV. Hayeks Konzept der sozio-kulturellen Evolution 1. Evolution als Prozeß der Generierung von Verhaltensregeln Gemeinhin wird mit dem Begriff Evolution das Phänomen biologischer Entwicklung im Sinne Darwins assoziiert.24 Demnach ergeben sich aus spontanen Änderungen der Erbfaktoren Mutationen, die ein unterschiedliches Maß an Anpassung an die selektionsrelevanten Faktoren aufweisen. Je größer das Ausmaß der Angepaßtheit eines Merkmalsträgers ist, desto höher ist seine Selektionsresistenz und damit seine Fähigkeit, eine umfangreichere Nachkommenschaft durchzubringen, als dies andere Merkmalsträger zu tun vermögen. Selektion stellt sich somit als gerichtete Veränderung der Merkmalshäufigkeit dar {Siewing 1987,137f.; Hasenfuss 1987). Hayek hingegen versteht Evolution als eine im Zeitablauf ohne Zweck und bestimmtes Ziel fortschreitende Entwicklung, die selbst wiederum in zwei Teilprozesse zerlegt werden kann: Infolge des Prozesses der Variation werden laufend neue, Übertrag- und nachahmbare Merkmale, die sowohl Regeln im Sinne von Verhaltensregelmäßigkeiten25 als auch einzelne individuelle Handlungen umfassen können, hervorgebracht, um schließlich im Prozeß der Selektion einer systematischen Auslese unterworfen zu werden (Vanberg 1984a, 90). Die Dimension des Hayekschen Verständnisses äußert sich darin, daß nicht nur das Geflecht spontaner Interaktionen der Individuen, die Handelns-

24 Hayek (1969g, 127ff., 1983a, 17ff.) weist daraufhin, daß die „Vorstellung eines Entwicklungsprozesses, durch den komplexe Strukturen im menschlichen Leben gebildet wurden", Gedankengut der Antike ist und durch die schottischen Moralphilosophen wieder aufgegriffen wurde, bevor Lamarck und Darwin den Evolutionsgedanken in die Biologie einbrachten. 25 Verhaltensregelmäßigkeiten lassen sich als Resultate verhaltensbildender Faktoren wie Konsens und/oder Sanktion interpretieren (Vanberg 1984b, 123ff.). Damit können Normen, Sitten, Bräuche oder Einstellungen, deren Beachtung in Entscheidungssituationen freiwillig erfolgt oder eben durch die Androhung von Sanktionen „erzwungen" wird, zu derartigen Verhaltensregelmäßigkeiten führen. Im folgenden soll für diese Institutionen vereinfachend der Begriff „Verhaltensregeln" verwendet werden, so daß eine Abgrenzung zu kodifizierten Regeln, die Bestandteil der Rechtsordnung sind, möglich wird.

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Ordnung, sondern auch die Verhaltensregelmäßigkeiten selbst, die Regelordnung26, stetigen Änderungen unterworfen ist, die Hayek theoretisch zu erfassen versucht ( Vanberg 1981, 6ff.).27 Zentrales Element des Hayekschen Erklärungsansatzes ist die Bewältigung der konstitutionellen Unwissenheit mittels eines „Versuch- und Irrtum-Prozesses, in dessen Verlauf mehr an Erfahrung angehäuft worden ist, als irgendeiner lebenden Person bewußt ist" (Hayek 1981a, 183). Die Verknüpfung von Versuch und Bewährung bei der Wahrnehmung von Handlungsoptionen kennzeichnet also nach Hayek (1969b) die Evolution sozialer Phänomene. Da der Evolutionsprozeß nicht zielgerichtet abläuft und das Selektionskriterium weitgehend unbestimmt bleiben muß, hat sich eine epistemologische Erfassung des Entwicklungsphänomens auf die Form von Musteraussagen zu bescheiden (Hayek 1980, 40f., 1972). Daher kann auch der Versuch, ein Entwicklungsgesetz abzuleiten, nicht erfolgreich sein (Hayek 1983a, 21; 1983, 51). Die Möglichkeit der Individuen, auf der Grundlage abstrakter Regeln eigene, individuell verschiedene Zielsetzungen zu verfolgen, die miteinander konfligieren können, konstituiert Wettbewerb als sozialen Prozeß wechselseitiger Anpassung des individuellen Handelns28, der die Individuen dazu zwingt, dezentral vorhandenes Wissen zu nutzen und nach neuem Wissen zu forschen (Hayek 1969d, 170; 1969i). Der permanente Wissenserwerb verleiht damit dem Handlungsgeflecht (= Handelnsordnung) einen evolutorischen Charakter. Für die vorliegenden Überlegungen erweist sich vor allem Hayeks Theorie der Entstehung und Veränderung der Regelordnung, die der Herausbildung einer spontanen Ordnung zugrunde liegt, als bedeutsam. Nach Hayek (1979b, 19ff.; 1983a, 17) besteht die Regelordnung maßgeblich aus drei verschiedenen Schichten: Im Zuge der biologischen Evolution haben sich zum einen Instinkte herausgebildet, die genetisch verankert sind (Hayek 1989, llf.). Daneben existieren Regeln, die das Ergebnis einer bewußten Anwendung der menschlichen Intelligenz sind, also mit Absicht und fiir einen bestimmten Zweck geschaffen wurden.29 Das Hauptaugenmerk richtet Hayek (1989, llff.) jedoch auf den Prozeß der sozio-kulturellen Evolution, aus dem Verhaltensregeln hervorgehen, die das unbeabsichtigte Resultat individueller Interaktionen sind und sich selbst der menschlichen Erkenntnis weitgehend entziehen (Hayek 1969j, 146f.; 1979 b, 31f.). Den Prozeß der sozio-kulturellen Evolution kennzeichnet eine permanente Akkumulation von Wissen (Vanberg 1994, 14ff.), so daß in den dabei entstehenden Verhaltens26 Die Regelordnung als Gesamtheit der Verhaltensregeln, ist somit nicht identisch mit der Rechtsordnung als Gesamtheit kodifizierter Regeln. 27 Hier interessiert Hayeks positive Theorie der Evolution, also allein die Erklärung des Ablaufs des Prozesses und seiner Determinanten. In Hayeks Darlegungen finden sich jedoch Elemente einer normativen Theorie der Evolution: Hayek (1980, 123ff., 140) erkennt beispielsweise die Notwendigkeit rationaler Korrekturen der entstandenen Regeln und damit das Erfordernis einer Gesetzgebung an. Lediglich die Möglichkeit, eine umfassende und funktionierende Konzeption von Normen zu konstruieren, wird verneint (Hayek 1983, 80). Dies setzt einen Maßstab voraus, an dem sich die Ergebnisse der Evolution messen lassen. Vgl. hierzu auch Vanberg (1981). 28 Hayek (1969h, 35 ff.; 1980, 58 f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer spontanen Ordnung. 29 Hayek (1969e, 217 f.; 1975, 4 f.) bezeichnet die bewußte Einrichtung von Normen als konstruktivistisch.

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regeln mehr Erfahrung inkorporiert ist, als dies in bewußt geschaffenen Regeln jemals der Fall sein kann {Hayek 1969k, 86; 1983, 78). Hayek bemüht nun zur Erklärung des Prozesses der sozio-kulturellen Evolution zwei unterschiedliche, nicht unbedingt kompatible Muster (Vanberg 1984a): eine rein individualistische Erklärung und eine Erklärung, die auf dem Mechanismus der Gruppenselektion30 basiert. Letztere erweist sich jedoch für die weiteren Überlegungen als nicht unbedingt dienlich, wie noch zu zeigen ist. Der Mechanismus der Gruppenselektion stellt einen vom Gruppenerfolg gelenkten Auswahlprozeß dar (Hayek 1979b, 31 f.). Die Verhaltensregeln deijenigen Gruppe setzen sich im Zeitablauf durch, die erfolgreicher ist als die anderen {Hayek 1975, 9; 1980, 35). Ein Indiz für den Erfolg ist dabei die Fähigkeit der Gruppe, zu wachsen und eine zunehmende Anzahl von Menschen am Leben zu erhalten {Hayek 1983a, 22; 1980, 24, 35). Der Selektionsvorgang erfolgt jedoch nicht gewalttätig, sondern die Verhaltensregeln der erfolgreichen Gruppen werden unbewußt tradiert oder nachgeahmt {Hayek 1979b, 21 f.; 1983, 74). Die Dynamik der Umwelt erzwingt eine laufende Änderung der Ordnung, wodurch der Auswahlvorgang der Verhaltensregeln permanent abläuft. Demzufolge resultiert aus einer hohen Umweltdynamik und aus dem Wettbewerb zwischen den Gruppen ein rascher Fortschritt bei der Herausbildung von innovativen Verhaltensregeln {Hayek 1983, 38f.). Daneben deutet er eine rein individualistische Erklärung des Evolutionsprozesses an31, die auf der Unsichtbaren-Hand-Erklärung der schottischen Moralphilosophen beruht {Vanberg 1984a, 90ff.): Aus der im Eigeninteresse mancher Individuen erfolgenden Abänderung bestehender Verhaltensregeln können neue Verhaltensregeln entstehen {Hayek 1979b, 21 f.), die von anderen Individuen, sofern diese die neuen Varianten gegenüber den alten als überlegen ansehen, übernommen, also erlernt, werden und sich deshalb durchsetzen {Hayek 1979b, 32f.; Vanberg 1994). Damit befinden sich die verschiedenen Verhaltensregeln in einem permanenten Wettbewerb, der die Verbreitung deijenigen Regel begünstigt, die eben die Koordination der Individuen erleichtert. Der permanente Ablauf dieses Prozesses der Innovation von Regeln bedarf der Offenheit der bestehenden Regelordnung, wodurch erst eine Regelvariation ermöglicht wird {Hayek 1983, 79). Hayeks Ansatz beinhaltet erkenntnistheoretische Unklarheiten. Zur Erklärung des Prozesses der sozio-ökonomischen Evolution kombiniert Hayek eine individualistische Evolutionsvariante mit dem überindividuellen Phänomen der Gruppenselektion, wobei nicht abgeklärt wird, wie aus dem individuellen Verhalten der Mechanismus der Gruppenselektion hervorgehen soll {Vanberg 1984a, 90ff.). Insbesondere bleibt hierbei offen, was Individuen zwingt, sozial wünschbare Verhaltensregeln anzunehmen, die ihren eigenen Interessen entgegenstehen können.32 Ebenso wird für die Problematik der Wei30 Offenbar dominiert das Paradigma der Gruppenselektion Hayeks explikatorisches Konzept (Hayek 1969j, 146; 1980, 107). 31 Die Überlagerung zweier Selektionsvarianten wird deutlich bei Hayek (1983,46; 1969J, 151). 32 Siehe Vanberg (1984a, 108f.). Anderer Ansicht sind beispielsweise Schmidt und Moser (1992), die die Bedeutung der Unwissenheit in Hayeks Ansatz betonen. Von den Individuen wird demzufolge gar nicht erkannt, daß sie sich in einer Gefangenendilemma-Situation befinden.

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tergabe abstrakter Verhaltensregeln keine befriedigende Erklärung angeboten (Witt 1989, 145). Während der individuelle Erklärungsansatz sich als durchaus gehaltvoll erweist, wirft der Prozeß der Gruppenselektion eine Vielzahl unlösbarer Probleme auf.33 So bedient er sich der Gruppengröße als unabhängiger Referenz für den Erfolg einer Gruppe und damit ihrer Regelordnung. Dieser Maßstab fur die Macht einer Gruppe trifft jedoch nur für das Zeitalter handwerklicher Fertigung zu (Radnitzky 1984, 22f.). In einer durch industrielle Produktion gekennzeichneten Gesellschaft ist dieser Zusammenhang nicht nachvollziehbar.34 Darüber hinaus ist der Selektionsdruck, dem der Mensch ausgesetzt ist, äußerst gering, so daß das Kriterium Bevölkerungsentwicklung generell in Frage gestellt werden muß ( Witt 1989, 143f.). Schließlich bleibt die Aussage, daß die spontan entstehenden Verhaltensregeln effizient, sozial erwünscht und rational geplanten überlegen seien, unbelegt (Vanberg 1981, 25ff.). Beschränkt man sich also auf Hayeks individualistisch basierten Erklärungsansatz, so ist danach zu fragen, was er in diesem Zusammenhang zu leisten vermag. 1. Der individualistische Erklärungsansatz Hayeks ist unbeschränkt geeignet, die Entstehung und Veränderung von Verhaltensregeln in Koordinationssituationen zu erklären.35 2. Hayeks individualistischer Ansatz ist ansatzweise geeignet, die Entstehung und Veränderung von Verhaltensregelmäßigkeiten in Gefangenendilemma-Situationen36 zu erklären, und zwar, wenn es Sanktionsmechanismen gibt, die das Dilemma entschärfen. Derartige Mechanismen finden sich in kleinen Gruppen mit einer geringen Fluktuation oder bei häufig wiederkehrenden Situationen mit den gleichen Akteuren, wenn für die beteiligten Akteure die Beendigung dieses Verhältnisses nicht absehbar ist. Die Sanktion besteht im letzten Fall im Vorenthalten potentieller Erträge bei zukünftigen Situationen, die sich durch eine kooperative Verhaltensweise ergeben hätten. Eine Erklärung liefert der Ansatz zudem beschränkt für GefangenendilemmaSituationen, in denen die bestehende Anreizstruktur nicht entsprechend korrigiert werden kann: Akteure verhalten sich mitunter auch in derartigen Situationstypen gemäß den in stabilen kleinen Gruppen erlernten Verhaltensregeln, da diese von den 33 Vanberg (1984a, 104ff.) weist nach, daß Hayek zur Erklärung des Gruppenselektionsprozesses auf systemfunktionalistische Argumentationsmuster zurückgreift und „... mit einer solchen Vorstellung das individualistische Erklärungsprogramm, das der Idee der spontanen sozialen Ordnung zugrunde liegt, verlassen würde". 34 Hayek (1983a, 29) selbst scheint diesen Maßstab zu verwerfen, wenn er schreibt: „Die Zunahme (der Bevölkerung in der marktwirtschaftlichen Peripherie; Anm. d. Verf.) beruht auf der Tatsache, daß die Menschen dort noch nicht die Tradition, die Moral und die Gewohnheiten der Marktwirtschaft erworben haben, aber an ihrem Rand leben, von der Mitarbeit mit der Marktwirtschaft profitieren und auch Gewinn ziehen, aber noch die Gewohnheiten der Fortpflanzung haben, die aus dem Leben ausserhalb der Marktwirtschaft stammen, als das Problem war, genug Kinder zur Welt zu bringen, damit im Alter mindestens noch zwei überlebende einen erhalten können." 35 Bei Koordinationssituationen handelt es „sich um Situationen mit zwei oder mehr Personen, die sich jeweils fur eine unter mehreren Handlungsaltemativen entscheiden müssen, wobei fur jede Situation das Handlungsergebnis von der Handlungsentscheidung des - oder der - anderen abhängt, und zwar in der Weise, daß es eine Reihe von - mindestens zwei - Handlungskombinationen gibt, die alle Beteiligten den anderen möglichen Handlungskombinationen vorziehen..." ( Vanberg 1984b, 131). 36 Zu den Charakteristika einer Gefangenendilemma-Situation vgl. Vanberg ( 1984b, 132).

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Akteuren auf vergleichbare Situationstypen unabhängig von den dort herrschenden Anreiz- und Sanktionsstrukturen übertragen werden ( Vanberg 1984b, 141). Hayeks individualistisch basierter Ansatz kann damit das Entstehen und die Veränderung von Verhaltensregeln unter den genannten Bedingungen erklären. Diese Verhaltensregeln finden dann keine zwingende Anwendung, obwohl sie latent vorhanden sind, wenn die genannten Bedingungen nicht gegeben sind. Mit anderen Worten: In der Familie tradierte Verhaltensregeln werden nicht zwangsläufig gegenüber dem Mann auf der Straße angewandt. Hayek kann damit zwar nicht die Genese von Verhaltensregeln in großen Gruppen erklären, jedoch deren Nukleus, also die ihnen zugrundeliegenden Moralvorstellungen und Gerechtigkeitsempfindungen.37 Das bedeutet, daß sich diese Moralvorstellungen und Gerechtigkeitsempfindungen aufgrund ihrer Überlegenheit gegenüber Alternativen durchgesetzt haben und daher zwar bei den Individuen vorhanden sind; sie erweisen sich aber nicht unbedingt in großen Gruppen als handlungsleitend. Diese Moralvorstellungen und Gerechtigkeitsempfindungen basieren wiederum auf bestimmten Differenzierungsmerkmalen, die individuelle und situative Aspekte erfassen und allgemein akzeptiert werden. 2. Die Einbindung der sozio-kulturellen Evolution in das Konzept der freiheitssichernden Regeln Hayek liefert also eine historische Theorie in Form einer Erklärung der Entstehung und Veränderung allgemein akzeptierter Differenzierungsmerkmale, die zur inhaltlichen Ausfüllung der freiheitssichemden Regeln verwendet werden können. Bei einer derartigen Rolle der sozio-kulturellen Evolution treten die vermeintlichen Defizite in Hayeks Konzept freiheitssichernder Regeln überhaupt nicht auf: Ausgangspunkt ist eine Gestaltung der freiheitssichemden Regeln in einer Weise, daß sie Hayeks ursprüngliches Universalitätskriterium erfüllen. Dabei kann der Regelinhalt nach situativen und nach individuellen Kriterien differenziert werden. Aus dem Evolutionsprozeß ergeben sich nun allgemein akzeptierte Moralvorstellungen und Gerechtigkeitsempfindungen, die auf individuellen und situativen Differenzierungskriterien basieren. Werden nun diese gleichsam evolutorisch entstandenen Differenzierungskriterien für die möglichen Differenzierungen im Regelinhalt herangezogen, so erfüllen die freiheitssichemden Regeln die Erfordernisse der Symmetrie der Handlungsspielräume und der moralischen Neutralität: Zum einen ist bei allgemein akzeptierten Moralvorstellungen und Gerechtigkeitsempfindungen der moralischen Neutralität durch die Berücksichtigung der Symmetrie der Handlungsspielräume bereits Genüge getan, da die im evolutorischen Prozeß herausgebildeten Differenzierungskriterien allgemeine Akzeptanz finden und damit auch die diesbezüglichen individuellen „Standpunkte" übereinstimmen. Zum anderen bewirkt die allgemeine Akzeptanz, daß Individuen derartig ausgestaltete Regeln 37 Siehe Hayek (1983, 78ff.). „Unsere Gewohnheiten und Fertigkeiten, unsere gefühlsmäßigen Einstellungen, unsere Werkzeuge und unsere Einrichtungen - sie alle sind in diesem Sinne Anpassungen an die vergangene Erfahrung, die sich durch selektive Ausmerzung weniger geeigneten Verhaltens ergeben haben" (Hayek 1983, 34).

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auch gegen sich gelten lassen würden, wodurch auch die Symmetrie der Handlungsspielräume hergestellt wäre. Damit wird zugleich die Kritik des mangelnden Schutzes vor asymmetrischen Freiheitsbeschränkungen gänzlich entkräftet. Da davon auszugehen ist, daß sich nicht eine Unzahl, sondern nur eine sehr geringe Anzahl derartiger Moralvorstellungen und Gerechtigkeitsempfindungen im Evolutionsprozeß simultan herausbilden wird, erweist sich auch der Vorwurf eines mangelnden Schutzes vor symmetrischen Freiheitsbeschränkungen als unzutreffend. Auf diese Weise stellen die Ergebnisse der sozio-kulturellen Evolution einen unabdingbaren Bestandteil bei der Ausgestaltung der freiheitssichemden Regeln dar. Konsequent fugt sich dann auch Hayeks Verfassungsvorschlag in diese Interpretation ein: Hayek hat den Vorschlag zur Einrichtung eines Zweikammersystems gemacht, den er selbst mit dem Begriff „Demarchie" belegt {Hayek 19691, 205). Aufgabe der ersten Kammer38 ist es, allgemeine Regeln zu kodifizieren, die ohne Ausnahme anzuwenden sind und die allein die Ausübung von Zwang gegenüber den Individuen durch die Staatsgewalt rechtfertigen {Hayek 1969m, 73). Diese allgemeinen Regeln bilden zugleich den Handlungsrahmen für die zweite Kammer, die diese allgemeinen Regeln konkretisiert.39 Der ersten Kammer obliegt es somit, sich im Evolutionsprozeß herausgebildete Differenzierungsmerkmale zu eruieren und in die freiheitssichemden Regeln einzupassen, die gleichsam als auszufüllende Schablone dienen.

V. Ergebnis Aus einem Menschenbild, das die Unterschiedlichkeit individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten betont, leitet Hayek die Forderung nach individueller Freiheit als Abwesenheit willkürlichen Zwangs ab. Hayek will ein Höchstmaß an individueller Freiheit durch freiheitssichernde Regeln gewährleistet wissen. Sein Werk liefert zahlreiche Ansatzpunkte für die Ausgestaltung freiheitssichernder Regeln. So müssen derartige Regeln neben anderen Anforderungen wie Offenheit, Abstraktheit, Gewißheit und Widerspruchsfreiheit dem Erfordernis der Universalität genügen. Hayeks Anforderungen an freiheitssichernde Regeln reichen jedoch nicht aus, um ein Maximum an äquidistanter individueller Gegenüberfreiheit zu garantieren. Dies ist deshalb der Fall, weil Hayek weder inhaltlich konkrete Differenzierungsmerkmale angibt noch ein Verfahren, mit dessen Hilfe derartige Merkmale eruiert werden können, von Hayek explizit vorgeschlagen wird. Eine Erhöhung der Anforderungen an das Universalitätserfordernis, namentlich durch die Symmetrie der Handlungsspielräume sowie durch die moralische Neutralität, allein reicht jedoch nicht aus, um inhaltlich konkrete Differenzierungsmerkmale zu gewinnen. Vielmehr wären hierzu zusätzlich vertragstheoretische Elemente notwendig. Einen fruchtbaren Weg aus diesem Dilemma bietet Hayeks Ansatz zur Erklärung der sozio-kulturellen Evolution: Im Rahmen der sozio-kulturellen Evolution bilden sich 38 Zur Zusammensetzung der Abgeordneten dieser Kammer siehe Hayek (1969a, 54; 1981b, 157; 1977, 19; 1978, 117). 39 Zu den Aufgaben der zweiten Kammer siehe beispielsweise Kleinewefers (1985, 110).

Rolle der Evolution · 99 Verhaltensregeln heraus, die auf allgemein akzeptierten Differenzierungsmerkmalen beruhen. Diese Differenzierungsmerkmale können nun herangezogen werden, um das vermeintliche Defizit bei der „Konstruktion" kodifizierter allgemeiner Regeln zu beseitigen. Folgerichtig ist dann auch Hayeks bicameraler Verfassungsvorschlag, der der ersten Kammer die Eruierung dieser Merkmale zuordnet.

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1 0 2 • Frank Daumann

Zusammenfassung Hayek will individuelle Freiheit durch Regeln geschützt wissen, die neben anderen Anforderungen insbesondere dem Erfordernis der Allgemeinheit genügen müssen. Hayeks Universalitätsprinzip erweist sich jedoch insofern als offen, als es Differenzierungen nach unterschiedlichen individuellen Merkmalen erlaubt. Dabei scheint er jedoch die Angabe von Merkmalen, nach denen derartige Differenzierungen vorgenommen werden können, oder die eines Verfahrens hierzu schuldig zu bleiben. Tatsächlich stellt jedoch die kulturelle Evolution ein derartiges „Verfahren" dar. Das Ergebnis der kulturellen Evolution sind Verhaltensregeln, die auf allgemein akzeptierten Differenzierungsmerkmalen basieren. Konsequenterweise sind diese Merkmale auch als normative Grundlage der freiheitssichernden Regeln heranzuziehen. Damit kommt der kulturellen Evolution eine maßgebliche Bedeutung bei der Gestaltung der freiheitssichernden Regeln zu. Summary On the role of evolution in Hayek's concept of general rules Hayek wants to secure individual freedom by general rules, but his principle of universality allows a discrimination based on different individual criteria. What is obviously missing in this context is a setting of the criteria that are allowed to be used or a method by which these criteria can be found. Actually the cultural evolution could be seen as such a method: The results of cultural evolution are institutions which are based on generally accepted criteria. Therefore these criteria should be used as a normative baseline for the general rules. Thus the cultural evolution plays an important role in the context of designing the general rules.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Jörn Sideras

Konstitutionelle Äquivalenz und Ordnungswahl*

I. Einleitung Die durch Euchen und Böhm begründete Freiburger

oder Ordoliberale

Schule1

be-

ruht auf dem Gedanken der Schaffung und Erhaltung einer wettbewerblichen Wirtschaftsordnung. Ordoliberale Autoren beteiligten sich an einer Grundsatzdiskussion über die Vorteilhaftigkeit verschiedener Typen v o n Wirtschaftssystemen. Im Zentrum dieser Diskussion standen die polaren Wirtschaftssystemtypen der Marktwirtschaft und der zentralgesteuerten sozialistischen Planwirtschaft. D i e s e Debatte fand vor dem Hintergrund des Stigmas der totalitären Regime jener Zeit statt. 2 Eucken (1949, 1) versuchte, das Phänomen zu beschreiben, indem er, bezugnehmend auf die Ideologienbildung des 19. Jahrhunderts, formulierte: „Erfahrungen mit zentraler Lenkung des industriellen Wirtschaftsprozesses, die heute reichlich vorliegen, fehlten . . . . Aber in dieser vergangenen Zeit sind die Doktrinen entfaltet, w e l c h e die heutigen Menschen beherrschen, und es sind die Begriffe gebildet worden, welche die meisten Menschen noch heute benutzen - w i e z.B. die Begriffe des Sozialismus und Kapitalismus".

Dieses Papier baut auf früheren Fassungen auf, die unter dem Titel „Konstitutionelle Äquivalenz und Ordnungswahl" beim Workshop für „Ordnungsökonomik und Recht" in St. Odile, Elsaß (17. September 1998) sowie unter dem Titel „The Principle of Constitutional Equivalence" beim Annual Meeting of the European Public Choice Society in Lissabon (8. April 1999) vorgestellt wurden. Der Autor dankt Martin Leschke und Mario Padovano für ihre Kommentare zu früheren Fassungen des Papiers und den Teilnehmern der jeweiligen Konferenzen für hilfreiche Kommentare. Besonderen Dank schuldet er Wolfgang Kerber, Chrysostomos Mantzavinos, Peter Oberender, Alfred Schüller und insbesondere Viktor Vanberg für ihre weitreichenden und hilfreichen Kommentare und Vorschläge. Auch die Unterstützung der School of International and Public Affairs (Institute for the Study of Europe) an der Columbia University, der School of Economics an der University of Queensland, der Economic Research and Analysis Division der World Trade Organization (WTO), des Instituts für Allgemeine Wirtschaftsforschung (Abteilung für Wirtschaftspolitik) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, des Walter Eucken Instituts und der Volkswagenstiftung war von großem Wert. Sämtliche Mängel gehen selbstverständlich zu Lasten des Autors. 1 Zu den grundlegenden Schriften zur Ordnungsökonomik siehe Eucken (1940; 1942; 1948; 1949; 1952), Böhm (1933; 1937; 1950; 1966), und Vanberg (1998a). Zu einer breitangelegten Einordnung der Ordnungstheorie in das ökonomische Denken siehe Hartwig (1988). Siehe auch Streit (1997, 2870-2891). 2 Sozialwissenschaftler wie Friedrich A. von Hayek (1944; 1976a/1935a; 1976b/1935b; 1976c/1940), Franz Böhm (1937), Ludwig von Mises (1980/1940), Walter Eucken (1942), Wilhelm Röpke (1944), Karl Popper (1945a; 1945b) und Bertrand de Jouvenel (1972/1945) verfaßten ihre bahnbrechenden Werke in der Zeit unfaßbarer Auswüchse totalitärer Systeme, zum Teil im Exil. Siehe hierzu auch Habermann (1996, 121).

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104 · Jörn Sidéras Es ist daher verständlich, daß in der Nachkriegszeit die Doktrinen des Sozialismus und des Kapitalismus ein beherrschendes Thema blieben. 3 In dieser Zeit entstand die Idee des Ordoliberalismus als Antwort auf die Zentrallenkungskonzeption des Sozialismus und die „staatsfreie Wirtschaft" des Manchesterkapitalismus. 4 Durch ihr Bemühen um die Verhinderung von Monopolen und Kartellen zum Schutz des Wettbewerbs 5 trägt die traditionelle ordoliberale Konzeption eher passive Züge. D a s gestalterische Anliegen konstitutionenökonomischer Überlegungen 6 hinsichtlich der aktiven Schaffimg der Regeln gesellschaftlichen und insbesondere wettbewerblichen Handelns als vertragstheoretisches Konzept und die explizite Orientierung an den Präferenzen der relevanten Akteure (Wahlbürger) war vor einem halben Jahrhundert noch kein dominierendes Thema. Es stellt dennoch nichts anderes als die Parallel- und Weiterentwicklung ordnungsökonomischen Gedankenguts dar. Auch Aspekte der Schaffung eines Ordnungsrahmens für Wettbewerbsprozesse in Markt und Politik weiten das Anwendungsgebiet ordnungstheoretischen Denkens aus. In diesem Papier wird nach Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der Idee des O R D O 7 und der konstitutionenökonomischen Konzeption v o m Tauschparadigma auf allen Regelebenen 8 gesucht. Im Kern geht es um die positive Frage, w i e der politische

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Hayek etwa befaßte sich neben den Grundsätzen sozialistischer Wirtschaftsrechnung auch mit weiteren Aspekten der Planwirtschaft. Siehe Hayek (1976a/1935a; 1976b/1935b; 1976c/1940; 1948a; 1948b). Siehe auch die Schriften des £ucAe«-Schülers Hensel (1954; 1977). Explizit mit systemvergleichenden Themen beschäftigt sich die Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme. Sie wurde 1954 in Freiburg i. Br. von Karl P. Hensel gegründet und 1957 nach Marburg verlegt. Dort wird sie seit 1975 von Alfred Schüller geleitet. Zur Auseinandersetzung Euckens mit der „staatsfreien Wirtschaft" des Laissez Faire sowie mit der zentralen Lenkung des Wirtschaftsprozesses siehe Eucken (1949, 3ff. und 8fF.). Zu der von Eucken vorgeschlagenen Wirtschaftspolitik der Mittelwege siehe Eucken (1949, 14ff.). Interessant ist, daß sich die Frage nach der Rolle des Staates für die Wirtschaft auch in unserer Zeit immer wieder von neuem stellt. Für heutige Transformationsländer ebenso wie für westliche Wohlfahrtsstaaten kommt Vanberg (1997a, 2f.) zu dem Schluß: „What is implied in North's argument, and what the German Ordo-Liberals explicitly stressed, is that a properly functioning market ... is not a gift from nature, something that simply emerges where the state leaves room for private economic activity. ... Establishing a properly functioning market in this sense means more than privatization and retreat of the state from economy. It means to provide for an arena of voluntary trade and cooperation, an arena in which economic actors are effectively protected from private as well as from political prédation. ... To achieve this is a laborious, continuing task, a task, in fact, not only the transformation societies are facing, but the constituencies in Western welfare states as well". Im Sinne der Ordnungsökonomik formuliert Vanberg (1997a, 2): „ ... a functioning market is a socialorganizational ideal, something we have to strive for and that needs to be carefully hedged and safeguarded against the wealth-destroying threat of private prédation as well as public prédation by way of the political process". „Constitutional Economics (CE, henceforth) is the application of methods and analytical techniques of modem economics to the study of the basic rules under which social orders may operate. ... CE is concerned with the analysis of any stable pattern of rules ... which structure and influence social interaction" (Brennan und Hamlin 1998, 401). Zur „Idee des Ordo" siehe Böhm (1950). Konsequente prozedural-liberale Überlegungen unter Verwendung des Kriteriums der freiwilligen Zustimmung münden in einer Anwendung des Tauschparadigmas auf allen Entscheidungsebenen. Zur Verbindung des prozeduralen Liberalismus mit dem Kriterium der freiwilligen Zustimmung siehe Vanberg (1997b, 712ff.). Zur Anwendung des Tauschparadigmas über unmittelbare Tauschakte hin-

Konstitutionelle Äquivalenz ' 105

Prozeß strukturiert werden kann, um dem Prinzip der individuellen Souveränität oder Bürgersouveränität auf den jeweils relevanten Ebenen der Regelentscheidung Geltung zu verschaffen. Zunächst werden in Kapitel II Grundzüge des ORDO-Konzepts vor dem Hintergrund der Mehrstufigkeit von Gesellschaftssystemen beleuchtet. Eine wichtige These dieses Papiers besagt, daß ordnungspolitische Kompetenzen nicht unbedingt zentralstaatlich zugeordnet sein müssen. Die nationalstaatliche ordnungspolitische Generalkompetenz im Sinne des Paradigmas vom „Staat als Monopolisten" wird in Frage gestellt. Der Begriff „konstitutionelle Äquivalenz" charakterisiert die problemorientierte Allokation von Zuständigkeiten innerhalb der Staatshierarchie zur Gestaltung von problemlösenden Institutionen. Er wird in Kapitel III vor dem Hintergrund etablierter Ansätze der Konstitutionenökonomik sowie eines erweiterten Tausch-Paradigmas entwikkelt. Dabei wird, zusätzlich zu den beiden in der Konstitutionenökonomik etablierten Betrachtungsebenen, der subkonstitutionellen und der konstitutionellen, die institutionelle Meta-Ebene neu eingeführt, auf der jeweils die Zuständigkeiten zur institutionellen Gestaltung zu verankern sind, sowie Überlegungen zur Notwendigkeit eines Initiativrechts mit Verfassungsrang für Bürger, welches auf der höchsten Aggregationsstufe innerhalb des Staatsgebildes anzusiedeln ist. In Kapitel IV werden Elemente der Property Rights-Theorie in das Konzept der konstitutionellen Äquivalenz integriert. Die ordnungsökonomische Illustration des Prinzips der konstitutionellen Äquivalenz erfolgt in Kapitel V am Beispiel der Problemlösung beim Auftreten kleinräumiger Umweltexternalitäten. Eine Zusammenfassung (Kapitel VI) beschließt diesen Beitrag.

II. Ordnungsökonomik und die Mehrstufigkeit von Systemen Ordnungsökonomik wird sowohl in ihrer theoretischen als auch in ihrer angewandten Ausprägung betrieben. Die Ordnungspolitik stellt zusammen mit der Prozeßpolitik die beiden Äste der Wirtschaftspolitik dar9, wobei der Entscheidungsträger der Wirtschaftspolitik der Staat ist. Der theoretische Zweig der Ordnungsökonomik, also die Ordnungstheorie, befaßt sich mit der Analyse und Erklärung der Funktionseigenschaften alternativer Rechts- oder Regelordnungen, während sich der angewandte Zweig, die Ordnungspolitik, der Frage zuwendet, wie die Erkenntnisse der theoretischen Ordnungsökonomik zur Lösung praktischer Ordnungsprobleme genutzt werden können ( Vanberg 1997b, 708).10

aus (Markttransaktionen, Vertragsabschlüsse) auf Bereiche der politischen Willensbildung sowie zur „Politik als Austausch" siehe Buchanan (1987, 105; 1989, 15). 9 Zum Verhältnis zwischen Wirtschafte- und Ordnungspolitik siehe Cassel (1988, 313f.). Cassels Beitrag ist explizit motiviert durch Mißverständnisse und Fehlinterpretationen des „Primats der Ordnungspolitik" und zielt auf eine Klärung des ordnungsökonomischen Anliegens sowie eine trennscharfe Abgrenzung und Gegenüberstellung von Wirtschafts-, Ordnungs- und Prozeßpolitik ab. Die Unterscheidung zwischen Ordnungs- und Prozeßpolitik stellt zugleich auf eine Differenzierung zwischen „regulation as framing of market processes" und „regulation as intervention in market processes" ab (Vanberg 1999, 3). Siehe dort auch eine Diskussion von Unterscheidungsmerkmalen verschiedener Regulierungs typen. 10 Zum Begriff der Ordnungsökonomik siehe auch Hoppmann (1995).

106 · Jörn Sidéras

Ordnungspolitik ist in erster Linie auf die Gestaltung der Wirtschaftsverfassung durch das Zusammenwirken der drei Staatsgewalten, der Legislative, der Exekutive und der Judikative, ausgerichtet. Ihr wird die Aufgabe zugeordnet, ein auf Dauer angelegtes, für alle verbindliches System rechtlich normierter Verhaltensregeln für die Beteiligung am Wirtschaftsleben zu schaffen, anzuwenden und durchzusetzen (Cassel 1988, 316). Ordnungspolitische Maßnahmen11 greifen somit nicht in die eigentlichen Marktprozesse ein, sondern legen Handlungsbeschränkungen für die beteiligten Akteure fest. In ihrer Summe ergeben sie eine Wettbewerbsordnung, die „ - ähnlich einem .Gesellschaftsvertrag' - auf einer wechselseitigen Verpflichtung beruht, sich selbst dem Wettbewerb auszusetzen, wenn andere das gleiche tun, um in den Genuß der Vorteile zu kommen, die eine solche Ordnung bieten kann" {Vanberg 1995, 190). Eine der zentralen Aufgaben der Ordnungspolitik ist darin zu sehen, Bemühungen zu verhindern, die darauf ausgerichtet sind, die allgemeinen Vorzüge der Wettbewerbsordnung zu genießen, sich selbst aber dem Wettbewerbsdruck zu entziehen (Vanberg 1995, 190). Im Gegensatz zu ordnungspolitischen Maßnahmen kommt der Prozeß- oder Ablaufpolitik die Aufgabe zu, direkt in den Wirtschaftsprozeß steuernd einzugreifen und auf diese Weise zielkonforme Ergebnisse herbeizuführen (Cassel 1988, 318). 12 In freiheitlich-demokratischen Gesellschaften ergibt sich die Wirtschaftsordnung aus Prozessen der Ordnungswahl, die sich auf der Ebene von Kollektiventscheidungen vollziehen. Die Konstitutionenökonomik stellt explizit auf die politischen Prozesse ab, die für die Wirtschaft relevant sind.13 Ordnungs- und Konstitutionenökonomik werden in diesem Beitrag als konzeptionelle Einheit betrachtet.14 Das Herzstück des ordnungsökonomischen Ansatzes ist der Vorschlag, die Wirtschaft durch einen wettbewerbsfordernden Ordnungsrahmen zu lenken und nicht durch ergebnisorientierte, in die Wirtschafts-

11 Cassel (1988, 317) nennt als Beispiele für ordnungspolitische Maßnahmen die Einführung der Mitbestimmung, die Aufhebung der Ladenschlußzeiten oder die Einführung einer Festbetragsregelung für Arzneimittel in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. 12 Cassel (1988, 317) führt als häufig genannte Gründe für direkte Staatseingriffe Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche, Boom und Depression, Inflation, Zahlungsbilanzdefizite, reale Auf- und Abwertungen, Branchenkrisen, strukturelle shifts, regionale Strukturverzerrungen, Umweltbelastungen, „ungerechte" Verteilungen oder Mißbrauch von Marktmacht an. Ein derart umfangreicher Kompetenzenkranz drängt freilich die Frage auf, was von der „Priorität der Wirtschaftsordnung und der sie prägenden Wirtschaftsordnungspolitik" übrig bleibt, wenn die Gründe für die genannten Fehlentwicklungen nicht auf eine Korrekturbedürftigkeit des Ordnungsrahmens, sondern offensichtlich auf ein Prozeßversagen trotz geeignetem Ordnungsrahmen zurückgeführt werden und daher der Ruf nach ergebnisorientierter Prozeßpolitik mit strengem quantitativen Ziel-Mittel-Kalkül erfolgt. 13 Die von Kirchgässner (1988, 55 und 69f.) geübte Kritik zielt auf „die theoretische Vernachlässigung politischer Prozesse in der Ordnungstheorie" ab. Er weist auf Möglichkeiten der Behandlung ordnungspolitischer Probleme in der Neuen Politischen Ökonomie", insbesondere der „Constitutional Economics", hin. Allerdings ist seine Sichtweise nicht unumstritten. Zu einem Systemzusammenhang der Wirtschafts-, Ordnungs- und Prozeßpolitik, die die Ordnungspolitik in eine Staatsordnungs- und eine Wirtschaftsordnungspolitik einteilt und der Staatsordnungspolitik eine Demokratiepolitik zuordnet, siehe Cassel (1988, 314ff.). 14 Die jüngere, aber im internationalen Maßstab wesentlich bekanntere Konstitutionenökonomik verfolgt ähnliche Anliegen wie die Ordnungsökonomik. Zu einem Vergleich der beiden Ansätze im Kontext der Diskussion des „procedural" und des „end-state" Liberalismus siehe Vanberg (1997b, 712ff.). Zur „Ordnungstheorie as Constitutional Economics" vergleiche Vanberg (1988).

Konstitutionelle Äquivalenz · 107 prozesse eingreifende Maßnahmen. 15 Der ordnungsökonomische Ansatz zielt somit auf eine Rechtsordnung und nicht auf eine Handelnsordnung ab. 16 Im Zusammenhang mit ordnungsökonomischen Überlegungen läßt sich eine grundsätzliche konzeptionelle Trennung der konstitutionellen von der subkonstitutionellen Ebene vornehmen. 17 Arrangements oder Handlungszusammenhänge, in denen wir agieren, haben jeweils ihre eigene interne Wettbewerbsordnung. Sie selbst wiederum sind eingebettet in umfassendere soziale Netzwerke, in denen sie wettbewerblichen Beschränkungen unterliegen ( V a n b e r g 1995, 191). Insofern läßt sich die Vorstellung von der „Hierarchie von Wettbewerbsebenen" oder der „Mehrstufigkeit von Wettbewerbsordnungen" ( Vanberg 1995, 191) 18 einfuhren, die auch fur die Ordnungsökonomik von Relevanz ist, jedoch bislang nicht explizit in diese integriert wurde. Der Aspekt der Mehrstufigkeit von Handlungs- und Regelebenen wird durch die Unterscheidung von konstitutionellen und subkonstitutionellen Entscheidungsebenen nahelegt. Neben der Verknüpfung des Ansatzes der konstitutionellen und subkonstitutionellen Entscheidungsebene mit der ordnungsökonomischen Konzeption läßt sich somit auch 15 Im Unterkapitel „Die Wirtschaftspolitik der Mittelwege" schreibt Eucken (1949, 14): „Die Schäden der Politik des Laissez Faire haben die Menschen des technischen Zeitalters ebenso durchlebt wie die Schäden und Gefahren zentraler Leitung. Deshalb richten sich Denken und Handeln auf die Frage, wie ein Kompromiß beider Extreme, eine Kombination von Freiheit und zentraler Lenkung, möglich sei". Eucken (1949, 18f.) fuhrt weiter aus: „Wirtschaftspolitische Diskussionen gelangen heute regelmäßig rasch an einen toten Punkt. Sie laufen sich in der Antithese .zentral gelenkte Wirtschaft' wider ,freie Wirtschaft' fest. So oder so kann aber - wie die Erfahrung lehrt - das Ordnungsproblem nicht gelöst werden. Der Hebel ist tiefer anzusetzen. Das Gesamtproblem der Lenkung der industriellen Wirtschaft hat am Anfang zu stehen .... Diese Ordnungspolitik geht den Weg, der allein noch offen ist: Sie sucht die Formen des Wirtschaftens zu gestalten oder die Bedingungen zu beeinflussen, unter denen sie entstehen.... (Ordnungspolitisches Handeln geschieht; J.S.)... auf Grund der Kenntnis ... der Interdependent der Ordnungen". 16 „Daß Regeln des gerechten Verhaltens nicht direkt eine Handelnsordnung bestimmen können, die darauf beruhen soll, daß die einzelnen ihr Wissen für ihre Zwecke verwenden, ist offenbar. Eine konkrete Handelnsordnung wird vollständig immer erst durch die besonderen Absichten und Tatsachenkenntnisse der Handelnden bestimmt, und die Verhaltensregeln, die sie befolgen, können immer nur Bedingungen sein, die den Bereich ihrer Wahl einschränken" (Hayek 1994, 173). Vanberg (1997c, 14) sieht einen Zusammenhang zwischen der konstitutionenökonomischen Unterscheidung von Regelebene und Handlungsebene und der Hayekschen Unterscheidung zwischen Rechts- und Handelnsordnung. „Im Sinne der Hayekschen Unterscheidung von Rechtsordnung und Handelnsordnung ... kann man sagen, daß aus dem Zusammenwirken des Regelrahmens, der Eigenprinzipien des Verhaltens der betreffenden Individuen und der besonderen Umstände von Ort und Zeit eine Handelnsordnung resultiert .... Entsprechend kann man ein Wirtschaftssystem genauer als das Gesamt von Wirtschaftsverfassung und Handelnsordnung einer Jurisdiktion definieren". Die von Hayek getroffene Unterscheidung zwischen Ordnung und Organisation ist grundsätzlicher als die zwischen der Rechts- und der Handelnsordnung, bezüglich der ihr zugrundeliegenden Logik jedoch ähnlich. Zur Unterscheidung von Regeln spontaner Ordnung und Regeln der Organisation siehe Hayek (1986, 72-76). Zum Begriff „Organisation" siehe Hayek (1986, 77) sowie zum Begriff „Ordnung" Hayek (1963, 3). 17 Zu einer umfassenden Betrachtung konstitutioneller und subkonstitutioneller Interessen siehe Vanberg (1996, 9ff.). 18 „Die Gemeinschaften, Verbände und Organisationen, die Tauschnetzwerke und Märkte, die politischen Ordnungen und Rechtssysteme auf lokaler nationaler und internationaler Ebene, innerhalb deren wir uns bewegen, sie alle bilden einen vielstufigen Zusammenhang von einander in vielfaltiger Weise überlappenden Regelsystemen, die ... als Wettbewerbsordnungen betrachtet werden können" Vanberg (1995, 192).

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die Vorstellung der Mehrstufigkeit von Wettbewerbsordnungen auf die ordnungstheoretische Grundlogik übertragen. Wenn mehrstufige Wettbewerbsordnungen unterstellt und die konstitutionellen Interessen der jeweils betroffenen Akteure thematisiert werden, so resultiert daraus unmittelbar die Frage nach der Zuständigkeit für die Gestaltung des Ordnungsrahmens für die Wettbewerbsprozesse, die sich auf den unterschiedlichen Stufen der Mehrebenenordnung abspielen. Ein vielfach postuliertes Paradigma vom „territorialen Nationalstaat als Monopolisten" hinsichtlich der wirtschafts- und ordnungspolitischen Zuständigkeit impliziert eine ordnungspolitische Generalkompetenz zur Regelung aller tatsächlichen und potentiellen „Spiele" (im Sinne von „games of catallaxy", Hayek 1976d, 115), die innerhalb des Einflußbereiches des monopolistischen Zentralstaates ablaufen. Im folgenden Kapitel III wird diese Generalkompetenz in Frage gestellt und das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz entwickelt.

III. Das Paradigma vom Staat als Monopolisten und das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz Unter Sozialwissenschaftlern besteht weitgehendes Einvernehmen darüber, daß der Staat der relevante Akteur für die Gestaltung der Gesellschaftsordnung, und somit der Ordnungspolitik, sei.19 Für Hayek etwa ist es eine Selbstverständlichkeit, vom Staat als dem relevanten Akteur hinsichtlich der Gestaltung der Wettbewerbsordnung zu sprechen. Für ihn stellt sich die Frage, „wie der Staat jene Macht verwenden solle, die ihm niemand abstritt" {Hayek 1976e, 144). Dabei differenziert er nicht zwischen zentralstaatlichen und dezentralen staatlichen - etwa föderalen - Strukturen.20 Er sieht im Staat den alleinigen Akteur, der mit dem Monopol auf institutionelle Anpassung ausgestattet ist. Dabei hält er die Frage, wie verhindert werden kann, dem Staat unerwünschte Eingriffsmacht zu geben, für eines der interessantesten Probleme, das wir zu erörtern haben (Hayek 1976e, 153). Über Wirkungszusammenhänge rechtlich-konstitutioneller Aspekte, die für die Reagibilität von Ordnungspolitik bezüglich der Bürgerpräferenzen bedeutsam sind, wurde bislang vergleichsweise wenig geschrieben. Vanberg (1999, 26) meint hierzu: „Where the liberal research agenda has remained comparatively underdeveloped, is in regard to the positive question of how the political process might be structured so as to implement the principle of 'individual sovereignty' at the constitutional level". Ansätze mit diesem Anspruch erfordern nach Ansicht des Verfassers auch das Infragestellen etablierter und wenig hinterfragter Prämissen und Paradigmen, worunter auch die Annahme vom Staat

19 „Unter Wirtschaftspolitik versteht man Aktivitäten des Staates, mit denen er die Wirtschaft seinen Zielen gemäß zu ordnen und zu steuern versucht" (Cassel 1988, 314). 20 Hayek (1976Í) widmet sich in einem Artikel über „Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse" durchaus der föderalen Themenstellung. Allerdings richtet er seinen Blick auf föderative Zusammenschlüsse bislang unabhängiger Staaten. Der Sachverhalt des Abbaus von Zentralstaatsmacht spielt keine Rolle. Mit Ansätzen zur politisch-rechtlichen Strukturierung des staatlichen Aufbaus befaßt sich die Theorie des Föderalismus. Zur Theorie des Föderalismus siehe etwa Kirsch (1977). Zum Föderalismus als Verfassungsprinzip siehe Rudolf (198V).

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als wirtschaftspolitischem Monopolisten fällt.21 In diese Richtung, die auch in diesem Beitrag verfolgt wird, drängt die aktuelle Entwicklung der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung, die unter Stichworten wie Globalisierung, Regionalismus, Multilateralismus, Standort- und Jurisdiktionenwettbewerb in sozialwissenschaftlichen Beiträgen verstärkt diskutiert wird.22 Die zunehmende Mobilität zwischen den Staaten trägt dazu bei, daß das bisherige Paradigma vom Territorialstaat als Monopolisten allmählich in Frage gestellt wird. Die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik gerät hierdurch selbst mehr und mehr unter Wettbewerbsdruck (Kerber 1998, 255). Ausgehend von diesen Überlegungen diskutiert Kerber die Frage, ob ein neues Paradigma „Staat als Wettbewerber" anstelle des traditionellen Paradigmas „Staat als Monopolist" notwendig sei.23 Das Paradigma vom Staat als monopolistischem Entscheidungsträger der Wirtschaftspolitik läßt sich jedoch nicht nur durch die Beobachtung der Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren über Nationalstaatsgrenzen hinaus erschüttern. Eine Reihe theoretischer Argumente läßt sich zu einem Konzept einer flexiblen, an konkreten Problemlagen orientierten, ordnungspolitischen Kompetenzzuordnung zusammenfügen. Dieses Konzept wird im folgenden als konstitutionelle Äquivalenz bezeichnet. Es ist als Beitrag zur Beantwortung der Frage gedacht, wie der politische Prozeß strukturiert werden kann, um das Prinzip der individuellen Souveränität zu implementieren. Die praktische Umsetzung dieses Prinzips hätte zur Folge, daß der Nationalstaat seine bisherigen wirtschaftspolitischen Kompetenzen in einem allmählichen Umschichtungsprozeß zugunsten neuer staatlicher sowie nicht-staatlicher Einheiten sowohl international als auch intranational einbüßt. Bevor jedoch das Konzept der konstitutionellen Äquivalenz dargestellt wird, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieses Konzept nicht dem Zweck dient, die Notwendigkeit des Staates an sich in Frage zu stellen oder sogar zu verwerfen. Es geht vielmehr darum, die Generalkompetenz des Staates hinsichtlich der Bestimmung der gesellschaftlichen Regeln zu hinterfragen. Auch das Konzept der konstitutionellen Äquivalenz kommt ohne einen Staat, der Eigentumsrechte, Regelsetzungskompetenzen und Regeln glaubwürdig durchsetzt, nicht aus.

21 Zur traditionellen Sichtweise der Theorie der Wirtschaftspolitik bemerkt Kerber. „Bezugspunkt in der bisherigen Auffassung von Wirtschaftspolitik ist zweifellos der Nationalstaat und entscheidend ftir das Staatsverständnis in der bisherigen Theorie der Wirtschaftspolitik ist, daß der Staat als Monopolist verstanden wird, also eine Instanz, der die inländischen Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren nicht ausweichen können" (Kerber 1998, 254). 22 Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Beiträge von Vanberg (1992), Vanberg und Kerber (1994), Sinn (1995), Blankart (1996), Klodt (1998) und Sideras (2000) verwiesen. 23 Die Antwort, die Kerber auf diese Frage gibt, ist fur den vorliegenden Beitrag von größtem Interesse: „Einerseits fiihrt die zunehmende Mobilität zwischen den Gebietskörperschaften tatsächlich zu dem bisher nicht systematisch in der Theorie der Wirtschaftspolitik reflektierten Phänomen einer direkt im Wettbewerb befindlichen Wirtschaftspolitik im Sinne einer Verbesserung der Steuer-Leistungs-Pakete von als Standorten gedachten Gebietskörperschaften (.Staat als Wettbewerber'). Andererseits aber ist es zur Sicherung der Funktionsfahigkeit eines solchen Wettbewerbs zwischen Gebietskörperschaften notwendig, einen übergeordneten verbindlichen Regelrahmen zu etablieren, der wiederum in den Kategorien des bisherigen Paradigmas ,Staat als Monopolist' zu denken ist ... " (Kerber 1998, 265). Diese Argumentation läßt sich als Anwendungsfall der von Vanberg (1995, sowie Fußnote 18 dieses Beitrages) beschriebenen Mehrstufigkeit von Wettbewerbsordnungen verstehen.

110 · Jörn Sidéras 1. Konstitutionelle und subkonstitutionelle Entscheidungsebene und das erweiterte Katallaxie-Paradigma In der Konstitutionenökonomik wird zwischen konstitutionellen und subkonstitutionellen Entscheidungen im Katallaxie-Prozeß unterschieden. Diese Differenzierung impliziert, daß die Akteure eines jeden unterscheidbaren gesellschaftlichen Prozesses oder, um die Metapher des Spieles zu bemühen, die Spieler eines jeden unterscheidbaren gesellschaftlichen Spieles dazu berechtigt und ermächtigt sind24, über ihre eigentlichen (subkonstitutionellen) Züge hinaus auch ihr konstitutionelles Interesse an einem besseren Spiel in die Entscheidungsprozesse um die Gestaltung der jeweils relevanten (Spielr e g e l n einfließen zu lassen.25 Dies kann geschehen, indem gemeinsam bindende konstitutionelle Beschränkungen freiwillig vereinbart werden. Denn: „The core notion is that individuals may exercise their freedom of contract at both levels, that they may seek gains from voluntary cooperation not only at the sub-constitutional level, but at the constitutional level as well. People may seek to realize 'gains from voluntary cooperation' not only by engaging in mutually beneficial market transactions, but also jointly submitting to mutually beneficial constitutional constraints" ( Vanberg 1999,16f.). Die Konstitutionenökonomik fußt auf einem erweiterten Katallaxieansatz, welcher auch als erweitertes Tauschparadigma bezeichnet werden kann. Dieser erweiterte Katallaxieansatz behandelt den politischen Prozeß als freiwilligen Einigungsprozeß zwischen Individuen, in dem gegenseitig Konzessionen und Kompromisse „getauscht" werden. Aus vertragstheoretischer Sicht kann der politische Prozeß somit auch als ein andauernder Prozeß des freiwilligen Austausches gegenseitiger Zugeständnisse von Selbstbeschränkungen durch die involvierten Individuen betrachtet werden, der zu gegenseitig bindenden Regeln fuhrt. Buchanan (1989, 14f.) fuhrt bezüglich der Geltung des Tauschparadigmas auch für den Bereich der Politik aus: thesci„The approach to economics that I... am urging here was called... 'catallactics', ence of exchanges. ... This approach to economics ... draws our attention directly to the process of exchange, trade, or agreement to contract. And it necessarily introduces ... the principle of spontaneous order or spontaneous coordination if we take the catallactics approach seriously, we then quite naturally bring into the analysis complex as well as simple exchange .... The emphasis shifts ...to all processes of voluntary agreement among persons. ... Economists need not restrict their inquiries to the behavior of persons within markets, to buying and selling activities as such. By a more or less natural extension of the catallactic approach, economists can look on politics, and on political process, in terms of the exchange paradigm. ...So long as collective action is modeled within individual decision-makers as the basic unit, and so long as such collective action is fundamentally conceived to reflect complex exchange or agreement among all members of a relevant community of persons, such action or behavior or choice may readily be brought under the umbrella of catallaxy ".

Einstimmigkeit bei kollektiven Entscheidungen stellt das politische Analogon zur Freiheit des Austausches von teilbaren Gütern im Markt dar, wenn im politischen Ge24 Zu den rechtsökonomischen Ausführungen siehe Kapitel IV dieses Beitrags. 25 „Central to the constitutional approach is the explicit distinction between the constitutional level, at which the rules of the game are defined, and the sub-constitutional level where the players choose their strategies for playing the game, within the limits set by the rules" ( Vanberg 1999, 16).

Konstitutionelle Äquivalenz · 111

schehen ein kollektiver Tauschprozeß von gegenseitigen Zugeständnissen bezüglich der Bereitstellung kollektiver (unteilbarer) Güter gesehen wird. Das politische Analogon zum dezentralisierten Tausch unter Individuen auf Märkten kann demzufolge nur jene Eigenschaft sein, die allen Austauschprozessen gemeinsam ist, nämlich die freiwillige Zustimmung aller betroffenen Individuen. Wird also Effizienz gemäß einem internen Beurteilungskriterium26 als der relevante Maßstab angesehen, so bemißt sich eine Verbesserung des Prozesses nach dem Grad der Annäherung an Einstimmigkeit (.Buchanan 1987, 107f.). Wird das politische Geschehen als ein komplexer Tauschprozeß interpretiert und das Katallaxie-Paradigma konsequent vom einfachen auf den komplexen Tausch übertragen, so läßt sich darauf aufbauend der in diesem Beitrag vorgestellte Ansatz der konstitutionellen Äquivalenz entwickeln. 2. Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz und Voraussetzungen für dessen Realisierung: Bürgerbefähigung zur Regelgestaltung auf der institutionellen Meta-Ebene Ein Höchstmaß an konstitutioneller Äquivalenz besteht dann, wenn alle Akteure eines jeden identifizierbaren gesellschaftlichen Prozesses - oder metaphorisch ausgedrückt, wenn sämtliche Spieler eines jeden identifizierbaren Spiels - in zweifacher Hinsicht ermächtigt sind: Wenn sie sowohl über das Recht zu einer möglichst ungehinderten, wenngleich regelgeleiteten, Wahl ihrer subkonstitutionellen Züge (z.B. Markttausch) als auch über die Kompetenz zu einer möglichst ungehinderten Artikulierung ihrer konstitutionellen Interessen durch komplexe Tausch- und Abstimmungsprozesse (etwa im politischen Prozeß) verfugen. Konstitutionelle Äquivalenz beschreibt einen Zustand, in dem dieselben Individuen, die Entscheidungen unter Regeln treffen, auch über die Regeln selbst entscheiden.27 Somit stellt konstitutionelle Äquivalenz darauf ab, konstitutionelle komplexe Austausch- und Abstimmungsprozesse zwischen allen Mitgliedern problembetroffener Personengruppen, im Sinne von „all members of a relevant community of persons" (Buchanan 1989, 15), zu ermöglichen. Denn, wie oben bereits erwähnt wurde, Individuen, die sich an sozialen Prozessen („Spielen") beteiligen, haben nicht nur ein Interesse am Ausgang der konkreten Spielrunde, in der sie entsprechend 26 Das auf Buchanan zurückgehende interne Kriterium zur Beurteilung ökonomischer Effizienz fußt auf dem ebenfalls im wesentlichen auf Buchanan zurückzuführenden vertragstheoretischen, konstitutionellen Tauschparadigma, das als Alternative zu der traditionellen wohlfahrtstheoretischen Ökonomik entwickelt wurde. Dieses interne Kriterium sieht in der Zustimmung von Individuen, die sich im Zuge freiwilligen Tausches im Markt („mutual gains from trade") sowie in politischen Prozessen kollektiver Entscheidungsfindung („mutual gains through collective choice") engagieren („constitutionalist contactarían paradigm"), den entscheidenden Gradmesser für ökonomische Effizienz. Das interne Bewertungskriterium ist von dem externen Kriterium zur Beurteilung ökonomischer Effizienz zu unterscheiden, welches in der Wohlfahrtsökonomik wurzelt. Es setzt die Behandlung von Gruppen als Quasi-Individuen voraus, indem es eine Ausweitung der Logik individueller rationaler Nutzenmaximierung auf die Ebene sozialer Gruppen hebt („maximization paradigm"). Zur Gegenüberstellung der Konstitutionenökonomik und der Wohlfahrtsökonomik in diesem Sinne siehe Vanberg (1998b, 7Iff.). 27 Zu grundsätzlichen Ausführungen zu „choices within rules" und „choices among rules" siehe Vanberg (1994, 10).

112 · Jörn Sidéras ihres subkonstitutionellen Interesses agieren. Dieselben Individuen haben auch ein dem Ausgang der betrachteten Spielrunde übergeordnetes konstitutionelles Interesse an den Funktionseigenschaften, an der Qualität des Prozesses oder des Spieles an sich. Eine Hypothese dieses Beitrages besagt: Konstitutionelle Äquivalenz äußert sich in einer Welt ohne Transaktionskosten und bei grundsätzlich unbehindertem Ein- und Austritt und präferenzorientierter Ordnungswahl dadurch, daß sich homogene konstitutionelle Präferenzen der an den jeweiligen Spielen Beteiligten herausbilden können (Tiebout 1956). Je stärker von diesen Idealbedingungen abgewichen wird, desto geringer ist das Ausmaß der Homogenität der konstitutionellen Präferenzen. Konstitutionelle Äquivalenz wird hier als eine Eigenschaft politisch-rechtlicher Strukturen gesehen, die im politischen Prozeß einen höheren Grad der Annäherung an Einstimmigkeit und somit eine Steigerung der Effizienz erzeugt. Wird nun ökonomische Effizienz nach dem internen Beurteilungskriterium angestrebt, so sind gemäß der oben geführten Argumentation Individuen, die subkonstitutionelle Entscheidungen treffen, dazu zu befähigen, ihre konstitutionellen Interessen durch ihre Beteiligung an den jeweils relevanten komplexen Tauschprozessen auf der konstitutionellen Ebene zu artikulieren und umzusetzen. Dies kann etwa durch die Erstellung der Agenda oder die Abstimmung über die zur Wahl stehenden Regeln erfolgen. Dies bedeutet umgekehrt: Andere Individuen, die von den in Frage stehenden gesellschaftlichen Prozessen oder sozialtechnologischen Problemen unberührt bleiben, sind von den Entscheidungen auf der entsprechenden konstitutionellen Ebene auszuschließen. Wird das politische Geschehen als freiwilliger Austausch von Konzessionen zwischen souveränen Individuen auf der konstitutionellen Regelebene verstanden, so ist das Augenmerk darauf zu lenken, daß es außer dem Vorgang der konstitutionellen Wahl an sich eines zusätzlichen Problemlösungsschrittes bedarf, der noch vor demjenigen der konstitutionellen Wahl auf der jeweils problemrelevanten Meta-Ebene anzusiedeln ist: Der Befähigung der problembetroffenen Bürger zur Problemerkennung und zur Beteiligung an der Gestaltung der Regelordnung auf der betreffenden konstitutionellen Problemlösungsebene durch die Verleihung eines entsprechenden gruppenexklusiven Initiativrechts. Die Ermächtigung zur kollektiven Regelwahl ist auf einer institutionellen MetaEbene vorzunehmen. Hierzu ist es hilfreich, sich nochmals die Differenzierung zwischen der konstitutionellen und der subkonstitutionellen Entscheidungsebene in Erinnerung zu rufen. Denn diese Unterscheidung alleine sagt noch nichts darüber aus, wer innerhalb eines Gesellschaftssystems auf den jeweiligen konstitutionellen Ebenen bezüglich der vielen verschiedenen regelungsbedürftigen gesellschaftlichen Prozesse über die Regeln beschließt, unter denen dann auf den betreffenden subkonstitutionellen Handelnsebenen die alltäglichen Spielzüge vorgenommen werden. Entscheidungen auf konstitutioneller Ebene über die Steuerung sozialer Prozesse auf der dazugehörenden subkonstitutionellen Ebene durch die Implementierung von entsprechenden Institutionen werden im politischen Alltag in aller Regel von anderen Akteuren und unter Berücksichtigung anderer Interessen (mit-)getroffen, als die dann unter diesen Institutionen ablaufenden Entscheidungen des alltäglichen Handelns auf der subkonstitutionellen Ebene. Es gehört nicht viel Vorstellungskraft dazu, dies in bezug auf autoritäre politische Regime zu vermuten. Aber auch in demokratisch regierten Gesellschaftssystemen

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sind unterschiedliche Grade der Direktheit der Beteiligung und Mitwirkung der betroffenen Bürger an der Gestaltung der sie betreffenden Regeln zu beobachten. Das Phänomen des Rent-Seeking und die Verteilung von Privilegien im politischen Alltag selbst in relativ partizipatorischen Demokratien stehen für derartige Verwerfungen zwischen Interessen der Bürgerschaft und den diese betreffenden Entscheidungsstrukturen, Regeln und Politiken. Für kompetitive, foderale Systeme ließe sich vermutlich ein vergleichbar hoher Grad an konstitutioneller Äquivalenz feststellen.28 Allerdings sehen sich Gesellschaftssysteme, aufgrund der sich ständig ändernden Umstände in ihrer Umwelt, gerade heute einem andauernden Anpassungsdruck ausgesetzt. Aufgrund dessen läuft ein Prozeß von Innovationen und Imitationen sowohl auf der institutionellen Mikroebene von Gesellschaftssystemen, für die Steuerung der Handlungen ihrer Mitglieder, als auch auf ihrer Makroebene, für die Systemstruktur selbst, ab. Daher läßt sich für ein hohes Ausmaß an konstitutioneller Äquivalenz grundsätzlich kein institutioneller Idealtyp von Gesellschaftssystemen mit universellem Geltungsanspruch benennen. Zum Erreichen von konstitutioneller Äquivalenz ist prinzipiell kein vorgegebener Typ eines Gesellschaftssystems notwendig, wie etwa das Konzept des „kompetitiven Föderalismus" oder der „partizipatorischen und experimentellen Demokratie"29, auch wenn die Umsetzung solcher Konzepte vermutlich mit einem hohen Grad an konstitutioneller Äquivalenz einhergeht. Die Erlangung und Aufrechterhaltung konstitutioneller Äquivalenz erfordert vielmehr die Offenheit des Prozesses, der Individuen, die durch sozial-technologische Probleme betroffen sind, dazu befähigt, auf den entsprechenden problemrelevanten konstitutionellen Ebenen an den Prozessen der Regelwahl mitzuwirken.30 Ein universeller Überlegenheitsanspruch der genannten Konzepte läßt sich kaum glaubhaft aufrechterhalten, wenn man sich vor Augen führt, daß der Möglichkeitsraum potentieller Institutionen, Mechanismen und Prozesse zur Lösung sozialtechnologischer Probleme sehr wahrscheinlich durch den gegenwärtigen Stand des Wissens und der Praxis noch nicht annähernd ausgeschöpft ist. Anzeichen, die auf die Existenz von Gesellschaftsordnungen hinweisen, in denen konstitutionelle Äquivalenz in ihrer Reinform umgesetzt ist, sind in der realen Welt nicht zu beobachten. Vielmehr zeichnen sich institutionelle Strukturen von Gesellschaftssystemen realiter häufig dadurch aus, daß sie Regelgestaltungskompetenzen mehr oder weniger zentral bündeln oder daß eine Tendenz zur Zentralisierung besteht 28 Es gibt vermutlich ebensoviele Grade und Ausprägungen von konstitutioneller Äquivalenz wie politische Systeme. U m ein quantifizierbares Maß an konstitutioneller Äquivalenz in den verschiedenen Gesellschaftssystemen feststellen zu können, bedarf es intersubjektiver Indikatoren und Kriterien, die derzeit nicht verfügbar sind, und Länderstudien, die noch nicht durchgeführt wurden. Beides wird im vorliegenden Beitrag nicht geleistet und bleibt künftiger Forschung vorbehalten. 29 Zum Zusammenhang zwischen partizipatorischer Politik, Institutionen und wirtschaftlicher Entwicklung siehe Rodrik (2000a; 2000b). 30 In diesem Beitrag wird davon abgesehen, unterschiedliche mögliche Mechanismen der Zuweisung von Meta-Rechten zur Beteiligung an konstitutioneller Regelwahl, etwa der verschiedenen Formen der Gerichts- oder Gesetzgebungsverfahren, zu diskutieren. Dieser durchaus wichtige Aspekt der konstitutionellen Äquivalenz, die Frage nach der ständigen Anpassung der Kompetenzverteilung auf den jeweiligen institutionellen Meta-Ebenen, bleibt einem gesonderten Beitrag vorbehalten.

114 · Jörn Sidéras

und somit die Konzentration von politischer Macht ermöglicht wird.31 Aufgrund solcher ad hoc-Beobachtungen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß politisch-rechtliche Institutionen innerhalb von Gesellschaftssystemen aus sich heraus, quasi von einer „unsichtbaren Hand" geleitet, Eigenschaften der konstitutionellen Äquivalenz annehmen. Hierzu bedarf es wiederum institutioneller Vorkehrungen. Ebenso, wie Märkte nicht einfach existieren, sondern in mühevollen und permanenten Prozessen der Gestaltung und Anpassung von dazu geeigneten Institutionen erst geschaffen und gepflegt werden müssen32, kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß die institutionellen Voraussetzungen für eine effiziente Gestaltung und Pflege des gesellschaftlichen Regelwerkes aus sich heraus, also ohne ständige Anpassung an neue Problemlagen, gegeben sind. Es geht um die Frage, wie die oben angesprochene Kongruenz, idealerweise sogar die Identität, zwischen den Gruppen deijenigen Akteure, die in den diversen gesellschaftlichen Spielen oder Prozessen subkonstitutionelle Spielzüge durchführen, und denjenigen Akteuren, die für ebendiese gesellschaftlichen Prozesse den Regelrahmen setzen, herbeigeführt und bewahrt werden kann. Um eine Tendenz hin zu konstitutioneller Äquivalenz zu ermöglichen, sind die dazu notwendigen institutionellen Voraussetzungen derart zu gestalten, daß sie die Mitglieder einer Gesellschaft dazu ermächtigen, sich an Regelfindungsprozessen auf der konstitutionellen Ebene zu beteiligen, um diejenigen sozialtechnologischen Probleme zu lösen, von denen sie betroffen sind. Hierzu ist prinzipiell für jedes sozio-ökonomische Problem eine Abgrenzung der Mitglieder problemrelevanter Personengruppen - Buchanans (1989, 14f.) „members of a relevant community of persons" - von nicht problembetroffenen Mitgliedern der Gesellschaft erforderlich. Diese zur Schaffung der angestrebten Kongruenz der Befähigung zur konstitutionellen Wahl mit der Geographie der sozialen Probleme benötigte Segmentierung erfordert wiederum institutionelle Vorkehrungen, die, relativ zu der jeweiligen konstitutionellen Ebene, auf einer institutionellen MetaEbene vorzunehmen sind. Jedem komplexen sozialtechnologischen Problem und somit jedem komplexen gesellschaftlichen Problemlösungsprozeß läßt sich idealiter außer der jeweiligen sub-konstitutionellen und konstitutionellen Entscheidungsebene auch eine weitere institutionelle Meta-Ebene zuordnen. Somit ergeben sich idealtypisch für η gesellschaftliche „Spiele" η Meta-Ebenen, η konstitutionelle und η subkonstitutionelle Entscheidungsebenen.33 31 Auch in föderalen Systemen wie in Deutschland und den USA besteht eine Tendenz hin zur Zentralisierung von ordnungspolitischen Zuständigkeiten. Zu Problemen und Lösungsvorschlägen bezüglich der Entwicklung des Föderalismus in Deutschland, in dem in zunehmendem Maße eine Kompetenzverlagerang von den Ländern auf den Bund stattfindet und dessen Staatsquote in den neunziger Jahren bereits weit über 50% betrug, siehe Lambsdorff und von Weizsäcker (1998) sowie Lambsdorff, Möschel und Blankart (1998). 32 Siehe hierzu in Fußnote 5 dieses Beitrages die Bemerkungen Vanbergs zur Lösung des Problems des Schutzes von Marktteilnehmern vor privater und politischer Beeinträchtigung durch die Bereitstellung und Pflege institutioneller Arrangements. 33 Gesellschaftliche Prozesse oder Spiele können überlappen. Im Falle einer perfekten Überlappung sind dieselben Individuen an denselben Spielen als Akteure auf der subkonstitutionellen Ebene beteiligt. In einem solchen Fall stimmen auch die jeweiligen konstitutionellen Ebenen (konstitutionelle Äquivalenz) genau überein. Die Implikationen solcher Konstellationen werden im folgenden nicht weiter untersucht.

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Auf der jeweiligen Meta-Ebene sind zunächst die vom jeweiligen Problem betroffenen Mitglieder einer betrachteten Gesellschaft mit einem gruppenexklusiven Recht auszustatten, das ihnen erlaubt, sich an den Regelentscheidungen auf der entsprechenden konstitutionellen Ebene zu beteiligen. Auf dieser konstitutionellen Ebene wiederum werden von den dazu berechtigten Individuen die „Spielregeln" geschaffen, unter denen dann ihre eigentlichen alltäglichen „Spielzüge" auf der subkonstitutionellen Ebene durchzuführen sind. Mit der Meta-Ebene wird für jedes gesellschaftliche Problem neben der konstitutionellen Regel- und der subkonstitutionellen Handelnsebene eine zusätzliche institutionelle Problemlösungsebene konzipiert. Mit der Zuordnung gruppenexklusiver Rechte zur Beteiligung an konstitutionellen Wahlhandlungen auf der jeweiligen MetaEbene wird der konstitutionellen und der subkonstitutionellen Entscheidung ein zusätzlicher notwendiger Problemlösungsschritt vorgeschaltet. 3. Konstitutionelle Äquivalenz, Initiativrecht und internationale Problemdimension Das vorgestelle Dreigestirn von institutioneller Meta- bzw. Kompetenzebene, konstitutioneller Regel- sowie subkonstitutioneller Handelnsebene ist eine Erweiterung des bisherigen Ansatzes der Konstitutionenökonomik, die zwischen konstitutioneller und subkonstitutioneller Ebene unterscheidet.34 Dabei handelt es sich um eine abstrakte Konzeption von ineinander verwobenen sozialtechnologischen Regel-, Entscheidungsund Handlungsebenen, die grundsätzlich auf eine Vielzahl sozio-ökonomischer Probleme Anwendung finden kann. So umspannen die möglichen Anwendungsbereiche des Prinzips der konstitutionellen Äquivalenz mit seinen drei Entscheidungs- und Handelnsebenen das gesamte Spektrum von rein lokalen bis hin zu globalen sozioökonomischen Problemen. Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz kann auf das Spannungsfeld der intranationalen Kompetenzabgrenzimg und auf Fragen der Abgrenzung von Zuständigkeiten der Regelsetzung zwischen den geläufigen Jurisdiktionstypen angewendet werden. Im deutschen föderalen System ist diese Kompetenzabgrenzung durch die Dreiteilung von Bund, Ländern und Gemeinden gegeben. In diesem Zusammenhang spielen beispielsweise Fragen der fiskalischen Unabhängigkeit der jeweiligen Gliedstaaten und Gemeinden eine wichtige Rolle.35 Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz ermöglicht jedoch eine noch weitergehende strukturelle Anpassung des tradierten Staatsaufbaus an die sich ständig und mit zunehmender Geschwindigkeit ändernden Gegebenheiten in dessen Systemumwelt. Durch eine konsequente Anwendung des Prinzips der konstitutionellen Äquivalenz wird die allmähliche Aufweichung der existierenden institutionellen Strukturen herbeigeführt. Der allmähliche Wandel der 34 Zum Ansatz der Konstitutionenökonomik oder Constitutional Political Economy siehe Vanberg (1998b) sowie Brennan und Hamlin (1998). 35 In zwei Manifesten, die 1998 jeweils auf Bundespressekonferenzen in Bonn vorgestellt wurden, sprechen Lambsdorff und andere die Erstarrung und Handlungsunfähigkeit in der deutschen Politik an und schlagen eine grundlegende Reformiening des deutschen Föderalismus sowie eine Neuordnung der Finanzverantwortung von Bund und Ländern vor. Siehe Lambsdorff und von Weizsäcker (1998) sowie Lambsdorff, Möschel und Blankart (1998).

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etablierten Institutionenlandschaft - also die Überwindung der in Deutschland ebenso wie in anderen westlichen Industrieländern allgemein beklagten institutionellen Sklerose - durch die allmähliche Verlagerung der Problemlösungszuständigkeiten auf neue dezentrale territoriale oder funktionale Jurisdiktionen36 wird möglich. Eine solche Entstehung von neuen dezentralen problemlösenden Jurisdiktionen wird als Ergebnis eines Bottom up-Prozesses dann erfolgen, wenn Bürger ein Initiativrecht mit Verfassungsrang auf zentralstaatlicher Ebene erhalten (in Deutschland auf der Bundesebene), das ihnen gestattet, der jeweils aktuell ermächtigten etablierten staatlichen Hierarchieebene ihre gegebene Problemlösungszuständigkeit streitig zu machen und entsprechende gruppenexklusive problemrelevante Regelungskompetenzen auf der entsprechenden institutionellen Meta-Ebene für sich zu beanspruchen. Ein solches Initiativrecht mit Verfassungsrang37 stellt eine vierte Ebene in dem hier vorgestellten Regel- und Handelnssystem dar. In Abbildung 1 wird das Zusammenspiel der vier Regel- und Handelnsebenen dargestellt. Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz läßt sich grundsätzlich über lokale und nationalstaatliche Problemkontexte hinaus auch auf internationale Problemstellungen anwenden. Problemlösungskompetenzen für grenzüberschreitende Problemlagen - etwa Angelegenheiten von Krieg und Frieden, wirtschaftliche Probleme, ausgelöst etwa durch internationale Handelskonflikte oder Finanzkrisen, oder etwa internationale Umweltfragen - lassen sich nach dem Prinzip der Betroffenheit bilateral, in regionalen Blöcken oder auch auf multilateral-globaler Ebene ansiedeln. Ebenso wie im intranationalen Kontext bedarf die Handhabung internationaler Probleme institutioneller Vorkehrungen auf mehreren Ebenen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine zivilisierte internationale Koexistenz, die Durchsetzbarkeit supranationaler Vereinbarungen oder die „Konstitutionalisierung" internationaler Beziehungen durch die Schaffung regelgebundenen Verhaltens, ist in vielen internationalen Bereichen erst noch zu schaffen. So ist, entgegen dem Geiste des Konstitutionalismus und der konstitutionellen Äquivalenz, Machtpolitik auf den meisten internationalen Gebieten noch immer an der Tagesordnung. Allerdings neigt sich das Pendel von der Vorherrschaft absoluter Machtpolitik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und aus den Zeiten des Kalten Krieges in einigen Bereichen allmählich in Richtung Konstitutionalismus. So weist die Europäische Union eine für einen regionalen Block weitgehende und tiefgreifende Entwicklung in Richtung Konstitutionalisierung auf.38 Auch der Wandel der rein funktionalen Handelsorganisati-

36 Die Logik des Konzeptes der konstitutionellen Äquivalenz steht im Zusammenhang mit der Föderalismustheorie. Diese Verbindung ist nicht Gegenstand des vorliegenden Artikels und wird hier nicht weiter untersucht. Zu aktuellen Beiträgen zur Föderalismusdiskussion siehe Casella und Frey (1992), Frey (1997), Vanberg (2000). 37 Die Durchsetzung eines solchen Initiativrechts setzt einen darauf ausgelegten Gerichtsmechanismus voraus. Eine diesbezügliche Diskussion wird in diesem Beitrag nicht geleistet und bleibt zukünftiger Forschung vorbehalten. Zur Umsetzung des Prinzips der konstitutionellen Äquivalenz durch die Anwendung interner Abgrenzungskriterien im Zuge eines Bottom up-Prozesses zur Zuweisung der entsprechenden Kompetenzen siehe Kapitel IV dieses Beitrags. 38 Zu den wichtigsten Institutionen der EU, durch welche die Regelgebundenheit der Entscheidungsprozesse und Politiken innerhalb der EU verbessert wurde, zählen das Europäische Parlament und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Zu einer vollständigen Aufzählung der EU-

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on GATT zur WTO hat durch Verbesserungen des Streitschlichtungsverfahrens einen Schritt in Richtung Konstitutionalisierung und somit weg von reiner machtpolitisch begründeten Handelspolitik mit sich gebracht.39 Abbildung 1 : Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz Nationale Verfassungsebene: Initiativrecht für Bürger mit Verfassungsrang (Das Initiativrecht erlaubt es Bürgern, problembezogene, gruppenexklusive Zuständigkeiten zur Regelung von sozio-ökonomischen Problemen einzufordern, die sie betreffen [bottom-up-Prinzip])

Ψ Ν problembezogene institutionelle Kompetenz- oder Meta-Ebenen (Bürger erhalten auf der institutionellen Meta-Ebene die gruppenexklusive Zuständigkeit, sozio-ökonomische Probleme, die sie betreffen, auf der dazu gehörenden konstitutionellen Ebene zu regeln; diese Kompetenz kann bis dahin entweder auf höherer staatlicher Ebene verankert oder noch gar nicht existent sein [etwa bei neuartigen sozio-ökonomischen Problemen])

Ψ IV problembezogene konstitutionelle Ebenen (Diejenigen Individuen, die durch gruppenexklusive Kompetenzzuweisung auf der Meta-Ebene zur Problemlösung ermächtigt wurden, gestalten auf der konstitutionellen Ebene die Regeln, durch die sie Handlungen auf der subkonstitutionellen Ebene im Sinne einer Lösung des zugrundeliegenden Problems beschränken bzw. steuern wollen)

Ψ Ν problembezogene subkonstitutionelle Ebenen (Akteure auf der subkonstitutionellen Handelnsebene richten ihre „Spielzüge" an dem neuen Regelrahmen aus)

IV. Institutionelle Meta-Ebene, Property Rights-Theorie und Regelsetzungszuständigkeiten auf der konstitutionellen Ebene Im folgenden sollen Grundsätze diskutiert werden, nach denen Regelsetzungszuständigkeiten gemäß der Eigenschaft der konstitutionellen Äquivalenz zugeordnet werden können. Konstitutionelle Zuständigkeiten können an die subkonstitutionellen Aktivitäten von Individuen gekoppelt und durch die externalitätenbezogene Zuweisung von Institutionen siehe EU (1999). Zu der Frage, ob die Demokratisierung der EU-Institutionen mit der Integration der EU Schritt zu halten vermag, siehe Scharpf (1999) und Schmitter (2000). In diesem Zusammenhang wird nicht weiter auf die Problematik von ex ante-Harmonisierung oder Zentralisierungstendenzen innerhalb der EU eingegangen, wenngleich genau dies seit langem Gegenstand von Debatten ist. 39 Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß das existierende System des Streitschlichtungsverfahrens, welches seit etwa sechs Jahren praktiziert wird, verbesserungsbedürftig ist. Zu Mängeln des Systems siehe Hoekman und Mavroidis (1999).

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Property. Rights realisiert werden. Es wurde bereits angesprochen, daß Akteure eines jeden unterscheidbaren sozialen Spiels zur Gestaltung des Regelrahmens des von ihnen betriebenen Spiels ermächtigt werden können. Das als allgemeine Regel formulierte, oben angeführte Initiativrecht fiir Bürger mit Verfassungsrang kann etwa darauf lauten, daß jedem Spieler eines sozialen Spiels neben der Möglichkeit der Durchführung subkonstitutioneller Züge auch die Zuständigkeit erteilt wird, sein konstitutionelles Interesse in Abstimmungsprozessen mit den anderen Akteuren desselben Spiels artikulieren zu können. Diese allgemeine Regel würde in einer perfekten Welt40 für jedes existierende oder neu entstehende Spiel durch die Zuordnung entsprechender relevanter Property Rights zugunsten der Spieler der jeweiligen sozialen Spiele umgesetzt. Die Aufweichung der Annahme fehlender Transaktionskosten zeigt jedoch, daß die perfekte, vollständige Umsetzung des Prinzips der konstitutionellen Äquivalenz anhand der Maßgabe der Identifizierung der verschiedenen Spieler unterschiedlicher sozialer Spiele unter imperfekten Bedingungen nicht erfolgen kann. Die auftretenden Probleme scheinen denen der Konzepte der Marktabgrenzung41 zu ähneln. Nach welchen Kriterien und Indikatoren sollen die verschiedenen Spiele voneinander abgegrenzt werden? Es wird schwer möglich sein, einheitlich anerkannte und objektiv festlegbare Kriterien zur externen Abgrenzung der unterschiedlichen Spiele zu entwickeln. Selbst wenn dieser Schritt zufriedenstellend gelingt, so ist noch kein einziger Spieler identifiziert. Suchprobleme erschweren diese Aufgabe. Aus der Informationsökonomik42 kann das Argument entlehnt werden, daß sich die restlose Identifizierung von Spielern und Spielen aus Transaktionskostengründen nicht lohnt. Suchprozesse können bei existierenden Transaktionskosten etwa dann abgebrochen werden, wenn die Grenzerträge des letzten Suchschrittes gleich seinen Grenzkosten sind (Stigler 1961; Kunz 1985, 37). Und schließlich fragt sich, wer diese Suche durchführen soll? Gerichte und Gesetzgeber können objektivierbare Indikatoren lediglich durch externe Beurteilungsvorgänge und -kriterien anwenden und sind dem Wissensproblem ausgesetzt. Sie verfügen nicht über das spezielle Wissen um die besonderen Umstände von Ort und Zeit, das die einzelnen Individuen besitzen. Es scheint geboten, den Spielern selbst den Freiraum für die Aktivierung des unter ihnen verstreuten Wissens und zur internen Beurteilung zu geben, welchem katallaktischen Spiel sie sich zugehörig fühlen und wann aus ihrer Sicht Anpassungsbedarf für den Regelrahmen der von ihnen durchgeführten Spiele besteht. Eine derartige Handhabung setzt einen Bottom up-Prozeß einer allmählichen Absenkung von Regelsetzungskompetenzen in Gang. Die Akteure selbst wissen am besten, wann sie die Funktionseigenschaften ihrer Spiele für verbesserungsbedürftig halten. Und sie sind es, die am besten abschätzen können, wann sie in externe Effekte involviert sind, also in Konflikte 40 Eine gedachte perfekte Welt zeichnet sich unter anderem durch die Nichtexistenz von Transaktionskosten aus. Zur Transaktionskostentheorie siehe Coase (1937) und Wegehenkel (1981). Zur Entstehung von Property Rights bei Existenz von Transaktionskosten siehe Demsetz (1967). 41 Zur Marktabgrenzung siehe Horowitz (1981) sowie Kantzenbach und Krüger (1990). Eine Übersicht zu räumlichen Marktabgrenzungsansätzen liefert Kallfaß (1997). Das Hauptproblem von Verfahren der Marktabgrenzung sieht der Verfasser im subjektiven und externen Charakter der Bestimmung von dazu benötigten Abgrenzungskriterien. 42 Zu wichtigen Ansätzen der Informationsökonomik siehe Stigler (1961), McCall (1965) sowie fur eine Übersicht über unterschiedliche Ansätze siehe Kunz (1985, lOf. und 33ff.).

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mit Mitspielern um die Ausführung derjenigen Handlungsrechte, die sie zur Durchführung ihrer subkonstitutionellen Entscheidungen benötigen. Ein nach internen Bewertungskriterien ablaufender Prozeß, der vom Eigennutzen der Individuen gesteuert wird, deckt die Struktur von Spielen, Spielern und sozialtechnologischen Problemen auf. Gesucht ist eine Konzeption, die auf die dezentrale Aktivierung problemrelevanten Wissens abstellt und den Prozeß der Allokation von Regelsetzungszuständigkeiten im Sinne der konstitutionellen Äquivalenz einleitet. Der Property Rights-Ansatz integriert die Problematik der Internalisierung externer Effekte mit Transaktionskostenaspekten.43 Im folgenden werden Möglichkeiten der problemadäquaten Zuordnung von konstitutionellen Kompetenzen im Rahmen des Internalisierungsansatzes von Demsetz (1967) in logischer Verbindung zur Theorie der externen Effekte diskutiert.44 Im Rahmen der Property Rights-Theorie sind theoretische Konzepte entwickelt worden, die auf die Konzipierung problemadäquater Property Rights-Verteilungen zur Lösung sozialtechnologischer Probleme (externer Effekte) abstellen (Sideras 1997a).45 Ordnungswahl bzw. konstitutionelle Wahl wird hier als ein Maßnahmenschritt zur Behebung sozialtechnologischer Probleme betrachtet. Im folgenden, insbesondere in Kapitel V, soll verdeutlicht werden, welche Rolle der Autor der ordnungspolitischen Regelwahl in der Abfolge von Internalisierungsschritten zuordnet. Zunächst jedoch sollen einige grundlegende Zusammenhänge aus der Theorie externer Effekte und der Property Rights-Theorie erläutert werden. Die Definition von Eigentums- oder Verfügungsrechten (property rights) wird hier weit gefaßt. Unter Verfügungsrechten werden „rights of individuals to the use of resources (i.e. property rights)" (Alchian 1965, 817)46 verstanden, die zum Zwecke der Internalisierung externer Effekte spezifiziert und personell zugeordnet werden. Der Ressourcenbegriff wird über private, materielle Gutseinheiten hinaus auch auf öffentliche und immaterielle Güter ausgeweitet. Handlungs- und Verfügungsrechte beziehen sich gemäß dieser Definition auch auf die Gestaltung und Nutzung der Rechtsordnung. Die Entstehimg von Eigentumsrechten wird unter anderem mit der zunehmenden Verknappung von Ressourcen und Leistungen, mit veränderten Präferenzen, mit unzureichend spezifizierten bislang geltenden Verfügungsrechten oder durch das Aufkommen neuer Technologien erklärt. Eigentumsrechte dienen der Berei43 Die Theorie externer Effekte stellt die Nutzenfunktion von Individuen in den Mittelpunkt der Analyse. Siehe hierzu Buchanan und Stubblebine (1962). Dadurch eröffnet sie den Weg zur Berücksichtigung des internen Bewertungskriteriums, das auf die Präferenzen abstellt. Zur Entstehung von Property Rights und zu Transaktionskosten siehe Demsetz (1967). Schäller unterscheidet drei Ansätze der Erklärung der Entstehung von Eigentum: Den vertragstheoretischen Ansatz von Buchanan, den Intemalisierungsansatz von Demsetz und das evolutionstheoretische Konzept von Hayek. Siehe Buchanan (1984), Demsetz (1967), Hayek (1971) sowie Schüller (1988, 157ff.). 44 Siehe auch Schüller (1988, 159ff.). 45 Der dort erarbeitete Ansatz baut letztlich auf Coase (1960) auf, der auch die logische Grundlage für Wegehenkel (1991) bietet. 46 Alchian (1965, 816) sieht Eigentum neben Knappheit, Wettbewerb und Diskriminierung (Ausschluß) als Beschränkung (constraint) des Aktionsradius von Individuen an. Demsetz (1967, 348 und 347) erläutert: ,Λ primary function of property rights is that of guiding incentives to achieve a greater internalization of externalities". Und: „Property Rights develop to internalize when the gains of internalization become larger than the cost of internalization".

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nigung von Nutzungskonflikten.47 Property Rights können von einzelnen ebenso wie von Gruppen gehalten werden und ermöglichen erst Tauschprozesse auf der subkonstitutionellen und der konstitutionellen Ebene. Dabei werden die Rechtskomponenten zu Objekten des Tausches. In der Verteilung von Eigentums- oder Verfügungsrechten liegt für Wirtschaftssysteme der Schlüssel zur Determinierung der Art und Weise der Erstellung von Wirtschaftsplänen.48 Schüller (1988, 155) meint, der Kern der Ordnungsökonomik bestehe in der Erkenntnis, „daß Wirtschaftsordnungen entscheidend durch die zugrundeliegenden Wirtschaftspläne, deren Ausgestaltung und Verknüpfung zu Planungsordnungen charakterisiert sind". Wirtschaftspläne beziehen sich auf die Nutzung oder den Tausch von Gütern und Leistungen, an die Property Rights geknüpft sind. Verfügungsrechte werden, je nach der Art der Transaktion, auf der subkonstitutionellen oder auf der konstitutionellen Ebene getauscht. Koordinierungsprozesse laufen auf Märkten durch direkten, einfachen Tausch und in der Politik durch komplexen Tausch in Form wechselseitig bindender Vereinbarungen ab.49 Wird der politische Abstimmungsprozeß als kollektiver Tauschprozeß gesehen, so ist die Spezifizierung und personelle Zuordnung von Property Rights hierfür unerläßlich. Es bedarf einer rechtlichen Grundausstattung (Primärverteilung) mit Handlungsrechten, um das Buchanansche Tauschparadigma über den Anwendungsbereich des Markttausches und des freiwilligen Vertrages hinaus auf die vielfältigen Bereiche der öffentlichen Güter anzuwenden, in die auch die Wahl von Ordnungspolitiken im Sinne der Freiburger Schule und der Constitutional Economics fallt. Um die Analogie zum Tauschparadigma für alle Entscheidungsebenen des Tausches auch in institutioneller Hinsicht zu verdeutlichen: Ebenso wie freiwillige Tauschakte auf Märkten erst dann möglich sind, wenn wohldefinierte Handlungs- und Verfügungsrechte (spezifiziertes, exklusives Eigentum) existieren, sind reagible ordnungspolitische Maßnahmen unter konstitutioneller Äquivalenz erst dann möglich, wenn auch hier die zugrundeliegenden Externalitäten durch die Institutionalisierung wohldefinierter Handlungs- und Verfügungsrechte internalisiert sind und betroffene Bürger problemadäquat mit dem gruppenexklusiven Recht ausgestattet werden, ihr konstitutionelles Interesse im Zuge der Ordnungswahl umzusetzen. Am Beispiel einer kleinräumigen Umweltexternalität soll in Kapitel V der Zusammenhang zwischen Externalitäten, der Property RightsStruktur und der Ordnungswahl verdeutlicht werden.

47 „Der Eigentumsrechtsbegründung geht ... eine Abfolge von Nutzungskonflikten voraus. Die damit verbundenen Kosten sind für die Beteiligten so hoch, daß es sich lohnt, nach Mitteln der Konfliktvermeidung oder -minderung zu suchen. Die Einigung auf Eigentumsrechte als .Mittel zur Beilegung von Nutzungskonflikten' (Watrin 1986, 171) ist deswegen vorteilhaft, weil sie jene Anreize schaffen, die für eine wohlstandsmaximierende Nutzung der Ressourcen erforderlich sind" Schüller (1988, 161). 48 Zur zentralen und dezentralen Verknüpfung von Wirtschaftsplänen siehe Schäller (1988, 155). 49 Siehe hierzu die Ausführungen in Abschnitt 1 von Kapitel III dieses Beitrages.

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V.

Konzeptionelle Anwendung: Kleinräumige Umweltexternalitäten, konstitutionelle Äquivalenz und Ordnungswahl

Die Ordnungswahl bzw. konstitutionelle Wahl wird als ein Maßnahmenschritt zur Behebung sozialtechnologischer Probleme (technologischer Externalitäten) angesehen.50 Zur Illustration wird folgendes Szenario entworfen: An einem Badesee zeigen sich erste signifikante Verschmutzungserscheinungen. Es stellt sich heraus, daß die Verunreinigungen durch Emissionen benachbarter Industriebetriebe verursacht werden. Andere Emissionsquellen scheiden aus, so daß etwa Summations· oder Distanzschäden ausgeschlossen werden können. Die Badegäste sind Bürger aus Gemeinden, die um den Badesee herum angesiedelt sind, in denen auch die Industriebetriebe produzieren. Der See wird bis zum Auftreten der Extemalität zu Badezwecken und zur (bislang nicht erheblichen) Schadstoffaufiiahme durch Emissionen genutzt. Der zugrundeliegende negative technologische externe Effekt ist auf konfligierende Aktivitäten der Nutzung des Sees zurückzuführen, die auf die Entstehung einer Neuverknappung hinweisen. Die Nutzung des Sees zu Badezwecken verträgt sich nicht mehr mit der Nutzung des Sees als Aufnahmemedium für Schadstoffe. Es besteht die Notwendigkeit der Spezifizierung und (personellen) Zuordnung von Verfiigungsrechten zur Zuordnung von Regelsetzungskompetenzen auf der institutionellen Meta-Ebene zum Zwecke der Internalisierung des externen Effekts und zur Klärung der Spielräume der Nutzung des Sees für die Konfliktparteien. Zur Internalisierung des externen Effekts kann auf mindestens zwei Möglichkeiten der Institutionalisierung relevanter Property Rights zurückgegriffen werden. Die erste Möglichkeit besteht in der (impliziten) Vergabe der relevanten Rechte an den Zentralstaat, der die auf diese Weise bei ihm gebündelten Problemlösungskompetenzen in Form von umweltordnungspolitischen Maßnahmen umsetzen kann. Der hier aufgebauten Argumentation zufolge erfolgt der erste Schritt der Internalisierung des externen Effekts bereits durch die zentralisierende Zuweisung der Problemlösungszuständigkeit an den Staat. Erfolgt diese Art von Kompetenzzuweisung systematisch, so entwickelt sich für alle sozialtechnologischen Probleme eine einzige zentrale institutionelle Meta-Ebene, auf der sämtliche Problemlösungskompetenzen gebündelt und dem (Zentral-)Staat zugeordnet werden. Eine solche Kompetenzzuweisung führt zu einem Auseinanderfallen der Struktur der Institutionen und der Geographie der sozialtechnologischen Probleme51 und damit zu einer Abweichung von der Charakteristik der konstitutionellen Äquivalenz. Die auf der konstitutionellen Ebene umgesetzten umweltpolitischen Maßnahmen, z.B. die gesetzliche Verankerung einer Haftungsregel, einer Haftpflichtversicherung oder die Erhebung einer Öko-Steuer, stellen in einer solchen politisch-rechtlichen Landschaft in der Regel die Ergebnisse des Lobbyismus-Wettbewerbs dar. Die schädliche Rent-Seeking-Kultur demokratischer Grundordnungen nährt sich in einem erheblichen Maße aus institutionellen Strukturen, die aus der Intemalisierungs-

50 Zum Sachverhalt der Umsetzung der Internalisierung komplexer externer Effekte etwa durch den Einsatz wiitschafts- oder umweltpolitischer Instrumente siehe Sideras (1997a, 98ff.). 51 Die Metapher von der „Geographie der Probleme" verwendet Frey (1997).

122 ' Jörn Sidéras strategie der pauschalen Zuweisung von Problemlösungskompetenzen auf der institutionellen Meta-Ebene an den Zentralstaat resultieren.52 Diese Form der Zentralisierung von Problemlösungszuständigkeiten bedeutet eine Abkoppelung der zu Problemlösungszwecken implementierten Institutionen von den zu lösenden sozialtechnologischen Problemen. Die große Gruppe der Gesamtheit aller Wahlbürger bestimmt nun über die Gestaltung von Regeln zur Lösung von Problemen kleinerer gesellschaftlicher Gruppen. Durch die Internalisierungsstrategie der Zentralisierung von ordnungspolitischen Kompetenzen entsteht die konstitutionelle Inkongruenz, die durch das Konzept der konstitutionellen Äquivalenz beseitigt werden soll. Eine zweite Möglichkeit der Institutionalisierung relevanter Problemlösungskompetenzen (Property Rights) besteht darin, Schädigern und Geschädigten gemeinsam die relevanten Property Rights zuzuordnen. Dies kann dadurch geschehen, daß die relevante Regelsetzungszuständigkeit der Gesamtheit von Schädigern und Geschädigten zugewiesen wird.53 Wird im beschriebenen Beispiel die Internalisierung dadurch herbeigeführt, daß den betroffenen Personengruppen (Schädigern und Geschädigten) auf der institutionellen Meta-Ebene das Recht zugesprochen wird, das Ausmaß der Verschmutzung des Sees zu kontrollieren, so können diese durch politische Abstimmungsprozesse den Regelrahmen für die Nutzung des Sees zu Badezwecken sowie als Aufiiahmemedium für Schadstoffe gestalten. Dann sind die institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß es zu den komplexen Tauschprozessen auf der Regelebene kommt, die Buchanan (1989, 14) und Vanberg (1999, 16) im Auge haben. Die betroffenen Personengruppen können die ihnen auf der institutionellen Meta-Ebene verliehenen konstitutionellen Kompetenzen zur Durchführung einer ordnungspolitischen Rahmensetzung nutzen.54 Somit wird konstitutionelle Äquivalenz durch die weitgehende Koppelung der „Geographie der Institutionen" an die „Geographie der Probleme" erzeugt. Die Umsetzung der konstitutionellen oder, in dem zugrundeliegenden Szenario, der umweltordnungspolitischen Kompetenzen kann dann durch die Implementierung von umweltpolitischen Maßnahmen auf der konstitutionellen Ebene erfolgen. Auf dieser können ex post oder ex ante wirkende umweltpolitische Instrumente zum Einsatz gebracht werden.55 Zur Auswahl steht neben dem Haftungsprinzip mit seiner ex post wirkenden Restitutions- und der ex ante wirkenden Präventivfunktion eine ganze Reihe weiterer Instrumente. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß durch sie noch vor dem

52 Siehe zum Rent-Seeking-Phänomen als Umverteilungskampf sowie zu externalitätenbezogenem RentSeeking Sideras (1997a, 86ff. und 90ff.). 53 Eine dritte und vierte Möglichkeit der Institutionalisierung relevanter Property Rights wird in diesem Szenario nicht weiter betrachtet. Nach Coase (1960) kann die Spezifizierung durch die Zuweisung des expliziten Rechts zur Verschmutzung des Sees an die Schädiger (die Industriebetriebe) oder aber durch Zuweisung eines Abwehrrechts an die Geschädigten (die Badegäste) erfolgen. Zu einer Zuordnungslösung des dritten Typs siehe Sideras (1997a und 1997b). In beiden Fällen ist eine effiziente Reallokation der jeweiligen rechtlichen Primärverteilung durch freiwilligen Tausch der Property Rights zu erwarten, wenn Transaktionskosten nicht prohibitiv sind, keine asymmetrischen Informationen und Verhandlungspositionen bestehen und das Preissystem funktioniert (Coase 1960, 2f.). 54 Zur „Umweltpolitik als Ordnungspolitik" des Zentralstaates siehe Gawel (1994,63 f.). 55 Zu der Unterscheidung ex post und ex ante wirkender Instrumente siehe Sideras (1997a, 104f. und 11 Of.).

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Zeitpunkt der Schädigung Verhandlungen über die Konditionen eines möglichen Tausches schadensrelevanter Property Rights erzwungen werden. Dadurch wird eine Tendenz hin zu apriorischer Rechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen. Zu ex ante-Instrumenten sind beispielsweise Ge- und Verbote, Abwehrrechte, Abgaben, Zertifikate oder gemischte Lenkungsstrategien (Sideras 1997a, 11 Of.) zu zählen. Der durch die Intemalisierung entstandenen Entscheidungsplattform, im Beispielsfall bestehend aus den in die Externalität verwickelten und auf der konstitutionellen Ebene tätig werdenden Personengruppen, steht also ein Menu an umweltpolitischen Maßnahmen zur Verfugimg, aus denen der Ordnungsrahmen für das soziale „Spiel" um die Nutzung des Sees zusammengestellt werden kann. Dem Zentralstaat wird gezielt die Problemlösungskompetenz vorenthalten, die auf eine andere, in diesem Fall neue und hierarchisch niedriger angesiedelte Aggregationsstufe des gesellschaftlichen Mehrebenensystems verlagert wird. Das Prinzip der konstitutionellen Äquivalenz läßt sich auch auf größer dimensionierte sozialtechnologische Probleme übertragen. Dadurch erlangen die hier diskutierten Zusammenhänge, wie oben bereits erwähnt wurde, auch für die internationale Wirtschaftsordnung Relevanz, werden jedoch in diesem Beitrag nicht weiter berücksichtigt. Für so neu entstehende (umwelt-)ordnungspolitische Entscheidungsträger gilt das Paradigma vom „ordnungspolitischen Akteur als Wettbewerber". Sie müssen sich in Innovations- und Imitationsprozessen in einer Welt jurisdiktioneller Überlappungen und politischen Wettbewerbs bewähren, indem sie fortwährend parallele institutionelle (ordnungspolitische) Experimente56 durchführen. Eine Wettbewerbsordnimg für einen solchen politischen Wettbewerb ist eine Notwendigkeit, die in der einschlägigen Literatur häufig gefordert wird.57 Für die Schaffung einer solchen Ordnung des politischen Wettbewerbs gilt das von Kerber und Vanberg formulierte Argument, daß der für die Schaffung einer solchen Ordnung verantwortliche Akteur, im Falle des zugrundegelegten Beispiels der Nationalstaat, unter das Paradigma vom „Staat als Monopolisten" fällt, soweit dieser nicht wiederum als Wettbewerber in einer übergeordneten Wettbewerbsarena agiert.

VI. Schlußbetrachtungen Das vorliegende Papier versteht sich als ein Beitrag zur Ausweitung des Geltungsbereiches des ORDO, der der Schaffung und Erhaltung wettbewerblicher Ordnungen verpflichtet ist, vom Markt auf die Politik. Es geht im Kern um die positive Frage, wie der politische Prozeß strukturiert werden kann, um dem Prinzip der „individuellen Souveränität" auf den jeweils relevanten Regelentscheidungsebenen Geltung zu verschaffen. Hierzu wird der Begriff der konstitutionellen Äquivalenz entwickelt, der einen Zustand umfaßt, in dem dieselben Individuen, die Entscheidungen unter Regeln treffen, auch die Entscheidungen über die sie betreffenden Regeln vornehmen. Das in diesem Beitrag 56 Zu parallelen und konsekutiven gesellschaftspolitischen Experimenten Vanberg (1994, 30). 57 Zu Fragen der Wettbewerbsordnung fur den Bereich der Politik siehe Siebert und Koop (1990), Vanberg und Kerber (1994), Streit (1996), Frey (1997, 83f.).

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dargelegte Hauptargument stellt darauf ab, daß der Schlüssel zur Umsetzung des Prinzips der konstitutionellen Äquivalenz und zur Überwindung zentralstaatlicher, monopolistischer Ordnungspolitik in der Struktur der Eigentums- und Verfugungsrechte sowie der Regelsetzungskompetenzen einer Gesellschaft zu finden ist. Dabei wird ein weit gefaßter Property Rights-Begriff verwendet, der auch Regelsetzungszuständigkeiten umfaßt. Der impliziten zentralisierenden Internalisierung externer Effeke, die das Paradigma vom „Staat als Monopolisten" begründet, wird eine Form der dezentralisierenden Internalisierung gegenübergestellt, die eine Koppelung der „Geographie der Institutionen" an die „Geographie der Probleme" bewirkt und auf die neuentstehenden Entscheidungsträger das Paradigma von „ordnungspolitischen Akteuren als Wettbewerbern" zutreffen läßt. Um die Analogie zum Tauschparadigma für alle Entscheidungsebenen des Tausches auch in institutioneller Hinsicht zu verdeutlichen: Ebenso wie freiwillige Tauschakte auf Märkten erst dann möglich sind, wenn wohldefinierte Handlungs- und Verfugungsrechte (spezifiziertes, exklusives Eigentum) existieren, sind reagible ordnungsökonomische Maßnahmen unter konstitutioneller Äquivalenz erst dann möglich, wenn auch hier die zugrundeliegenden Externalitäten durch die Institutionalisierung wohldefinierter Handlungs- und Verfügungsrechte intemalisiert sind und betroffene Bürger problemadäquat mit dem gruppenexklusiven Recht ausgestattet werden, ihr konstitutionelles Interesse im Zuge der Ordnungswahl umzusetzen. Hierfür ist eine Vier-Ebenen-Struktur Voraussetzung, bestehend aus 1. einem allgemeinen Initiativrecht für Bürger auf der nationalen Verfassungsebene zur Geltendmachung konstitutioneller Kompetenzen, 2. der institutionellen Meta-Ebene, auf der Bürgern, die von bestimmten sozialtechnologischen Problemen betroffen sind, Problemlösungskompetenzen gruppenexklusiv zugeordnet werden, 3. der konstitutionellen Ebene, auf der die dazu befähigten Bürger die in Frage stehenden „Spielregeln" setzen oder verbessern können und somit den Ordnungsrahmen ihres Gesellschaftssystems mitgestalten, und 4. der subkonstitutionellen Ebene, auf der die beteiligten Akteure unter den konstitutionellen Regeln ihre Spielzüge vornehmen. Die hierdurch ermöglichte schrittweise Verlagerung von ordnungspolitischen Problemlösungskompetenzen von zentralstaatlichen auf dezentrale oder supranationale Organe, gegebenenfalls auch die Entstehung neuer territorialer und funktionaler Jurisdiktionen, fuhrt zu einer Stärkung des Jurisdiktionenwettbewerbs, der wiederum eine Wettbewerbsordnung benötigt, die auf einer höheren Aggregationsstufe des Mehrebenensystems geschaffen und durchgesetzt werden muß. Zu der hierfür zuständigen Entscheidungsebene kann wiederum, je nach dem institutionellen Umfeld, das Paradigma vom „Staat als Monopolisten" oder als „Wettbewerber" zutreffen.

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Konstitutionelle Äquivalenz · 1 2 9

Summary Constitutional Equivalence and Economic Order This paper attempts to broaden the conventional ambit of the ordo-liberal approach to comprise, in excess of the market sphere, also the political realm. How can the political process be structured so as to live up to the tenets of individuals' sovereignty? This contribution suggests that constitutional equivalence holds if the same individuals that act at subnational level are also empowered to shape the rules relevant to them. The pattern and allocation of competences for framing social rules is vital for the realization of constitutional equivalence. The paradigm of the „state as monopolist" is confronted with a form of decentralized problem solving that links the „geography of institutions" with the „geography of problems" and that puts the new decision makers in a position of institutional competitors. The exchange paradigm can be applied to all levels and modes of exchange: voluntary exchange on markets is only feasible if well defined property rights exist. By the same token, responsive policies, understood as complex forms of exchange, are only viable if the externalities are tackled by implementing well defined property rights and if the affected citizens receive group-exclusive, problem-adequate rights to convert their constitutional interests into institutions. An abstract four-layerstructure is proposed: 1. a general right of initiative for citizens on the national constitutional level, 2. an institutional meta-level where citizens' specific rule-framing competencies are certified, 3. a constitutional level where empowered citizens shape the institutional framework of their society, 4. the sub-constitutional level where the playmakers choose their strategies for playing the game, within the limits set by the rules.

ORDO : Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Stefan Okruch

Der Richter als Institution einer spontanen Ordnung Einige kritische Bemerkungen zu einer Zentralfigur in Hayeks Theorie der kulturellen Evolution

I. Orientierung Ein wesentlicher Bestandteil seiner Theorie der kulturellen Evolution ist Hayeks Verständnis von der Funktion der richterlichen Rechtsfortbildung. Die Sichtweise des Richters als einer „Institution einer spontanen Ordnung" (Hayek 1980, 133) ist allerdings nur verständlich vor dem Hintergrund des theoretischen Gesamtzusammenhangs eben jener „spontanen Ordnung" und muß zudem im Kontext rechtstheoretischer und -philosophischer Traditionen gesehen werden. Wie weit seine Erklärungen der rechtlichen Evolution reichen, ist dann eine empirische und theoretische Frage, wobei einerseits der empirische Test sich möglichst nah an Hayeks Aussagen halten und andererseits eine kritische Würdigung die von ihm selbst gesetzten methodologischen Standards berücksichtigen muß. In einem ersten Schritt sollen deshalb grundlegende methodologische Vorstellungen Hayeks erörtert sowie die Theorie der kulturellen Evolution dargestellt werden, wobei die Rolle des Richters für die Regelevolution besonders hervorgehoben wird. Dabei sollen die Aussagen zur richterlichen Rechtsfortbildung bereits im Hinblick auf die anschließende Konfrontation mit der Spruchpraxis zu den Generalklauseln des deutschen Wettbewerbsrechts spezifiziert werden. Die theoretische Analyse beginnt mit einem kurzen Abriß der herkömmlichen Argumente gegen Hayeks Theorie insgesamt, bevor anschließend die Aussagen zur rechtlichen Evolution und die Bedeutung des Richterrechts kritisch beleuchtet und in rechtsphilosophische und -theoretische Traditionen eingeordnet werden.

II. Grundlegendes zur Methodologie Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen ist der Objektbereich der Ökonomie, wobei sich Hayek gegen eine „materialistische" wie gegen eine „formalistische" Abgrenzung wendet: Als „Katallaktiker"1 betont er, daß es müßig sei, von der Annahme vollständiger Kenntnis ausgehend, die daraus resultierenden Gleichgewichte logisch abzuleiten. Zentrale Fragestellung der Ökonomie sei vielmehr, „wie es zustande gebracht 1

Vgl. zu dieser Klassifikation des Objektbereichs Albert ( 1978, 52).

1 3 2 · Stefan Okruch

werden kann, daß so viel wie möglich von den verfügbaren Kenntnissen genutzt wird" {Hayek 1976a, 126). Konkret bedeutet dies, nach den „institutionellen Vorkehrungen" zu suchen, die notwendig sind, „damit die unbekannten Personen, deren Wissen sich für eine bestimmte Aufgabe besonders eignet, am sichersten zu jener Aufgabe hingeführt werden".2 Mit dieser marktsoziologischen Interpretation der Ökonomie wird also die Fragmentarität und Fehlbarkeit menschlichen Wissens thematisiert, womit das Problem der sozialen Steuerung überhaupt erst sinnvoll behandelt und eine institutionalistische Perspektive eingenommen werden kann, die das normative Vakuum einer Entscheidungslogik vermeidet. Mit einem solchen „theoretischen Institutionalismus" ist der Objektbereich der Ökonomie freilich denkbar weit bestimmt. In letzter Konsequenz muß sie als anthropologische Wissenschaft gelten und wird „unmittelbar ein Teil der Menschenkunde" (Hayek 1982, 203). Das Forschungsziel der Ökonomie als erfahrungswissenschaftlicher Sozialwissenschaft ist die theoretische Erklärung realer Sachverhalte bzw. die Prognose zukünftiger Sachverhalte auf der Grundlage „umfassender Gesetze"3, was sie insoweit nicht von den Naturwissenschaften unterscheidet. Die spezifische Qualität - und Schwierigkeit! - sozialwissenschaftlicher Theorien konstituieren sich, folgt man der Argumentation Hayeks, vielmehr über die in die Erklärung eingehenden Daten {Hayek 1979c, 87ff.). Die Tatsachen der Sozialwissenschaft sind nicht „objektiv", vielmehr nur als je individuelle, subjektive Interpretation gegeben {Hayek 1976b, 80ff.). Die Handlungen und Interaktionen sind, anders ausgedrückt, nicht (gleichsam naturgesetzlich) determiniert und kontextunabhängig.4 Soziale Prozesse sind nur als „Beziehungssysteme von Tätigkeiten" {Hayek 1979c, 27) zu verstehen, deren Struktur notwendig komplex ist.5 Damit steht die Nationalökonomie - wie alle Sozialwissenschaften - vor der „großen Antinomie"6, entweder eine nur historisch-relative Gültigkeit ihrer Gesetze zu postulieren oder aber, in völliger Abstraktion von der Wirklichkeit, den logisch-analytischen Charakter ihrer Aussagen zu betonen. Im Ergebnis müssen die Anforderungen an eine zulängliche sozialwissenschaftliche Theorie offensichtlich relativiert werden. Eine „umfassende" Erklärung dürfte an der begrenzten Rationalität des Menschen und der unauflöslichen Fragmentarität seines Wissens scheitern. Die Prognose menschlicher Handlungen wird dadurch weiter erschwert, daß die Situationsverarbeitung und die subjektive Umweltwahrnehmung keineswegs statisch sind und sich wohl auch einer biographischen oder introspektiven Rekonstruktion versperren. Das kreative Potential des handelnden Subjekts, also die spontane und autonome Konstitution kognitiver Elemente und Relationen bei der Wahrnehmung {Hesse 1992, 116), macht eine ahistorische Theo2

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Hayek (1976a, 126). Vgl. auch Hayek (1976c, 75): „Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewußt vollbracht werden sollten, auf Seiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann?". Zu den „covering laws" vgl. Hempel (1977, 17), der den Begriff von Dray (1966) entlehnt, ihn aber im Gegensatz zu letzterem nicht nur für deduktive Erklärungen verwendet. Vgl. zum Zusammenhang zwischen theoretischer und historischer Methode Hayek (1979c, 88ff). „Strukturen inhärenter Komplexität" (Hayek 1975, 14; Hervorhebung im Original). Vgl. auch Hayek (1972). Eucken (1989, 15). Vgl. auch schon die Bemerkungen bei Menger (1883/1969, 5ff.).

Der Richter als Institution einer spontanen Ordnung · 1 3 3

rie unmöglich. Die Abfolge diskreter Handlungen im Ablauf der (historischen) Zeit bedingt möglicherweise Irreversibilitäten, die der Einzelfallprognose von Handlungen und ihrer Ergebnisse im Wege stehen. In der Konsequenz muß eine evolutorische Theorie angestrebt werden, und im Kontext ihrer notwendigerweise geschichtlichen Dimension7 steht Hayeks Gedanke der „Muster-Voraussage" {Hayek 1972, 7ff.). Mit der Erkennung eines Musters sei eine prinzipielle Erklärung komplexer Explananda möglich, und Muster-Voraussagen stellten falsifizierbare Aussagen dar.8 Falsifikation bedeutet in diesem Zusammenhang keine „mechanische Prüfung" {Hayek 1978a, 18), und eine Muster-Voraussage kann analog keine quantitative Genauigkeit beanspruchen {Hayek 1972, 27f.). Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings nur die Anwendbarkeit eines bestimmten Musters als falsifizierbar, das Muster „an sich" wird von einer verallgemeinerten historischen Erklärungsthese gebildet.9 Eine Erklärung des Prinzips ist mithin eine „conjectural history" {Hayek 1978b, 75), die die Subsumption bestimmter Ereignisklassen unter Muster versucht, die ihrerseits aus einfachen Gesetzen und typischen Randbedingungen deduziert und insoweit „trivial" sind {Hayek 1978a, 6f.). Die Anwendung eines Musters auf bestimmte Situationen ist, insbesondere bei der Formulierung entsprechender Muster-Voraussagen, empirisch prüfbar, wogegen für das Muster selbst eine nur logische Wahrheit beansprucht werden kann. Eine empirische Prüfung eines Musters der kulturellen Evolution muß also die Anwendungsbedingungen ausreichend genau spezifizieren. Das Muster „an sich" ist gleichwohl einer theoretischen Analyse seiner logischen Geschlossenheit zugänglich.

III. Zur Theorie der kulturellen Evolution Hayeks Ansatz läßt sich mit seinen eigenen Worten als eine „Zwillingsidee der Evolution und der spontanen Ordnung" charakterisieren: Ausgangspunkt ist die Frage nach denjenigen Normen, auf die eine spontane Ordnung aufbaut. Die Spontaneität der Ordnung und ihre evolutorische Offenheit werden in einem zweiten Schritt auf die Genese der Normen übertragen, die selbst als Ergebnis eines Evolutionsprozesses erscheinen.

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Hesse (1992, 138): ,,...[I]n einem Prozeß, in dem jede Gegenwart auch über kreative Akte aus der jeweiligen Vergangenheit hervorgeht, legen die allgemeinen Regeln und die .ersten' Randbedingungen nur sehr wenig von dem fest, was im Laufe der Zeit geschehen kann. (...) Im evolutorischen Ansatz kann man - schlagwortartig formuliert - kaum Theorie ohne Geschichte betreiben". 8 Vgl. zur „Erklärung des Prinzips" Hayek (1978a, 1 Iff.) sowie Hayek (1972, 18). Zur Falsifizierbarkeit vgl. Hayek ( 1972, lOf., 16). 9 Vgl. Hayek (1978a, 7): „... the problem will not be whether the model as such is true, but whether it is applicable (or true of) the phenomena it is meant to explain. (...) If... we can speak of hypotheses which require to be tested, they must be sought in the assertion that this or that pattern fits an observable situation, and not in the conditional statements of which the explanatory pattern itself consists and which is assumed to be true" (eigene Hervorhebung).

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1. Ordnung und Verhaltensregeln Jenseits der Anarchie konstituiert sich nach Hayek eine „Gesellschaft, wenn ihre Handlungen wechselseitig aufeinander abgestimmt sind", „ihre Beziehungen... eine gewisse Ordnung (zeigen)" (Hayek 1969a, 32). Damit ist das klassische Ordnungsproblem aufgeworfen, also die Frage nach den Möglichkeiten, die Kontingenz durch eine Abstimmung der Handlungen zu entschärfen. Für Hayek gelingt dies durch die Bildung verläßlicher Erwartungen bezüglich der Handlungsbeiträge der Mitmenschen. Ordnung sei demgemäß ein Beziehungsgeflecht, das die Bildung ausreichend sicherer Erwartungen (Hayek 1980, 57) und möglichst erfolgreicher Zukunftsprognosen (Hayek 1969g, 208) erlaubt. Diese zentrale soziale Ordnungsleistung gelänge durch Regeln oder Verhaltensregeln, wobei allerdings nicht schon jede „Regelmäßigkeit im Verhalten" eine Gesamtordnung garantiere (Hayek 1980, 66; 1978b, 67). Zur zentralen sozialwissenschaftlichen Fragestellung wird damit der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Regeln und den durch sie konstituierten Ordnungen. Das bedeutet, anders gefragt: „Welche Eigenschaften (müssen) die Regeln besitzen..., damit die getrennten Handlungen der Individuen eine Gesamtordnung herbeifuhren" (Hayek 1980, 68)? Hier ist nun die terminologische Unterscheidung zwischen „Befehl" und „Gesetz" von Bedeutung (Hayek 1969d, 48; 1969g, 211), denn mit diesen Kategorien korrespondieren zwei Arten von Ordnungen. Während Befehle (theseis), als Ausdruck eines einheitlichen Plans, auf die Bildung einer „Organisation" (taxis) zielten, könnten nur die echten Gesetze (Regeln der Gerechtigkeit, nomoi) eine „spontane Ordnung" konstituieren (Hayek 1969a, 33f.; 1969g, 209ff). Durch die Ungebundenheit von einem kollektiven Zweck könne eine spontane Ordnung (kosmos) zugleich wesentlich größere Komplexität bewältigen (Hayek 1969a, 42; 1980, 61). Während also die Steuerung einer spontanen Ordnung durch direkte Anordnungen zum Scheitern verurteilt sei (Hayek 1969b, 85ff.; 1969g, 224; 1980, 75), könnten die Gesetze selbst auf verschiedene Arten entstanden sein. Es müsse, mit anderen Worten, unterschieden werden „zwischen der Spontaneität der Ordnung und dem spontanen Ursprung der Regelmäßigkeiten im Verhalten der sie bestimmenden Elemente" (Hayek 1969g, 209). Hierbei unterscheidet Hayek (1979a) drei Ebenen der Entwicklung: Während auf der Ebene der biologischen Evolution Instinkte genetisch fixiert worden seien, habe sich mit dem Fortschreiten des Zivilisationsprozesses und mit den wissenschaftlich-technischen Fortschritten der Neuzeit eine weitere Ebene der Evolution eröffnet, nämlich die der „konstruktivistischen" Einrichtung von Verhaltensregeln zu einem bestimmten Zweck. Den Schwerpunkt seiner Theorie des normativen Wandels legt er aber auf eine dritte, zwischen Instinkt und Vernunft lokalisierte Ebene der in kulturellen Lernprozessen erworbenen Regeln.10

10 Vgl. eingehend das erste Kapitel „Between Instinct and Reason" in Hayek (1988).

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2. Kulturelle Evolution und Wissen Mit der Unterscheidung zwischen nur säkular veränderlichen Instinkten und .jener dünnen Schicht von Regeln, die bewußt angenommen oder modifiziert wurden, um bestimmten Zwecken zu dienen" (Hayek 1979a, 20) wird die nach Hayek überragende Bedeutung jener Normen markiert. Diese wird begründet, indem an die Vorstellung von der „konstitutionellen Unwissenheit" systematisch angeknüpft wird: Derartige Regeln verkörperten mehr Erfahrung und mehr Wissen, als jemals einem einzelnen Verstand zugänglich sein könnten (Hayek 1969b, 82) und dies - und damit wird die systematische Verbindung zum Evolutionsgedanken hergestellt - , weil sie „den langsamen Test, den die Zeit vornimmt", bestanden hätten." In einem Prozeß von Versuch und Irrtum bildete sich, in der Lesart Hayeks, eine „Weisheit der Kultur" (Hayek 1979a, 10), die jenes Wissen umspannt, welches eine Anpassung des Menschen an seine Umgebung erlaube und das nicht notwendig in vollem Umfang bewußt sein müsse (Hayek 1978b, 66f.; 1980, 139). 3. Normeigenschaften und Prozeß der kulturellen Evolution Zur Rekonstruktion des normativen Wandels in Form einer „conjectural history" wählt Hayek das Beispiel einer primitiven Horde, die weitgehend von den genetisch kodierten Instinkten geleitet wurde (Hayek 1979a, 20f.; Radnitzky 1984, 14). Er nimmt an, daß durch zufallige Normvariationen solche Regeln entstanden12, die eine Abweichung und Unterdrückung von Instinkten bedeuteten, gleichzeitig aber - und das könnte ihre Persistenz erklären - ein friedliches Zusammenleben in größeren Gruppen erlaubten. Diese ersten kulturell erworbenen Regeln bahnten Hayek zufolge den Weg zu einer spontanen Ordnung, die „über die Organisation der Familie, der Horde, der Sippe und des Stammes..." (Hayek 1969c, 111) hinauswuchs, bis schließlich auf der Basis solcher Regeln eine „universelle friedliche Ordnung der Welt" (Hayek 1969c, 116) ermöglicht wurde. Die Jahrtausende währende Entwicklung von der Stammesgesellschaft zur „Großen" oder „Offenen Gesellschaft" basierte demnach auf der besonderen Koordinationsleistung der kulturell erworbenen Regeln, die nicht durch eine irgendwie geartete Abstimmung in Kraft gesetzt wurden (Hayek 1979a, 32f.), sondern sich aufgrund ihres Selektionsvorteils immer weiter verbreiteten. In einem Wettbewerb zwischen den Gruppen und ihren Regelsystemen, so Hayek weiter, setzten sich diese Verhaltensformen durch, weil die sie befolgenden Gruppen besser prosperierten, eine größere Nachkommenschaft hatten, neue Gefolgschaft anzogen oder die inferioren Gruppen vernichteten; schließlich konnte auch die Imitation der Praktiken zur Verbreitung der Regeln beitragen.13

11 So mit Blick auf moralische Regeln Hayek (1969e, 237). Vgl. auch die entsprechenden Ausführungen bei Hume (1886/1964, 235ff.). 12 Zum möglichen Prozeß dieser Normiimovation siehe Hayek (1969c, 116) sowie Radnitzky (1984, 15ff.). 13 Vgl. zu den verschiedenen vorgeschlagenen Mechanismen Hayek (1979a, 20ff.; 1983, 74).

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Die Tatsache des größeren Erfolgs bestimmter Gruppen liegt nach Hayek (1981a, 38) darin begründet, daß ihre Regeln „die Mitglieder der Gesellschaft, in der sie vorherrschen, wirksamer bei der Verfolgung ihrer Ziele" machten. Gerade die unabhängige Verfolgung individueller Ziele erlaube das Wachstum der Gruppe zu einer (im doppelten Wortsinne) „großen Gesellschaft", weshalb die im kulturellen Evolutionsprozeß entstandenen Regeln notwendig die abstrakten, allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit seien, die nur Verbote fur bestimmte Handlungen aussprechen, die folglich von der sozialen Umwelt mit ausreichender Gewißheit nicht mehr erwartet werden müssen (Hayek 1981a, 42f.). Da im Wettbewerb der Gruppen ganze Regelsysteme konkurrierten, könne außerdem erwartet werden, daß sich solche Regelkomplexe durchsetzen, die eine große innere Konsistenz aufweisen (Hayek 1969c, 116; 1978b, 71). Derartige Regeln müßten, daran ist zu erinnern, keinesfalls vollumfänglich „gewußt" werden14, noch werde regelmäßig die individuelle Nützlichkeit (Hayek 1979a, 25; 1980, 34) oder die (unintendierte) ordnungsstiftende Wirkung der Regelbefolgung (Hayek 1969g, 218f.; 1978b, 77) bekannt sein. Die „auf Eigentum aufgebaute Friedensordnung", ja das gesamte Rechtssystem sei in Form von implizitem Wissen als Resultat der kulturellen Evolution entstanden, und erst mit differenzierter Intelligenz und komplexerem Verstand sei es notwendig gewesen, die Normen zu kodifizieren (Hayek 1969a, 38). Für Hayek konnte allerdings „die Entwicklung von Systemen solcher artikulierter Rechtssätze immer nur auf die Verbesserung einer gewissermaßen schon im Gang befindlichen Seinsordnung abzielen" (Hayek 1969f., 180).15 4. Rechtssystem und Rolle des Richters Bei der Behauptung, das gesamte legale System sei evolutionär gewachsen, muß die eigentümliche Rechtssystematik Hayeks beachtet werden, die auch auf die möglichen Gestaltungspotentiale der Gesetzgebung hinweist. Eine genauere Betrachtung erweist nämlich, daß mit den gewachsenen nomoi „in etwa" das Privatrecht (mit dem Strafrecht) gemeint ist, wogegen die theseis pauschal dem Öffentlichen Recht zugeschlagen werden.16 Nur das gleichsam primäre Zivilrecht sei das Produkt einer langen Entwicklung, und erst mit der „rationalistischen Revolution" konnte eine vernunftrechtliche Vorstellung Platz greifen, die Vernunft nicht mehr in erster Linie als Ensemble angemessener Verhaltensregeln, sondern als Wissen um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge begriff (Hayek 1969g, 218). Damit stand aber die weitere Entwicklung der Regeln am Scheideweg: Konnte die Kenntnis kausaler Beziehungen einerseits dazu ge14 Vielmehr ist nach Hayek (1978b, 80; 1979a, 22) eine „Anpassung an die faktische Regelmäßigkeit" (in der Gruppe) wahrscheinlich, die vom „tatsächlichen Glauben" an die Notwendigkeit des Verhaltens oder vom „Gefühl" der Gefahr von Sanktionen gesteuert wird. Auch die Transzendierung zu einem „normativen Glauben" mit der Furcht vor „übernatürlichen Sanktionen" könnte dabei häufig beobachtet werden. 15 Vgl. die analoge Argumentation zum Wechselspiel von gewachsener und gesetzter Ordnung und zum geschichtlichen Wandel ihrer Bedeutung bei Eucken (1989, 51ff). 16 Vgl. Hayek (1969g, 213); das Öffentliche Recht wird dort ausdrücklich als „Verfassungs- und Verwaltungsrecht" expliziert.

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nutzt werden, um die allgemeinen Regeln einer spontanen Ordnung zielgerichtet zu verbessern17, so bestand andererseits die Gefahr, unter Mißachtung der „Weisheit der Kultur" das Recht für einen einheitlichen, vernunftmäßigen Zweck zu instrumentalisieren.18 Diese zunehmende Durchdringung des originären Privatrechts von Befehlen des Öffentlichen Rechts ist nach Hayeks (1969c, 116ff.; 1969f, 187ff.) Meinung historisch nachweisbar und drohe, die spontane Ordnung schleichend in eine starre Organisation zu überfuhren. Die gewandelten rechtsphilosophischen Anschauungen hätten freilich nicht ausgereicht, eine derart bedenkliche Tendenz auszulösen. Als hinreichende Bedingung komme hinzu, daß der Staatsapparat ermächtigt wurde, nicht allein die Organisationsregeln zu erlassen, sondern auch die Regeln der Gerechtigkeit zu verändern {Hayek 1969g, 215). Durch die Formalisierung der Gesetzgebung erscheine irrigerweise jede formal rechtsstaatliche Vorschrift als allgemeine Regel, ohne daß geprüft werde, ob sie einem klassischen Ideal der Gerechtigkeit genügt.19 Die Gefahr, zunehmend zweckgerichtete Organisationsregeln statt Gesetze im eigentlichen Sinne zu verabschieden, werde dadurch wesentlich verschärft, daß bei der vorherrschenden Ausgestaltung der repräsentativ-demokratischen Entscheidungsverfahren dem Einfluß von organisierten Partikularinteressen breiter Raum geboten wird. Dies sei im Hinblick auf die Evolution des Rechts um so bedauerlicher, als daß durch spontanes Wachstum der Regeln durchaus eine „ausweglose Situation" entstehen könne, die korrigierende legislative Eingriffe verlangte CHayek 1980,123). Im Prozeß der allmählichen Genese von gerechten Regeln spielt die Judikative oder, als pars pro toto, der Richter eine entscheidende Rolle. Hayek (1969h, 202) behauptet, der Schutz individueller Freiheit habe sich nur in solchen Rechtssystemen herausbilden können, in denen es vorwiegend Aufgabe der Richter war, „die Prinzipien als allgemeine Regeln zu finden". Für den Richter entwirft Hayek ein originelles Bild, das den Gedanken der „Entdeckung" von Regeln durch die Gerichtsbarkeit illustriert {Hayek 1969c, 113f.). Aufgabe des Richters soll es demnach sein, „ein System von Regeln zu sichern, die bereits befolgt werden" {Hayek 1980, 135). Die Sicherung solcher Regeln durch einen bindenden Spruch sei deshalb nur sekundär und könne die Rationalität der Regelentstehung nicht erhellen. Konsequenz dieser Anschauung ist dann, schon den Rechtsstreit nicht als Abweichung von Regeln, die ein Verhalten vorschreiben, zu konzipieren, sondern vielmehr als Enttäuschung von solchen Erwartungen, die die Parteien

17 Vgl. Hayek (1969h, 202): „Eine Gesetzgebung, die daraufgerichtet ist, allgemeine Verhaltensregeln zu ändern, ist ein vergleichsweise neues Phänomen in der Geschichte, und es ist mit recht gesagt worden, daß sie 'vielleicht die folgenschwerste (Erfindung) gewesen (ist), die je gemacht wurde...',,, (Einfügungen im Original). Hayek zitiert an dieser Stelle Rehfeldt (1951, 68), der von einer ähnlich evolutorischen Rechtsentwicklung ausgeht, in deren Verlauf die „Sittenrechtsbildung" durch „Rechtsprechung" und schließlich durch die „Gesetzgebung" abgelöst wurde. Im Hinblick auf die „Erfindung" der Gesetzgebung fuhrt Rehfeldt weiter aus, daß auch sie „im Grunde doch auch wiederum nur eine Entdeckung" gewesen sei. Vgl. zur Möglichkeit, die Voraussetzungen für eine spontane Ordnung bewußt zu schaffen Hayek (1969a, 35); zu den Chancen der Verbesserung (!) der Eigentumsordnung äußert sich Hayek (1988, 35f. und 69). 18 Vgl. im Hinblick auf den Zweckgedanken R. v. Jherings Hayek ( 1969f, 184, Anm. 33). 19 Vgl. Hayek (1969g, 227) oder den Verweis auf den formellen vs. materiellen Rechtsstaat bei Hayek (1969c, 113 f.).

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in einer spontanen Ordnung billigerweise bilden konnten. Diese Erwartungen könnten „vernünftigerweise" deshalb gebildet werden, „weil sie den Praktiken entsprachen, auf denen das alltägliche Verhalten der Mitglieder beruhte" (Hayek 1980, 136). Trotz der wünschenswerten Gewißheit von Regeln könne der Gerichtsentscheid allerdings nicht alle Erwartungen vor Enttäuschungen schützen, und es mache die bedeutende dynamische Funktion des Richters aus, die geschützten privaten Bereiche jeweils so neu abzustecken, daß die spontane Ordnung, also die Bildung ausreichend sicherer Erwartungen, gesichert ist {Hayek 1980, 148). Nach Hayek (1980, 146 f., 157 ff.) könnte eine Kodifikation von Regeln in einem „Normkatalog" weniger der erforderlichen Gewißheit dienen, als vielmehr den schöpferischen Akt der Regelfortbildung beeinträchtigen. Im Ergebnis postuliert Hayek (1980, 165) „... Eigenschaften,...die das Recht, wie es sich aus dem Prozeß der Rechtsprechung ergibt, mit Notwendigkeit besitzt: es besteht aus Regeln, die das Verhalten der Personen zueinander regulieren; die auf eine unbekannte Anzahl künftiger Fälle anwendbar sind; und die Verbote enthalten, die die Grenze des geschützten Bereichs jeder Person (oder organisierten Gruppe von Personen) festlegen". Zur empirischen Prüfling seiner Theorie der rechtlichen Evolution eignen sich nach dem Gesagten nur Regeln des Privat- oder Strafrechts, die durch Richterspruch entwikkelt wurden. Werden die Regeln für eine Katallaxie in den Blick genommen, so gewinnen die Regeln des „Eigentums-, Schadensersatz- und Vertragsrechts" (Hayek 1981a, 151) besondere Bedeutung. Die Aufgabe des Richters ist nach Hayek „tatsächlich eine, die nur innerhalb einer spontanen und abstrakten Ordnung der Handlungen von der Art Bedeutung hat, wie sie der Markt herbeiführt" (Hayek 1980, 164).

IV. Zur kritischen Würdigung des Konzepts Hayeks 1. Zur Selektion der Regeln Wenn Hayek als Selektionskriterium im Prozeß der kulturellen Evolution den „Erfolg" oder die „fitness" der Gruppe heranzieht, bleibt fraglich, wie der Prozeß der Gruppenselektion konkret abläuft (Sugden 1993, 397). Es ist schlechterdings unmöglich, alle Vorgänge der Imitation oder Migration, des Wachstums der Bevölkerung oder des Wohlstands sowie der Eroberung oder Vernichtung anderer Gruppen auf eine gemeinsame Basis zu stellen (Steele 1987, 173ff.). Gegen Hayeks Theorie der Gruppenselektion erhebt sich folglich eine Anzahl von Einwendungen. Zuerst ist daran zu denken, den empirischen Gehalt der vorgestellten Mechanismen kritisch zu würdigen. So können der Auswahl „besserer" Regeln über Wanderungen sicherlich vielfaltige Migrationsbarrieren entgegenstehen (Vanberg 1984a, 102). Auch die Populationsgröße kann sicherlich nicht so mühelos zur Operationalisierung der „Vorteilhaftigkeit von Regeln" herangezogen werden {Gray 1985, 137f.; Bouillon 1991, 42ff.). Bei der Imitation schließlich bleibt zu fragen, ob damit individuelle Nachahmung von Praktiken oder aber Übertragung von Regeln durch und auf Gruppen gemeint ist

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( Vanberg 1994, 103). Bei ersterer muß offen bleiben, ob sich jede Art von Regel für individuelles Experimentieren eignet und ob daraus letztlich für die Gruppe erfolgversprechende Regeln entstehen (Vanberg 1994, 33ff.); bei letzterer müßte ein kollektiver Beschluß gefaßt werden, wogegen von Hayek (1983, 135) selbst Bedenken angemeldet werden. Mit der offenbar verwischten Grenze zwischen individueller und kollektiver Ebene ist der zentrale theoretische Einwand verbunden, daß Hayeks Theorie der kulturellen Evolution in Teilbereichen nicht den von ihm selbst gesetzten methodischen Standards genügt. Seine Argumentation der Gruppenselektion ist unverkennbar funktionalistisch.20 Aus der „Notwendigkeit" überlebenssichemder Regeln wird ohne weiteres deren tatsächliche Entstehung im Evolutionsprozeß gefolgert. Auch wenn er versucht, diese unvollständige Erklärung individualistisch aufzufüllen, versäumt er es, den Rückkopplungsmechanismus zwischen individuellen Anreizen und kollektiv vorteilhaften Regeln zu spezifizieren und somit mögliche Grenzen dieses Erklärungsansatzes zu prüfen.21 Die Identität von individuellen Anreizen und Gruppenvorteilen ist nämlich - wie die spieltheoretische Illustration von normgenerierenden Situationen leicht zeigt - keineswegs immer gesichert ( Vanberg 1986, 85ff.). Gefangenendilemmata bei der Regelbefolgung, in denen das konstitutionelle Interesse mit dem individuellen Handlungsinteresse konfligiert, lassen sich nicht einfach wegdefinieren. In Situationen vom Typ des Gefangenendilemma wird es aber wesentlich unwahrscheinlicher, daß eine kollektiv nützliche Regelentwicklung durch individuelle Normabweichungen stattfindet. In anonymen Großgruppen (und ohne unablässige Wiederholung des PD-Spiels) müßte Hayek plausibel machen, wie das erforderliche Maß an Zwang zustandekommt (Vanberg 1984a, 99f.). Solche überwachungsbedürftigen Normen erscheinen auch theoretisch als ungeeignet für eine „allmähliche und versuchsweise Änderung" (Hayek 1983, 79) durch einzelne Norminnovatoren (Vanberg 1994, 35ff.). Wenn sie - wie Hayek (1983, 79) eingesteht - wohl nur „diskontinuierlich und für alle gleichzeitig geändert werden können", so ist damit die Schwierigkeit der geeigneten Organisation kollektiven Handelns angesprochen, bei der zwar Hayek durchaus originelle Vorschläge zu machen versteht22, damit aber gleichzeitig die Reichweite seiner Theorie kultureller Evolution begrenzen muß. 2. Zur Bedingtheit einer vorteilhaften kulturellen Evolution Mit dem Eingeständnis möglicher Sackgassen der Evolution kann Hayek dem pauschalen Vorwurf des Evolutionsoptimismus23 die Spitze nehmen, doch ist dieser Hin20 Vgl. Gray (1985, 55); Sugden (1993, 399ff.) oder Vanberg (1986, 81ff.). Gegen letzteren Vorwurf wird Hayek mit dem Argument verteidigt, die Inkohärenz sei durch eine Abwendung vom methodologischen Individualismus und eine stärkere Betonung „evolutorischer" Argumente, die die GruppenSelektion einschlössen, verursacht (Hodgson 1991, 76ff.). 21 Vgl. Vanberg (1984a, 95ff.; 1984b, 115ff.). Zur Unzulänglichkeit fiinktionalistischer Erklärungen und zu den Möglichkeiten ihrer Vervollständigung vgl. Okruch (1999, 68ff.). 22 Vgl. fur den Vorschlag eines Zweikammersystems Hayek (1981b, 147ff.) 23 Diesen Vorwurf richten gegen Hayek schon Vanberg (1981, 24ff.) oder Gordon (1981, 476ÍT.).

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weis solange eine Immunisierungsstrategie ( Voigt 1991, 102), wie es bei den singulären Aussagen vom Typ „Es kann geben" bleibt, ohne daß operationale Kriterien für das mögliche Evolutionsversagen angegeben werden.24 Die tiefere Ursache fur derartige Brüche scheint die kurzschlüssige Unbedingtheit zu sein, mit der Hayek (zunehmend) die Evolutionsidee versteht und anwendet. Ebensowenig wie die positiven Wirkungen der Katallaxie unabhängig von den sie begrenzenden Regeln sind25, sowenig kann die kulturelle Evolution unabhängig von einer bestimmten Umwelt vorteilhafte Ergebnisse zeitigen ( Vanberg 1994, 37f.). Damit wird die Problematik der möglicherweise unerläßlichen, konstruktivistischen Regelsetzung um eine Ebene verschoben - eine Tatsache, die Hayek (1983, 79) zwar bisweilen vorsichtig andeutet, aber nicht weiter konkretisiert. Insgesamt ist die Theorie kultureller Evolution sowohl von der Geltung der Normen (selbstüberwachend oder überwachungsbedürftig) wie von der Selektionsumwelt her zu pauschal. In Hayeks Diktion scheinen das Muster „an sich" nur auf bestimmte Sachverhalte anwendbar und die Muster-Voraussagen an (nicht explizierte) Bedingungen geknüpft zu sein. Der Richter, dessen Bedeutung für die kulturelle Evolution abschließend gewürdigt werden soll, kann geradezu exemplarisch die Schwächen dieses Ansatzes aufzeigen, bleibt doch unklar, wie die Entstehung dieses bedeutenden Bestandteils der Ordnung in Hayeks, Theorie verständlich gemacht werden kann. Möglicherweise kann durch den Richterspruch zwar das konstitutionelle Interesse zweier im Gefangenendilemma verstrickten Parteien verwirklicht werden. Durch den Verweis auf die Existenz von Gerichten werden aber einerseits Aussagen zu spezifischen Rahmenbedingungen der kulturellen Evolution gemacht, also die nutzenstiftende kulturelle Evolution unter bestimmte Vorbehalte gestellt. Andererseits müßten die Anreize, dem Richterspruch Folge zu leisten, spezifiziert werden, um die Stabilität der kollektiv nützlichen Lösung beurteilen zu können. 3. Zur Bedeutung des Richters für die rechtliche Evolution a. Empirische Fragen Die Einwände gegen Hayeks optimistische Sichtweise des Richters sind wiederum empirischer und theoretischer Natur. Empirisch fragwürdig ist Hayeks Postulat eines kategorialen Unterschieds zwischen Herrscher und Richter, wobei jener einen Zweck verwirkliche, wogegen dieser nur konkret aufgetretene Konflikte schlichte. Die Trennung von Herrscher und Richter ist nun allerdings keineswegs so ursprünglich, wie Hayek behauptet, sondern vielmehr eine historisch relativ junge Erscheinung.26 Außerdem kann relativ leicht der empirische Nachweis gelingen, daß es Rechtsgebiete gibt, bei denen der Einfluß richterlicher Rechtsfortbildung keineswegs zur Formulierung freiheitssi24 Dieser Einwand bleibt wesentlich, auch wenn der Evolutionismus-Vorwurf in verschiedener Hinsicht abgemildert werden kann, vgl. beispielsweise Leschke (1993, 51) oder Pies (1993, 41). 25 Vgl. zum inneren Zusammenhang zwischen beiden Ebenen der Ordnung und zur gemeinsamen kommunikativen Funktion von Preisen und Regeln Boettke (1991, 62f.). 26 Vgl. die Kritik an Hayek bei Mettenheim (1984, 71, Anm. 5).

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chernder Regeln gefuhrt, sondern im Gegenteil den (wirtschaftlichen und rechtlichen) Handlungsspielraum der Akteure enorm eingeschränkt hat. Die Möglichkeit einer Überprüfung anhand des UWG Beispielhaft soll hier das deutsche Wettbewerbsrecht zur Prüfimg herangezogen werden. Es handelt sich dabei ganz überwiegend um für die Katallaxie relevantes Privatrecht, bei dem nach Hayek dem Richter eine exponierte Position zukommen soll. Nun ist das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) als kodifiziertes Gesetzeswerk nicht in erster Linie das Produkt eines „shaping of the rule", doch eignet es sich m. E. deshalb besonders gut, weil es der richterlichen Regelfortbildung durch seine beiden Generalklauseln breiten Raum bietet.27 Als Nullpunkt der Rechtsfortbildung erscheinen diese Regeln akzeptabel. Die These lautet also, daß die Generalklauseln des UWG ebensogut aus einem Prozeß des trial and error hervorgegangen sein könnten und deshalb die „Erbsünde" der Kodifikation weniger schwer auf ihnen lastet. Wenn die §§ 1 und 3 UWG in die Gebote „Du sollst nicht sittenwidrig handeln!" und „Du sollst keine irreführenden Angaben machen!" übersetzt werden, so sind dies unzweideutig negativ formulierte Normen.28 Trotz der beispielhaften (nicht enumerativen) Aufzählung in § 3, worauf sich die Irreführung beziehen kann, sind die Regeln auf eine unbekannte Anzahl zukünftiger Fälle anwendbar, also abstrakt. Die Allgemeinheit der Regeln könnte allenfalls durch die Anknüpfung an den „geschäftlichen Verkehr" und den Hinweis, die fragliche Handlung müsse „zu Zwecken des Wettbewerbs" vorgenommen werden, durchbrochen werden. Diese Tatbestandsmerkmale liegen aber offensichtlich auf einer anderen Ebene als die von Hayek angesprochene, unzulässige Diskriminierung „aufgrund von sozialer Herkunft, Nationalität, Rasse, Religion, Geschlecht usw." (Hayek 1979b, 34). In der gewählten Umformulierung des § 1 UWG steht das Gebot außerdem in Zusammenhang mit vielfaltigen Täuschungsverboten des Bürgerlichen Rechts. Dies relativiert die getroffenen Einschränkungen der Allgemeinheit und verweist auf die innere Konsistenz des zivil- und wettbewerbsrechtlichen Regelsystems. Bezüglich der Gewißheit dürfen selbstverständlich keine zu hohen Maßstäbe angelegt werden. Wenn man etwa Hayeks Forderung nach der Voraussagbarkeit der Gerichtsentscheide {Hayek 1983, 271) als utopisch ablehnt, so bleibt es immerhin das Ziel der Generalklauseln, eine ausreichend sichere Verhaltenskoordination zu bewerkstelligen. Anders ausgedrückt: Es geht nicht um die Gewißheit von Gerichtsentscheiden, sondern um die Gewißheit der Verhaltenserwartungen, die die „guten Sitten" bilden. Mit diesem Rückbezug auf die guten Sitten erscheinen die Generalklauseln als ein Beispiel für die legislative „Verbesserung einer... schon in Gang befindlichen Seinsordnung", die die vorrechtlichen, häufig auch unbewußten Verhaltensregeln nicht im Inter-

27 Vgl. auch grundlegend Esser (1990, 150): Ein „Einbruch nicht axiomatisch eingebauter materieller Rechtsprinzipien in das Kodifikationssystem erfolgt in den sog. Generalklauseln. Was hier in Wirklichkeit geschieht, ist die Überlassung der Normgestaltung an den Richter...". 28 Vgl. zum Problem, inwieweit § 1 UWG die von Hayek aufgestellten Anforderungen an eine „Regel der Gerechtigkeit" erfüllt, Daumann und Hösch (1998).

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esse eines konkreten Zwecks beschneidet, sondern weiterhin die Bildung von Erwartungen ermöglicht, die „vernünftigerweise" den Praktiken des „alltäglichen Verhaltens" entsprechen. Auf der Grundlage der Generalklauseln besteht somit die Möglichkeit einer Weiterentwicklung, bei der auch der deutsche Richter neue Regeln „entdeckt". Die Rechtsprechung, so viel steht fest, hat von dieser Möglichkeit regen Gebrauch gemacht. Ergebnisse der richterlichen Rechtsfortbildung im Wettbewerbsrecht Die Entwicklung auf diesem Gebiet stimmt allerdings wenig hoffnungsvoll, daß mit der Betonung des Richterrechts der archimedische Punkt zur Wahrung einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gefunden wäre. Die auf der Grundlage der §§ 1 und 3 UWG „entdeckten" Rechtsfiguren und Regeln lesen sich wie ein Panoptikum von Freiheitsbeschränkungen und Regulierungen auf fragwürdiger Grundlage.29 An erster Stelle ist hier natürlich das ausschließlich auf der Grundlage der §§ 1 und 3 UWG von der Rechtsprechung „entdeckte" Verbot der (sachlich zutreffenden!) vergleichenden Werbung zu nennen. Ausgangspunkt der reichsgerichtlichen Rechtsprechung war die Überzeugung, daß bezugnehmende Werbung den Verbraucher verwirre und außerdem die Leistung (genauer gesagt wohl eher: die Leistungsunfähigkeit) derjenigen Konkurrenten „ausbeute", auf die Bezug genommen wird (Emmerich 1993, 861 ff.). Die vermeintliche „Ausbeutung fremder Leistung" wurde in der Folgezeit zum Leitmotiv einer Spruchpraxis, die es immer aufs Neue verstand, innovative Formen des Wettbewerbs zu unterbinden. Auf dieser Grundlage wurden die „Verwässerung" besonders berühmter Zeichen alteingesessener Anbieter als sittenwidrig qualifiziert, ein überaus weitgehender Schutz des „guten Rufs" etablierter Unternehmen gewährleistet und schließlich sogar die vorsichtige, möglicherweise auch nur ironische Anlehnung an bekannte Werbeslogans als Verstoß gegen die guten Sitten geahndet. In diesen Bereich fallt schließlich noch die „sklavische Nachahmung", bei der in der Rechtsprechung neue, teilweise überaus großzügige Ausschließlichkeitsrechte zuerkannt wurden, die im Ergebnis wohl kaum der Spontaneität einer Marktordnung zuträglich sein dürften (Emmerich 1993, 863 f.). Besonders skurrile Begründungen sind schließlich im Bereich der „Marktstörungen" anzutreffen, worunter die Jurisdiktion etwa das kostenlose Verteilen von Originalware oder die Gratisverteilung von Presseerzeugnissen (Stichwort: Anzeigenblätter) faßt (Emmerich 1993, 866 ff.). Deren Verbot basiert einerseits auf der Überlegung, daß bei der verbreiteten Nachahmung der Praktiken („Übersteigerungsgefahr") eine „Marktverstopfung" drohe und derartige Praktiken nicht „wettbewerbseigen" seien (Sosnitza 1995). In diesem Zusammenhang wurde der Kaufmann von der Rechtsprechung auch schon dahingehend zurechtgewiesen, daß das Verschenken von Waren den Grundsätzen vernünftiger Betriebsführung widerspreche. Andererseits sehen sich die Gerichte aber auch dazu berufen, die Marktgegenseite vor derartigen Praktiken zu schützen: Immerhin drohe bei Verbreitung und längerer Dauer solcher Werbepraktiken ein Gewöhnungsef29 Vgl. zusammenfassend und für das folgende Hefermehl und Baumbach (2001), Emmerich (1998).

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fekt! Selbstverständlich sind aber auch jene beiden topoi einschlägig, mit denen derartige „Schmutzkonkurrenz" zu Lasten der Verbraucher immer wieder festgestellt und untersagt wurde: „übertriebenes Anlocken" und „psychologischer Kaufzwang" (Emmerich 1993, 865f.; Sosnitza 1995). Mit diesen Argumenten wurde beispielsweise das Verbot von branchenfremden sogenannten Vorspannangeboten begründet, mit dem letztlich eine richterliche Einflußnahme auf das Warensortiment einhergeht. Des weiteren wurden die sogenannten „aleatorischen Anreize", wie sie von Gewinnspielen, Preisausschreiben oder Gratisverlosungen ausgehen, unter diesem Blickwinkel überaus kritisch beurteilt und der Verbraucher schließlich auch vor „Gefühls- und Vertrauensausnutzung" durch die Werbung geschützt. Bei der Irreführung im engeren Sinne führte die Kompetenz des Richters, die Verkehrsauffassung aufgrund eigener Sachkunde und Lebenserfahrung festzustellen, zu einer überaus großzügigen Bejahung der Täuschung. Bei den eher ausnahmsweise durchgeführten Erhebungen und Umfragen wurde der erforderliche Anteil getäuschter Verbraucher in der Rechtsprechung so niedrig angesetzt (10-15%), daß die vernünftigerweise gebildeten Erwartungen der Mehrheit fur die rechtliche Beurteilung keine Bedeutung zu haben scheinen.30 Bei der Konkretisierung der guten Sitten gehen die Gerichte notwendigerweise vom wirtschaftlichen status quo aus und können naturgemäß nicht alle Erwartungen der Parteien erfüllen. Auffällig ist jedoch zumindest in diesem Rechtsgebiet, daß der status quo ante völlig konserviert werden soll, also die Haltung und die Marktstellung etablierter Wettbewerber (und ihrer Interessenvertretungen!) durchweg höher geschätzt werden als die legitimen, zukunftsgerichteten Erwartungen der Newcomer {Emmerich 1988, 625 ff.). Neben den erwähnten Beispielen läßt sich diese Tendenz auch beim Versuch der Zementierung der Verhältnisse im Stufenwettbewerb nachweisen. Auffällig ist schließlich, daß selbst innerhalb der gebildeten Fallgruppen von der Rechtsprechung keine solchen Regeln entwickelt werden konnten, die auf eine unbekannte Anzahl von Fällen mit ausreichender Gewißheit angewendet werden könnten. Die erratischen Schwankungen sind (rechts-)wissenschafilich schon kaum mehr faßbar. b. Theoretische Fragen Zur Problematik „falsifizierter" Erklärungen im Prinzip Diese Hinweise dürften genügen, um klar zu machen, daß das Muster der vorteilhaften Fortbildung des Rechts durch die Gerichte kaum in der von Hayek präsentierten Absolutheit angewendet werden kann. Weniger klar ist, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind: Mit der Erklärung im Prinzip gelingt es Hayek zwar, das „Mechanische" des Falsifikationismus zu vermeiden, was allerdings auf der anderen Seite bedeutet, daß nach dem Scheitern einer Muster-Voraussage Ratlosigkeit über weitere Erklärungsver30 Vgl. Emmerich (1993, 870): „Leitbild dieser Rechtsprechung ist im Grunde der an der Grenze zur Debilität verharrende, unmündige, einer umfassenden Betreuung bedürftige, hilflose Verbraucher, der auch noch gegen die kleinste Gefahr einer Irreführung durch die Werbung geschützt werden muß". Vgl. eingehend auch Sosnitza (1995, 181 ff.).

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suche herrschen muß. Aus der Tatsache, daß die Erklärung im Prinzip fur eine bestimmte Situation unpassend ist, folgt nämlich weder, daß das Muster falsch ist oder nicht existiert, noch, daß Muster und bestimmte Ereignisklassen nicht gesetzesartig verbunden sind. Der Sozialwissenschaftler kann sich dann entweder mit dem Gedanken beunruhigen, daß er nicht jene speziellen Gaben zur geradezu künstlerischen Muster-Erkennung habe31, oder er mag sich damit trösten, daß bei näherem Blick auf Hayeks Methodik doch eine Verifikation der Muster-Aussage anzustreben sei32, die durch eine einzelne Falsifikation der Muster-Hypothese nicht erschüttert würde. Zur Beurteilung des Musters selbst, soll im folgenden seine Herkunft beleuchtet werden. Hayek bewegt sich nämlich mit seiner Sichtweise des rechtlichen Wandels in einer juristischen Tradition der „legal evolution" und schließt mit seiner Präferenz für das Richterrecht an eine rechtstheoretische Diskussion an, die die Bedeutung des Richters in unterschiedlichen Rechtskreisen thematisierte. Ansätze zu einer Theorie der rechtlichen Evolution Die Idee der legal evolution, die genau genommen eine evolutionistische Theorie des Rechts darstellt, war ein das 19. Jahrhundert beherrschender Gedanke33, der zu dem Zeitpunkt besondere Bedeutung erhielt, als bei den vermeintlich „Wilden" ein Reichtum und eine Vielgestaltigkeit von Ordnungen eigener Art entdeckt wurden (Oeser 1990, 112). Der Grundgedanke des juristischen Evolutionismus besteht in einer kühnen Analogie zwischen Organismen und Rechtsordnungen, wobei behauptet wird, „wilde" und „barbarische" Gesellschaften seien in der natürlichen Entwicklungstendenz nur behindert worden, was in der Konsequenz eine komparative Methode ermöglicht, die Rückschlüsse auf die Entwicklung des „zivilisierten Rechts" aus den Normen der unterentwickelten Gesellschaften erlaubt.34 Diese vergleichende Methodik hat insbesondere Morgan vorangetrieben.35 Einen fast identischen Ansatzpunkt wählte Ende des vorigen Jahrhunderts die rechtsethnologische Jurisprudenz (Oeser 1990, 123). Gemeinsames Problem einer derart gefaßten Rechtsvergleichung sind freilich das vorschnelle Ausblenden kultureller Differenzen im Bemühen, zum allen Rechtsordnungen gemeinsamen Kern vorzudringen, sowie der Optimismus einer unaufhaltsamen Höherentwicklung des Rechts. Mit dem Verlust dieser Sicherheit schwand auch der Einfluß evolutionistischer Lehren (Oeser 1990,123f.). Ein besonderer Stellenwert kommt in der theoriegeschichtlichen Entwicklung Rudolf von Jhering zu, der sich von der positivistischen Begriffsjurisprudenz abwendet, um 31 Vgl. Hayek (1978a, 18): „The selection and application of the appropriate theoretical scheme thus becomes something of an art..." (eigene Hervorhebung). 32 Vgl. in seltener Deutlichkeit Hayek (1976b, 98f.). 33 Vgl. einführend Stein (1980) sowie Wesel {1984, 523ff.). 34 So namentlich bei Maine (1920). Vgl. zu den Vorläufern Stein (1980, 69ff.) sowie Oeser (1990, 112ff). 35 Vgl. Morgan (1907), dessen Werk nicht zuletzt Marx und Engels inspiriert hat (Stein 1980, l l l f . ; Oeser 1990, 113). Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit der komparativen Methode Wesel (1984, 526ff.).

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schließlich die Rechtsfortbildung als Auseinandersetzung widerstreitender Interessen und Zwecke {Jhering 1904/1970), eben als evolutionären „Kampf ums Recht" (Jhering 1874/1963) zu konzeptualisieren {Schelsky 1972). Seine Arbeiten fuhren damit einerseits zur Interessenjurisprudenz (Oeser 1990, 198ff.), andererseits aber auch zu einer Erforschung von Evolutionsprinzipen des Rechts ohne die evolutionistische Fortschrittsgläubigkeit (Gschnitzer 1946; Zemen 1983). Jhering entwirft einerseits ein differenziertes Richterbild, wobei er andererseits die Rolle des Gerichtsentscheids dadurch ganz wesentlich relativiert, daß er die Rechtsfortbildung in ihrer ganzen Komplexität darzustellen versucht. Dabei sind positive Satzung durch die Legislative und „richterliche Rechtsfortbildung" nicht die einzigen, sich gegenseitig ausschließenden Möglichkeiten eines (den sozialen Wandel abbildenden) rechtlichen Wandels.36 Ganz im Sinne einer evolutorischen Theorie, die ohne konkrete Geschichte nicht auskommen kann, fordert Jhering, jede Theorie des rechtlichen Wandels müsse die faktische Rechtswirklichkeit als Ausgangspunkt benutzen. Nur auf der empirischen Grundlage des jeweils bestehenden und geltenden Rechts, seiner Ordnung und Institutionen könne eine Erklärung des Wandels gelingen. Ihren Anfang nehmen Prozesse des Wandels beim Rechtsbewußtsein und bei den Rechtsideen, die aber nur durch sozialen Druck geeigneter Interessenkonstellationen zur Realisierung des neuen Rechts fuhren. Die so verstandenen Veränderungen streben nach Jhering keinem vorgezeichneten Ziel zu, sondern konstituieren einen offenen Prozeß der „Kritik des Rechts durch sich selber".37 Bei seiner Erschließung des Rechtsbewußtseins fuhrt Jhering eine anthropologische Konstante ein: „die Kraft und den Zwang zur .Verallgemeinerung', zur ,Ideirung'... der bloß erfahrenen konkreten Tatbestände" (Schelsky 1972, 60). Diese Fähigkeit manifestiert sich freilich nicht nur in der richterlichen Praxis. Hier wartet Jhering mit einer reichhaltigen Phänomenologie der Rechtsfortbildung auf und thematisiert auch bei der richterlichen Fortbildung die dahinter stehenden Ursachen. Mit Blick auf die Fortbildung erkennt er ein „Hineinwachsen standardisierter Vereinbarungen in das dispositive Recht" (Schmidt 1993, 95), was unter anderem Blickwinkel der Auflösung der strikten Trennung zwischen Gesetz und Rechtsgeschäft entspricht. Von der einzelvertraglichen Vereinbarung kann der Weg einer solchen Verallgemeinerung und normativen Verfestigung etwa über Handelsbräuche, eine Formularpflicht, Standarddokumente oder Standardvertragsbedingungen verlaufen. Gegen das verwandte Phänomen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen wurde bekanntlich mit dem Schlagwort „selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft" polemisiert. Diese Erscheinung ist allerdings nur so lange bedenklich, wie ein Normierungsmonopol des Staates fingiert wird (Meyer-Cording 1971, 45ff., 85). Zutreffend wird aber mit der plakativen Formulierung die Tatsache beschrieben, daß es Anstöße aus der sozialen Welt gibt, die nicht in das enge Raster der richterlichen Rechtsfortbildung passen. Jhering nimmt auch die Kreativität der Rechtssubjekte in den Blick und betont die Rechtsfortbildung durch und gegen Umgehungsgeschäfte, deren Anzahl bis in die Gegenwart noch beträchtlich gestiegen sein dürfte. Das Rechtssystem ermöglicht die Integration (aber auch die Selektion) sol36 Vgl. zusammenfassend Schmidt (1993, 94f.). 37 Vgl. zu den einzelnen Stufen des Wandels Schelsky (1972, 59ff.).

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cher Norminnovationen durch Umgehungsgeschäfte entlang der „Schleichwege des Lebens" (Schmidt 1993, 98ff.). Richterliche Rechtsfortbildung im common law und im Kodifikationssystem Die Andersartigkeit des englischen Rechts im Vergleich zu Kontinentaleuropa aber auch zum direkt benachbarten Schottland hat die Forschungen zur Entwicklung des Rechts außerordentlich befördert {Stein 1980, ixf.). So gesehen ist der Evolutionismus nur die Kehrseite der dortigen Naturrechtsrezeption: Allgemeine, verbindende Prinzipien werden einmal als Entwicklungsgesetz, das andere Mal als Vernunftsprinzipien konzipiert (Stein 1980, 3ff.). Die Frage nach der Rechtsentwicklung nimmt aber in diesem Kontext noch eine weitere entscheidende Wendung: Vor dem Hintergrund des common law, das geradezu als Äußerung und Kristallisationspunkt der nationalen Identität betrachtet wurde, wird nach Möglichkeiten der Rechtsfortbildung jenseits der Verabschiedung durch eine legislative Gewalt gesucht (Stein 1980, ix, 69ff.). An die Figur des Richters wird dann folgerichtig jene Radikalisierung angeschlossen, die im einen Fall Recht nur als Richterspruch akzeptieren will38, wogegen die positivistische Gegenpartei der bewußten Gestaltung der rechtlichen Imperative39 das Wort redet und, mittels der ihrer Meinung nach logisch-deduktiven Vorgehensweise des Richters, ihn zu einem Subsumtionsautomaten degradiert.40 Dieser scharfe Kontrast verschwimmt freilich bei genauerer Betrachtung der tatsächlichen richterlichen Rechtspraxis, und ebenso muß der vorgeblich kategoriale Unterschied zwischen dem kontinentaleuropäischem Recht und dem , judge-made law" relativiert werden. Lehrwerke zur juristischen Methodenlehre für den kontinentaleuropäischen Rechtskreis stellen üblicherweise einführend die Subsumption als Ideal der Rechtsanwendung vor, um nur mit leisem Bedauern auf die Unbestimmtheit der Gesetzessprache, die Notwendigkeit und die Methoden der Auslegung sowie die möglichen Lücken im Gesetz hinzuweisen. Gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung wird als ultima ratio für Zeiten extremer Rechtsunsicherheit vorbehalten. Im krassen Gegensatz zu diesem methodischen Ideal, in dem bezeichnenderweise typische Arbeitsmittel wie Kommentare, Fundstellenverzeichnisse und Entscheidungssammlungen nicht vorzukommen scheinen, sind aber für die Arbeit des Juristen nicht nur im angelsächsischen Rechtskreis Präjudizien von entscheidender Bedeutung: „Keineswegs beginnt er ohne Kenntnis der Präjudizien den Gesetzestext grammatisch, logisch etc. zu interpretieren, sondern seine Überlegungen nehmen ihren Ausgang von dem Text in der Auslegung, den ihm die Präjudi38 Diese Argumentationslinie wurde etwa von Bruno Leoni, auf den sich auch Hayek bezieht, weiterverfolgt, in der Freirechtsschule auf die Spitze getrieben und reicht bis zum Postulat der Effizienz des common law bei Posner, Priest und Rubin. Vgl. Okruch (1999) mit weiteren Nachweisen. 39 Bezeichnenderweise ist auch diese Gegenströmung zuerst in England anzutreffen. Vgl. das klassische Diktum bei Austin (1885/1972, 1): „Laws proper, or properly so called, are commands; laws which are not commands, are laws improper or improperly so called". Vgl. zur Imperativentheorie in der deutschen Strafrechtswissenschaft grundlegend Thon (1878) sowie Binding (1922). 40 Vgl. kritisch z. B. Esser (1990, 18 ff.).

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zien gegeben haben" (Kriele 1976, 244). Der methodische Gegensatz zwischen „induktivem" Vorgehen des Richters beim case law und dem angeblich „deduktiven" Verfahren im System des kodifizierten Rechts ist mithin keineswegs so gravierend, wie immer wieder vermutet wird. Auch detaillierte Kodifikationen können die induktive Rechtsfortbildung nicht aufhalten, und die Differenz zwischen beiden Rechtskreisen reduziert sich unter diesem Aspekt auf die Wirkung des Präjudiz. Diese Differenz ist aber nur noch graduell, denn auch im englischen und amerikanischen Recht sind die Vorentscheidungen nicht strikt verbindlich, auch wenn an das „overruling" der präsumtiv verbindlichen Präjudizien höhere Anforderungen gestellt werden als im kontinentalen System (Esser 1990, 245 ff.). Richterliche Rechtsfortbildung als „Herrschaft der Weisen "? Vor dem geschilderten Hintergrand scheint Hayeks Ansatz im genauen Schnittpunkt zweier Tendenzen zu stehen: Einerseits ist ein nur leidlich abgeschwächter Evolutionismus feststellbar, der - da das Gesetzesideal des 19. Jahrhunderts schon brüchig geworden ist - mit der vermeintlichen Überlegenheit des Richterrechts systematisch verknüpft wird. Doch auch theoretisch ist die Überhöhung der Rechtsprechung zur Quelle und Hüterin von freiheitssichemden Regeln überaus problematisch. Hayek hat sicherlich Recht, wenn er sich gegen die (auch gegenwärtig noch vorherrschende) Rechtsfortbildungsdiskussion wendet, die der richterlichen Rechtsfortbildung nur eine Stellung als notwendiges Übel einräumen will. Gegen diese - beabsichtigt oder unbeabsichtigt - positivistische Position, die Rechtsfortbildung nur als jeweils singuläres Ereignis begreifen will (Schmidt 1993, 83), bezieht Hayek Stellung, indem er den Prozeß der fortlaufenden Rechtsentwicklung durch die Gerichte in den Vordergrund stellt. In seiner Furcht vor der allumfassenden Neukonstruktion einer Ordnung durch einen allzuständigen Staat verdrängt er allerdings voreilig den Gedanken, daß auch im Prozeß der Gesetzgebung Entwicklungschancen liegen können.41 Bei seiner Kritik des Positivismus übernimmt Hayek genau dessen strikte Zweiteilung zwischen (idealiter lückenlosem) positivem Recht und der bloßen richterlichen „Rechtsanwendung", um dann nur die Gewichte völlig entgegengesetzt zu verteilen. Seine Argumentation läuft auf die Rehabilitierung eines Naturrechts hinaus, das - und das ist seine Pointe - nicht mehr (falsch verstandenes) Vernunftrecht ist, sondern der höheren Vernunft der Evolution überantwortet wird. Der kaum mehr personal vorstellbare Richter wird dann an den Platz des Vollstreckers dieser Vernunft gewiesen. Im Grunde wird der Richter als deus ex machina eingeführt, der eine Herrschaft der Weisen garantieren soll, indem er (offenbar schon anthropologisch) all jenen Versuchungen und Irrtümern widersteht, die bei der konstruktivistischen Regelsetzung zu

41 „Der Richter kann weise sein; ich sehe aber keinen prinzipiellen Grund, warum der Gesetzgeber dies nicht auch sein könnte" (Weinberger 1992, 270). Vgl. zur Möglichkeit „konstruktivistischer" Inputs in den evolutorischen Prozeß Vanberg (1994, 39f.).

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befürchten sind.42 Übernimmt man die eigentümliche Explikation des Vemunftbegriffs durch Hayek, so muß aber erstens zugestanden werden, daß auch der Richter bei der Erforschung der „richtigen" Vernunft irren kann. Die Feststellung solcher „angemessenen Verhaltensregeln" etwa bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit ist keineswegs so problemlos, wie Hayek unterstellt. Letzten Endes entscheidet dabei häufig „das Anstandsgefühl älterer Richter in hoher Stellung, die das praktische Geschäftsleben ganz überwiegend nie kennengelernt haben".43 Offensichtlich sind Richter zweitens nicht davor gefeit, die „falsche" Vernunft der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge für die Regelfortbildung heranzuziehen. Diese Zusammenhänge können ihrerseits „falsch" sein, was sich etwa bei der Unterstellung allgemeiner Nachahmung besonders aggressiver Werbung nachweisen läßt: Die Kosten solcher Maßnahmen werden anscheinend kaum berücksichtigt; auch die psychologischen Thesen zum „Zwang" gegenüber Kunden sind eher fragwürdig (Emmerich 1988, 639). Schließlich ist es reine Fiktion, der Richter sei vom Einfluß von organisierten Partikularinteressen frei. Gerade das Wettbewerbsrecht bietet hier reiches Anschauungsmaterial. Einerseits treten ganz überwiegend Verbände oder „Wettbewerbszentralen" als klagende Partei auf, zum anderen versuchen diese Organisationen über „Gelöbnisse" oder „Erklärungen" eine herrschende Verkehrsauffassung zu simulieren, auf die die Rechtsprechung problemlos zurückgreifen kann (Emmerich 1988, 643). Hayek geht mit anderen Worten hinter Jhering zurück und verkennt die Komplexität der Rechtsfortbildung, die - wie Karsten Schmidt (1993, 87) im Hinblick auf letzteren formuliert hat - ein „Entdeckungsverfahren" ist. Hayek verkennt diese Vielschichtigkeit durch die kategoriale Trennung von „echten" Gesetzen und Organisationsregeln, die sich wohl aber kaum nach inhaltlichen Kriterien durchführen läßt (Weinberger 1992, 270). Die Begründung der Regeln durch die tatsächliche Übung und die „legitimen" Erwartungen ist unverkennbar zirkulär. An dieser Stelle wird die Brüchigkeit des Regelbegriffs bei Hayek erkennbar, der einmal Norm als faktische Verhaltensregelmäßigkeit und im Sinne einer Erwartungskonzeption expliziert, um über die normative Kraft des Faktischen schließlich doch die in der Norm ausgedrückte Verhaltensbewertung oder -Vorschrift zu betonen.

V. Ausblick Eine umfassende Theorie der kulturellen Evolution, die die Entwicklung rechtlicher Regeln adäquat abbildet, muß die Anwendungsbedingungen der Muster-Voraussage vorteilhafter richterlicher Rechtsfortbildung spezifizieren. Dies ist angesichts von Beispielen, die Hayeks These stützen können, von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu den geschilderten Absurditäten im Lauterkeitsrecht wird man die Wirkung von Gerichten und der Rechtswissenschaft im zweiten Teil des deutschen Wettbewerbsrecht, also im Bereich des Kartellrechts, sehr positiv bewerten. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in der von Anfang an vorhandenen, interdisziplinär entwickelten Theoriegrundlage 42 Vgl. die grundlegende Kritik bei Popper (1980). 43 So treffend Baumbach (1932, 174), zitiert nach Emmerich (1998,47).

Der Richter als Institution einer spontanen Ordnung · 149 des Kartellrechts liegen. Mit der Ordnungstheorie war offensichtlich ein juristisch verwertbares Wettbewerbskonzept gefunden (Gerber 2001; 1998) - statt der schon vom Reichsgericht entwickelten richterlichen do it yourself-economics für das Lauterkeitsrecht. Folgt man dieser Vermutung, so ergeben sich interessante Forschungsperspektiven für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Rechts- und Wirtschaftswissenschaft.

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Der Richter als Institution einer spontanen Ordnung · 153

Summary The Judge as an Institution of a Spontaneous Order: Some Critical Remarks on a Protagonist in Hayek's Theory of Cultural Evolution The judge plays an important role in Hayek's theory of cultural evolution. He argues that the universal rules of just conduct could only evolve in legal systems in which it was the task of judges to "discover" the appropriate rules. This article scrutinizes Hayek's optimistic view on the judicial "shaping of the rule". It asks, whether the beneficial effects of judge made law are indeed as generally to be expected as Hayek presented it. The analysis follows Hayek's own methodological guidelines, which are depicted at the beginning. The following portrayal of the theory of cultural evolution puts special emphasis on the judge's contribution to legal development. Hayeks theory in general has been criticized along two lines: on the one hand, it was argued that the processes and the criteria of selection remain vague. On the other hand, it was stressed that an evolutionary process can only be expected to lead to beneficial outcomes under certain conditions, which ought to be specified. I argue that also adjudication, seen as a mechanism in legal evolution, is not beneficial as such. As an example I present a part of German Competion Law. This example is chosen, because it is directly related to the spontaneous order of markets and because the statute only gives some guidelines for "fair" competition. Thus, like in common law systems, judge-made law is extremly important. This example can show that, in contrast to Hayek's unconditional statement about judge-made law, adjudication can result in serious distortions of a spontaneous order. From the perspective of legal philosophy I argue, that Hayek rejects legal positivism only with respect to the legislator, in not accepting each formally correct enacted statute as law. Conceptualizing any formally correct judicial decision as a valuable contributions to cultural evolution, however, is only another kind of positivism. Finally, Jhering's early contibution to a theory of legal evolution is presented as a promising approach that could complement Hayek's theory of cultural evolution.

ORDO · Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Gebhard Kirchgässner

Direkte Volksrechte und die Effizienz des demokratischen Staates'

I. Einleitung Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich im Jahr 1999 eine neue Verfassung gegeben, die zum 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist. Faktisch stellt diese Verfassung kaum etwas anderes als eine systematische Zusammenstellung der bisherigen Verfassungsbestimmungen dar, die in den vergangenen 127 Jahren, d.h. seit der letzten Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung im Jahr 1874, in Kraft gesetzt wurden. Man spricht daher auch von einer „Nachfuhrung" der bisherigen Verfassung. Die Art und Weise, wie die alte, jetzt nachgeführte Verfassung zustandegekommen ist, kann man wohl als einen evolutionären Prozeß begreifen. In diesem haben die direkten Volksrechte, Referendum und Initiative, eine zentrale Rolle gespielt. Wenn man diese Verfassung betrachtet und ihren Inhalt mit den Vorstellungen von F.A. v. Hayek über eine „Verfassung der Freiheit" vergleicht, dann wird deutlich, daß es (innerhalb demokratischer Spielregeln) kaum einen größeren Widerspruch geben kann. F.A. v. Hayek fordert die Trennung zwischen einer gesetzgebenden und einer Regierungsversammlung, d.h. er will verhindern, daß eine Mehrheit sich die Gesetze nach ihrem Gusto zuschneiden kann. Sein Verfassungsentwurf sieht daher als gesetzgebende Versammlung ein zwar gewähltes, aber nicht abwählbares Gremium vor: Einmal im Leben, mit 45 Jahren, sollen jede Bürgerin und jeder Bürger die Möglichkeit haben, einen Abgeordneten in diese Versammlung zu wählen. Die (einmalige) Amtszeit dieser Abgeordneten soll 15 Jahre dauern.1 Dies soll die „unbeschränkte Demokratie" verhindern, in der F. A. v. Hayek das große Problem sah. Verglichen mit anderen westlichen demokratischen Staaten hat die Schweiz heute vermutlich die am wenigsten beschränkte Demokratie. Eine einfache Mehrheit der Abstimmenden kann, wenn sie so verteilt ist, daß sie auch das , Ständemehr' erreicht, d.h. wenn auch eine Mehrheit der Kantone zustimmt, die Verfassung nahezu beliebig ändern. Es gibt kein zusätzliches Quorum, welches erfüllt sein müßte, und auch das Parlament kann dies nicht verhindern. Sieht man einmal von der Möglichkeit einer Klage beim Europäischen Gerichtshof fiir Menschenrechte und auch davon ab, daß das Bun*

Überarbeitete schriftliche Fassung eines Vortrags im Rahmen der Hayek-Tage 2001 an der Universität Freiburg im Breisgau am 1. Juni 2001. Für Anregungen danke ich meinem Mitarbeiter Dr. Lars P. Feld. 1 Siehe Hayek (1960; 1968; 1977, 19; 1979, 11 Iff.). Zur allgemeinen Problematik siehe auch Hayek (1973, 169fF.).

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desgericht in bestimmten Fällen von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention angerufen werden kann, dann gibt es auf Bundesebene keine Verfassungsgerichtsbarkeit; es ist nicht möglich, ein Gericht anzurufen, wenn ein legal korrekt erlassenes Gesetz die verfassungsmäßigen Rechte einer Bürgerin oder eines Bürgers bedroht. Während in anderen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland oder den Vereinigten Staaten Verfassungsänderungen schwierig sind und daher eher selten stattfinden, wird die ,gelebte Verfassung' der Schweiz jährlich mehrfach geändert. Wir stehen damit vor einem interessanten Problem. F.A. v. Hayek hat (wie auch andere) auf ein zentrales Problem staatlicher Organisation hingewiesen, auf die Frage, wie die Kompetenzen demokratisch zustande gekommener politischer Organe bzw. auch der Mehrheit der Stimmberechtigten insgesamt beschränkt werden können. Sein Verfassungsvorschlag hierfür mutet nicht nur in einigen Facetten kurios an, er kann auch mit Fug und Recht als .konstruktivistisch' (in dem von ihm selbst verwendeten Sinn dieses Wortes) bezeichnet werden. F.A. v. Hayek setzt sich hier jenem Vorwurf des Konstruktivismus aus, den er gegen andere zu erheben pflegt, die (ebenfalls mit dem Verweis auf ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse) teilweise sehr viel weniger radikale Eingriffe in den Ablauf gesellschaftlicher Prozesse vorschlagen.2 Er hat darüber hinaus wohl nicht nur in der direkten Demokratie der Schweiz nicht die geringste Chance auf Realisierung. Dem steht in der Schweiz eine Verfassung entgegen, die sich evolutorisch entwikkelt hat, bei den Betroffenen akzeptiert ist und fast keine Beschränkungen der Demokratie kennt. Hayek hätte eine solche Verfassung wohl abgelehnt, schließlich zog er, wie er selbst schreibt, „eine beschränkte nicht-demokratische Regierung einer nicht beschränkten demokratischen ... vor" (1977, 9). Für ihn war vor allem wichtig, daß eine Regierung „unter dem Gesetz" steht. Konsequenterweise sieht z.B. auch Borner (1997a), einer der heftigsten akademischen Kritiker der direkten Demokratie der Schweiz, einen der wesentlichen Schwachpunkte der Schweizerischen Bundesverfassung darin, daß in ihr .rule of the people' gegenüber ,rule of the law' Vorrang hat, und er knüpft daran radikale Forderungen zur Einschränkung der direkten Demokratie.3 2

3

F.A. v. Hayek versucht diesem Vorwurf dadurch zu begegnen, daß er „Organisationsregeln der Regierung", als welche er das öffentliche Recht weitgehend versteht, als bewußt konstruiertes Recht darstellt, während „die Regeln des gerechten Verhaltens", das Privatrecht, einem langfristigen Evolutionsprozeß unterlägen (siehe hierzu Hayek 1969; 1973, 169ff.). Abgesehen davon, daß es höchst problematisch ist, das Privatrecht mit Regeln gerechten Verhaltens gleichzusetzen, ist diese Differenzierung kaum haltbar, da sich - historisch betrachtet - sowohl das öffentliche als auch das Privatrecht evolutorisch entwickelt haben, aber auch Phasen bzw. Situationen aufweisen, wo Recht bewußt neu gesetzt (bzw. in der Formulierung von F.A. v. Hayek .konstruiert') wurde. Die Tatsache, daß in fast allen demokratischen Staaten heute explizit erlassene Verfassungen existieren, die typischerweise vertragstheoretisch begründet werden, steht dazu nicht im Widerspruch. - Zur Frage, inwieweit der evolutionäre Ansatz des F.A. v. Hayek mit einem vertragstheoretischen Ansatz vereinbar ist, wie er z.B. von J.M. Buchanan vertreten wird, siehe Vanberg (1983). Borner argumentiert in diesem Zusammenhang freilich wenig konsistent, da er auf der einen Seite eine zu geringe Beschränkung der direkten Demokratie der Schweiz konstatiert, auf der anderen Seite aber die direkte Demokratie vor allem deshalb einschränken will, weil insbesondere das fakultative Referendum (seiner Auffassung nach notwendige) größere Änderungen kaum möglich mache (siehe z.B. Borner 1997b). Es ist erstaunlich, daß trotz der großen Popularität, welche die politischen Schrif-

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Bevor man solche radikalen Forderungen zur Änderung einer .gewachsenen' Verfassung erhebt, sollte man untersuchen, wie sich diese Verfassung in der Realität bewährt hat. Hierzu kann man sagen, daß die Ergebnisse der schweizerischen Verfassungswirklichkeit, die sich seit 1874 und speziell nach dem 2. Weltkrieg ergeben haben, den Vergleich mit anderen Ländern nicht scheuen müssen. Dies deutet darauf hin, daß die direkte Demokratie, selbst wenn sie weniger eingeschränkt ist als ein rein repräsentatives System, gemäß bestimmter (näher zu definierender) Kriterien leistungsfähiger ist als jenes, d.h. daß direkte Volksrechte möglicherweise die .Effizienz' des politischen Systems steigern. Dies kann in zwei Richtungen geschehen. Zum einen spricht einiges dafür, daß die Bürgerinnen und Bürger in einer direkten Demokratie besser informiert sind als in einem rein repräsentativen System, da sowohl das Angebot an Information besser als auch die Nachfrage nach Information größer ist. Dies könnte zu .besseren' politischen Entscheidungen führen. Zweitens könnten die Ergebnisse des politischen Prozesses, insbesondere jene der Wirtschafts- und Finanzpolitik, eher den Interessen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen. Für beide Hypothesen gibt es Argumente. Da es freilich auch Argumente gibt, die in die Gegenrichtung weisen, ist es letztlich eine empirische Frage, welches System gemäß welchen Kriterien ,besser' abschneidet: Um zu einem Urteil zu gelangen, muß man eine Möglichkeit haben, die beiden Systeme bzw. ihre (wirtschafts-)politischen Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Hier bieten sich die Kantone und Gemeinden der Schweiz gleichsam als ein .natürliches Labor' an, da in ihnen die direkten Volksrechte eine große Variation aufweisen. Auf kantonaler Ebene reicht die Vielfalt direkter demokratischer Entscheidungsmechanismen von der Landsgemeinde, wie sie heute noch in den Kantonen Appenzell, Innerrhoden und Glarus einmal im Jahr stattfindet, bis zu stärker parlamentarischen Demokratien in anderen Kantonen.4 Zwar kennen alle Kantone die Initiative auf Teil- und Totalrevision der Verfassung sowie die Gesetzesinitiative. Die Bereiche, die dem obligatorischen oder fakultativen Referendum unterstehen, sind dagegen sehr unterschiedlich. Bei den Gemeinden ist die Vielfalt der Ausgestaltung der direkten Volksrechte eher noch größer als bei den Kantonen. Viele (kleinere) Gemeinden verfügen über eine Gemeindeversammlung, aber nicht über ein Parlament. Andere Gemeinden kennen beides. Da in den großen Gemeinden die Möglichkeit einer sinnvollen Durchführung einer Gemeindeversammlung kaum mehr gegeben ist, muß sich die direkte Demokratie dort - wie auch auf Bundes- und Kantonsebene - der Urnenabstimmung bedienen. Und auch bei den Gemeinden sind die Bereiche, die dem obligatorischen oder fakultativen Referendum unterstehen, sehr unterschiedlich. Diese Variation in den Institutionen macht es möglich, empirische Untersuchungen darüber anzustellen, welchen Einfluß die direkten Volksrechte auf die Ergebnisse der Politik haben. Soweit letztere (einfach) quantitativ meßbar sind, kann dies mit Hilfe empirischer (ökonometrischer) Methoden in systematischer Weise geschehen. Solche

4

ten von F A. v. Hayek in den vergangenen Jahrzehnten gerade auch in der Schweiz errungen haben, fast niemand die Verfassungsrealität der Schweiz mit dessen Ideen konfrontiert. Eine der wenigen Ausnahmen ist Kleinewefers (1999). Zur Ausgestaltung der direkten Volksrechte in den einzelnen Kantonen siehe Trechsel und Serdiilt (1999, 37ff.).

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Untersuchungen wurden für die Schweiz und für die Vereinigten Staaten durchgeführt, wobei insbesondere die Auswirkungen auf die Staatsausgaben und -einnahmen sowie auf die öffentliche Verschuldung untersucht wurden. Die empirische Evidenz für die Schweiz wird unten in Kapitel ΠΙ zusammenfassend vorgestellt. Davor soll im Kapitel Π auf die Rolle der Informationsvermittlung eingegangen werden, auch wenn hierfür keine statistisch-ökonometrischen Untersuchungen vorliegen (und solche auch kaum durchführbar erscheinen). Den Abschluß bilden einige Bemerkungen zu den (philosophisch-theoretischen) Konzeptionen, die hinter den Vorstellungen von F.A. v. Hayek einerseits und der Verfassungswirklichkeit der Schweiz andererseits liegen (Kapitel IV).

II. Informationsvermittlung in der repräsentativen und der direkten Demokratie Es ist eine alte Erkenntnis der Politikwissenschaft, auf die schon Jean-Jacques Rousseau und Thomas Jefferson aufmerksam gemacht haben, daß ein hoher Informationsstand der Bürgerinnen und Bürger eine Voraussetzung für die Funktionsfáhigkeit einer Demokratie ist. Damit sie die .richtigen' Entscheidungen treffen können, d.h. jene Entscheidungen, welche ihren Präferenzen am ehesten entsprechen, müssen sie über die zur Entscheidung stehenden Alternativen gut informiert sein. Hierzu ist nicht nur die Kenntnis ihrer eigenen Präferenzen, sondern vor allem Sachkenntnis' erforderlich. Dies gilt in der repräsentativen Demokratie für die Wahl eines Abgeordneten oder einer Partei genauso wie in der direkten Demokratie für die Annahme oder Ablehnung einer bestimmten Vorlage. Dem steht entgegen, daß die Wählerinnen und Wähler in einer Demokratie kaum Anreize haben, sich zu informieren. Sobald sich bei einer Wahl oder Abstimmung nicht nur ganz wenige Bürger beteiligen, ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine einzelne Stimme den Ausschlag gibt, praktisch Null. Damit aber hat der/die einzelne Stimmbürger(in) in großen Gemeinden, auf Landes- (Kantons-) und erst recht auf Bundesebene mit seiner/ihrer Stimme keinerlei Einfluß auf das Gesamtergebnis. Daher stellt sich zunächst die Frage, weshalb sich ein rationales Individuum überhaupt an einer Wahl oder Abstimmung beteiligen sollte (Kirchgässner 1990; Brennan und Lomasky 1993). Aber selbst wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, sich beteiligt, gibt es für den einzelnen keinen Grund, sich besonders zu informieren. Die Beschaffung und Verarbeitung von Information ist mit Kosten verbunden. Solche Kosten nehmen rationale Individuen nur dann auf sich, wenn sie sich davon einen Nutzen versprechen. Solange das eigene Handeln aber keinen Einfluß auf das Gesamtergebnis hat, ist ein solcher Nutzen nicht erkennbar. Wie bereits Downs (1957, 233ff.) festgestellt hat, ist der rationale Bürger daher ein „rationaler Ignorant". Wir befinden uns damit in einem Dilemma: Demokratie setzt für ihre Funktionsfáhigkeit den informierten Bürger voraus, aber sie vermittelt keine (oder zumindest zu wenige) Anreize dafür, daß sich die Bürgerinnen und Bürger informieren. Soweit eine Lösung überhaupt gefunden werden kann, kann sie nur darin liegen, daß die Informationskosten für die Bürger soweit wie möglich gesenkt werden. Nach Downs (1957,

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93 ff.) ist dies eine wesentliche Funktion, welche Ideologien in der repräsentativen Demokratie haben. Auch mit Hilfe der modernen elektronischen Medien ist es unmöglich, im Rahmen einer Wahlkampagne den Bürgern alle wesentlichen Informationen über die von einer Regierung oder Partei geplanten Vorhaben zu vermitteln. Man versucht daher, die .ideologische' Position einer Partei oder eines Kandidaten den Wählern nahezubringen. Diese sollen wissen,,wofür ein Kandidat oder eine Partei steht', und sie sollen sich darin wiederfinden können, ohne daß sie über alle Einzelheiten der geplanten Politik informiert sein müssen. Selbstverständlich wird auch Sachinformation vermittelt. Schließlich benötigt man zur Vermittlung eines ideologischen Profils zumindest ein Minimum an Sachinformation. Aber auch diese Information wird ihre Abnehmer um so eher erreichen, je Röstengünstiger' sie angeboten wird. Kostengünstig kann Information durch die Medien, insbesondere durch das Fernsehen angeboten werden. Wer am Abend die Nachrichtensendung sieht, nimmt eine Menge politischer Informationen auf, ohne daß ihm dabei irgendwelche Kosten entstehen. Schaffen es ein Politiker oder eine Partei, in diesen Nachrichten positiv erwähnt zu werden, so wird eine für ihn/sie positive Information den Bürgern vermittelt. Kann solche Information überdies im Rahmen einer Veranstaltung angeboten werden, die für sich genommen bereits Unterhaltungswert besitzt, so wird es um so leichter sein, Sachinformationen zu vermitteln. Die Verbreitung von Information ist dabei allerdings nur ein Nebenprodukt. Dies gilt insbesondere für die großen Fernsehdebatten, wie wir sie vor allem vor Wahlen kennen. Zumindest bei den kommerziellen (amerikanischen) Fernsehanstalten ist es dabei oberstes Interesse, hohe Einschaltquoten zu erzielen, um die Werbeeinnahmen zu steigern. Hauptinteresse der Kandidaten ist die Vermittlung ihrer ideologischen Position, um die entsprechenden Wählerschichten an sich zu binden. Das Publikum schließlich erwartet vor allem eine interessante Show, d.h. Unterhaltung. Alle drei Ziele können im allgemeinen jedoch nur dann erreicht werden, wenn nicht nur über persönliche Charakteristika der Kandidaten, sondern auch über Sachfragen diskutiert wird. Aber auch ohne solche direkte Vermittlung steht den Wählern Information zur Verfügung. Es hat sich gezeigt, daß die Wähler bei ihrer Entscheidung vor allem rückwärts blicken und die bisherige Leistung einer Regierung beurteilen (,retrospective voting') und daß sie weniger nach vome blicken und Partei- und Regierungsprogramme miteinander vergleichen. Wenn sie die Leistung einer Regierung am Ende einer Legislaturperiode beurteilen, schätzen sie ab, in welchem Maße sie durch die Handlungen dieser Regierung positiv oder negativ betroffen wurden. Sind sie mit der Leistimg der Regierung zufrieden, werden sie eher für die Regierung (bzw. für eine der Regierungsparteien) stimmen, sind sie dagegen unzufrieden, werden sie eher für die Opposition (bzw. für eine der Oppositionsparteien) stimmen. Voraussetzung dafür, daß Information hier wirksam werden kann, ist, daß zum einen ein entsprechend großer Teil der Bevölkerung mit solcher Information persönlich konfrontiert wird und daß die Wähler zum zweiten die Regierung für die entsprechende Entwicklung verantwortlich machen (Kirchgässner 1986,426). Dies kann am Beispiel der Wirtschaftspolitik verdeutlicht werden. Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, daß die Entscheidung der Wähler für oder gegen eine Partei

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bzw. Regierung sowie die mit Hilfe von Meinungsumfragen zwischen Wahlterminen gemessene Wahlabsicht der Bevölkerung wesentlich von der Entwicklung der wirtschaftlichen Lage abhängt.5 Untersucht man, welche Variablen hier eine Rolle spielen, so sind dies vor allem die Arbeitslosenquote, die Inflationsrate und die Zuwachsrate des verfügbaren (realen) Einkommens, d.h. es sind Variablen, über deren Entwicklung die Individuen in ihrem täglichen Leben (als Konsument und Arbeitnehmer) Informationen erhalten und die sie auch direkt betreffen. Andere, ebenfalls .wichtige' wirtschaftliche Variable, über die sie nur über die Medien informiert werden und die sie außerdem persönlich nur indirekt betreffen, wie z.B. die Situation der Zahlungsbilanz oder die Höhe und Entwicklung der Staatsverschuldung, scheinen dagegen keinen Einfluß zu haben. Dadurch, daß zum einen für Wahlen weniger Information notwendig scheint als für Sachabstimmungen und daß zweitens Vertreter (Repräsentanten) bei schwierigen Sachfragen besser informiert entscheiden können, erhält die repräsentative Demokratie gegenüber der direkten Demokratie eine informationstheoretische Rechtfertigung: Es wird unterstellt, daß die Bürger bei direkten Sachentscheidungen wegen der Komplexität dieser Entscheidungen häufig oder sogar fast immer überfordert sind. Tatsächlich benötigen die Bürgerinnen und Bürger in der direkten Demokratie deutlich mehr Information als in der repräsentativen Demokratie. Schließlich sollen sie über einzelne Gesetzesvorlagen direkt entscheiden. Bei der Annahme oder Ablehnung von Vorlagen wird gelegentlich die Auffassung vertreten, mangelnde Information über die sich aus einer Ablehnung bzw. Annahme ergebenden Konsequenzen habe zu einer (aus der Sicht des Betrachters) .falschen' Entscheidung geführt. Ganz allgemein stellt sich auch hier die Frage, ob und wie Anreize gesetzt werden können, damit die Bürger die notwendige Information erhalten, um im Sinne ihrer individuellen Präferenzen sachgerecht entscheiden zu können. Im Vergleich mit der repräsentativen Demokratie spielen hier die Parteien eine untergeordnete Rolle. Wichtiger für den Entscheidungsprozeß der Bürger sind die Stellungnahmen derjenigen, die durch die zur Diskussion stehenden Regelungen direkt betroffen werden, insbesondere der Interessengruppen. So hat Schneider (1985) gezeigt, daß die ,Parolen', d.h. die öffentlich abgegebenen Abstimmungsempfehlungen der Interessenverbände in der Schweiz, einen deutlich stärkeren Einfluß auf den Ausgang von Referenden haben als die Parolen der Parteien.6 Der im Vorfeld einer Volksabstimmung in der Schweiz stattfindende Diskurs ist von vier Eigenschaften geprägt (Frey und Kirchgässner 1993): (1) Die Vorlagen werden immer im Vergleich zu Alternativen - meist dem Status quo erörtert. Die Kosten der Durchführung sind ein wichtiger Bestandteil der Diskussion. Beides bewirkt, daß der Austausch der Argumente nicht auf allgemeiner und unverbindlicher Ebene bleibt. (2) Der Diskurs ist um so intensiver, je wichtiger eine Vorlage ist, d.h. je stärker sich die Bürger in den betreffenden Gebietskörperschaften, einer Gemeinde, einem Kanton

5 6

Für eine neuere Übersicht über diese Literatur siehe Nannestad und Paldam (1994), speziell fur die Bundesrepublik Deutschland siehe Kirchgässner (1986). Zu einem ähnlichen Resultat gelangen Lupia (1994) sowie Bowler und Donovan (1998) für die USA.

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oder dem Bund, davon betroffen fühlen. Die Inhalte mancher Volksabstimmungen werden als unbedeutend angesehen, so daß auch die Diskussion wenig intensiv ist. Bei anderen Abstimmungen erfolgt ein längerer und grundsätzlicherer Austausch von Argumenten. Der einem Urnengang vorangehende Diskurs ist somit nicht mechanisch festgelegt, sondern er ändert sich je nach der Bedeutung des Themas für die Stimmbürger. (3) Am Diskurs beteiligen sich sowohl Organisationen wie Parteien und Verbände als auch Einzelpersonen, und er findet auf den verschiedensten Niveaus der Gesprächskultur statt. Er ist nicht auf Intellektuelle beschränkt, sondern auch im Rahmen eines Sportklubs oder Stammtisches möglich. Auch die Beteiligung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger weist je nach perzipierter subjektiver Bedeutung bzw. Betroffenheit erhebliche Schwankungen auf. So lag auf Bundesebene die durchschnittliche Beteiligung seit den siebziger Jahren bei knapp über 40 Prozent der Stimmberechtigten (Statistisches Jahrbuch der Schweiz 2001, 736). Wie die Beispiele der Abstimmungen über den UNO-Beitritt, die Abschaffung der Armee, den EWR-Beitritt, die Erhöhung des Treibstoffzolls oder die jüngst verworfene Europainitiative zeigen, kann bei Entscheidungen, die als wichtig eingestuft werden, die Beteiligung jedoch deutlich darüber liegen.7 (4) Im Verlauf dieses Diskurses findet zumindest bei Teilen der Bevölkerung ein Lernprozeß statt (Kostede 1991). Dadurch, daß sie mit den Argumenten beider Seiten konfrontiert werden, sehen sich viele dazu veranlaßt, die jeweilige Frage genauer zu überdenken. Dies kann dazu führen, daß einige und gelegentlich sogar viele ihre Auffassung ändern. Damit ergibt sich auch die Chance, daß die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihre aktuell wirksamen Präferenzen in Richtung auf Verallgemeinerbarkeit hinterfragen. Man kann davon ausgehen, daß wegen der direkten Betroffenheit der Bürger die Bereitschaft, Informationskosten auf sich zu nehmen, in der direkten Demokratie größer ist als in der repräsentativen Demokratie. Dazu kommt, daß es für die Bürger auch privat wichtig werden kann, über politische Fragen, die zur Entscheidung anstehen, gut informiert zu sein. Dies geschieht dann, wenn andere Bürgerinnen und Bürger, mit denen man in Kontakt ist, erwarten, daß man gut informiert ist, und wenn die Enttäuschung dieser Erwartung zu einem Verlust an Prestige führen kann. Aber auch hier gilt, daß die Informationen so aufbereitet werden müssen, daß sie von den Bürgern ohne allzu große Kosten aufgenommen und verarbeitet werden können. Und auch hier werden - wie bei Wahlen - gelegentlich die ,falschen' Argumente obsiegen. Wichtig ist jedoch, daß sich die Argumente im politischen Diskurs auf Sachfragen beziehen und daß es kaum möglich ist, sich mit dem Herausarbeiten einer ideologischen 7

Die entsprechenden Werte der Stimmbeteilung sind: UNO-Beitritt (16. 3. 1986): 50,7 Prozent, die Abschaffung der Armee (26. 11. 1989): 62,9 Prozent, EWR-Beitritt (6. 12. 1992): 78,3 Prozent, Erhöhung des Treibstoffzolls (7. 3. 1993): 54,6 Prozent, sofortige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union (21. 5. 2001): 55,1 Prozent. Ganz allgemein gilt, daß bei Abstimmungen über kontroverse Vorlagen, z.B. in den Bereichen Verkehrs-, Ausländer- und Sicherheitspolitik, die Stimmbeteiligung in den letzten Jahren regelmäßig über 50 Prozent lag. Siehe hierzu auch EschetSchwarz (1989).

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Position zu begnügen.8 Diese reicht in aller Regel nicht aus, um die Bürger zu einer bestimmten Entscheidung zu motivieren. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn Anhänger einer Partei in größerer Zahl gegen die von ihrer Partei vertretene Linie stimmen, was nicht selten geschieht. Geht man (zu Recht) davon aus, daß es erheblicher Sachkenntnisse bedarf, um politische Entscheide sachgerecht zu treffen, so könnte man die Auffassung vertreten, daß Entscheide in einer repräsentativen Demokratie im allgemeinen mit mehr Sachkenntnis getroffen werden als in einer direkten Demokratie. Schließlich haben die Abgeordneten größere Anreize, sich über politische Angelegenheiten zu informieren als die einzelnen Bürger. Bei dieser Argumentation gerät man jedoch leicht in die Gefahr, den nicht immer überzeugenden tatsächlichen Zustand der direkten Demokratie mit den idealen Bedingungen einer repräsentativen Demokratie zu vergleichen. Tatsächlich sind die Abgeordneten eines Parlaments über die zur Abstimmung anliegenden Fragen häufig ebenfalls kaum informiert. Die Entscheidungen werden in Ausschüssen durch eine kleine Zahl Interessierter und Informierter getroffen, und die theoretisch allein ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten stimmen im Plenum, soweit sie überhaupt anwesend sind, entsprechend den Vorgaben ihrer Ausschußvertreter. Eine offene Diskussion findet dabei kaum statt. Zudem besteht ein starker Fraktionszwang: Abweichungen von der Partei- bzw. Fraktionslinie können mit erheblichen Sanktionen belegt werden; im schlimmsten Fall droht das Ende der politischen Karriere. Da außerdem in großen Parlamenten eine einzelne (abweichende) Stimme in aller Regel keinen Einfluß hat, haben viele Abgeordnete kaum Anreize, sich über Einzelheiten der zur Abstimmung stehenden Angelegenheiten zu informieren. Dies führt u.a. dazu, daß die Diskussionen im Plenum steril werden: Im Saal muß niemand überzeugt werden, da der Ausgang festliegt. Reden dienen vor allem der partei-internen Selbstdarstellung sowie - bei Übertragungen im Fernsehen - der Darstellung nach außen. Aber auch dort muß niemand von der Sache überzeugt werden, da die Bürger keine Möglichkeit haben, auf die Angelegenheiten direkt Einfluß zu nehmen. Dies führt dazu, daß über viele wichtige politische Entscheidungen in der Bevölkerung kaum Diskussionen gefuhrt werden. So wurde z.B. die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland dem Vertrag von Maastricht beitreten soll, vor dem Nein der Dänen in der deutschen Bevölkerung kaum und auch danach nicht sehr ausführlich diskutiert. Immerhin hat die Bundesrepublik mit diesem Vertrag u.a. auf ihre Souveränität in der Geldpolitik verzichtet. Da es deutliche Anzeichen dafür gab, daß dieser Vertrag in der Bevölkerung keine Mehrheit finden würde, hatten die Politiker, die nahezu geschlossen für dieses Vertragswerk eintraten, keinen Anreiz, darüber eine Diskussion auszulösen. Außerdem sahen sie zunächst keine Veranlassung, die Bevölkerung von der Notwendigkeit dieses Vertrags zu überzeugen. Vergleicht man so die Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland mit jener in der Schweiz, kann man durchaus in Frage stellen, daß der durchschnittliche Bundestagsabgeordnete bei seiner Entscheidung besser informiert ist als der durch8

Eine ähnliche Einschätzung läßt sich wiederum für die USA vornehmen. Siehe hierzu Lupia (1994), Bowler und Donovan (1998) sowie Gerber und Lupia (1996).

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schnittliche schweizerische Stimmbürger. Soweit dies nicht der Fall ist, geht aber der wesentliche Vorteil der repräsentativen gegenüber der direkten Demokratie verloren, wobei die repräsentative Demokratie überdies den Nachteil einer schlechter informierten Öffentlichkeit hat.9 So aber sind die Schweizer Bürgerinnen und Bürger im Schnitt besser über die zur Entscheidung anstehenden politischen Probleme informiert als die deutschen Bundesbürger. Der Grund dafür ist nicht in unterschiedlichen individuellen Einstellungen zu suchen, sondern darin, daß die Institutionen der direkten Demokratie den Stimmbürgern wesentliche zusätzliche Anreize vermitteln, sich über politische Angelegenheiten zu informieren. Was für die einfachen Abgeordneten im Vergleich mit den Bürgern gilt, gilt selbstverständlich nicht für die Spezialisten der verschiedenen Parteien auf den entsprechenden Gebieten. Sie dürften im allgemeinen gut über die jeweiligen Probleme informiert sein, und sie sind tatsächlich in der Lage, überlegtere und informiertere Entscheidungen zu treffen als die Bevölkerung. Nun können diese Spezialisten - und sie tun dies auch - ihr Fachwissen bei dem einer Volksabstimmung vorangehenden parlamentarischen Entscheidungsprozeß einbringen, und sie können sich außerdem im öffentlichen Diskurs vor der Volksabstimmung äußern. Insofern findet dieses Fachwissen auch in direkten Demokratien Berücksichtigung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Spezialisten in rein repräsentativen Systemen genügend Anreize haben, die (allgemeinen) Interessen der Bevölkerung zu berücksichtigen, oder ob sie nicht zumeist versuchen, ihre eigenen (partikulären) Interessen bzw. diejenigen ihrer spezifischen Klientel durchzusetzen. Schließlich sind sie häufig Interessenvertreter bestimmter Gruppen, fur die sie in den Parlamenten sitzen. Die moderne politische Ökonomie zeigt, daß solche Politiker Anreize haben, systematisch von den Interessen der Bevölkerung abzuweichen. Daher stellt sich die Frage, ob die wesentlich durch Spezialisten getroffenen ,informierteren' Entscheidungen in rein repräsentativen Demokratien wirklich fachgemäßer' sind als Entscheidungen in direkten Demokratien, wo die Vorschläge der Spezialisten auch die Zustimmung der Bevölkerung finden müssen.

III. Wirtschaftliche Auswirkungen der direkten Demokratie: Das Beispiel der Schweiz Die direkte Demokratie ist auch in der Schweiz nicht unumstritten.10 Der heute am häufigsten erhobene Vorwurf lautet, sie behindere die Anpassungsfähigkeit der schweizerischen Politik an die sich ändernden internationalen Rahmenbedingungen und schränke damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der schweizerischen Wirtschaft ein. Als Evidenz dafür wird angegeben, daß die Schweiz in den neunziger Jahren die geringste Wachstumsrate aller OECD-Staaten hatte. Dem kann man jedoch entgegenhalten, daß die Schweiz nach wie vor ein sehr hohes Einkommensniveau und eine sehr 9 Zum Vergleich der beiden politischen Systeme siehe auch Kirchgässner und Pommerehne (1992). 10 Siehe z.B. die Kritiken von Borner, Brunetti und Straubhaar (1990; 1994), Kleinewefers (1995; 1997) sowie Wittmann (1998; 2001). Zur Auseinandersetzung mit diesen Argumenten siehe Kirchgässner, Feld und Saviez ( 1999, 17ff.und 182ff.).

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niedrige Arbeitslosenquote aufweist. Zudem rangiert sie in den Ranglisten, die von verschiedenen Institutionen bezüglich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industriestaaten aufgestellt werden, zumeist weit oben.11 Diese anekdotische Evidenz ist somit widersprüchlich und läßt keine eindeutigen Aussagen zu. Hierfür bedarf es systematischer empirischer Studien. Solche Analysen gibt es heute auch für die Schweiz. Wie oben ausgeführt wurde, eignet sie sich besonders gut für solche Untersuchungen, da die Volksrechte auf den Ebenen der Gemeinden und Kantone sehr unterschiedlich ausgebaut sind. Ähnliches gilt, wenn auch in abgeschwächtem Maße, für die Vereinigten Staaten. Die erste systematische empirische Arbeit über die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der direkten Demokratie in der Schweiz stammt von Pommerehne (1978). Mit Daten der 110 größten Schweizer Städte hat er für den Durchschnitt der Jahre 1968 bis 1972 die Auswirkungen der direkten Volksrechte auf den lokalen Budgetierungsprozeß untersucht. Dabei zeigte sich, daß in Gemeinden mit direkten Volksrechten in diesen Fragen die öffentlichen Ausgaben eher den Präferenzen des Medianwählers entsprechen als in Gemeinden, die keine solchen Rechte kennen.12 Für die gleichen Städte haben Schneider und Pommerehne (1983) den Anstieg der Staatsausgaben im Zeitraum von 1965 bis 1975 untersucht. Dabei zeigte sich, daß dieser Anstieg in den Gemeinden mit direkter Demokratie in Finanzfragen - ceteris paribus - um knapp drei Prozent unter dem Anstieg in den übrigen Gemeinden lqg. Tatsächlich betrug der Anstieg der Staatsausgaben in den Gemeinden mit repräsentativem System durchschnittlich 9,6 Prozent. Eine Simulation ergab, daß er nur 6,8 Prozent betragen hätte, wenn in diesen Gemeinden die entsprechenden direkten Volksrechte existiert hätten. Bei diesen Untersuchungen wurden Gemeinden als ,direkt-demokratisch' betrachtet, wenn in ihrer Verfassung vorgesehen war, daß die Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe eines fakultativen oder obligatorischen Referendums oder in einer Gemeindeversammlung die Möglichkeit hatten, auf die Steuersätze, den Budgetvoranschlag sowie das geplante Defizit Einfluß zu nehmen bzw. die entsprechenden Vorlagen der Gemeinderegierung bzw. -Verwaltung abzulehnen.13 Feld und Kirchgässner (1999) haben mit Hilfe eines simultanen Gleichungsmodells verschiedene Aspekte staatlicher Haushaltspolitik untersucht. Für die 131 größten schweizerischen Städte im Jahr 1990 zeigen sie, daß der Bruttoschuldenstand pro Kopf - ceteris paribus - in den repräsentativ demokratischen Städten um ca. 10 000 SFr und damit um 45 Prozent niedriger gewesen wäre, wenn diese direktdemokratisch organisiert gewesen wären.14 Zudem hatten Städte mit Budgetreferendum um 14 Prozent nied11 Man kann diese Indikatoren mit guten Gründen kritisieren. Zumindest aber zeigen die einzelnen Elemente, aus denen die Indikatoren der .internationalen Wettbewerbsfähigkeit' aggregiert werden, daß die Schweiz in vielen Dimensionen, die hierfür Bedeutung haben könnten, im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern nicht schlecht abschneidet. Zur Kritik am Konzept der internationalen Wettbewerbsfähigkeit siehe z.B. Krugman (1994). 12 Gerber (1996; 1999) findet ähnliche Evidenz für die USA. 13 Ahnliche Resultate findet Matsusaka (1995) für die 49 Bundesstaaten der USA über den Zeitraum von 1960 bis 1990. 14 Schließt man die Stadt Zürich, die mit ihrem extrem hohen Schuldenstand nach allen statistischen Kriterien einen Ausreißer darstellt, aus, so beträgt die simulierte Differenz immer noch 4500 SFr bzw.

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rigere Ausgaben, eine um 5 Prozent höhere Selbstfinanzierungsquote und einen um 14 Prozent höheren Mediansteuersatz. Dies spricht dafür, daß die Bürger in diesen Gebietskörperschaften zwar weniger öffentliche Leistungen nachfragen, für diese Leistungen aber höhere und wahrscheinlich adäquatere Preise zu zahlen bereit sind als in rein parlamentarischen Systemen, woraus eine geringere öffentliche Verschuldung resultiert. Somit kommt die Referendumsdemokratie der Wicksellschen Vorstellung einer Verknüpfung von Steuerpreis und öffentlicher Leistung näher als die rein parlamentarische Demokratie. Die Frage ist freilich, ob dieses niedrigere Ausgabenniveau - gemessen an den Präferenzen der Bürger - auch effizient ist. Niedrigere Ausgaben könnten auch, wie Breton (1996) vermutet, Ausdruck eines ungenügenden Stimmentauschs sein, so daß Referenden und Initiativen zu ineffizienten Lösungen führten. Hierzu gesicherte Aussagen zu machen ist außerordentlich schwierig. Entsprechend gibt es auch kaum Studien, in welchen dieses versucht wird.15 Indirekte Evidenz für höhere staatliche Effizienz in direkten Demokratien findet sich jedoch in einer Studie über die Steuermoral. WeckHannemann und Pommerehne (1989) zeigen, daß diese in Kantonen mit direkter Demokratie in Finanzfragen höher ist als in solchen mit rein repräsentativen Entscheidungen in bezug auf diese Frage. So stellen sie (für die Jahre 1965, 1970 und 1978) fest, daß Steuern in den Schweizer Kantonen, in denen Bürger weitgehend über das Budget mitentscheiden, in geringerem Ausmaß hinterzogen wurden: Gegenüber dem Durchschnitt der Kantone wurde pro Steuerpflichtigem und Jahr - ceteris paribus - rund 1500 SFr weniger Einkommen verheimlicht.16 Wenn aber, was anzunehmen ist, die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, um so höher ist, je zufriedener die Bürger mit den ihnen gebotenen öffentlichen Leistungen sind, dann spricht dieses Ergebnis für höhere Zufriedenheit und damit auch für höhere Effizienz der staatlich angebotenen Leistungen in direktdemokratischen Systemen. Pommerehne (1983) hat untersucht, ob es Kosten- und Preisunterschiede bei der Müllabfuhr gibt, die auf die unterschiedliche Organisation der Müllabfuhr zurückzuführen sind. Hierzu hat er für das Jahr 1970 deren Kosten in den 103 größten schweizerischen Städten analysiert. Dabei stellte er fest, daß die durchschnittlichen Abfuhrkosten (pro Haushalt) in Städten mit direkter Demokratie und privater Müllabfuhr - ceteris paribus - am niedrigsten sind. Die durchschnittlichen Abfuhrkosten sind um rund 10 Prozent höher, wenn es anstelle der privaten eine städtische Müllabfuhr gibt. In Städten mit repräsentativer Demokratie liegen die Kosten der privaten Müllabfuhr um etwas mehr als 20 Prozent höher als in direkten Demokratien. Die durchschnittlichen Abfuhrkosten sind am höchsten in Städten mit repräsentativer Demokratie und öffentlicher

24 Prozent. Gemäß den Ergebnissen dieser Studie fuhren weder formale fiskalische Beschränkungen noch ein sehr einflußreicher Bürgermeister oder Finanzsekretär zu einer so starken Eindämmung der Staatsschuld. 15 Eine Ausnahme hierzu bildet Noam (1980). Das dort benutzte Effizienzmaß ist aber wenig operativ. 16 Siehe hierzu auch Pommerehne und Weck-Hannemann (1996). Es gibt auch theoretische Argumente dafür, daß die Bürger in direkten Demokratien weniger Steuern hinterziehen als in rein repräsentativen Systemen. Siehe hierzu Pommerehne, Hart und Feld (1997).

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Müllabfuhr; dort sind sie um 30 Prozent höher als in Städten mit direkter Demokratie und privater Müllabfuhr. Feld und Savioz (1997) untersuchen den Zusammenhang zwischen Fiskalreferenden und der Wirtschaftsleistung der Schweizer Kantone, gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt. Mit jährlichen Daten über den Zeitraum von 1984 bis 1993 kommen sie zu dem Ergebnis, daß die Kantone mit Fiskalreferenden - ceteris paribus - ein um etwa 5 Prozent höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erwirtschafteten als die übrigen Kantone.17 In dieser Arbeit wird auch untersucht, ob die Kausalität möglicherweise in die umgekehrte Richtung geht: daß sich die reicheren Kantone mehr direkte Demokratie leisten können. Die empirische Evidenz spricht jedoch dagegen. Zudem wird der Einfluß der direkten Demokratie kaum geschmälert, wenn weitere Einflußfaktoren berücksichtigt werden. Faßt man alle diese Ergebnisse zusammen, so ergibt sich, daß die direkte Demokratie in der Schweiz zu einer Ausgabenpolitik fuhrt, die näher an den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger ist und die darüber hinaus mit einer geringeren Staatsschuld, einer effizienteren Verwaltung und höherem Wohlstand verbunden ist. Dies bewirkt eine stärkere Identifikation mit dem Gemeinwesen, weshalb es nicht verwunderlich ist, daß (gemäß Umfragen) die Bürgerinnen und Bürger in Gemeinden mit stärker ausgeprägten direkten Volksrechten zufriedener sind (Frey und Stutzer 2000a; 2000b). Die vergleichbaren Studien fur die Vereinigten Staaten sprechen insgesamt zwar auch für die direkte Demokratie, ihre Ergebnisse sind jedoch weniger eindeutig als diejenigen der Untersuchungen für die Schweiz (Kirchgässner, Feld und Savioz 1999, 11 Iff.). Ein Grund dafür könnte in den unterschiedlichen institutionellen Ausgestaltungen liegen. So stimmen z.B. in Kalifornien die Stimmbürger nur einmal im Jahr ab. Dann können aber vierzig oder mehr Vorlagen zusammen kommen. Damit kann der Diskussionsprozeß, der einer Abstimmung vorangehen sollte, überhaupt nicht - oder jedenfalls nicht im erforderlichen Ausmaß - stattfinden. Von denjenigen, welche die direkte Demokratie in der Schweiz auf Bundesebene einschränken oder gar abschaffen möchten, wird bezweifelt, daß die Ergebnisse, die für die Kantone und Gemeinden erzielt wurden, auf die Bundesebene übertragbar sind (z.B. Borner 1997a, 109ff.). Nun wäre es naiv abzustreiten, daß eine Übertragung empirischer Ergebnisse von einer föderalen Ebene auf eine andere Probleme aufwerfen könnte. Theoretische Gründe dafür können sicher gefunden werden. Zudem gibt es keine Möglichkeit, empirische Untersuchungen anzustellen, um diese Hypothese zu verwerfen. Man kann daher die Möglichkeit, daß die Auswirkungen der direkten Demokratie auf der Ebene des Bundes völlig anders sind als auf den Ebenen der Kantone und Gemeinden, nicht a priori ausschließen. Was aber spricht für diese Behauptung? Häufig wird die angebliche Reformunfähigkeit des politischen Systems der Schweiz auf das fakultative Referendum und seinen Mißbrauch durch Interessengruppen zurückgeführt (Borner, Brunetti und Straubhaar 1994, 25ff. und 124ff.). Man könnte sich daher vorstellen, daß dem fakultativen Referendum auf der Bundesebene eine andere Rolle zukommt als auf den unteren Ebenen und daß es auf Bundesebene eher ,mißbraucht' 17 Bei einer Querschnittsanalyse fiir das Jahr 1990 ergab sich sogar ein Unterschied von 15 Prozent.

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wird. Aber welche Unterschiede bestehen hier und wie kann es zu einem stärkeren Mißbrauch kommen? Da die Volksrechte in den Kantonen und Gemeinden teilweise erheblich stärker ausgeprägt sind als auf Bundesebene, und da insbesondere die Kosten fur ein fakultatives Referendum (soweit dies überhaupt möglich ist) viel geringer sind, ist ein solcher .Mißbrauch' der Volksrechte eher auf den unteren Ebenen zu erwarten als auf Bundesebene. Warum aber sollen dann die Ergebnisse der direkten Demokratie auf den unteren Ebenen eher akzeptabel sein? Man könnte zwar argumentieren, daß die direkten Volksrechte auf der eidgenössischen Ebene eher zur Umverteilung eingesetzt werden können und daß eine zu starke Umverteilung die Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Systems beeinträchtigt. Dem steht jedoch entgegen, daß ein erheblicher Teil der Umverteilung in der Schweiz nach wie vor auf dezentraler Ebene vollzogen wird und daß die Schweiz insgesamt nicht stärker umverteilt als andere europäische Staaten, die keine derartigen Volksrechte kennen (Feld 2000, 32Iff.). Insofern scheint auch diese Befürchtung unbegründet zu sein. Betrachtet man die vorgestellten empirischen Ergebnisse über die wirtschaftlichen Auswirkungen der direkten Demokratie genauer, dann spricht viel dafür, daß Probleme u.a. dadurch entstehen, daß auf Bundesebene Volksrechte fehlen, die in vielen Kantonen und Gemeinden vorhanden sind. Falls die Ausgaben des Bundes heute tatsächlich zu hoch sein sollten, mag das damit zusammen hängen, daß dieser bisher kein Finanzreferendum kennt, welches zu einer Beschränkung der Ausgaben beitragen könnte. Und der Anstieg der eidgenössischen Schuld wäre möglicherweise geringer ausgefallen, wenn man die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger um ihre Zustimmung zu den (geplanten) Defiziten hätte fragen müssen. Hier scheint eher das Fehlen als ein Übermaß an direkten Volksrechten zu den Problemen beigetragen zu haben. Andererseits ist zu beachten, daß die Schweiz im internationalen Vergleich nach wie vor eine tiefe Staatsquote und eine geringe Verschuldung hat. In dieser Hinsicht entspricht sie den Vorstellungen von F.A. v. Hayek besser als die meisten anderen (europäischen) Demokratien. Selbst wenn man die Auffassung vertritt, daß die Ergebnisse der unteren föderalen Ebenen nicht auf die Bundesebene übertragen werden können, spricht nichts dafür, daß sich die direkte Demokratie auf Bundesebene zugunsten einer - im Vergleich zu anderen Staaten - höheren Staatsquote ausgewirkt hat. Insofern braucht die Verfassungswirklichkeit der Schweiz den Vergleich mit anderen Ländern nicht zu scheuen.

IV. Abschließende Bemerkungen Die vorhandene empirische Evidenz spricht somit dafür, daß eine Demokratie mit direkten Volksrechten bezüglich der hier zur Diskussion stehenden Dimensionen zumindest nicht ineffizienter ist, als eine Demokratie ohne solche Rechte: In der direkten Demokratie sind die Bürgerinnen und Bürger besser informiert, und die (wirtschafts-)politischen Entscheidungen werden so getroffen, daß die wirtschaftliche Wohlfahrt höher ist und die politischen Ergebnisse eher den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen als in einem rein repräsentativen System. Die empirische Evidenz der Schweiz (sowie - wenn auch in geringerem Maße - der Vereinigten Staaten) stützt diesen Be-

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fund, obwohl hier die direkte Demokratie weitgehend unbegrenzt ist und daher mit den Vorstellungen von F.A. v. Hayek über eine sinnvolle Ausgestaltung der Demokratie nicht vereinbar ist. Hinter der Verfassungswirklichkeit der Schweiz und den Vorstellungen von F.A. v. Hayek stehen (als dominierende Faktoren) zwei verschiedene Prinzipien, die - in unterschiedlicher Kombination - den modernen, in der abendländischen Tradition stehenden Staat kennzeichnen, aber in einem Spannungsfeld zueinander stehen: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. So kann eine (extrem ausgebaute) direkte Demokratie dazu führen, daß vom Volk willkürliche Entscheide getroffen werden, die elementaren Menschenbzw. Bürgerrechten widersprechen, wie sie heute in der westlichen Welt weitgehend oder sogar allgemein akzeptiert sind und wie sie sich in der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen finden. Als Beispiel mögen Abstimmungen in der Schweiz dienen, bei denen Menschen türkischer bzw. jugoslawischer Herkunft trotz einer eindeutigen Empfehlung der Einbürgerungskommission an der Urne die Einbürgerung verweigert wurde (Auer 2000, 13). Solche Entscheidungen können aber auch in einer rein repräsentativen Demokratie getroffen werden, wie die Beibehaltung (bzw. Reaktivierung) der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten durch den obersten Gerichtshof zeigt.18 Andererseits kann, wie das deutsche Beispiel zeigt, eine extrem weit ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit dazu fuhren, daß der Gestaltungsspielraum des Parlaments stark beschnitten wird, so daß es selbst mit überwiegender Mehrheit bestimmte Entscheidungen nicht mehr so treffen kann, wie sie in anderen (Rechts-)Staaten getroffen werden, auch wenn dies keineswegs allgemein anerkannten Menschenrechten widersprechen würde. Dies zeigt sich z.B. daran, wie weitgehend das deutsche Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber selbst bei Fragen der Besteuerung bindet. Hinter diesen Beispielen stehen zwei unterschiedliche Verfassungstraditionen, eine .liberale' und eine .demokratische', die sich auf unterschiedliche ,Stammväter' in der Zeit der Aufklärung berufen können.19 Sie können sehr gut an der gegensätzlichen Entwicklung in Deutschland (Preußen) und in der Schweiz im 19. Jahrhundert illustriert werden. Auch wenn viele mit der Französischen Revolution und ihrem Gleichheitsideal sympathisierten, hatte - angesichts der Stärke der Fürstenhäuser - das demokratische Prinzip in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Chance auf auch nur annähernde Verwirklichung. Gemäß dem monarchistischen Prinzip lag die entscheidende Gewalt bis zur Novemberrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 bei den Fürstenhäusern.20 Dennoch hat sich in dieser Zeit insbesondere im Gefolge der in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgeführten Stein-Hardenbergschen Re18 Auf der nationalen Ebene, die letztlich für die Erklärung der (Nicht-)Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe zuständig ist, kennen die Vereinigten Staaten keine direkten Volksrechte. Auf der Ebene der Teilstaaten wurde die Todesstrafe sowohl in Bundesstaaten mit Initiativrecht als auch in Bundesstaaten, die keine direkten Volksrechte kennen, nicht abgeschafft bzw. (wieder) eingeführt. 19 Hayek ( 1967, 11) nennt als Vordenker der liberalen Tradition u.a. David Hume, Adam Smith, Alexis de Toqueville, Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt und James Madison, als Vertreter der demokratischen Tradition Voltaire, Jean Jacques Rousseau sowie Marquis de Condorcet. Zur Charakterisierung der beiden Ansätze siehe z.B. Schnabel (1964, 128ff.). 20 Zum .monarchistischen' Prinzip und seiner Anwendung in den verschiedenen Verfassungen in Deutschland siehe Schnabel (1964, 11 Iff.).

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formen ein Verwaltungs- und Rechtsstaat entwickelt, welcher die Befugnisse der Monarchien einschränkte. Auch das Handeln der Fürsten sowie insbesondere ihrer Verwaltungen wurde durch Verfassungen und Gesetze begrenzt.21 Dabei war es den Bürgern möglich, gegen die Überschreitung dieser Grenzen durch die Verwaltung vor Gericht zu klagen. Zwar wurde die Gerichtsbarkeit nach wie vor im Namen des Fürsten ausgeübt, „aber die Rechtsprechung hatte sich dennoch ihre Unabhängigkeit von der Verwaltung erkämpft. Die Justiz wurde durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Beamte ausgeübt" (Fehr 1962, 275). In der Schweiz dominierte dagegen mit der Ablösung der liberalen durch die radikalen Regierungen in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts das demokratische gegenüber dem liberalen Prinzip (Andrey 1983, 267; Schaffner 1998): Die ,freien' Schweizer waren gewillt, ihre politischen Angelegenheiten selbst zu regeln. Dies bedeutete nicht notwendigerweise die Einführung der direkten Demokratie: Um 1840 gab es zwar in je sieben Kantonen eine Landsgemeinde und eine halbdirekte Demokratie, aber 11 Kantone hatten eine repräsentative Demokratie, während Neuenburg eine konstitutionelle Monarchie war.22 Auch die neue Bundesverfassung des Jahres 1848 hatte nur wenige Elemente der direkten Demokratie; die wichtigsten heute auf eidgenössischer Ebene bestehenden Volksrechte, das fakultative Gesetzesreferendum und die Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung, wurden erst 1874 (im Rahmen der Totalrevision) sowie 1891 in die Verfassung aufgenommen. Neben diesen demokratischen Rechten hatte der Rechtsstaat eine geringere Bedeutung: Insbesondere dort, wo eine Landsgemeinde existierte, d.h. wo jeder (männliche) Bürger seine Anliegen in den politischen Prozeß einbringen konnte, machte es wenig Sinn, gegen politische Entscheidungen bei Gericht klagen zu wollen.23 Ohne die Probleme, die sich daraus ergeben können, verneinen zu wollen,24 kann nach den oben vorgestellten empirischen Ergebnissen zumindest bei entsprechender institutioneller Ausgestaltung eiii System, welches sich stärker am demokratischen als am liberalen Prinzip orientiert, zu effizienteren politischen Lösungen fuhren. Dies darf freilich nicht zu dem Trugschluß verleiten, damit ergäbe sich notwendigerweise auch eine geringere Staats- bzw. Steuerquote: Eine tiefere Staatsquote ist nur dann eindeutig im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, wenn sie aus einer höheren Effizienz der ih21 Eigentlich gehören zur Idee des Rechtsstaats, die Ende des 18. Jahrhunderts aufkam, drei Elemente, „die Hoffnung des Bürgertums auf eine von staatlicher Bevormundung freie Entfaltung des Marktes ..., das Bedürfnis nach Befreiung von absolutistischer Gängelung in Religions- und Bildungsfragen sowie der Anspruch auf politische Mitwirkung des dritten Standes, wenn auch dieses letztere Element in Deutschland ungleich schwächer ausgeprägt war als in Frankreich oder England" (Stolleis 1990, 367). Zu den einzelnen Reformen siehe Nipperdey (1983, 3 Iff.). 22 Eine Landsgemeinde hatten AI, AR, GL, NW, OW, UR und SZ, halbdirekte Demokratien waren BL, GR, LU, SG, VS und ZG, während AG, BE, BS, FR, GE, SH, SO, TG, TI, VD und ZH repräsentative Demokratien hatten (Andrey 1983, 267). 23 Dementsprechend entwickelten sich in der Schweiz auch das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsgerichtsbarkeit erst später als in Deutschland. Zur Entwicklung in Deutschland siehe Keller (1998). 24 Die Probleme ergeben sich freilich in der Schweiz weniger aus der Existenz direkter Volksrechte als vielmehr aus dem fast vollständigen Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene (für die kantonale Ebene wirkt das Bundesgericht in Lausanne als Verfassungsgericht). Zu Lösungsvorschlägen siehe Kirchgässner, Feld und Savioz (1999, 187f.).

170 · Gebhard Kirchgässner nen angebotenen Leistungen resultiert. Sonst müssen zur Abschätzung der Effizienz immer die staatlichen Leistungen mit ihren Kosten, insbesondere der Steuerbelastung, verglichen werden. Dabei kann es durchaus sein, daß die Staatsquote in den Augen der Bürgerinnen und Bürger zu niedrig ist, weil sie Leistungen vermissen, deren Kosten sie zu tragen bereit sind. Daß dies keine rein theoretische Überlegung ist, ergibt sich aus einer Untersuchung von Matsusaka (2000), der für die Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gezeigt hat, daß die öffentlichen Ausgaben in den Bundesstaaten mit Initiativrecht signifikant höher waren als in jenen Staaten, in denen die Bürgerinnen und Bürger über dieses direkte Volksrecht nicht verfügten. Eine höhere Effizienz des politischen Systems impliziert daher nicht notwendigerweise eine geringere Staatsquote, genausowenig wie eine geringere Staatsquote - auch ceteris paribus - zu höherer Beschäftigung führen muß {Kirchgässner 2000). Bei solchen Urteilen müssen immer beide Seiten des öffentlichen Haushalts, Leistungen und Kosten, berücksichtigt werden.

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Zusammenfassung Die in dieser Arbeit zusammengefaßte empirische Evidenz aus der Schweiz spricht dafür, daß eine Demokratie mit direkten Volksrechten zumindest nicht ineffizienter ist als eine Demokratie ohne solche Rechte: In der direkten Demokratie sind die Bürgerin-

Direkte Volksrechte • 173

nen und Bürger besser informiert, und die (wirtschafts-)politischen Entscheidungen werden so getroffen, daß die wirtschaftliche Wohlfahrt höher ist und die politischen Ergebnisse eher den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen als in einem rein repräsentativen System. Dies gilt, obwohl die direkte Demokratie der Schweiz weitgehend unbegrenzt ist und daher mit den Vorstellungen von F.A. v. Hayek über eine sinnvolle Ausgestaltung der Demokratie noch weniger vereinbar ist als praktisch alle rein repräsentativen Systeme. Zum Schluß wird kurz auf die hinter seinen Vorstellungen sowie hinter der Verfassungswirklichkeit der Schweiz liegenden philosophisch-theoretischen Konzeptionen eingegangen. Summary Direct Popular Rights and the Efficiency of Democracy This paper reports evidence from Switzerland which indicates that a democracy with direct popular rights is at least not less efficient than a democracy without such rights: The citizens are better informed and the (economic) policy decisions are taken in a way that economic welfare is higher and the political outcome corresponds closer to the demands of the citizens than in a purely representative system. Correspondingly, reported subjective personal well being is positively related to the existence of direct popular rights. This holds despite the fact that the Swiss democracy is largely unlimited and, correspondingly, even less consistent with the views of F.A. v. Hayek about a reasonable design of a democracy than nearly all purely representative systems. Finally, the different philosophical ideas which lie behind F.A. v. Hayek's conception of a democracy and the Swiss constitutional reality are shortly discussed.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Erich Weede

Südkorea und Rußland: Wie man Wohlstand erarbeitet oder verspielt*

I. Einleitung Am Anfang des 20. Jahrhunderts war das zaristische Rußland eine europäische Großmacht. Industrialisierung und Wirtschaftswachstum schienen dem größten Flächenstaat der Erde eine große Zukunft zu versprechen. Korea aber verlor damals seine Unabhängigkeit und wurde japanische Kolonie. Die Zukunft schien Korea nur Armut und Fremdherrschaft zu versprechen. Mitte des 20. Jahrhunderts sah die Welt ganz anders als am Anfang aus, aber ein Vergleich gerade Koreas mit der Sowjet-Union, also dem Nachfolgestaat des zaristischen Rußland, wäre immer noch so absurd gewesen, daß niemand diesen Vergleich angestellt hätte. Die Sowjet-Union war neben und nach den USA zur zweiten Weltmacht geworden. Sie hatte entscheidend zum Sieg über Hitlers Deutschland beigetragen. Die Rote Armee hatte das sowjetische Herrschaftsmodell bis nach Deutschland exportiert. Das kommunistische China und Nordkorea wurden Verbündete der Sowjet-Union. Der Krieg im geteilten Korea verwüstete das Land. Nach dem Ende des Krieges hätte man Südkorea in Bezug auf das Pro-Kopf-Produkt mit afrikanischen Staaten - wie dem früh selbständig gewordenen Ghana - vergleichen können, aber nicht mit Rußland bzw. der Sowjet-Union. Noch bis in die 80er Jahre haben manche Ökonomen (Maddisort 1969; Pryor 1985) die sowjetische Wirtschaftsentwicklung mit der Japans und des Westens verglichen und keine eindeutigen Anzeichen für die Unterlegenheit des sowjetischen Wirtschaftsmodells gefunden. Südkorea galt inzwischen als Tigerstaat und Wirtschaftswunderland. Trotzdem: Ein Vergleich zwischen der Weltmacht Sowjet-Union und Südkorea hätte immer noch den Hauch des Absurden gehabt, obwohl Ende der 80er Jahre schon ein Buch über Südkorea unter dem Titel „Asia's Next Giant" (Amsden 1989), also „Asiens nächster Gigant", erschien, obwohl damals ein Buch über die Sowjet-Union schon unter dem Titel „The Grand Failure" (Brzezinski 1989) oder „das große Versagen" erschien. Bald nach dem Zerfall der Sowjet-Union und der Wiedergeburt eines russischen Staates unter seinem alten Namen veröffentlichte der Economist (1994, 4) eine auf Trendextrapolation beruhende Vision der Weltwirtschaft um ca. 2020. Südkorea wurde darin nach Deutschland, aber vor Frankreich und Großbritannien Platz 7 zugewiesen, Rußland Platz 13. Statt Visionen können wir aber auch Daten betrachten. Nach Angaben der



Dieser Aufsatz wurde am 26.9.2000 im Rahmen des Kölner Soziologentages bei der Sektion "Wirtschaftssoziologie" vorgetragen.

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Weltbank ( World Bank 1999, 230-231) hatte Rußland schon am Ende des 20. Jahrhunderts diesen 13. Platz erreicht, war 1998 das Bruttoinlandsprodukt Rußlands und Südkoreas kaufkraftbereinigt annähernd gleich groß1, obwohl Rußland fast hundert Millionen Einwohner mehr als Korea hat, obwohl Rußland immer noch der größte Flächenstaat der Erde ist und im Gegensatz zu Südkorea über beträchtliche Bodenschätze verfugt. Weil Rußland drei bis viermal so viele Einwohner wie Südkorea hat, implizieren annähernd gleich große Volkswirtschaften in Südkorea und in Rußland ein südkoreanisches Pro-Kopf-Produkt, das drei- bis viermal so hoch wie das russische ist. Wie kann man diese unterschiedliche Entwicklung erklären? Kulturelle Erklärungsansätze können m.E. bei der Antwort offensichtlich keine große Rolle spielen.2 Denn im immer noch kommunistischen Nordkorea, das am Ende des Koreakrieges eher reicher als der Süden war, herrscht der Hunger. Das Verhältnis zwischen dem Pro-Kopf-Produkt des Südens und des Nordens in Korea liegt in der Größenordnung von 13 zu 1 {Economist 1999, 14). Der innerkoreanische Vergleich - unterschiedlicher Wirtschaftserfolg bei gleicher Kultur aber kontrastierendem politischökonomischen System - legt es nahe, auch beim russisch-koreanischen Vergleich das Herrschaftssystem und die Wirtschaftspolitik in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen.3 Weil die Armut des heutigen Rußland nicht nur auf die Umstellungsprobleme beim Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft zurückzufuhren ist, sondern auch auf die sowjetische Mißwirtschaft, muß zunächst und vor allem die Sowjet-Union mit Südkorea verglichen werden.

II. Ähnlichkeiten Dabei fallen zunächst einmal zwei Ähnlichkeiten zwischen Südkorea und SowjetRußland auf. Beide Gesellschaften wurden bis in die späten 80er Jahre autokratisch und nicht etwa demokratisch regiert, obwohl Südkorea inzwischen eher als Rußland eine gefestigte Demokratie geworden sein dürfte. Beide Gesellschaften waren stark militarisiert.4 Für die Sowjet-Union berichten Taylor und Jodice (1983, 24, 37) einen Verteidigungsanteil am Bruttosozialprodukt von 9% für Mitte der 60er Jahre und über 12% für Ende der 70er Jahre5, für Südkorea Anteile von 3,9 und später 5,5%. Beim militärischen Partizipationsgrad, dem Soldatenanteil an der arbeitsfähigen Bevölkerung, lag Südkorea mit 3,9 und später 3,1% noch vor der Sowjet-Union mit 2,2 und später 2,8%. Bei beiden 1

Wegen der stark gestiegenen Ölpreise sieht die Situation für Rußland im Jahre 2000 etwas besser und fiir Südkorea etwas schlechter aus (Economist 2000, 82). 2 Damit will ich mich nicht generell gegen kultursoziologische Erklärungen wirtschaftlicher Entwicklung wenden. Vgl. vor allem das Indienkapitel meines Asienbuches ( Weede 2000). 3 Mein russisch-koreanischer Vergleich muß weitgehend ein Vergleich zwischen der Sowjet-Union, deren Kemland ja immer Rußland war, und Korea sein. „Korea" verwende ich oft auch als Abkürzung fur Südkorea. 4 Für Südkorea äußert sich das etwa darin, daß der Vater des koreanischen Wirtschaftswunders, General und Präsident Park Chung Hee die Arbeiter als Industrie- und Exportsoldaten bezeichnete (Han und Ling 1998, 64). 5 Es gibt auch Schätzungen, wonach die Rüstungslasten kurz vor dem Ende der Sowjet-Union ungefähr ein Viertel des Bruttosozialprodukts ausmachten (Aslund 1995, 43; World Bank 1996, 4).

Südkorea und Rußland · 1 7 7

Militarisierungsindikatoren gehörten beide Länder, Südkorea und die Sowjet-Union, zu den weltweit fuhrenden Staaten. Weil bei einem Indikator Südkorea, bei dem anderen die Sowjet-Union als die stärker militarisierte Gesellschaft erscheint, weil durchaus umstritten ist, welcher Indikator für internationale Vergleiche brauchbarer ist (Payne 1989), sollte man die Unterschiede zwischen Südkorea und der Sowjet-Union auf den Einzelindikatoren der Militarisierung nicht überinterpretieren.6 Wenn Südkorea und die Sowjet-Union militarisierte Autokratien waren, dann scheiden sowohl der autokratische Charakter des Regimes als auch der Militarisierungsgrad der Gesellschaften als potentielle Bestimmungsgründe der extrem unterschiedlichen Wirtschaftsentwicklung aus. Wenn man international vergleichende Regressionsanalysen zum Wirtschaftswachstum7 betrachtet, dann fallen vor allem drei robuste Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung auf. Erstens gibt es sog. Vorteile der Rückständigkeit, denn die Nachzügler der weltwirtschaftlichen Entwicklung können von den fortgeschrittenen Gesellschaften Produktionstechnologien und Organisationstechniken übernehmen und deshalb schneller als die weltwirtschaftlichen Pioniere wachsen. Außerdem können sie durch Reallokation der Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in andere Wirtschaftszweige Produktivitätsfortschritte erzielen. Weil umstritten ist, ob sich die Vorteile der Rückständigkeit auf alle Gesellschaften erstrecken oder nur auf diejenigen, die nicht allzu rückständig sind (Baumol 1994), ist allerdings nicht klar, ob dieser Faktor die Sowjet-Union oder Südkorea hätte begünstigen sollen. In den 50er und 60er Jahren war zweifellos die südkoreanische Wirtschaft rückständiger als die sowjet-russische, seit den 90er Jahren ist es eher umgekehrt. Grundsätzlich hätten Vorteile der Rückständigkeit der Sowjet-Union und Südkorea zugute kommen können. Aber die Russen haben sie im Gegensatz zu den Koreanern jedenfalls in der zivilen Volkswirtschaft nicht realisiert. Mit Olson (1996) kann man deshalb den potentiellen Charakter der Vorteile der Rückständigkeit hervorheben und vermuten, daß institutionelle Unterschiede für deren Realisierung verantwortlich sein könnten.8

6

Für den militärischen Partizipationsgrad als besseren Militarisierungsindikator bei unterschiedlichem Entwicklungsgrad und Regime spricht seine bessere Vergleichbarkeit. Verteidigungsausgaben werden gem anderswo im Haushalt versteckt. In manchen Ländern hat zeitweise auch ausländische Militärhilfe zur Senkung der inländischen Ausgaben beigetragen, ohne damit schon den Militarisierungsgrad der Gesellschaft zu reduzieren. Das geschieht auch nicht, wenn man den Militärhaushalt durch besonders schäbige Bezahlung von Wehrpflichtigen entlastet. 7 Siehe z.B. Barro und Sala-i-Martin (1995), Baumol (1994), Levine und Renelt (1992), World Bank (1993, 51). 8 Nach Olson (1996; Olson, Sarna und Swamy 2000) kann weder die neoklassische noch die endogene Wachstumstheorie erklären, daß nur eine Teilmenge der Entwicklungsländer aufholt und von den Vorteilen der Rückständigkeit profitiert. Nach der neoklassischen Theorie sollte Konvergenz in Anbetracht der abnehmenden Erträge von Investitionen in den wohlhabenden Ländern der Nonnalfall sein. Nach der endogenen Wachstumstheorie mit leaming-by-doing, Extemalitäten und konstanten oder gar steigenden Investitionserträgen sollten Konvergenzen noch seltener auftreten, als man beobachten kann. Olson, Sarna und Swamy (2000) zeigen in einer ökonometrischen Analyse, daß Rechtssicherheit, eine funktionierende Bürokratie, keine Korruption, keine Enteignung durch Verstaatlichung und keine Mißachtung vertraglicher Verpflichtungen seitens des Staates erklären können, warum manche Länder aufholen und andere nicht.

1 7 8 · Erich Weede

Zweitens gelten hohe Investitionsquoten als wichtige Determinante des Wirtschaftswachstums. Südkorea hatte zwar noch nicht in den 60er, aber seit den 70er Jahren im globalen Vergleich auffällig hohe Investitionsquoten (vgl. Taylor und Jodice 1983, 46). Sowjetische Daten sind nicht ohne weiteres mit westlichen oder koreanischen vergleichbar und vielleicht auch suspekt (Winiecki 1988), aber qualitative Evidenz (Maddison 1969; Pryor 1985) spricht nicht für ein quantitatives Investitionsdefizit in der Sowjet-Union.9 Auch diese potentielle Determinante unterschiedlicher Wirtschaftsentwicklung in Sowjet-Rußland und Südkorea bringt uns nicht weiter. Drittens gilt die unterschiedliche Humankapitalausstattung von Gesellschaften als Faktor, der die wirtschaftliche Entwicklung und das Ausnutzen der potentiellen Vorteile der Rückständigkeit wesentlich beeinflußt. Weil die Einschulungsquoten in den 60er Jahren in Südkorea noch etwas niedriger als in Sowjet-Rußland waren, seit Ende der 70er Jahre aber höher (Taylor und Jodice 1983, 163), weil die Analphabetenquote in der Sowjet-Union noch niedriger als in Südkorea war (Taylor und Jodice 1983, 169-170), weil noch in den 70er Jahren ein größerer Teil der sowjetischen Bevölkerung als der südkoreanischen Bevölkerung tertiäre Bildungseinrichtungen besuchte (Taylor und Jodice 1983, 166-167), entsteht der Eindruck, daß die sowjet-russische Humankapitalausstattung -jedenfalls solange man von der Qualität sowjetischer Ausbildung abstrahiert - zu einem schnelleren Wirtschaftswachstum als in Südkorea hätte fuhren müssen. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall gewesen. Die Orientierung an den robustesten Befunden der quantitativen Wachstumsanalysen kann den sowjet-russisch-koreanischen Kontrast nicht erklären.

III. Kontraste Der offensichtlichste institutionelle Unterschied zwischen Südkorea und der SowjetUnion bestand im unterschiedlichen Ausmaß der Tolerierung des Privateigentums. Die Bedeutung individueller Eigentumsrechte als Arbeitsanreiz wurde schon von Adam Smith (1776/1990, 319) erkannt, wo man folgende von den Kommunisten in Rußland vernachlässigte Einsicht nachlesen kann: „Jemand, der kein Eigentum erwerben kann, kann auch kein anderes Interesse haben, als möglichst viel zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten." Anders ausgedrückt: Die Abschaffung oder radikale Begrenzung des Privateigentums muß die Drückebergerei zum Volkssport machen. Eine dynamische Wirtschaftsentwicklung wird damit unmöglich. Ein weiterer Unterschied bezieht sich speziell auf das Eigentum an Produktionsmitteln. Dessen Überwindung und die Ersetzung der Anarchie des Marktes durch die Zentralverwaltungswirtschafi galt in der Sowjetunion ja als die zentrale sozialistische Errungenschaft. Schon kurz nach Lenins Machtergreifung hat Mises (1920, 90) vorhergesagt, daß die Abschaffung des Privateigentums an Produktionskapital auch die Abschaffung freier Faktormärkte impliziert; er hebt hervor: „Da kein Produktivgut im Tauschverkehr umgesetzt wird, wird es unmöglich, Geldpreise der Produktivgüter zu 9

Durchaus angebracht sind allerdings Zweifel daran, ob in der UdSSR vernünftig und ertragsorientiert investiert wurde.

Südkorea und Rußland • 179

erkennen. Die Rolle, die das Geld in der freien Wirtschaft auf dem Gebiete der Produktionsrechnung spielt, kann es in der sozialistischen Gemeinschaft nicht behalten. Die Wertrechnung in Geld ist hier unmöglich." An anderer Stelle ergänzt Mises (1920, 99): „Jeder Schritt, der uns vom Sondereigentum an den Produktionsmitteln und vom Geldgebrauch wegfuhrt, fuhrt uns auch von der rationellen Wirtschaft weg."10 In Südkorea blieb im Gegensatz zu Sowjet-Rußland das Privateigentum an Produktionsmitteln erhalten. Wenn Mises Recht hat und Privateigentum an Produktionskapital eine notwendige Voraussetzung für freie Faktormärkte, eine rationale Ressourcenallokation und damit effiziente Investitionen ist, dann war die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjet-Union jedenfalls für diejenigen, die die richtige Theorie - Mises statt Marx - kannten, grundsätzlich vorhersehbar. Sie ist auch von Mises (1927, 134) vorhergesehen worden, denn er schrieb: „Hätten die Russen kapitalistische Politik gemacht wie die Amerikaner, sie wären heute das reichste Volk der Welt. Despotie, Imperialismus und Bolschewismus haben sie zum ärmsten Volk gemacht. Nun suchen sie in der ganzen Welt Kapital und Kredite." Neben der radikalen Begrenzung des Privateigentums zeichnete sich die sowjetrussische Wirtschaft durch Planung, also Koordination durch Befehl und damit durch die radikale Einschränkung der Freiheit aus. Dabei denke ich nicht mal in erster Linie an die Lagerinsassen oder die Opfer des Stalinismus (Courtois 1998; Rummel 1994), sondern ich denke an die alltäglichen Beschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit, die Zentralverwaltungswirtschaften nicht nur faktisch charakterisieren, sondern dort auch herrschen sollen, weil Pläne zu erfüllen sind. Derartige Freiheitsbeschränkungen sind worauf Hayek (1945, 1971, 1980-81) immer wieder hingewiesen hat - unproduktiv. Denn Freiheitsbeschränkungen vereiteln die Verwendimg eines großen Teils des gesamtgesellschaftlich vorhandenen Wissens. Es ist davon auszugehen, daß in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften jeder nur einen kleinen Teil des Wissens in seinem Kopfe hat. Unter Wissen ist dabei nicht nur theoretisches oder akademisches Buchwissen zu verstehen, sondern auch das Wissen des Handwerkers, das Wissen des Bauern darüber, auf welchem seiner Felder was am besten wächst, das Wissen des Managers darüber, welcher Lieferant pünktlich und zuverlässig Qualitätsprodukte liefert. Keine Zentralinstanz oder Behörde kann dieses Wissen auch nur speichern und schon gar nicht nutzen. In einer dezentralen, spontanen oder marktwirtschaftlichen Ordnimg aber gibt es bei leistungsabhängiger Entlohnung und der oben schon erwähnten Möglichkeit des Eigentumserwerbs Anreize, das eigene Wissen im Interesse der Abnehmer eigener Güter und Leistungen zu nutzen. Wer es nicht tut, trägt selbst den Schaden. Damit wird das Anreizproblem gelöst. Genauso wichtig ist es aber, daß die Menschen die Freiheit haben, nach eigenem Urteil zu handeln. Wem der Freiheitsspielraum des Arbeitnehmers zu 10 Die Debatte, ob es Substitute für Privateigentum an Produktionsmitteln und Knappheitspreise auch auf sozialistischen Faktormärkten geben könnte, will ich hier nicht mal skizzieren (vgl. dazu Jasay 1990; Kasper und Streit 1998, 420-422). Es spricht wenig dafür, daß solche Substitute in der SowjetUnion funktionierten. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Irrationalität sowjetischer Preisgestaltung ist, daß der 7000 km-Flug von Moskau nach Wladiwostok in Sowjet-Zeiten weniger als die Taxi-Fahrt vom Moskauer Zentrum zum Flughafen kostete. Generell waren Energie-, Wohnungs-, manche Nahrungs- und Transportpreise so niedrig, daß man sie fast wie freie Güter behandelte.

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gering ist, den hindert in einer Marktwirtschaft - auch in Südkorea, nicht aber in der Sowjet-Union - der Staat nicht daran, sich selbständig zu machen. In der Planwirtschaft dagegen werden nicht eingeplante Kenntnisse und Fertigkeiten nutzlos. Obwohl es in Südkorea durchaus einen interventionistischen Staat gab (Amsden 1989), kann kein Zweifel bestehen, daß das Land freier als Sowjet-Rußland war.11 Zu den Auswirkungen der wirtschaftlichen Freiheit hat Hayek (1971, 41, 42) folgendes geschrieben: „Die Vorteile, die ich aus der Freiheit ziehe, sind daher weitgehend das Ergebnis des Gebrauchs der Freiheit durch andere und größtenteils das Ergebnis eines Gebrauchs der Freiheit, den ich selbst nie machen könnte ... Es ist wichtiger, daß alles von irgend jemand versucht werden kann, als daß alle dasselbe tun können ... Das wesentliche ist, daß die Wichtigkeit der Freiheit, bestimmtes zu tun, nichts mit der Anzahl der Menschen zu tun hat, die dieses tun wollen: sie mag damit sogar fast im umgekehrten Verhältnis stehen." Implizit wird hier darauf verwiesen, daß eigennützige Menschen nicht nur ein Interesse an der eigenen Freiheit, sondern auch an der Freiheit anderer haben müssen. Besonders wichtig ist die Freiheit auch als Hintergrundbedingung von technischem Fortschritt und Innovation. Mises (1927, 48) begründet das so: „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, daß eine kleine Minderheit von Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog. Wenn man der Mehrheit das Recht gibt, der Minderheit vorzuschreiben, was sie denken, lesen und tun soll, dann unterbindet man ein für alle Male den Fortschritt." Natürlich ging in Sowjet-Rußland die Kontrolle des Denkens, Experimentierens und Tuns und damit indirekt die „Fortschrittkontrolle" nicht von der Mehrheit, sondern von den herrschenden Parteikadern bzw. der Nomenklatura aus. Für ein innovationsfreudiges Klima ist damit nichts gewonnen. Oben hatte ich darauf hingewiesen, daß die Humankapitalausstattung Sowjet-Rußlands eher besser als die Südkoreas war, daß quantitative Unterschiede in dieser Ausstattung das unterschiedliche Wirtschaftswachstum beider Ländern nicht erklären können. Aber ca. 80% aller südkoreanischen Studenten studier(t)en an privaten Hochschulen, weshalb die privaten Ausgaben im tertiären Bildungsbereich auch die staatlichen übertreffen. Obwohl Südkorea verhältnismäßig viel Geld für Forschung und Entwicklung ausgibt, stammen 80% aus privaten Mitteln (World Bank 1998, 9, 38). Der Vergleich zwischen Sowjet-Rußland, wo Privatinitiative ja unterbunden war, und Südkorea ist mit der These tendenziell größerer Produktivität von Ausbildung und Forschung bei privater Finanzierung kompatibel. In Ländern, die - wie Sowjet-Rußland oder Südkorea - noch potentielle Vorteile der Rückständigkeit genießen, ist eine der wichtigsten Arten der Freiheit, in wirtschaftlich, technisch und wissenschaftlich fortgeschrittenere Länder reisen zu dürfen. In rückständigen Ländern ist Imitation, Wissens- und Technologieimport schon Innovation. Diese Art der „Innovation" setzt enge und freie Kontakte mit den Ländern voraus, von denen 11 In Anbetracht der extremen Freiheitsbeschränkungen in der Sowjet-Union bleibt die komparative Aussage auch richtig, wenn man beachtliche Freiheitsbeschränkungen in Südkorea zugibt. In der ökonometrischen Studie von Heckelman und Stroup (2000) wird das Ausmaß der Freiheit in Südkorea durch die Gewichtung implizit übertrieben.

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Russen und Koreaner lernen konnten, d.h. faktisch mit Amerika, Japan und Westeuropa. In dieser Beziehung hatten Südkoreaner immer viel mehr Freiheit als Russen zur Zeit der Sowjet-Union. Daß wirtschaftliche Freiheit und die Verbesserung der wirtschaftlichen Freiheit eine wesentlich zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums beitragende Bedingung ist, wird in den letzten Jahren zunehmend auch durch ökonometrische Studien bestätigt.12 Nicht nur, aber auch in Korea war relativ mehr Freiheit mit schnellerem Wachstum, nicht nur, aber auch in Sowjet-Rußland waren Freiheitsdefizite mit Wachstumsdefiziten assoziiert. Die schädlichen Auswirkungen fehlenden Privateigentums und der Freiheitsdefizite konnten zuerst in der Landwirtschaft beobachtet werden. Maddison (1969, 115, 132, meine Übersetzung) erkannte die Mängel der sowjet-russischen Landwirtschaft schon klar, als ihm die Schwächen der sowjetischen Industriepolitik noch nicht bewußt waren; er schrieb, „daß es außerordentlich schwer ist, die staatliche Landwirtschaft effizient zu gestalten", und verwies darauf, daß auf den drei Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, die die Kolchos- und Sowchosbauern privat bewirtschaften durften, ca. 40% des Fleisches, der Milch und des Gemüses und sogar zwei Drittel aller Eier und Kartoffeln erzeugt wurden. Die sowjetische Agrarpolitik hatte auch das Ziel, die städtische Bevölkerung mit billigen Nahrungsmitteln zu versorgen. Deshalb wurden die 'terms of trade' zuungunsten der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung verzerrt. Denn die sollte helfen, die forcierte Industrialisierung zu finanzieren. Südkorea gehörte zu den ganz wenigen Entwicklungsländern, die schon in den frühen 70er Jahren von der Diskriminierung der Landwirtschaft zugunsten der Städte und der Industrie abgegangen sind (Krueger 1992, 53-61). Während Sowjet-Rußland auch durch 'urban bias' bei der Preisgestaltung charakterisiert war, galt dies in Südkorea nur in den 50er und 60er Jahren. Generell gelten 'urban bias' und die Verzerrung der Preise zwischen Stadt und Land als Entwicklungsbremsen.13 Die Misere der russischen Landwirtschaft ist immer noch nicht überwunden. Nur 6 Prozent des Bodens werden von privaten Bauern bewirtschaftet, 3 Prozent sind eine Art Schrebergärten. Den Staats- und Kollektivfarmen fehlen Benzin, Dünger und Maschinen. Die Getreideernte erreichte 1998 einen neuen Tiefpunkt (Rybak 2000). Ein weiterer Unterschied zwischen Sowjet-Rußland und Südkorea betrifft die relative Offenheit beider Volkswirtschaften zum Rest der Welt. Schon der Gründer der SowjetUnion, Lenin, war von der (notwendigerweise relativ autarken) deutschen Kriegswirtschaft im 1. Weltkrieg beeindruckt. Stalin wollte später den Sozialismus in einem Lande aufbauen. Die Großflächigkeit und der Rohstoffreichtum der Sowjet-Union haben den Autarkiegedanken ebenfalls gefordert. Im kleinen, rohstoffarmen, bis mindestens in die 70er Jahre stark von den USA abhängigen Südkorea war Autarkie nicht denkbar. Es war verhältnismäßig leicht, den Fehler der Binnenorientierung zu vermeiden.

12 Beach und Davis (1999, 10), Haan und Siermann (1998), Edwards (1998), Goldsmith (1997), Gwartney, Lawson und Block (1996, 109), Knack (1996), Knack und Keefer (1995), Torstensson (1994). 13 Vgl. Bates (1983), Bradshaw (1987), Krueger (1992), Lipton (1977), Weede (1987).

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Taylor und Jodice (1983, 226-228) geben fur die Mitte der 60er Jahre einen südkoreanischen Außenhandelsanteil am Bruttosozialprodukt von 21%, für Ende der 70er Jahre schon von über 62% an. Bei der Sowjet-Union sind es zum ersten Zeitpunkt knapp 10, zum zweiten knapp 11%. Der Unterschied zwischen beiden Ländern in den 60er Jahren und damit im wesentlichen zu Beginn des koreanischen Wirtschaftswunders kann noch weitgehend durch den Kontrast zwischen einem kleinen und einem großen Land erklärt werden. Für den Unterschied Ende der 70er Jahre gilt das nicht mehr. Da wird die deutliche Weltmarktorientierung der Südkoreaner sichtbar. Mit Hilfe der Weltmarktorientierung wurde Südkorea auch weitgehend vor den Folgen seiner staatsinterventionistischen Industriepolitik bewahrt. Zweifellos hat es in Südkorea keine freie Marktwirtschaft im Sinne von Lehrbuchidealen gegeben.14 Subventionen, Zollschutz und vom Staat vermittelte billige Kredite an Großkonzerne (Chaebols) waren lange Zeit bevorzugte Mittel der Industriepolitik. Diese Instrumente dienten nicht wie im Westen der Strukturerhaltung und sozialpolitischen Zielen, sondern ähnlich wie in der Sowjet-Union sollte die Wirtschaftspolitik auch in Südkorea letztlich der Sicherheitspolitik, der Erlangung militärischer Stärke, dienen. Für Südkorea hieß das folgendes. Exporte sollten den mit dem Vietnamkrieg sich abzeichnenden Verlust amerikanischer Hilfe kompensieren. Deshalb förderte der koreanische Staat vor allem erfolgreiche Exporteure. Das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Politik in Korea kann bis in die 80er Jahre durchaus als Günstlingswirtschaft bezeichnet werden. Aber Günstling des Regimes mußte man in der Regel durch Erfolge auf dem Weltmarkt werden, d.h. vor allem auf dem amerikanischen Markt. Auf dem Weltmarkt waren selbst die größten koreanischen Konzerne kleine Fische, d.h. dem Wettbewerb und davon ausgehendem Druck zur Verbesserung der Qualität und zur Preissenkung unterworfen. Auf dem Weltmarkt waren koreanische Regierungen zu schwach, um ihre Unternehmen zu schützen. Die mußten sich schon selber helfen. Während die sowjetisch-russischen Unternehmen bei der Mangelwirtschaft im Sowjet-Block immer Abnehmer fanden, mußten Koreaner mit Japanern und anderen auf wohlhabenden und wählerischen Märkten konkurrieren. Nicht nur für Südkorea und Sowjet-Rußland, aber auch für diese Länder gilt, daß Außenorientierung von Ländern, die potentiell Vorteile der Rückständigkeit genießen, hilfreich ist. Das haben auch global vergleichende ökonometrische Studien bestätigt.15

IV. Ausblick Die Sowjet-Union ist untergegangen. Das russische Kernland ist ein selbständiger Staat geworden. Der schon zu Sowjet-Zeiten begonnene Niedergang der russischen Volkswirtschaft (Murreil und Olson 1991) hat sich seit Beginn des Transformationsprozesses noch beschleunigt. Es gibt Schätzungen, wonach die russische Volkswirtschaft allein bis zur Mitte der 90er Jahre um die Hälfte geschrumpft ist und damit mehr als die sowjetische durch die Leiden des 2. Weltkrieges oder die ameri14 Vgl. Amsden (1989), Lie (1998), Weede (2000, 9. Kapitel), World Bank (1993). 15 Vgl. Dollar (1992), Edwards (1998), Greenaway und Nam (1988), World Bank (1993 und 1998, 158).

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kanische durch die Weltwirtschaftskrise (Economist 1997, 5; World Bank 1996, 26). Wenn man den russischen Status quo ganz kurz charakterisieren will - mehr Details findet man in Kapitel 10 meines Buches „Asien und der Westen" ( Weede 2000) - , dann könnte man ihn durch eine höchst problematische Abart der kapitalistischen Marktwirtschaft und demokratische Ansätze bei enormen Defiziten der Rechtsstaatlichkeit kennzeichnen. Das impliziert unsichere Eigentums- und Verfugungsrechte und hohe Transaktionskosten in Rußland ( Winiecki 1996). Ohne sichere Eigentums- und Verfugungsrechte aber kann eine kapitalistische Marktwirtschaft sich weder entfalten noch gedeihen.16 Die politische Liberalisierung ist kein Substitut fur Rechtsstaatlichkeit. Nach Hillman und Ursprung (1999) bedeutet sie in Rußland bisher nur, daß mehr und mehr Menschen sich an der Auseinandersetzung um Renten und Privilegien beteiligen können (wobei es allerdings nur wenige Sieger gibt), daß mehr Energien in Verteilungskämpfe investiert werden statt in den Versuch, die Bedürfiiisse anderer Marktteilnehmer durch produktive Anstrengungen zu befriedigen. Sichere Eigentums- und Verfugungsrechte lassen sich nicht von heute auf morgen durchsetzen. Das sowjetische Erbe ist da eine viel schlimmere Belastung als die japanische Kolonialzeit oder die amerikanische Besatzungszeit nach Entwaffnung der Japaner im Süden Koreas. Die Menschen, nicht zuletzt die Verwaltungsbeamten und die Richter17, müssen sich erst langsam an den Rechtsstaat gewöhnen. Gesetzgebung allein schafft diese Gewöhnung nicht. Der Sozialismus hat den Russen den Respekt vor dem Eigentum anderer geradezu aberzogen. Wo die Produktionsmittel und die Produktion dem Staat gehören, da gibt es keine Privateigentümer, die ein eigennütziges Interesse an der Verhinderung von Diebstahl haben. Nach Olson (1995, 2000) trugen im Westen und natürlich auch in Südkorea - die Privateigentümer und nicht etwa der Staat den größten Teil der Kosten des Eigentumsschutzes. Beispiele dafür sind Schlösser und Riegel, aber auch privat finanzierte Werkschützer. Private Opfer von Eigentumsdelikten haben auch ein Interesse daran, mit Staatsorganen bei der Kriminalitätsbekämpfung zu kooperieren. In Wirtschaftssystemen des sowjetischen Typs dagegen haben der Dieb des Volkseigentums und der Käufer der entwendeten Produkte und vielleicht auch noch bestochene Beamte ein gemeinsames Interesse daran, daß der Diebstahl nicht entdeckt wird. Man kann in der systematischen Vernichtung des Rechtsempfindens ein besonders übles Erbe des Sozialismus sehen.18 Korea und Rußland unterscheiden sich ganz massiv in ihrem Rohstoffreichtum. In dieser Beziehung ist Südkorea arm und Rußland ausgesprochen reich. Die neuere Forschung (Soysa 2000) zeigt, daß Rohstoffreichtum zwar nicht immer, aber oft negative statt positiver Auswirkungen auf die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung der Völker hat. Rohstoffreichtum heizt interne Verteilungskämpfe an, bei denen allzu oft 16 Vgl. Jones (1981/1991), Olson (2000), Pipes (1999), Weede (2000). 17 Daß schlecht und verspätet bezahlte Beamte und Richter für Korruption anfällig werden, ist eine Selbstverständlichkeit. 18 Yavlinsky (1998, 71) berichtet von einer Befragung, wonach 76% aller Russen Unehrlichkeit für einen Weg zum Erfolg halten, aber nur 39% harte Arbeit. Wer weiß, wie Rußlands Plutokraten die öl- und Gasindustrie und die Staatskasse plündern (Wolosky 2000), muß sich wundem, daß die Umfrageergebnisse nicht noch schlimmer aussehen.

184 · Erich Weede kleine Gruppen sich auf Kosten des Ganzen reiche Beute sichern. In Rußland werden die Sieger bei den postkommunistischen Verteilungskämpfen oft als Oligarchen bezeichnet. Der enorme Niedergang Rußlands und der kontrastierende enorme Aufstieg Südkoreas beweisen nicht, daß Rußland auf ewig zur Armut verdammt ist, daß der Aufstieg Koreas unaufhaltsam ist. Aber die Wirtschaftsgeschichte beider Gesellschaften zeigt eindrucksvoll, was man durch gute Wirtschaftspolitik und die Schaffung eines adäquaten Ordnungsrahmens erreichen kann und was man durch schlechte Wirtschaftspolitik auf der Basis falscher Theorien verspielen kann.

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Zusammenfassung Am Anfang oder in der Mitte des 20. Jahrhunderts wäre es absurd gewesen, das aufstrebende zaristische Rußland oder die mächtige Sowjet-Union mit dem armen Korea oder Südkorea zu vergleichen. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben Südkorea und Rußland kaufkraftbereinigt ein annähernd gleich großes Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet. Das Pro-Kopf-Produkt in Südkorea ist drei- bis viermal so hoch wie in Rußland. Natürlich ist der unterschiedliche Entwicklungserfolg beider Länder auf russischer Seite weitgehend sowjetisches Erbe. Die so massiv unterschiedliche Wachstumsgeschichte beider Länder ist um so erstaunlicher, weil beide Länder in bezug auf klassische Determinanten des Wachstums - wie die sog. Vorteile der Rückständigkeit, Investitionen und Humankapitalausstattung - ähnlich günstige Ausgangsbedingungen hatten. Auch in bezug auf den autokratischen Charakter des Regimes und den Militarisierungsgrad der Gesellschaft ähnelten beide einander. Aber Unterschiede in bezug auf die Eigentumsrechte, den Zentralisierungsgrad der Entscheidungsbefugnisse, daraus resultierende Wissensnutzungschancen oder -defizite, wirtschaftliche Freiheit und Innovationschancen, „urban bias" und Exportorientierung der Volkswirtschaft können die unterschiedliche Entwicklung beider Länder erklären. Vor allem in bezug auf die Unsicherheit der Eigentumsrechte wird sich das sowjetische Erbe in Rußland nicht leicht überwinden lassen. Die Tatsache, daß Rußland ganz im Gegensatz zu Südkorea ein ausgesprochen rohstoffreiches Land ist, verleitet zu Verteilungskämpfen, anstatt zur institutionellen oder wirtschaftlichen Entwicklung beizutragen.

Summary South Korea and Asia: How to Grow Rich or to Remain Poor At the beginning or even in the middle of the 20th century, a comparison between rising Czarist Russia or, later, the mighty Soviet Union emerging victorious from World War Π and poor Korea would have looked absurd. At the end of the 20th century, however, the South Korean and Russian economies are about equal in size according to purchase-power corrected GDP. South Korean per capita incomes are in between three and

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four times as high as Russian incomes. Of course, the difference in success of both countries is largely due to the communist experiment in Russia. The divergent economic performance of both countries is all the more astonishing because both countries should have benefited from background conditions generally believed to promote growth: advantages of backwardness, massive investment and strong human capital formation. Moreover, both societies were quite similar in regime characteristics, i.e., they were characterized by autocracy and militarization of society. There are, however, strong differences concerning property rights, the degree of centralization of economic decision-making, capabilities to exploit knowledge and to innovate, economic freedom, urban bias and export orientation. These differences explain the divergent economic performance of both countries. The Soviet heritage of insecure property rights and high transaction costs is unlikely to be overcome soon. Russia's rich endowment with natural resources seems to induce distributional conflict instead of contributing to institutional and economic development.

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Jörg Markt

Knut Wicksell: Zum Geburtstag des Begründers einer kritischen Vertragstheorie „Der Zwang ist an sich immer ein Uebel." Knut Wickseil (1896,114)

I. Einleitung Im Jahr 2001 jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag des schwedischen Ökonomen Knut Wickseil - gleichzeitig jährt sich auch zum 75. Mal sein Todestag. Grund genug, sich das Werk des in „den inneren Kreis der Unsterblichen erhobenen" (Samuelson 1988, 25), in die „Walhalla der Ökonomie" aufgestiegenen Wissenschaftlers einmal unter heutigem Blickwinkel anzuschauen. Der Betrachtung liegt nicht das gesamte Werk Wicksells zugrunde, sondern ausschließlich die Leistungen Wickseils im Zusammenhang mit seinen „Prinzipien der gerechten Besteuerung" (1896). Zunächst (Kapitel Π) wird kurz die Person Knut Wickseil, sein wissenschaftliches Werden, aber auch sein gesellschaftliches Wirken vorgestellt. Danach werden, den Darstellungen Wicksells folgend, das Prinzip der Einstimmigkeit (Kapitel ΙΠ.1) und dessen Grenzen bei Verteilungsfragen (Kapitel ΙΠ.2) dargestellt. In Kapitel IV geht der Beitrag der Frage nach, ob Wicksells Konzeption zur Rechtfertigung der Besteuerung als Grundstein einer kritischen Vertragstheorie betrachtet werden kann. Eine kritische Vertragstheorie basiert im Wesentlichen auf drei Elementen: Das erste Element besteht aus der konsequenten Rechtfertigung staatlichen Handelns auf Basis des Individualismus. Das zweite Element soll sicherstellen, daß Minderheiten vor der Ausbeutung durch einflußreiche Gruppen, die die hoheitliche Staatsgewalt zu ihrem Zwecke instrumentalisieren, geschützt werden. Eine kritische Vertragstheorie muß sicherstellen, daß die Steuerung des politischen Prozesses und damit des staatlichen Handelns mittels eines gerechten Verfahrens, an dem sich alle Individuen gleichermaßen beteiligen können, vonstatten geht. Das dritte Element ist der Umgang mit der Verteilungsfrage, bei der die vertragstheoretische Argumentation möglicherweise an ihre Grenzen stößt. Im vierten Kapitel sollen die im Wicksellschen Werk enthaltenen Grundzüge einer solchen Vertragstheorie herausgearbeitet werden. Eine Ursache für die geringe Bedeutung des Prinzips der Einstimmigkeit in der Praxis sind die mit seiner Anwendung verbundenen Kosten. Eine berechtigte Kritik an Wicksells Vertragstheorie ist daher, daß er die Entscheidungskosten nicht explizit berücksichtigte. Im fünften Kapitel soll daher der Frage nachgegangen werden, von welchen Faktoren die Entscheidungskosten abhängen. Die skizzierten Möglichkeiten zur Senkung der Entscheidungskosten sind gleichzeitig ein Ausblick, in welche Richtung zukünftige ordnungsöko-

190 · JörgMärkt nomische Forschung, die die allgemeine Zustimmungsfähigkeit kollektiven Handelns als Grundlage wählt, gehen kann.

II. Knut Wickseil (1851-1926) Johati Gustav Knut WickselÛ wurde am 20. Dezember 1851 in Stockholm als jüngstes von sechs Kindern der Eheleute Johan und Christina Wickseil geboren. Seine Mutter starb, als er sieben Jahre alt war, mit fünfzehn Jahren verlor er seinen Vater. Daraufhin kam er unter den Einfluß eines pietistischen Pastors der Schwedisch-Lutherischen Kirche. Er wurde ein gläubiger Christ, bis er nach einer persönlichen Krise im Jahr 1874 zum Freidenker wurde und dem christlichen Glauben völlig abschwor. 1866 begann er zunächst ein Studium der Mathematik und Physik. Mit 20 machte er seinen ersten Abschluß in den Fächern Mathematik, Physik und Astronomie. Nach seinem Studium galt sein Interesse verstärkt den Sozialwissenschaften. „Sein gutes Herz [..], das warm für die ökonomisch und sozial Bedrückten schlug" (Sommarin 1931, 222), zog ihn zur Nationalökonomie, in der er auch promoviert wurde. Seinen Lebensunterhalt sicherte er sich, oftmals mehr schlecht als recht, durch Verdienste als Privatlehrer und Unterstützungen seitens seiner Geschwister und anderer Gönner. Erst im Alter von 50 Jahren erhielt er einen außerordentlichen Lehrstuhl an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität in Lund mit der Aufgabe, Vorlesungen in Ökonomie und Steuerrecht zu halten. Von 1904 an bis zu seiner Pensionierung zwölf Jahre später bekleidete er ein Ordinariat in Lund. Bei seinen Forschungsaufenthalten hielt er sich unter anderem in London auf, wo er auf die Wissenschaftler John Elliott Cairnes, Stanley Jevons, Léon Walras und Henry Sidgwick und auf prominente britische Labour-Politiker - u.a. auf Karl Kautsky - traf. Bei einem Aufenthalt in Wien hörte er Vorlesungen von Carl Menger, in Berlin die von Adolph Wagner. Sein wissenschaftliches Werk ist in weiten Teilen von der sozialen Frage geprägt. Sein Artikel „Kapitalzins und Arbeitslohn" (Wickseil 1892) bildete mit dem darauf folgenden Werk „Über Wert, Kapital und Rente" ( Wickseil 1893) die Grundlage einer an der Grenzproduktivitätstheorie orientierten Verteilungstheorie. Diese wollte er auch 1894 als Dissertation einreichen, was ihm jedoch verwehrt wurde. Erst 1896 reichte er dann den ersten Teil der „Finanztheoretischen Untersuchungen" - „Zur Lehre von der Steuerincidenz" ( Wickseil 1896, 1-75) als solche ein. Sie wurde mit magna cum laude bewertet. Während dieser erste Teil die Pflicht darstellte, scheint der zweite Teil des Werkes für Wickseil die Kür gewesen zu sein. Basierend auf einem unter Pseudonym ( Wickseil alias Sven Trygg 1894/1959) bereits 1894 veröffentlichten Beitrag, entwickelte er in diesem zweiten Teil „Prinzipien einer gerechten Besteuerung" - so auch der Titel dieses zweiten Teils. Darin argumentiert er, daß Steuern nur bei einstimmiger Be-

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Zum Leben von Knut Wicksell siehe auch die ausführlicheren Arbeiten von Lindahl (1958), Gardlund (1958), Uhr (1987).

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willigung durch die Bevölkerung erhoben werden dürfen.2 Diese These wurde später von seinem Schüler Erik Lindahl (1919) in dessen Habilitationsschrift weiterentwikkelt.3 Daneben weist er in diesem Teil auf Fehlentwicklungen in der schwedischen Gesellschaft hin. Später hat Wicksell sich verstärkt der Forschung im Bereich der Geldtheorie zugewandt. Aus dieser Zeit ist vor allem das Werk „Geldzins und Güterpreise" {Wickseil 1898) hervorzuheben. Die Arbeiterklasse hätte den Gesellschaftskritiker, der Wicksell nun einmal war, gerne als einen ihrer Vordenker und Vorkämpfer gesehen (Sommarin 1931, 232). Wicksell aber war ein Querdenker, der ungern Rücksichten nahm, weder auf die herrschende Klasse noch auf die der Arbeiter. Er wehrte sich daher dagegen, sich für eine bestimmte Partei vereinnahmen zu lassen. Vielmehr versuchte er immer wieder, Akzente in der allgemeinen politischen Debatte zu setzen und wurde seinerzeit auch vermittelt durch die Zeitungen wahrgenommen. Im Jahr 1880 hielt er beispielsweise eine Vorlesung über den Alkoholismus bei Arbeitern und löste damit heftige Diskussionen aus. 1892 mischte er sich in die Militärpolitik Schwedens ein, indem er die Frage stellte „Can Sweden Protect her Independence?" (Gardlund 1958, 141 f.). Wicksell verneinte, wie die meisten seiner Zuhörer, die Frage und kam zu dem Schluß, daß, wenn Schweden schon nicht in der Lage sei, sich aus eigenen Mitteln zu verteidigen, es die für das Militär vorgesehenen Mittel in andere nationale Verwendungen lenken solle. Zum Schutz gegen Überfälle solle man sich in das Russische Reich eingliedern. Sein Lebenswerk war von einer ganzen Reihe von Konflikten begleitet, die ihm nicht nur Freunde einbrachten. Ein Beispiel ist der Konflikt mit einem anderen großen schwedischen Ökonomen, dem konservativen Gustav Cassel, den Wicksell für intellektuell arrogant und selbstbezogen hielt und dessen Werk er kritisierte.4 Samuelson (1988, 33) charakterisiert Wicksell gar als einen „verschrobenen Menschen". Dies hängt auch mit Wickseils Weigerung zusammen, als überzeugter Antimonarchist die zur Berufung auf einen Lehrstuhl erforderliche königliche Ernennungsurkunde zu unterschreiben.5 Er setzte seine Berufung damit im schon fortgeschrittenen Alter - ohne ein Netz der Absicherung zu haben - aufs Spiel. Es gelang jedoch ein Kompromiß, zu dessen Annahme ihm vor allem seine Freunde geraten hatten. 1904 wurde er, wie bereits erwähnt, zum ordentlichen Professor ernannt (Gardlund 1958,178). 2 Dieser Teil des fVicksellschen Werkes faszinierte Autoren der unterschiedlichsten Richtung der Finanzwissenschaft. Schon in frühen Beiträgen beschäftigten sich Richard A. Musgrave (1939) und James M. Buchanan (1951/1952; 1952) mit dem Werk. Beide äußern sich auch heute noch mit Hochachtung für den beschriebenen Teil des Werks. Für Musgrave (1983, 6) stellen die „Finanztheoretischen Untersuchungen" „the most creative book in public finance ever written" dar. Buchanan, der sich immer wieder auf die Wicksellsche Einstimmigkeit bezieht, bezeichnet ihn als „Genius" der Finanzwissenschaft (Buchanan 1967, 285). Auch bei einem jüngeren Aufeinandertreffen betonten Buchanan und Musgrave die bedeutende Rolle Wickseils, obwohl beide Wissenschaftler höchst verschiedene Stränge der Finanzwissenschaft repräsentieren (Buchanan 1999, 17f.; Musgrave 1999,40). 3 Samuelson (1988, 30) nimmt für sich in Anspruch, durch seine Arbeiten die Pare/o-optimalen Eigenschaften des Wicksell-Lindahl Modells formalisiert zu haben. 4 Wobei auch Joseph A. Schumpeter Cassel als „90% Walras und 10% Wasser" bezeichnete. Zitiert aus Samuelson (1987, 910). 5 Er konnte sich trotz Überredungsversuche seitens seiner Freunde nicht dazu durchringen, die Formulierung „Ihrer Majestät gehorsamster Diener..." zu unterzeichnen.

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Im Jahr 1910 mußte er gar eine zweimonatige Gefängnisstrafe absitzen, nachdem er sich zuvor mit der Kirche angelegt hatte. In einer Vorlesung mit dem Titel „Der Thron, der Altar, das Schwert und der Beutel Geld" machte er blasphemische Bemerkungen über die unbefleckte Empfängnis: „Why was not Joseph the betrothed of the Virgin Mary, rather than the Holy Ghost allowed to father Jesus? Because then the world could not have been saved! Joseph's rights as an individual had to be set aside for the salvation of the many millions of souls in past centuries who would otherwise have gone to perdition and the further millions now and for all time to come until the Last Judgement."6 Wickseil stellte damit die Frage, ob das individuelle Recht Josefs auf Vaterschaft dem Heil von Millionen vergangener und zukünftiger Seelen geopfert werden durfte. Aus seiner individualistischen Sicht natürlich nicht.7 Im Alter von 74 Jahren verstarb er am 3. Mai 1926.

III. Das Einstimmigkeitsprinzip und dessen Grenzen bei Wickseil Die Entwicklung des Einstimmigkeitsprinzips gilt weithin als Wicksells bedeutendste wissenschaftliche Leistung. Er entwickelte das Prinzip anhand der finanzwissenschaftlichen Fragestellung, wie und von wem öffentlich bereitgestellte Leistungen finanziert werden sollen. In seinen Untersuchungen kam Knut Wicksell zu der Auffassung, zwischen Allokation und Distribution bestehe ein grundsätzlicher Unterschied, da Allokationsentscheidungen einstimmig getroffen werden können, Distributionsfragen hingegen nicht. Er vertrat daher die Auffassung, der öffentliche Haushalt müsse in zwei Teile getrennt werden: einen Teil zur Bereitstellung öffentlicher Leistungen, den anderen fur verteilungspolitische Zwecke.8 Im folgenden sollen die beiden Bereiche - Bereitstellung öffentlicher Leistungen und Verteilungsfragen - wie bei Wicksell selbst getrennt voneinander betrachtet werden.

1. Bereitstellung öffentlicher Leistungen „Der Zwang ist an sich immer ein Uebel" ( Wicksell 1896, 114). Dieses Zitat, welches als Motto diesem Aufsatz vorangestellt ist, gibt die individualistische und freiheitliche Grundlage Wicksells am besten wieder. Während im Verhältnis zwischen privaten Indi-

6 Zitiert aus Uhr (1987, 905). Die Strafe bekam er, weil er „Gottes heiliges Wort gelästert und verspottet und dadurch öffentliches Ärgernis hervorgerufen hatte." So ohne nähere Quellenangabe zitiert in Sommarin (1931, 233). 7 Damit grenzte er sich gegen den zu seiner Zeit weit verbreiteten Utilitarismus ab. Der Utilitarismus rechtfertigt das Abwägen eines zusätzlichen Vorteils einer großen Zahl von Individuen gegen den entstehenden Nachteil eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe. 8 Diese Unterteilung ist vor allem durch spätere Arbeiten von Musgrave (1959; 1999) bekannt geworden. Musgrave ergänzte den staatlichen Aufgabenkanon jedoch noch um einen, aus heutiger Sicht zweifelhaften Stabilisierungshaushalt.

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viduen der freiwillige Tausch zwischen den Marktparteien vor Zwang schützt,9 ist das Verhältnis zwischen Individuum und hoheitlichem Staat ambivalent. Zum einen bietet der Staat Schutz für das Individuum. Durch die legitime Anwendung staatlicher Gewalt verhindert er die Ausübung von Zwang zwischen Individuen. Zum anderen ist der Staat selbst Quelle hoheitlicher Zwangsausübung. Wickseil versucht in seinem Ansatz das Verhältnis zwischen Staat und Individuum auf die gleiche Basis zu stellen wie das der Individuen untereinander: Da Freiwilligkeit ein Indiz für die Abwesenheit von Zwang ist, darf der Staat aus individualistischer, freiheitssichernder Perspektive nur tätig werden, wenn er von allen Individuen dazu ermächtigt wird. Vor allem der Erhebung von Zwangsabgaben (Steuern) zum Zwecke der Finanzierung öffentlicher Leistungen soll nach Wicksell ein einstimmiges Votum der Bürger zugrunde gelegt werden. Dieses Ideal der individuellen Freiheitssicherung legt Wickseil seinen Ausführungen zur Steuerbewilligung zugrunde, die er in seinen „Finanztheoretischen Untersuchungen" (Wicksell 1896, 110-124) entwickelt. Das Leitbild für kollektive Entscheidungen ist der einstimmige Beschluß aller Bürger, also eine Situation, in der niemand von dem ihm zustehenden Vetorecht Gebrauch macht. Denn nur so wird das Individuum wirksam gegen die Ausbeutungsmöglichkeiten einer wie auch immer gearteten Mehrheit geschützt. Es kann dann keine Entscheidungen gegen den Willen einer Minderheitengruppe oder auch eines Einzelnen geben. Wickseil kritisierte in seinen „Finanztheoretischen Untersuchungen" die zu seiner Zeit im monarchistischen Schweden herrschenden politischen Zustände. Er äußerte insbesondere bezüglich des damals geltenden Wahlrechts die Befürchtung, daß „Beschlüsse regelmäßig gegen den Willen eines mehr oder weniger bedeutenden Teiles des Volkes gefasst [werden], was, [..] beinahe notwendig einer relativen Ueberbuerdung jener Volksklassen mit Steuern gleichkommt."10 Er stellte weiter fest, daß es geschickten Staatsmännern ein Leichtes sei, wechselnde Parteikonstellationen „zum successiven Aufschrauben des Steueraufwandes auszunützen". Zur Verhinderung dessen bedarf es spezieller Vorsichtsmaßnahmen, mithin des einstimmigen Beschlusses von Staatsausgaben. Dazu nochmals Wickseil selbst (Wickseil 1896, 114): „Die Einstimmigkeit und volle Freiwilligkeit der Beschlüsse ist zuletzt die einzige sichere und handgreifliche Garantie gegen Ungerechtigkeiten der Steuerverteilung [..]." Wickseils Verfahren zur Steuer- und Ausgabenbewilligung sieht folgendes Prozedere vor: Zunächst wird eine Hypothese über eine wünschbare Staatsausgabe aufgestellt (1). Dann wird die Hypothese am Prinzip der Einstimmigkeit getestet (2) und schließlich entschieden, ob die Staatsausgabe getätigt wird oder ob sie nicht getätigt werden darf (3). Im folgenden werden die drei Schritte im einzelnen und ausführlicher betrachtet: (1) Grundsätzlich darf der Staat nach Wicksell nur „eine für die gesamte Gesellschaft nützliche Thätigkeit" ( Wicksell 1896, 112) ergreifen. Die Politiker stellen demnach nur 9 Diese Aussage stimmt zumindest dann, wenn von der Annahme ausgegangen wird, es handle sich bei den betrachteten Gütern nicht um lebenswichtige, bei denen Marktmacht des Anbieters vorliegt. 10 Wicksell (1896, 109). Unter dem Pseudonym Sven Trygg äußerte er sich bereits ähnlich zwei Jahre früher in der Schrift "Unsere Steuern - wer sie bezahlt und wer sie bezahlen sollte" (Wicksell 1894/1959, 237).

194 · JörgMärkt solche Projekte zur Abstimmung, von denen sie überzeugt sind, daß sie der gesamten Gesellschaft mehr Nutzen stiften, als Kosten11 der Projektdurchfuhrung entstehen. Die Vorteilhaftigkeit der Staatsausgaben muß somit durch einen die Kosten übersteigenden Nutzen gesichert sein. Bei der Vorteilhaftigkeit handelt es sich jedoch ausschließlich um eine These der Politiker, die im folgenden Schritt getestet werden muß. (2) Trifft die in der Hypothese formulierte Vermutung zu, so muß mindestens ein Kostenverteilungsschlüssel existieren, der allen Beteiligten die Ausgaben unzweifelhaft als gewinnbringend erscheinen läßt. Er verteilt die Finanzierungslast auf die Individuen und sichert jedem einzelnen Individuum einen Nettonutzen. Die Suche nach einem geeigneten Kostenverteilungsschlüssel ist von der Hypothese über die Vorteilhaftigkeit der Staatsausgabe unabhängig (Wickseil 1896, 113). Um die Mittel für die zu beschließenden Staatsausgaben aufzubringen, gibt es, zumindest theoretisch, unendlich viele Möglichkeiten.12 Unter dieser Vielzahl von Möglichkeiten muß eine gefunden werden, die das Kriterium der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit erfüllt (Wickseil 1894/1959, 238). Die Verteilung der Steuerlast ist der eigentliche Schlüssel zum Erzielen der Einstimmigkeit: Vetopositionen werden genutzt, wenn der individuell empfundene Nutzen und damit die individuelle Zahlungsbereitschaft geringer sind als der durch den Kostenverteilungsschlüssel für die Staatsausgabe geforderte Finanzierungsbeitrag. Die Aufgabe der Politiker ist es, einen den Erfordernissen der Einstimmigkeit genügenden Verteilungsschlüssel zu finden und zur Abstimmung zu stellen. Durch dieses Verfahren kann jedes Individuum sicher sein, weniger Nutzenverzicht durch den Entzug privater Mittel zu haben, als ihm Nutzenzugang, den er aus egoistischen oder altruistischen Gründen anerkennt (Wickseil 1896,125), entsteht. (3) Gelingt es den Politikern, einen konsensfahigen Kostenverteilungsschlüssel zu finden, so kann die Maßnahme durchgeführt werden. Die Hypothese, das Projekt stelle eine für die gesamte Gesellschaft nützliche Tätigkeit dar, gilt als bestätigt. Ist es jedoch nicht möglich, einen einstimmig akzeptierten Kostenverteilungsschlüssel zu finden, so muß vorerst davon ausgegangen werden, daß die betreffende Maßnahme überhaupt keinen die Kosten übersteigenden Nutzen für die Gesellschaft erbringt. Die Hypothese ist vorerst widerlegt. Sie ist solange zu verwerfen, wie kein geeigneterer Schlüssel gefunden wird, der dem Kriterium der Einstimmigkeit genügt. Bis dahin darf die entsprechende Maßnahme nicht durchgeführt werden. Entgegen der Vorstellung der klassischen Opfertheorien13 geht Wickseil nicht von einem auf andere Weise bestimmten Umfang der Staatsausgaben aus, sondern löst Aus11 Die Kosten sind als Opportunitätskosten zu verstehen, also als entgangener Ertrag aus der nächstbesten Verwendung der Mittel. In diesem Fall ist dies der entgangene Ertrag bzw. Nutzen aus der privaten anstelle der öffentlichen Mittelverwendung. 12 Diese Vorstellung Wichells soll durch ein Zitat belegt werden, auch wenn sich Wicheil darin von einem rein individuellen Verteilungsschlüssel verabschiedet und zu einem standardisierten Verteilungsschlüssel übergeht. "[Es gibt] hunderte von Arten, die Kosten einer geplanten Staatsausgabe auf die verschiedenen Volksklassen zu verteilen: von der einfachen Kopfsteuer [..] bis zur progressiven Einkommen-, Vermögens- oder Erbschaftssteuer" (Wickseil 1896,113). 13 Diese Vorstellung vertrat unter den Klassikern beispielsweise John Stuart Mill (1848/1926). Sie findet sich ebenfalls bei den heutigen Vertretern der Optimalsteuertheorie, die auch als Vertreter einer neuen

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gäbe- und Einnahme-Entscheidungen des Staates simultan. Die Staatsausgaben werden durch partielle oder vollständige Abschöpfung der individuellen Zahlungsbereitschaften finanziert. Dies ist nur möglich, wenn mit der Abstimmung über eine Ausgabe gleichzeitig immer auch über den zur Steuerfmanzierung der Ausgaben anzuwendenden Kostenverteilungsschlüssel abgestimmt wird. Ausgabenbewilligung und Steuerbewilligung gehen Hand in Hand.

2. Verteilungsfragen Während für die Bewilligung von Ausgaben zur Bereitstellung öffentlicher Leistungen im Wicksellschen Ansatz die Einstimmigkeit notwendig und möglich ist, scheint sie im Bereich der Distribution unmöglich zu sein. Immer dann, wenn die öffentlichen Ausgaben aufgrund der feststehenden Leistungsgewährung an Dritte bereits festgelegt sind, kann nach Wicksell (1896, 143) kein Konsens erzielt werden. Die Nutznießer und die Nettozahler können schon vor der Abstimmung ausgemacht werden; die Nettozahler werden einer Umverteilung von sich zu einer anderen Person möglicherweise nicht freiwillig zustimmen. Der Verzicht auf Umverteilung hätte aber die Akzeptanz des als ungerecht empfundenen Status quo zur Folge. Das Prinzip der Einstimmigkeit hat „offenbar Gerechtigkeit der bestehenden Vermögens· und Einkommensverteilung selbst zur stillschweigenden Voraussetzung [..]" (ebd.). Könnte man von einer gerechten Ausgangsverteilung ausgehen, so bedürfte die Einstimmigkeit keiner Ergänzung. Wird die Ausgangsverteilung jedoch als ungerecht und vor dem heutigen Rechtsbewußtsein als unrechtmäßig zustande gekommen empfunden, „so liegt zweifelsohne der Gesamtheit nicht nur das Recht, sondern die Pflicht ob, diesbezüglich eine Revision der bestehenden Eigentumsverhältnisse vorzunehmen" (Wicksell 1896,144). Wicksell machte sich damit die Bedenken der Kritiker der Vertragstheorie zueigen. Obwohl seine Konzeption der Einstimmigkeit bzw. des Konsenses streng genommen eine Vertragstheorie ist, läßt er die Kritik, daß in jedem Gesellschaftsvertrag die bestehenden Macht- und Besitzstände konserviert werden, gelten. Die Stärke der Wicksellschen Argumentation ist gerade darin zu sehen, daß er die Grenzen der Einstimmigkeit theoretisch beleuchtet und die durch historische Zufälligkeiten entstandene Machtverteilung nicht per se als zu konservieren ansieht.14 Wicksell löst das erkannte Problem, indem er - trotz des Widerspruches zur Einstimmigkeitsforderung - für die Umverteilung der ungerechten Verteilung das MehrFinanzwissenschaft bezeichnet werden. Ausgangspunkt der „Neuen Finanzwissenschaft" (Übersicht bei Richter und Wiegard 1993) sind die Arbeiten von Diamond und Mirrlees (1971a; 1971b), Mirrlees (1971) und Stiglitz und Boskin (1977). 14 Die Grenzen der Vertragstheorie werden sehr unterschiedlich zu umgehen versucht. Hobbes (1651/1839), der seine Theorie in einer Zeit des Bürgerkrieges entwickelte, setzte die Menschen in den fiktiven, aber unerträglichen vorgesellschaftlichen Zustand. Der so modellierte Naturzustand drängte die handelnden Individuen geradezu in den Gesellschaftsvertrag. Auch Rawls (1971) und Buchanan (zusammen mit Tullock) (1962/1965) modellierten ihren vorvertraglichen Zustand in der Weise, daß auch egoistische Menschen sich auf,.moralische" Regeln, die sie selbst im nachvertraglichen Zustand schlechter stellen können, einigen.

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heitsprinzip postuliert. Er warnt jedoch vor übereilten und auf knapper Mehrheit zustande gekommenen Eingriffen in die Vermögens- und Einkommensverteilung. „Es liegt jedoch auf der Hand, daß man in solchen Sachen kaum zaghaft genug vorgehen kann; jeder übereilte Schritt auf diesem Gebiet wird sich früher oder später gewiss rächen" (Wiekseil 1896, 144). Er fuhrt ein formelles und ein materielles Argument fur sein Vorgehen ein: Formell ist es seines Erachtens etwas anderes, ob einmalig zur Korrektur der Ausgangsverteilung in die Besitz- und Erwerbstitel eingegriffen wird oder ob die Eingriffe „gelegentlich und stückweise nach Belieben und Bedarf' (ebd.) möglich sind. Materiell sind die Eingriffe nur für eine Korrektur der Ausgangsverteilung und „eine Richtigstellung der künftigen wirtschaftlichen Verhältnisse" (ebd.) legitim. Sie ist Voraussetzung für die spätere konsensorientierte Politik. Das Einstimmigkeitsprinzip kann dann dauerhaften Schutz vor den „Launen der , Steuergewalt'" (ebd.) bieten. Zudem finde die Revision der Ausgangsverteilung „ohne jede Rücksicht auf die zu deckenden Staatsbedürfnisse" (Wickseil 1896, 145) statt. Der Staat bessert bei Eingriffen nicht seine eigene Börse auf, sondern verteilt lediglich zugunsten anderer gesellschaftlicher Gruppen um. Implizit geht Wickseil davon aus, daß die Gefahr der Ausbeutung einer Gruppe durch den Staat höher ist als die Ausbeutung derselben durch eine andere Gruppe. Wicksell hat aber dennoch ein gespaltenes Verhältnis zu den Eingriffen in die Vermögens· und Einkommenspositionen. Trotz der grundsätzlichen Berechtigung von Eingriffen in die Vermögens- und Einkommenspositionen empfiehlt er deren zaghafte Bewilligung und fordert ein geeignetes und hohes Abstimmungsquorum für die Eingriffe. Er schlägt die Einfuhrung einer qualifizierten Majorität als Maßregel vor oder besser noch: „Die Massregel sollte, [..], wo möglich von einer einstimmigen oder jedenfalls von einer überwältigenden Volksabstimmung gefordert" (Wicksell 1896, 144f.) werden.15 Bei einer wohlwollenden Lesart kann man Wicksell so interpretieren, daß er die Legitimation von Umverteilungsmaßnahmen von der Ergebnisebene auf die Verfahrensebene überträgt - nicht mehr das Ergebnis der Umverteilung selbst bedarf des Konsenses, sondern das Verfahren, mittels dessen die Umverteilung beschlossen wird.

IV. Wicksell als Begründer einer kritischen Vertragstheorie Wie bereits einleitend angeführt, muß eine kritische Vertragstheorie aus drei Elementen bestehen. Sie muß streng individualistisch sein und staatliches Handeln ausschließlich aus den Interessen der Individuen ableiten (1). Sie muß sicherstellen, daß die Inter15 An dieser Stelle bestehen gewisse Ähnlichkeiten zu Jean-Jacques Rousseau. Dieser forderte zum Durchfuhren von Mehrheitsentscheidungen, ohne dadurch gleichzeitig die Freiheitsrechte der einzelnen Menschen einzuschränken, daß das Prinzip der Mehrheitsentscheidung selbst einmal einstimmig beschlossen wurde. Rousseau (1762/1977,1 5, 16) schreibt dazu: „In der Tat, woraus entstünde, es sei denn, die Wahl war einstimmig, ohne eine vorausgehende Übereinkunft die Verpflichtung für die Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen, und woher haben hunderte, die einen Herrn wollen, das Recht, für zehn zu stimmen, die keinen wollen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit beruht selbst auf Übereinkunft und setzt zumindest einmal Einstimmigkeit voraus". Warum ausgerechnet das Gesetz der Mehrheit im konsensfähigen Interesse sein sollte, wird von Rousseau nicht thematisiert.

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essen einer noch so kleinen Minderheit nicht auf Kosten der Mehrheit oder einflußreicher Interessengruppen ausgebeutet werden (2), und sie darf die Verteilungsfrage nicht aus der Analyse ausklammern, sondern muß sich mit ihr auseinander setzen (3). Im folgenden soll untersucht werden, ob der Beitrag Wickseils diese Elemente enthält und Wickseil daher als Begründer einer kritischen Vertragstheorie betrachtet werden kann. 1. Individualismus Wicksells Prinzip der Einstimmigkeit basiert auf einer streng individualistischen Konzeption, die als „normativer Individualismus" bezeichnet werden kann. Danach kann staatliches Handeln nur aus den individuellen Wertvorstellungen aller Individuen gerechtfertigt werden. Sein Individualismus geht über frühere vertragstheoretische Konzeptionen hinaus. Im Unterschied zur absolutistischen Vertragstheorie von Hobbes begründet Wicksell nicht den Staat an sich, sondern legt mit dem Prinzip der Einstimmigkeit ein Kriterium fest, mit dessen Hilfe die konkreten staatlichen Aktivitäten an die wohlverstandenen Eigeninteressen der Individuen gekoppelt werden. Sein Beitrag unterscheidet sich somit von den alten Vertragstheorien vor allem dadurch, daß er nicht mittels eines Urvertrages einen eigenständigen Leviathan ins Leben ruft, der im folgenden mehr oder weniger gut an die Bürgerpräferenzen rückgekoppelte kollektive Entscheidungen trifft, sondern bei Wicksell sollen trotz bestehender Staatlichkeit die konkreten Entscheidungen am Kriterium der Einstimmigkeit gemessen werden. Die individuellen Präferenzen bleiben auch nach der Begründung des Staates handlungsleitende Grundlage, und die Macht des Staates, Zwang auf die Individuen auszuüben, wird eingeschränkt. Wicksell entwickelt in seinen Ausführungen ein Verfahren zur Anbindung der Staatstätigkeit an die persönlichen Präferenzen der Individuen, um dadurch die „guten" - im Sinne der von allen Bürgern gewünschten - öffentlichen Leistungen herauszufiltern. Er verzichtet in seiner Arbeit darauf, a priori zu bestimmen, was Staatsaufgaben und was private Angelegenheiten sind. Diese Entscheidimg überläßt er den Bürgern selbst. Als Staatsaufgaben werden alle Aufgaben angesehen, die für alle Individuen einen Vorteil ergeben und damit dem Kriterium der Einstimmigkeit bzw. Konsensfähigkeit genügen. Während beispielsweise Samuelson versucht, den „optimalen Umfang an öffentlichen Gütern" zu ermitteln,16 und die Frage, was öffentliche Güter sind, exogen definiert, weist Wicksell einen Weg, der zu einem Verfahren zur „Entdeckung von Staatsaufgaben" führt. Legitime Staatsaufgaben sind somit alle öffentlichen Leistungen, deren 16 Paul A. Samuelson versuchte in zahlreichen Arbeiten (Samuelson 1954; 1955; 1958; 1969) den Wieksei/sehen Ansatz zu formalisieren. Er setzte dabei jedoch einen anderen Schwerpunkt, da er weniger Wert auf das Verfahren als vielmehr auf das Ergebnis, im Sinne einer optimalen Verteilung der Ressourcen auf Staats- und Privataufgaben, legte. Der Staat stellt, in seinem Ansatz, ein exakt definiertes (öffentliches) und beliebig teilbares Gut bereit, ein sogenanntes kollektives oder öffentliches Konsumgut (Samuelson 1954, 387; 1955, 350), bei dessen Bereitstellung der Nutzen mehrerer Personen beeinflußt wird. Ein Optimum liegt dann vor, wenn die Summe der Grenznutzen aller Bürger fur das öffentliche Gut gerade den Kosten dessen Bereitstellung entspricht. Der Staat sollte genau in diesem Umfang öffentliche Güter bereitstellen.

198 · JörgMärkt Kostenverteilungsschlüssel die Hürde der Einstimmigkeit überwindet. Für Wickseil war die Suche nach einem Prozeß forschungsleitend, der zur Legitimation von Staatsaufgaben ausschließlich auf die letztliche Quelle von Wertvorstellungen zurückgreift - und zwar das Individuum. Hält man den individualistischen Ansatz Wickseils konsequent durch, ergeben sich daraus zwei interessante Konsequenzen: Die eine Konsequenz bezieht sich auf die vor allem in der juristischen Literatur entwickelte Vorstellung bezüglich der Steuergerechtigkeit. Insbesondere die Vorstellungen bezüglich des Diskriminierungsverbotes bzw. des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Kirchhof Ì 992a; 1992b) erfahren eine neue Auslegung. Gerechtigkeit ist bei Wickseil nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis des Verfahrens. Da Einstimmigkeit ein hinreichendes Maß für Gerechtigkeit ist, muß das Ergebnis des einstimmig zustande gekommen Beschlusses nicht an einem externen Gerechtigkeitskriterium überprüft werden. Dem individualistischen Ansatz zur Bestimmung öffentlicher Aufgaben ist es fremd, den beschlossenen Verteilungsschlüssel an objektivierten Vorstellungen von Gerechtigkeit zu überprüfen, schließlich ist der Verteilungsschlüssel gerade Ausfluß der subjektiv empfundenen Nutzen- und Wertvorstellungen der Individuen. Unterschiedliche Wertvorstellungen bezüglich einer öffentlichen Leistung sind beim Prinzip der Einstimmigkeit somit ein legitimes Differenzierungskriterium für die zu tragende Finanzierungslast. In einem System, in dem jede Entscheidung über Staatsausgaben in beschriebener Weise vom einstimmigen Votum der Bürger abhängig ist, kann es keine unerwünschten, den Interessen der Individuen zuwiderlaufenden Entscheidungen geben und bedarf es daher auch keiner zusätzlichen Vorkehrung zum Schutz der Individuen. Die zweite Konsequenz bezieht sich auf die Interpretation des Prinzips der Einstimmigkeit als einen Austauschvertrag zwischen Individuen und Staat, also ein Verfahren zur Realisierung von Tauschvorteilen. Es wird argumentiert, daß die Bereitstellung öffentlicher Leistungen und deren Finanzierung durch Steuern bei Wicksell denselben Gesetzmäßigkeiten folgten, wie die der privaten Güter (Musgrave 1939, 214) und daß Leistung und Gegenleistung - Staatstätigkeit und eigener Steuerbeitrag - bei Wicksell direkt in Bezug zueinander stünden ( Wagner 1988, 155). Diese einfache Marktanalogie, wie sie in vielzähligen Interpretationen des Wicksellschen Werks zu finden ist, hält jedoch einer Überprüfung an der individualistischen Konzeption Wickseils nicht stand, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Handelsverträge werden in der Regel zwischen gleichberechtigten privaten Wirtschaftssubjekten und nicht zwischen Privaten und übergeordneten hoheitlichen Institutionen geschlossen. Als gleichberechtigte Partner schließen die Wirtschaftssubjekte Verträge, die sie zur Leistungserbringung verpflichten und ihnen dafür Gegenleistungen zusichern. Alle Vertragsbeteiligten erzielen ,gains from trade". Aus individualistischer Sicht ist der Staat jedoch kein eigenständiger, von den Interessen der Individuen losgelöster Akteur, geschweige denn, daß der Staat einen Nutzen „empfinden" kann. Der Staat kann somit keine ,gains from trade" realisieren, dies können ausschließlich die Individuen. Die Besteuerung ist somit kein „Spiel" zwischen Staat und Individuum, sondern ein Spiel, das ausschließlich Individuen miteinander spielen. Der Vertrag, der geschlossen wird, ist daher ein Vertrag zwischen den gleichberechtigten privaten Wirt-

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schaftssubjekten. Ein solcher Vertrag zwischen einer Mehrzahl von Individuen kann zwei Formen annehmen. Er kann tatsächlich in der Form eines Austauschvertrages zur Realisierung von ,gains from trade" (1) oder in Form des Kooperationsvertrages17 zur Realisierung von, gains from cooperation" (2) fuhren. (1) Austauschverträge: Gesellschaftliche Austauschverträge zur Realisierung von ,gains from trade" bestehen aus der wechselseitigen Selbstbindung der Individuen.18 Die Individuen mit ihrem „Recht auf alles" tauschen dieses Recht gegen klar abgegrenzte Freiheitsrechte ein und geben das Versprechen ab, sich an die beschlossenen Regeln zu halten. Die Bindungswirkung hängt von der Glaubhaftigkeit des Versprechens oder vom Etablieren einer Durchsetzungsinstanz ab. Der gesellschaftliche Austauschvertrag wird somit geschlossen, um einen „Rechtsschutzstaat" (Buchanan 1975, 68) zu begründen, was jedoch nicht das Ansinnen Wickseils war. (2) Kooperationsverträge·. Ein einstimmiger gesellschaftlicher (Kooperations-) Vertrag kann auch zur Realisierung von ,gains from cooperation" geschlossen werden. Die Wirtschaftssubjekte legen mit diesem Vertrag einen Teil ihrer Ressourcen zusammen19 und versuchen gemeinsame Vorteile, die jeder für sich alleine nicht realisieren könnte, dadurch zu erzielen, daß öffentliche Leistungen bereitgestellt werden. Wird zur Verwaltung der Gemeinschaftsressourcen und der Bereitstellung öffentlicher Leistungen eine Institution beauftragt, so sind Parallelen zum „Leistungsstaat" {Buchanan 1975, 68) zu ziehen. Wickseil begründet in seiner Arbeit nicht die Existenz eines Rechtsschutzstaates, der die individuellen Freiheitssphären abgrenzt, sondern er begründet den Leistungsstaat, der öffentliche Leistungen bereitstellt. Er erklärt damit nicht das Zustandekommen von „gains from trade", sondern das von , gains from cooperation". Sein Beitrag sollte daher, seiner eigenen individualistischen Konzeption folgend, nicht als Austauschmodell, sondern als Kooperationsmodell bzw. als Modell der Ressourcenzusammenlegung verstanden werden. 2. Verfahrensgerechtigkeit Dem zu seiner Zeit geltenden Wahlrecht, welches nicht nur die Ausbeutung einzelner gesellschaftlicher Gruppen zur Folge hatte, sondern auch zum systematischen Heraufschrauben der Steuerlast führte (siehe ΙΠ.1), setzte Wicksell das Prinzip der Einstimmigkeit entgegen. Wie im privaten Bereich, so sind auch im hoheitlichen Bereich Handlungen nur dann frei von Zwang, wenn sie auf Basis freiwilliger Zustimmung erfolgen. Um die ungerechte Verteilung der Steuerlast und die übermäßige Besteuerung aller zu verhindern, setzte er auf ein Verfahren, bei dem jedes einzelne Individuum den gleichen 17 Vanberg (1982; 1983, 63f.; 1997, 16; 2000, 36) sieht den Staat analog zu Genossenschaften (Gierke 1868/1954), die als mitgliederbestimmte Verbände zur Förderung der gemeinsamen Interessen bestehen. Der Staat ist somit ein bürgerbestimmter Verband zur Förderung ihrer gemeinsamen Interessen. 18 Der Hobbessche Gesellschaftsvertrag ist ein geeignetes Beispiel fur die Realisierung von „gains from trade". 19 Siehe ausführlich dazu die Ausführungen bei Vanberg (1982), der sich beim Modell der Ressourcenzusammenlegung vor allem auf Coleman (1975) bezieht.

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Einfluß auf die politischen Entscheidungen hat. Das Prinzip der Einstimmigkeit ermöglicht jedem einzelnen Individuum, eine Entscheidung durch Ausnutzung seines Vetorechtes zu verhindern, wodurch Verfahrensgerechtigkeit gewährleistet wird. Gleichheit bezieht sich somit ausschließlich auf die Möglichkeit zur Verhinderung von staatlichen Aktivitäten (Chancengleichheit) und nicht auf die konkrete Betroffenheit der Individuen durch staatliches Handeln (Ergebnisgleichheit). Durch den einstimmigen Beschluß schließen die Bürger einen Kooperationsvertrag. Sie beschließen, eine bestimmte öffentliche Leistung bereitzustellen, und verpflichten sich, einen zu deren Finanzierung erforderlichen Beitrag zu entrichten. Die Bürger übertragen die Zwangsgewalt zur Erhebung dieser Finanzierungbeiträge (Steuern) auf den Staat, unter der Bedingung, daß alle anderen Bürger dem zur Abstimmung stehenden Verteilungsschlüssel ebenfalls zustimmen. Der Staat ist verpflichtet, die konkrete öffentliche Leistung bereitzustellen und die Finanzierungsbeiträge zu erheben. Der freiwillige Kooperationsvertrag, der durch den Staat lediglich vollstreckt wird, sichert jedem einzelnen Kooperationsteilnehmer einen Teil des gemeinsamen „Gewinns". Die Einstimmigkeit fuhrt dazu, daß der individuelle Steuerbeitrag nicht schwerer wiegt als die individuell empfundenen Vorteile aus der öffentlich bereitgestellten Leistung {Lindahl 1958, 18). Das gewählte Verfahren führt somit zur Beteiligung aller am gemeinsamen Kooperationsgewinn und verhindert die Ausbeutung einzelner Gruppen. Die Konsequenz aus dem Verfahren ist die Orientierung der Besteuerung an dem jeweiligen Interesse der Bürger an der konkreten öffentlichen Leistung. Wicksell (1896, 78) spricht daher von einer „Besteuerung nach dem Interesse" im Gegensatz zu einer „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oder dem Tragvermögen".20 Im Unterschied zu der Besteuerung, die sich an der Leistungsfähigkeit orientiert und bei der eine Vielzahl von staatlichen Tätigkeiten über eine einzige Steuer finanziert werden soll, wird bei Wickseil jede einzelne öffentliche Leistung gesondert zur Abstimmung gestellt und mittels unterschiedlicher Steuern finanziert. Die Steuern können somit als Preise für die von allen als vorteilhaft empfundenen öffentlichen Leistungen verstanden werden (Blankart 2000,2). Für die Funktionsfähigkeit des Prinzips der Einstimmigkeit und damit für die Frage der Verfahrensgerechtigkeit spielt das Trittbrettfahrerproblem eine nicht unerhebliche Rolle. Wäre es für Individuen möglich, sich systematisch ihrer Verpflichtung zur Finanzierung öffentlicher Leistungen zu entziehen, könnte man nicht davon sprechen, daß Verfahrensgerechtigkeit vorliegt. Daher ist der Vorwurf, Wicksell habe in zu geringem Maße das Trittbrettfahrerproblem berücksichtigt (Samuelson 1987, 910), zu prüfen. Der Vorwurf kann entkräftet werden, wenn man zwei Problemkreise strikt voneinander trennt: Zum einen kann ein Individuum, trotz eigener Zustimmung zum beschlossenen Kostenverteilungsschlüssel, sich nicht an die damit eingegangene Verpflichtung halten. 20 Wicksell kritisiert ausführlich die Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Er geht davon aus, daß die Besteuerung nach dem Prinzip des Interesses die tragfahigere Konzeption darstellt ( Wicksell 1896, 78). Entgegen den heutigen finanzwissenschaftlichen Vorstellungen (Kostenäquivalenz, Nutzenäquivalenz oder gruppenspezifische Äquivalenz) sieht Wicksell Äquivalenz nicht als anzustrebendes objektiv definiertes Ziel der Besteuerung, sondern als subjektives Ergebnis der Besteuerung, welches bei Einstimmigkeit zwangsläufig verwirklicht wird. Siehe dazu auch Musgrave (1939, 213), Blankart (1995, 438) und das bei Gerken, Markt und Schick (2000) entwickelte Austauschprinzip.

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Dieses Verhalten soll als Trittbrettfahren bezeichnet werden (1). Zum anderen kann ein Individuum versuchen, sich vor der Abstimmung über den Kostenverteilungsschlüssel durch strategisches Verhalten in eine Situation zu bringen, die es ihm ermöglicht, nur zu einem geringen, im Extremfall gar keinen, Beitrag bei der Finanzierung der öffentlichen Leistung herangezogen zu werden (2). (1) Trittbrettfahrerverhalten: Die Politik sucht bei Wicksell nicht nur nach dem allgemein zustimmungsfähigen Kostenverteilungsschlüssel, sondern sorgt auch für die verbindliche Durchsetzung desselben. Charles Blankart (1995, 443) betont, daß Wickseil gerade die von Ugo Mazzola geäußerte Auffassung, die Bewertung öffentlicher Leistungen und die Besteuerung ausschließlich anhand der durch die Individuen geäußerten Präferenzen durchzuführen, kritisiere. Dies könne aufgrund des darin steckenden Trittbrettfahrerproblems nicht funktionieren. Bei einer Regelung, die separat die Leistungen bereitstellt und einen individuell bestimmten Beitrag verlangt, ist es nicht schwer, das Auftreten von Freifahren zu prognostizieren. Wie Wickseil (1896, 100) feststellt, wird bei einer individuellen Entscheidung, ein Budget auf private und öffentliche Güter zu verteilen, das Individuum „für die öffentlichen Zwecke keinen Deut zahlen". Die Freiwilligkeit bezieht sich bei Wicksell aber gerade nicht auf das Entrichten eines Finanzierungsbeitrags für öffentlich bereitgestellte Leistungen, sondern auf das komplexere Arrangement der aneinander gekoppelten Leistungserstellung durch den Staat und deren Finanzierung durch die Bürger. Und nur wenn die Finanzierung im Vorfeld durch die Steuerbeiträge der Bürger sichergestellt ist, wird der Staat überhaupt erst die versprochene Leistung bereitstellen. Durch die Zustimmung zu einem Kostenverteilungsschlüssel verpflichtet sich das Individuum automatisch zum Entrichten seines Beitrages. Das Trittbrettfahrerproblem wird durch die Anwendung hoheitlicher Macht zum Eintreiben des Beitrags durch den Staat verhindert. Trittbrettfahren ist somit nur bei Verstoß des Individuums gegen eingegangene Verpflichtungen und der unzureichenden Durchsetzung dieser durch den Staat möglich - also nur, wenn das Individuum Vertragsbruch begeht. (2) Strategisches Verhalten: Anreize zu strategischem Verhalten finden sich im Modell der Ressourcenzusammenlegung. Bei Wickseils Vorschlag entstehen aufgrund der Finanzierung öffentlicher Leistungen durch das Zusammenlegen von Ressourcen Kooperationsgewinne. Diese werden mittels des beschlossenen Verteilungsschlüssels auf die Individuen verteilt. Um möglichst viel von dem gemeinsamen Gewinn zu erhalten, verhalten sich die Individuen strategisch - sie werden so tun, als interessiere sie die betrachtete öffentliche Leistung nicht, um so möglichst wenig zu der Finanzierung beitragen zu müssen. Die Individuen untertreiben im Vorfeld der Abstimmung somit ihr Interesse an der öffentlichen Leistung, und sie setzen ihre Zahlungsbereitschaft eher gering an. Dieses individuell rationale Verhalten wird bei allen Individuen anzutreffen sein. Gäbe es nur einen Versuch, einen konsensfahigen Verteilungsschlüssel zu beschließen, würden die freiwillig geäußerten Zahlungsbereitschaften mit großer Wahrscheinlichkeit unter den Bereitstellungskosten liegen. Das Projekt würde gemäß dem Testverfahren verworfen werden. Der gesamte potentielle Kooperationsgewinn würde nicht realisiert werden. Die Nicht-Realisierung eines an sich vorteilhaften Projektes stellt jedoch einen Defekt dar. Geht man jedoch davon aus, daß der Abstimmungsprozeß

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mehrfach wiederholt wird und die bekundeten Zahlungsbereitschaften mindestens so hoch sein müssen wie bei der vorherigen Abstimmung, so ist eine Einigung auf einen kostendeckenden Schlüssel für insgesamt vorteilhafte Projekte vorstellbar. Eine weitere Abstimmung hätte zur Folge, daß die Bürger ihr vorheriges Gebot überdenken werden. Sie werden überlegen, ob ihr neues Gebot höher ausfallen kann, um den potentiellen Kooperationsgewinn überhaupt erst realisieren zu können. Der „Ehrliche", der beim ersten Abstimmungsgang bereits eine Zahlungsbereitschaft bekundete, die nahe bei seinem individuellen Vorteil des Projektes lag, wird nur ein unwesentlich höheres Gebot abgeben. Der „Stratege", der beim ersten Abstimmungsgang seine Zahlungsbereitschaft, in Erwartung eines hohen individuellen Nettovorteils, untertrieben hat, muß beim folgenden Abstimmungsgang entscheiden, ob er das Projekt insgesamt zum Scheitern bringt, dann aber auch keinen individuellen Vorteil erzielen kann, oder ob er eine höhere Zahlungsbereitschaft signalisiert und dadurch die Chance auf einen Vorteil für sich aufrechterhält. Da die Machtpositionen gleich verteilt sind, also alle Individuen bei der Abstimmung das gleiche Gewicht haben, wird es bei häufigeren Abstimmungen zu einer für alle akzeptablen Verteilung kommen, die für jeden einen Teil des Kooperationsgewinns beläßt. Da ein Projekt mit verschiedenen Verteilungsschlüsseln zur Abstimmung gestellt werden kann, ist ein langsames Annähern an einen geeigneten Verteilungsschlüssel zu erwarten.21 Die Tendenz zu einem konsensfahigen Verteilungsschlüssel wird auch durch die bereits in der Vergangenheit erfolgreich umgesetzten Projekte und die potentiellen, zukünftigen Kooperationsprojekte gestützt. Es handelt sich somit in doppelter Hinsicht nicht um ein „one-shot-game", sondern um ein Wiederholungsspiel {Axelrod 1986). Das von Wickseil vorgeschlagene Verfahren kann als verfahrensgerecht bezeichnet werden, da es allen Individuen die gleiche Möglichkeit läßt, die Bereitstellung spezifischer öffentlicher Leistungen zu verhindern. Die Kritik, dem Vorschlag sei ein Trittbrettfahrerproblem immanent, ist haltlos, womit auch nicht die Gefahr der Aushöhlung der Verfahrensgerechtigkeit durch das Verhalten von Freifahrern besteht. 3. Verteilungsfrage Das zuvor gelobte Einstimmigkeitsprinzip als Ausfluß des fVicksellschen Individualismus scheint bei Fragen der Umverteilung zu versagen. Wickseil steht bei seiner Analyse der Verteilungsfrage vor den gleichen Problemen wie vor und nach ihm etliche Vertragstheoretiker. Wie kann eine als ungerecht empfundene (Ausgangs-) Verteilung beseitigt oder eine Umverteilung beschlossen werden, wenn die Zustimmung aller Beteiligten erforderlich ist? Wie kann erreicht werden, daß nicht nur die Empfanger, sondern auch die Zahler freiwillig der Umverteilung zustimmen? Wicksells Augenmerk richtet sich dabei auf die Ausgangsverteilung, denn eine als ungerecht empfundene Ausgangsverteilung im vorvertraglichen Zustand spiegelt sich im nachvertraglichen Zustand wider, und von Freiwilligkeit kann nur dann gesprochen werden, wenn Verträge zwischen gleichberechtigten Partnern geschlossen werden. Daher sei es notwendig, 21 Vergleiche dazu auch das von Lindahl (1919) vorgeschlagene Besteuerungsverfahren.

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zuvorderst die ungerechte Ausgangsverteilung zu beseitigen, um anschließend von Gerechtigkeit im nachvertraglichen Zustand sprechen zu können (Faber 1973, 39). Zur Herstellung einer gerechten Ausgangsverteilung schlug Wicksell ein Verfahren vor, welches vom Prinzip der Einstimmigkeit abweicht. Es muß jedoch die berechtigte Frage gestellt werden, wie der einmalige Charakter bei der Herstellung einer gerechten Ausgangsverteilung glaubhaft gemacht werden kann. Eine von allen als gerecht empfundene Ausgangsverteilung ist unmöglich zu finden. Buchanan hat in Abgrenzung zum Gerechtigkeitsdiskurs bei Rawls versucht, dies folgendermaßen deutlich zu machen: Es ist nicht möglich, in einer bestimmten Situation das Spiel zu verlassen, um einmalig nach einer gerechten Ausgangsverteilung zu suchen. Es gibt kein Kriterium für eine gerechte Ausgangsverteilung, und jede gewählte kann im Spiel erneut angezweifelt werden. Die beratende Vertragsökonomie kann daher immer nur aus dem Hier und Jetzt argumentieren (Buchanan 1986, 271). Daher ist die Vorstellung, zu Unrecht zustande gekommene Vermögen, die vielleicht schon seit langer Zeit im Besitz einer Familie sind, durch einmalige Eingriffe in die bestehenden Vermögensverhältnisse neu zu verteilen, nicht hilfreich und stößt in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion auf wenig Gegenliebe. Statt der Herstellung einer gerechten Ausgangsverteilung hat sich in der Praxis heutiger Sozialstaaten die begrenzte, aber fortlaufende Umverteilung, finanziert aus den Vermögenszuwächsen, eingebürgert. Im folgenden soll - im Unterschied zu Wickseil die laufende Umverteilung basierend auf dem Wicksellscben Prinzip der Einstimmigkeit analysiert werden. Es soll gefragt werden, inwieweit die laufende Umverteilung mit dem Prinzip der Einstimmigkeit vereinbar ist. Es sollen zwei Arten der Umverteilung unterschieden werden, die innerhalb des Ansatzes von Wicksell möglich sind, von Wickseil jedoch nicht in dieser Deutlichkeit gesehen und herausgearbeitet wurden. Es handelt sich um: (1) die produktive Umverteilung und (2) die produktive „Regel" der Umverteilung. (1) Produktive Umverteilung·. Durch Umverteilung wird das Gut „Sozialer Friede" hergestellt. In dem Maße, wie Umverteilung von Reichen zu Armen revolutionäre Umwälzungen verhindert, werden auch die Nettozahler Umverteilungsbeschlüssen zustimmen können. Die Reichen werden freiwillig bereit sein, einen Teil ihres Reichtums an die Armen abzugeben, um im Gegenzug das Recht an ihrem Eigentum gesichert zu wissen. Der Gebende wird bei jedem Transfer zugunsten eines Armen die Vor- und Nachteile dieser Gabe abwägen. Bei der produktiven Umverteilung wird er bei jeder Gabe zu dem Schluß gelangen, daß sie sich „lohnt", daß den Kosten der Umverteilung höhere Erträge, in Form von sinkenden individuell zu tragenden Kosten der Eigentumsverteidigung und geringerem Risiko des Eigentumsverlustes, gegenüberstehen. Das Erzielen einstimmiger Umverteilungsbeschlüsse ist vom Drohpotential der Armen und dem potentiellen Verlust der Reichen abhängig - also von der Verteilung insgesamt. Je ungleicher die Ausgangsverteilung ist, um so größer ist das Drohpotential und um so größer der potentielle Verlust - also um so eher besteht bei den Reichen die Bereitschaft

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zur freiwilligen Umverteilung.22 Umgekehrt: Je gleicher die Ausgangsverteilung ist, um so geringer wird die freiwillige Umverteilung ausfallen. Entgegen dem Umverteilungspessimismus bei Wickseil kann im Umfang der Produktion des Gutes „Sozialer Friede" einstimmige Umverteilung beschlossen werden. Streng genommen müßte dieser Bereich jedoch dem Allokationshaushalt zugeordnet sein, da der Staat eine öffentliche Leistung in Form des sozialen Friedens bereitstellt. In seinen Ausführungen findet sich kein Hinweis darauf, daß er die Möglichkeit produktiver Umverteilungspolitik gesehen hat. (2) Produktive Regeln der Umverteilung: Zu der nicht produktiven Umverteilung zählen Redistributionsmaßnahmen, die über die freiwillige Gegenleistung zur Produktion des Gutes „Sozialer Friede" hinausgehen. Es geht also um Umverteilungsmaßnahmen, bei denen die konkrete Transferzahlung an einen Armen nicht direkt als „lohnend" empfunden wird. In diesem Bereich trifft die Wicksellschc Analyse zu. Umverteilung ist unwahrscheinlich, soweit sie die Hürde der Einstimmigkeit nehmen muß und die Abstimmenden über ihre konkrete persönliche Betroffenheit durch die zu beschließende Maßnahme Bescheid wissen. Die potentiellen Einzahler in den Verteilungstopf werden freilich nicht bereit sein, mehr als notwendig (im Umfang der produktiven Umverteilung) in den Verteilungstopf einzuzahlen. Verzichtet man auf die konkrete Zustimmung zur einzelnen Umverteilung, sind Umverteilungsmaßnahmen über die produktive Umverteilung hinaus denkbar. Hinter dem „Schleier der Unwissenheit" (Rawls 1971), hinter dem niemand weiß, welche Rolle er in der realen Welt einnehmen wird, kann bei risikoaversen Individuen Einstimmigkeit zu weiterer Umverteilung erzielt werden. Auch Buchanan23 geht davon aus, daß Individuen, wenn sie aufgrund der Entscheidung über eine abstrakte Regel nicht wissen, wie sie selbst von der Regel betroffen sein werden - sie also hinter dem „Schleier der Ungewißheit" entscheiden - , für Regeln der Umverteilung stimmen werden, die zusätzliche Umverteilung ermöglicht. Hinter dem Schleier kann es im gemeinsamen Interesse der Bürger liegen, Umverteilung über das produktive Maß hinaus zu beschließen. Auch Wickseil ahnt diese Lösungsmöglichkeit. Zunächst schlägt er zwar zur Umverteilung bzw. zur Herstellung einer gerechten Ausgangsverteilung vor, vom Konsensverfahren abzuweichen und Entscheidungen mit wie auch immer geartetem Mehrheitsentscheid zu treffen. Anschließend führt er - jedoch eher in einem Nebensatz - den „Schleier der Ungewißheit" in seinen eigenen Lösungsansatz ein. Wie hoch das Quorum für die Umverteilungsbeschlüsse sein soll, soll mit möglichst breiter Mehrheit, am besten sogar einstimmig, beschlossen werden. Damit greift Wickseil auf ein abstraktes konsensfähiges Entscheidungsverfahren für die Regeln der Umverteilung zurück. Die Individuen können dem Verfahren zustimmen, 22 Wie Homann und Pies (1996, 218 FN 18) schreiben, kann ,,[A]us Sicht konstitutioneller Ökonomik [..] die Aneignung der Friedensdividende als allseits vorteilhaft empfohlen werden". 23 Siehe beispielsweise Brennan und Buchanan (1985, 137-140). Buchanan argumentiert, daß alle Einkommensklassen ein Interesse an Umverteilungsregeln haben. Die Umverteilungsregel ist quasi eine Versicherung gegen fundamentale Lebensrisiken. Gegen diese Risiken wird auch ein Reicher sich und vor allem seine Kinder versichern wollen. Die Bereitschaft zur Umverteilung wird in dem Maße steigen, wie der Einzelne nicht weiß, in welcher Position bezüglich Einkommen, Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Alter er sich selbst befinden wird (Buchanan 1975; 1976). Rawls und Buchanan unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihres Grundanliegens: Während Rawls eine philosophische Gerechtigkeitsdiskussion führt, versucht Buchanan konkrete Politikberatung zu betreiben.

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ohne daß sie genau wissen, wie sie selbst oder ihre Kinder von dieser Regel betroffen sein werden. Wicksell erahnt diese Möglichkeit, ohne sie konkreter auszuführen, und er weist damit einen Ausweg aus dem scheinbaren Dilemma zwischen Einstimmigkeit und der Möglichkeit der Umverteilung. Anstelle Einstimmigkeit für jeden einzelnen Transfer vorauszusetzen, wird die Einstimmigkeit auf die Verfahrensebene verlagert. Es wird gefordert, daß die Regel, wie Umverteilung beschlossen wird, selbst dem Prüfkriterium der Einstimmigkeit unterworfen wird. Wickseil war bezüglich der freiwilligen Umverteilung eher pessimistisch, was ihn zur Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit bei Umverteilungsmaßnahmen, bei denen Zahler und Empfanger identifiziert werden können, bewog. Analytisch gibt es jedoch Möglichkeiten der Umverteilung, die Wicksell bei seiner Analyse nicht berücksichtigte, die jedoch innerhalb seines Paradigmas rechtfertigbar sind. Geht man davon aus, daß über das produktive Maß hinaus Umverteilung im gemeinsamen Interesse der Bürger liegt, müssen jedoch alternative Verfahren zum Verfahren der konkreten Zustimmung zu einzelnen Umverteilungsmaßnahmen herangezogen werden. Darauf weist Wicksell mit aller Deutlichkeit hin. Auch wenn Wicksell seine Forderung nach Umverteilung eher aus vagen Gerechtigkeitsvorstellungen ableitet, kommt er zu dem interessanten Ergebnis, daß möglicherweise auf einer zur konkreten Umverteilung vorgelagerten Ebene ein Konsens über das Verfahren, mit dem Umverteilung beschlossen werden soll, erzielbar ist. Es gibt möglicherweise einen Konsens über eine Verfahrensregel bei Umverteilungsfragen. Damit ist eine Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit nicht erforderlich. Die aus dem Konsens über das Verfahren abgeleitete Zustimmung wurde von Wicksell jedoch nicht in der Deutlichkeit gesehen und herausgearbeitet, wie es später insbesondere Buchanan und Tullock (1962/1965) taten. Somit kann zusammenfassend festgehalten werden, daß mit dem Prinzip der Einstimmigkeit sowohl die produktive Umverteilung als auch die produktiven Regeln der Umverteilung vereinbar sind.24 Die produktiven Regeln der Umverteilung, die der Forderung nach Einstimmigkeit genügen, müssen nicht zur Folge haben, daß die daraus resultierenden Ergebnisse zur produktiven Umverteilung zu rechnen sind. Der Ansatz der Verfahrensgerechtigkeit würde schließlich ad absurdum gefuhrt, wenn man die Ergebnisse eines einstimmig beschlossenen - und damit gerechten - Verfahrens am Maßstab der allgemeinen Zustimmungsfahigkeit messen würde. Dies kann am Beispiel des Marktes verdeutlicht werden: Wir können durchaus davon ausgehen, daß der Markt mit seinen wettbewerblichen Prozessen als konsensfahiges Allokationsverfahren betrachtet werden kann. Dies bedeutet aber nicht, daß die aus ihm resultierenden Ergebnisse dem Erfordernis der allgemeinen Zustimmung standhalten. Für die Umverteilung bedeutet dies, daß das konkrete Ergebnis einer im konsensfahigen Interesse der Bürger liegenden Umverteilungsregel nicht zwangsläufig dem Test der allgemeinen Zustimmungsfahigkeit standhält.

24 Die Möglichkeit zur Umverteilung ist im Vergleich zum Utilitarismus eingeschränkt. Die reine Umverteilung von der einen Hand (mit geringem Grenznutzen) in die andere Hand (mit hohem Grenznutzen), die beim wohlfahrtsökonomischen Utilitarismus zu einer höheren Wohlfahrt beiträgt, ist bei vertragstheoretischer Betrachtung nicht zustimmungsfähig (Buchanan 1986, 271).

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V. Mangelnde Berücksichtigung der Entscbeidungskosten - Möglichkeiten der Weiterentwicklung Das Modell Wickseils sei ein sehr optimistisches Modell, so Musgrave (1999, 40), da es von einem zentralen Problem abstrahiere: Es berücksichtige keine Entscheidungsbzw. Transaktionskosten (Brennan und Buchanan 1980, 7). Die Entscheidungskosten sind in der Realität jedoch eine zentrale Ursache für vom Konsens verfahren abweichende Entscheidungsverfahren. Vernachlässigt man die Modellierung von Entscheidungskosten, ist das Modell für die Realität unbrauchbar. Wickseil selbst erkennt, daß sein Vorschlag nur annäherungsweise Praxisrelevanz hat25, und empfiehlt, auch bei Allokationsfragen Entscheidungen mit „qualifizierter Majorität von Zweidritteln oder Dreivierteln der abgegebenen Stimmen" (Wickseil 1894/1959, 237) zu treffen. Eine realistische Betrachtung muß die Entscheidungskosten - besser die Kooperationskosten - den Kooperationserträgen gegenüberstellen. Sind die gesamten erwarteten Kooperationskosten höher als die zu erwartenden Kooperationserträge, wird es nicht zu Kooperationsbemühungen kommen. Die Differenz aus der Summe der Nutzen aufgrund der öffentlichen Leistungen und deren Bereitstellungskosten, d.h. die Kooperationserträge, können als gegeben, aber nicht als bekannt angesehen werden. Die Kooperationskosten bestehen aus zwei Komponenten: erstens einer Komponente, die konkret mit der kooperativen Entscheidungsfindung zusammenhängt und als Entscheidungskosten bezeichnet werden soll; zweitens einer Komponente, die aufgrund einer eventuellen Abweichung vom Einstimmigkeitsprinzip entsteht und als Fehlerkosten bezeichnet werden soll. Die Entscheidungskosten ergeben sich aus den Kosten pro Entscheidung, multipliziert mit der Anzahl der zu treffenden Entscheidungen pro Zeiteinheit. Man kann sich nun vorstellen, daß die Individuen auf der konstitutionellen Ebene nach Verfahren suchen, die die Kooperationskosten senken und im allgemeinen Interesse der Bürger sind. Um die Kooperationskosten zu senken, ist es notwendig, die Entscheidungskosten zu senken. Es kann erstens an den Kosten pro Entscheidung angesetzt werden, indem man sich von der strikten Einstimmigkeit (1) verabschiedet und zu einer wie auch immer gearteten Mehrheitsentscheidung übergeht oder indem man die Gruppengröße und Zusammensetzung variiert (2). Zweitens kann an den Kosten aufgrund der Häufigkeit der Entscheidungen angeknüpft werden, indem man Projekte zu Paketen zusammenfaßt (3).

1. Abstimmungsquorum Die Problematik der Entscheidungskosten hat bereits Buchanan und Tullock (1962/1965, 63-84) veranlaßt, ein Modell der optimalen Entscheidungsregel zu entwickeln. Aufgrund der enormen Kosten, die zum Erzielen von Einstimmigkeit anfallen, schlagen sie ersatzweise ein Verfahren vor, das vorsieht, einmalig einen Konsens über 25 Auch Musgrave (1939, 220) weist auf die fehlende Praktikabilität hin. Er akzeptiert zwar die dem Argument inhärente Logik, argumentiert aber, daß die Beschreibung des Einnahme-Ausgabe-Prozesses nicht der Realität entspreche.

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eine am Mehrheitsprinzip orientierte Entscheidungsregel zu erzielen. Die Bürger stehen gemäß dem Modell bei der Entscheidung über die künftig gültigen Entscheidungsregeln vor folgendem Kalkül: Bei Entscheidungen über Kooperationslösungen für eine vorher definierte Gruppe (pre-defined-group) von Personen entstehen fur jedes Individuum zwei Arten von Kosten: Zum einen entstehen Kosten der Entscheidungsfindung {Buchanan und Tullock 1962/1965, 68f.), zum anderen Fehlerkosten als Kosten des Überstimmtwerdens, sog. externe Kosten (Buchanan und Tullock 1962/1965, 63-68). Beide Kostenfaktoren sind vom Zustimmungsquorum für die Einleitung eines Kooperationsprojektes abhängig. Je höher das Zustimmungsquorum zum Auslösen eines Kooperationsprojektes ist, um so höher werden auch die Kosten der Entscheidungsfindung sein. Je größer die Gruppe ist, die einem Projekt zustimmen muß, um so geringer werden die Kosten des Überstimmtwerdens sein. Bei 100%-iger Zustimmung hat das Individuum kein Risiko, durch eine Entscheidung überstimmt zu werden (Wicksell-FaW). Je geringer das Zustimmungserfordernis ist, um so höher werden die erwarteten Kosten sein. Buchanan und Tullock (1962/1965) kommen zu dem Ergebnis, daß es weder optimal ist, alle Entscheidungen einstimmig, noch gemäß dem aus der Demokratietheorie bekannten „50% + 1 Stimme-Mehrheitsprinzip" zu treffen. Faßt man beide Kostenfunktionen zusammen, so kann man eine „optimale" bzw. „effiziente" Entscheidungsregel, bei der die Kosten minimal sind und die unterhalb der Einstimmigkeitsforderung liegt, ausmachen (Buchanan und Tullock 1962/1965, 70). Es liegt im konsensfahigen konstitutionellen Interesse der Individuen, Kooperationskosten senkende Entscheidungsregeln und deren Anwendungsbereiche in der Verfassung festzulegen, denn sie werden die Suche nach Kooperationslösungen ausweiten.26 Buchanan und Tullock stellen somit das pragmatisch begründete Vorgehen Wicksells auf ein theoretisches Fundament.

2. Gruppengröße Die Kosten pro Entscheidung können durch die Größe und Zusammensetzung der Gruppe verändert werden.27 Nicht alle Interessen in einer Gesellschaft sind gleich gut zu organisieren. Es hängt vor allem von der Gruppengröße ab, wie leicht die Interessen organisiert werden können: Je größer die Gruppe, um so schwieriger ist es, das gemeinsame Interesse zu finden und es zu organisieren. Es ist also wahrscheinlicher, in kleinen Gruppen Konsens über kooperative Problemlösungen zu erzielen als in großen. Um die Entscheidungskosten zu senken und die Suche nach konsensfähigen Kooperationsstrategien zu erleichtem, wäre eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte Entscheidungs-

26 Durch den einstimmigen Beschluß der Individuen über die Entscheidungsregel bringen diese ihr konsensfahiges konstitutionelles Interesse zum Ausdruck. Durch den Beschluß wird jedoch auf der subkonstitutionellen Ebene eine Reihe neuer Strategien ermöglicht: Stimmenhandel, zirkuläre Mehrheiten sowie Trittbrettfahrerverhalten können in der Folge auftreten. 27 Mancur Olsort (1965/1971; 1982, 17-35) machte auf diese Problematik aufmerksam. Auch bei Buchanan (1977, 161) findet sich die Problematik des „large-number dilemma".

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findung vorzuschlagen.28 Ein mehrstufiger Staats- und Gesellschaftsaufbau, wie er aus dem Föderalismus bekannt ist, fuhrt somit auch zur Senkung der Kosten der Kooperation. Mit der Entscheidungskosten senkenden Dezentralisierung gehen Fehlerkosten einher: Durch ein mögliches Verharren in der Dezentralität können mögliche Skalenerträge unter Umständen nicht genutzt werden. Fiskalische Externalitäten wirken sich möglicherweise negativ auf die Entscheidung über die Bereitstellung öffentlicher Leistungen aus. Die Kosten der Einstimmigkeit hängen jedoch nicht nur von der absoluten Größe der Gruppe ab, sondern auch von deren Zusammensetzung. Handelt es sich um eine homogene Gruppe, wird die fur Gemeinschaftsaktionen notwendige Konsensfmdung erleichtert. Bei Gruppen mit stark variierenden Präferenzen wirken die zu erwartenden Entscheidungsfindungskosten prohibitiv. Ermöglicht man es den Individuen, sich in selbst zusammengesetzten Gesellschaften (self-selected-group) zu finden, kann dies zu einer geringeren Variation der Präferenzen und zum Sinken der zu erwartenden Entscheidungskosten fuhren. Die Suche nach Kooperationslösungen und nach Kooperationsgewinnen wird somit ausgeweitet. Bei den selbst selektierten Gruppen können ebenfalls Fehlerkosten auftreten. Aufgrund von geringerer Vielfalt können möglicherweise Synergieeffekte ausbleiben, die in heterogenen Gesellschaften auftreten. Gesellschaftliche Risiken können sich verstärken, die in inhomogenen Gruppen gestreut sind und sich dadurch aufheben. Auch bei der Gruppengröße und der Gruppenzusammensetzung kann es somit zum Abwägen von Vor- und Nachteilen kommen. 3. Paketlösungen Der dritte Anknüpfungspunkt setzt an der Häufigkeit der zu treffenden Entscheidungen an. Im Modell Wicksells muß fur jede neue Ausgabe, die der Staat tätigt, ein eigener Kostenverteilungsschlüssel gefunden werden. Dieser muß den konsensfähigen Interessen der Bürger genügen. Die regelmäßige Suche nach geeigneten Verteilungsschlüsseln verursacht erhebliche Kosten für die Bürger und schränkt daher die Suche nach Kooperationslösungen von vornherein ein. Die zu erwartenden Entscheidungskosten können gesenkt werden, indem seltener Abstimmungen durchgeführt werden. Dies ist nur möglich, wenn mehrere Kooperationsprojekte zu einer Gruppe zusammengefaßt und deren Kosten über einen gemeinsamen Kostenverteilungsschlüssel verteilt werden. Einen solchen umfassenden Kostenverteilungsschlüssel kann man in einem engen oder einem weiten Bezug zu den zugrundeliegenden Kooperationsprojekten definieren. Ein enger Bezug läge vor, wenn die Bürger ein bestimmtes, genau umrissenes Paket öffentlicher Leistungen in Bezug zu einem Kostenverteilungsschlüssel setzen. Das Gesamtpaket muß für jedes Individuum einen Netto vorteil aufweisen. Aufgrund der geschnürten Kooperationspakete werden Kosten der Entscheidungsfindung reduziert. Problematisch erscheint dabei, daß nicht alle Projekte, welche im Paket eingeschlossen sind, dem Erfordernis der Einstimmigkeit genügen müssen. Der Nachteil ei28 Die dezentrale Suche nach Kooperationslösungen kann jedoch dazu fuhren, daß Kooperationsgewinne auf umfassenderer Ebene aus dem Blickfeld geraten.

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nes Projektes kann durch die Vorteile der anderen Projekte im Paket ausgeglichen werden. Durch die Paketlösung können Projekte realisiert werden, die bei Einzelentscheidungen an der Hürde der Einstimmigkeit gescheitert wären. Die Bürger könnten sich somit besserstellen, wenn sie diese Projekte nicht realisieren würden. Fehlerkosten sind somit die Kosten, die dadurch entstehen, daß nicht im gemeinsamen Interesse liegende Paketbestandteile realisiert werden und einen Teil der Kooperationsvorteile der im gemeinsamen Interesse liegenden Projekte aufzehren. Ein weiterer Bezug zu den tatsächlichen Projekten läge vor, wenn ein Verteilungsschlüssel definiert würde, der die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft der Bürger für zukünftige Kooperationsprojekte widerspiegelt {Blankart 1995, 450). Es kann also im konsensfahigen Interesse der Bürger liegen, eine oder mehrere objektive Bemessungsgrundlagen zu definieren, über die die Kosten von zukünftigen, vage umrissenen Kooperationsprojekten verteilt werden. Die Bürger stellen in bestimmtem Umfang gemäß der beschlossenen Bemessungsgrundlage Mittel zur Verfügung,29 die für künftige Kooperationsprojekte eingesetzt werden können. Der monetäre Umfang der für Kooperationsprojekte bereitgestellten Mittel wird durch Abstimmung festgelegt und unterscheidet sich damit von der üblicherweise bekannten Einnahmegenerierung des Staates in repräsentativen Demokratien. Für die Auswahl der künftigen Projekte bedarf es analog zur repräsentativen Demokratie einer entscheidungsbefugten Institution, die über die Verwendung der Mittel befindet. Folglich entstehen für die Bürger zusätzliche Risiken und Kosten aufgrund der notwendigen Delegation der Projektauswahlkompetenz. Die Delegation birgt die Gefahr, daß Kooperationsprojekte verwirklicht werden könnten, die nicht im gemeinsamen Interesse der Bürger liegen. Den sinkenden Entscheidungskosten aufgrund der reduzierten Abstimmungshäufigkeit stehen somit Kosten der Entscheidungsdelegation bzw. Vertretungskosten gegenüber. Faßt man die mit dem Aggregationsniveau fallenden Entscheidungskosten und die mit ihm steigenden Delegationskosten zu einer Gesamtkostenfunktion zusammen, so ergibt sich ein U-fÖrmiger Verlauf. Am Tiefpunkt der Funktion kann folglich das kostenminimale Aggregationsniveau ermittelt werden.

29 Es bedarf einer Bemessungsgrundlage, die die zukünftigen Bedürfnisse nach öffentlichen Leistungen der einzelnen Bürger wiedergibt. Wickseil schließt beispielsweise die Besteuerung durch eine progressive Einkommensteuer nicht aus (siehe das Zitat in Fußnote 11). Werden Projekte durchgeführt, die vor allem wohlhabenden Bürgern zugute kommen, so wird eine progressive Einkommensteuer Ergebnis - nicht Ziel - der konsensualen Suche nach einer geeigneten Bemessungsgrundlage sein. Es kann durchaus sein, daß für Bereiche, in denen das Interesse an Staatsleistungen nicht genau zugeordnet werden kann, eine Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip ganz ausgeschlossen werden kann (Buchanan 1952, 600). Als denkbare Bemessungsgrundlagen bieten sich die in der Realität zu beobachtenden Größen Einkommen, Konsum, Vermögen oder auch Köpfe an, wobei diese Größen mit linearen oder progressiven Faktoren gewichtet werden können. Vgl. auch Gerken, Markt und Schick (2000, 7f. FN 1).

210 · JörgMärkt

VI. Schlußbemerkung Wickseil war mit Sicherheit kein angepaßter Ökonom. Seine Arbeiten können als Ausgangspunkt einer kritischen Vertragstheorie gewertet werden. Der konsequente Individualismus, die an einem gerechten Verfahren orientierte kollektive Entscheidung und die Ansätze zur Beantwortung der Verteilungsfrage lassen ihn als Begründer einer modernen Vertragstheorie erscheinen. Obwohl er sich selbst nicht in die Nähe vertragstheoretischer Denker rückte, ist er heute die entscheidende Quelle einer vertragstheoretisch begründeten verfassungsökonomischen Steuerlehre. Wickseil versuchte das Grundübel hoheitlichen Handelns, den Zwang, zu bekämpfen. Die Freiheit als Abwesenheit von Zwang war fur Wickseil das zentrale Motiv, um eine Steuerlehre vom Individuum aus zu entwickeln. Dieser Ansatz bietet auch heute noch viele interessante Anknüpfungspunkte fur Forschungsarbeiten außerhalb der Mainstream-Ökonomik. Einerseits bieten sich Möglichkeiten, basierend auf Wickseih konsequentem Individualismus, anstehende Kollektiventscheidungen zu diskutieren. Wie Wickseil vorschlug, sollte dazu bei der Bestimmung und Finanzierung öffentlicher Aufgaben das letztliche Prüfkriterium die allgemeine Zustimmung der Beteiligten sein. Vor allem im Bereich des Leistungsstaates, der durch die Ressourcenzusammenlegung der Individuen Kooperationserträge für alle erschließt, sollten sich Ökonomen bei der Suche nach einem Kostenverteilungsschlüssel verstärkt am gemeinsamen Interesse der Bürger und dem Erfordernis der Einstimmigkeit orientieren. Für die Verteilungsfrage finden sich bei Wickseil interessante Anknüpfungspunkte. Insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen der historisch überkommenen und sich in freiwilligen Verträgen reproduzierenden Ausgangsverteilung und einer als gerecht empfundenen Verteilung wird von Wickseil deutlich gemacht. Die Herstellung einer gerechten Ausgangsverteilung ist jedoch auch im Wicksellschcn Ansatz nicht ohne Bezug auf ein externes Kriterium möglich. Dennoch können bei gutwilliger Lesart Wicksells Möglichkeiten der Umverteilung identifiziert werden, die dem Prinzip der Einstimmigkeit standhalten. Andererseits bieten sich Forschungsmöglichkeiten, die den Anwendungsbereich des Wicksellschen Ansatzes erweitern, indem die Entscheidungskosten gesenkt werden. Dabei steht die Struktur, innerhalb derer kollektive Entscheidungen getroffen werden, selbst zur Debatte. Es geht somit um die Suche nach Regeln, die die Kosten der kollektiven Entscheidung senken und selbst wiederum im konsensfahigen Interesse der Bürger sind.

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Wickseil - Begründer einer kritischen Vertragstheorie · 211 Blankart, Charles B. (2000), Steuern als Preise: Eine finanzwissenschaftliche Untersuchung mit einer Anwendung auf die EU-Zinsbesteuerung, Vortrag auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Berlin am 21.09.2000. Brennan, Geoffrey and James M. Buchanan (1980), The Power to Tax: Analytical foundation of the fiscal constitution, Cambridge. Brennan, Geoffrey and James M. Buchanan (1985), The reason of rules: Constitutional political economy, Cambridge. Buchanan, James M. (1951/1952), Knut Wicksell on Marginal Cost Pricing, The Southern Economic Journal, Bd. 18, S. 173-178. Buchanan, James M. (1952), Wicksell on Fiscal Reform: Comment, The American Economic Review, Bd. 52, S. 599-602. Buchanan, James M. (1967), Public Finance in Democratic Process, Chapel Hill. Buchanan, James M. (1975), The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan, Chicago. Buchanan, James M. (1976), A Hobbesian Interpretation of the Rawlsian Difference Principle, Kyklos, Vol. 29, S. 5-25. Buchanan, James M. (1977), Freedom in Constitutional Contract: Perspectives of a Political Economist, Collage Station. Buchanan, James M. (1986), Political Economy and Social Philosophy, in: James M. Buchanan, Liberty, Market and State, Brighton, S. 261-274. Buchanan, James M. (1999), Origins, Experiences, and Ideals: A Retroperspective Assessment, in: James M. Buchanan and Richard A. Musgrave (Hrsg.), Public finance and public choice: Two contrasting visions of the State, Cambridge, S. 11-28. Buchanan, James M. and Gordon Tullock (1962/1965), The Calculus of Consent, Neuauflage, Ann Arbor. Coleman, James S. (1975), Social Structure and a Theory of Action, in: Peter M. Blau (Hrsg.), Approaches to the Study of Social Structure, New York, S. 76-93. Diamond, Peter and James A. Mirrlees (1971a), Optimal Taxation and Public Production I: Production Efficiency, American Economic Review, Vol. 61, S. 8-27. Diamond, Peter and James A. Mirrlees (1971b), Optimal Taxation and Public Production Π: Tax Rules, American Economic Review, Vol. 61, S. 261-278. Faber, Malte (1973), Einstimmigkeitsregel und Einkommensumverteilung, Kyklos, Vol. 26, S. 36-57. Gardlund, Torsten (1958), The Life of Knut Wicksell, Stockholm. Gerken, Lüder, Jörg Märkt und Gerhard Schick (2000), Internationaler Steuerwettbewerb, Tübingen. Gierke, Otto von (1868/1954), Das deutsche Genossenschaftsrecht, Graz. Hobbes, Thomas (1651/1839), The Leviathan, or the Matter, Form, and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil, Neuauflage, London. Homann, Karl und Ingo Pies (1996), Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik, in: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, S. 203-239. Kirchhof, Paul (1992a), Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Josef Isensee und Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V: Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg, S. 837-972. Kirchhof, Paul (1992b), Gleichheit in der Funktionenordnung. In: Josef Isensee und Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V: Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg, S. 973-1016. Lindahl, Erik (1919), Die Gerechtigkeit in der Besteuerung: Eine Analyse der Steuerprinzipien auf Grundlage der Grenznutzen theorie, Lund. Lindahl, Erik (1958), Introduction: Wicksell's Life and Work, in: Erik Lindahl (Hrsg.), Knut Wicksell. Selected Papers on Economic Theory, London, S. 9-48. Mill, John Stuart (1848/1926), Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy, Neuauflage, London. Mirrlees, James A. (1971), An Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation, Review of Economic Studies, Vol. 38, S. 175-208.

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Wickseil - Begründer einer kritischen Vertragstheorie · 213 Wickseil, Knut (1894/1959), Die Ausweitung des Bewilligungsrechtes, eine Voraussetzung für Finanzreformen, Finanzarchiv, Bd. 19, S. 235-239. (Ursprünglich unter dem Pseudonym Sven Trygg als Schlußabschnitt von "Unsere Steuern - wer sie bezahlt und wer sie bezahlen sollte" Stockholm veröffentlicht)

Wicksell, Knut (1896), Finanztheoretische Untersuchungen nebst Darstellungen und Kritik des Steuerwesens Schwedens, Jena. Wicksell, Knut (1898), Geldzins und Güterpreise bestimmende Ursachen, Jena. Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wird Knut Wicksell anläßlich seines 150. Geburtstages gewürdigt. Zunächst wird Wickseils Leben und Werk kurz vorgestellt, bevor auf seine zentralen Leistungen für die Theorie der Besteuerung eingegangen wird. Das von Wicksell entwickelte Prinzip der Einstimmigkeit ist Grundlage einer ökonomischen Vertragstheorie, mit der dem Bürger Möglichkeiten von Kooperationsvorteilen aufgrund der Bereitstellung bestimmter öffentlicher Leistungen aufgezeigt werden können. Wicksell wird in dem Beitrag als Begründer einer kritischen Vertragstheorie präsentiert. Eine kritische Vertragstheorie muß drei Elemente beinhalten: Als erstes muß ihre Argumentation streng individualistisch sein. Zweitens sollte nach einem gerechten Verfahren und nicht nach einem „gerechten" Ergebnis bei der Bestimmung öffentlicher Aufgaben gesucht werden. Und drittens sollte eine kritische Vertragstheorie die Verteilungsfrage nicht aus dem Blick verlieren. Alle drei Elemente wurzeln im Wicksellschen Werk. Obwohl Wicksell der Lösung der Verteilungsfrage, mit dem von mir als „produktive Regeln der Umverteilung" bezeichneten Konzept, sehr nahestand, war er selbst bezüglich ihrer prinzipiellen Lösung eher pessimistisch. Bei kritischer Betrachtung fällt auf, daß Wicksell in seinem Modell die Entscheidungskosten nicht berücksichtigte. Daher wird am Schluß des Beitrages dargelegt, wie ihre Berücksichtigung Möglichkeiten für weitere Forschung bietet. Summary Knut Wicksell: on the occasion of the 150th birthday of the founder of a critical contract theory On the occasion of his 150th birthday this paper serves the purpose of honouring Knut Wicksell. First, the life and work of Wicksell is portrayed. Subsequently, the attention is directed to his central contribution to the theory of taxation. The contemporary economic contract theory mainly rests upon the principle of unanimity developed by Wicksell. This principle is apt to guide the citizens' search for mutual gains from cooperation through the provision of public goods. Wicksell is presented as the founder of a "critical contract theory". Such a critical contract theory must comprise three basic elements: Firstly, its reasoning has to be strictly individualistic. Secondly, it has to be, pertaining to the finding of public functions and to the provision of public goods, in search of a procedural as opposed to an

2 1 4 · Jörg Markt

outcome oriented justice. Thirdly, a critical contract theory should not lose sight of social and distributive issues. In this contribution it is suggested that all three elements of the critical contract theory are rooted in Wicksell's work. Even though Wicksell develops what I prefer to call the concept of "Productive Rules for Redistribution" and thereby approximates a solution for the problem of distribution, he himself remains remarkably pessimistic about the solvability of the problem of a just distribution. After careful consideration it strikes that Wicksell did not explicitly consider the costs of decision making. In this regard, the paper concludes by offering a range of possibilities for future research.

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Bernhard Seliger

Die Krise der sozialen Sicherung und die Globalisierung Politische Mythen und ordnungspolitische Wirklichkeit

I. Einführung Die Debatte um die Auswirkungen der Globalisierung scheint sich in zwei verschiedenen Welten abzuspielen: Auf der einen Seite werden die wirtschaftlichen Folgen, insbesondere für die Faktormärkte und Technologieentwicklung, betrachtet; man spricht von der „neuen Ökonomie" mit längeren Aufschwungphasen, einem inflationsfreien Wachstum bei niedriger Arbeitslosigkeit und hoher Produktivität. Auf der anderen Seite stehen die sozialen Auswirkungen der Globalisierung im Mittelpunkt des Interesses, und man beklagt das Ende nationaler Handlungsfreiheit und eine hierdurch ausgelöste Krise der sozialen Sicherungssysteme. Für eine solche Krise gibt es in Deutschland und Europa unzweifelhaft deutliche Anzeichen. Was aber folgt daraus für die Wohlfahrt der Menschen in diesen Ländern? Die Krise der sozialen Sicherungssysteme hat zu einer Verwirrung bei den Begriffen „Wohlfahrt" bzw. „sozialer Sicherung" und „Wohlfahrtsstaaten" geführt: Wohlfahrt kann sich auf eine Vielzahl von Lebensbedingungen beziehen, etwa Absicherung gegen Einkommensrisiken in Alter und Krankheit, Arbeitslosigkeit, Bildungsmöglichkeiten, und vielfältige Vitalbedingungen und Sozialbeziehungen, die sich primär in Familien, Freundschaften, Vereinen oder Betriebsgemeinschaften entwickeln. Insofern ist eine Krise der sozialen Sicherungssysteme nicht imbedingt mit einer Krise der Wohlfahrt eines Landes verbunden; krisenhafte soziale Sicherungssysteme sind typischerweise ein Kennzeichen wohlhabender Industriestaaten. Andererseits läßt sich weltweit eine Neuaufteilung der Aufgabenverteilung von Staat, Gemeinschaften und Individuen bei der sozialen Sicherung beobachten. Im Hinblick auf die Absicherung von Lebensrisiken und die Schaffung von Lebenschancen gibt es im internationalen Vergleich Gesellschaften, die hierfür hauptsächlich private Vorkehrungen kennen, nicht selten im Familienverband. Das andere Extrem bilden die hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten. Die folgende Übersicht vermittelt einen Eindruck von der Rolle des Wohlfahrtsstaates in verschiedenen Weltregionen. Tabelle 1 stellt eine Vereinfachung der existierenden Wohlfahrtssysteme dar.1

1

Es handelt sich um Idealtypen; die realen Ausprägungen sind vielfältig (etwa nach städtischen und ländlichen Regionen) und unterliegen im Zeitablauf dem Wandel.

2 1 6 · Bernhard Seliger

Tabelle 1 : Wohlfahrtssysteme und ihre Krisen Region

Träger der Charakteristika Krise des Wohlsozialen Siche- der sozialen fahrtssystems rung Sicherung

(1) Angelsächsische Staaten (USA, Großbritannien seit den Reformen von Thatcher, Neuseeland und Australien seit den Reformen der 1980er Jahre).

Mischsysteme staatlicher und privater Wohlfahrtssicherung; starke Betonung der Eigenverantwortung und Subsidiarität.

(2) Kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaaten.

Residualer Wohlfahrtsstaat; kriteriengebundene Armutsvermeidung.

Literatur

Krisen in den 1970er Jahren; Reformen in den 1980er Jahren und 1990er Jahren.

Zu Neuseeland: Bollard et al. (1996); Knorr (1998); zu Großbritannien: Hills (1998); Eichenhofer (1999).

Gesetzliche SozialverAusgebauter Wohlfahrtssicherung; teilweise staat. (besonders in Südeuropa) wichtige Rolle nichtstaatlicher Einrichtungen (z.B. Kirche und Familie).

Finanzierungskrise; demographische Krise; Krise des Anreizsystems.

Olson (1995); Berthold und Fehn (1997); Seliger (2001).

(3) Skandinavische Wohlfahrtsstaaten.

Basierend auf gesetzlicher Sozialversicherung.

Ausgebauter Wohlfahrtsstaat; basierend auf egalitären Prinzipien (umfassende Absicherung und Umverteilung); „Recht auf Wohlfahrt".

Wie (2), allerdings in stärke- Olson (1995); rem Ausmaß; in Finnland Lindbeck (1996). und Schweden schwere Krise Anfang der 90er Jahre.

(4) Osteuropäische und zentralasiatische Transformationsstaaten.

Basierend auf gesetzlicher Sozialversicherung; in Zentralasien wichtige Rolle nichtstaatlicher Einrichtungen, insbesondere Familien verbände.

Ausbau von Wohlfahrtsstaaten nach dem Vorbild Westeuropas.

Dysfunktionale Koexistenz von Elementen des sozialistischen Wohlfahrtsstaates und der neuen Marktwirtschaft (Transformationskrise).

Schüller und Weber {1998).

(5) Ostasiatische Staaten.

Traditionelle Wohlfahrtssicherung durch Familien; Ausbau des Wohlfahrtsstaates in Japan und Südkorea; in China "iron rice bowF' System (sozialistischer Wohlfahrtsstaat).

Sehr unterschiedliche Systeme je nach Entwicklungsstand der Länder, aber ein allmählicher Ausbau des Wohlfahrtsstaates.

Nach der Asienkrise teilweiser Zusammenbruch der traditionellen Wohlfahrtssicherung (Anstieg der Arbeitslosigkeit, fehlende Absicherung durch Familien in den Städten); in den vormals sozialistischen Staaten wie China Transformationskrise wie in (4).

Zu den Wohlfahrtssystemen nach der Asienkrise: Ranis und Stewart (1999); McFarlane und Nyland (2000); zu Japan: Akira (1999); Takao (1999); zu China: Kiyonari (2000).

(6) Lateinamerikanische Staaten.

Mischsysteme privater Absicherung und gesetzlicher Sozialversicherung.

Die Sozialversicherung westlicher Prägung erfaßt nur einen kleinen Teil der städtischen Bevölkerung, ansonsten private Absicherung.

Dauerkrisen des Wohlfahrtsstaates (z.B. Finanzierungskrisen); in Chile eine vielbeachtete Reform.

Kay (2000); Barreto de Oliveira (1994); zu Chile: Eisen (2000); Schmähl (2000).

(7) Entwicklungsländer Afrikas und Südasiens.

Traditionelle Absicherung der Wohlfahrt durch Familien.

Zeitweises Versagen der sozialen Sicherung in der Subsistenzwirtschaft.

Transformationskrisen bei Entwicklungsprozessen wie in Indien; politisch verursachte Krisen (Kriege und Kriegs folgen).

Schucher (2000).

(8) Islamische Staaten.

Mischsysteme staatlicher und privater Absicherung; wichtige Rolle der Famiii enverbände.

Basis auch für die soziale Transformationskrisen bei Sicherung ist das islami- Entwicklungsprozessen; sche GesellschaftssyRechtfertigungskrise (z.B. stem. Rolle der Frau).

Mazrui (1998); Wielandt (2000).

Krise der sozialen Sicherung · 2 1 7

Der Vergleich von mehr staatlichen oder mehr privaten Sicherungslösungen bezieht sich nicht auf die Höhe der Absicherung, sondern nur auf den Aspekt des Trägers. Gezeigt werden soll lediglich, daß es eine Vielzahl möglicher Systeme der Wohlfahrtssicherung gibt und daß Krisen in allen Systemen auftauchen. Zu klären ist, inwieweit diese eine einheitliche Ursache, nämlich die Globalisierung, haben. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Typen (1) bis (3) (zur Einteilung siehe Esping-Andersen 1990). Die Kritik am Wohlfahrtsstaat beginnt nicht erst, wie vielfach angenommen wird, in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sondern beginnt schon mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung.2 Die Kritik am Wohlfahrtsstaat in Verbindung mit der Globalisierung ist demgegenüber relativ neu. Lindbeck (1995) nennt beispielsweise vier Hauptprobleme des Wohlfahrtsstaates in einer dynamischen Sicht: Verhaltensanpassungen der Individuen an veränderte Anreizsysteme, kurzfristige makroökonomische Probleme, Verhaltensanpassungen der Politiker und Verwaltung sowie die Ersetzung von Marktrisiken durch politische Risiken. Sämtliche Probleme resultieren aus der inneren Logik des Wohlfahrtsstaates, nicht aus äußeren Einflüssen. Gleichwohl ist die Literatur, die die Globalisierung als Hauptschuldigen der Krise der sozialen Sicherungssysteme sieht, in den letzten Jahren ständig angewachsen.3 Der durch die Globalisierung ausgelöste Wettbewerb der (Sozial-)Systeme wird dabei zumeist negativ gesehen. Zudem legt es der Umstand, daß Krisen in verschiedenen Wohlfahrtssystemen auftreten, nahe. Es fragt sich, ob die möglicherweise gleiche Ursache der Krise (Globalisierung) auch zu gleichen Antworten führt, ob es also zu einer Konvergenz der Sozialsysteme durch die Globalisierung kommt. Bei den oft gewalttätigen Demonstrationen gegen Organisationen, die wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO) in der öffentlichen Diskussion als Promotoren der Globalisierung gelten, sind die vermeintlich gleichmacherischen Folgen der Globalisierung einer der Hauptvorwürfe. Im folgenden werden zunächst im zweiten Abschnitt der Wohlfahrtsstaat als institutionelles Regime im Wettbewerb der Institutionen und der Einfluß der Globalisierung auf diesen Wettbewerb analysiert. Danach werden einige verbreitete Mythen über die Wirkung der Globalisierung auf die Systeme der Wohlfahrtsstaaten diskutiert (ΙΠ.). Zum Schluß folgen einige Gedanken zur Reform der sozialen Sicherungssysteme im Kontext der Globalisierung (IV.).

II. Der Wohlfahrtsstaat im Wettbewerb der Systeme Wettbewerb findet nicht nur auf Märkten für Güter und Produktionsfaktoren statt, sondern ist ein Grundprinzip menschlichen Handelns (Prosi 1994). Dennoch hat sich die Wettbewerbstheorie lange Zeit hauptsächlich mit den genannten Märkten befaßt. Aber auch die Entwicklung von Institutionen ist das Ergebnis eines interdependenten 2 3

Siehe etwa Hayek (1971), Barr ( 1993). Siehe zum Beispiel Seeleib-Kaiser ( 1997), Lessenich ( 1997), Franzmeyer ( 1999), Butterwegge ( 1999), Friedrich (2000), Sinn (2000), Schmid (2000), Scharpf (2000).

2 1 8 · Bernhard Seliger

Wettbewerbs im Spannungsfeld von politischen und wirtschaftlichen Märkten.4 In diesem Wettbewerb wird zum Beispiel eine institutionelle Alternative A gegenüber der Alternative Β - beispielsweise ein Standort mit niedrigen Lohnnebenkosten gegenüber einem Standort mit hohen Lohnnebenkosten - vorgezogen.5 Neben dieser £x#-Option kommt es auch zu Veränderungen von Institutionen aufgrund von politischem Handeln, beispielsweise Demonstrationen oder Wahlen (Voice). Die Handlungsalternativen im politischen Wettbewerb sowie die Wahlhandlungen im institutionellen Wettbewerb betreffen allerdings nie die Wahl einer einzigen Institution. Politische Programme oder institutionelle Regimes als ein Bündel verschiedener Institutionen (beispielsweise bei der Standortwahl politische und soziale Institutionen, Umweltbedingungen, politische Stabilität) werden insgesamt ausgewählt.6 Die durch institutionelle Arrangements bedingten Wahlhandlungen im ökonomischen Wettbewerb haben Rückwirkungen auf den politischen Wettbewerb. So kann die durch Abwanderung aufgrund institutioneller Rigiditäten verursachte Arbeitslosigkeit die Wahlchancen von Parteien verringern. Politiker und Parteien können darauf mit einem veränderten Angebot an Institutionen reagieren. Zwei Charakteristika dieses Institutionenwettbewerbs sind besonders wichtig: Der Wettbewerb institutioneller Regimes ermöglicht erstens institutionelles Lernen (die Imitation von Institutionen) oder die Einfuhrung neuer Institutionen durch innovative politische Unternehmer, die dadurch ihre Wahlchancen erhöhen können. Insofern stellt er einen Anreiz zur Verbesserung von Institutionen dar (Innovationsfunktion) und ermöglicht gleichzeitig - durch den Mechanismus der Abwanderung - auch eine Kontrolle politischen Handels. Dieses Handeln kann allerdings zweitens entweder eine Verbesserung der Institutionen zum Ziel haben (Leistungswettbewerb) oder eine Abschottung vor Wettbewerb (Behinderungswettbewerb), so daß die Ergebnisse institutionellen Wettbewerbs bei Fehlen eines wettbewerbspolitischen Rahmens nicht immer vorteilhaft sind, sondern auch in Abschottung und Protektionismus enden können. Der Markt für Institutionen ist also unvollständig, und eine Wettbewerbsbehörde für den institutionellen Wettbewerb fehlt (Prosi 1991b).7 Der Wohlfahrtsstaat, wie er sich in Europa in den verschiedenen Ausprägungen seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, kann als eine Innovation auf dem Markt für Institutionen verstanden werden. In Deutschland sind Bismarcks Sozialreformen ein Beispiel fur die Interdependenz von politischem Wettbewerb und ökonomischen Erwägungen.8 Danach hat der Wohlfahrtsstaat insbesondere in Nord- und Westeuropa seinen Siegeszug angetreten. Während er gemessen an Migrationsströmen bis heute attraktiv erscheint, gibt es intern erheblichen Problemdruck. 4 5 6 7

8

Siehe den Überblick in Seliger (1998 und 1999). Zum Vorziehen als Grundprinzip des Wettbewerbs siehe von Mises (1933, 139). Dies wird allerdings in den Modellen zum Standortwettbewerb vernachlässigt, die mit ceteris paribusBedingungen arbeiten. Zum Standortwettbewerb siehe die Beiträge in Siebert (1995). Insbesondere die Implementierung eines die Politiker beschränkenden Wettbewerbsrahmens für den Institutionenwettbewerb ist problematisch. Die konstitutionelle Ökonomik hat sich mit den Möglichkeiten eines solchen Rahmens in letzter Zeit verstärkt auseinandergesetzt; siehe Eichenberger und Frey (1995); Kerber (1998); Vaubel (2000). Zur geschichtlichen Entwicklung siehe Ritter (1998) sowie Eichenhofer (2000). Zur ökonomischen Beurteilung siehe Vaubel (1996 und 1998).

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Die interne institutionelle Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten ist besonders in Phasen langer politischer Stabilität wie in Westeuropa seit dem Ende des zweiten Weltkriegs durch die Gefahr zunehmender Sklerotisierung, d.h. einer Akkumulation von Wettbewerbsbeschränkungen und -ausnahmen durch das Handeln von Interessengruppen im Sinne von Olson (1982) gekennzeichnet.9 Die Verbindung des Wohlfahrtsstaates mit keynesianischer Finanzpolitik sollte eine positive Rückkoppelung (virtuous circle) von Vollbeschäftigungspolitik und der Integration sozialer Randgruppen in den Arbeitsmarkt durch Wohlfahrtsprogramme sowie von steigender Wohlfahrt breiter Massen und steigender Produktivität sicherstellen. Durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates ergab sich jedoch eher ein Teufelskreis: Der Wohlfahrtsstaat wird dysfunktional und fördert eine Kultur der Abhängigkeit, zum Beispiel durch die Armutsfalle, d.h. die hohen marginalen Steuersätze, die die Arbeitsaufnahme für gering qualifizierte Arbeitnehmer unattraktiv werden lassen. Gleichzeitig steigen die Kosten der Sozialpolitik, was wiederum zur Abwanderung von Arbeitsplätzen fuhrt (Snower 2000, 40-44). Die Möglichkeit sozialer Dilemmata der eben beschriebenen Form wird bereits ausfuhrlich von Röpke (1950/1979) diskutiert. In der Globalisierung aber scheinen jetzt institutionelle Arrangements, die wie in Schweden und Deutschland lange Zeit auf große Zustimmung beim Wähler stießen und insofern erfolgreich waren, nicht mehr überlebensfähig (Lindbeck 1988; Olson 1995). Das Problem der Fehlanreize im Wohlfahrtsstaat und das Problem der Ausweitung von Regulierungen sind zunächst interne Probleme des Wohlfahrtsstaates. Sie führen zur Sklerotisierung der Märkte, d.h. zu mangelnder Anpassungsfähigkeit und dadurch zu Ungleichgewichten, insbesondere zu steigender struktureller Arbeitslosigkeit. Es ist jedoch auch zu fragen, inwieweit die Globalisierung diese Probleme verstärkt und möglicherweise sogar die Überlebensfähigkeit des Wohlfahrtsstaates im institutionellen Wettbewerb gefährdet. Dazu bedarf es zunächst des Verständnisses darüber, was mit Globalisierung gemeint ist (siehe die Definitionen von Walter 1996; Giddens 1998, 2833). Wird darunter der „Prozeß der Entgrenzung der Wirtschaft" verstanden, gibt es hierfür folgende Anzeichen: Mit dem Untergang des Bretton Woods-Systems 1973 ist es zu einer langsamen, dann beschleunigten Entgrenzung der Kapitalströme gekommen. Dieser Vorgang hat, politisch und technologisch bedingt, besonders seit Anfang der 1990er Jahre zugenommen. Die Liberalisierung der Kapitalmärkte dehnte sich auf die ostasiatischen und lateinamerikanischen, später auch die osteuropäischen Volkswirtschaften aus. Die westlichen Kapitalmärkte gerieten damit unter zunehmendem Wettbewerbsdruck (Dietl et al. 1998; Walter 1998). Der Freizügigkeit des Kapitalverkehrs steht allerdings nicht eine gleichartige Zunahme der Migration, der Wanderung des Faktors Arbeit, gegenüber. Die Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts wurden durch die dynamische Einkommensentwicklung im Gefolge der Liberalisierung von Gewerbe und Handel ge-

9 Diese Entwicklung ist allerdings weder zwangsläufig, wie die Beispiele der durch lange Stabilität bei geringerer Sklerotisierung gekennzeichneten USA und der Schweiz zeigen, noch unumkehrbar, wie die erfolgreichen ordnungspolitischen Reformen zum Beispiel in Neuseeland oder Großbritannien zeigen.

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stoppt.10 Nur bei hoch qualifizierten Arbeitskräften ist eine etwas größere Mobilität zu finden. Ein weiterer Einflußfaktor der Globalisierung ist der durch den politischen Wandel in Osteuropa und anderen Weltregionen wie China entstandene Trend der Integration dieser Regionen in den Welthandel und die dadurch entstandene Verschiebung der Faktorreichlichkeiten.11 Gering und in steigendem Maße auch gut qualifizierte Arbeitskräfte sind in den neu integrierten Regionen reichlich verfugbar. Damit ist die relativ geschützte Position der Arbeitskräfte desselben Qualifikationsniveaus in Westeuropa prinzipiell zu Ende gegangen.12 Transport- und Kommunikationskosten sinken und ausländische Direktinvestitionen sowie der Import von Wissen durch Handel (Güter, die Wissen enthalten) steigen. Das fuhrt zu einem erleichterten Austausch von Wissen und damit auch zu einem Ende der geschützten Position der westlichen Staaten in Bezug auf Güter, die mit Hilfe des Produktionsfaktors Information produziert werden, wie zum Beispiel Software {Alecke 1999; Engel 1999). Die weltweite Öffnung der Kapitalmärkte, der Arbeitsmärkte und alles umfassend der Märkte fur Wissensaustausch stellt so die Finanzierungsgrundlage des bisherigen Wohlfahrtsstaates in Frage. Die Drohung der Unternehmen, in Länder mit kostengünstigeren Ordnungsbedingungen abzuwandern, ist glaubwürdiger geworden, zumal die versunkenen Kosten von Investitionen durch verminderte Transport- und Kommunikationskosten an Einfluß verlieren. Das Güterbündel „soziale Sicherung" ist einem härteren Qualitätstest unterzogen. Freilich ist hierbei die Frage nicht unerheblich, ob die Kosten tatsächlich im institutionellen Wettbewerb entscheidungsrelevant sind. Das ist nicht trivial, da das ganze Güterbündel „soziale Sicherung" zusammen mit vielen anderen Aspekten Standort- und Wanderungsentscheidungen beeinflußt. Einfache Schlußfolgerungen - wie sie etwa häufig im Hinblick auf Kapitalabflüsse aus Deutschland (der Nettobilanz der Direktinvestitionen) - gezogen werden, verbieten sich deshalb eigentlich von selbst. Auch sind die alternativen Lösungen, wie sie in anderen Staaten bestehen, sowie mögliche Neuerungen im Bereich der sozialen Sicherung einzuschätzen. Es kommt also darauf an, eine Antwort auf die veränderten Wettbewerbsbedingungen zu finden. Die Antworten, die im politischen Raum auf diese Veränderungen gegeben werden, ersetzen häufig wissenschaftliche Analyse durch vermeintlich wählerwirksame Schlagworte. Zur wissenschaftlicher Begründung werden dann Ergebnisse von ceteris paribus-Analysen der Auswirkungen der Globalisierung zitiert, die sich auf einzelne Wettbewerbsparameter (etwa Steuersätze, bestimmte Regulierungen oder die Lohnhöhe) beziehen. Sie können den komplexen Sachverhalt des Institutionenwettbewerbs allerdings nur unvollständig abbilden. Die so entstandenen Mythen um die Globalisierung 10 Zudem senkte der Ausbau der Wohlfahrtsstaaten die Kosten des Abwartens bei Arbeitslosigkeit deutlich und wurden gleichzeitig die Arbeitsmärkte im Sinne der dort Beschäftigten durch nationale Regulierung abgeschüttet. 11 Seit 1990 haben mehr als 30 Staaten eine Transformation von der ZentralverwaltungsWirtschaft zur Marktwirtschaft begonnen; mehr als 80 Staaten haben sich für Direktinvestitionen geöffnet; vgl. Dunning (1995, 127). Zur Integration der Arbeitsmärkte siehe Eckel (2000) sowie Straubhaar (2000). 12 Die geringeren Kosten, die eine geographische Nähe in Form von Transportkosten und den Kosten der Überwindung kultureller Barrieren bedingt, fuhren dabei zu einem stärkeren Wettbewerb Westeuropas mit den Ländern Mittel- und Osteuropas als mit denen Ostasiens.

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und ihre Auswirkungen auf den Wohlfahrtsstaat werden im folgenden Abschnitt untersucht.

III. Sechs Mythen über den Wohlfahrtsstaat und die Globalisierung Wie bei anderen komplexen Phänomenen, die den Menschen gleichzeitig bedrohlich und unerklärlich vorkommen, haben sich bei der Abschätzung der Folgen der Globalisierung für den Wohlfahrtsstaat vielfach Mythen gebildet, die entweder Rationalisierungsversuche darstellen oder aber dazu dienen, im politischen Prozeß Besitzstände zu schützen. Sicher geglaubte Wahrheiten - etwa über die Überlegenheit westlicher Produkte, „deutschen Fleiß" und „polnische Wirtschaft" - werden auf den Kopf gestellt, und sicher geglaubte Vorstellungen vom Wohlfahrtsstaat, etwa der säkulare Trend zur Arbeitszeitverkürzung, werden gestoppt und möglicherweise sogar umgekehrt. In der Wissenschaft müssen Erklärungsversuche - etwa über die Anreizwirkungen im Wohlfahrtsstaat - unter veränderten Bedingungen überprüft werden. Die Bedrohung der bisherigen Finanzierungsgrundlagen des Wohlfahrtsstaats provoziert auch eine Reihe von Einschränkungen im Wettbewerb der Institutionen, die wiederum gerechtfertigt werden müssen von denen, denen sie eine politische Rente verschaffen. Im folgenden werden sechs solcher Mythen von der Globalisierung dargestellt, die besonders weite Verbreitung gefunden haben. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt diese Darstellung allerdings nicht.

1. Der Mythos von der Konvergenz der Systeme Die Hypothese von der Konvergenz der Systeme bestimmte zeitweilig den Konflikt zwischen Marktwirtschaften und Zentralverwaltungswirtschaften. Danach würden insbesondere technische Zwänge die Wirtschaftsordnungen aneinander angleichen. Einerseits vertrat Rostow die These der Angleichung der sozialistischen Wirtschaftsordnung an die marktwirtschaftliche Ordnung, andererseits beschrieb Schumpeter den unausweichlichen „Marsch in den Sozialismus", während Tinbergen und Galbraith wechselseitige Konvergenz konstatierten. Konvergenz sollte sich dabei ergeben als unbeabsichtigte Konsequenz wirtschaftlichen Handelns, z.B. der Einführung bestimmter Produktionstechnologien (Massenfertigung), die bestimmter Organisationsformen bedürften (Großuntemehmung). Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Strukturen wurden dabei als eher unwichtig angesehen, was allerdings ein eklatantes Fehlurteil war und zu völlig falschen Voraussagen über die Angleichung der Wirtschaftssysteme führte (siehe die Kritik von Hensel 1961). In der Globalisierungsdebatte taucht diese Idee wieder auf, nämlich als die Konvergenz der Wohlfahrtsstaaten. Der ungehinderte Wettbewerb der Institutionen führe „ex post" zur Harmonisierung der Sozialsysteme, da sich im Wettbewerb nur eine Lösung durchsetzen könne. Je nach Beurteilung dieses Wettbewerbs wird diese entweder mit der Wirkung des Gesetzes von Gresham gleichgesetzt und negativ beurteilt oder aber als optimale Allokation der Ressourcen durch Wettbewerb gewürdigt. Die ordnungspo-

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litischen Folgerungen, die daraus gezogen werden, sind dementsprechend unterschiedlich: entweder die Forderung nach Einschränkung des "Wettbewerbswahn[s]" (Butterwegge 1999, 42) oder die Forderung, diesen Wettbewerb etwa durch Freizügigkeit der Produktionsfaktoren zu ermöglichen. Die Vorstellung von der Konvergenz der Sozialsysteme entspringt einer falsch verstandenen Anwendung des Modells der vollkommenen Konkurrenz: Wenn alle für den Wettbewerb relevanten Informationen bekannt sind, wenn das Gut „Wohlfahrtsstaat" homogen ist und die Präferenzen dafür überall gleich sind, dann kann Wettbewerb tatsächlich nur zu einer Lösung führen, dann ist Wettbewerb im Grunde überflüssig oder in den Worten von Hayeks (1969a, 249) eine "verschwenderische Methode". Tatsächlich aber handelt es sich beim Gut "Wohlfahrtsstaat" um ein heterogenes Güterbündel, das in einem oligopolistischen Wettbewerb der Wohlfahrtsstaaten angeboten wird und in dem die Präferenzen der Nachfrager - geprägt durch historisch gewachsene Sozialstrukturen, durch Werte und Faktorausstattungen und bedingt durch die Einkommenshöhe - völlig unterschiedlich sind (siehe Prosi 1991b, 77; Wagener 1999). Diese Unterschiedlichkeit ist übrigens nicht nur im zwischenstaatlichen Wettbewerb der Sozialsysteme vorhanden und erfordert und ermöglicht eine entsprechende Ausdifferenzierung der Sozialsysteme, sondern ist genauso gut ein Grund für die Ausdifferenzierung des Wohlfahrtsstaates innerhalb eines Landes. Bereits Tiebout (1956) hat in seiner bahnbrechenden Arbeit zum Wettbewerb im Bereich öffentlich angebotener Güter eine solche Ausdifferenzierung durch das Abstimmen mit den Füssen („voting with the feet") modelliert. Neuerdings wird es als „Cafeteria-System" als Alternative zum bisherigen homogenen Leistungsbündel und -niveau der Sozialversicherung diskutiert.13 2. Der Mythos von der wohlfahrtsstaatlichen Abwärtsspirale Bei dieser Spielart des Mythos von der Konvergenz der Systeme lautet die Frage: Können hohe soziale Standards gehalten werden, wenn sie im Wettbewerb miteinander stehen? Führt nicht der Wettbewerb dazu, daß der mobilste Faktor, nämlich das Kapital, nur in dem Maße angezogen werden kann, wie die Anlagebedingungen vorteilhaft sind, etwa die Steuern, Sozialabgaben und Umweltauflagen niedrig sind? Und führt nicht der Wettbewerb der Staaten um Kapital dazu, daß alle Staaten einen Anreiz haben, diese Standards in einem Prozeß der kompetitiven Abwertung immer weiter zu verringern, so daß am Ende dieses "race to the bottom" ein Schutzniveau von Null ("zero level regulation") steht? Diskussionen um die Qualität von Standorten für die Anziehung von Kapital wie in Deutschland Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts scheinen diese Befürchtung zu bestätigen. In ceteris paribus-Modellen, die als einzigen Faktor der Standortqualität

13 Cafeteria-Systeme sind bei den freiwilligen betrieblichen Sozialleistungen schon lange bekannt (siehe den Überblick bei Dycke und Schulte 1986). Die Übertragung auf den Bereich der gesetzlichen Sozialleistungen würde eine Flexibilisierung und Individualisierung des Wohlfahrtsstaates sowie Wettbewerb auf der Anbieterseite ermöglichen, aber dennoch eine politisch gewünschte Grundsicherung zulassen.

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zum Beispiel die Höhe der Lohnkosten oder einen Steuersatz variieren, läßt sich ein „race to the bottom" zeigen.14 Wenn die entsprechende Regulierung oder der Standard bei Null angekommen sind, ergeben sich Wohlfahrtsverluste, weil zum Beispiel ein von der Bevölkerung gewünschtes Schutzniveau der Umwelt oder ein bestimmtes Niveau an öffentlich produzierten Gütern nicht mehr gewährleistet werden kann. Deshalb muß der Wettbewerb eingeschränkt werden, denn „auch der gut konstruierte, aktivierende Wohlfahrtsstaat kann in einem solchen Wettbewerb nicht bestehen" (Sinn 2000). Im politischen Rahmen wird demzufolge eine "Abwärtsspirale im Hinblick auf Gewinnsteuern, Sozial- und Umweltstandards sowie das allgemeine Wohlstandsniveau" (Butterwegge, 1999, 27) erwartet; dementsprechend wird in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen 1998 ein Kampf gegen Umwelt-, Steuer-, Lohn- und Sozialdumping gefordert.15 Modellaussagen, die auf ceteris paribus-Annahmen beruhen, werden so dazu benutzt, protektionistische Maßnahmen fur bestimmte Gruppen zu erreichen, deren Verteilungsposition im Wettbewerb gefährdet ist. Mit „Kampf' gegen das Dumping ist eine Einschränkung des Wettbewerbs im Alleingang gemeint, wie im deutschen und europäischen Entsenderecht gegen „Lohndumping am Bau" oder in der Ausdehnung des Kündigungsschutzes und der Mitbestimmung der Arbeitnehmer geschehen. Auf europäischer Ebene wird der geeignete Weg dazu in der Schaffung einer Sozialunion mit europaweiten Sozialstandards gesehen. Die Folge entsprechender ex ante-Harmonisierung, nämlich die Einschränkung der institutionellen Vielfalt und damit auch der institutionellen Innovationsfähigkeit und des institutionellen Innovationsdrucks, ist bewußt gewollt, fuhrt aber langfristig zur institutionellen Sklerose.16 Mit einer genaueren Analyse des europäischen Integrationsprozesses läßt sich die These von der sozialstaatlichen Abwärtsspirale ins Reich der Mythen verweisen. Zwar entsteht durch Wettbewerb Druck zur Veränderung von Institutionen, jedoch gibt es weder bei Sozialausgaben noch bei Steuern ein generelles „race to the bottom". Denn Standortentscheidungen von Unternehmen sind wiederum geprägt durch die Entscheidung für ein Bündel aus Standortvorteilen (z.B. bestehend aus Infrastruktur, natürlicher Ressourcenausstattung, Ausstattung mit Humankapital und entsprechender Produktivität, sozialem Frieden in Form geringer Streikraten und zufriedener, motivierter und gesunder Arbeitnehmer und eben auch der Steuer- und Abgabenlast). Scharpf (2000, 199f.) findet deshalb auch, daß in den OECD-Staaten die Steuern und Sozialausgaben bemerkenswert stabil geblieben sind und es keine Konvergenz gegeben habe. Dort, wo Spitzensteuersätze gesenkt wurden, seien durch die Erweiterung der Steuerbasis die effektiven Steuersätze gleich geblieben. Auch die Untersuchung von Kapitalströmen rechtfertigt die Skepsis gegenüber dem Mythos vom „race to the bottom", denn entge-

14 Vgl. Sinn (1993 und 1996) zum Steuerwettbewerb, Franzmeyer (1999) zum Sozialstaat: kritisch Seliger (1999, 184-198). 15 Siehe kritisch hierzu Tivig (1999). 16 Siehe Prosi (1991a und b).

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gen den Aussagen der ceteris paribus-Analysen ist Kapital relativ immobil, ein Phänomen, das als Feldstein-Horioka-Paiadox bekannt wurde.17 Die Berücksichtigung eines heterogenen Güterbündels „Standortqualität" läßt eher den umgekehrten Prozeß des „race to the bottom" erwarten, nämlich das „competing up". Durch eine bessere Ausstattung - etwa mit Infrastrukturgütern oder Bildung - läßt sich die Standortqualität verbessern und Kapital anziehen. Für die Wirtschaftspolitik ergeben sich dadurch bedeutsame Implikationen, denn diese Sichtweise des institutionellen Wettbewerbs lenkt den Blick weg von den Wettbewerbsbeschränkungen hin zum Leistungswettbewerb im Euckenschen Sinn. Für die ausgebauten Wohlfahrtsstaaten Westeuropas wäre eine angemessene Antwort im zunehmenden institutionellen Wettbewerb also eine Verlagerung von konsumtiven Sozialausgaben auf investive Ausgaben. Aus polit-ökonomischen Gründen - konsumtive Sozialausgaben sind direkt wählerwirksam, Investitionen haben einen langfristigen Zeithorizont - wird darauf allerdings verzichtet, wie das Beispiel des Bildungssektors deutlich zeigt.

3. Der Mythos von der „Zweidrittel-Gesellschaft" Der Mythos von der „Zweidrittel-Gesellschaft" besagt: Es kommt bei der Globalisierung zu einer neuen Klasseneinteilung der Gesellschaft; den Gewinnern, die möglicherweise sogar den Großteil des Volkes ausmachen, stehen Verlierer gegenüber, die der Globalisierung schutzlos ausgeliefert sind.18 In einer anderen Interpretation wird die Gesellschaft in die jungen, produktiven, mobilen Menschen mit einer reichlichen Ausstattung an Humankapital einerseits und alten, unproduktiven, ungelernten Bürger andererseits eingeteilt, die von der Globalisierung einseitig negativ betroffen sind. Neuerdings findet sich dieses Argument auch als Mythos vom „digital divide", von der Einteilung der Gesellschaft in die Klasse der Computernutzer und diejenige der ComputerAnalphabeten. Richtig daran ist, daß neue Technologien ein Wohlstandsgefälle bringen zugunsten deijenigen, die sie anwenden. Es handelt sich um vorstoßenden Wettbewerb, wie ihn Hayek und Schumpeter beschrieben haben. Das ist auch beabsichtigt, weil es die Ressourcenlenkung in produktivere Bereiche ermöglicht. Richtig ist auch, daß es infolge der oben diskutierten Globalisierung zu einer veränderten Ausstattung mit Faktorreichlichkeiten gekommen ist, nämlich zu einer verstärkten Konkurrenz durch Regionen, die wie Mittel- und Osteuropa und Ostasien über zum Teil gut ausgebildete, hoch motivier-

17 Während die Ergebnisse von Feldstein und Horioka (1980), nämlich eine geringe internationale Portfoliodiversifikation, Persistenz der Unterschiede in den Realzinsen und die hohe Korrelation von heimischer Ersparnis und Investition, noch aus einer Zeit stammen, in der die Liberalisierung von Kapitalströmen längst nicht so fortgeschritten war, läßt sich auch heute keinesfalls ein genereller Trend zur Wanderung des Kapitals in die Länder mit den niedrigsten Steuersätzen feststellen - die „Flucht des Kapitals in die Qualität" nach der Asienkrise von 1997 und 1998 ist ein deutliches Gegenbeispiel. 18 Teilweise wird die „neue" Klassengesellschaft so interpretiert, daß einer kleinen, relativ homogenen Gruppe von Gewinnern der Globalisierung eine große, aber heterogene Gruppe von Verlierern gegenübergestellt wird. Diese könne deshalb politisch nichts gegen die Globalisierung unternehmen; siehe Ganßmann (2000, 162f.).

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te und billige Arbeitskräfte verfugen. Als verfügbare wirtschaftspolitische Alternativen ergeben sich daraus eine Lohnspreizung, die die Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der geringen Produktivität erhält, die verstärkte Bildung von weniger der Substitutionskonkurrenz ausgesetztem Humankapital oder eine erhöhte Arbeitslosigkeit.19 Die verstärkte Bildung von Humankapital ist nur begrenzt möglich, und aus polit-ökonomischen Gründen wird bisher Arbeitslosigkeit der Lohnspreizung vorgezogen.20 Trotz des erhöhten Wettbewerbsdrucks für geringer qualifizierte Arbeit ist die Prognose einer neuen Klassengesellschaft irreführend, denn sie impliziert, daß ein Teil der Gesellschaft wegen des globalen Wettbewerbs nicht mehr am Wohlstand partizipieren kann. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der zugrundegelegte Armutsbegriff bei der Einteilung in Wohlhabende und Arme relativ ist. So werden in der Bundesrepublik Deutschland üblicherweise diejenigen, die weniger als fünfzig Prozent des Durchschnittseinkommens haben, als arm verstanden. Es wird also nicht materielle Not, sondern Gleichheit als Kriterium zugrunde gelegt. Durch den "Etageneffekt" fährt also auch die Armutsschwelle nach oben, wenn das Volkseinkommen durch Wachstum steigt. Der Eindruck steigender Ungleichheit - die Reichen werden reicher und die Armen ärmer - ist dabei so verbreitet, daß nach Paul Krugman (1996) diejenigen, die dagegen argumentieren, nur als "hired guns from the right" bezeichnet werden können. Während in den USA und den anderen Wohlfahrtsstaaten angelsächsischen Modells dabei die vermeintlich steigende Ungleichheit eine Hauptsorge ist, ist es in Europa die soziale Ausschließung durch steigende Sockelarbeitslosigkeit seit den 1970er Jahren. Dies betrifft den Ausschluß von an den festen Arbeitsplatz gekoppelten Sozialleistungen ebenso wie den Ausschluß von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wenn die verfestigte Sockelarbeitslosigkeit die dauerhafte Ausschließung von Arbeitslosen nahelegt, so kommen Studien der Dynamik des Arbeitsmarktes dennoch zu einem anderen Schluß: Von Jahr zu Jahr ergibt sich in allen Einkommensschichten eine große Mobilität, und es gibt keinen Beleg dafür, daß erhebliche Bevölkerungsgruppen von der allgemeinen Wohlfahrtsentwicklung ausgeschlossen werden (Habich, 1996, 173). Noch weitaus größer ist die Mobilität in bezug auf das Einkommenskriterium in den Vereinigten Staaten, so daß Choi (1999, 250) schließt, "the folk wisdom of RGR [the rich getting richer] describes a local and short term trend". Durch den langen Aufschwung in den USA lag der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2000 gemäß der amerikanischen Statistik sogar niedriger als in den letzten zwei Jahrzehnten (siehe Dalaker und Proctor 2000). Wichtiger noch ist, daß bei einer hohen sozialen Mobilität Wohlstand ein aussagekräftigerer Maßstab für die Möglichkeit sozialen Aufstiegs ist. Wohlstand umfaßt im Gegensatz zum Einkommen auch das Vermögen, etwa in Form von Aktienbesitz oder Immobilienbesitz. Die Wohlstandsverteilung hat sich in den USA in den letzten dreißig Jahren nicht geändert (siehe Weicher 1996). Solange das Armutsrisiko nicht systematisch bestimmte Gruppen benachteiligt, darf Armut als eine mögliche Lebenslage nicht mit Armut als Charakteristikum einer Klassenzugehörigkeit 19 Siehe Berthold und Stettes (2000, 8f. und 25), Franzmeyer (1999, 26f.). 20 Zur offenen Arbeitslosigkeit gehört dabei zusätzlich versteckte Arbeitslosigkeit in Form von Vorruhestandsregelungen und anderen staatlichen Maßnahmen (wie ABM), die die Zahl der Arbeitssuchenden statistisch verringern.

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verwechselt werden. Der Vorwurf der „Zweidrittel-Gesellschaft" stimmt demnach weder quantitativ noch qualitativ. Trotz aller Dynamik des Arbeitsmarktes läßt sich doch in Westeuropa ein Zunehmen der dauerhaften Arbeitslosigkeit feststellen21, gerade in dem Bereich niedrig qualifizierter Arbeit, wie oben diskutiert (Franz 1994). Eine mögliche Antwort darauf sind die Protektion gefährdeter Sektoren, wie sie derzeit durch das Entsendegesetz praktiziert wird, die Einführung verbindlicher Sozialstandards im Welthandel, die Subvention gefährdeter Sektoren wie im Fall der Firma Holzmann oder auch die Garantie öffentlicher Beschäftigung. Diese Antwort kostet den Vorteil der internationalen Arbeitsteilung. Zudem muß der Staat oder eine Staatengemeinschaft entscheiden, welche Standards in welcher Höhe eingeführt werden, welche Subventionen oder Garantien wem wie lange gegeben werden. Der Strukturwandel wird zum Politikum - die Folgen davon sind aus der Landwirtschaft und der Montanindustrie bekannt. Soll dies vermieden werden, wäre es besser, die Vermachtung der Märkte in den Wohlfahrtsstaaten zurückzuführen, die für die mangelhafte Antwort auf die veränderte Wettbewerbsposition verantwortlich sind: Die Auflösung des Tarifkartells durch Abschaffung der FlächentarifVerträge und die Übertragung der Verantwortung für die Arbeitslosenversicherung auf die Tarifpartner gehören zu den dazu nötigen Reformen.22 Mit der daraus resultierenden Lohnspreizung würde zeitgleich das Humanvermögen der gering qualifizierten Beschäftigten geschützt. Die Chance des Aufstiegs in höher qualifizierte Arbeitsplätze bleibt gewährt, die Gefahr wird vermindert, daß eine Klasse von dauerhaft arbeitslosen Niedrigqualifzierten entsteht (Armutsfalle). Auch die Vorstellung, durch eine „digitale Spaltung" (digital divide) der Gesellschaft entstehe eine "Zwei-Drittel-Gesellschaft", ist ein Mythos: Zwar können einzelne Beschäftigte, möglicherweise auch ganze Altersgruppen, Schwierigkeiten haben, sich an neue Kommunikationstechnologien anzupassen. Der Staat kann darauf im Bildungsbereich und durch Beseitigung von bürokratischen Hemmnissen etwa bei Handwerks- und Ausbildungsverordnungen reagieren {OECD 2000). Eine digitale Spaltung der Bevölkerung ist dann aber nicht zu befürchten. Zusätzliche Protektion oder Subvention bestimmter Gruppen ist weder notwendig noch gut. Denn gerade der Schutz bestimmter Gruppen oder die Umlenkung von Ressourcen entgegen den Marktkräften verhindert, daß sich genügend Anreize für die Aneignung neuen Wissens bilden. 4. Der Mythos vom Nord-Siid-Konflikt und der Globalisierung Ein weiterer Mythos bezieht sich auf geographische Chancenungleichheit und sieht einen zunehmenden "Nord-Süd-Konflikt" als Folge der Globalisierung. Er besagt, daß die Globalisierung - und hier sind meist die Empfehlungen internationaler Organisationen wie Weltbank oder Internationaler Währungsfonds gemeint - für ärmere Staaten, insbesondere Entwicklungsländer, einen Zwang zur Deregulierung und Liberalisierung 21 In Deutschland waren Mitte der 1990er Jahre ein Drittel der Arbeitslosen länger als ein Jahr arbeitslos. 22 Zum Zusammenhang von Handelnsfreiheit und Verantwortung in der Marktwirtschaft, einem Prinzip, das der Kostenintemalisierung oder dem Euckenschen Haftungsprinzip entspricht, siehe Prosi (1994).

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beinhalte. Dieser führe zum Abbau der bisherigen, ohnehin unzureichenden Sozialleistungen.23 Dabei wird beispielsweise auf die Kreditpolitik des Internationalen Währungsfonds verwiesen, weil dieser Austeritätspolitik im Fall von Schuldenkrisen verlange. Auch führe die Handelsliberalisierung zu einer kompetitiven Abwertung von Standards, d.h. die Globalisierung induziere ein "Süd-Süd race to the bottom" (Chau und Kanbur 2001). Tatsächlich nimmt die Zahl der Entwicklungsländer besonders im ostasiatischen Raum zu, die es sich wirtschaftlich leisten können, mehr für die Lösung der sozialen Frage zu tun. Hier lassen sich auch deutliche Unterschiede von Staaten ausmachen, die vor allem in die Bildung von Humankapital investiert haben (die ostasiatischen Staaten), und solchen, die der Entwicklung von eher konsumtiven Sozialleistungssystemen Vorrang gegeben haben (z.B. in Lateinamerika).24 Gleichzeitig haben letztere ihre Märkte vor dem Wettbewerb abgeschottet. Die Notwendigkeit, konsumtive Sozialleistungen für die privilegierten Gruppen zu finanzieren, hatte an der Entscheidung für Protektionismus einen Anteil. Armut und Unterentwicklung lassen sich so nicht durch einen internationalen Verteilungskonflikt, sondern die nationalen Wirtschaftspolitiken erklären. Teilhabe am Wettbewerb, wie sie die Globalisierung ermöglicht, erhöht also die Chancen von Entwicklungsländern auf die Schaffung von Wohlstand und damit die Bezahlbarkeit sozialer Sicherungssysteme. Viele der Maßnahmen, die im entwickelten Wohlfahrtsstaat dem Schutz bestimmter Gruppen dienen (Landwirtschaft, Textilindustrie, Werftindustrie, Montanindustrie), wirken gegenüber Entwicklungsländern wettbewerbsbeschränkend. Dies trifft arbeitsintensive Industrien, wie die Europa-Abkommen der EU mit den Beitrittskandidaten Mittel- und Osteuropas gezeigt haben (siehe Gohrisch 1995). Ein weiteres Beispiel ist die Rücknahme weiter Teile des ursprünglich geplanten einseitigen Freihandels für die vierzig ärmsten Länder der Welt durch die EU Anfang 2001. Das sind alles Maßnahmen, die der Globalisierung widerstreben. Auch die Forderung von Umwelt- und Sozialstandards für den weltweiten Freihandel insbesondere von Kritikern der Globalisierung aus den entwickelten Ländern bedeutet im Ergebnis die Forderung nach einer Erhöhung konsumtiver Sozialausgaben, die das Potential der Entwicklungsländer zum aufholenden Wettbewerb verringern. Sie sind oft kaum verhüllter Protektionismus westlicher Wohlfahrtsstaaten.

23 In einer weniger zugespitzten Form wird auch die These vertreten, daß es auf das Management der internationalen Organisationen wie der Vereinten Nationen ankomme, die Globalisierung auch den davon bisher ausgeschlossenen Armen zugute kommen zu lassen, wie es der Generalsekretär der UN in seinem Bericht an die Millenium-Assembly formuliert hat: "The central challenge we face today is to ensure that globalisation becomes a positive force for all the world's people, instead of leaving billion of them behind in squalor." (UN Secretary General 2000). 24 Siehe zu den unterschiedlichen Entwicklungsstrategien und Erfolgen McGuire (1999), Schröder (1999).

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5. Der Mythos vom europäischen Gesellschaftsmodell In der Europäischen Union (EU) hat sich als Abwehrreaktion auf die Globalisierung ein weiterer Mythos herausgebildet, nämlich der vom „europäischen Gesellschaftsmodell". Er rechtfertigt bestehende Wettbewerbsbeschränkungen in der EU mit dem besonderen Gesellschaftsmodell, das demjenigen der USA gegenüberstehe und das auf Konsens angelegt sei und ein speziell zu verteidigendes Gut sei (siehe besonders Europäische Kommission 1996). Die Globalisierung wird in dieser Sicht als eine Art von erzwungener Übertragung US-amerikanischer Ordnungsvorstellung auf Länder mit einem traditionell anderen Gesellschaftsmodell verstanden, wobei die internationalen Finanzund Handelsorganisationen behilflich seien.25 Ein Beispiel für das Verständnis der EU von ihrem Gesellschaftsmodell ist die 1997 erfolgte Einführung eines Artikels 16 in den EG-Vertrag. Dieser definiert sogenannte Gemeinwohlaufgaben als Teil der EU-Aufgaben und soll den ,,gleichberechtigte[n] Zugang der Bürger zu Universaldienstleistungen sowie zu Versorgungs- und Dienstleistungen, die der solidarischen Daseinsvorsorge dienen", sicherstellen (Seliger 1997). Damit wird eine Setzung von Mindeststandards im öffentlichen Sektor in Europa ermöglicht, die in Einzelfällen auch schon erfolgt ist, beispielsweise in der europäischen Fernsehrichtlinie, die einen Mindestanteil von 51 Prozent europäischer Produktionen verbindlich vorschreibt. Es handelt sich dabei nicht um ein Gesellschaftsmodell, sondern um die staatlich sanktionierte Einschränkung von Wettbewerb.26 Die Ergebnisse dieser Einschränkungen, die sich etwa auf dem Arbeitsmarkt oder den Dienstleistungsmärkten finden, sind schutzwürdig nur vom Standpunkt der Geschützten, nämlich der im Markt operierenden Wettbewerber, aber nicht vom Standpunkt der Konsumenten. Das „europäische Gesellschaftsmodell" ist eine Spielart des „dritten Weges", den auch nationale Regierungen als Weg zwischen zentraler Planung und globalem Kapitalismus propagieren. Die „New Labour"-Regierung unter Tony Blair mit ihrem intellektuellen Vordenker Anthony Giddens sieht den dritten Weg als Alternative zu klassischer sozialdemokratischer Politik einerseits und neoliberaler Angebotspolitik andererseits. Die vorgeschlagenen Politiken - etwa europäische Harmonisierung, um infolge der Globalisierung national unwirksame Politiken durchzusetzen und korporatistische Lösungen wie „runde Tische" - sind aber eher rhetorische als inhaltliche Neuerungen.27

25 Ideengeschichtlich ist es fraglich, ob die amerikanische Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme auf anderen Grundlagen beruht als in Westeuropa, wenn man an die gegenseitige Beeinflussung denkt, etwa die amerikanische Rezeption der österreichischen Schule (etwa von Mises und von Hayek). 26 In diesem Zusammenhang ist besonders die in Artikel 16 EG-Vertrag gegebene Garantie verschiedener Formen der Erstellung der öffentlichen Leistungen wichtig, die implizit eine Garantie für staatliche Monopole darstellt. 27 Zu den Vorstellungen der modernen Vertreter des dritten Wegs siehe Giddens (1998), Blair (2000) und kritisch Watrin (1999) sowie Schüller (2000) zur deutschen Variante, dem „schleichenden Marktsozialismus".

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6. Der Mythos von der Kontrollierbarkeit der Ergebnisse sozialen Wandels Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß sich eine Reihe von Vorstellungen über das Überleben des Wohlfahrtsstaates trotz der Globalisierung gebildet haben, die den Erhalt konkreter Mackiergebnisse zum Ziel haben, die gefährdet erscheinen. Dazu gehören zum Beispiel Mindeststandards, die durch ein europäisches oder internationales Institutionenkartell durchgesetzt werden sollen, etwa die Europäische Sozialunion oder Sozialstandards in internationalen Handelsabkommen. Dazu gehören auch zunehmende nationale Regulierungen, die insbesondere den Arbeitsmarkt immer weiter vom Wettbewerb ausschließen und damit die Veränderung bisheriger Marktergebnisse, etwa in der Einkommensverteilung, verhindern sollen. Die Eingriffe, die aufgrund der oben diskutierten Mythen gerechtfertigt werden, beziehen sich dabei nicht auf den Ordnungsrahmen, sondern die Marktprozesse. Damit basieren sie wieder auf einem Mythos, nämlich dem Mythos von der Möglichkeit teleologischen sozialen Wandels. Die Idee, daß die Ergebnisse sozialen Wandels exakt kontrolliert werden könnten, entspringt einer Anwendung Newtonschet Naturgesetze auf soziale Prozesse und fand Anklang einerseits in der Diskussion von „ehernen" Gesetzmäßigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung im Marxismus und Sozialismus, aber auch, wenn auch in abgeschwächter Form, bei wichtigen Verfechtern des Wohlfahrtsstaates wie Gunnar Myrdal und John Kenneth Galbraith?% Wenn die Ergebnisse sozialen Wandels politisch kontrollierbar sind, dann ist es auch möglich, optimale Ergebnisse auszuwählen. Ein Maximum an sozialer Gerechtigkeit kann im sozialen Wandel verwirklicht werden. Implizit werden bei den Vorschlägen, den entwickelten Wohlfahrtsstaat in der Globalisierung zu retten, drei Annahmen getroffen: Erstens muß der politische Entscheider ein Interesse an der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit haben. Die Public Choice-Theorie hat gezeigt, daß insbesondere Eingriffe des Staates zum Schutz bestimmter Marktergebnisse eher einzelnen, wohlorganisierten Interessengruppen dienen. Zweitens muß der politische Entscheider eine sinnvolle Definition von „sozialer Gerechtigkeit" finden, um den Wohlfahrtsstaat und seinen Wandel optimal steuern zu können. Eine solche Definition ist stark umstritten - Hayek spricht von einem „weasel wordeinem Begriff, der sich jeder klaren Definition entzieht. Denn da Marktprozesse sich als das Ergebnis von Millionen Einzelentscheidungen ergeben, können Marktergebnisse nicht konkret vorausgesagt und beabsichtigt sein - damit entfallt aber eine Voraussetzung für Ungerechtigkeit, nämlich der Wille, sie zu begehen. Die soziale Gerechtigkeit, der der Schutz des Wohlfahrtsstaates vor dem stärkeren Wettbewerb durch die Globalisierung dienen soll, wird so schnell zum willkürlichen Schutz des Status quo, etwa bestimmter Industriestrukturen. Hier wird nun auch die dritte implizite Voraussetzung einer kontrollierten Steuerung sozialen Wandels deutlich: Um bestimmte Ergebnisse erzielen zu können, muß der politische Entscheider die Konsequenzen seines Handelns und die Reaktionen darauf genau kennen, mit anderen Worten, er muß über das nötige Wissen zur Steuerung der Gesellschaft verfügen. Von Hayek (1969b) betont demgegenüber, daß die Interaktion in der 28 Zur Ideengeschichte des Konstruktivismus siehe Hayek (1979).

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Gesellschaft zu Ergebnissen menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs führe. Die Untersuchung unbeabsichtigter Konsequenzen des Handelns vieler Menschen ist für ihn das Untersuchungsziel der Sozialwissenschaften schlechthin (Hayek 1979, 41). Die Sozialwissenschaften können zwar Mustervoraussagen durch Erklärungen des Prinzips machen (Graf 1978). Damit ist etwa auch die Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Wandel des Wohlfahrtsstaates in Zeiten der Globalisierung möglich.29 Quantifizierbare Ergebnisse, die eine optimale gesellschaftliche Steuerung ermöglichen, können sie aber nicht liefern - der Wissensmangel der Wissenschaft und damit auch der politischen Entscheider ist konstitutionell, eine Zentralisierung des Wissens von Millionen Einzelentscheidern unmöglich (Hayek 1952).30 Der Glaube an die Möglichkeit der Manipulation von Endergebnissen des wirtschaftlichen Prozesses ist nicht nur eine „Anmaßung von Wissen" (Hayek 1975). Die Ausschaltung unerwünschter Ergebnisse des Wettbewerbs führt auch notwendigerweise zu einer Verlagerung wirtschaftspolitischer Aktivitäten von der Schaffung des Ordnungsrahmens hin zur Prozeßpolitik {Schüller 2000, 181-182). Die Illusion der Steuerbarkeit der Ergebnisse sozialer Prozesse war schon bei der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates vorhanden. Die keynesianische Wirtschaftspolitik, insbesondere die Idee der Feinsteuerung, ist ein anderes prominentes Beispiel.31 Im Zusammenhang mit der Krise des Wohlfahrtsstaates und der Globalisierung ist es jedoch besonders wichtig, diese Idee als Mythos zu entlarven. Denn die oben diskutierten Abwehrreaktionen auf die Globalisierung basieren alle auf der Illusion ausreichenden Wissens und ausreichender Steuerbarkeit der Globalisierung. So können soziale oder Umweltstandards nur dann gesetzt werden und eine Verbesserung darstellen, wenn sie genau die Präferenzen der jeweiligen Verbraucher berücksichtigen.32 So kann eine Harmonisierung von Vorschriften - zum Beispiel von Sozialvorschriften in der EU - nur dann erfolgreich sein, wenn aus der Menge der möglichen Ausgestaltungen die Beste gewählt wird und wenn Innovationen vorhergesehen werden und ohne institutionellen Wettbewerb genauso schnell umgesetzt werden wie mit Wettbewerb (Prosi 1991a). Wenn hier die häufig gegebenen Antworten auf die Globalisierung als Mythen bezeichnet wurden, dann soll das keinesfalls eine Herabwürdigung der Diskussion um Globalisierung sein, die notwendig und sinnvoll ist. Die Frage nach der Gestaltung des ordnungspolitischen Rahmens für den Wohlfahrtsstaat in der Globalisierung muß aber als we/íóeweríwpolitische Fragestellung begriffen werden. Die oben diskutierten Vorschläge laufen demgegenüber auf Interventionen hinaus, die eine spontane Entwicklung, einen Wettbewerbsprozeß, unmöglich machen oder beschränken. Hier wurde versucht 29 Zur Möglichkeit ordnungskonformer liberaler Gesellschaftspolitik siehe Willgerodt (1998). 30 Eine weitere starke Kritik an der Steuerbarkeit der Ergebnisse sozialer Prozesse stellt die Systemtheorie dar. Sie soll hier nur erwähnt werden. Siehe Luhmann (1993). 31 Ziel der Kritik an der keynesianischen Wirtschaftspolitik ist es nicht, auf eine billige Art auf einen „Strohmann" aus der Vergangenheit einzuschlagen: Die Ermöglichung keynesianischer Wirtschaftspolitik durch die Beschränkung der Kapitalmobilität, die eine Lage wie vor 1973 ermögliche, wird immer noch ernsthaft diskutiert. Durch die Finanzkrisen in "emerging markets" in den letzten Jahren hat diese Position wieder vermehrt Anhänger gefunden; siehe Davidson (1997). 32 Einheitliche Standards weltweit sind damit ausgeschlossen.

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darzustellen, daß es sich dabei nicht um wissenschaftlich begründete Positionen handelt. In einem zweiten Schritt, der hier nur angedeutet wurde, könnte noch untersucht werden, inwieweit sie Rechtfertigungsversuche von Rentensuchern darstellen.33

IV. Vier Wege aus der Krise zwischen nationaler Innovation und internationaler Imitation Wenn man die Krise des Wohlfahrtsstaates als eine Krise seiner Institutionen im Institutionenwettbewerb begreift, dann werden die Konturen für eine Lösung dieser Krise deutlich. Die Lösung soll nicht die spontane Ordnung, die aus der Koordination indmdueller Pläne erwächst, ersetzen - sie kann also nur den Ordnungsrahmen betreffen. Damit sind Lösungen, die den Wohlfahrtsstaat durch eine Abschottung vor den Folgen der Globalisierung schützen wollen, ausgeschlossen. Die Lösung kann nicht eine Anpassung an ein vermeintlich zwingendes Modell sein, das die Pfadabhängigkeit der bisherigen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung, die Präferenzen der Bürger und weiter gefaßt den kulturellen Kontext dieser Entwicklung nicht berücksichtigt. Ein Reformmodell, das wie der " Washington Consensus" im Zusammenhang mit den Transformationsländern Lateinamerikas und Osteuropas eine Anzahl genau derselben Maßnahmen enthält, ohne nationale Unterschiede zu berücksichtigen, muß scheitern.34 Genausowenig kann sie aber ein Beharren auf der Vorteilhaftigkeit eines bisherigen Wegs ("Modell Deutschland") sein und so die Möglichkeit institutionellen Lernens ablehnen. Dies letztere scheint gegenwärtig die größere Gefahr zu sein, da es schon viele internationale Erfahrungen der Reform der sozialen Sicherungssysteme gibt, aber eine systematische Aufarbeitung der Vor- und Nachteile dieser Reformen bisher unterblieben ist. Einige Beispiele fur Reformen, die größere Beachtung gefunden haben, sind die Reformen der Sozialversicherung in Chile, insbesondere die Wandlung vom Umlageverfahren zum Kapitaldeckungsverfahren bei der Alterssicherung, die Reformen des Wohlfahrtsstaates in Neuseeland und Großbritannien und die Erfahrungen beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme in Ostasien und Mittel- und Osteuropa. Allerdings muß bei einer Imitation von Reformen immer berücksichtigt werden, daß nicht einzelne Reformschritte (z.B. in Chile die Reform der Alterssicherung) aus ihrem Kontext herausgerissen werden. Denn in der Regel erfolgte eine Reform sozialer Sicherungssysteme dann, wenn der Handlungsdruck wie im "winter of discontent" in Großbritannien 1979 so groß war, daß zumindest zeitweise die Sklerotisierung des Systems aufgebrochen werden kann.35 33 Während einige der diskutierten Protektionsversuche - etwa das Entsendegesetz, Vorschriften, die die Migration von Arbeitskräften nach der Osterweiterung der EU einschränken sollen, Sozialstandards im Welthandel - eindeutig auf Drängen von Interessengruppen eingeführt wurden, stand bei anderen Vorschlägen ein patemalistisches Politikmodell im Vordergrund; oft gab es auch eine Mischung von Beidem. 34 Siehe Seliger (2000,4-15). 35 Einmal können sich neue, im Sinne von Olson allumfassende (encompassing) Interessengruppen oder ein entsprechendes Meinungsklima bilden, die sich effektiv gegen die Verteidigung von Besitzständen kleiner Gruppen wenden. Die Rationalitätenfalle der Organisation großer, heterogener Gruppen wird

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Wenn nationale Innovation oder internationale Imitation im Sinne des Leistungswettbewerbs eine Verbesserung der Position institutioneller Regimes im Wettbewerb ermöglichen, so ist diese dennoch immer nur temporär. Die ständige Veränderung dessen, was in Anlehnung an Eucken als Datenkranz bezeichnet wird, ein Wort, das in einer Fehlinterpretation Stabilität suggeriert, ist vielleicht der wichtigste Faktor, der bei einer Reform der Sozialsysteme berücksichtigt werden muß. Wie oben diskutiert, steigt durch die Globalisierung (geringere versunkene Kosten der Standortwahl, geringere Transport- und Kommunikationskosten) der Veränderungsdruck tendenziell an. Deshalb ist es die wichtigste Anforderung an die Reform der Sozialsysteme, daß sie langfristig offen fur Veränderungen bleiben. Im Bereich staatlichen Handelns bedeutet dies die Ermöglichung von Wettbewerb bei der Produktion sozialer Dienstleistungen (also die Aufgabe des Produktionsmonopols und die Zulassung von Wettbewerb verschiedener Träger für alle Aufgaben) und die Wahlfreiheit bei der Wahl sozialer Dienstleistungen. Beides garantiert die Anpassung an auch wechselnde Präferenzen der Bürger und an neue Produktionstechnologien und Organisationsformen. Genauso wichtig wie die Reform des staatlichen Bereichs ist jedoch die Neuaufteilung der Leistungen der sozialen Sicherungen zwischen Staat und nichtstaatlichen Gemeinschaften im Sinn des Subsidiaritätsprinzips. Die Verantwortung für sozialpolitische Maßnahmen muß öfter als bisher wieder mit den Verursachern von Risiken zusammenfallen. Dies bedeutet nicht einen Rückfall in Ordnungsmodelle des neunzehnten Jahrhunderts in dem Sinne, daß die Verantwortung für Lebensrisiken wieder vom Individuum übernommen werden, das viele Lebensrisiken eben nicht vorhersehen oder versichern kann. Sondern es bedeutet, daß Lebensrisiken von den Gruppen abzudecken sind, die für die Höhe des Risikos direkt verantwortlich sind, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt die Tarifpartner.36 Letztlich heißt das, daß den Innovationskräften der Individuen, die einzeln oder kollektiv handeln, wieder eine größere Beachtung bei der Gestaltung der Sozialpolitik zukommen muß. Unter dieser Voraussetzung ist die Globalisierung auch keine Gefahr mehr fur die Viabilität der Wohlfahrt der Bürger - wenn der Wohlfahrtsstaat kontinentaleuropäischer Prägung sich zu einem institutionellen Regime wandelt, das die unleugbaren Vorteile der bisherigen sozialen Sicherungssysteme mit der Offenheit für neue, überlegene Alternativen verbindet und dabei auch die Möglichkeit des institutionellen Experiments möglich ist, die immer auch das Scheitern mitenthält.

dann überwunden. Andererseits kann es dann auch für Politiker im Politikwettbewerb interessant sein, zeitweise im Wahlprogramm nicht mehr eine Koalition enger Interessengruppen zu berücksichtigen, sondern breite Interessengruppen, wenn die Kosten der Umverteilung zugunsten enger Gruppen (z.B. durch Inflation oder Staatsverschuldung) zu deutlich sichtbar wachsen. 36 Insbesondere würde dadurch das Element sozialer Kontrolle, das in den Wohlfahrtsbürokratien verlorenging und teilweise politisch explizit abgelehnt wird ("Recht auf Wohlfahrt" ohne Bedürftigkeitsprüfüng), wieder eingefiihrt und dadurch die teure und freiheitsreduzierende bürokratische Kontrolle ersetzt; siehe Biedenkopf (1997, 188).

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sehe sowie politische Entwicklungen machen zunehmend institutionelle Alternativen erreichbar. Die seit langem bestehenden Mängel der Wohlfahrtsstaaten werden offensichtlich, wenn er sich dem Wettbewerb der Systeme stellen muß. Dieser Wettbewerb wird jedoch vielfach eher als Bedrohung denn als Erweiterung der Wahlmöglichkeiten verstanden. Die Gefährdung erreichter Wohlstandspositionen bestimmter Gruppen oder Staaten führt dazu, daß in den einem härteren institutionellen Wettbewerb ausgesetzten Wohlfahrtsstaaten die Neigung zunimmt, diese Positionen durch Wettbewerbsbehinderungen oder Markteingriffe zu garantieren. Dieser Artikel untersucht, welche Mythen sich über den Wohlfahrtsstaat in der Globalisierung als Rechtfertigung solcher Behinderungen und Markteingriffe gebildet haben. Die politischen Rechtfertigungsgründe beziehen sich dabei auf die Abwehr eines vermeintlich unsozialen globalen Kapitalismus. Dieser Kapitalismus führe zu einer Angleichung wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit auf niedrigstem Niveau. Damit würde sich sowohl national wie international eine Spaltung der Gesellschaft beziehungsweise der Staatengemeinschaft ergeben. Planvolle staatliche Tätigkeit, nämlich der Schutz der Wohlfahrtsstaaten durch nationale Wettbewerbsbeschränkungen und internationale Koordination von wohlfahrtsstaatlichen Standards könnten diesen Prozeß aufhalten. In diesem Artikel wird statt dessen vorgeschlagen, den Wettbewerb der Sozialsysteme als eine Chance zu begreifen, bessere Lösungen sozialer Probleme zu finden. Dazu ist ein Ordnungsrahmen notwendig, der den Wettbewerb der Systeme nicht beschneidet, sondern ermöglicht. Wettbewerbsbeschränkungen gehen mit der Sklerotisierung der Wohlfahrtsstaaten einher. Prozeßpolitische Eingriffe stellen eine Anmaßung von Wissen dar und fuhren zu einer Interventionsspirale. Dagegen können die Wohlfahrtsstaaten Westeuropas durch eine Öffnung ihrer Sozialsysteme neue, im institutionellen Wettbewerb überlebensfähige Institutionen finden. Summary The crisis of the welfare state and the globalization - political myths and economic reality Globalisation means increasing locational competition and factor mobility and thereby endangers current welfare systems, especially the developed welfare states in Western Europe. Technological as well as political developments make institutional alternatives more and more easily available. Competition between welfare systems shows more clearly inherent economic problems of welfare states. Institutional competition is often interpreted rather as a danger for welfare positions once achieved than as a widening of institutional choice. Groups and states under pressure from competition become more and more interested in restrictions of competition and interventions in the market process to guarantee specific economic results. This article analyses the myths about the welfare state in globalisation developed in order to justify such obstacles to competition or interventions in market processes. These political justifications focus on defence against an unsocial global model of capi-

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talism. This capitalism allegedly races to the bottom: social welfare system converge at the lowest possible level. Solidarity in the national economy and the international community of states passes away. Only planful coordination in form of national restrictions of competition or international coordination of welfare standards could stop this process. Restrictions of competition as proposed to escape from the pressure on welfare states lead to institutional sclerosis. Interventions in market processes to guarantee specific results are a presumption of knowledge not available to political deciders and lead to an interventionist spiral. Instead, this article proposes to understand the competition between welfare systems as a chance to find better solutions for social problems. The discovery of viable welfare institutions is possible, if the welfare states open their welfare systems for competition.

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Paul-Günther

Schmidt

Ursachen systemischer Bankenkrisen: Erklärungsversuche, empirische Evidenz und wirtschaftspolitische Konsequenzen*

I. Einleitung Die schweren Banken- und Finanzkrisen, die im Sommer 1997 in Südostasien ausbrachen, haben nicht nur die betroffenen Länder selbst überrascht. Auch bei den Zentralbanken, Regierungen und Kreditinstituten der Industrieländer hatte man den Ausbruch einer solchen Krise nicht vorhergesehen, geschweige denn die dramatischen Ausmaße und die Reichweite erahnt, die sie binnen weniger Monate annehmen sollte. Nicht einmal von Weltbank, Internationalem Währungsfonds oder Bank für Internationalen Zahlungsausgleich waren Vorzeichen der kommenden Krise wahrgenommen worden. Noch kurz vor dem Ausbruch der Katastrophe hatten die supranationalen Organisationen den späteren Krisenstaaten für ihre dynamische und bemerkenswert stabile wirtschaftliche Entwicklung, für ihr Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Demokratie und besonders für ihre Strategie einer forcierten Liberalisierung und Deregulierung auch und gerade ihrer Finanzmärkte Lob gezollt ( World Bank 1993 und 1997). Westliche Gläubigerbanken, institutionelle Investoren, Ratingagenturen und Regierungsstellen hatten noch unmittelbar vor dem Ausbruch der Währungs- und Finanzturbulenzen keinen Anlaß gesehen, ihre Einschätzungen der Kreditwürdigkeit, der finanziellen Solidität sowie der wirtschaftlichen und politischen Stabilität der südostasiatischen Entwicklungs- und Schwellenländer zu korrigieren. Die Krise traf daher praktisch alle Betroffenen und Beteiligten überraschend1 und unvorbereitet, und sie entwickelte sich ebenso unvorhergesehen in markantem Kontrast zu der bis dahin gewohnten Stabilität der Wirtschaftswunderländer Südostasiens zur schwersten Rezession eines ganzen Wirtschaftsraumes in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. Vor dem Hintergrund der folgenschweren Fehleinschätzungen von so vielen Beobachtern gleichzeitig kann es heute kaum verwundern, daß Regierungen, Zentralbanken und internationale Organisationen durch die stattgefundene Entwicklung alarmiert sind * Der folgende Beitrag ist die erweiterte Fassung meines Habilitationsvortrages vor dem Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 6. Februar 2001. Für wertvolle Anregungen und konstruktive Kritik bin ich Hartwig Bartling, Helmut Gröner, Hans Otto Lenel, Josef Molsberger, Peter Oberender, Rolf Peffekoven, Klaus Sandmann, Karlhans Sauernheimer, Alfred Schüller und Werner Zohlnhöfer dankbar. 1 Die einzige Ausnahme ist wohl Park (1996). Zu den wenigen Wissenschaftlern, die ein Ende des südostasiatischen Wirtschaftswunders vorhersagten, gehörte Krugman, wenngleich er im nachhinein einräumt, weder das Ausmaß der Krise noch ihre Ursachen korrekt vorhergesehen zu haben. Siehe hierzu Krugman (1994 und 1998).

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und sich in den letzten Jahren intensiv mit der Frage befaßt haben, unter welchen Bedingungen Finanzkatastrophen dieses Ausmaßes überhaupt entstehen können, ob Banken· und Finanzkrisen eines so verheerenden Ausmaßes auch in anderen Teilen der Welt ausbrechen können, und wie sich eine Art Frühwarnsystem entwickeln läßt, das drohende Gefahren möglichst zuverlässig und rechtzeitig zu erkennen vermag. Mittlerweile liegt zwar eine Fülle von empirischen Fallstudien und Länderanalysen vor und auch in einigen international vergleichenden Untersuchungen wurde der Versuch unternommen, ein System von Warnsignalen für den drohenden Ausbruch von Banken- und Finanzkrisen zu entwickeln. Nach wie vor wissen wir beim derzeitigen Stand der Forschung aber noch viel zu wenig über die Entstehung und Transmission von Banken- und Finanzkrisen.2 Es kann daher auch nicht überraschen, daß mit dem vergleichsweise embryonalen Zustand der theoretischen Forschung unsere Fähigkeit, solche Finanzkatastrophen ex post zu erklären, geschweige denn ex ante vorherzusagen, nach wie vor eng begrenzt ist. So hätten selbst neuere Frühwarnsysteme, die erst nach der Asienkrise entwickelt wurden und explizit den Versuch unternommen haben, den Erfahrungen der südostasiatischen Länder Rechnung zu tragen, noch zum Zeitpunkt des Krisenausbruchs keine klaren Warnsignale gegeben.3 Die bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds entwickelten Modelle sagen überhaupt nur jede zweite Banken- und Finanzkrise mit einer vertretbaren Irrtumswahrscheinlichkeit voraus. Nicht weniger problematisch ist, daß sich die Hälfte aller von diesen Modellen ausgelösten Alarmmeldungen im nachhinein als bloßer Fehlalarm erweisen {Berg und Pattillo 2000), so daß die für Krisenprävention und Krisenmanagement Verantwortlichen bislang tatsächlich wenig Entscheidungshilfe von der Wissenschaft zu erwarten haben. Wenn diese höchst unbefriedigende und mit Blick auf die gewachsene Volatilität der internationalen Finanzmärkte beunruhigende Situation überwunden werden soll, macht es wenig Sinn, die herkömmlichen, primär an vordergründigen Krisensymptomen orientierten Prognosemodelle um immer neue Varianten zu vermehren, wie es in weiten Teilen der einschlägigen Forschung geschieht.4 Erfolgversprechender scheint es, die ganze Vielfalt von Erklärungsversuchen, die in solchen Symptomindikatoren und Frühwarnsystemen gar nicht mehr aufscheint, wieder stärker zu diskutieren, die in der Wissenschaft verstreut vorgetragenen möglichen Ursachen nationaler Bankenkrisen zu sammeln, in

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Siehe schon Kindleberger (1978) und Born (1967 und 1977) aus primär wirtschaftshistorischer Sicht. Eines der differenziertesten verfugbaren Frühwarnsysteme, das Prognosemodell von Demirgüc-Kunt und Detragiache (2000), beispielsweise liefert für die südostasiatischen Länder Indonesien, Malaysia, Korea, Philippinen und Thailand Wahrscheinlichkeiten für den Ausbruch einer Bankenkrise von lediglich 4 bis 14 % auf der Basis der tatsächlichen, erst nach dem Ausbruch der Krise verfügbaren Daten. Auf der Basis von Informationen, wie sie im Mai 1997 für Prognosezwecke tatsächlich zur Verfugung standen, fallen die Wahrscheinlichkeiten für den Ausbruch einer Bankenkrise in den genannten fiinf Ländern auf lediglich 2 bis 4 % zurück. „That suggests that leading indicator models would have failed to alert people that the banking sectors in these five Asian countries would undergo crises in the second half of 1997" (Bell und Pain 2000, 126). Vgl. beispielsweise Kaminsky, Lizondo und Reinhart (1997), González-Hermosillo, Pazarbasioglu und Billings (1997), Hardy und Pazarbasioglu (1998 und 1999), Hutchinson und McDill (1999), Demirgüc-Kunt und Detragiache (1998 und 2000), González-Hermosillo (1999) und Pesóla (2001).

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einen systematischen Erklärungszusammenhang zu stellen und daraufhin kritisch zu prüfen, ob und inwieweit sie jeweils für sich oder möglicherweise gemeinsam dazu beitragen können, die bislang aus verschiedenen Krisenländern vorliegenden Erfahrungen zu erklären und künftige Krisen treffsicherer vorherzusagen und vermeiden zu helfen. Der folgende Aufsatz möchte zu einer vertiefenden Diskussion in dieser Richtung beitragen und gliedert sich, der skizzierten Zielsetzung entsprechend, in vier Teile. In einem ersten Abschnitt (Π.) soll zunächst ein knapper weltweiter Überblick über die Häufigkeit und Schwere nationaler Bankenkrisen seit Mitte der siebziger Jahre geboten werden, der im zwischenstaatlichen und im intertemporalen Vergleich bereits einige bemerkenswerte allgemeine Entwicklungstrends erkennen läßt. Vor diesem Hintergrund wird dann im zweiten Abschnitt (ΙΠ.) des Beitrages der Versuch unternommen, die in der einschlägigen Forschung verstreut zu findenden Erklärungsansätze kurz vorzustellen und in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Im folgenden dritten Abschnitt (IV.) soll dann gezeigt werden, daß sich einige der vorgestellten Ansätze für eine Erklärung des Zustandekommens konkreter Krisen, insbesondere der jüngsten Banken- und Finanzkrise Südostasiens durchaus fruchtbar machen lassen, wenn vor allem den institutionellen Rahmenbedingungen in den einzelnen Volkswirtschaften gebührend Rechnung getragen wird. Im vierten und letzten Abschnitt (V.) werden dann einige wirtschaftsund insbesondere ordnungspolitische Konsequenzen aufgezeigt, die sich aus den vorangegangenen Überlegungen ableiten lassen.

II. Häufigkeit und Schwere systemischer Bankenkrisen Wenn hier und im folgenden von „Bankenkrisen" die Rede ist, so sollen damit nicht Zahlungsschwierigkeiten oder Konkurse einzelner Bankfirmen gemeint sein, auch wenn es sich um vergleichsweise große Kreditinstitute von gewisser nationaler Bedeutung handeln mag. Der Terminus soll hier vielmehr stets im Sinne sogenannter „systemischer" Bankenkrisen verwendet werden, worunter man im allgemeinen versteht, daß eine Reihe heimischer Kreditinstitute oder eine ganze Bankengruppe mehr oder weniger gleichzeitig betroffen ist, daß einige Problembanken auch tatsächlich geschlossen oder rekapitalisiert werden müssen und daß diese Krisen signifikante gesamtwirtschaftliche Kosten verursachen {Frydl 1999). Legt man solche, freilich nur grob meßbaren Kriterien zugrunde, kommt man je nach Strenge der angelegten Maßstäbe weltweit auf 100 bis 150 nationale Bankenkrisen in den knapp 200 Ländern der Erde seit den siebziger Jahren.5 Klammert man die zahlrei-

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Zahl und Dauer der empirisch identifizierten Bankenkrisen variieren allerdings schon aufgrund unterschiedlicher Abgrenzungen, Definitionen, Indikatoren und Quellen beträchtlich zwischen verschiedenen Autorengruppen. Lindgren, Garcia und Saal (1996) erfassen zwar mit 149 Fällen die größte Zahl, darunter jedoch nur 40 Episoden, die tatsächlich als systemische Bankenkrisen zu bezeichnen sind. Als zuverlässigste Zusammenstellung gilt nach wie vor die Studie von Caprio und Klingebiel (1996), die sich weitgehend auf Expertenbefragungen stützt und unter Einschluß von Transformationsländern 86 Fälle erfaßt, von denen jedoch immerhin 72 systemische Bankenkrisen repräsentieren. Frydl ( 1999) findet in seinem kritischen Vergleich der Diskrepanzen dieser und verschiedener anderer Stu-

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chen Bankenkrisen der ehemals kommunistisch regierten Transformationsländer Osteuropas und Asiens, fur die zweifellos besondere Bedingungen und Faktoren eine Rolle gespielt haben dürften, aus und läßt einige weniger bedeutende Krisen unberücksichtigt, so lassen sich fur die Zeit seit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods zumindest 80 Bankenkrisen identifizieren, die in Tabelle 1 chronologisch zusammengestellt und näher charakterisiert sind. Einen ersten Eindruck von der ökonomischen Dimension dieser Bankenkrisen geben Schätzungen zur Höhe der direkten fiskalischen Nettokosten in Prozentpunkten des Bruttoinlandsprodukts, die meist von den nationalen Regulierungsbehörden und supranationalen Organisationen stammen. Häufig wurden solche Schätzungen im Verlauf nationaler Krisen mehrfach, und zwar typischerweise nach oben korrigiert. Die Abweichungen der aktuellsten Schätzungen fur ein und dasselbe Land sind gleichwohl in den meisten Fällen so gering, daß davon ausgegangen werden kann, daß die hier zusammengetragenen Informationen zumindest im internationalen Vergleich ein recht realistisches Bild der aus systemischen Bankenkrisen resultierenden Fiskallasten geben. Die durch eine Bankenkrise unmittelbar verursachten Bereinigungskosten sind jedoch ein wenig geeignetes Maß, wenn man die Reichweite und Bedeutung der Probleme des heimischen Finanzsektors aus gesamtwirtschaftlicher Sicht erfassen will. Für eine Reihe von Ländern wurden daher auch von verschiedenen Forschern Schätzungen der durch nationale Bankenkrisen mittelbar verursachten längerfristigen Wachstumsverluste unternommen, die allerdings auf ganz unterschiedlichen Meßkonzepten beruhen, die bei Finanzkrisen zu erwartenden hohen negativen externen Effekte völlig unberücksichtigt lassen und aus methodischer Sicht keineswegs unproblematisch sind. Auch wenn weitgehend unstrittig ist, daß Bankenkrisen das reale Wirtschaftswachstum abschwächen, ist doch auch umgekehrt damit zu rechnen, daß eine aus ganz anderen Gründen eingetretene Wachstumsschwäche Probleme im Banken- und Finanzsektor heraufbeschwören kann, so daß die Richtung des unterstellten Kausalzusammenhangs keineswegs eindeutig ist. Zudem wirft auch die Referenzperiode, die dem langfristigen Vergleich des potentiellen und tatsächlichen Wachstumspfades zugrundezulegen ist, Abgrenzungsprobleme auf. Die in Prozentpunkten verlorenen, am realen Wirtschaftswachstum gemessenen gesamtwirtschaftlichen „Kosten" von Bankenkrisen sollten daher, wie auch Hoggarth und Saporta (2001) betonen, nur mit Vorsicht interpretiert werden. Sie können allenfalls, wenn überhaupt, grobe Anhaltspunkte für die vermuteten gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen systemischer Bankenkrisen im intertemporalen und internationalen Vergleich liefern. Ergänzend wurden daher hier auch Informationen über den prozentualen Anteil der notleidenden Bankaktiva während des Krisenzeitraums zusammengetragen, die überwiegend auf sporadischen Informationen der nationalen Aufsichtsbehörden beruhen. Auch bei einer Würdigung dieser Zahlen gilt es jedoch zu bedenken, daß sich die nationalen Einstufungen und Einschätzungen nicht unerheblich unterscheiden, daß die Banken vieler Länder einen Teil ihrer dubiosen und uneinbringlichen Kredite verschweigen dien, daß überhaupt nur die Hälfte aller Episoden übereinstimmen und daß von diesen wenigen übereinstimmenden Bankenkrisen wiederum nur knapp ein Drittel zeitlich identisch abgegrenzt wird.

Ursachen systemischer Bankenkrisen · 2 4 3

oder falsch klassifizieren und daß in vielen Fällen sogar die Regulierungsbehörden selbst ein manifestes Interesse daran haben, die Öffentlichkeit über den wahren Zustand der Aktiva des heimischen Banken- und Finanzsystems zu täuschen. Trotz dieser Einschränkungen hinsichtlich der Qualität der Statistiken in einigen der betroffenen Staaten liegt alles in allem doch umfangreiches Datenmaterial aus vergleichsweise zuverlässigen Quellen vor. Es belegt über ganz unterschiedliche Länder und Zeiträume hinweg eindrucksvoll, daß in schweren systemischen Bankenkrisen nicht selten mehr als ein Viertel oder gar die Hälfte der Aktiva des inländischen Bankensystems notleidend ist, so daß die zu erwartenden Vermögensverluste, gemessen an gesamtwirtschaftlichen Aggregate zum Teil exorbitante Größenordnungen erreichen und das vor dem Ausbruch der Krise vorhandene Eigenkapital der Banken häufig um ein Vielfaches übersteigen. Betrachtet man Dauer, Reichweite und Kosten der erfaßten nationalen Bankenkrisen seit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods im Zeitablauf, so fallen einige markante Trends und stilisierte Fakten ins Auge, die nach Erklärungen verlangen. Erstens haben Häufigkeit und Schwere nationaler Bankenkrisen im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts offenbar erheblich zugenommen. In den sechziger und siebziger Jahren noch finden wir - wie überhaupt in der gesamten Zeit nach der Großen Depression - kaum eine Bankenkrise von gewisser gesamtwirtschaftlicher Bedeutung (Bordo, Eichengreen, Klingebiel und Martinez-Peria 2001). Erst ab Anfang der achtziger Jahre werden im Sog der Schuldenkrisen Lateinamerikas und Osteuropas immer mehr Länder von Banken- und Währungskrisen heimgesucht, wobei auch die Kosten und die Reichweite dieser Krisen in den neunziger Jahren markant gegenüber den siebziger und achtziger Jahren gestiegen sind.6 Sie erreichen ihren vorläufigen Höhepunkt und ihre seit der Großen Depression bislang weiteste regionale Ausdehnung mit den schweren Banken·, Finanz- und Wirtschaftskrisen in Japan und Südostasien Ende der neunziger Jahre. Erklärungen für dieses Phänomen einer im Zeitablauf offenbar zunehmenden Verbreitung und Schwere nationaler Bankenkrisen liegen keineswegs auf der Hand. Zweitens zeigt der hier gebotene Überblick deutlich, daß im Zeitablauf auch die Verbreitung der Krisenherde in Ländern mit ganz unterschiedlichen Entwicklungsniveaus erkennbar zugenommen hat. Dabei waren immer häufiger auch solche Länder und Wirtschaftsräume betroffen, bei denen man am allerwenigsten mit ernsten systemischen Krisen des heimischen Banken- und Finanzsektors gerechnet hatte. So traten im Verlauf der achtziger Jahre einige Bankenkrisen ausgerechnet in den bis dahin fur stabil gehaltenen Finanzsystemen des angelsächsischen Raumes auf (Davis 1992), und Anfang der neunziger Jahre wurden auch die Bankensysteme der skandinavischen Länder von systemischen Krisen erschüttert (Koskenkylä 1994, 1995 und 2000). Die wenigsten Beobachter dürfte überrascht haben, daß einige mittel- und südamerikanische Volkswirtschaften Mitte der neunziger Jahre erneut mit Banken- und Finanzkrisen zu kämpfen hatten. Doch der Ausbruch der schwersten Banken- und Wirtschaftskrisen in der Geschichte Japans und Südostasiens in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gibt Rätsel auf und verlangt nach Erklärungen.

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Siehe schon Lindgren, Garcia und Saal (1996) sowie Honohan (1997).

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Tabelle 1

Chronik systemischer Bankenkrisen 1971 bis 2000

Land Großbritannien Israel Spanien Argentinien I Chile Korea I Uruguay Philippinen I Jamaika I Mexiko I Türkei I Hong Kong I Ghana Venezuela I Ecuador I Kolumbien I Kanada Taiwan I Thailand I Peru USA Barbados I Honduras Mauretanien Malaysia I Guinea Türkei II Kenia I Bolivien I Argentinien II Tansania Neuseeland Dänemark Norwegen Elfenbeinküste Madagaskar Benin Senegal Dominikanische Rep. Island Australien Papua-Neuguinea Trinidad & Tobago Sri Lanka Ägypten

Zeitraum

Dauer in Jahren

1974-76 1977-83 1977-85 1980-82 1981-87 1981-84 1981-85 1981-87 1981-85 1981-84 1982-84 1982-83 1982-89 1982-85 1982-86 1982-87 1983-85 1983-84 1983-87 1983-90 1984-91 1984-85 1984-88 1984-93 1985-88 1985 1985-88 1985-89 1985-89 1985-89 1987-93 1987-90 1987-92 1987-93 1988-91 1988 1988-90 1988-91 1988-95 1989-92 1989-90 1989-91 1989-92 1989-93 1990-95

3 7 9 3 7 4 5 7 5 4 3 2 8 4 5 6 3 2 5 8 8 2 5 10 4 1 4 5 5 5 7 4 6 7 4 1 3 4 8 4 2 3 4 5 6

fiskalische Wachstums- notleidende Kosten in verluste in Bankkredite % des BIP % des BIP Anteil in % n.v. 30 17 55 30-45 0 31 3-13 n.v. n.v. 3 n.v. 3-6 n.v. 10 5 1-2 0 2 n.v. 5-7 n.v. n.v. 15 5 3 6-10 n.v. n.v. n.v. 10-14 1 1 4-8 25-30 n.v. 17 17 n.v. 1 1 n.v. n.v. 5-9 n.v.

10 n.v. 15 21 41 n.v. 42 35 n.v. 110 n.v. 23 6 28 n.v. 7 0 n.v. 0 13 0 n.v. n.v. 11 15 n.v. n.v. n.v. n.v. 14 n.v. 5 22 10 n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. 1 n.v. n.v. 1 10

n.v. 20-25 10-15 15-30 20-35 n.v. 25-45 30 n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. 15-20 10-25 n.v. n.v. 15 n.v. 4-5 n.v. 20-25 n.v. 20-35 90-100 n.v. n.v. 30-35 n.v. 50 n.v. 4-5 7-9 n.v. 25-45 n.v. n.v. n.v. 3-5 10-15 n.v. n.v. 35-45 n.v.

Twin Crisis / X X X X / X X X X X / X / X X / / / X

/ / / / / X X / X X X / / / / X / / X / / / / / /

Ursachen systermscher Bankenkrisen · 245

Land Schweden Finnland Zaire Türkei III Togo Kenia II Barbados II Indonesien I Türkei IV Venezuela II Costa Rica Bolivien II Mexiko II Brasilien I Frankreich Indien Kongo Kamerun Argentinien III Zambia Zimbabwe Japan Jamaika II Brasilien II Thailand II Korea II Philippinen II Nigeria Indonesien II Taiwan II Malaysia II Hong Kong II Ecuador II Türkei V Nicaragua

Zeitraum

Dauer in Jahren

1990-93 1991-94 1991-92 1991 1993-95 1993-94 1993-95 1994 1994 1994-95 1994-95 19941992-96 1994-96 1994-95 1993-95 1994-96 1995-96 1994-95 1994-95 199519951996-91 1996-99 199619961997-98 1997 199719971997-01 1998 199919992000-

4 4 2 1 3 2 3 1 1 2 2 n.v. 5 3 2 3 3 2 2 2 n.v. n.v. 6 4 n.v. n.v. 2 1 n.v. n.v. 5 1 n.v. n.v. n.v.

fiskalische Wachstums- notleidende Kosten in verluste in Bankkredite % des BIP % des BIP Anteil in % 5-6 11-17 n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. 2 1 18-20 25 n.v. 15-20 8-10 1 n.v. n.v. n.v. 2 3 n.v. 8-17 33 13 35-45 25-35 7 n.v. 58-80 20 10-18 0 n.v. 15 n.v.

12 22 17 n.v. 3 n.v. n.v. 0 10 15 n.v. n.v. 10 0 n.v. n.v. n.v. n.v. 11 n.v. n.v. 24 n.v. 0 26 7 n.v. n.v. 25 n.v. n.v. 10 n.v. n.v. n.v.

8-11 10 n.v. n.v. n.v. n.v. 10-15 n.v. n.v. 20-25 25-35 n.v. 15-35 15 n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. n.v. 13-15 25-30 5-10 45-50 25-35 10-15 n.v. 65-75 5-10 15-25 5-10 n.v. n.v. n.v.

Twin Crisis X X X X X X

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Quelle: World Bank (1989), Morris, Dorfman, Ortiz und Franco (1990), Sundararajan und Baliño (1991), Koskenkylä (1994 und 1995), Goldstein und Turner (1996), Caprio und Klingebiel (1996), Lindgren, Garcia und Saal (1996), World Bank (1997), International Monetary Fund (1998b), Hawkins und Turner (1999), Lindgren, Baliño, Enoch, Guide, Quintyn und Teo (1999), Frydl (1999), Kaminsky und Reinhart (1999), Hoggarth und Saporta (2001) sowie eigene Schätzungen nach sporadischen Angaben nationaler Zentralbanken.

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Drittens belegen die zusammengetragenen Fakten, wie schon Caprio und Klingebiel (1996) sowie Hoggarth und Saporta (2001) konstatieren, daß Bankenkrisen in Entwicklungs- und Schwellenländern wesentlich häufiger sind und beträchtlich höhere gesamtwirtschaftliche Kosten verursachen als in den Industrieländern. Zwar wird im einschlägigen Schrifttum sicherlich zu Recht darauf verwiesen, daß Entwicklungsländer ganz allgemein durch einen höheren Grad gesamtwirtschaftlicher Instabilität gekennzeichnet sind und daß auch die Bankensysteme in diesen Staaten weniger robust und belastbar sind als in den wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern (Goldstein und Turner 1996). Eine solche pauschale Erklärung des beobachtbaren Phänomens vermag jedoch nicht zu erhellen, warum wir die schwersten Banken- und Finanzkrisen der jüngeren Wirtschaftsgeschichte nicht in den ärmsten und instabilsten Ländern mit geringem Monetisierungsgrad der Volkswirtschaft und allenfalls rudimentären Bankensystemen finden, sondern ausgerechnet in Schwellenländern Lateinamerikas und Asiens, die bereits über vergleichsweise hochentwickelte und diversifizierte Finanzsysteme verfugen. Die stilisierten Fakten zeigen viertens schließlich, daß die fiskalischen Nettokosten und die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsverluste während nationaler Bankenkrisen offenbar dann besonders hoch sind, wenn die Erschütterungen des heimischen Finanzsystems mit Wechselkurskrisen einhergehen. Es kann mittlerweile als empirisch gut gesichert gelten, daß diese sogenannten „Twin Crises", die die Hälfte der hier berücksichtigten nationalen Finanzkrisen ausmachen7, verglichen mit reinen Bankenkrisen, besonders hohe, teilweise dramatische volkswirtschaftliche Kosten verursachen (Kaminsky und Reinhart 1999). Erklärungsbedürftig und nach wie vor umstritten ist jedoch, ob der beobachtbare Zusammenhang überhaupt kausaler Natur ist, und vor allem, in welche Richtung die Kausalität eigentlich wirkt {Hoggarth und Saporta 2001).

III. Erklärungsversuche Banken und Finanzintermediäre nehmen in einer Volkswirtschaft eine wichtige, für einen reibungslosen Ablauf ökonomischer Transaktionen unverzichtbare Rolle wahr. Ihre Funktion besteht im wesentlichen darin, finanzielle Mittel von Wirtschaftseinheiten mit Überschüssen zu sammeln und an Wirtschaftseinheiten mit Finanzierungsdefiziten weiterzuleiten. Dabei sehen sie sich typischerweise vor die Aufgabe gestellt, eine Vielzahl meist kleiner und vergleichsweise kurzfristiger Einlagen in zum Teil große und langfristige, mehr oder weniger risikobehaftete Kredite und Anlagen zu transformieren. Diese Schlüsselrolle und die mit ihrer Übernahme verbundenen Risiken bedingen, daß die Banken in einer Marktwirtschaft gleichsam wie ein Seismograph jede noch so kleine 7 Kaminsky und Reinhart (1999) erfassen in dem von ihnen zugrundegelegten Zeitraum von 1970 bis 1995 selektiv insgesamt nur 23 kleine und offene Volkswirtschaften mit 26 Bankenkrisen, von denen sie 19 als kombinierte Banken- und Zahlungsbilanzkrisen („Twin Crises") und lediglich 7 als reine Bankenkrisen einstufen, wobei sie Zahlungsbilanzkrisen auf der Basis eines Indikators identifizieren, der Turbulenzen des Devisenmarktes abbilden soll, jedoch wenig trennscharf ist, zweifelhafte Einstufungen liefert und auf Hyperinflationsländer nicht angewendet werden kann. Die hier gewählte Einstufung einer Bankenkrise als „Twin Crisis" stellt deshalb lediglich auf die Beobachtung exzessiver realer Abwertungen des Wechselkurses kurz vor oder während der berücksichtigten Bankenkrisen ab.

Ursachen systemischer Bankenkrisen · 2 4 7

Veränderung und Erschütterung in ihrem wirtschaftlichen und politischen Umfeld registrieren und so auch in ihren Bilanzen widerspiegeln. Ihre Aktiva werden komprimiert, wenn Kreditnehmer ausfallen und Kredite nicht vollständig zurückgezahlt werden oder die Kurse ihrer Anlagen in handelbaren Wertpapieren fallen. Ihre Passiva können durch Einlagenabzüge des Publikums oder durch Kreditkündigungen in- und ausländischer Gläubiger reduziert werden, und ihre Forderungen und Verbindlichkeiten in fremder Währung unterliegen dem Risiko spürbarer Änderungen des Umtauschkurses. Banken müssen daher stets liquidisierbare Reserven vorhalten, ihr Portfolio diversifizieren, die eingegangenen Kredit-, Markt-, Liquiditätsund Wechselkursrisiken managen und von ihren Schuldnern ausreichende Kreditsicherheiten nehmen. Aber in einer Welt von Ungewißheit und Informationsasymmetrien können eben nicht alle Risiken eliminiert werden, so daß die Zahlungsfähigkeit von Banken niemals unter allen nur denkbaren Bedingungen sicherzustellen ist. Es bleibt in einer sich dynamisch entwickelnden Volkswirtschaft für jede einzelne Bank und damit auch für das nationale Bankensystem ein Restrisiko der Illiquidität und der Insolvenz, das prinzipiell um so höher veranschlagt werden muß, je unzureichender die Risikovorsorge der Banken ist und je stärker sich die tatsächliche Entwicklung von dem unterscheidet, was die Banken vorausgesehen und einkalkuliert haben. Die Entstehung und Ausbreitung von Bankenkrisen in modernen Kreditgeld schöpfenden Bankensystemen ist bislang theoretisch und empirisch noch vergleichsweise wenig erforscht. Vorherrschend ist meist noch eine auf einzelne Länder und partielle Aspekte bezogene Betrachtungsweise. Auch erste Versuche einer zumindest groben Abschätzung der Wahrscheinlichkeit von Krisenausbrüchen, wie sie von Stäben bei supranationalen Organisationen unternommen wurden, gründen meist auf nicht mehr als einigen wenigen greifbaren und kurzfristig meßbaren Indikatoren aus den monetären Rechnungssystemen. Im Gegensatz zu solchen, mehr oder weniger ad hoc entwickelten symptomorientierten „Erklärungs"ansätzen erscheint es für die Entwicklung einer tragfähigen volkswirtschaftlichen Kausalanalyse der potentiellen Ursachen von Bankenkrisen sinnvoll, ja unverzichtbar, systematisch zwischen Bestimmungsgründen auf drei ganz unterschiedlichen Ebenen zu differenzieren, nämlich (1) krisenanfälligen Rahmenbedingungen, die im nationalen Bankensystem selbst angelegt sind und das Verhalten der Banken und Finanzintermediäre beeinflussen, (2) krisenauslösenden Faktoren, die hinzutreten müssen, damit es zum offenen Ausbruch einer systemischen Bankenkrise kommt, und schließlich (3) krisenverstärkenden Katalysatoren, die letztlich für Ausmaß, Reichweite und Dauer einer Bankenkrise verantwortlich zu machen sind. Im folgenden soll kurz auf alle drei genannten Faktorengrappen etwas näher eingegangen werden. 1. Krisenanfällige Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen umschreiben die in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich ausgestalteten Institutionen und die Regeln, die für das Agieren von Geschäftsbanken, Finanzintermediären, Zentralbank, Regierung und Bankenaufsicht gelten, sowie spezifische strukturelle Merkmale des heimischen Finanzsystems, die das

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eigennutzorientierte Handeln der Akteure beeinflussen und in gewissen Grenzen gleichsam kanalisieren. Zwar wissen wir, da die Erforschung dieser Zusammenhänge noch am Anfang steht, bislang erst verhältnismäßig wenig darüber, in welcher Weise bestimmte Strukturmerkmale des Banken- und Finanzsektors - wie der Anteil öffentlichrechtlicher Kreditinstitute oder die Bedeutung ausländischer Banken - die Funktionsfahigkeit und Solidität eines Bankensystems auf längere Sicht beeinflussen (Schmidt 2000). Auch dürfte in manchen Fällen strittig sein, ob von bestimmten Merkmalen etwa dem in einem Land vorherrschenden Bankentypus oder dem Grad der Konzentration des Bankensektors - überhaupt irgendwelche vorhersagbaren Wirkungen auf die Funktionsweise des Bankensystems ausgehen (Hawkins und Mihaljek 2001). Einige Aspekte der strukturellen Rahmenbedingungen werden jedoch seit langem schon als wichtige Bestimmungsgründe für die Funktionsfähigkeit eines Bankensystems angesehen und in verschiedenen Studien betont. So besteht wohl Konsens, daß einer möglichst strengen und konsequenten nationalen Bankenaufsicht eine strategische Rolle für die dauerhafte Sicherung eines robusten nationalen Bankensystems zukommt. International vergleichende Untersuchungen deuten darauf hin, daß Systeme, in denen die Bankenaufsicht einer von der Regierung unabhängigen Zentralbank übertragen ist, besonders stabil sind {Hutchinson und McDill 1999). Spaltungen in der Zuständigkeit zwischen Regierung und Zentralbank können jedoch ebenso wie eine zu lockere und wenig konsequente Bankenaufsicht eine wirksame Kontrolle der Banken erschweren und einer Entwicklung Vorschub leisten, bei der die Banken sich insbesondere in Zeiten hohen realen Wirtschaftswachstums und optimistischer Erwartungen dazu verleiten lassen, zu viele Kredite mit immer weiter steigenden Risiken bei immer schwächerer Eigenkapitaldeckung auszureichen (Krugman 1998). Auch die Existenz einer Einlagenversicherung, Bestandsgarantien der Regierung für Teile des nationalen Bankensystems, intensiver Wettbewerb der Banken um Marktanteile und unzureichende Kontrolle des Bankmanagements durch die Eigentümer können „moral hazard" auf Seiten der Kreditinstitute fördern und früher oder später dazu führen, daß die Bilanzen des heimischen Bankensystems durch Ballungen exzessiver Risiken und einen hohen Anteil notleidender Kredite belastet sind {Bisignano 1999). Da Banken typischerweise einen hohen Verschuldungsgrad aufweisen, sind ihre Anreize, bei impliziten Regierungsgarantien übermäßig riskante Investitionen einzugehen, sogar um so höher, je niedriger das wenige Eigenkapital ist, das sie zu verlieren haben. Die Bankenaufsicht muß daher bei insolventen Kreditinstituten möglichst rasch reagieren, denn die Gefahr ist groß, „that losses will multiply, as owners and managers ,gamble for resurrection' " (Goldstein und Turner 1996, 30). Häufig wird ganz allgemein darauf hingewiesen, daß das Bankmanagement in vielen unterentwickelten Ländern schlecht ausgebildet, unzureichend motiviert sowie häufig korrupt und bestechlich ist, so daß schon deshalb ein solides Liquiditäts- und Risikomanagement wie in den Bankensystemen entwickelterer Länder kaum erwartet werden kann (Rojas-Suärez und Weisbrod 1996). Zweifellos erschwert auch der in vielen dieser Staaten anzutreffende Grad von politischer Instabilität, Klientelismus, Lokalismus und Populismus vor allem dort ein solides Management im Finanzsektor, wo ein beträchtlicher Teil des Bankenapparates und auch die nationale Bankenaufsicht unter der Kon-

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trolle politischer Entscheidlingsträger und Interessenvertreter steht ( World Bank 1989 und 1997). Da zudem in Entwicklungs- und Schwellenländern typischerweise auch die Volatilität der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beträchtlich größer ist, insbesondere die Raten des realen Wirtschaftswachstums und der Inflation starken Schwankungen unterliegen, und damit für die Banken auch die Risiken schwerer zu prognostieren sind als in Industrieländern, ist von vornherein wohl mit einer höheren Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs von Bankenkrisen in Ländern mit vergleichsweise niedrigem Entwicklungsniveau zu rechnen (Caprio und Klingebiel 1996). Der Aufbau einer exzessiven kurzfristigen Fremdwährungsverschuldung bei unzureichenden Devisenreserven kann bei den ausländischen Gläubigern eine Vertrauenskrise auslösen und die Volkswirtschaft im allgemeinen und das Bankensystem im besonderen extrem verwundbar machen (Furman und Stiglitz 1998). Unabhängig davon, in welchem Umfang der Schuldenberg vom Staat, von öffentlichen Unternehmen oder von der Privatwirtschaft aufgebaut worden ist, sind die heimischen Banken und Finanzintermediäre in der Regel diejenigen Institutionen, die den Großteil der kurzfristigen, meist variabel verzinslichen Devisenkredite im Ausland aufnehmen und in langfristige, in inländischer Währung denominierte, typischerweise festverzinsliche Kredite für die heimischen Schuldner transformieren. Der Banken- und Finanzsektor unterliegt damit bei hoher Nettoschuldnerposition gegenüber dem Ausland aber permanent dem dreifachen Risiko, daß die Auslandsgläubiger kurzfristige Kredite, die im Inland langfristig gebunden sind, überraschend abziehen, daß sich die Zinsen an den internationalen Kreditmärkten kurzfristig spürbar ändern und daß der Wechselkurs der heimischen Währung unter Abwertungsdruck gerät, so daß die von den heimischen Schuldnern in Inlandswährung zurückzuzahlenden Beträge die ursprünglich aufgenommenen Summen möglicherweise weit übersteigen. In dem einen wie in dem anderen Fall werden die inländischen Banken und Unternehmen in Liquiditätsschwierigkeiten geraten, und die Entwicklung kann rasch bedrohliche Ausmaße annehmen, wenn ein erheblicher Teil der Kreditnehmer im Vertrauen auf die künftige Stabilität der Wechselkurse darauf verzichtet hat, offene Fremdwährungspositionen abzusichern (Goldstein und Turner 1996). Auch die Anreiz- und Lenkungswirkungen, die von weitreichenden staatlichen Interventionen auf die Geschäftspolitik der inländischen Banken ausgehen, werden in vielen Ländern mittlerweile als eines der zentralen Probleme des heimischen Finanzsektors erkannt. Schon ein kursorischer Blick in die Wirtschaftswirklichkeit liefert reichlich Anschauungsmaterial für dysfunktionale Rahmensetzungen und Überregulierungen, die das Bankensystem in seiner Bewegungsfreiheit einschränken und in Krisensituationen möglicherweise gar paralysieren können (Morris, Dorfman, Ortiz und Franco 1990). So finden wir in vielen Ländern unterschiedlichste Formen einer staatlichen Kontrolle des Assetmanagements der Banken, etwa in Form von Verpflichtungen, einen Großteil der Aktiva in Staatsschuldverschreibungen zu halten, die eine eigenständige Geschäftspolitik der Kreditinstitute überhaupt nur für einen Bruchteil ihrer Bilanzsumme zulassen. In den meisten Staaten Lateinamerikas und der Karibik, beispielsweise aber auch in Israel und in Island, wird darüber hinaus ein Großteil des Kreditvolumens der Volkswirtschaft über staatlich kontrollierte Fonds bei der Zentralbank oder über Spezialbanken für unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen, Entwicklungsregionen und Wirtschaftszweige

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von strategischem Interesse festgelegt (Schmidt 2000). Die Banken und Finanzintermediäre, die lediglich die technische Abwicklung dieser Regierungskredite vornehmen, haben daher auch keinen Einfluß auf die meist sozial- oder subventionspolitisch motivierte Auswahl von Kreditnehmern und Projekten durch den Staat, und sie müssen in der Regel die von der Staatsbürokratie im Interesse der begünstigten Gruppen und Sektoren festgesetzten niedrigen Zinsen und langen Laufzeiten akzeptieren. In vielen Ländern kommt hinzu, daß die Regierungen auch den heimischen Geschäftsbankensektor stets primär als geräuschlosen und bequemen Finanzier der chronischen Defizite öffentlicher Unternehmen einspannen. Meist stehen den Staatsbetrieben zu diesem Zweck faktisch unbegrenzte Ziehungslinien oder Regierungsbürgschaften zur Verfügung, so daß es ohne Einfluß und möglicherweise gar gegen den Willen der Banken zu einer quasi-automatischen Kredit- und Giralgeldproduktion durch die Finanzierungsdefizite öffentlicher Unternehmen kommt (Schmidt 2000). Es kann daher auch wenig überraschen, wenn wir die höchsten Quoten notleidender Kredite von nicht selten 25 bis 50 % des nationalen Kreditvolumens gerade in solchen Ländern finden, in denen die inländischen Banken von der Regierung dazu verpflichtet werden, permanent primär die Finanzierungsbedürfnisse chronisch defizitärer öffentlicher Unternehmen abzudekken. Die Bankensysteme der meisten dieser Staaten sind daher auch seit vielen Jahren schon technisch insolvent und existieren nur deshalb ohne offenen Ausbruch systemischer Bankenkrisen fort, weil sich dort mittlerweile direkt oder über Schachtelbeteiligungen zwischen 80 und 95 % des heimischen Finanzsektors in staatlichem Besitz befinden und durch fortwährende staatliche Liquiditätszuschüsse funktionsfähig gehalten werden {WorldBank 1989). Doch nicht allein Überregulierung und staatliche Bevormundung des heimischen Finanzsektors erhöhen die Gefahr systemischer Bankenkrisen. Wie zahlreiche Episoden gerade der jüngeren Vergangenheit deutlich gezeigt haben, kann umgekehrt auch eine zu schnelle und von der Regierung unzureichend vorbereitete Liberalisierung und Deregulierung der Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte die Voraussetzungen fur den Ausbruch von Bankenkrisen schaffen (McKinnon und Pill 1996) und sogar die Gefahr von Wechselkurskrisen erhöhen (Weller 1999). Die Risiken einer forcierten Liberalisierung des Finanzsektors sind dabei offenbar vor allem dort besonders hoch, wo Kreditinstitute und Finanzintermediäre - wie in Lateinamerika, in Skandinavien und in den Transformationsländem Osteuropas und Asiens - über Jahrzehnte hinweg nicht gelernt haben, eigenverantwortlich und ohne staatliche Bevormundung mit Risiken umzugehen (Goldstein und Turner 1996). Eine überhastete und schlecht vorbereitete Deregulierung der heimischen Finanzmärkte birgt daher besonders in den ersten Jahren nach der Einleitung von Reformen die Gefahr, daß sich die Wirtschaftssubjekte von zu optimistischen, langfristig nicht haltbaren Erwartungen leiten lassen, daß die Bankenkreditvergabe regelrecht außer Kontrolle gerät, daß immer mehr Kredite für eher spekulative Projekte und Investitionen bereitgestellt werden, die sich unter „normalen" Bedingungen gar nicht als rentabel erweisen würden, und daß die Qualität des Kreditbestandes kontinuierlich abnimmt (Gräbel 1995). Der Ausbruch einer Banken- und Finanzkrise ist aber spätestens dann zu erwarten, wenn die konjunkturelle Überhitzung nachläßt, die spekulative „Bla-

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se" platzt und sich plötzlich erweist, daß ein erheblicher Teil des übermäßig gestiegenen Kreditvolumens letztlich uneinbringlich ist (Mankiw 1986). Offensichtlich haben die Rahmenbedingungen, unter denen die Geschäftsbanken eines Landes operieren, erheblichen Einfluß darauf, wie dynamisch, wie flexibel und wie robust ein nationales Bankensystem ist, in welchem Maße sich die Kreditinstitute durch Impulse der Zentralbank oder der Bankenaufsicht überhaupt lenken lassen und wie flexibel sie auf interne Einflüsse und externe Schocks reagieren. Bankenkrisen werden daher unter ansonsten vergleichbaren Bedingungen mit höherer Wahrscheinlichkeit dort ausbrechen, wo das heimische Finanzsystem „fragil" ist, also durch eine Vielzahl ungünstiger Strukturmerkmale gelähmt und in seiner Anpassungsflexibilität eingeschränkt wird. Freilich wird ein politisch beeinflußtes, strukturell geschwächtes und unzureichend beaufsichtigtes Bankensystem nicht automatisch von einer Krise in die nächste stürzen. Viele Bankensysteme in den unterschiedlichsten Ländern der Welt zeichnen sich durch einen hohen Grad der Fragilität aus, ohne daß es bislang zum Ausbruch einer systemischen Krise gekommen ist.8 Die in zahlreichen Ländern der Erde über zum Teil lange Zeiträume hinweg „schwelenden" Probleme des heimischen Finanzsektors werden sich erst dann in offenen Banken- und Währungskrisen manifestieren, wenn bestimmte auslösende Momente hinzutreten, die die Anpassungsfähigkeit des Systems überfordem.

2. Krisenauslösende Faktoren Unter auslösenden Faktoren einer nationalen Bankenkrise kann man ganz allgemein den Eintritt von Risiken verstehen, die das System unter Streß setzen und konkretes Handeln von Geschäftsbanken, Finanzintermediären, Zentralbank, Bankenaufsicht und Regierung verlangen. Dabei kommt eine Vielzahl von realen und monetären Variablen in Betracht, die im wesentlichen die gesamtwirtschaftliche Lage der Volkswirtschaft widerspiegeln und denen prinzipiell Einfluß auf die Entwicklung des heimischen Banken- und Finanzsektors zugesprochen werden kann. Notwendigerweise haben wir es dabei mit abrupt und unerwartet eintretenden Entwicklungen zu tun, die alle Akteure mehr oder weniger überraschen und die gerade deshalb kurzfristige Wirkungen im Finanzsystem (und möglicherweise auch im realen Sektor der Volkswirtschaft) auslösen, weil sie von den Geschäftsbanken und Finanzintermediären in ihrem Risiko- und Liquiditätsmanagement nicht vollständig antizipiert worden sind. Offensichtlich ist die Mehrzahl der im einschlägigen Schrifttum bislang untersuchten Krisenursachen primär dieser Ebene von im engeren Sinne makroökonomischen Bestimmungsgründen einer Bankenkrise zuzuordnen, wobei man nach der Herkunft der Störungen zwischen internen und externen Schocks unterscheiden kann.

8 Siehe auch Mishkin (1998) sowie Bell und Pain (2000, 124), die den Begriff der „Fragilität" auf die Struktur des Finanzsystems beziehen und den Ausbruch einer „Krise" als Resultat der Interaktion zwischen der gegebenen Fragilität des Systems und einwirkenden exogenen Schocks betrachten. ,Λ crystal glass is fragile because of the structure of its molecules. But there is no problem (or crisis) unless the glass is struck by a sufficiently hard blow (shock)."

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Als mögliche interne Auslöser einer Bankenkrise werden im Schrifttum mit unterschiedlicher Gewichtung meist fünf Faktoren genannt, die zum Teil simultan auftreten: ein Rückgang des realen Wirtschaftswachstums, Schwankungen der Inflationsrate, ein Anstieg der realen Zinsen, ein Rückgang des Wachstums des inländischen Kreditvolumens und ein Einbruch der Preise von realen und finanziellen Vermögensaktiva. Tiefe Rezessionen mit stark rückläufigen Raten des realen Wirtschaftswachstums wurden schon früh als einer der wichtigsten Auslöser von Bankenkrisen angesehen, da Einkommens- und Vermögensverluste bei Haushalten und Unternehmen einen abrupten Anstieg von Firmenkonkursen und Kreditausfallen zur Folge haben, die finanzielle Lage der Banken verschlechtern und so Kettenreaktionen im Finanzsektor auslösen, die einen kumulativen Abwärtsprozeß einleiten und immer mehr Banken- und Firmenkonkurse nach sich ziehen {Kindleberger 1978). Wachstumseinbrüche gelten bis heute als eine der wichtigsten, statistisch hochsignifikanten Erklärungsvariablen in international vergleichenden Analysen (Demirgiic-Kunt und Detragiache 1998 und 2000), doch die Ergebnisse der empirischen Studien sind durchaus nicht eindeutig {Hutchinson und McDill 1999), und auch die praktischen Erfahrungen zeigen, daß eine Reihe von Bankenkrisen, beispielsweise die Krisen in Südostasien, nicht etwa Folge, sondern eher Begleiter des Wachstumseinbruchs waren, wenn sie nicht sogar wie während der Weltwirtschaftskrise {Bernanke 1983) als Auslöser der Rezession anzusehen sind. Auch starke Schwankungen der Inflationsrate werden im allgemeinen als potentielle Ursache für den Ausbruch von Bankenkrisen genannt und vor allem in Lateinamerika {Gavin und Hausmann 1995) als eine der wichtigsten Determinanten von Problemen des Banken- und Finanzsystems angesehen. Ein stabiler Zusammenhang zwischen dem Inflationstempo und dem Entstehen systemischer Bankenkrisen ist tatsächlich jedoch weder theoretisch plausibel noch für die meisten historischen Episoden nachweisbar, und so kann es nicht verwundern, daß die Höhe oder die Volatilität der Inflationsrate in einigen empirischen Untersuchungen gar nicht berücksichtigt wird.9 Vermutlich tragen Schwankungen der Inflationsrate in einigen hochinflationierenden Ländern zur Fragilität des heimischen Finanzsektors bei und erschweren ein vorausschauendes Risikomanagement der Banken, als unmittelbarer Krisenauslöser dürfte die Geldwertentwicklung jedoch selten in Betracht kommen. Kaum überzeugender ist die empirische Evidenz fur die These, daß Bankenkrisen häufig durch einen starken kurzfristigen Anstieg der realen Zinsen ausgelöst werden, wie er beispielsweise eine überraschend eingeleitete restriktive Geldpolitik der Zentralbank begleiten würde. International vergleichende Analysen können eine solche Vermutung nicht erhärten, aber sie zeigen, daß die Realzinsen während einer Bankenkrise vergleichsweise hoch sind {Demirgiic-Kunt und Detragiache 2000) und daß Bankenkrisen eine längere Phase moderat erhöhter Realzinsen vorangeht {Kaminsky und Reinhart 1999). Als Auslöser einer Bankenkrise kommen damit auch die Zinsen im allgemeinen 9

Siehe beispielsweise Kaminsky und Reinhart (1999) sowie Hutchinson und McDill (1999). Zwar behaupten Hardy und Pazarbasioglu (1999, 255) für die von ihnen untersuchten Länder: lr A rise followed by a sharp fall in inflation seems to be one of the most reliable early indicators of impending banking sector problems". Doch beispielsweise für die von ihnen nicht berücksichtigten asiatischen Krisenländer ist diese Hypothese falsch.

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wohl nicht in Betracht, was allerdings nicht ausschließt, daß abrupte Zinserhöhungen der Zentralbank in einzelnen Ländern und Episoden durchaus eine strategische Rolle gespielt haben. Einer der wichtigsten Frühindikatoren des möglichen Ausbruchs einer Bankenkrise, dessen Signifikanz sich auch in den meisten empirischen Untersuchungen gut bestätigen läßt10, ist der starke Anstieg und spätere rapide Einbruch des realen Wachstums des Kreditvolumens. Solche meist über mehrere Jahre hinweg anhaltenden Boomphasen mit exzessiven Zuwachsraten der Bankenkreditvergabe lassen sich auch plausibel in einen Erklärungszusammenhang mit dem Ausbruch von Bankenkrisen bringen {Kindleberger 1978). Eine übermäßige Kreditvergabe zieht gleichsam automatisch eine zunehmende Belastung der Bankbilanzen mit immer schlechteren Risiken und vermutlich auch einseitigen Risikoballungen nach sich, die bei nachlassendem Wirtschaftswachstum und einem plötzlichen Umschlagen der optimistischen Erwartungen in einen starken Anstieg von Firmenkonkursen, Kreditausfällen und sinkenden Bankgewinnen münden. Mit den ersten Bankinsolvenzen und Einlagenabzügen des Publikums bilden sich dann die Zuwachsraten des Kreditvolumens in einem kumulativen Abwärtsprozeß rapide zurück. Solche exzessiven Kreditbooms sind vermutlich einer der häufigsten Auslöser von Bankenkrisen, zumindest in Finanzsystemen, die aus strukturellen Gründen durch einen hohen Grad von Fragilität gekennzeichnet sind {Bell und Pain 2000, 123). Auch der Zusammenbruch spekulativer „Blasen" am Immobilienmarkt und an den Aktien- und Anleihemärkten gilt schon seit den Zeiten der Spekulation um Aktien der South Sea-Company und anderer Schwindelgesellschaften in den Anfängen des 18. Jahrhunderts als einer der häufigsten Auslöser einer Banken- und Finanzkrise {Clapham 1944). Ein Rückgang der Aktien- und Anleihekurse und ein Einbruch der Immobilienpreise reduzierten nicht nur das Aktivvermögen der Banken in Ländern, in denen solche Aktiva im Eigenbesitz der Banken in den Bilanzen eine bedeutende Rolle spielen, sondern auch den Wert der Sicherheiten, die für Bankkredite zur Verfugimg gestellt werden, wie auch den Wert von Sachgütern und Forderungen, die mit den aufgenommenen Krediten erworben wurden. Die Preise dieser Vermögensaktiva beeinflussen damit zugleich die Fähigkeit von Unternehmen und Haushalten, sich beim heimischen Bankensystem neu zu verschulden oder früher aufgenommene Kredite zurückzuzahlen, wie auch die Höhe der Verluste, die Banken bei einem Kreditausfall durch Verkauf der Sicherheiten erleiden. Ein enger Zusammenhang zwischen den Preisen für Vermögensaktiva und dem finanziellen Status der heimischen Banken ist daher wahrscheinlich und unmittelbar plausibel. Tatsächlich gelten fallende Preise für Vermögensaktiva einigen Beobachtern als beste Frühindikatoren einer Bankenkrise, da in den meisten untersuchten Episoden die Aktien- und Anleihenkurse bereits zwei bis drei Quartale vor dem Ausbruch einer Bankenkrise einbrechen {Kaminsky und Reinhart 1999) oder doch zumindest gleichzeitig mit den Bankenproblemen reagieren {Mishkin 1992 und 1996). Auch die beträchtlich 10 Vgl. beispielsweise Kindleberger (1978), Gavin und Hausmann (1996), Demirgüc-Kunt und Detragiache (1998 und 2000) sowie Kaminsky und Reinhart (1999). Caprio und Klingebiel (1996) sowie Honohan (1996) sehen den Zusammenhang außerhalb Lateinamerikas eher als schwach an, und auch Hutchinson und McDill (1999) können keinen statistisch signifikanten Zusammenhang nachweisen.

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höhere Volatilität der Aktien- und Anleihemärkte sowie der Immobilienmärkte in Entwicklungs- und Schwellenländern könnte erklären helfen, warum Bankenkrisen dort häufiger auftreten und im Durchschnitt schwerer und kostspieliger sind als in Industrieländern (Goldstein und Turner 1996). Vergleichbare Gefahren drohen fragilen und verwundbaren Bankensystemen jedoch nicht nur aufgrund von „hausgemachten" Instabilitäten, sondern auch von überraschenden externen, aus dem Ausland „importierten" Schocks. Sie werden in erster Linie in drei potentiellen Störfaktoren gesehen, die sich zum Teil mehr oder weniger zeitgleich beobachten lassen: in adversen Veränderungen der Terms of Trade im Außenhandel, realen Abwertungen des Wechselkurses der Inlandswährung sowie starken Änderungen der Weltmarktzinsen und den durch sie ausgelösten kurzfristigen Zu- und Abflüssen ausländischen Kapitals. Abrupte Verschlechterungen der Terms of Trade, die die Gewinne der inländischen Unternehmen belasten und die Rückzahlung der von ihnen aufgenommenen Bankkredite gefährden, haben sich im Vorfeld einer Reihe von Bankenkrisen beobachten lassen (Caprio und Klingebiel 1996). Einige Entwicklungsländer in Lateinamerika und Afrika scheinen dabei von drastischen Verschlechterungen ihrer Terms of Trade besonders stark betroffen zu sein, insbesondere Volkswirtschaften mit einer ausgeprägten Konzentration der Exporte auf einige wenige Produktgruppen (Gavin und Hausmann 1996). Tatsächlich fällt der Beginn einer Reihe von Bankenkrisen in die Zeitspannen von 1982 bis 1984 und 1991 bis 1993, in denen sich die internationalen Rohstoffpreise stark abschwächten und die Terms of Trade der meisten Entwicklungsländer verschlechterten. Ob diese Entwicklungen allerdings tatsächlich in einem kausalen Zusammenhang mit dem Ausbruch von Bankenkrisen standen oder ob sie lediglich mit anderen, möglicherweise gemeinsamen Faktoren korrelieren, läßt sich auf der Basis der vorliegenden Evidenz allein nicht klären. Die quantitative Bedeutung einer adversen Entwicklung der Terms of Trade ist jedenfalls mit Ausnahme einiger weniger Länder alles in allem vergleichsweise gering. Zudem ist für zahlreiche Banken- und Finanzkrisen in Entwicklungsländern überhaupt kein Zusammenhang mit einer Änderung der Terms of Trade erkennbar (Hardy und Pazarbasioglu 1999). Drastische Änderungen der Import- und Exportpreise im Außenhandel könnten daher in einigen Ländern mit starker Exportkonzentration durchaus zu Banken- und Wechselkurskrisen gefuhrt haben, fur die meisten Länder mit fragilen Bankensystemen haben sie aber als krisenauslösende Faktoren offenbar keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. Eine Reihe von Bankenkrisen insbesondere während der neunziger Jahre in Lateinamerika und Asien sind unmittelbar durch drastische reale Abwertungen des heimischen Wechselkurses ausgelöst worden, die von massiven Einlagenabzügen internationaler Kapitalanleger und Kreditkündigungen ausländischer Gläubigerbanken begleitet waren, während ein Run des inländischen Publikums auf die heimischen Banken im allgemeinen lediglich Begleiterscheinung, nicht jedoch unmittelbarer Auslöser einer Bankenkrise ist. Hohe und überraschende Abwertungen, verbunden mit massiven Abzügen internationalen Kapitals, bringen die inländischen Schuldner und Banken vergleichsweise schnell in Liquiditätsschwierigkeiten. Ist zudem das Volumen ungesicherter Fremdwährungsverbindlichkeiten hoch, steigen die Rückzahlungsverpflichtungen in inländischer

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Währung stark an, die Zentralbank sieht sich möglicherweise gezwungen, zur Dämpfung des Kurssturzes der heimischen Währung die Zinsen zu erhöhen, und verstärkt auf diese Weise noch die rezessiven Tendenzen im Inland. Steigende Firmenkonkurse und notleidende Kredite belasten die Bankbilanzen und fuhren dazu, daß die Vertrauenskrise des Auslandes sich vergleichsweise schnell auf das Inland überträgt, Einlagenabzüge des Publikums wahrscheinlicher macht und immer mehr Geschäftsbanken und Finanzintermediäre in ihrem Bestand gefährdet. Auch wenn die unmittelbare Ursache solcher Wechselkurskrisen vordergründig betrachtet fast immer in spekulativen Attacken hochmobilen internationalen Kapitals gegen einzelne vermeintlich schwache Währungen zu suchen ist (Köhler 1998), so hat ein gründliches Studium der Hintergründe solcher Episoden bislang noch immer gezeigt, daß Abwertungen „gemeinhin keine Zufallsprodukte wankelmütiger Spekulanten waren, die völlig losgelöst von den Fundamentalfaktoren agierten, sondern daß sich bereits im Vorfeld häufig recht deutlich makroökonomische Schieflagen abzeichneten" (Schnatz 1998, 52). Meist gehen solchen Wechselkurskrisen übermäßige reale Aufwertungen des Wechselkurses, hohe kurzfristige Auslandsschulden, niedrige Währungsreserven, überproportional hohe Leistungsbilanzdefizite und ein exzessives Wachstum der inländischen Kredite voraus (Frankel und Rose 1996). Die Devisenspekulation nimmt daher im allgemeinen lediglich Entwicklungen vorweg, die früher oder später ohnehin eingetreten wären, und beschleunigt damit nur die unvermeidliche Wechselkursanpassung, aber sie kommt eben deshalb für die meisten Marktpartner (und gelegentlich fur die Spekulanten selbst) überraschend und führt häufig zu Wechselkursreaktionen, die kurzfristig weit über das fundamental gerechtfertigte Maß hinausschießen. In bemerkenswertem Gegensatz dazu finden Eichengreen und Rose (1998 und 1999) die stärksten Auslöser für Bankenkrisen in Entwicklungs- und Schwellenländem nicht in Änderungen der wirtschaftlichen Bedingungen in den betreffenden Ländern selbst begründet, sondern in gravierenden Verschlechterungen der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die häufigste Ursache soll dabei in der Vergangenheit in einem überraschend starken kurzfristigen Anstieg der Zinsen in den USA, Europa und Japan bestanden haben, der diesen Beobachtungen zufolge vor allem die hochgradig verwundbaren Schwellenländer mit offenen Kapitalmärkten besonders schwer getroffen hat und dem Ausbruch von Banken- und Wechselkurskrisen meist um etwa ein Jahr voranging. So vielfältig die Risiken sind, mit denen sich die Geschäftsbanken und Finanzintermediäre eines Landes aufgrund ihrer zentralen Position im volkswirtschaftlichen Finanzierungsprozeß konfrontiert sehen, so vielfaltig sind offensichtlich auch die möglichen auslösenden Ursachen einer systemischen Bankenkrise. Sie werden aber, und insofern macht die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen strukturellen Bedingungen und auslösenden Faktoren Sinn, nur dann auch tatsächlich zum offenen Ausbruch einer Finanzkrise führen, wenn der primäre Schock auf ein Bankensystem trifft, das sich aus strukturellen Gründen durch einen hohen Grad systemischer Fragilität auszeichnet, und wenn die krisenauslösenden Faktoren so mächtig sind, daß sie die Anpassungsflexibilität des heimischen Banken- und Finanzsystems zumindest kurzfristig übersteigen.

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3. Krisenverstärkende Katalysatoren Als verstärkende Katalysatoren einer Bankenkrise wird man solche Faktoren betrachten, die dazu beitragen, daß die Anpassungsprobleme nicht auf einzelne Kreditinstitute, Regionen oder Bankengruppen begrenzt bleiben und vergleichsweise rasch bewältigt werden können, sondern eher noch an Bedeutung und Reichweite gewinnen, ist die Krise erst einmal ausgebrochen. Dabei ist zunächst und vor allem an so schwer meßbare, zweifellos jedoch überaus bedeutsame Faktoren wie das Vertrauen der Bevölkerung in das nationale Bankensystem zu denken, das letztlich darüber entscheidet, ob es in einer kritischen Situation bei partiellen Abzügen von Sicht- und Spareinlagen des Publikums bei einigen wenigen unmittelbar betroffenen Banken bleibt oder ob die Liquiditätsschwierigkeiten einzelner Institute - wie während der deutschen Bankenkrise 1931, der US-amerikanischen Bankenkrise 1932/33 sowie der indonesischen und koreanischen Bankenkrise 1997 - eine allgemeine Vertrauenskrise auslösen und zu einem landesweiten „Run" auf die heimischen Geschäftsbanken fuhren. Nach den vorliegenden historischen Erfahrungen wird man davon ausgehen können, daß eine krisenverschärfende Publikumspanik dann eher unwahrscheinlich ist, wenn die Sicht- und Spareinlagen der Bevölkerung in angemessenem Umfang versichert sind oder wenn die Bankkunden darauf vertrauen können, daß ihre Einlagen - insbesondere bei den großen heimischen Staatsbanken - zumindest de facto durch die Regierung garantiert sind (Terberger-Stoy 2000). Doch nicht allein das Ausmaß von Einlagenabzügen des Nichtbankenpublikums, auch die Fortpflanzung von Zahlungsschwierigkeiten und Konkursen einzelner Banken über Domino-Effekte am heimischen Interbankenmarkt spielt für eine mögliche Verschärfung der Krise offenbar eine wichtige Rolle {Kaufman 1994). Dabei scheint das Ausmaß der Ansteckungseffekte - wie Simulationsanalysen für hochentwickelte Bankensysteme bestätigen - ganz wesentlich durch den Grad der Streuung der Interbankbeziehungen und durch die Höhe des zu erwartenden Verlustes bei Forderungsausfallen unter Banken bedingt zu sein (Upper und Worms 2001). Da die von den Kreditinstituten erwarteten Verluste aus Interbankverbindlichkeiten maßgeblich durch die Bereitschaft von Regierung und Zentralbank zu kurzfristigen Interventionen determiniert sind, wird einmal mehr deutlich, welch bestimmenden Einfluß Regierung, Zentralbank und Bankenaufsicht für Verlauf, Schwere und Dauer einer systemischen Bankenkrise haben. Ein sehr frühzeitiges Eingreifen und eine politisch motivierte Entscheidung für ein „bailing out" der Banken werden zumindest eine Anstekkung am Interbankenmarkt weitgehend verhindern, wenngleich damit auf längere Sicht zweifellos falsche Anreize für das Management der Banken gesetzt sein dürften (Goldstein und Turner 1996). Umgekehrt jedoch wird ein zögerndes Eingreifen von Regierung, Zentralbank und Bankenaufsicht dazu führen, daß die Krise vergleichsweise rasch an Tempo und Eigendynamik gewinnen kann, so daß Bankenkrisen unter ungünstigen Bedingungen binnen weniger Tage und Wochen zu einem finanziellen Kollaps und zum Konkurs eines beträchtlichen Teils der nationalen Banken führen können. Zahlreiche Banken- und Finanzkrisen in verschiedenen Teilen der Welt lehren, daß vor allem überraschende drastische Abwertungen der heimischen Währung am Devi-

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senmarkt erhebliche katalytische Wirkung entfalten können." Treten Banken- und Wechselkurskrisen mehr oder weniger zeitgleich auf, ist zu erwarten, daß der wirtschaftliche Abschwung besonders rasch und tief ausfállt, daß die Zahl der Firmenkonkurse und der Anteil notleidender Bankkredite schneller und stärker ansteigt, als wenn der Wechselkurs stabil bleibt, und daß entsprechend auch die Vermögensverluste des Banken- und Finanzsektors vergleichsweise hoch ausfallen (Kaminsky und Reinhart 1999). Eine unerwartete drastische Abwertung der heimischen Währung kann sogar binnen weniger Wochen weite Teile des Bankensystems lahmlegen, wenn ein großer Teil der Bankschuldner oder gar der Kreditinstitute selbst im Vertrauen auf stabile Wechselkurse darauf verzichtet hat, offene Fremdwährungspositionen abzusichern, und nun nicht in der Lage ist, die Auslandsverbindlichkeiten zurückzuzahlen, weil der in Inlandswährung ausgedrückte Rückzahlungsbetrag nach der Abwertung die aufgenommene Kreditsumme möglicherweise um ein Vielfaches übersteigt (Mishkin 1996). Empirische Studien belegen, daß die Bereinigungskosten systemischer Bankenkrisen in der Tat überproportional hoch sind, wenn die Probleme des Finanzsektors von einer Wechselkurskrise begleitet werden. So weisen Hoggarth und Saporta (2001, 150) auf der Basis von Expertenschätzungen, die im wesentlichen von Caprio und Klingebiel (1999) zusammengetragen wurden, nach, daß die Belastungen des Staatshaushalts aus der Bewältigung von 24 Bankenkrisen im Durchschnitt „lediglich" 4,5 % des Bruttoinlandsprodukts bei reinen Bankenkrisen ausmachten, jedoch 23 % in „Twin Crises", also dann, wenn die Bankenkrise mit einer Wechselkurskrise einherging. Dabei lagen die fiskalischen Nettokosten in Ländern mit Systemen ehemals fester Wechselkurse sogar bei durchschnittlich 27,5 % und bei Festkurssystemen in Schwellenländern bei exorbitant hohen 32 % des Bruttoinlandsprodukts. Der Tendenz nach ähnlich fallen Schätzungen der kumulierten Wachstumsverluste während reiner Bankenkrisen einerseits und kombinierter Banken- und Wechselkurskrisen andererseits aus, die in Tabelle 2 zusammengestellt sind. Sowohl in den Untersuchungen des International Monetary Fund (1998a), als auch in den Studien von Bordo, Eichengreen, Klingebiel und Martinez-Peria (2001) sowie Hoggarth und Saporta (2001) liegen die Wachstumsverluste unter „Twin Crises" seit den siebziger Jahren doppelt bis dreimal so hoch wie unter reinen Bankenkrisen. Besonders interessant ist darüber hinaus, daß sich diese Beobachtung offenbar sogar für systemische Bankenkrisen vor dem Ersten Weltkrieg wie auch während der Weltwirtschaftskrise bestätigen läßt. Auch wenn die absolute Höhe der geschätzten Wachstumsverluste aus den weiter oben bereits genannten Gründen mit Vorsicht zu interpretieren ist, liefert der Vergleich über verschiedene Zeiträume und Krisentypen hinweg doch überzeugende empirische Evidenz dafür, daß Bankenkrisen vor allem dann besonders schwer sind und hohe gesamtwirtschaftliche Kosten verursachen, wenn sie von starken Abwertungen des Wechselkurses begleitet oder ausgelöst werden. Einiges spricht dafür, daß die von starken Abwertungen ausgehenden Gefahren für die Stabilität des Finanzsektors in Ländern mit mehr oder weniger festen Wechselkur11 Vgl. hierzu insbesondere Velasco (1987), Miller (1998), Kaminsky und Reinhart (1999), Buch und Heinrich (1999) sowie Kaufman (2000).

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sen und einem vergleichsweise hohen Bestand kurzfristiger Fremdwährungsschulden bei niedrigen Devisenreserven besonders groß sind. Feste Wechselkurse bergen bekanntlich zum einen das Risiko, daß es früher oder später zu spekulativen Attacken gegen die hejmische Währung kommt, in deren Verlauf der Wechselkurs dann möglicherweise nicht mehr zu verteidigen ist und die Rate der Abwertung weit über das fundamental gerechtfertigte Maß hinausschießt. Festkurssysteme bergen aber zum anderen auch das Risiko, daß sich viele inländische Schuldner in trügerischer Sicherheit wiegen und im Vertrauen darauf, daß der Wechselkurs stabil oder die erwartete Rate der Abwertung moderat bleibt, auf eine Absicherung ihrer Fremdwährungsverbindlichkeiten verzichten {Bäckström 1999). Zwar ist nicht auszuschließen, daß bei flexiblen Wechselkursen ähnlich große oder gar größere Kursschwankungen entstehen als in einem Regime fester oder stufenflexibler Wechselkurse. Die Auswirkungen dramatischer Abwertungen auf das heimische Bankensystem dürften jedoch deutlich geringer sein, weil die Schwankungen flexibler Devisenkurse den inländischen Schuldnern die Risiken verdeutlichen, die sie eingehen, wenn sie auf eine Absicherung ihre Fremdwährungsverbindlichkeiten verzichten. Tabelle 2

Schätzungen kumulierter Wachstumsverluste während systemischer Banken- und Wechselkurskrisen 1880 bis 1998

Zahl der Krisen

Dauer der Krisen in Jahren

Wachstumsverluste in % des BIP

Studie

Krisentyp

IMF (1998a) 1975-1997

reine Bankenkrisen Banken- & Wechselkurskrisen

22 32

3,0 3,2

7,5 14,4

Hoggarth et al. (2001) 1977-1998

reine Bankenkrisen Banken- & Wechselkurskrisen

23 20

3,3 4,2

7,1 22,9

Bordo et al. (2001) 1973-1997

reine Bankenkrisen Banken- & Wechselkurskrisen

8 11

3,1 3,7

7,0 15,7

Bordo et al. (2001) 1919-1939

reine Bankenkrisen Banken- & Wechselkurskrisen

18 15

2,4 2,7

10,5 15,8

Bordo et al. (2001) 1880-1913

reine Bankenkrisen Banken- & Wechselkurskrisen

15 9

2,3 2,2

8,3 14,5

Quelle: International Monetary Fund (1998a), Hoggarth und Saporta (2001) sowie Bordo, Ei-

chengreen, Klingebiel und Martinez-Peria (2001). Katalytische Funktion kommt zweifellos auch dem weithin beobachtbaren Herdenverhalten von Banken und Finanzintermediären zu, sowohl auf den heimischen Aktienund Anleihemärkten als auch in den internationalen Kapitalbeziehungen. In zunehmendem Maße legen nicht nur die privaten, sondern auch die institutionellen Kapitalanleger ein ausgeprägtes Parallelverhalten an den Tag, dessen Ursachen man vermutlich nicht nur in direkten persönlichen oder organisatorischen Beziehungen zwischen einigen Ak-

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teuren, sondern auch darin zu suchen hat, daß die meisten Marktteilnehmer doch vergleichsweise ähnliche Prognosemodelle, Analyseverfahren und Entscheidungsregeln bei annähernd identischen Daten und Informationen verwenden. Ein solches Herdenverhalten kann vor allem dann Banken- und Finanzkrisen beträchtlich verstärken, wenn Banken, Finanzintermediäre und institutionelle Investoren durch implizite oder vermeintliche Regierungsgarantien dazu verleitet werden, exzessive Risiken zu übernehmen, die sie jeder für sich und als Herde vermieden hätten, wenn ein erhebliches finanzielles Engagement der Regierung bei der Krisenabwicklung von vornherein nicht zu erwarten gewesen wäre ( R ü f f e r 1999). Die hierdurch entstehenden exzessiven Risikoballungen in den Bilanzen des heimischen Bankensystems werfen in der Regel zwar keine gravierenden Probleme auf, solange nur einzelne Unternehmen oder weniger bedeutende Wirtschaftssektoren von milden Schocks getroffen werden. Sie können jedoch systemische Bankenkrisen und Wechselkurskrisen auslösen und verstärken „in the presence of cumulative sizable macroeconomic shocks, which fully reveal the financial fragility associated with excessive investment and risktaking" (Corsetti, Pesenti und Roubini 1998, 3). Auch die mittlerweile große Bedeutung weitgehend unkontrollierter Hedge-Fonds, die meist von Regulierungs- und Steueroasen aus operieren, ihr zum Teil extrem hoher Leverage, ihr stark gewachsenes Volumen an Derivaten und die bei den nationalen Regulierungsbehörden zum Teil noch heute verbreitete Unterschätzung der von solchen Fonds ausgehenden Gefahren für die Stabilität der Finanzmärkte dürften - nicht nur in Asien, sondern auch in Lateinamerika - die Banken- und Wechselkurskrisen der achtziger und neunziger Jahre erheblich verschärft haben.12 Als Katalysator für die Ausbreitung und Tiefe von Banken- und Finanzkrisen könnten aber auch die neuen Kommunikations- und Informationssysteme wirken, die dazu beitragen, daß sich neue Informationen sehr viel schneller und unter wesentlich mehr Akteuren als in der Vergangenheit verbreiten und auf diese Weise sprunghaft steigende Mengenumsätze und starke Veränderungen von Assetpreisen in sehr kurzen Zeiträumen auslösen. Innovationen in der Informationstechnologie tragen auf diese Weise zu einer finanziellen Globalisierung bei, die nicht nur das Volumen grenzüberschreitender Transaktionen enorm erhöht, den Wettbewerb intensiviert und die Gewinnmargen senkt (International Monetary Fund 2000). Sie verstärken auch die Interdependenzen zwischen den Finanzmärkten und beschleunigen die Transmission von Finanzkrisen, und zwar nicht nur in Ländern mit ähnlichen ökonomischen Strukturen, sondern auf allen Märkten der Welt „through the global adjustment of highly leveraged positions". Es scheint daher, „that while financial system efficiency has been considerably enhanced, vulnerability has also increased" (Yamaguchi 2000,2). 12 Der Long Term Capital Management Fund beispielsweise nahm bei einem Eigenkapital von lediglich 2,3 Milliarden US-$ Kredite über 120 Milliarden US-$ auf und hatte bei seinem Zusammenbruch im Herbst 1998 ein Terminkontrakt-Volumen von 1.200 Milliarden US-$, was in etwa den Devisenreserven aller Zentralbanken der Welt entsprach. Der gesamte Leverage soll unter Einrechnung des extrem hohen Derivate-Volumens bei über 600 gelegen haben, was einer Eigenkapital-Unterlegung von etwa 0,2 % entspricht. Vgl. hierzu näher Geis (2000, 126) und zu einer eher positiven Beurteilung von Hedge-Fonds Eichengreen und Mathieson (1998) sowie Tsatsaronis (2000).

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Alles in allem ist die in den letzten Jahrzehnten markant gestiegene Reichweite und Schwere systemischer Bankenkrisen gewiß nicht Ausdruck dafür, daß in den betroffenen Krisenländern in den achtziger und neunziger Jahre etwa mehr und größere Fehler begangen wurden als in den sechziger und siebziger Jahren. Auch eine Verbindung mit dem Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse von Bretton Woods entbehrt überzeugender Begründung. Eher dürfte die beobachtbare Entwicklung das Ergebnis des gestiegenen Umfangs und der größeren Beweglichkeit der internationalen Kapitalströme gewesen sein (Siebert 1998), die ihrerseits in der Ausbreitung von Innovationen, in tiefgreifenden strukturellen Veränderungen an den internationalen Finanzmärkten, in der zunehmenden Deregulierung und Liberalisierung der nationalen Finanzmärkte in immer mehr Ländern der Erde, in der nicht zuletzt hierdurch beträchtlich gestiegenen internationalen Mobilität des anlagesuchenden Kapitals und wohl auch in der seit den siebziger Jahren deutlich gestiegenen Volatilität von Zinsen, Wechselkursen, Immobilienpreisen sowie Aktien- und Anleihekursen begründet liegen. So wäre auch zu erklären, warum die schwersten und längsten Banken- und Finanzkrisen nicht in den ärmeren Entwicklungsländern ausgebrochen sind, sondern ausgerechnet in den besonders dynamischen und schnell wachsenden Schwellenländern, die ihre Finanzmärkte dereguliert, liberalisiert und international geöffnet haben.

IV. Erfahrungen im internationalen Vergleich Eintritt, Reichweite und Schwere einer Bankenkrise dürften nach den vorangegangenen Überlegungen letztlich immer nur als das Resultat des Zusammenwirkens krisenanfälliger Rahmenbedingungen, krisenauslösender Faktoren und krisenverstärkender Katalysatoren zu begreifen sein. Erklärungsansätze, die nur dem einen oder dem anderen Aspekt Rechnung tragen, werden kaum in der Lage sein, die markant unterschiedliche Entwicklung, wie wir sie in den verschiedenen Ländern und Regionen der Welt beobachten können, zu erklären. Insbesondere Frühwarnsysteme, die sich ausschließlich auf einzelne makroökonomische Symptomindikatoren stützen, müssen zwangsläufig zu kurz greifen, weil sie weder der Multikausalität des Phänomens noch den für seine Entstehung konstitutiven Bedingungen ausreichend Rechnung tragen können. Tatsächlich läßt sich ein Großteil der in den letzten Jahrzehnten gemachten nationalen Erfahrungen ex post recht stimmig durch ein Zusammenwirken der hier skizzierten Faktorengruppen erklären, auch wenn in den konkreten nationalen Problemsituationen einzelne krisenanfällige, krisenauslösende und krisenverstärkende Faktoren in ganz spezifischen Kombinationen und mit individuell unterschiedlichem Gewicht sichtbar werden.

1. Lateinamerika Wie in kaum einer anderen Region der Welt bieten die Banken- und Finanzsektoren der Länder Mittel- und Südamerikas seit Jahrzehnten reiches Anschauungsmaterial für Systeme, die sich durch einen hohen Grad der Fragilität und Verwundbarkeit auszeichnen. Es kann daher auch nicht verwundern, daß nirgendwo sonst auf der Welt - von den

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Transformationsländern Osteuropas und Asiens abgesehen - binnenwirtschaftliche Instabilitäten und externe Schocks so zahlreiche schwere Bankenkrisen auslösten wie in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften. Sie wären tatsächlich noch weit häufiger zu beobachten, wenn nicht die Bankensysteme einiger besonders instabiler Länder - wie Costa Rica, Ecuador, Kolumbien und Peru - im Laufe der Zeit in weitgehend regierungskontrollierte Systeme umgewandelt worden wären, in denen neben Staatsbanken, die seit Jahrzehnten bereits de facto insolvent sind, nur noch wenige Privatbanken und ausländische Kreditinstitute tätig sind (Schmidt 2000). Die Bankenkrisen Lateinamerikas in den frühen achtziger und neunziger Jahren waren nach dem nahezu übereinstimmenden Urteil ihrer Beobachter das Ergebnis einer Kombination von strukturell bedingten Funktionsmängeln des Bankensystems, einer lockeren und überforderten Bankenaufsicht, weitreichendem staatlichen Interventionismus, chronisch defizitären Staatshaushalten, makroökonomischen Instabilitäten und schweren externen Schocks {Morris, Dorfman, Ortiz und Franco 1990) bei Konstruktionsfehlern des Wechselkurssystems mit einer Tendenz zur Überbewertung der heimischen Währung, die früher oder später Zahlungsbilanzkrisen und starke Abwertungen heraufbeschwören mußte (Kaminsky und Reinhart 1999). In vielen Fällen erschütterte eine hohe kurzfristige Auslandsverschuldung bei unzureichenden Devisenreserven das Vertrauen der ausländischen Gläubiger, und die in fast allen Ländern stark schwankenden Raten des realen Wirtschaftswachstums und die meist galoppierenden Inflationsraten erschwerten sogar den Kreditinstituten selbst eine realistische Einschätzung der von ihnen übernommenen Risiken (Gavin und Hausmann 1996). In den meisten Ländern stand die Geschäftspolitik der Banken unter weitgehender Kontrolle der Regierung, die Kredite in unproduktive Verwendungen lenkte, die Kreditkonditionen dekretierte und den Banken das Volumen der zu übernehmenden Staatsschuldverschreibungen vorschrieb. In den wenigen Ländern allerdings, in denen die Regierung - wie in Argentinien, Chile und Mexico - mit einer Liberalisierung und Deregulierung des Finanzsektors experimentierte, zeigte sich, daß Banken und Bankenaufsicht gleichermaßen nach jahrelanger Bevormundung durch den Staat kaum fähig waren, mit den besonderen Risiken in dem turbulenten wirtschaftlichen und politischen Umfeld ihrer Länder umzugehen {Morris, Dorfman, Ortiz und Franco 1990). Unter solchen Bedingungen führten immer wieder interne und externe Schocks wie Schuldenkrisen der Regierung oder großer Staatsunternehmen, unerwartete geldpolitische Kurswechsel der Zentralbank, starke Änderungen der Terms of Trade, überraschende Änderungen der realen Wechselkurse, eine plötzliche Erhöhung der Auslandszinsen oder massive Abzüge internationalen Kapitals {Gavin und Hausmann 1996) zu einem Zusammenbruch exzessiver Kreditgewährung, stark steigenden Konkursen und notleidenden Krediten, die einen wirtschaftlichen Abschwung, Bankenzusammenbrüche und Publikumspaniken zur Folge hatten und in vielen Fällen die Regierung dazu verleiteten, nur um so intensiver in den Finanzsektor einzugreifen, Auslandsbanken zu nationalisieren und inländische Kreditinstitute zu fusionieren oder zu übernehmen.

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2. Angelsächsische Länder Die Bankenkrisen, die in den achtziger Jahren in einigen Ländern des angelsächsischen Wirtschaftsraumes ausbrachen, verliefen zwar wesentlich milder als die Krisen, die wenige Jahre zuvor in Mittel- und Südamerika bewältigt werden mußten. Auch sie lassen sich jedoch im nachhinein plausibel damit erklären, daß überraschende exogene Schocks auf ein Bankensystem trafen, das aus spezifischen Gründen durch ein hohes Maß von Fragilität und Verwundbarkeit gekennzeichnet war. So war die Krise der „Savings and Loans Institutions" in den USA, die sich in mehreren Wellen durch die gesamten achtziger Jahre hinzog, im wesentlichen darin begründet, daß das Management vergleichsweise kleiner und eigenkapitalschwacher Genossenschaftsbanken infolge widersprüchlicher Regulierungsvorschriften, Überforderter Bankenaufsicht und zögerlicher Haltung der politischen Entscheidungsträger über viele Jahre hinweg starken Anreizen unterlag, das Aktivgeschäft in immer stärkerem Maße auf riskante und spekulative Projekte zu konzentrieren. Die 1979 eingeleitete restriktive Geldpolitik hatte die Realzinsen und damit auch die Refinanzierungskosten der Sparund Darlehenskassen am Geldmarkt kräftig steigen lassen. Gleichzeitig blieben jedoch die Zinseinnahmen für die von diesen Kreditinstituten vergebenen langfristigen und festverzinslichen Hypothekarkrediten nahezu unverändert. Gewinne und Eigenkapital der „thrifts" gingen stark zurück, und eine große Zahl von Institutionen wurde insolvent. Anstatt die angeschlagenen Banken zu schließen, zogen es die Regulierungsbehörden vor, den Instituten eine Diversifikation ihrer Aktiva zu gestatten, die noch bestehenden Zinsregulierungen aufzuheben und die Eigenkapitalvorschriften zu lockern, vermutlich weil die Mittel der Depositenversicherung nicht ausreichten, so viele betroffene Kreditinstitute gleichzeitig zu schließen. Die in ihrer Mehrheit finanziell angeschlagenen „thrifts" sahen sich hierdurch in zunehmendem Maße motiviert, immer riskantere und spekulativere Engagements einzugehen, in der Hoffnung, die schwache Eigenkapitalund Liquiditätsbasis durch um so gewagtere Operationen zu verbessern (Davis 1992, 164-166). Auf diese Weise entstanden in den Bilanzen vieler Kreditinstitute allmählich erhebliche Schieflagen und Ballungen von Risiken, die in immer mehr Fällen zu Liquiditäts- und Solvenzproblemen führten, nachdem der Boom im Agrar-, Erdöl- und Bausektor Mitte der achtziger Jahre zu einem plötzlichen Ende kam. Der Rückgang der Rohstoffpreise, der Zusammenbruch des Immobilienmarktes und das Scheitern zahlreicher eher spekulativer Projekte ließen Hunderte von Spar- und Darlehenskassen mit geringem Eigenkapital zusammenbrechen. Primär aufgrund der unentschlossenen Haltung der Regulierungsbehörden zog sich die Krise acht Jahre lang hin und führte dazu, daß am Ende etwa 1.700 Kreditinstitute geschlossen oder fusioniert werden mußten. Ahnliche Ursachen lassen sich hinter der vergleichsweise kurzen und weniger kostspieligen Bankenkrise in Kanada ausmachen, wo die Rezession von 1982 und der Rückgang der Rohstoffpreise 1985 einige kleinere Regionalbanken und Handelsbanken zusammenbrechen ließen, die sich in der vorangegangenen Boomphase stark in risikoreichen Immobilien-, Energie- und Landentwicklungsprojekten engagiert hatten. Aus Sorge vor einer allgemeinen Publikumspanik und unter dem Eindruck der anhaltenden

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US-amerikanischen Bankenkrise entschloß sich die Regierung, alle Einleger selbst über die Höchstgrenzen der Depositenversicherung hinaus zu entschädigen (Davis 1992). Den Bankenkrisen, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nahezu zeitgleich in Australien und Neuseeland ausbrachen, lagen andere Ursachenkomplexe zugrunde. Sie waren primär darin begründet, daß der durchgreifenden Deregulierung und Liberalisierung der Banken- und Finanzmärkte, die bis Ende der siebziger Jahre noch in beiden Ländern strikt reguliert waren, eine Phase exzessiver, von überoptimistischen Erwartungen getragener Expansion der Kreditvergabe des Bankensektors und der konjunkturellen Überhitzung mit spekulativen Entwicklungen am Immobilienmarkt und an den Kapitalmärkten folgte. Als die spekulative „Blase" 1988 in Neuseeland platzte, ließ der Sturz der Aktienund Anleihekurse und der Rückgang der Immobilienpreise rasch offenbar werden, daß die Bilanzen zahlreicher, in der vorangegangenen Boomphase besonders dynamischer Kredit- und Finanzierungsinstitute mit erheblichen Risiken belastet waren. Mit der Einleitung einer restriktiven Geldpolitik nahmen 1989 auch in Australien die Quoten notleidender Kredite und die Zahl der Firmenkonkurse stark zu. Eine Reihe von Banken und Baufinanzierungsgesellschaften, die sich auf hochriskante Engagements eingelassen hatten, geriet in Zahlungsschwierigkeiten und mußte geschlossen, mit soliden Banken verschmolzen oder rekapitalisiert werden (Davis 1992). Dem schnellen und konsequenten Eingreifen der Bankenaufsicht, aber auch der baldigen Erholung der Konjunktur und der relativen Stabilität der Wechselkurse von australischem Dollar und neuseeländischem Pfund dürfte es zuzuschreiben sein, daß die Krisen rasch überwunden werden konnten und ihre gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen gering blieben. 3. Skandinavien Ähnliche Ursachen wie in Australien und Neuseeland hatten die Bankenkrisen, die Ende der achtziger Jahre in allen skandinavischen Ländern mehr oder weniger gleichzeitig ausbrachen. Die Liberalisierung und Deregulierung der Banken- und Finanzsektoren, die in Skandinavien der Jahrzehnte lang praktizierten recht weitgehenden staatlichen Bevormundung und Kontrolle der Banken folgten, führten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zu einer exzessiven, von zu optimistischen Erwartungen aller Marktteilnehmer getragenen Bankenkreditvergabe bei immer schlechterer Bonität der Schuldner (Solitila und Vihriälä 1994) und spekulativen Entwicklungen auf dem Immobiliensektor und an den Kapitalmärkten, die von rapide steigenden Immobilienpreisen sowie Aktien- und Anleihekursen begleitet wurden (Pesóla 2001). Gleichzeitig stieg die Auslandsverschuldung der Haushalte und Unternehmen in Fremdwährung stark an, da die heimischen Zinsen von den Zentralbanken vergleichsweise hoch gehalten wurden, um den Spekulationsboom zu dämpfen und das vorherrschende Regime fester Wechselkurse zu verteidigen. Da viele Kreditnehmer auf die Stabilität der Wechselkurse vertrauten, verschuldeten sie sich bei den heimischen Geschäftsbanken in immer stärkerem Umfang in ausländischer Währung zu scheinbar günstigen Zinsen ohne entsprechende Kursabsicherung (Bäckström 1999).

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Das Ende des Bau- und Spekulationsbooms, der Rückgang der Immobilienpreise und der Einbruch der Aktienkurse höhlten die Zahlungsfähigkeit der Schuldner rasch aus und ließen innerhalb weniger Monate die Quote der notleidenden Kredite rapide ansteigen ( Vihriälä 1996a). Dabei zeigte sich, daß die Qualität des Kreditbestandes gerade bei jenen Banken und Bankengruppen überproportional abnahm, die in den Boomjahren zuvor die stärkste Expansion des Kreditvolumens zugelassen oder sogar selbst aktiv gefördert hatten ( Vihriälä 1996b). Zahlreiche Banken gerieten in Zahlungsschwierigkeiten und sahen sich nun auch zunehmend mit Problemen konfrontiert, an den internationalen Kapitalmärkten überhaupt noch neue Mittel aufnehmen zu können {Bäckström 1999). Zudem löste das schwindende Vertrauen in die Stabilität der skandinavischen Finanzmärkte beträchtliche Abzüge kurzfristigen Auslandskapitals aus und trug zu einer kräftigen Abwertung der skandinavischen Währungen bei. Die für die meisten Marktteilnehmer überraschende Abwertung der bis dahin festen Wechselkurse wiederum verteuerte die Rückzahlung der von Inländern aufgenommenen Fremdwährungskredite erheblich und ließ die Zahl der Firmenkonkurse und notleidenden Bankkredite weiter kräftig ansteigen. Die Eigenkapitalbasis und die Qualität der Aktiva vieler Staatsbanken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken - vor allem in Finnland, Schweden und Norwegen waren jedoch zu gering, um einer so starken Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in so kurzer Zeit standhalten zu können (Benink und Llewellyn 1994). Zudem sah sich in allen skandinavischen Ländern eine Vielzahl von ähnlichen, miteinander eng verflochtenen Banken zum gleichen Zeitpunkt mit denselben gesamtwirtschaftlichen Schocks konfrontiert, was die Ansteckungseffekte über den Interbankenmarkt intensivierte und in Finnland sogar zum Konkurs der Zentralkasse der Sparbanken führte. Krisenverstärkend wirkten in Norwegen auch der vorangegangene Preiseinbruch am Rohölmarkt und in Finnland der Zusammenbruch des vormals bedeutenden Außenhandels mit dem Wirtschaftsraum der ehemaligen Sowjetunion {Koskenkylä 1995 und 2000). Die Bankenkrisen der skandinavischen Länder sind daher im wesentlichen als das Ergebnis der vorangegangenen, unzureichend durchdachten und schlecht abgestimmten Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte zu betrachten, die in einem Klima überoptimistischer Erwartungen zu spekulativen Übertreibungen an den Immobilienund Kapitalmärkten führten, bis die spekulative „Blase" platzte und der wirtschaftliche Abschwung begann. Die Geldpolitik erwies sich als unfähig, „to counter the tendencies to strong credit growth and rapid asset price increases", und die Strategie der Verteidigung fester Wechselkurse „lulled people into a false sense of security and provided an incentive for short-run borrowing in foreign currency" {Bäckström 1999, 4). Die Wirtschaftskrise fiel daher auch vor allem in jenen Ländern überdurchschnittlich schwer aus, in denen die Bankenkrise - wie in Finnland und in Schweden - von einer Wechselkurskrise begleitet wurde, weil in den Jahren zuvor besonders viele Fremdwährungskredite aufgenommen worden waren, während Länder, die - wie Dänemark und Island - die staatliche Kontrolle des Bankensystems weniger gelockert und den Aufbau

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einer exzessiven Auslandsverschuldung weitgehend verhindert hatten13, lediglich eine vergleichsweise milde Bankenkrise ohne starke Abwertung des Wechselkurses erlebten. 4. Japan Ähnlich wie in den skandinavischen Ländern ist das Platzen einer spekulativen „Blase", ausgelöst durch einen überraschenden geldpolitischen Kurswechsel, durch den damit verbundenen kräftigen Rückgang der Aktien- und Anleihekurse sowie den nachfolgenden Verfall der Immobilienpreise von 1990 bis 1992, zweifellos als der Hauptauslöser der Banken- und Finanzkrise Japans anzusehen (Terberger-Stoy 2000, 100). Auch in Japan wäre vermutlich jedoch eine weniger dramatische Entwicklung möglich gewesen, hätte der Schock ein System getroffen, das robust und flexibel genug gewesen wäre, sich an die tiefgreifenden und überraschenden Datenänderungen anzupassen. Tatsächlich war das japanische System über Jahrzehnte hinweg durch eine allenfalls schwache Absicherung von Risiken, durch ein die Risikodiversifikation erschwerendes Hausbankensystem, traditionelle Managementmethoden, problematische Buchungs- und Bilanzierungspraktiken, eine vergleichsweise lockere Bankenaufsicht und Führungsschwäche der politischen Eliten gekennzeichnet (Kanaya und Woo 2000), die einer langjährigen exzessiven Kreditvergabe Vorschub leisteten und im Laufe der Zeit Bankbilanzen entstehen ließen, die sich durch eine kaum noch zu vertretende Ballung von Risiken bei eklatanter Eigenkapitalschwäche auszeichneten. Der anhaltende Kurssturz von Aktien und Anleihen, die Abwertung des Yen und der starke Rückgang der Immobilienpreise führten daher rasch zu einer kräftigen Zunahme von Unternehmenskonkursen, steigenden Anteilen notleidender Kredite, einer rapiden Erosion der zur Abdeckung von Kreditrisiken dienenden Sicherheiten und zu beträchtlichen Kapitalverlusten bei Banken und Finanzintermediären. Doch dieselben Bedingungen, die in den vorangegangenen Jahrzehnten dafür verantwortlich gewesen waren, daß das japanische Finanzsystem Anfang der neunziger Jahre gegen einen Schock dieser Größenordnung so schlecht gerüstet war, verhinderten auch jetzt noch durchgreifende Reformen und eine Anpassung der Banken an die veränderten Rahmenbedingungen. Die von der Regierung verfolgte Strategie bestand im Gegenteil darin, das wahre Ausmaß der Probleme so lange wie möglich zu verschleiern, auf eine baldige Erholung der Kapitalmärkte und des Immobilienmarktes zu setzen, die Bankbilanzen lediglich kosmetisch zu bereinigen und den angeschlagenen Finanzinstituten Zeit zu verschaffen, allmählich aus ihrer prekären Lage gleichsam herauszuwachsen {Bonn 1998). Erst der völlige Zusammenbruch der Bausparkassen, der ywsen-Gesellschaften, der Konkurs zahlreicher Kreditkooperativen, Regionalbanken und großer im Hypothekargeschäft tätiger Institute 1995 bis 1996 machten der Regierung und den Regulierungsbehörden das ganze Ausmaß der Probleme des japanischen Bankensystems deutlich und zwangen alle Beteiligten zu Reformen, um weitere krisenverstärkende Domino-Effekte 13 Zu einem Vergleich der Erfahrungen Finnlands, Norwegens und Schwedens mit Dänemark vgl. auch Koskenkylä (1994, 1995 und 2000) und Pesóla (2001), zu Island siehe Gudnason (1996) und Schmidt (2000).

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innerhalb des Finanzsystems zu vermeiden (Kanaya und Woo 2000). Auch die japanischen Banken selbst kamen unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Krise nicht mehr umhin, durchgreifende Maßnahmen einzuleiten, notleidende Kredite abzuschreiben, ihre Rückstellungen zu erhöhen, ihre Aktiva zu restrukturieren und dabei 1996 und 1997 auch ihre Kreditengagements im südostasiatischen Wirtschaftsraum deutlich zu reduzieren. Mit dem 1998 angekündigten „Financial Big Bang" wurde dann auch endlich eine grundlegende Trendwende im Krisenmanagement der japanischen Administration vollzogen, die Transparenz erhöht und die Bankenaufsicht erstmals wirklich verschärft, wenngleich es noch geraume Zeit dauern dürfte, bis die über viele Jahre hinweg verschleppten Probleme des japanischen Bankensystems bewältigt sein werden. 5. Südostasien Die Erfahrungen der Schwellenländer Südostasiens scheinen auf den ersten Blick nicht zu herkömmlichen Erklärungsmustem systemischer Banken- und Finanzkrisen zu passen.14 Wie nahezu sämtliche Basisdaten der makroökonomischen Entwicklung für die neunziger Jahre zeigen, war die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern dieser Region vergleichsweise solide, so daß „on the basis of macroeconomic factors, it is difficult to argue that the Asian economies in 1996 were poised for the kind of turmoil that afflicted them in 1997 and 1998" (International Monetary Fund 1998b, 63). Die Inflationsraten lagen auch im weltweiten Vergleich recht niedrig, das Wirtschaftswachstum war zwar hoch, aber stetig und auch durch das hohe Bevölkerungswachstum bedingt. Die Lage der öffentlichen Haushalte stellte sich weitaus besser dar als in anderen Regionen der Welt, einige Länder erzielten sogar Überschüsse im öffentlichen Sektor, alle anderen nur moderate Defizite, und die Staatsverschuldung blieb mit Ausnahme Indonesiens auf mäßigem Niveau. Auffällig waren bis Mitte der neunziger Jahre allerdings chronische Leistungsbilanzdefizite in allen Schwellenländern Südostasiens, die ihrer von Weltbank und Währungsfonds unterstützten langfristigen Entwicklungsstrategie entsprachen, Importe von technologieintensiven Gütern mit Auslandskrediten zu finanzieren, um die heimische Wirtschaft zu entwickeln und die aufgenommenen Kredite eines Tages aus den Exporten eigener technologieintensiver gewerblicher Erzeugnisse zu finanzieren. Supranationale Geldgeber, internationale Banken und Kapitalanleger hatten bis dahin ohne größere Unterbrechungen bereitwillig ihr Kapital zur Verfugung gestellt, nicht zuletzt, um von dem scheinbar ungebrochenen Aufschwung der asiatischen „Wirtschaftswunderländer" ( World Bank 1993) profitieren zu können. Auch die gelegentlich behauptete reale Überbewertung der südostasiatischen Wechselkurse, die die Devisenspekulation wie früher gegen das Europäische Währungssystem provoziert haben soll, ist empirisch nicht gesichert. Die meisten der vergleichsweise preisstabilen Währungen Südostasiens waren bei 14 Einen Überblick zu Ursachen, Verlauf, Bekämpfimg und Folgen der Südostasienkrise geben beispielsweise Goldstein (1998), International Monetary Fund (1997, 1998a und 2000), Dieter (1998 und 1999), Lindgren, Baliño, Enoch, Guide, Quintyn und Teo (1999), Menkhoff (2000) und Rieger (2000).

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Ausbruch der Krise allenfalls moderat überbewertet, so daß die dramatischen Kursverluste in Folge der Spekulationswellen fundamental nicht gerechtfertigt erscheinen.15 Die Asienkrise begann mit heftigen Devisenspekulationen gegen den thailändischen Bhat, die sich binnen weniger Wochen in regelrechten Wellen gegen fast alle ostasiatischen Währungen fortsetzten und zu einem gemeinsamen Kurssturz im Sommer 1997 führten. Die drastischen Abwertungen waren begleitet von Abzügen internationalen Kapitals in einer bis dahin nicht gekannten Größenordnung und lösten mit Verzögerung Kurseinbrüche an den heimischen Kapitalmärkten und einen kräftigen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität aus, die noch dadurch verstärkt wurden, daß sich die Zentralbanken der Krisenländer zur Stabilisierung der außenwirtschaftlichen Lage zu starken Zinserhöhungen gezwungen sahen (Hawkins 1999). Die starken Kursverluste, die rapide steigenden Zahlen von Unternehmenskonkursen und der allgemeine wirtschaftliche Rückgang führten rasch zu hohen Raten notleidender Kredite von schätzungsweise 1525 % in Malaysia, 25-35 % in Korea, 45-50 % in Thailand und 65-75 % in Indonesien und zu einer scharfen Kontraktion von Geld- und Kreditvolumen. Um einen völligen Zusammenbruch der Bankensysteme zu verhindern, mußten die Regierungen und Zentralbanken rasch handeln, die in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Banken mit Liquidität und neuem Eigenkapital ausstatten, schlechte Kredite aufkaufen oder auf Auffanggesellschaften übertragen und ganze Banken übernehmen oder fusionieren. Tatsächlich ist die Südostasienkrise weder das Ergebnis von Zufallen noch das alleinige Werk von Devisenspekulanten, auch wenn Hedge Fund-Manager wie George Soros für die unmittelbare Auslösung der Krise zweifellos eine gewisse Rolle gespielt haben.16 Die Banken- und Finanzkrise Asiens konnte letztlich wohl nur entstehen und die beobachteten Ausmaße annehmen, weil die Banken- und Wirtschaftssysteme der betroffenen Länder durch einen Grad von Fragilität und Verwundbarkeit gekennzeichnet waren, der von den Regierungen in den späteren Krisenländem ebenso verkannt worden war wie von ihren verantwortlichen Beratern in den supranationalen Organisationen.17 Für diese hochfragilen Systeme war die internationale Vertrauenskrise ein Schock, der die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ihrer kleinen, deregulierten und offenen Volkswirtschaften weit überstieg: Sie verloren innerhalb von nur zwei Krisenjahren fast das gesamte private Kapital, das ihnen in den zehn Jahren zuvor aus allen Industrieländern zugeflossen war (.International Monetary Fund 2000).

15 Die Währungen der südostasiatischen Länder waren kurz vor dem Krisenausbruch allenfalls um etwa 15 % überbewertet (International Monetary Fund 1998), innerhalb der ersten sieben Krisenmonate verloren aber der thailändische Baht 55 %, der koreanische Won 49 %, der malaysische Ringit 45 %, der philippinische Peso 39 % und die Indonesische Rupiah sogar 84 % ihres Wertes gegenüber dem US-$. Nur der Singapur Dollar blieb mit einem Wertverlust von lediglich 19 % bemerkenswert stabil (Rieger 2000, 23). 16 Zur Kontroverse um die Rolle der internationalen Devisenspekulation und die Vorwürfe insbesondere des Premierministers von Malaysia, Mahathir Bin Mohamad, gegen die „rogue speculators" um einen „moron like Soros" vgl. beispielsweise Köhler ( 1998) und Rieger (2000). 17 Zur Rolle insbesondere des Internationalen Währungsfonds, auch zu seinen umstrittenen und teilweise widersprüchlichen Empfehlungen während der Krisenbekämpftmg vgl. Meitzer (1998), Radelet und Sachs (1998), Dieter (1998 und 1999) sowie Nunnenkamp (2000).

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Allerdings muß man innerhalb der Gruppe der siidostasiatischen Schwellenländer differenzieren. Wenn man auf der einen Seite Malaysia, die Philippinen und Singapur, die keine oder nur eine vergleichsweise moderate Bankenkrise erlebten, mit Indonesien, Korea und Thailand, die eine sehr schwere Banken- und Finanzkrise durchmachten, auf der anderen Seite vergleicht, zeigt sich, daß die Stärke des Kapitalabflusses und die Volatilität der Kapitalbewegungen in engem Zusammenhang mit der Schwere der nationalen Bankenkrise stehen. Differenziert man die globalen privaten Kapitalströme für die Krisenländer nach der Art der privaten Kapitalbewegungen, also Direktinvestitionen, Portfolioinvestitionen und kurzfristige Bankkredite mit Laufzeiten bis zu einem Jahr, so zeigt sich, daß die extremen Ausschläge des Saldos der Kapitalbilanz Südostasiens in den neunziger Jahren nahezu vollständig durch die Änderung der kurzfristigen Ausleihungen der Auslandsbanken bedingt sind (siehe auch Van Rijckeghem und Weder 2001). Die Direktinvestitionen blieben vom Ausbruch der Krise weitgehend unberührt, während die Portfolioinvestitionen mit einer gewissen Zeitverzögerung und im Vergleich zu den kurzfristigen Bankkrediten deutlich schwächer zurückgingen. Die Banken- und Finanzkrise der südostasiatischen Schwellenländer ist somit ganz wesentlich durch sehr hohe Abflüsse kurzfristigen internationalen Bankkapitals verstärkt, wenn nicht erst ausgelöst worden. Diese Beobachtung allein vermag zu erklären, warum asiatische Nachbarstaaten mit weitaus angeschlageneren, teilweise geradezu maroden Banken- und Finanzsystemen - wie China, Indien und Sri Lanka - von den Auswirkungen der Krise weitgehend verschont blieben und ihre Wechselkurse verteidigen konnten. Hier konnte es gar nicht zu massiven Abzügen ausländischen Bankkapitals kommen, eben weil die Regierungen dieser Länder in den Jahren zuvor verhindert hatten, daß sich die inländischen Banken und Unternehmen in erheblichem Umfang in fremder Währung verschulden konnten. Die langfristigen realen Hintergründe der stattgefundenen Entwicklung lagen allerdings - zumindest in den Ländern mit besonders schweren Krisen, nämlich Indonesien, Korea und Thailand - in gravierenden Mängeln und Funktionsschwächen der betroffenen Volkswirtschaften selbst begründet. Wie ein Blick auf die Zunahme der Bankverschuldung von Ländern der Dritten Welt zeigt, rückten die Länder Asiens durch eine immer schnellere Kreditaufnahme im Ausland im Laufe der neunziger Jahre an die Spitze vor den Ländern Mittel- und Südamerikas, Afrikas und Europas. Eine Aufschlüsselung dieser im Ausland aufgenommenen Bankkredite nach der Laufzeit verdeutlicht, daß es sich hierbei in erster Linie um kurzfristige Kredite handelte, die zwischen 1990 und 1996 einen immer größeren Anteil an den Auslandsschulden der asiatischen Länder beanspruchten, weit mehr als in allen anderen Entwicklungsländergruppen (Dadush, Dasgupta und Ratha 2000). Allerdings gab es zwischen den Ländern Südostasiens beträchtliche Unterschiede. Systematisch lagen Indonesien, Korea und Thailand an der Spitze, während Malaysia und Taiwan nur einen moderaten Anstieg der kurzfristigen Verschuldung in Kauf nahmen und Singapur sogar netto kurzfristiges Kapital exportierte. Vor allem aus diesem Grunde waren dann in der nachfolgenden Krise auch die Kapitalabzüge in Indonesien und Thailand besonders dramatisch, während sie in Malaysia, Singapur und den Philippinen eher moderat ausfielen.

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Damit wird aber zugleich deutlich, daß die einzelnen Länder an der nachfolgenden Entwicklung keineswegs unschuldig waren. In der Tat reflektiert die exorbitante Zunahme der kurzfristigen Bankverschuldung insbesondere in Indonesien, Thailand und Korea (Baliño und C/bide 1999) tiefgreifende Funktionsschwächen des Wirtschafts- und Bankensystems dieser Länder, das einer hemmungslosen und nahezu unkontrollierten Aufnahme ausländischer Kredite Vorschub leistete, wobei sich die Solidität der Banken und ihrer Schuldner von Jahr zu Jahr verschlechterte. Ein erheblicher Teil der Kreditnachfrage entfiel auf den privaten Sektor und heizte den Bau- und Immobilienboom in den betreffenden Ländern kräftig an, während ein Teil der aufgenommenen kurzfristigen Auslandskredite staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen zufloß, die auf diese Weise in zunehmendem Umfang ihre chronischen Defizite finanzierten oder die in Fremdwährungen aufgenommenen, kurzfristig rückzahlbaren Mittel immer häufiger in langfristige Entwicklungsprojekte investierten, deren Rentabilität weder in den Empfängerländem selbst noch von den kreditgebenden Auslandsbanken jemals ernsthafter Prüfung unterzogen worden war. Als besonders verhängnisvoll erwies sich dabei in allen südostasiatischen Krisenländern das Vertrauen der inländischen Banken und Unternehmen ebenso wie der ausländischen Kapitalgeber in die Stabilität der Wechselkurse. Die meisten Regierungen verteidigten bis zum Ausbruch der Krise hartnäckig ein System fester Wechselkurse gegenüber dem US-Dollar oder einem Korb von Währungen, in dem der Dollar ein überproportional hohes Gewicht hatte. Da Banken und Unternehmen ihre Fremdwährungspositionen nur selten abgesichert hatten, führte die massive Abwertung der Wechselkurse binnen weniger Monate zu einem teilweise geradezu dramatischen Anstieg der kurzfristig falligen RückZahlungsverpflichtungen in heimischer Währung18, der in den betroffenen Ländern rasch eine Welle von Firmenkonkursen, Investitionsruinen und Bankenzusammenbrüchen auslöste und erst erklärt, warum der wirtschaftliche Abschwung in den Abwertungsländern so außergewöhnlich stark ausfiel und so exorbitante volkswirtschaftliche Kosten verursachte, während Länder wie China, Singapur, Hongkong und Indien, die ihren Wechselkurs besser verteidigen konnten, dem „Teufelskreis" einer kombinierten Wechselkurs-, Banken- und Wirtschaftskrise weitgehend entkamen. Es bleibt allerdings die Frage, warum das kurzfristige internationale Bankkapital erst 1997 und nicht schon in den Jahren zuvor abzufließen begann, um dafür um so abrupter in einem sich selbst verstärkenden Prozeß innerhalb von nur anderthalb Jahren geradezu fluchtartig die Krisenregion zu verlassen. Wenn man die kreditgebenden Auslandsbanken nach Gläubigerländem näher untersucht, stellt man fest, daß die ersten Banken, die in großem Umfang netto kurzfristige Kredite kündigten, im letzten Quartal 1997 die japanischen Banken waren, während die europäischen, amerikanischen und australischen Banken in diesem Krisenquartal netto sogar noch kräftig kurzfristigen Kredit gaben.19 Diese Beobachtungen lassen vermuten, daß das herdenhafte Fluchtverhalten der US-amerikanischen, europäischen und australischen Geschäftsbanken letztlich nur eine

18 In Indonesien beispielsweise stieg der Rückzahlungsbetrag von Dollar-Krediten nach der Freigabe des Wechselkurses zeitweise bis auf das Fünffache des geborgten Betrages. Vgl. Rieger (2000, 30). 19 Eigene Berechnungen nach Bank for International Settlements (2001 ).

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verspätete Reaktion auf die Kündigung südostasiatischer Kredite durch japanische Banken war, die ihrerseits wohl durch die Banken- und Finanzkrise in Japan in Bedrängnis geraten waren und im Sommer 1997 erstmals in beträchtlichem Umfang begannen, ihre in Südostasien eingegangenen Kreditengagements zu reduzieren. Die größte Wirtschaftskrise in der Geschichte Südostasiens scheint also zumindest indirekt durch die Bankenkrise Japans und die Kündigung von Auslandskrediten seitens der angeschlagenen japanischen Banken verstärkt, wenn nicht gar erst ausgelöst worden zu sein. Solche kurzfristigen und abrupten Abzüge mobilen internationalen Kapitals haben bekanntlich schon in der Vergangenheit in vielen Banken- und Wechselkurskrisen Lateinamerikas, Afrikas und Europas eine strategische Rolle gespielt. Sie waren bereits die wichtigste auslösende Ursache der deutschen Bankenkrise von 1931 (Born 1967 und 1977) und sind daher als krisenauslösender Faktor keineswegs neu. Doch erst die Südostasienkrise hat in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß die international operierenden Banken mittlerweile in der Lage sind, Kapitalsummen zu bewegen, die die Banken- und Finanzsysteme kleiner und offener Volkswirtschaften binnen kürzester Frist in ihrem Bestand gefährden können. Länderübergreifende Ansteckungseffekte und Kettenreaktionen haben daher ausgerechnet auch solche Länder in größte Bedrängnis gebracht, die sich in ihrer Wirtschaftspolitik bis dahin ziemlich konsequent auf einen marktwirtschaftlichen Kurs ausgerichtet hatten und ganz bewußt die Liberalisierung, Deregulierung und Öffnung ihrer Devisen- und Kapitalmärkte vorantrieben, um von den Vorteilen internationaler Arbeitsteilung in einer globalisierten Weltwirtschaft zu profitieren.

V. Wirtschaftspolitische Konsequenzen Nach allen aus der Praxis vorliegenden Erfahrungen wird man wohl davon auszugehen haben, daß die Optionen von Regierung, Zentralbank und Bankenaufsicht eng begrenzt sind, wenn die Krise erst einmal ausgebrochen und das „Kind" sozusagen schon „in den Brunnen gefallen" ist. Die Wahrscheinlichkeit einer dramatischen Zuspitzung der Bankenkrise und das Risiko einer Ausweitung der Liquiditätsprobleme einzelner Institute zu einem nationalen Flächenbrand sind zwar möglicherweise gering, doch im konkreten Einzelfall kaum abzuschätzen. Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger werden sich daher angesichts der kaum abwägbaren, möglicherweise dramatischen Folgen einer weiteren Verschlimmerung der Situation in aller Regel gezwungen sehen, so schnell wie möglich zu reagieren und einzelne vom Konkurs bedrohte Kredit- und Finanzierungsinstitute zu rekapitalisieren, unter die Verwaltung von öffentlichen Garantiefonds zu stellen, mit solventen Finanzinstituten zu fusionieren oder zu liquidieren. Um so wichtiger und dringender erscheint es, nach Möglichkeiten zu suchen, das Entstehen von Bankenkrisen von vornherein zu verhindern und den Staat gar nicht erst in die verlegene Situation kommen zu lassen, im nationalen Interesse kurzfristig intervenieren, verstaatlichen und Notmaßnahmen ergreifen zu müssen, die aus ordnungspolitischer Sicht immer höchst bedenklich erscheinen. Die vorangegangenen Überlegungen und die Erfahrungen einer wachsenden Zahl von Krisenländern legen für eine solche

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eher langfristig orientierte Prävention von Bankenkrisen in der Tat eine Reihe von Empfehlungen nahe. Erstens: Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, daß bislang keine systemische Bankenkrise in einem gesunden und robusten Bankensystem ausgebrochen ist. Systemische Bankenkrisen können nur entstehen, wenn interne oder externe Schocks auf ein Banken- und Finanzsystem treffen, das aus strukturellen Gründen durch einen hohen Grad von Fragilität und Verwundbarkeit gekennzeichnet ist. Die beste Prophylaxe ist daher gewiß die Schaffung und Erhaltung von institutionellen Rahmenbedingungen, die den Banken genügend Spielraum und Flexibilität belassen, sie aber durch eine rigorose Bankenaufsicht und durch ein wie auch immer organisiertes strenges System von Anreizen und Kontrollen dazu motivieren, Risikoballungen zu vermeiden, Eigenkapital in angemessener Höhe zu bilden und ausreichende Liquiditätsreserven vorzuhalten. Die nationale Bankenaufsicht muß dabei jedoch, wie schon Hellwig (1998) und Terberger-Stoy (2000) betonen, weit mehr als es in der Vergangenheit geschehen ist, auch und gerade systemischen Risiken Rechnung tragen, die sich durch die bislang übliche Beobachtung rein bankindividueller Kennzahlen allein kaum hinreichend abschätzen lassen. Zudem sollten Regierung, Zentralbank und Bankenaufsicht das Bankmanagement nicht aus der Verantwortung entlassen, die es in einer wettbewerblich organisierten Wirtschaft für seine Entscheidungen zu übernehmen hat. Es scheint daher auch von essentieller Bedeutung zu sein, daß Banken und Finanzintermediäre - selbst große Institute, die in den meisten Ländern überzeugt scheinen, sie seien „too big to fail" prinzipiell konkursfahig bleiben müssen. Schwache und angeschlagene Banken sollten so früh wie möglich aus dem Wettbewerb ausscheiden, um mögliche Ansteckungseffekte innerhalb des Finanzsystems zu vermeiden, weiteren drohenden Schaden so gering wie möglich zu halten und „moral hazard" zu begegnen. Zweitens: Eine solche, die Rahmenbedingungen des heimischen Finanzsektors nach klaren Prinzipien bewußt gestaltende Ordnungspolitik kann allein freilich nicht genügen. Die Erfahrungen vieler Länder zeigen, daß Banken- und Finanzkrisen sehr häufig durch unvorhersehbare wirtschaftspolitische Kurswechsel oder durch exzessive Bau-, Investirions- und Kreditbooms ausgelöst werden, die zahlreiche unbeteiligte Unternehmen und Banken in den Konkurs treiben, wenn die spekulative „Blase" platzt. Regierung und Zentralbank sollten sich daher so weit wie möglich vom Postulat der Konstanz staatlicher Wirtschaftspolitik leiten lassen, und sie müssen bestrebt sein, durch eine auf Verstetigung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ausgerichtete Stabilisierungspolitik ein exzessives Wachstum der monetären Aggregate und das Entstehen spekulativer Übertreibungen von vornherein zu verhindern. In besonderem Maße ist dabei auch die Finanzpolitik mit steuerlichen Anreizen für ein stabilitätsgerechtes Handeln von Haushalten, Unternehmen und Banken gefordert (Amelung 2000), denn die Geldpolitik kann mit ihrem Instrumentarium immer nur global ansetzen und ist daher überfordert, spekulative Exzessive in einzelnen Bereichen der Volkswirtschaft wirksam zu bekämpfen. Drittens: In Ländern mit schwachen Bankensystemen ist nicht nur eine drastische Verschärfung der heimischen Bankenaufsicht und der Eigenkapitalvorsorge der heimischen Banken angezeigt, die den vergleichsweise hohen Risiken in einem volatilen wirtschaftlichen und politischen Umfeld Rechnung trägt. Auch eine stärkere Diversifikation

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der nationalen Finanzmärkte sollte in Angriff genommen werden, erst recht nach den Konzentrations- und Verstaatlichungswellen im Gefolge der jüngsten Krisen. So könnte durch geeignete gesetzliche Maßnahmen die Herausbildung eines soliden und eher konservativen Spar- und Bausparkassensektors gefordert werden, der in den meisten Staaten weitgehend fehlt oder wie in Lateinamerika allenfalls eine marginale Rolle spielt. Das in vielen Ländern am Rande noch existierende, jedoch zersplitterte und kapitalschwache Genossenschaftswesen sollte grundlegend gestärkt und durch Verschmelzung von Lokalbanken und Gründung leistungsfähiger Zentralkassen endlich aus seiner jahrzehntelangen Krise herausgeführt werden, um das Bankensystem in solchen Ländern ähnlich wie in den diversifizierten Bankensystemen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz - auf eine breitere und solidere Basis zu stellen. Auch die Förderung einer Niederlassung von ausländischen Banken, die in den meisten Ländern bislang nur eine periphere Rolle spielen, könnte dazu beitragen, das inländische Bankensystem krisenfester und den heimischen Unternehmenssektor von kurzfristigen Auslandskrediten unabhängiger zu machen. Stärker als bisher sollten die Entwicklungs- und Schwellenländer auch auf die Entwicklung leistungsfähiger eigener Anleihemärkte hinarbeiten, die in der Vergangenheit gegenüber den sich entwickelnden Aktienmärkten stark vernachlässigt worden sind. In vielen dieser Länder ist nämlich die gesamtwirtschaftliche Sparquote vergleichsweise hoch, und es stehen erhebliche Mittel aus dem Zwangssparen der Arbeitnehmer bei den Sozialversicherungsgesellschaften zur Verfügung, die für eine längerfristige Finanzierung von Entwicklungsinvestitionen aus inländischer Ersparnisbildung nutzbar gemacht werden können. Viertens: Eine nachhaltige Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen des heimischen Bankensektors setzt allerdings auch solide und zahlungsfähige Schuldner voraus, denn das Bankensystem eines Landes kann immer nur so stabil und sicher sein, wie die Schuldner, bei denen die Aktiva der Kreditinstitute gebunden sind. Eine Restrukturierung des Finanzsystems allein wird daher keine nachhaltigen Erfolge bringen und schon bald wieder zu notleidenden Krediten und belasteten Bankbilanzen fuhren, wenn sie nicht durch tiefgreifende Reformen des Unternehmenssektors, durch eine Sanierung defizitärer Staatsbetriebe und durch die Abkopplung ganzer Bankengruppen von den Schwankungen der Haushaltslage von Ländern und Kommunen begleitet wird. In Ländern mit einem hohen Anteil der staatlichen Verschuldung beim inländischen Bankensystem ist auch eine Reduzierung der Verschuldung von Regierung, Parafiski und öffentlichen Unternehmen empfehlenswert, durch den ein erheblicher Teil der Aktiva regelrecht festgefroren ist, so daß den Kreditinstituten gerade in schwierigen Zeiten Flexibilität und Spielraum fehlen. Eine nachhaltige Stärkung des heimischen Bankensystems erfordert aber nicht nur, daß die Belastung der Bankaktiva mit notleidenden Krediten schlechter Schuldner systematisch und stufenweise reduziert wird, sondern zwingend auch, daß der heimische Unternehmenssektor dauerhaft überhaupt in die Lage versetzt wird, so zu wirtschaften, daß die aufgenommenen Bankkredite mit Zinsen bedient und getilgt werden können. Die Sanierung des Banken- und Finanzsektors muß daher mit tiefgreifenden Reformen des Unternehmens- und Staatssektors Hand in Hand gehen, ohne die eine nachhaltige Sicherung finanzieller Stabilität kaum zu verwirklichen sein dürfte. Vor allem in Südostasien und in Japan, aber auch in Lateinamerika und in Teilen

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Europas, wo solche Maßnahmen ganz oben auf der Agenda stehen sollten, werden umfassende Reformprogramme unter Einschluß der nichtfinanziellen Sektoren der Volkswirtschaft allerdings erhebliche Kosten verursachen und die Staatshaushalte möglicherweise stärker noch belasten als die bislang in Angriff genommene partielle Restrukturierung und Rekapitalisierung des Bankensystems.20 Fünftens: Erforderlich scheint spätestens nach den in der Asienkrise gemachten Erfahrungen auch, der offenbar beträchtlich gestiegenen Volatilität der kurzfristigen internationalen Kapitalbewegungen Rechnung zu tragen. Es wäre jedoch im Ansatz verfehlt, den internationalen Kapitalverkehr, der fur ein reibungsloses Funktionieren der Weltwirtschaft unerläßlich ist, nun wieder zunehmend zu reglementieren und zu kontrollieren, wie es sich in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern bereits abzeichnet. Kapitalverkehrskontrollen würden die anwendenden Länder in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung weit zurückwerfen und spürbare Standortnachteile bedingen (Schüller 1996), die letztlich auch die Portfolio- und Direktinvestionen beeinträchtigen und damit zugleich die heimischen Aktien- und Kapitalmärkte schwächen. Eine undifferenzierte Beschränkung und Behinderung der hochsensiblen internationalen Kapitalströme wären jedoch nicht nur dysfunktional, sie sind offenbar auch nicht ursachenadäquat. Gerade die Südostasienkrise hat im Gegensatz zu verbreiteten Ansichten gezeigt, daß die wesentliche Ursache der markant gestiegenen Volatilität der internationalen Kapitalbewegungen eben nicht in einer gestiegenen Unberechenbarkeit der Direkt- und Portfolioinvestionen begründet liegt, die im Rückblick betrachtet eher träge und mit Verzögerung reagiert haben. Die Asienkrise ist weit mehr als Ergebnis der rapide gewachsenen Bedeutung der hochmobilen kurzfristigen internationalen Bankausleihungen zu betrachten, die von den Auslandsbanken über Jahrzehnte hinweg ausgereicht und dann in einer Art Massenflucht binnen kürzester Frist abgezogen wurden. Für die Entwicklungsländer wäre daher schon viel gewonnen, wenn sie für den heimischen Banken-, Untemehmensund Staatssektor in der Zukunft wirksame Anreize setzten, die Finanzierung langfristiger Investitionen auf solide Grundlage zu stellen, nur in Ausnahmefallen auf kurzfristige internationale Bankkredite zurückzugreifen und offene Fremdwährungspositionen abzusichern (siehe auch Hawkins und Turner 2000). Sechstens: Die extreme Volatilität der kurzfristigen Bankkreditvergabe an Südostasien seit den Anfängen der neunziger Jahre wirft jedoch nicht nur ein ungünstiges Licht auf die alten Entwicklungskonzeptionen der heutigen Krisenländer und ihrer Berater in den supranationalen Organisationen. Sie weckt auch Zweifel an der Qualität des Risikomanagements der international operierenden Geschäftsbanken aus den industrialisierten Ländern und Offshore-Zentren. Wenn man bedenkt, daß nach realistischen Einschätzungen von Zentralbanken in den Krisenländem vermutlich mehr als die Hälfte aller in den neunziger Jahren aufgenommenen Kredite nicht zurückgezahlt werden kann, muß man sich im nachhinein in der Tat fragen, wie eine so hemmungslose Kredit20 Immerhin scheint auch in einigen Entwicklungsländern die Einsicht zu wachsen, daß Reformen des Banken- und Unternehmenssektors Hand in Hand gehen müssen. "We are fully aware", stellte der indonesische Zentralbankpräsident fest, "that one of the main causes of the financial crisis is the weakness of our banking system that has exacerbated the problems faced by the corporate sector" (Praptosuhardjo 2000).

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vergäbe ausländischer Geschäftsbanken an so viele unsolide Kreditnehmer über so viele Jahre hinweg überhaupt möglich war und wie internationale Ratingagenturen und Banken noch Mitte der neunziger Jahre zu ihren viel zu optimistischen Risikobewertungen insbesondere für kurzfristige Kredite gelangen konnten. Zu erklären ist diese Entwicklung ex post wohl primär damit, daß die meisten Gläubigerbanken sich im Besitz von impliziten Regierungsgarantien wähnten (Basel Committee on Banking Supervision 1999). Eine Rolle spielte möglicherweise auch, daß die Kreditgeber annahmen, die von ihnen eingegangenen Risiken seien eng begrenzt, eben weil die vergebenen Kredite binnen weniger Monate kündbar waren. Was aus einzelwirtschaftlicher Sicht rational erschien, führte dann aber mit dem Ausbruch der Vertrauenskrise zu einem unerwarteten gleichzeitigen Anstieg von Kredit-, Liquiditäts- und Marktrisiken (White 2000) und in der Folge zu einer herdenhaften Flucht aus zum Teil nur scheinbar bedrohten Ländern (Radelet und Sachs 1998). Kurzfristige internationale Bankkredite sollten daher in Zukunft nicht nur durch die Regulierungsbehörden in den Empfängerländern, sondern auch durch die Bankenaufsicht in den Industrieländern und durch die supranationalen Organisationen wesentlich kritischer als bisher beobachtet und bewertet werden. Siebtens: Regime fester Wechselkurse bergen nicht nur die Gefahr, Devisenspekulationen gegen vermeintlich schwache Währungen zu provozieren, weil sie den Spekulanten hohe Gewinne gleichsam garantieren. Sie fuhren insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländem auch dazu, die inländischen Unternehmen und Banken in trügerischer Sicherheit zu wiegen, zu einer exzessiven Verschuldung in Fremdwährungen zu motivieren und die Absicherung von Wechselkursrisiken zu vernachlässigen. Unerwartet hohe Abwertungen der heimischen Währung induzieren dann aber möglicherweise drastische Erhöhungen der in inländischer Währung ausgedrückten Kreditrückzahlungsbeträge und lösen auf diese Weise erst Probleme aus, die die rezessiven Tendenzen verstärken und die Bankenkrise verschärfen. Die erhebliche Rolle, die diese Mechanismen insbesondere in der nordischen und südostasiatischen Bankenkrise, aber auch in vielen Ländern Lateinamerikas ganz offensichtlich gespielt haben, sollte mahnen, Nutzen und Risiken von Festkurssystemen in Wissenschaft und Praxis gründlich zu überdenken. Auch die Tatsache, daß die in der Vergangenheit beobachtbaren spekulativen Übertreibungen in der Regel nach ein bis zwei Jahren bereits wieder weitgehend korrigiert waren, ändert an einer solchen skeptischen Beurteilung von Festkurssystemen wenig, wenn man bedenkt, welch irreversibler Schaden den betroffenen Ländern und ihren Finanzsystemen in der Zwischenzeit entstanden ist. Systeme flexiblerer Wechselkursbildung erscheinen vor diesem Hintergrund prinzipiell besser geeignet, Inländer und Ausländer gleichermaßen zu einem Verhalten zu motivieren, das auf längere Sicht mit einem höheren Grad der Stabilität des nationalen Banken- und Finanzsystems verträglich ist, auch und gerade dann, wenn die Wechselkurse zwischenzeitlich stärkeren Schwankungen unterworfen sind (siehe auch Velasco 2000). Auch wenn externe Faktoren wie die Wirtschaftskrise Japans, ein massiver kurzfristiger Abzug ausländischen Kapitals und das Herdenverhalten der internationalen Banken zweifellos dazu beigetragen haben, daß die Asienkrise so unerwartet kam und in so kurzer Zeit so dramatische Ausmaße annahm, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß die tieferliegenden Ursachen in den Krisenländern selbst zu suchen sind und

Ursachen systemischer Bankenkrisen · 275 primär in der Verwundbarkeit ihrer eigenen Finanzsysteme begründet lagen. Nicht nur die Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens mit ihren fragilen Bankensystemen, auch die entwickelteren Volkswirtschaften mit scheinbar solideren Finanzsektoren sind daher gut beraten, dafür Sorge zu tragen, daß ihre Banken- und Finanzsysteme robust und anpassungsfähig genug sind, auch Schocks vom Ausmaß der Asienkrise zu widerstehen. Wenn ein Gebäude während eines Erdbebens einstürzt, so bemerkte Rüdiger Dornbusch in anderem Zusammenhang einmal, mag man als die unmittelbare Ursache der Zerstörung wohl das Erdbeben ansehen, doch „the underlying cause may be better attributed to poor construction techniques".21 Auf die Architektur von Finanzsystemen übertragen, kann eine solche Einsicht aber nur heißen: Nationale Bankensysteme müssen so gebaut sein, daß sie nicht nur den alltäglichen Risiken in „normalen" Zeiten, sondern auch extremen Schocks standhalten, Gefahren also, die - wie uns die systemischen Bankenkrisen der jüngeren Vergangenheit lehren - im Zeitalter der Globalisierung offensichtlich beträchtlich größer geworden sind.

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2 8 0 · Paul-Günther Schmidt

systemische Bankenkrisen auslösen und verbreiten, beträchtlich vertiefen können, wenn wir klar zwischen drei Faktorengruppen auf ganz unterschiedlichen Ebenen unterscheiden: (1) Merkmalen der institutionellen Rahmenbedingungen, die mehr oder weniger den Grad systemischer „Fragilität" oder „Verwundbarkeit" eines konkreten Bankensystems prädeterminieren, (2) internen und externen Störfaktoren, die eine finanzielle „Krise" oder „Instabilität" in einem fragilen Bankensystem auslösen können, sofern der Schock stark genug ist, und (3) katalytischen Faktoren, die letztlich Reichweite, Schwere und Kosten einer sich entwickelnden Krise des finanziellen Sektors beeinflussen. Es wird empirische Evidenz fur Lateinamerika, angelsächsische Länder, Skandinavien, Japan und Südostasien präsentiert, die dokumentiert, daß systemische Bankenkrisen in der Tat eine Vielzahl von Ursachen haben, daß sie aber nur in solchen Ländern ausbrechen, in denen die institutionellen Strukturen und Rahmenbedingungen das Finanzsystem hochgradig verwundbar machen für überraschende und hinreichend starke adverse Schocks. Aus diesen Ergebnissen werden am Ende einige wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen für Krisenprävention, Bankenregulierung und institutionelle Reformen des Banken-, Unternehmens- und Staatssektors gezogen. Summary Causes of Systemic Banking Crises: Theories, Empirical Evidence, and Policy Implications In view of the increased frequency and economic costs of banking crises in a growing number of countries around the world concerns about the stability of national financial systems in a globalized world economy have come to the forefront of academic and policy discussions. In the literature considerable attention has already been devoted to many potential causes of banking crises. However, the empirical evidence in favour of the competing theories is weak and the explanatory and predictive power of economic models remains low. The article argues that our knowledge of the forces which cause and propagate systemic banking crises can be considerably enhanced, when we clearly distinguish between three quite different groups of factors: (1) characteristics of the institutional structure which more or less predetermine what we might call systemic „fragility" or „vulnerability" of a specific banking system, (2) internal and external disturbing factors which may produce financial „crisis" or „instability" originating in fragile banking systems if the shock is sufficiently large, and (3) catalytic factors which determine the final magnitude, severity and costs of the arising financial sector crisis. Empirical evidence for Latin America, the Anglosaxon countries, Scandinavia, Japan and South-East Asia is presented which demonstrates that systemic banking crises indeed have multiple causes, but originate only in countries with institutional structures and preconditions which render their financial systems highly vulnerable to surprising and sufficiently strong adverse shocks. Finally, some policy conclusions are drawn from these results regarding crisis prevention, banking regulation, and institutional reform in the banking, corporate, and state sector, respectively.

Besprechungen

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Theresia Theurl

Theorie der Ordnungen Zu dem gleichnamigen Buch von Peter Engelhard und Heiko Geue* Ordnungstheoretische Analysen zählen derzeit nicht zum mainstream der ökonomischen Disziplin. Dies widerspricht der großen Bedeutung von ordnungsinhärenten Anreizstrukturen fur einzelwirtschaftliche Entscheidungen und für wirtschaftliche Ergebnisse. Ihre systematische Analyse ist bisher nur in Ansätzen geleistet, und die empirische Überprüfung weist nach wie vor große Lücken auf. Band 60 der Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft stellt eine oder sogar die Theorie der Ordnungen in den Mittelpunkt und erhebt mit dem Untertitel Lehren für das 21. Jahrhundert einen hohen Anspruch. Im Vorwort wird als Aufgabe der Theorie der Ordnungen die Identifikation von funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnungen festgehalten. Die Ordnung, also das System der formellen und informellen Regeln einer Gesellschaft, wird neben Ausmaß und Qualität von Real- und Humanvermögen als Grundlage dafür eingeschätzt, ob eine Gesellschaft gerecht und eine Volkswirtschaft effizient und entwicklungsfähig ist. Dieser Anspruch und dieses Referenzmodell führen zur Konzentration auf institutionelle Interdependenzen, die den Gegenstand dieses Buches bilden. Gleichzeitig soll es die wissenschaftlichen Leistungen von Marburger Ordnungstheoretikern hervorheben. Der Band besteht aus elf Beiträgen. Im ersten geben die beiden Herausgeber eine Einführung in die Marburger Ordnungstheorie. Es schließen sich drei Aufsätze zu den Grundlagen und einer zum Systemvergleich an. Zwei Arbeiten werden in den Bereich Transformation und vier Abhandlungen in die Systemanalyse eingeordnet. Engelhard und Geue ordnen die Marburger Ordnungstheorie ein und heben deren Eckpfeiler hervor. Sie betonen in ihrer Charakterisierung die enge Verzahnung mit der Freiburger Schule. In diesem Beitrag entsteht der Eindruck, daß die Abgrenzung nicht inhaltlich, sondern über die Wirkungsstätte von Wissenschaftlern erfolgt. Daher sei bereits an dieser Stelle angemerkt, daß in anderen Aufsätzen Abweichungen von diesem Standpunkt festzustellen sind. Funktionsfähigkeit und Menschenwürdigkeit von Ordnungen als Referenzzustände, die vielfältigen Interdependenzen von Teilordnungen, die Verflechtung ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen sowie die Bedeutung der Dynamik von Ordnungen stehen jedenfalls hier wie dort im Zentrum der Betrachtung. Als wesentliche Unterschiede zur (neoklassischen) Institutionentheorie werden die normativen

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Peter Engelhard und Heiko Geue (Hrsg.), Theorie der Ordnungen: Lehren fur das 21. Jahrhundert, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 60, herausgegeben von G. Gutmann, H. Hamel, K. Pleyer, A. Schüller und H. J. Thieme, Lucius & Lucius, Stuttgart 1999, 369 Seiten.

2 8 4 · Theresia Theurl

Komponenten der Ordnungstheorie, die Integration der nicht-ökonomischen Lebensbereiche, die Betonung dezentralen Wissens und der Verzicht auf formalisierte Modelle als Abstraktionsinstrumente hervorgehoben. Auch diese Abgrenzung spiegelt sich nicht in allen folgenden Aufsätzen. Die konstituierenden und regulierenden Prinzipien einer Wettbewerbsordnung einerseits und andererseits jene ordnungsinhärenten Mechanismen, die in der Lage sind, individuelles Eigeninteresse und Freiheit zum Wohle der Gesellschaft zu transformieren, bergen die ordnungspolitischen Gestaltungsaufgaben. In der Einfuhrung wird ein kompakter Überblick über diese Thematik geboten, an dem - allerdings den Intentionen des Buches entsprechend - die ausgeprägte Eingrenzung auf Literaturstellen aus „Marburger Feder" auffallt. Eine methodologische Beurteilung der theoretischen Elemente des Ansatzes von Walter Eucken sowie der Weiterentwicklungen unternimmt Bettina Wentzel. Sie kommt zum Ergebnis, daß die Ordnungstheorie anerkannten methodologischen Standards entspricht und damit geeignet ist, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse zu erklären und zu prognostizieren sowie zur Grundlage wirtschaftspolitischer Handlungsempfehlungen zu werden. Insbesondere zeigt sie, daß es bereits Walter Eucken, später aber seinen Schülern gelingt, allgemeine Erkenntnisse über ökonomische und gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und konkrete institutionelle Gegebenheiten und deren Entwicklung zusammenzuführen. Die saubere Isolierung normativer und positiver, theoretischer und empirischer Komponenten sowie die Einschätzung der Erklärungskraft der betonten institutionellen Elemente sind darüber hinausgehend verdienstvolle Aspekte des Beitrages. Die Beurteilung von Euchens „Datengrenze" als Antwort auf das Komplexitätsproblem und nicht als konstituierende theoretische Komponente durch die Autorin wird zwar nicht generell Zustimmung finden, fördert aber die Weiterentwicklung des ordnungstheoretischen Ansatzes, seine Leistungsfähigkeit und seine Akzeptanz. Dies gilt auch für die unverkrampfte Verwendung und Integration institutionenökonomischer Termini und Analyseelemente in die Ordnungstheorie, die nicht bei allen Autoren des Bandes anzutreffen sind. Peter Engelhardt Grundlagen-Beitrag thematisiert die theoretische Begründung und die konkrete Ausgestaltung humaner Gesellschaftsordnungen sowie entsprechende Reformstrategien in verwirklichten Ordnungen, die sich durch wachsende gesellschaftliche Disparitäten in Kombination mit einer Verringerung des staatlichen Interventionsvermögens auszeichnen. Die Facette der Menschenwürdigkeit von Marktwirtschaften steht im Mittelpunkt. Engelhard arbeitet philosophische und anthropologische Wurzeln der Marburger Position heraus und führt die Akzeptanz einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf einen gesellschaftlichen Konsens über die Verteilungsprinzipien zurück, die wirtschaftliche „Vormachtpositionen" zulassen, solange sie leistungsabhängig und leistungsfördernd bleiben. Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit werden komplementär zu individueller Freiheit, Wirtschafts- und Sozialpolitik als sich gegenseitig bedingend und die Wirtschaftsordnung als gleichberechtigt neben der Gesellschaftsordnung gesehen. Die Marburger Antworten bestehen in Vermögenspolitik, Eigentumspolitik, Arbeitsmarktpolitik und Einkommenspolitik. Die Betonung dieser Dimensionen

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der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sind sehr wichtig und kennzeichnen das Gesamtprogramm. Dennoch leiden die Ausführungen darunter, sehr abstrakt zu sein. Carsten Schreiter erarbeitet einerseits die Bedeutung der Wettbewerbsordnung als wesentliches Element der Wirtschaftsordnung und diskutiert andererseits die Beiträge von Marburger Ordnungstheoretikern zur Wettbewerbstheorie. Trotz strikter Befolgung der konstituierenden Prinzipien können wirtschaftspolitische Machtpositionen oder korrekturbedürftige Ergebnisse entstehen. Ausnahmebereiche werden anerkannt, etwa auf dem Arbeitsmarkt. Schreiter arbeitet drei Entwicklungslinien einer Marburger Wettbewerbstheorie heraus, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die Berücksichtigung von unterschiedlichen „Typen" von Wissen sowie von organisations- und marktformenrelevanten Konsequenzen stellt eine aktuelle und zukunftsweisende wettbewerbstheoretische Komponente dar, die allerdings auch anderen theoretischen Ansätzen nicht fremd ist. Klaus Heines Beitrag „Planung, Eigentum und Verfügungsrechte" deckt die Thematik Systemvergleich unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsordnung und des Wettbewerbs von Ordnungen ab. Wie Spezialisierung und Koordination idealtypisch in der zentralgeleiteten Wirtschaft und in der Verkehrswirtschaft gelöst werden, wird an den Beginn gestellt. Dabei werden die bekannten Informations-, Motivations- und Innovationsprobleme der Zentralverwaltungswirtschaft aufgezeigt. Privateigentum und dezentrale Planung der Marktwirtschaft werden im weiteren als Verfügungsrechte analysiert. Heines Beitrag ist deshalb sehr interessant und aufschlußreich, weil er Elemente der Property-Rights-Theorie in der Marburger Konzeption offenlegt. Mit ihnen kann der Datenkranz selbst zur zu erklärenden Variablen erhoben und die Ordnungstheorie mikroökonomisch fundiert werden. Weil die optimale Definition und Allokation von Verfügungsrechten ex ante unmöglich ist, gewinnt der Wettbewerb von Ordnungen große Bedeutung. Doch auch der institutionelle Wettbewerb bedarf einer Meta-Ordnung, die in der Lage sein muß, Eigentums- und Verfügungsrechte im Systemwettbewerb zu garantieren und institutionelle Sackgassen zu überwinden. Auf die Transformation von Wirtschaftsordnungen stellen die beiden Beiträge von Ralf Weber und Heiko Geue ab. Dabei werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Ralf Weber identifiziert die ordnungspolitischen Herausforderungen beim Übergang von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaftsordnung und exemplifiziert dies am Beispiel der mittel- und osteuropäischen Ökonomien: Liberalisierung, Privatisierung und Stabilisierung als Aufgabe der Ordnungspolitik. Er betont die Konsistenzerfordernisse der Transformation, die gleichsam zu ihrer Erfolgsbedingung werden und die von jeher im Mittelpunkt der Ordnungstheorie standen, in einem derart weitgehenden Regimewechsel aber besondere Bedeutung haben. Weber führt die konkreten Transformationsprobleme in einer schlüssigen und fundierten Argumentation auf die Vernachlässigung der Konsistenzerfordemisse zurück, die die Wirksamkeit neuer formeller Spielregeln in einem Umfeld beharrender Anreize und Verhaltensmuster aus dem abgewählten System einschränken. Er isoliert das Sequenzproblem, das aus einen Mix aus alten und neuen ökonomischen Institutionen besteht, der insgesamt Fehlanreize in sich birgt. Er betont daneben die fehlende Konsistenz von ökonomischen und politischen Institutionen, die folgenreiche Transformationswiderstände sowie Fehlallokationen und negative Vertei-

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lungskonsequenzen nach sich ziehen. Auch sie sind im zu überwindenden System angelegt. Schließlich mangelt es im Transformationsprozeß an der Übereinstimmung zwischen äußeren und inneren Institutionen. Auch dieser Inkonsistenz sind Fehlanreize inhärent, die Transformationsprozesse verzögern, verlängern und ihre Perspektiven ungewiß machen. Ralf Weber argumentiert streng ordnungstheoretisch unter Einbezug von „modernen" institutionenökonomischen Erkenntnissen. Heiko Geue stellt die ordnungspolitischen Anforderungen im Zuge der Internationalisierung des Wirtschaftens in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: die Transformation nationaler Ordnungen in eine Ordnung der internationalen (oder globalen) Markt-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft. Seine Antwort wird aus den Begründungen und Wirkungen von Instrumenten abgeleitet, die einerseits Handels- und Währungsprotektionismus und andererseits eine interventionistische und realwirtschaftlich orientierte Gestaltung der Währungs- und Geldordnung beinhalten. Auf dieser Vorgangsweise beruhend, kann auch die Antwort nicht überraschen: eine adäquate nationale Ordnungspolitik, die Entpolitisierung von Wechselkursen, funktionsfähige Devisenmärkte und die Vermeidimg von Handelsschranken. Interessant wären freilich zusätzliche Überlegungen ordnungspolitischer Natur gewesen, die Marktversagen auf internationaler Ebene thematisiert hätten. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Zielsetzung des Buches „Lehren für das 21. Jahrhundert". Unter der Überschrift „Systemanalyse" werden schließlich in vier Beiträgen besondere Merkmale von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen problematisiert, die im weitesten Sinne in den Komplex Interdependenz von Teilordnungen einzuordnen sind. Es geht um die Verbindungslinien zwischen Wirtschaftsordnung einerseits und kulturellen Rahmenbedingungen, politischer Ordnung, und Sozialordnimg andererseits. Ergänzt werden diese drei Beiträge von einem Aufsatz über den Zusammenhang zwischen nationaler und internationaler Wirtschaftsordnung. Thorsten Plutta stellt auf die kulturellen Dimensionen von Marktwirtschaft ab und fragt, ob unterschiedliche Kulturen unterschiedlicher Ordnungen bedürfen und ob manche Kulturen leistungsfähigere Ordnungen hervorbringen als andere. Er zeigt auf, welchen Einfluß kulturelle Voraussetzungen auf die Pfadabhängigkeit von Ordnungen haben. Er betont jedoch auch die Existenz ordnungspolitischer Konstanten, die in der Schaffung von Strukturen und Mechanismen bestehen, die Machtpositionen in Wirtschaft und Politik verhindern sollen. Plutta fordert die interdisziplinäre Analyse von Wirtschaftsordnungen als Voraussetzung für weitere Erkenntnisfortschritte. Dem ist zuzustimmen, werden die Entwicklungspfade doch stark von der Einbettung formeller in informelle Institutionen beeinflußt. Bereits eine konsequente Anwendung institutionenökonomischer Analyseinstrumente wäre erfolgversprechend. Thomas Döring thematisiert die Interdependenz von Marktwirtschaft und Föderalismus und hebt die Sicht der modernen Ordnungsökonomik von jener der traditionellen {Euchen, von Hayek) ab. Es sind also Wirtschaftsordnung und politische Ordnung angesprochen. Die Komplementarität der beiden Ordnungselemente wird deutlich herausgearbeitet: die jeweils eine als Voraussetzung für die andere und die parallele Verwirklichung einheitlicher Prinzipien, die konsistente Anreizstrukturen hervorbringt. Die Kombination von Marktwirtschaft und Föderalismus als Voraussetzung für die Verhinderung

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von Machtpositionen und zur Sicherung individueller Freiräume. Döring zeigt auf, daß die traditionelle Ordnungstheorie zwar von der Komplementaritätsanforderung ausgeht, die Staatsordnung und ihr Zusammenwirken mit der Wirtschaftsordnung aber keiner systematischen Analyse unterzieht. Moderne Ordnungstheorie in der Abgrenzung von Döring (Neue Politische Ökonomie, Neue Institutionenökonomik, Theorie des Fiskalföderalismus) sucht nicht nur optimale Spielregeln für den wirtschaftlichen, sondern auch fur den politischen Bereich. Eine föderative Staatsverfassung kann nun konsistent begründet werden: als staatliches commitment fur eine marktwirtschaftliche Ordnung zur Sicherstellung von Effizienz und individueller Freiheit (Berücksichtigung heterogener Präferenzen, Reduzierung politischer Transaktionskosten, Beschränkung staatlicher Macht, Bildung und Erhalt von Sozialkapital). Die Analyse von Döring ist sehr anregend, da sie konsequent die ordoliberale Interdependenz von Teilordnungen in den Mittelpunkt stellt, während sie für die Isolierung und Konkretisierung der einzelnen Verbindungslinien auf zusätzliche Theorieelemente zurückgreift. Wirtschaftsordnung und Sozialordnung als Teil der Gesellschaftsordnung bilden den Inhalt der Arbeit von Bernd Hansjürgens. Die Sozialordnung wird dabei als die Organisation und Finanzierung der Sozialen Sicherung abgegrenzt. Auch hier können Einflußkanäle in beide Richtungen isoliert werden. Zum einen erfolgt die Finanzierung der Sozialen Sicherung aus Einkommen, die im Marktprozeß entstanden sind. Zum anderen können falsche institutionelle Rahmenbedingungen der Sozialordnung Fehlanreize enthalten, die die Anreize einer Marktwirtschaftsordnung konterkarieren. Hansjürgens argumentiert im Rahmen einer finanzwissenschaftlichen Ordnungsökonomik. Darunter versteht er einen Ansatz, der es erlaubt, Organisations- und Finanzierungshinweise fur die Soziale Sicherung aus den Ergebnissen der Finanzwissenschaft abzuleiten. Die Zielsetzung besteht in der theoretischen Begründung der institutionellen Ausgestaltung dieser Teilordnung in einer Marktwirtschaft. Die Schlußfolgerungen von Hansjürgens bestehen in der Ablehnung einer staatlichen Zwangsversicherung (Organisationsaspekt) und in der Empfehlung einer beitragsorientierten Sozialversicherung unter strikter Anwendung des Äquivalenzprinzips (Finanzierungsaspekt). Auch für diesen Beitrag ist kennzeichnend, daß Inhalte der traditionellen Ordnungsökonomik konkretisiert und ergänzt wurden. Wie bei Döring erfolgte dies unter Zuhilfenahme von Theorieelementen, die nicht originär ordnungstheoretisch motiviert und ausgestaltet sind. Dirk Wentzel widmet sich der Globalisierung als Ordnungsproblem. Sein Aufsatz weist Anknüpfungspunkte zu dem von Geue auf. Tatbestand und Argumentationslinien sind geeignet, ihn auch im Abschnitt Transformation anzusiedeln. Als Ausgangspunkt wählt der Autor den globalisierungsbedingten Systemwettbewerb und die konkurrierenden Erwartungen hinsichtlich des Ergebnisses: staatliche Unterversorgung oder positive Wohlfahrtseffekte durch institutionelle Fortschritte. Wie bei Geue geht es auch bei Wentzel um die Suche nach globalen Spielregeln bei international agierenden Wirtschaftssubjekten. Während ersterer von der traditionellen Außenwirtschaftstheorie ausgeht, argumentiert letzterer mit institutionenökonomischen Kategorien. Er beschreibt Globalisierung als neue Rahmenbedingungen für die Wirtschaftssubjekte (auf der Handelnsebene), die zu einer veränderten Arbeits- und Wissensteilung fuhren. Als Mechanismen, die dies bewirken, werden u.a. die internationalen Finanzmärkte, die Migration

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von Arbeitskräften, der Wettbewerb der Steuersysteme, die Aktivitäten der multinationalen Unternehmen und die Standortarbitrage beschrieben. Wentzel thematisiert anschließend den Mix von gesetzten und gewachsenen Ordnungselementen im Zuge der Globalisierung, um im weiteren die Institutionen der internationalen Rechtskoordination (GATT und WTO) und der internationalen Wirtschaftsentwicklung (IMF und Weltbank) darzustellen. Zwar werden die ökonomischen Begründungen für die Existenz internationaler Organisationen (Externalitäten, Skalenerträge einer internationalen Infrastruktur, Schutz kleiner Länder, Netzwerkeffekte und Standardisierungen) angeführt und eingeschätzt. Es wäre aber darüber hinausgehend sehr wünschenswert, herauszuarbeiten, inwiefern globalisiertes Wirtschaften eine globale Wirtschaftsordnung erfordert und welche konkreten Ausgestaltungsempfehlungen aus der Ordnungstheorie abgeleitet werden können. Insgesamt ist ein wertvoller Sammelband vorgelegt worden, der uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden soll. Er enthält höchst aktuelle und relevante Themen, die sorgfältig und theoretisch fundiert analysiert werden. Den institutionellen Grundlagen des Wirtschaftens wird die ihnen zustehende Bedeutung zugemessen, was in der ökonomischen Literatur häufig nicht der Fall ist. Die notwendige Konsistenz von Anreizsystemen, die in unterschiedlichen Teilordnungen verankert sind, wird in vielen Aufsätzen klar herausgearbeitet ebenso wie die Hierarchie von Institutionen. Darin liegen die großen Vorzüge der meisten Beiträge des Werkes. Unter Berücksichtigung von Titel und Untertitel des Buches ist jedoch daraufhinzuweisen, daß es eine umfassende Theorie der Ordnungen nicht enthält, sondern viele einzelne Elemente, deren systematische Integration und Abstimmung noch ausstehen. Es wird klar, welches die Inhalte der traditionellen Ordnungstheorie sind. Was aber ist genau die neue Ordnungstheorie, die Theorie für das 21. Jahrhundert? Welches sind ihre Inhalte, ihre Methoden und ihre Ergebnisse? Diese Fragen beziehen sich auch auf die Abgrenzung der Marburger Ordnungstheorie. Aus den einzelnen Beiträgen lassen sich diesbezüglich widersprüchliche Schlußfolgerangen ableiten, wenn der Titel als Erkenntnisprogramm verstanden werden soll. Dies gilt vor allem dann, wenn die in den einzelnen Arbeiten konkret integrierten Theorieelemente (Neue Politische Ökonomie, Neue Institutionenökonomik, Fiskalföderalismus, Theorie des Systemwettbewerbs,...) mit der Abgrenzung von theoretischen Ansätzen in der Einführung verglichen werden. Diese Anmerkungen sollen nicht den Wert der Inhalte des Buches schmälern. Sie sollen aber die Wahl des Titels kritisieren. Darüber hinausgehend wäre es sehr zu begrüßen, wenn auf der Basis der präsentierten Überlegungen, die umfangreiche Vorarbeiten zum Ausdruck bringen, eine konsistente Theorie der Ordnungen für das 21. Jahrhundert zur Diskussion gestellt werden würde.

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Carl Christian von Weizsäcker

Wirtschaftsethische Perspektiven Besprechung des von Wulf Gaertner herausgegebenen Sammelbandes* Dieser fünfte Band von Vorträgen im Ausschuss des Vereins für Socialpolitik "Wirtschaftswissenschaften und Ethik" versammelt thematisch sehr heterogene Beiträge, so wie die vier Vorgängerbände dies auch schon taten. Der erste Beitrag von Ingo Pies „Wirtschaftsethik als ökonomische Theorie der Moral - Zur fundamentalen Bedeutung der Anreizanalyse für ein modernes Ethikparadigma" spricht in stark Luhmannscher Sprache und geht auch von Luhmanns Thesen über die Rolle (oder auch Nichtrolle) der Moral in der modernen Gesellschaft aus, die dieser zuletzt in seiner „Gesellschaft der Gesellschaft" dargelegt hat. An die Stelle der persönlichen Moral in der vormodemen Gesellschaft - so Luhmann und Pies - treten die funktionale Differenzierung (Luhmann) bzw. die Anreizstrukuren von Institutionen (Pies) in der modernen Gesellschaft. Ethik ist damit nach Pies Beurteilung von Anreizstrukturen von Institutionen unter dem Aspekt ihrer destruktiven oder kooperationsfördernden Wirkungen. Sie wird damit, so meine ich, nicht mehr unterscheidbar von dem, was Utilitaristen „Weifare Economics" nennen. Früher sagte man „Weifare Economics" und fast keiner hörte hin; heute sagt man „Wirtschaftsethik" und man ist plötzlich hochbegehrt. Die ungelösten Grundsatzprobleme der "Welfare Economics" sind damit aber nach wie vor ungelöst. Immerhin wird mit diesem Ansatz von Pies (s. hierzu auch andere Arbeiten von ihm) etwas explizit, was in der herkömmlichen "Welfare Economics" nicht speziell thematisiert worden war: die Komplexität des Aufbaus der modernen Gesellschaft. Hier berührt sich dann die nachneoklassiche Institutionenökonomik mit der zentralen These von Adam Smith: "The greatest improvement in the productive powers of labour, and the greater part of the skill, dexterity, and judgement with which it is anywhere directed, or applied, seem to have been the effects of the division of labour". Allein die komplexe Gesellschaft kann Wohlstand heutigen Ausmaßes schaffen, weil nur in ihr das Potential der Arbeitsteilung ausgeschöpft werden kann. Es liegt also nahe, den spezifischen Wirkungen der Arbeitsteilung nachzugehen. Was die Seite der persönlichen Moral und Lebensführung betrifft, findet sich in dem ein Jahrhundert alten Werk von Emile Durkheim, dem Verfasser eines von den Ökonomen weitgehend ignorierten Buches über die Arbeitsteilung, der interessante Begriff der Anomie als Folge der modernen Welt. Diese führt nach Durkheim oft zum Selbstmord. *

Wulf Gaertner, Wirtschaftsethische Perspektiven V: Methodische Ansätze, Probleme der Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit, Ordnungsfiagen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 228/V, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2000, 231 Seiten.

2 9 0 · Carl Christian von Weizsäcker

Pies verweist, was dieses Dilemma betrifft, auf die Äußerung Hayeks über die empfundene und auszuhaltende Diskrepanz zwischen der „großen" Welt und der „kleinen" Welt der Familie, die noch den vormodernen Strukturen entspricht und in der, so wird man im Sinne Hayeks hinzufügen können, Moral im traditionellen und personalen Sinne (noch) eingeübt und auch praktiziert wird. So sehr ich Pies (und Luhmann) zustimme, daß moralisch motivierte Interventionen (Pies spricht hier von "Moralkommunikation") dysfunktional sein können, so groß sind andererseits meine Zweifel, daß sie dieses immer sein müssen, wie Pies nach meinem Verständnis nahelegt (obwohl er in dem letzten Abschnitt über „Ethik" - im Gegensatz zu „Wirtschaftsethik" - auch anders verstanden werden kann). Dieser extreme Standpunkt ist letztlich empirisch nicht haltbar. Man denke als Beispiel an Churchills berühmte Radioansprache an die britische Nation im Kampf gegen die drohende deutsche Aggression im Jahre 1940: wenn das nicht Moralkommunikation war, dann weiß ich nicht, was Moralkommunikation ist; und wenn diese Rede nicht „funktional" war, dann weiß ich nicht, was funktional ist. Und dieser extreme Standpunkt ist - sofern man Moral als Teil persönlicher Lebensführung anerkennt, was Pies nach meinem Verständnis tut - sogar in sich widersprüchlich: Moralkommunikation kann Teil des persönlichen Moralkodex sein, gemäß dem biblischen Spruch: „Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über". Weise behandelt das Thema „Verhaltenskoordination durch Normen aus selbstorganisatorischer und evolutorischer Perspektive". Auch dieser Beitrag baut auf früheren Beiträgen des Autors auf. Es werden mathematische Modelle der Verhaltensinteraktion dargestellt. Dabei geht es darum zu zeigen, daß Verhaltensregelmäßigkeiten, die bei vielen oder allen Personen schließlich im stabilen Zustand des Systems beobachtet werden, nicht per Annahme in das Modell hineingesteckt werden, sondern sich aus der Interaktion der Individuen ergeben. Weise ist sich der Grenzen der bisherigen Modellansätze sehr wohl bewusst. Insbesondere, so scheint mir, ist in seinen Modellen noch nicht die Erwartung eingelöst, zu beantworten, unter welchen Bedingungen und für welche Situationen Marktgleichgewichte Normengleichgewichten unterlegen oder überlegen sind. Normen wie Märkte als „spontane Ordnung" in ihrer Interdependenz mathematisch zu modellieren und daraus eigentlich evolutorische Systeme abzuleiten ist ein reizvolles, aber sicherlich schwer zu erreichendes Ziel solcher Arbeiten wie sie von Weise und anderen Autoren durchgeführt werden. Hoffentlich werden solche Modelle in der Zukunft auch größere begriffliche Klarheit in den systemtheoretischen Ansatz bringen. Dessen Ziel muß es ja doch ohne Zweifel sein, eines Tages ähnliche begriffliche Transparenz für Gleichgewichtszustände und dynamische Prozesse zu erhalten wie sie in den früheren fFa/ras-Gleichgewichten der herkömmlichen Neoklassik vorgefunden werden. Der Beitrag von Wiemeyer, „Die Ordnung des Arbeitsmarktes aus wirtschaftsethischer Sicht" beginnt mit einem Verweis auf die zahlreichen „arbeitnehmerfreundlichen" Stellen in Adam Smihs Wealth of Nations. Er setzt sich dann zum Ziel, nach dem Vorbild von John Rawls und dessen Maximin-Prinzip Vorstellungen für den Arbeitsmarkt abzuleiten, die man entsprechend der Rawlsschen Konzeption als Bestandteil einer gerechten Ordnung verstehen kann. Dabei werden die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer als diejenigen vereinnahmt, die die Rolle der Schwächsten im Sinne von

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Rawls spielen, um deren Wohlfahrtsmaximierung es also gehen soll. Es kommt interessanterweise grosso modo die deutsche Arbeitsmarktverfassung heraus. Dieses Ergebnis kann sich aber nur ergeben, weil der Wiemeyersche hypothetische Facharbeiter-Arbeitnehmer sehr weitgehend auf quantifizierende Abwägungen zwischen dem deutschen System und ganz andersartigen Systemen verzichtet. Er weiß zum Beispiel von vornherein, daß er Arbeit hat - und deshalb ist ihm die Abwägung mit einem System wie dem amerikanischen, das pro Kopf der Bevölkerung ca. 50 % mehr Arbeitsstunden zur Verfugung stellt, nicht wichtig. Wieso aber gerade im deutschen System der Facharbeiter die Rolle spielt, um den es bei Rawls geht, nämlich die Rolle des Schwächsten, ist auch nicht einsichtig. Ich denke, es macht wenig Sinn, die eigenen - stark am Status Quo orientierten - Gerechtigkeitsvorstellungen dadurch akademisch und intellektuell zu überhöhen, daß man sie als Ergebnis eines Rawlsschen Kalküls drapiert. Volker Arnold befaßt sich mit „Steuergerechtigkeit und internationaler Steuerwettbewerb um Direktinvestitionen". Er beginnt mit der Aussage, daß die gleichmäßige Besteuerung des Einkommens nach dem synthetischen Einkommensbegriff in einer geschlossenen Volkswirtschaft die gerechte Form der Einkommensbesteuerung sei. Also sollten danach Arbeits- und Kapitaleinkommen gleich besteuert werden. Wenn nun internationaler Standortwettbewerb existiert und der Faktor Kapital mobiler ist als der Faktor Arbeit, dann entsteht eine Tendenz zur steuerlichen Begünstigung des Faktors Kapital. Dies wird von Arnold modelltheoretisch nachvollzogen. Eine Übereinkunft der Staaten auf Steuerharmonisierung bei der Kapitalbesteuerung sei kaum zu erreichen, weil manche Staaten von dem Steuerwettbewerb profitierten und insofern nicht zustimmen würden, es sei denn, es komme ein Nachteilsausgleich, was aber im multilateralen Verhandlungsgeschäft nicht realistisch sei. Wenn dies aber so ist, dann sei die Ungleichbehandlung von Arbeits- und Kapitaleinkommen gerecht, da sie in dieser Situation des Standortwettbewerbs allen Angehörigen des Staates nütze. Meine beiden Kommentare zu diesem Beitrag sind folgende: 1. Die Idee der Gerechtigkeit transzendiert nach herkömmlichem Verständnis das Machbare. Im Rahmen des Machbaren mag es gerechtere und weniger gerechte Lösungen geben. Dennoch kann es sein, daß alle machbaren Lösungen nicht gerecht sind. Es kann sein, daß Lösungen, die zuerst als nicht machbar erscheinen, letztlich genau deshalb doch machbar werden, weil sie im Empfinden der Handelnden gerechter sind als die, die bisher als allein machbar erschienen. 2. Der Faktor Kapital ist auch in einer geschlossenen Volkswirtschaft „mobiler" als der Faktor Arbeit. Kapital wird erspart, und dieser Prozeß hängt von den geltenden Steuersätzen ab. Die Frage, ob der herkömmliche synthetische Einkommensbegriff der geeignetste ist, um die Einkommensteuer gerecht zu gestalten, ist genau deshalb auch nicht unbestritten. Viele Ökonomen plädieren für eine Besteuerung des Lebenseinkommens oder des Konsums genau deshalb, weil so das Problem der intertemporalen Allokationsverzerrung durch die Besteuerung weitgehend beseitigt werden kann. Ebert präsentiert in seinem Beitrag: „Einige Überlegungen zur Familienbesteuerung". Es geht ihm einmal um das Ziel, daß die Nettoeinkommen mittels progressiver Besteuerung gleichmäßiger verteilt sind als die Bruttoeinkommen; und es geht ihm zum anderen um die Steuergerechtigkeit zwischen Haushalten unterschiedlicher Personen-

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zahl. Er schlägt vor, daß man das Einkommen des Einpersonen-Haushalts mittels einer Transfonnation auf Einkommen gleichen Lebensstandards von Mehrpersonen-Haushalten abbildet. Dabei sollen die empirisch gültigen Economies of Scale des Zusammenlebens mehrerer Personen in einem Haushalt berücksichtigt werden. Von diesen Transformationen ausgehend, könne man nun Steuertarife entwickeln, die dazu fuhren, daß invariant gegen die Haushaltsgröße - Personen gleichen Lebensstandards gleich besteuert werden. Er vergleicht diese Ideallösung der Steuergerechtigkeit mit den empirisch vorgefundenen Steuersystemen - ohne diesen Vergleich allerdings sehr zu vertiefen. Die Familienbesteuerung ist ohne Zweifel ein schwieriges Gebiet. Der Lösungsvorschlag von Ebert überzeugt mich nicht. Regionale Differenzen im Lebensstandard bei gleichem nominalen Einkommen nehmen wir auch nicht zum Anlaß einer regional differenzierten Einkommensbesteuerung. Die Einkommensbesteuerung sollte sich nicht nach dem Lebensstandard, sondern nach der Beanspruchung der volkswirtschaftlichen Ressourcen des einzelnen Steuerpflichtigen richten. Bei einem funktionierenden Preissystem wird diese relativ gut im Nominaleinkommen gemessen. Weikard schreibt über „Kindererziehung und Rentenversicherung - zur Gerechtigkeit des Generationenvertrags". Es geht um die Berücksichtigung des Beitrags von Personen, die Kinder haben, zur Stabilisierung des „Generationenvertrags". Der Vorschlag läuft darauf hinaus, daß es eben zwei Arten „Beiträge" zum Rentenversicherungssystem gibt: Beiträge in monetärer Form und Beiträge in der Form der Erziehung von Kindern. Die Beiträge letzterer Art sollen umgerechnet werden auf monetäre Beiträge, um daraus dann die Rentenansprüche auszurechnen. Die Aspekte, die zur Bestimmung der Höhe des Erziehungsbeitrags von Bedeutung sind, werden diskutiert. Es ergeben sich allerdings keine eindeutigen Ergebnisse. Aus meiner Sicht ließen sich zur Konkretisierung dieses Ansatzes dadurch zusätzliche Erkenntnisse gewinnen, daß man das hier vorausgesetzte Umlageverfahren einbettet in ein Modell, in dem daneben individuelle Vorsorge getrieben wird: durch Sparen sowie durch die Verpflichtung von Kindern, ihre Eltern im Alter zu unterstützen. Diese für Länder ohne moderne Sozialversicherung und ohne funktionierende Kapitalmärkte dominierende Form der Altersabsicherung schafft einen Referenzpunkt, von dem aus der positive externe Effekt von Kindererziehung für das Rentensystem errechnet werden kann. Wolfgang Schmitz diskutiert „Gerechtigkeitstheorien der neuen Institutionen- und Systemökonomik - im Hinblick auf den Ausgleich der Familienlasten in Österreich". Die These von Schmitz ist, daß verschiedene Teilsysteme die ihnen aufgegebenen Probleme nach der ihnen jeweils eigenen Logik lösen - und daß sich daraus dort Widersprüche ergeben, wo Sachfragen im Schnittbereich zweier (oder, so kann man hinzufugen, mehrerer) Teilsysteme liegen. Das konkrete Beispiel ist die steuerliche Behandlung von Unterhaltspflichten nach österreichischem Recht. Hier geht es einmal um die Sachlogik des Steuerrechts, sodann aber auch um die Sachlogik des Unterhaltsrechts. Dem systemtheoretischen Ansatz (nach Luhmann) verpflichtet, sieht Schmitz, so verstehe ich ihn jedenfalls, derartige Widersprüche als unvermeidlich an. Deshalb wendet er sich auch gegen den Vorschlag einer Integration von Einkommensteuer und Sozialleistungen, der in der sogenannten negativen Einkommensteuer sein Schlagwort gefunden hat.

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Er glaubt, daß die negative Einkommensteuer nicht sachadäquat sowohl die steuerliche Gerechtigkeit als auch die Ziele der Sozialpolitik herbeibringen kann. Ich bin da anderer Meinung, nicht zuletzt, weil ich auch dem Luhmannschen Ansatz (so interessant ich ihn finde) der Eigenlogik der Teilsysteme nicht blindlings traue. Aber selbst wenn man sich auf dessen Standpunkt stellt, ist ja nicht gesagt, daß es ein Teilsystem „Einkommensteuer" und ein anderes „Sozialpolitik" geben muß. Die Teilsysteme könnten auch anders zugeschnitten sein, als sie in Mitteleuropa historisch gewachsen sind. Es müßte mit einer umfassenderen Theorie nachgewiesen werden, weshalb die Teilsysteme so zugeschnitten sind, wie sie zugeschnitten sind. Gähdes Arbeit „Zur Funktion ethischer Gedankenexperimente" ist methodologischer Natur. Er vergleicht insbesondere das Gedankenexperiment in den Naturwissenschaften mit dem philosophischen Gedankenexperiment, so wie es in der ethischen Reflexion angewendet wird. Beispiele fur solche Gedankenexperimente sind die Analysen von Rawls zur „Gerechtigkeit als Faimeß", wie sie hinter dem Schleier des Nichtwissens erfolgen oder der Kantsche kategorische Imperativ. Die Probleme der Argumentation mit kontrafaktischen Annahmen werden deutlich gemacht; und es wird gezeigt, daß auch hier das Vorbild der exakten Wissenschaften mit ihrer Möglichkeit zum Experiment selten erreicht wird. Das typische naturwissenschaftliche Gedankenexperiment nimmt ein Experiment vorweg; häufig ist ihm das tatsächliche Experiment auch gefolgt. Es ist insofern gerade nicht kontrafaktisch. Der Band wird beschlossen mit einem Beitrag des Herausgebers. Gaertner berichtet über „Erweiterte Ordnungen und Verteilungsgerechtigkeit - wie urteilen Studenten?" Es wird eine hypothetische Alternative in verschiedenen Einkleidungen präsentiert, wobei bei der einen Alternative der am schlechtesten Gestellte einer hypothetischen Gruppe von Menschen (nicht die befragten Studenten selbst) in der Alternative x, alle anderen in der Alternative y besser gestellt sind. Entscheiden sich die Studenten für x, so befolgen sie das Rawlssche Maximin-Kriterium; entscheiden sie sich für y, so kommen sie in Widerspruch zu ihm. Die Studenten sind mit der Theorie von Rawls nicht vertraut. Die Idee ist nun, die Anzahl der „anderen" Personen, die also bei y besser gestellt sind, schrittweise zu erhöhen und zu sehen, wann die befragten Studenten ihre Rawlssche Position aufgeben. Grob gesprochen ist das Ergebnis, daß es bei den Osnabrücker Studenten eine starke Mehrheit von „Rawlsianern" im schwachen Sinne gibt, die die Alternative χ wählen, solange die Gesamtgruppe nicht allzu groß ist, daß aber von diesen eine beachtliche Minderheit „umkippt", wenn die Anzahl der übrigen Personen hinreichend groß wird. Gaertner berichtet weiter, daß die Ergebnisse an baltischen Universitäten ganz anders ausfallen. Auf Details betreffend die baltischen Studenten muß der Leser aber bis zu einer späteren Publikation Gaertners warten. Die Untersuchung Gaertners ist sicherlich interessant. Sein mathematischer Apparat mit der Borda-Regel und der konkaven Transformation führt ihn nahe heran an utilitaristische Ansätze. Vielleicht darf man an dieser Stelle den Wunsch äußern, daß Experimente und Befragungen sich stärker als bisher dem utilitaristischen Ansatz zuwenden.

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Charles B. Blankart

The Elgar Companion to Public Choice Besprechung des von Shughart und Razzolini herausgegebenen Sammelwerkes* Ein Buch von 776 Seiten zum Preis von 150£: Lohnt sich das? Diese Frage wird sich jedermann stellen, der die Anzeige des Elgar Companion to Public Choice liest. Meine Antwort lautet ohne Zögern: ja. Das Buch enthält dreißig Aufsätze aus allen Gebieten von Public Choice, die in grob gesprochen drei Teile geteilt sind: Grundlagen, ökonomische Theorie der Verfassung und Anwendungen (die ihrerseits weiter untergliedert sind). Was der Leser als Doktrin von Public Choice erwartet, beginnt schon im ersten Kapitel mit einem Schisma. Wer hat Recht: Die Virginia-Schule von Public Choice mit ihren im wesentlichen pessimistischen Aussagen? Nach ihrer Sicht stellen die Regeln der repräsentativen Demokratie keine wirkliche Schranke für Politiker und ihre Interessengruppen dar, die Politik für eigene Zwecke auszunützen, sie zu pervertieren und destabilisierende makroökonomische Maßnahmen zu ergreifen. Oder treffen eher die optimistischen Aussagen der Chicago-Schule zu? Ihren Aussagen zufolge sind die Wähler gut informiert und daher in der Lage, durch Wahlen eine effektive Kontrolle über die Politiker auszuüben. Interessengruppen können die Politik nicht wirklich dominieren. Sie geben eher Anlaß, politische Kompromisse zu suchen. Konjunkturpolitik stellt keine wirkliche Gefahr dar, da sie unter den neu-klassischen Grundannahmen ohnehin weitgehend wirkungslos ist. Letztlich bestimmt der Medianwähler in einem mehrdimensionalen Entscheidungsraum die Politik. Beide Theorien werden von W.C. Mitchell ausführlich dargestellt. In seinem Fazit zweifelt er allerdings daran, daß sich diese Gegensätze jemals auflösen werden. Mehr Einblick in dieses Pro und Contra läßt sich gewinnen, wenn man von der Makro· auf die Mikro-Ebene geht. Hier lassen sich, wie L. De Alessi zeigt, die Gründe für Staatsaktivität besser erkennen. Die Property Rights spielen eine entscheidende Rolle. Lassen sie sich definieren und durchsetzen, so kann Handel zustande kommen. Andernfalls müssen andere, teilweise vom Staat administrierte Vertragsformen wie Verhandlungen, Ausschreibungen, Regulierungen, Staatsproduktion mit Steuerfinanzierung usw. gefunden werden. Ihre Tragfähigkeit wird im einzelnen analysiert. Der erste, vorwiegend methodologische Teil schließt mit einem Aufsatz von 0. Azfar zu Olsons Gruppentheorie und einer Arbeit von M.J.G. Cain zur Social Choice-Theorie. Eine der wichtigsten Grundlagen der Public Choice-Theorie stellt die ökonomische Theorie der Verfassung dar. Sie nimmt mit vier Aufsätzen im zweiten Teil zu Recht *

William F. Shughart II und Laura Razzolini (eds.), The Elgar Companion to Public Choice, Edward Elgar, Cheltenham UK, Northampton, MA., USA, 776 Seiten.

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einen vorrangigen Stellenwert im Elgar Companion ein. Am interessantesten finde ich den Aufsatz von T. Sass, der einen Vergleich zwischen direkter, parlamentarischer und repräsentativer Demokratie durchfuhrt. Überzeugend ist vor allem der Vergleich zwischen direkter und parlamentarischer Demokratie, zu dem Sass eine Reihe von empirischen Studien anfuhrt. Noch in den Kinderschuhen steckt freilich der Vergleich zwischen dem parlamentarischen, sogenannten Westminster-System, dem amerikanischen repräsentativen Präsidialsystem und dem kontinentaleuropäischen System der Koalitionsregierungen. Mehr Forschung wäre hier nötig. Der Rest des Buches besteht aus 23 angewandten Aufsätzen zu einzelnen Sachthemen. Die ersten beiden Aufsätze dieser Gruppe berühren zwar noch recht grundsätzliche Themen. Bei W.M. Crain geht es um die Dauerhaftigkeit der Institutionen, die notwendig sind, damit Entscheidungen überhaupt getroffen werden können, und dann bei MC. Munger um die Grundsätze des Wählerverhaltens von der Wahlbeteiligung bis zum Λ/row-Paradoxon. Es folgen dann drei Aufsätze, die mit Geld in der Politik im weiteren Sinne zu tun haben. Sie handeln von Abgeordnetendiäten (McCormick und Ch. S. Turner), Wahlkampfspenden (K.B. Grier) und Ideologie (P.H. Rubin). Die Diätenfrage wird in den Vereinigten Staaten offenbar nicht so zwielichtig gesehen wie in Deutschland: Höhere Diäten werden als Effizienzlöhne verstanden. Sie geben den Abgeordneten Anreize, eine gute Wirtschaftspolitik zu betreiben und sind daher für das Wirtschaftswachstum forderlich. In der Theorie der Wahlkampfspenden wird Geld als Input in eine Stimmenproduktionsfunktion aufgefaßt und zu erklären versucht, wer wieviel fur seinen Wahlkampf einsetzt. Wie erwartet geben Amtsinhaber weniger aus als Herausforderer. Wahlkampfausgaben von Amtsinhabern und Herausforderern im Senat sowie von Herausforderern im Repräsentantenhaus sind in ihrer Wirkung signifikant. Für die Amtsinhaber im Repräsentantenhaus trifft dies nicht zu. Diese Ambivalenz macht es schwer, die Bedeutung dieser Studien einzuschätzen. Möglicherweise ist es besser, wie Rubin es in seinem Aufsatz tut, auf die Ideologie der Wahlkampfspender zu achten. Offenbar wird ein wesentlicher Teil der Wahlkampfspenden nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus ideologischen Gründen getätigt. Sie stellen Inputs für eine gewünschte Politik dar. Wenn Wahlkampfspenden das gewünschte Ergebnis erzeugt und den unterstützten Kandidaten ins Parlament gebracht haben, stellt sich die Frage, ob sich dieser dort im Sinne seiner Wählerstimmen verhält oder ob er „ideologisches Shirking" betreibt. Die Kontrolle wird nach Meinung des Autors über die Wähler und wohl auch über die political action groups ausgeübt. Sie halten die Abgeordneten dazu an, sich an ihre Wahlversprechen zu halten. Andernfalls gehen diese ihrer Unterstützung verlustig. Dieses System kontrastiert deutlich mit der deutschen Regelung, in dem die Stimmen der Abgeordneten faktisch an die Parteidisziplin und nicht an die Stimmen der Wähler ihres Wahlkreises gebunden sind. G.M. Anderson, W.F. Shughart und R.D. Tollison zeigen die breite Anwendungsmöglichkeit der auf Buchanan zurückgehenden Theorie der Clubs auf. Clubs weisen Sharing economies auf und gleichen insofern öffentlichen Gütern. Anderseits ist ihre Aufnahmekapazität begrenzt, was sie eher zu privaten Gütern macht. Aus dem Ansatz

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der Clubgüter leiten die Autoren testbare Hypothesen über das Verhalten in Allianzen, Interessengruppen, politischen Koalitionen, in sogenannten law firms und in Religionen ab. Zu Recht enthält der Companion to Public Choice auch ein Kapitel über Interessengruppen. Die Autoren, R.B. Ekelund und R.D. Tollison, unterscheiden zurückgehend auf Stigler, Peltzman und Becker zwischen der positiven Theorie der Interessengruppen, nach der Politiker als Broker zwischen Konsumenten- und Produzenteninteressen auftreten, und der normativen, auf Tullock basierenden Theorie, der sogenannten RentSeeking-Theorie. Die Bedeutung dieser Theorien läßt sich aber, wie die Autoren dieses Beitrages zu Recht feststellen, erst anhand der Frage "Compared to What?" beurteilen. Die positive Theorie der Interessengruppen mißt sich an den vergleichsweisen Voraussagen des Medianwählermodells. Die normative Theorie des Rent-Seeking beurteilt sich anhand der Reformen, die notwendig wären, um das verschwenderische Rent-Seeking zurückzudrängen. Allerdings würden solche Reformanstrengungen wiederum RentSeeking hervorrufen, so daß die gestellte Frage etwas offen bleibt. Ein wichtiges Objekt der Theorie des Regierungsverhaltens bilden die öffentlichen Finanzen. Ihnen widmet R.G. Holcombe ein eigenes Kapitel unter dem Titel „Public Choice and Public Finance". Die Methodologie von Public Choice beruht auf der Hypothese des menschlichen Rationalverhaltens. Dieses läßt sich auf alle Verhaltenswissenschaften, so auch auf die Politikwissenschaft und ihr Untersuchungsobjekt, den Staat, anwenden. Dort trifft sie sich mit der ökonomischen Analyse des Staates, d.h. der Finanzwissenschaft. Die Verschmelzung der beiden Ansätze hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Politikwissenschaftler haben bei den Ökonomen das Verständnis für die Institutionen des Staates geweckt. Umgekehrt haben Politikwissenschaftler von den Ökonomen die Technik der Analyse testbarer Hypothesen übernommen. Daraus ergab sich die unmittelbare Konsequenz, bei Politikmaßnahmen nicht nur das Markt-, sondern auch das Regierungsversagen zu erwägen. Im analytischen Teil des Aufsatzes wendet sich Holcombe vor allem der Besteuerung zu, die er im wesentlichen unter dem Aspekt des Rent-Seeking betrachtet. Der alternative Ansatz der Leviathan-Theorie der Besteuerung wird bei ihm nicht näher in Erwägung gezogen. Besonders lesenswert ist der Aufsatz von R.E. Wagner über die politische Ökonomie der Makro-Wirtschaftspolitik. Zwei Schulen werden einander gegenüber gestellt: Nach der einen versuchen opportunistische Politiker die Wirtschaft im Hinblick auf die nächsten Wahlen so zu manipulieren, daß sie die Stimmen maximieren. Es kommt zu politisch-ökonomischen Konjunkturzyklen. Nach der anderen sind Politiker bestrebt, mit ihren parteiideologisch motivierten Programmen die Wahlen zu gewinnen. Doch weil bei erwartetem knappen Wahlausgang nicht klar ist, welches Programm zur Durchführung gelangt, bilden die Wähler bei diesem Ansatz mittlere Erwartungen, von denen die tatsächliche Politik nach der Wahl unerwartet nach der einen oder anderen Seite abweicht und damit reale Effekte auslöst. Es kommt ebenfalls zu politisch-ökonomischen Konjunkturzyklen. Doch diese sind ganz anderer Art. Es sind Überraschungszyklen. Das eingangs betrachtete Schisma kommt gerade bei diesen beiden Ansätzen deutlich zum Ausdruck: Beim opportunistischen Regierungsverhalten liegt offenbar Staatsversagen vor. Es kommt zu Zyklen, die es ohne diese Regierungsaktivität nicht gäbe.

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Beim parteiideologischen Ansatz sind Zyklen, wo sie auftreten, notwendige Folgen der Erwartungsbildung in einer Demokratie und in diesem Sinne kein Regierungsversagen. Die Wirklichkeit dürfte, wie Wagner schreibt, in der Mitte liegen. Jede Partei wird versuchen, möglichst ihre Ideologie zu verwirklichen. Aber wenn ein knapper Wahlausgang erwartet wird, wird die Regierung die Möglichkeit der Manipulation der Wirtschaft nicht ungenutzt lassen. Vom ersten Weltkrieg bis in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wuchsen die Staatsausgaben in fast allen westlichen Staaten kontinuierlich und rascher als das Sozialprodukt. Wissenschaftler versuchten, dieses Phänomen mit Public Choice zu erklären. Im Zentrum standen Theorien der repräsentativen Demokratie und der Interessengruppenaktivität. Seit etwa zehn Jahren hat sich aber dieser Trend in vielen Staaten nicht weiter fortgesetzt. ,,[A]n important new fiscal development or simply an historical aberration", fragt R.D. Congleton. Der Autor des Kapitels untersucht die amerikanischen Bundesausgaben mit verschiedenen erklärenden Variablen wie individuelle Nachfrage nach staatlichen Dienstleistungen, Bürokratie, Interessengruppen und bevorstehendem Machtwechsel im Senat und im Repräsentantenhaus. Bei drohendem Machtwechsel versuchen nämlich die Abgeordneten, Programme für die nächste Zukunft zu beschließen oder zu blockieren, womit sie die Entwicklung der Staatsausgaben über ihre Amtsdauer hinaus ausdehnen. Die Variablen erweisen sich als weitgehend signifikant, zeigen also, daß nach wie vor die gleichen Faktoren das Staatsausgabenwachstum beeinflussen wie bisher angenommen, wenngleich in geringem Ausmaß. Das Wachstum der Staatsausgaben hat sich also verringert. Doch weshalb dies so gekommen ist, bleibt weiterhin im Dunkeln. Ein wichtiges Anwendungsgebiet von Public Choice ist die Geschichte. Wegen der meist längeren Untersuchungszeiträume geht es hier nicht nur darum, das kollektive Entscheidungsverhalten der Politiker innerhalb gegebener Institutionen zu betrachten, sondern auch die Veränderung dieser Institutionen selbst zu erklären. R.B. Ekelunä und A.B. Davidson gehen in ihrem Aufsatz in einem Dreischritt vor: Gegeben ist ein Set von Institutionen, in dem nutzenmaximierende Individuen Eigentumsrechte bilden und hierbei verschiedenen exogenen Schocks ausgesetzt sind, die ihnen Anlaß geben, die Institutionen zu verändern, wodurch ein neuer Anpassungsprozeß einsetzt. Diese Theorie wird von den Autoren kritisch dem in der „New Economy" beliebten Ansatz der Pfadabhängigkeit gegenübergestellt. In diesem wird versucht, die wirtschaftliche Entwicklung im wesentlichen nur aus einem Anfangszustand zu erklären, wobei das individuelle Maximierungsverhalten und die zwischenzeitlichen Schocks weitgehend unberücksichtigt bleiben. Durch diese Vereinfachung gelangt die Theorie der Pfadabhängigkeit oft zu spektakulären Ergebnissen. Doch was zählt, ist nur die vergleichsweise Voraussagekraft der beiden Theorien. In dieser Hinsicht können die von den Autoren angeführten Studien zur Pfadabhängigkeit nicht recht überzeugen. In allen von den Autoren betrachteten Phasen der Wirtschaftsgeschichte, im Feudalismus, im Merkantilismus, im 18., 19. und 20. Jahrhundert, haben sich unterschiedliche Regeln der staatlichen Machtausübung durchgesetzt. Die Qualität dieser Regeln hat die Entwicklung der Volkswirtschaften und die Entstehung neuer Regeln ganz entscheidend beeinflußt. So hat sich beispielsweise aus dem englischen Merkantilismus ein Rent-

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Seeking um Rechte und daraus schließlich das parlamentarische System entwickelt, das für das britische Wirtschaftswachstum von großer Bedeutung war. Leider beschränken sich die Autoren fast ausschließlich auf die anglo-amerikanische Geschichte. Kontinentaleuropa wird nur wenig beachtet. Das Buch schließt mit einem Aufsatz zum internationalen Handel von Ch.K. Rowley. An diesem Beispiel läßt sich sehr schön die Diskrepanz zwischen wohlfahrtsökonomischer Doktrin und tatsächlicher Politik erkennen. Die Doktrin plädiert für Freihandel, doch in Wirklichkeit wird Protektionismus praktiziert. Public Choice schlägt die Brücke zwischen Norm und Wirklichkeit. Denn aus der Sicht des Eigeninteresses gibt es zwei Wege, seinen individuellen Wohlstand zu erhöhen: im internationalen Wettbewerb effizienter zu produzieren oder bei der Regierung für Protektionismus zu lobbyieren. Die Regierung zeigt sich gegenüber solchen Bestrebungen der Gruppen verständnisvoll und betreibt, wie die Literatur meint, eine Ramsey-Preisen ähnliche Politik. Industrien mit hohen Importnachfrageelastizitäten oder hohen Exportangebotselastizitäten werden geringere Abweichungen vom Freihandel erwarten können als solche, bei denen das nicht zutrifft. Etwas offen bleibt in solchen Ansätzen der Bezug zum Wahlprozeß. Auch die vielfach praktizierten freiwilligen Exportbeschränkungen passen nicht ins Bild der wohlfahrtsökonomischen Doktrin. Doch sie stellen sich aus der Sicht einer Partei, die Wahlkampfspenden sowohl von der ausländischen Exportindustrie wie von der heimischen Importsubstitutionsgüterindustrie entgegennimmt, als stimmenmaximierender Kompromiß dar. In einer solchen Welt des Dritt- oder Viertbesten sollte eigentlich eine Institution wie das GATT bzw. die WTO, die über reziproke Handelsliberalisierungen in Richtung von Freihandel führt, mit Genugtuung beurteilt werden. Doch Rowley ist skeptisch. GATT und WTO brächten nicht freien, sondern administrierten Handel, der durch strategisches Verhalten, Mißbrauch und Regionalismus gekennzeichnet sei. Am Ende des Buches stellt sich erneut die Frage: Hat die Virginia-Schule mit ihrer pessimistischen Beurteilung von Public Choice recht, oder ist eher der Chicago-Schule zuzuneigen, die in Public Choice einen Prozeß sieht, der im großen und ganzen einer wohlfahrtsfördemden Politik zum Durchbruch verhilft. Die dreißig Aufsätze des Elgar Companion geben unterschiedliche Antworten, je nachdem, ob sie eine Makro- oder Mikrosicht ausdrücken. Die makroökonomischen Modelle scheinen mir eher die positive Botschaft der Harmonie zu vermitteln, während im Mikrobereich der Pessimismus von Rent-Seeking und Regierungsversagen überwiegt. Doch in einem geschlossenen Ansatz können Mikro- und Makrobetrachtung nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Somit bleiben noch viele Rätsel und damit Stoff für Forschung.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Adolf Wagner

Erich Preiser und sein Werk nach drei Jahrzehnten* Über den Nationalökonomen Erich Preiser und sein Werk ist wiederholt schon geschrieben worden. Dem Interessierten in Deutschland ist längst alles bekannt. Doch gibt es überhaupt noch Interesse an „großen" deutschen Wirtschaftsprofessoren? Wir wollen dies einmal unterstellen. Deshalb und wegen einer ganz außergewöhnlichen Dissertation an der Technischen Hochschule Aachen (angeregt von Karl Georg Zinn), die es zu besprechen gilt, soll zum 100. Geburtstag von Erich Preiser Rückschau gehalten werden. Die Zweiteilung des wahrlich dicken Buches von Blesgen (erster Teil - biographische Stationen mit zugeordneten wissenschaftlichen Werken von 1900 bis 1967, zweiter Teil - wissenschaftliche Beratung der deutschen Wirtschaftspolitik von 1945 bis 1967) mit den exkursartigen punktuellen Ausbuchtungen regt zu einer aufgelockerten Besprechung an. Nicht anders als durch eine freihändige Auswahl bestimmter Stücke des vorliegenden Materials läßt sich die Aufgabe der Buchbesprechung bewältigen. Zuerst geht es um Promotion und Habilitation. Auch heute noch sind Doktorarbeit und Habilitationsschrift Meilensteine auf dem Weg zum ordentlichen Universitätsprofessor der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland. Erich Preiser verfaßte sie in Frankfurt und Tübingen. Die Themen sind im Jahre 2000 so aktuell und behandlungswenn nicht klärungsbedürftig wie ehedem. Die Dissertation zum Thema „Die Marasche Krisentheorie und ihre Weiterbildung. Darstellung und Kritik" wurde bei Franz Oppenheimer erarbeitet; sie führte 1923 zur Promotion des Dr. rer. pol. Erich Preiser an der Universität Frankfurt. Die Habilitation gestaltete sich aufgrund außerwissenschaftlicher Fakten und Vorurteile, die gelegentlich auch bei hochbegabten Wissenschaftlern einen Karriereknick bewirken, recht mühsam.1 Erich Preiser erstellte zwei Habilitationsschriften: „Die Expansion des modernen Industrie-Staates" (bei Prof. Dr. Franz Oppenheimer, eingereicht im Januar 1928 an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt) und „Die Stellung der Privatwirtschaftslehre im System der Oekonomik" (bei Prof. Dr. Wilhelm Rieger, eingereicht am 5. März 1930 an der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, umgearbeitet veröffentlicht im Jahre 1934 als "Gestalt und Gestaltung der Wirtschaft. Eine Einfuhrung in die Wirtschaftswissenschaften"). Die Frankfurter Habilitationsschrift wurde 1928 zurückgezogen. In Tübingen verlief die Habilitation erfolgreich. Die privat- oder betriebswirtschaftliche „venia legendi" der Tübinger Habilitation vom 12. März 1930 wurde am 28. November 1933 auf Volkswirtschaftslehre erweitert.

*

Besprechung von Detlef J. Blesgen (2000), Erich Preiser: Wirken und wirtschaftspolitische Wirkungen eines deutschen Nationalökonomen (1900-1967), Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg und New York, 866 Seiten mit 37 Abbildungen, 4 Faksimiles und 26 Tabellen. Nachfolgend schlicht ,J3lesgen". 1 Näheres bei Krelle (1968,494).

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Erich Preiser (1900 - 1967) habilitierte Wilhelm Krelle (Heidelberg 1951) und Alfred E. Ott (München 1958). „Man ist versucht zu sagen, daß in diesen Fällen eins und eins mehr als zwei ist und die genannten Schüler Preisers ihrerseits als Lehrer und in der wirtschaftspolitischen Beratung ähnlich wirksam waren wie ihr akademischer Lehrer" (Lantpert 2000, 618). Um den Krelle-Ott-Kern der Schüler gruppieren sich an den fünf Wirkungsstätten2 54 Prewer-Doktoren (zeitlich nacheinander: 5 in Tübingen, 4 in Rostock, 6 in Jena, 30 in Heidelberg und 9 in München),3 sehr viele Diplomanden sowie eine unübersehbare Schar an dankbaren Studenten und bloß bekennenden Verehrern. Preiser paßt in keine Schublade der Lehrgeschichte mit gängiger Aufschrift und gängigem Inhalt. Schaut man vom Höhepunkt seines akademischen Lebens im Todesjahr 1967 zurück (genauer zu datieren etwa durch die feierliche Ehrung mit dem ReuchlinPreis der Stadt Pforzheim am 29. 4. 1967 und die nicht mehr vollzogene, für den 27. 10 1967 in Tübingen vorgesehenen Verleihung4 des Dr. rer. pol. h. c.), so erkennt man sein außergewöhnliches Format, das sich dem Zugriff der lehrgeschichtlichen Klassifizierer entzieht. Erich Preiser sah sich selbst als ein „Mittelding zwischen einem Liberalen und einem Sozialisten" (Blesgen, VI); und genau so wirkte er bis zuletzt in Vorlesungen und Vorträgen auf die Zuhörer. Von dem soziologischen Stammholz der Nationalökonomie unter seinem Frankfurter Lehrer Franz Oppenheimer mit geprägt, brachte er Deutungen in die mathematische Wirtschaftstheorie ein, die über die Horizonte des „mainstream" und einiger seiner Schüler hinausgingen.5 So wie Preiser sich nicht nach simplen Schemata klassifizieren ließ, konnte und kann er auch nicht von der einen oder der anderen Richtung unter seinen Schülern gänzlich vereinnahmt oder repräsentiert werden. Die Habilitierten streben in jungen Jahren natürlicherweise nach Emanzipation vom Habilitationsvater. Dies zeigt sich im Werk von Wilhelm Krelle, stärker noch in den Arbeiten von Alfred E. Ott. Man schuldet dem „Auch-Soziologen" Preiser einige wissenschaftssoziologisch relevante Randnotizen dazu. Das Bekenntnishafte, das bis in die Gedenkveranstaltung in Passau hinein spürbar war,6 darf man im nachhinein deshalb nicht gänzlich verschweigen, weil es den „Bekennern" im Zeitgeist ein ernstes Anliegen ihrer öffentlichen Wahrnehmung war, weil es anderen mit einem weniger politikorientierten Wissenschaftsverständnis (allen voran wohl Alfred E. Ott) ein Ärgernis war und weil es zu einem kleinen Teil miterklärt, weshalb keine eigenständige greiser-Schule" zu bemerken ist (Blesgen, VIII). Hinzu kommen weitere Umstände, die einer „Schulbildung" abträglich sein mochten: erstens Preisers Bescheidenheit und Abneigung gegen „Schulen" (vergleichbar bekannten Ausführungen seiner von ihm geschätzten Fachkollegin Joan Robinson), zweitens die legitime und natürliche Hinwendung vieler seiner Schüler zu anderen als Preiserschsn The-

2 Leipzig wäre ohne die Kriegswirren gewiß eine sechste Wirkungsstätte geworden (siehe Blesgen, 174 u. 195/196). 3 Siehe Blesgen, 688-691. 4 Im Rahmen der Feiern zum 150jährigen Jubiläum der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 5 Als ein Beispiel nehme man die zugleich kreislauftheoretische und soziologische Deutung von Verteilungsgrößen (vgl. Preiser 1964, 18-19). 6 Siehe dazu Mückl und Ott (1981).

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men und Konzeptionen, drittens ein wenig auch die distanzierend wirkende Haltung der „Kollegen Neid und Mißgunst". Wie ganz wenige Nationalökonomen nur, die als herausragende Theoretiker wahrgenommen werden, zeichnete Erich Preiser ein Gespür fur untersuchungsbedürftige Fragen und fur die empirische Wirtschaftsforschung aus. Aus den Listen seiner Doktoren sind hierbei exemplarisch Wilhelm Krelle, Alfred E. Ott, Ernst Helmstädter, aber auch Viktor Zarnowitz, Gerhard Gehrig, Helmut Maneval und Karl-Heinrich Oppenländer anzuführen.7 Die Anwendungsorientierung des Nationalökonomen Erich Preiser ist seinem Werdegang zuzuschreiben,8 zum Teil aber wohl auch dem frühen Kontakt mit der später so genannten „Frankfurter Schule der Statistik". Er wußte von daher um den Unterschied von naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Statistik, er wußte von der nur näherungsweisen Zusammenführung von substanzwissenschaftlichen und statistischen Definitionen sowie vom Kriterium einer empirischen Gültigkeit9 der Theorien. Anwendbarkeit und Relevanz der Theorien hingen nämlich, wie er beiläufig schrieb, „einzig und allein vom Grad der Übereinstimmung zwischen den Daten des Gedankenbildes und denen der Wirklichkeit ab" (Preiser 1933, 9, Fußnote 1). Von da her begreife man „Preisers Vorschläge zu einer angewandten Wirtschaftstheorie" (Blesgen, 229-233) und seine ebenso ausgedehnte wie fruchtbare wissenschaftliche Beratung der deutschen Wirtschaftspolitik von 1945 bis 1967, beschrieben im zweiten Teil der vorliegenden Dissertation von Blesgen}0 Die ersten Sätze der Schriftfassung des Vortrages vom 30. Juli 1960 vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften lauten: „Die Theorie der Einkommensverteilung, in der Neoklassik verkümmert zu der im Grunde nur mikroökonomischen und obendrein auf die Statik beschränkten Grenzproduktivitätstheorie, erlebt seit einem Jahrzehnt eine Renaissance in des Begriffs wahrster Bedeutung. Sie greift zurück auf die großartige Sicht des Verteilungsproblems bei den Klassikern und bei Marx, der - jedenfalls im angelsächsischen Bereich der Forschung - geradezu wiederentdeckt wird, aber was daraus entsteht, ist dennoch neu, weil der Rückgriff mit den Problemen und Methoden verknüpft wird, die unsere Gegenwart beherrschen" (Preiser 1964, 7). In einer Fußnote dazu schreibt Preiser mit Überzeugung: „Einen letzten Höhepunkt der Grenzproduktivitätstheorie bietet G. J. Stigler, Production and Distribution Theories, New York 1941; ...", und er zitiert zur einschlägigen Kritik seinen wissenschaftlich auch heute noch aktiven Heidelberger Doktoranden Viktor Zarnowitz („Die Theorie der Einkommensverteilung, Tübingen 1951"). Nirgendwo in der Nationalökonomik wäre Erich Preisers Enttäuschung wohl größer als bei der weltweiten Wiederbelebung dessen, was vor 1950 „state of the art" war und nun wieder ist: die Grenzproduktivitätstheorie. Seine erklärte

In diesen Namen spiegeln sich die Arbeitsverbindungen der „Preiser-Schule" zur Empirischen Ökonomik bekannter Forschungsinstitute (ifo München, LAW Tübingen u. a. m.). 8 Besonders zu erwähnen sind ein „praktisches Jahr" als Syndikus eines Versicherungsunternehmens unmittelbar im Anschluß an die Tätigkeit als Handelslehrer (Blesgen, 28) und sein frühes Tübinger Engagement in der angewandten Wirtschaftsforschung (Blesgen, 88-97). 9 Dieses wird nicht im Sinne einer PME- oder (angelsächsisch) PMR-Ökonomik gewonnen. Vgl. dazu erläuternd auch Güntzel (1991, 202-204). 10 Siehe Blesgen, 441-610 (reiner Text).

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Absicht, neben der „rein ökonomischen" Grenzproduktivitätstheorie eine auch soziologisch orientierte Verteilungserklärung zu erarbeiten, ist nach dem heutigen Stand völlig fehlgeschlagen. Nirgendwo ist „das Mit- und Gegeneinander der Faktoren zu [sehen], die von der Sozialstruktur und vom Kreislauf her auf die Verteilung wirken und nicht nur diese selbst, sondern auch den Prozeß des Wachstums beeinflussen" (Preiser 1964, 9). Die Verknüpfung von Wachstums- und Verteilungstheorie ist im Anschluß an Preiser wieder zu einer harmlosen arithmetischen Übung degeneriert, weil die Doppelnatur des makroökonomischen Kapitalbestandes unterdrückt wurde. Wertkapital und Realkapital in ein einziges gleichgewichtiges Κ zusammenzuzwingen bedeutet, die Verteilungsfrage als eigenständige Betrachtungsweise zu eliminieren. Erich Preiser. „In der Geschichte der deutschen Nationalökonomie wird er seinen Platz finden als einer unter denen, die der deutschen Nationalökonomie wieder den Anschluß an die internationale Entwicklung verschafften, der den sozialen Impuls, der in der deutschen Wirtschaftswissenschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mitbestimmend war, in eine neue Zeit hinüber rettete und der insbesondere auf dem Gebiet der Konjunktur- und Verteilungstheorie neue und wesentliche Gedanken hinzubrachte" {Krelle 1968, 509). Nach drei Jahrzehnten ist davon in der modellierenden Nationalökonomik so gut wie nichts mehr zu bemerken. Damit die neuen und neuerungsträchtigen Gedanken Erich Preisers wieder in das Bewußtsein der Nationalökonomen gelangen können, sollte man bei der erstmals 1953 publizierten Abhandlung „Der Kapitalbegriff und die neuere Theorie"11 ansetzen; denn nur so entsteht m. E. logischer Spielraum für zweierlei: einerseits für die am Produktionsfaktor Realkapital orientierte Wachstumstheorie und andererseits für eine am Vermögensbestand ausgerichtete Verteilungstheorie, die (nach Konsistenzbedingungen) nicht zwangsläufig nur Grenzproduktivitätstheorie zu sein braucht. Man sollte im Sinne von Erich Preiser die unterschiedlichen, je nach sachlichen Problemen, Erkenntnisinteressen und Fragestellungen objektivierbaren und dennoch theoretisch vereinbaren Kapitalbegriffe zur Kenntnis nehmen. Wenn man analog zu den statistischen Arbeitsbegriffen wenigstens zwei Kapital-Variablen in den Makromodellen unterscheidet, die funktional verknüpft werden können, entfallt die faktische Unterdrükkung einer eigenständigen Theorie der Einkommensverteilung. Das Wegsehen und Weghören bei bestimmten Problemstellungen volkswirtschaftlicher Art, das stets auch einem politisch motivierten Ideologieverdacht Vorschub leistet, ist insbesondere bei bevölkerungsökonomischen und kapitaltheoretischen Fragen zu bemerken. Mehrere Kapitaldefinitionen zu haben und zu verwenden ist eine gut zu begründende Forderung an die modellierenden Nationalökonomen, u. a. nach Ausführungen von Wilhelm Krelle und Bertram Schefold. „Wer annimmt, man könnte ,das Kapital' in einer Volkswirtschaft in allen verschiedenen Bedeutungen, die man dieser Vokabel geben kann, eindeutig durch eine Zahl beschreiben, versteht offensichtlich nicht viel von Nationalökonomie" (Krelle und Gabisch 1972, 205). „Das Kapital kann nicht streng so aggregiert 11 Festschrift für Wilhelm Rieger, wieder abgedruckt in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 165, S. 241-262, sowie zuletzt in Preiser, Erich (1970): Bildung und Verteilung des Volkseinkommens, Gesammelte Aufsätze zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, 4. Aufl., Göttingen, S. 99-123.

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werden, daß es unter Beibehaltung der Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung Argument einer neoklassischen Produktionsfunktion werden könnte. Der Grund ist, daß der Wert heterogener Kapitalgüter von der Profitrate bzw. dem Zinssatz abhängt. Eine Erhöhung der Profitrate kann in einem gegebenen Spektrum von Techniken mit einer Erhöhung statt einem Fall der Kapitalintensität einhergehen. Für das Einsektorenmodell bedeutet dies, daß das Funktionieren des neoklassischen Stabilisierungsmechanismus nicht gewährleistet ist" (Schefold 1992, 355). Der habilitierte Betriebswirt Preiser hätte sich darüber leicht mit seinen BWL-Kollegen verständigt: Produktionsfaktoren sind physische Mengen, die eine Funktion im Produktionsprozeß ausüben, Vermögen sind Werte, also bewertete Mengen, die einen Zins abwerfen.12 Kurz: An der Kapitaldefinition und -messung mit mehr als einer einzigen Makrovariablen Κ hängt es m. E., ob man im Sinne von Erich Preiser bei Verwendung etablierter Wachstumstheorien einen „Kampfe' um die Einkommens- und Vermögensverteilung zuläßt oder ausschließt (Blesgen, V und VI). Monopolgrad plus ^TaWor-Gleichungen ergeben die Preisersche Verteilungserklärung ( Wagner 1997, 329). Die „gelenkte Marktwirtschaft" als ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, von Preiser in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzimg mit Walter Eucken erläutert {Blesgen, 133 - 136), hängt ebenfalls mit hieran. Nach wie vor bedenkenswert auch dies: „An und fur sich ... ist eine möglichst hohe Wachstumsrate kein selbstverständliches wirtschaftspolitisches Ziel - so wenig wie ein möglichst großes Sozialprodukt. Wenn die Menschen mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Volkseinkommens bei geringerem Wachstum glücklicher sind, so hat der Nationalökonom das zur Kenntnis zu nehmen" (Preiser 1964,441). „Vom Untergang sozialpolitischer Konzeptionen" (Blesgen, 611-621) zu sprechen, ist m. E. nur vorläufig richtig, nämlich bei einer Blickverengung auf den „mainstream" und bei einer anhaltenden Irrelevanz des nationalökonomischen Theoretisierens für die praktische Politik (aufgrund der gängigen trivialen mathematischen Konzeptionen). Eine „Ökonomie für den Menschen" 13 von Amartya Sen, 1998 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, die „Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft" weisen will, belegt, daß Erich Preisers gesellschaftswirtschaftliches Anliegen lebendig bleibt. Detlef J. Blesgen hat dazu mit seiner nun publizierten Doktorarbeit kenntnis- und arbeitsreich beigetragen. Sie ist im übrigen ein Beleg dafür, daß Anspruch und Rang der soliden deutschen Dissertation auch heute noch empirisch festzustellen sind. Blesgen hat ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Buch vorgelegt, das im Grunde aus zwei Büchern besteht: „Erich Preiser - biographische Stationen (19001967)" und „Erich Preiser - wissenschaftliche Beratung der deutschen Wirtschaftspolitik (1945-1967)". Das „erste Buch" erstreckt sich als „Erster Teil" über die ersten 274 Textseiten mit anhängenden 144 Fußnotenseiten. Es weist eine Obergliederung nach örtlichen Stationen auf (Frankfurt am Main 1902-1929, Tübingen 1930-1935, Rostock

12 Siehe zum „Defekt der tradierten Kapitaltheorie" und Wachstumstheorie ζ. B. Riese (1997, 194). 13 Deutscher Titel der amerikanischen Originalausgabe „Development as Freedom" von 1999 (vgl. Sen 2000).

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1935-1940, Jena 1940-1946, Heidelberg 1947-1956, München 1956-1967), verwendet aber in den Untergliederungen (auf bis zu vier Dezimalstellen) andere als geographische Aspekte, die unvermeidlich zu Asymmetrien fuhren (lebenslang durchgängige Arbeitsthemen werden dabei bis an die Grenze des Zerhackens portioniert). Im Frankfurt-Kapitel nimmt die Thematik der ersten Habilitationsschrift über die „Expansion des modernen Industriestaats" samt Bewertungen größeren Raum ein. Im Tübingen-Kapitel dominieren Konjunkturanalyse und Organisationsformen für die empirische Wirtschaftsforschung (z. B. Arbeitsgemeinschaft Ostpreußen-Württemberg, Institut für württembergische Wirtschaft). Im Rostock-Kapitel hat der "Gauatlas Mecklenburg" eine eigene Zwischenüberschrift. Im langen Jena-Kapitel findet man eine ordnungspolitische Auseinandersetzung mit Walter Eucken, Ausführungen zu den Freiburger Kreisen, zwei Abschnitte über die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik" sowie vor allem ein erregendes Geflecht aus großer und kleiner Zeitgeschichte im Kriegs- und im Nachkriegsdeutschland. Im Heidelberg-Kapitel sind Ruhe und Besinnung im Wissenschaftlerleben von Erich Preiser zu bemerken. Es geht Preiser um „Vorschläge zu einer angewandten Wirtschaftstheorie", um den Stand der deutschen Wirtschaftswissenschaft, um die „Zukunft unserer Wirtschaftsordnung". Vom München-Kapitel, dem letzten in Blesgens Buch und in Preisers Leben, interessieren den Leser die Themen „Gerechtigkeit und Sicherheit in einer sozialen Marktwirtschaft", „Löhne, Mitbestimmung und Sozialpolitik" sowie die „Überlegungen zu einer aktiven Konjunkturpolitik" (Konjunktur umfaßte bei Preiser und anderen damals die „gesamtwirtschaftliche Entwicklung" mit Wachstums- und Konjunkturphänomenen im engeren Sinne). Für die Verbindung mit dem „mainstream" der Wirtschaftstheorie beachte man den Exkurs „Die Preisersche Rezeption der Keynesschen Stagnationstheorie". Das „zweite Buch" über die wissenschaftliche Beratung der deutschen Wirtschaftspolitik von 1945 bis 1967 erstreckt sich auf ein „Paket" von 181 Textseiten (S. 441621) mit einem anschließenden Packen von 78 Fußnotenseiten. Die für den Leser - für wen sonst werden Bücher geschrieben?! - ärgerliche Abtrennung der Fußnoten und Anmerkungen vom Textkörper (Endnoten zu den nach Dezimalklassifikation gegliederten Textteilen) wurde zwar bereits in einer anderen Rezension erwähnt (Lantpert 2000, 620), muß aber wegen des Ausmaßes der dadurch verursachten unnötigen Mehrarbeit (vor allem beim Nachschlagen bestimmter Textstellen) wiederholt werden. Man stelle es sich einmal praktisch vor: Zu den ersten 274 Textseiten (S. 4-277) sind die Fußnoten auf den Seiten 278 bis 422 abgetrennt und ohne fortlaufende Numerierung konzentriert, zu den zweiten 181 Textseiten (S. 441-621) folgen die Endnoten kompakt und wiederum ohne eine benutzerfreundliche fortlaufende Numerierung auf den Seiten 622 bis 680. Dies ist Unfug - gleichgültig, wie sich die Verantwortung dafür auf den Autor und den Verleger verteilen mag! So sollte man vorgehen, wenn man „dem Buch" im elektronischen Zeitalter den Garaus machen möchte. Die innere Gliederung des zweiten Buches geschieht nach wissenschaftlichen und politischen Themenkreisen, aber auch mit Rückgriff auf Biographisches und Institutionelles. Wirtschaftliche Stagnation und politische Krise bilden den Ausgangspunkt für das erste Kapitel des zweiten Buches. Im weiten Vorfeld der Währungsreform vom 20. 6. 1948 steht die Mitarbeit im wissenschaftlichen Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft

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des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (zweites Kapitel). Preisers damalige „Thesen zur Sanierung der Wirtschaft" hätte man mit Gewinn auch für die spätere deutsch-deutsche Vereinigung lesen sollen. Blesgen gliedert wie folgt: Der „Sprung in die Marktwirtschaft" und seine Voraussetzungen (2.2.3.1), Ordnende, steuernde und kontrollierende Eingriffe (2.2.3.2), Kapitalbildung und Investitionen (2.2.3.4), Die psychologische Komponente der Währungsreform (2.2.3.4), Der Gesellschaftskonsens (2.2.3.5). Das dritte Kapitel betrifft Preisers Arbeit im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium (u. a. Probleme des Kapitalmarktes und der Investitionstätigkeit, Geldschöpfung, die Korea-Hausse). Zum Themenkomplex „Die Finanzierung der Engpaßinvestitionen" (3.2.3) nimmt Blesgen eine überaus geschickte Rollenverteilung für die analysierende Darstellung vor: „Die Amerikaner: Wirtschaftslenkung" (3.2.3.1), „Der Finanzminister: Zuwachssteuer" (3.2.3.2), „Der Bankier: Der ,Abs-Plan'" (3.2.3.3), „Der Wirtschaftsminister: Rabattsparen" (3.2.3.4), „Der .Beirat': Umschichtung" (3.2.3.5). Das „Rollenspiel" mündet in „Das .Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft'" (3.2.3.6). Schwer nachvollziehbar in der heutigen Zeit und bei Berücksichtigung von amerikanischen Ratschlägen zu aktuellen Problemen der Entwicklungsländer ist das damalige harsche Eintreten „der Amerikaner" für noch mehr Wirtschaftslenkung. Am 6. März 1951 forderte der Hohe Kommissar John J. McCloy „in ungewöhnlich scharfem Tonfall eine .bedeutende Modifizierung der freien Marktwirtschaft'" (S. 518). Die nachfolgende Formulierung illustriert dies eindrücklich: „Konkret bedeutet dies, daß die Bundesregierung sofort das erforderliche System von Verwaltungsmaßnahmen zur Kontrolle von Prioritäten und Zuteilungen wie auch zur Kontrolle ausgewählter Preise ausarbeiten muß, und daß sie zugleich den organisatorischen Apparat und den Stab aufstellen muß, der zur Durchführung dieser Kontrollen benötigt wird" (S. 518). Der Abschnitt „Aufgaben und Instrumente einer aktiven Konjunkturpolitik" (3.3) liest sich wie die Strukturierung eines anwendungsorientierten konjunkturtheoretischen Lehrbuchs. Nach einem kurzen vierten Kapitel über den „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", das hauptsächlich Notizen zur Vorgeschichte bringt, läßt Blesgen sein Werk mit erhobenem Zeigefinger und einem ungeschriebenen Fragezeichen ausklingen: „Vom Untergang sozialpolitischer Konzeptionen - Schlußbetrachtung" (S. 611-621). Ein Blick noch auf die Materialien in den Anhängen. Dem ersten Teil der BlesgenDissertation wurden Photographien beigegeben (423-438), die einerseits auf höchst eindrückliche Weise informieren, die aber andererseits Gesellschaftliches und Zeitspezifisches offenbaren, das man zu Preisers Lebzeiten teilweise noch nach dem überwiegenden Geschmack der Zeitgenossen („Achtundsechziger" u. dgl.) verschwiegen und nach später folgenden Prägungen von Zeitgeist verborgen hätte (siehe etwa die Verbindungsstudenten- oder Soldatenfotos, sowie ferner das köstliche Bild einer „Damenrunde" am „Jour" mit Ricarda Huch in Jena, dessen Betrachtung heutigen Jungprofessoren selbst an ehedem altehrwürdigen Universitäten ein nahezu körperliches Mißbehagen bereiten dürfte). Dem zweiten Teil der 5tege«-Dissertation wurden im Anschluß an den bereits erwähnten „Endnotenfriedhof Anhänge und Verzeichnisse beigegeben (681-866), die gesonderter Hinweise würdig sind.

308 · Adolf Wagner Ich verweise zunächst auf einige Diagramme zum besseren Verständnis theoretischer Entwürfe bei Erich Preiser (Blesgen, 683-685 und 687). Besonders wichtig erscheint mir davon die Abb. 5 (687) „Wirtschaftliche Macht und funktionelle Einkommensverteilung". Sie setzt bei soziologischen Kategorien an und kommt über drei parallele Gedankenketten zur funktionellen Einkommensverteilung (erstens vom Vermögensbesitz über quasimonopolistische Marktlagen, zweitens von der Marktstellung über monopolistische Marktformen sowie drittens von persönlicher Macht aus). Von der mathematischen Wirtschaftstheorie her kann man daran die Verstümmelung Preiserscbet Konzeptionen festmachen, die mit einem einzigen Κ für „Kapital" verbunden wäre. Literatur Güntzel, Joachim (1991), Adäquation und PME-Ökonomik: Anmerkungen zu Holubs Methodenkritik, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 208, S. 202-204. Krelle, Wilhelm (1968), Erich Preiser 29. 8. 1900 - 16. 8 1967: Ein großer deutscher Nationalökonom, Jahrbücherfìir Nationalökonomie und Statistik, Band 181, S. 490-517. Krelle, Wilhelm und Günther Gabisch (unter Mitarbeit von J. Burgmeister) (1972), Wachstumstheorie, Lecture Notes in Economics and Mathematical Systems 62, Berlin, Heidelberg und New York. Lampert, Heinz (2000), Preiser in memoriam, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 220, S. 616-620. Mückl, Wolfgang J. und Alfred E. Ott (Hrsg.) (1981), Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik: Gedenkschrift für Erich Preiser, Passau. Preiser, Erich (1933), Grundzüge der Konjunkturtheorie, Tübingen. Preiser, Erich (1964), Wachstum und Einkommensverteilung, 2. Aufl., Heidelberg. Riese, Hajo (1997), Die moderne Wachstumstheorie: Eine keynesianische Unmöglichkeit, in: Gottfried Bombach, Hans J. Ramser, Hajo Riese und Manfred Stadler (Hrsg.), Der Keynesianismus VI: Der Einßuß keynesianischen Denkens auf die Wachstumstheorie, Berlin, Heidelberg u.a.O, S. 187-227. Schefold, Bertram (1992), „Wenn Du den Halys überschreitets" - Gedanken zur Zukunft der ökonomischen Wissenschaft, in: Horst Hanusch und Horst Claus Recktenwald (Hrsg.), Ökonomische Wissenschaft in der Zukunft: Ansichten führender Ökonomen, Düsseldorf, S. 346360. Sen, Amartya (2000), Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München und Wien. Wagner, Adolf (1997), MikroÖkonomik: Volkswirtschaftliche Strukturen I, 4. Aufl., Stuttgart.

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Heinz Hauser

Wettbewerb und internationaler Handel Besprechung des Buches von Claudius Christi* Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich die Debatte darüber, ob und wenn ja innerhalb welcher Gremien internationale Wettbewerbsregeln geschaffen werden sollten, deutlich intensiviert. Neben zahlreichen Vorstößen privater Gruppierungen, worunter der Draft International Antitrust Code einer Gruppe von Wissenschaftern des MaxPlanck-Instituts in München aus dem Jahre 1993 eine prominente Rolle einnimmt, haben sich auch internationale Gremien zunehmend mit der Frage beschäftigt, ob die Regeln für die Handelspolitik durch entsprechend abgestimmte Vorgaben gegen private Wettbewerbsbeschränkungen ergänzt werden sollen. Beispiele dafür sind die von der WTO eingesetzte Arbeitsgruppe „Handel und Wettbewerb" oder der OECD-Ausschuß „Wettbewerbsrecht und -politik". Diese Diskussionen sind überwiegend inhaltlich geprägt. Sie gehen aus von der Fragestellung, inwieweit eine staatliche Wettbewerbskontrolle notwendig ist, zeigen die Lücken und externen Effekte nationaler Wettbewerbspolitik auf und leiten daraus den Bedarf nach internationaler Koordinierung nationaler Politik bzw. nach einer internationalen Wettbewerbsbehörde ab. Es erstaunt nicht, daß die Vorschläge entsprechend der unterliegenden wettbewerbstheoretischen Konzeptionen ein breites Spektrum aufweisen. Verneint man die Zweckmäßigkeit einer nationalen Wettbewerbspolitik bzw. beschränkt man deren Einsatz auf die Bekämpfung horizontaler Kartelle, wird man kaum Bedarf nach einer internationalen Wettbewerbsbehörde verspüren - Kartelle als Verhaltensbeschränkungen lassen sich nach Bestimmungsland isolieren und gemäß dem Auswirkungsprinzip relativ leicht durch entsprechend ausgestaltete nationale Wettbewerbsbehörden bekämpfen. Verfolgt man einen aktivistischen Strukturansatz mit einer starken Fusionskontrollbehörde, werden die Mängel fehlender internationaler Koordination sowohl für die betroffenen Unternehmen wie auch für die im Alleingang operierenden Behörden offensichtlich, und entsprechend stark wird der Ruf nach einer internationalen Wettbewerbspolitik hörbar. Die hier zu rezensierende Arbeit ist vor dem Hintergrund dieser Debatten zu sehen, ist aber nicht einfach eine weitere Arbeit zur internationalen Wettbewerbspolitik. Sie greift zwar auf Elemente der vorhin skizzierten Auseinandersetzung zurück, letztere ist aber nicht Schwerpunkt der Publikation. Der Autor tritt vielmehr einen Schritt zurück *

Claudius Christi, Wettbewerb und internationaler Handel: Eine Analyse ihrer Interdependenzen und institutionellen Voraussetzungen im Rahmen einer internationalen Wettbewerbsordnung, Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Band 42, Verlag Mohr-Siebeck, Tübingen 2001, 202 Seiten.

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und untersucht die ordnungspolitischen Grundlagen der internationalen Koordinierung von Wettbewerbspolitik. Damit greift er ein bislang wenig untersuchtes Feld auf - und belegt, daß auch in bereits intensiv diskutierten Politikfeldem neue und innovative Forschungsfragen möglich sind und gewinnbringend bearbeitet werden können. Wer sich mit internationalen Wettbewerbsfragen befaßt, wird aus der vorliegenden Untersuchung neuartige Ansatzpunkte und vielfältige Anregungen entnehmen. Er muß allerdings bereit sein, auf ordnungspolitische Perspektiven von Hayeks cher Prägung einzutreten. Zuerst zum Inhalt: Nach einem einführenden Kapitel entwerfen die Kapitel 2 bis 5 die wichtigen inhaltlichen Bausteine. Kapitel 6 enthält eine kurze Zusammenfassung und weiterfuhrende Schlußgedanken. Der Hauptteil ist wissenschaftlich sorgfältig und gut nachvollziehbar aufgebaut. In Kapitel 2 legt der Autor seine wissenschaftstheoretischen Grundlagen sehr transparent offen. Kapitel 3 diskutiert die wohlfahrtsökonomischen Ansätze im Grenzbereich von Wettbewerbs- und Außenhandelstheorie und damit den herkömmlichen Beurteilungsraster fur internationale Wettbewerbsfragen. In Kapitel 4 entwickelt Christi einen sehr eigenständigen systemtheoretischen Ansatz zur Erklärung internationaler Markt- und Politikprozesse, der stark vom von Hayekschen evolutionären Weltbild geprägt ist. In Kapitel 5 schließlich werden die bisherigen Erkenntnisse für normative Überlegungen zur Ausgestaltung einer internationalen Wettbewerbsordnung nutzbar gemacht. Ich möchte im folgenden die Arbeit nicht chronologisch, sondern nach mir wichtig erscheinenden Themenfeldern besprechen. Wissenschaftstheoretisches Vorverständnis: Christi stellt von Anfang an die Frage nach der Herkunft und Überwachung von Regeln, die menschliches Zusammenleben lenken. Darüber findet seit längerer Zeit eine intensive wissenschaftliche Diskussion statt. Dabei stehen sich zwei Grundströmungen gegenüber, nämlich der konstruktivistische Rationalismus, wonach die ideale Organisation des Zusammenlebens zwischen Menschen durch rationalen Entwurf zu bewerkstelligen sei, und evolutionstheoretische Ansätze, die auf die Beschränktheit des menschlichen Wissens hinweisen, vor einer Überschätzung der Möglichkeiten sozialen Planens warnen und auch für die Entwicklung von Regelsystemen auf evolutorische Prozesse und den Wettbewerb von Systemen vertrauen. Die zweite Position wird in Kapitel 2 unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig hergeleitet, dient in transparenter Form der Kritik an traditionellen Ansätzen und ist wichtiger Baustein für den auf Markt- und Politikprozessen aufbauenden Systementwurf in Kapitel 4. Schließlich sind auch die in Kapitel 5 formulierten normativen Empfehlungen von einem evolutorischen Vorverständnis geprägt. Die zu entwerfende internationale Wettbewerbsordnung soll ein Höchstmaß an individueller Freiheit sichern - gegenüber interventionistischen Staatseingriffen, aber auch gegenüber Marktbeschränkungen durch private Marktteilnehmer. Gleichzeitig ist sicherzustellen, daß der Wettbewerbsprozeß als Entdeckungsverfahren nicht nur die evolutorische Entwicklung von Märkten stützt, sondern ebenso zur zweckdienlichen Weiterentwicklung nationaler Wettbewerbsordnungen beiträgt. Die Arbeit führt damit im Kern zu einer internationalen Wettbewerbsordnung für die Ausgestaltung nationalstaatlicher Wettbewerbspolitiken. Leser der Arbeit werden dieses wissenschaftstheoretische Vorverständnis in unterschiedlichem Ausmaße teilen und damit den Analysen und Vorschlägen von Christi je

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nach ihrem Standpunkt mehr oder weniger folgen. Die Arbeit kann kontrovers beurteilt werden. Dies betrachte ich aber nicht als Schwäche, sondern vielmehr als Stärke der Publikation, werden doch die zugrundeliegenden Prämissen sehr klar formuliert und sowohl in der positiven Analyse wie auch in den normativen Empfehlungen transparent gemacht. Daß gleichzeitig die bislang nur schwach gehörte evolutorische Perspektive einen überzeugenden Vertreter gefunden hat, ist aus Sicht des Rezensenten eine Bereicherung der wissenschaftlichen Diskussion zu internationalen Wettbewerbsfragen. Methodenkritik: Das Verhältnis von Christi zur herkömmlichen neoklassischen Methodik ist schwierig einzuschätzen. Einerseits wendet er sie in Kapitel 3 gekonnt an, um die wesentlichen Aussagen der industrieökonomisch geprägten neuen Außenhandelstheorie sowie der strategischen Handelspolitik herzuleiten und dem Leser verständlich zu machen. Er teilt auch die individualistische Basis und die Eigennutzorientierung der traditionellen Theorie. Wichtige verbale Aussagen, vor allem zur Handlungsorientierung von Regierungen, folgen den Grundaussagen der neoklassischen Theorie, hier den Public Choice-Ansätzen. Trotzdem grenzt sich Christi teilweise in sehr scharfen Worten von der Neoklassik ab, der er angesichts ihres Abstraktionsgrades mangelnde Erklärungskraft zumißt. Der Verfasser begründet diese Kritik in Kapitel 2 mit Bezug auf die von Albert in den frühen sechziger Jahren ausgelöste Diskussion zum Erkenntnisgehalt ökonomischer Modelle und verwendet sie im Verlaufe der Arbeit mehrfach, um herkömmlichen Ansätzen der Außenwirtschafts- und Wettbewerbstheorie Geltungskraft für die Gestaltung einer internationalen Wettbewerbsordnung abzusprechen. Ob die vom Autor formulierte evolutorisch angereicherte situationslogische Methodik und der in Kapitel 4 entwickelte Systemansatz tatsächlich besser geeignet sind, den in Kapitel 2 formulierten Anspruch einzulösen, daß Nationalökonomie eine an den wahren Tatsachen orientierte Erfahrungswissenschaft zu sein habe, ist aus Sicht des Rezensenten zumindest diskussionswürdig. Damit wende ich mich nicht gegen den in Kapitel 4 entwikkelten evolutorischen Systemansatz; die Kritik an der neoklassischen Methodik ist aber an zahlreichen Stellen überzogen und wäre in dieser Form fur den weiteren Gang der Argumentation auch nicht erforderlich. Wirtschaftspolitische Empfehlungen: Wie bereits erwähnt, mündet die Arbeit in die Empfehlung, eine internationale Ordnung für die Gestaltung nationaler Wettbewerbspolitiken zu schaffen, die wettbewerbsbehindernde Praktiken auf privaten Märkten wirksam kontrollieren läßt, externe Wirkungen nationaler Wettbewerbspolitik auf andere Nationen vermeidet und gleichzeitig offen ist für die evolutorische Weiterentwicklung staatlicher Wettbewerbspolitik. Die Verlagerung des Fokus auf eine internationale Rahmenordnung für die Gestaltung nationaler Wettbewerbspolitik - weg vom Anspruch, eine internationale Wettbewerbspolitik für die Überwachung privater Märkte zu schaffen - wird in den beiden Kapiteln 4 und 5 überzeugend begründet. Gerade bei Struktureingriffen in die Wirtschaft ist die von Hayeks che Kritik hinsichtlich der Anmaßung von Wissen besonders akut und ist entsprechend der Wert des Wettbewerbs als Entdekkungsverfahren besonders hoch einzuschätzen - dies gilt auch für die Entwicklung staatlicher Institutionen. Daß man diesen evolutorischen Prozeß nicht einfach den Entwicklungen auf nationalstaatlicher Ebene überlassen dürfe und deshalb der Bedarf nach einer ergänzenden

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internationalen Ordnung ausgewiesen sei, begründet Christi mit unter Umständen starken externen Effekten nationaler Wettbewerbspolitiken. Offensichtliche Beispiele sind die in der Praxis vieler Länder übliche Tolerierung von Exportkartellen, die Anwendung des Wettbewerbsrechts des Bestimmungslandes gemäß dem Auswirkungsprinzip auf ausländische Firmen - was vor allem bei der Fusionskontrolle zu ernsthaften industriepolitischen Konflikten führen kann - oder der Einsatz nationaler Wettbewerbspolitik im Sinne strategischer Handels- und Industriepolitik. Nach einer kurzen Diskussion und Verwerfung bisheriger Versuche und Ansätze zur Koordinierung staatlicher Wettbewerbspolitik, wie extraterritoriale Anwendung, bilaterale Zusammenarbeit unter Anwendung der negativen wie positiven „comity", supranationale Wettbewerbspolitik im Rahmen regionaler Integrationsräume sowie die Einigung auf unmittelbar anwendbare wettbewerbsrechtliche Grundsätze, entwirft der Autor inhaltliche Vorgaben für die Ausgestaltung einer internationalen Wettbewerbsordnung. Dazu zählen: strikte Beschränkung auf Regeln, die sich an Staaten wenden und damit Verzicht auf eine internationale Wettbewerbsordnung für private Akteure; unbedingte Marktöffiiung für Güter, Dienstleistungen und Faktoren nach dem Ursprungslandprinzip, was auch den Verzicht auf die Anwendung des Auswirkungsprinzips für die Wettbewerbspolitik bedeutet; Anwendung des Prinzips der „positive comity", wonach das Ursprungsland auf wettbewerbspolitische Bedenken eines Bestimmungslandes eingeht und die eigenen Firmen nach ihrem je eigenen Wettbewerbsrecht auch hinsichtlich der Wirkungen auf Drittmärkten kontrolliert; jeglicher Verzicht auf diskriminierende Maßnahmen und damit striktes Verbot staatlicher Struktur- und Industriepolitik; Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsgesetzgebung und -rechtssprechung auf eine „rule of law" mit gleichzeitigem Verzicht auf eine „rule of reason"; Schaffung einer unabhängigen internationalen Wettbewerbsbehörde, welche die Einhaltung der vorhin skizzierten Grundsätze überwacht und auch von privaten Akteuren angerufen werden kann, falls diese der Überzeugimg sind, daß eine nationale Wettbewerbsgesetzgebung die internationale Vereinbarung verletzt. Private könnten aber nicht einzelne Wettbewerbsfalle einklagen - diese bleiben in der Beurteilung nationaler Behörden - , sondern ihre Klage ginge auf Abänderung einer nationalen wettbewerbspolitisch relevanten Rechtsnorm. Mit der WTO-Diskussion Vertraute werden unschwer erkennen, daß in diesen auf wenigen Seiten entworfenen Vorschlägen ein ganzes Forschungsprogramm steckt. Die unbedingte Marktöffnung nach dem Ursprungslandprinzip sowie das Verbot verzerrender Marktinterventionen sind das Arbeitsprogramm von GATTAVTO und trotz über fünfzigjähriger Geschichte noch lange nicht erreicht - man denke nur an nicht-tarifare Handelshemmnisse aus abweichenden staatlichen Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften oder an die Subventionskontrolle im GATT bzw. den freien Markteintritt für Dienstleistungen und die im Vorschlag ebenfalls eingeschlossenen Faktoren. Ein Klagerecht Privater bei einer internationalen Behörde auf Abänderung nationaler Rechtsnormen wird dem Völkerrechtler einiges Bauchweh verursachen. Ob das Prinzip der „positive comity" das heutige Auswirkungsprinzip, teilweise ergänzt durch bilaterale Kooperationsabkommen, tatsächlich ersetzen kann und einen ausreichenden Schutz vor strategisch eingesetzter Wettbewerbspolitik bietet, würde vermutlich von den meisten Praktikern internationaler Wettbewerbspolitik bezweifelt. Ob man im Wettbewerbsrecht bei

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der Beurteilung konkreter Fälle auf eine „rule of reason" verzichten kann, ist überdies fraglich. Diese Bemerkungen sollen den Wert der Arbeit nicht schmälern. Diese bleibt eine sorgfältig begründete Stellungnahme fur eine internationale Wettbewerbsordnung, die sich vor allem an Staaten wendet und auf direkte wettbewerbspolitische Eingriffe in Märkte verzichtet. Wie eine solche Ordnung aber konkret in die politische und juristische Wirklichkeit umzusetzen ist, braucht noch umfangreicher weiterer Abklärung. Es ist ein Qualitätsmerkmal guter Forschung, daß sie ebenso viele Fragen öffnet wie sie beantwortet, oder in der eigenen Sprache der Arbeit formuliert: Fortschritt in der Forschung erfolgt ebenfalls in evolutorischen Schritten und mit Wettbewerb als Entdekkungsverfahren.

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Wolfgang Maennig

Ein Marktprozeßansatz in der Analyse des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) - insbesondere bei Publikums-Immobilienfonds Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Alexander Oldenburg* Das deutsche Investmentrecht war in den letzten Dekaden häufigen Änderungen unterworfen. Zuletzt hat das 3. FinanzmarktfÖrdergesetz mit Wirkung zum April 1998 deutliche Änderungen herbeigeführt. Das anstehende 4. Finanzmarkfordergesetz (es wird wohl nicht das letzte bleiben), die notwendigen weiteren Abstimmungsregelungen innerhalb der Europäischen Union, die weltweiten Neuordnungsbemühungen im Kapitalmarkt- und Bankenbereich („Basel Π") deuten an, daß solche Änderungen auch in der Zukunft zu erwarten sind und die Frage nach geeigneten Analysemethoden der Rechtsnormen aktuell bleiben wird. Alexander Oldenburg untersucht das Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) als ein Spezialgesetz innerhalb des deutschen Investmentrechts und konzentriert sich mit den Grundstücks-Sondervermögen auf eine der darin abgegrenzten Vermögenstypen. Daß solche Untersuchungen gesellschafts- und wirtschaftspolitisch sinnvoll sind, kann kaum bezweifelt werden. Allerdings sind die Zahlenangaben, mit denen dies von Alexander Oldenburg untermauert wird, recht knapp bemessen. Erwähnt wird, daß 1994 in 556 unter das KAGG fallenden Publikumsinvestmentfonds rund 229 Mrd. DM angelegt wurden, davon 52 Mrd. in 16 Grundstücks-Sondervermögen. Es wird geschätzt, daß knapp 1,2 % aller „Geldanlagen" privater Haushalte in Immobilienfonds investiert sind (S. 28). Jüngere Angaben oder gar Aussagen über die ex post-Renditen dieser Immobilienfonds wären hilfreich gewesen. Dies gilt einerseits vor dem Hintergrund der in den neunziger Jahren im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung dramatischen Entwicklung in den Volumina dieser Fonds - und der allerdings ebenso dramatischen Entwicklung ihrer Rentabilität. Diese nicht immer befriedigenden Marktergebnisse waren und sind wesentliche Triebkraft der Änderungen der Rechtsnormen. Die Arbeit bewegt sich auf einem sehr aktuellen Forschungsgebiet, was beispielsweise durch neue Lehrstühle für „Ökonomie des Rechts" und Graduiertenkollegs wie „Recht und Ökonomie" an deutschen Hochschulen dokumentiert wird. Allerdings teilt Alexander Oldenburg die Skepsis einiger Rechtswissenschaftler zu den üblichen Methoden der ökonomischen Analyse des Rechts (öAR). Er hält die verbreitete, von ihm als *

Alexander Oldenburg, Ein Marktprozeßansatz in der Analyse des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) - insbesondere bei Publikums-Immobilienfonds, Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts, Band 42, Duncker & Humblot, Berlin 1999, 359 Seiten.

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„Neoinstitutionalismus" bezeichnete, mikroökonomisch orientierte Analyse, die mit Kriterien und Theoremen wie der Paretianischen Optimalität, der Allokationseffinzienz und dem Coase-Theorem versucht, Rechtsgestaltungsaufgaben zu lösen, für problematisch. Alexander Oldenburg lehnt statt dessen seine Analyse an den von Dieter Schneider über einen längeren Zeitraum eklektisch entwickelten „Marktprozeßansatz" (in jüngster Zeit auch als „evolutorische Theorie der Unternehmung" bezeichnete Analysemethode) an. Er beschränkt sich auf eine Auswertung des deutschsprachigen Schrifttums und begründet dies damit, daß der Schneidersche Marktprozeßansatz im englischsprachigen Raum kein Vorbild (und vielleicht auch (zu) wenig Rezeption?, Anm. d. A.) hat, während die englischsprachige Literatur bereits anderweitig hinreichend rezipiert sei (S. 31). Beides, die sprachliche Einschränkungen und die enge Anlehnung an das Werk eines einzelnen - zugegebenermaßen anerkannten - Wissenschaftlers sind für Dissertationsprojekte inzwischen eher unüblich. Allerdings erscheint die zweite Eingrenzung durchaus interessant und ist vor dem Hintergrund des ohnehin großen Umfang der vorliegenden Arbeit, auf den noch zurück zu kommen ist, sogar begrüßenswert. Im Teil Β der Arbeit wird der Marktprozeßansatz in der ökonomischen Analyse des Rechts als bewußter Gegensatz zum üblichen „Neoinstitutionalismus" beschrieben. In der Interpretation von Alexander Oldenburg läßt sich zweiter dadurch charakterisieren, daß Abweichungen zwischen den Ergebnissen realer Märkte und denen des Modells vollkommener Konkurrenz als „Marktversagen" betrachtet werden. Das Modell werde somit zum Leitbild erhoben. Und Institutionen werden ausschließlich ausgehend vom neoklassischen Modell erklärt. Dies werde auch daran deutlich, daß im „Neoinstitutionalismus" die Institution Unternehmen nur aufgrund der mangelnden Funktionsfahigkeit der Märkte (Stichwort: Transaktionskostenansatz) bestünden (S. 40 f.). Dem Marktprozeßdenken hingegen sei zueigen, nicht in Konkurrenzgleichgewichten zu analysieren. Allerdings werde dies nicht einfach durch ein Ungleichgewichtsdenken ersetzt. Vielmehr werden „funktionale Abhängigkeiten zwischen den anbietenden und nachfragenden Marktteilnehmern ... negiert. Statt dessen werden die Handlungsfolgen auf den Märkten, die Marktprozesse in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt" (S. 43). Solche Marktprozesse sind allerdings „nur ein Element einer ,evolutorischen Einzelwirtschafistheorie der Institutionen', bei der der ,Ausübung von Untemehmerfunktionen' durch Marktteilnehmer eine zentrale Bedeutung zukommt". Marktprozeßdenken wird durch ein „Denken in Untemehmerfunktionen" konkretisiert, wobei der Begriff des Marktprozeßdenkens „mehrdeutig ist, da sie auch in nicht-evolutorischen Theorien verwendet wird" (alle Zitate S. 43). Nach Schneider kann die Aufgabe der einzelwirtschaftlichen Analyse des Rechts „als Suche nach Rechtssetzungen verstanden werden, die eine Wettbewerbsordnung nicht beeinträchtigen. ... Über Regeln zur Verbesserung der Allokation durch Marktprozesse und Marktzufuhrhandlungen ... hinaus sind zudem in einer Wettbewerbsordnung Regeln gerechten Verhaltens zu beachten. So schließt z.B. eine ökonomische Analyse des Steuerrechtes nicht nur dessen Entscheidungswirkungen ein, sondern auch die Probleme gleichmäßiger Besteuerung". Die Unterschiede zwischen Marktprozeßansatz und Neoinstitutionalismus liegen „insbesondere darin, wie die Ansätze Marktsachverhalte abbil-

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den und erklären und die Ableitung von Handlungsempfehlungen für reale Kapitalmärkte, etwa zur Rechtsgestaltung, erlauben" (S. 44). Schon an diesen wenigen Zitaten wird deutlich, daß Schneider und sein Marktprozeßansatz zum einen mit anderen Ambitionen und Zielsetzungen an die Analyse gehen sowie andere Zusammenhänge zu erkennen anstreben. Zum anderen wird deutlich, daß sie eine eigene Sprach- und Begriffswelt nutzen, die den Zugang erschweren. Der Hauptteil C, der 225 Seiten einnimmt, lautet „Analytischer Teil: Unternehmensprozesse bei Investmentimmoblienfonds als Anlageintermediäre". In einem wesentlichen Teil beschäftigt sich Alexander Oldenburg mit den Untemehmensregeln zur planmäßigen Zahlungsverteilung, wobei die Aufnahme und Aufgabe von Anteilen, die Ausschüttungsregelungen und die Besteuerung in großer Breite, angereichert durch Rechenbeispiele, behandelt wird. Im verbleibenden Teil werden die Untemehmensregeln zur Unsicherheitsreduktion bei der Vergabedurchführung besprochen, wobei insbesondere auf Regeln unter Ausklammerung von Problemen des Auftragshandelns sowie das verborgene Handeln und die Verfügungsrechtsverteilung bei Investment-Anlageintermediären eingegangen wird. Zu den wesentlichen Ergebnissen der Analyse gehört, daß die Vorherrschaft der Inventarkonzeption für die Anteilsbewertung als publizierter Rechenschaftsbestandteil und als Teilbemessungsgrundlage für Intermediärentgelte nachvollziehbar sei. Statt einer Aufwands- und Ertragsrechnung sind jedoch für eine Ergebnisquellenanalyse die Vermögensentwicklungsrechnungen den Kapitalgebern leichter zugänglich zu machen. Ausschüttungsregelungen sind unentbehrlich, und die KAGG-spezifischen Besteuerungsregeln sollten von der Ergebnisverwendung unabhängig gestaltet werden. Eine einheitliche Rechnungslegung erscheint entbehrlich. Allerdings wird bemängelt, daß das KAGG den KAG für ihre Sondervermögen und den Kapitalgebem keine Anweisung erteilt, sich an den kaufmännischen Regeln der §§ 238ff. HGB zu orientieren. Wesentliches Ergebnis ist jedoch, daß „die Gestaltungsvorschläge für Finanzierungsverträge bei kollektiver Vermögensverwaltung maßgeblich von der zugrundegelegten Zielvorstellung eines funktionsfähigen Kapitalmarktes bzw. dem implizit hiermit verbundenen mikroökonomischen Instrumentarium determiniert werden" (S. 312). Mit Hilfe der Marktprozeßanalyse ist darüber hinaus eine eindeutige Gesamtbeurteilung des KAGG nicht möglich, weil offenbleibe, ob gesetzliche Regelungen vertraglichen Regelungen überlegen seien. Es ist ausdrücklich zu würdigen, daß auch ein solches Nichtergebnis (bzw. bedingtes Ergebnis) ein Ergebnis in wissenschaftlicher Sicht ist. Allerdings ist es kein leichtes Unterfangen, dem Autor über 312 eng gedruckten Seiten im Hauptteil zuzüglich 47 Seiten Glossar, Berechnungsbeispielen, Auszügen aus Mustervertragsbedingungen, Literaturverzeichnis und insgesamt rund 1200 Fußnoten bis zu diesen Ergebnissen zu folgen.

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Engelbert Theurl

Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat Anmerkungen zu dem von Winfried Schmäh! herausgegebenen Buch mit dem gleichen Titel Nahezu weltweit werden derzeit die Systeme der Sozialen Sicherung einer Eignungsprüfung unterzogen. Dies geschieht aus höchst unterschiedlichen Motiven. Entwicklungs- und Schwellenländer sind dabei, die im Zuge des ökonomischen Entwicklungsprozesses an Bedeutung verlierenden traditionellen Systeme der Risikovorsorge durch neue Absicherungsmechanismen zu ersetzen. Den Staaten des ehemaligen RGWRaumes stellte/stellt sich im Sinne der Euckenschen These von der (horizontalen) Interdependenz der Ordnungen die Aufgabe, eine fundamental geänderte Wirtschaftsordnung durch eine geänderte Sozialordnung abzustützen und damit den vergrößerten Varianzen in den ökonomischen Chancen und Risiken adäquat zu begegnen. Auch die etablierten Industriestaaten sehen sich einer Kumulation von Entwicklungen gegenüber, die die Absicherung von Lebensrisiken erschwert. Der Anstieg der Lebenserwartung und der Rückgang der Reproduktionsraten werden mittelfristig zu einer markanten Veränderung der demographischen Relationen fuhren. Durch die starke Abhängigkeit der Absicherungssysteme für Krankheit und Alter von der Generationenstruktur über ein lohnbasiertes Umlageverfahren ergeben sich daraus gravierende Ungleichgewichte. Verstärkt werden diese durch die Änderung jenes Familienbildes, auf dem diese Sicherungssysteme fußen - Kemfamilie, Alleinverdienerhaushalt, stabile Familienstrukturen - , durch Änderungen in der Berufsstruktur und durch Änderungen in der internationalen Struktur der Wirtschaft. Letztere wurzelt einerseits im Abbau verschiedener internationaler Austauschhemmnisse und andererseits in den technologischen Veränderungen der „Inhalte des internationalen Handels". Ein zunehmender Teil der ökonomischen Aktivitäten wird entmaterialisiert. Sinkende Transport- und Transaktionskosten und die dadurch induzierte Aufspaltung des Funktionsbündels „Unternehmung" in einzelne Transaktionen lassen die Unterschiede in den Rahmenbedingungen von Wirtschaftsräumen, also von sozioökonomisch und nicht politisch-territorial abgegrenzten Subeinheiten des Nationalstaates, deutlicher hervortreten als dies bislang der Fall war. Die Kapazität eines Landes, ein eigenständiges sozialpolitisches Regime aufrechtzuerhalten, wird reduziert. Der Strukturwandel erhöht gleichzeitig die Notwendigkeit der sozialen Absicherung und schafft damit für die Sozialpolitik Dilemmasituationen. Es ist nicht überraschend, daß in dieser sozialökonomischen Gesamtkonstellation die Frage der ordnungspolitischen Gestaltung der Systeme der Sozialen Sicherung von her*

Winfried Schmäh! (Hrsg.), Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 275, Berlin 2000, 346 Seiten.

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ausragendem Interesse ist. Diesem Umstand hat der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes Winfried Schmähl Rechnung getragen und die soziale Sicherung in den Spannungsbogen von Markt und Staat gestellt. Gleichzeitig signalisiert der Titel auch die besondere Bedeutung der intermediären Organisationen im Aufgabenfeld Sozialer Sicherung. Die in diesem Sammelband veröffentlichten Beiträge beruhen auf überarbeiteten Referaten und Korreferaten, die auf der Tagimg des Ausschusses für Sozialpolitik des Verein für Socialpolitik im September 1998 in Frankfurt (Oder), im Mai 1999 in Kloster Banz und im September 1999 in Wien vorgetragen wurden. Aus der Publikation geht (leider) nicht hervor, welche Beiträge auf welchen Sitzungen des sozialpolitischen Ausschusses diskutiert wurden. In einer groben Klassifikation enthält der Sammelband: - Zwei Beiträge, die sich mit methodisch-konzeptionellen Fragen der sozialen Sicherheit auseinandersetzen. Es ist dies der Beitrag von Holzmann und Jorgensen, der eine Neufundierung der sozialen Sicherheit im Rahmen des Konzeptes eines „Sozialen Risikomanagements" zum Gegenstand hat. Im weiteren ist der Beitrag von Antonin Wagner, der methodische und theoriekritische Anmerkungen zum Forschungszweig „Dritter Sektor" beinhaltet, dieser Kategorie zuzuordnen. - Fünf Beiträge, in denen das Spannungsfeld Markt - Staat in unterschiedlichen Bereichen der sozialen Sicherung thematisiert wird. Dabei beleuchtet Wasem einen Teilaspekt der Neuordnung der Absicherang des Pflegerisikos in Deutschland. Althammer vergleicht im Rahmen einer portfoliotheoretischen Analyse die optimale Kombination von umlagefinanzierten und kapitalfundierten Alterssicherungssystemen. Eisen widmet sich der Privatisierung der Alterssicherung in Chile. Ott analysiert die haushaltsnahen Dienstleistungen im „institutional choice" von Markt, Staat und Eigenproduktion. Kreyenfeld und Wagner erörtern die Zusammenarbeit von Staat und Markt im Rahmen der Kinderbetreuung. - Drei Beiträge, die sich nicht eindeutig in die beiden obigen Kategorien einordnen lassen. Schulz-Nieswandt beleuchtet den Krankenhaussektor in Deutschland in seinem institutionellen und leistungsrechtlichen Strukturwandel. Frick analysiert die Anreizwirkungen betrieblicher Sozialleistungen. Breyer und Engel widmen sich der Frage, wie eine bedarfsbezogene Vergütung von Leistungen für Behinderte umgesetzt werden könnte. Diese Aufstellung zeigt, daß der Sammelband den Titel 'Markt - Staat1 zu Recht trägt. Angesichts der inhaltlichen und methodischen Heterogenität der Beiträge erscheint ein Gesamturteil des Sammelbandes wenig informativ. Daher sollen in der Folge nur ausgewählte Beiträge gewürdigt werden. Holzmann und Jorgensen legen ihrem Beitrag „Soziales Risikomanagement" folgende Definition von sozialer Sicherheit1 zugrunde: „Soziale Sicherheit (wird definiert) als öffentliche Eingriffe, um (i) Individuen, Haushalten und Gemeinschaften beim Umgang mit (Einkommens-)Risiken zu helfen; und (ii) die von akuter Armut betroffenen Menschen zu unterstützen" (S. 11 f.). Soziales Risikomanagement hat die Aufgabe diesen Risiken effizient zu begegnen. Dies kann auf dreierlei Weise geschehen: durch eine Re1 Der Ausdruck soziale Sicherung wäre gegenüber dem Ausdruck soziale Sicherheit wohl eindeutig zu präferieren.

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duktion der Verletzlichkeit für exogene Schocks, durch die Glättung von Konsumpfaden bzw. genauer durch den Ausgleich der Divergenzen von Einkommens- und Konsumpfaden und durch Maßnahmen zur Erhöhung der Chancen- und Ergebnisgleichheit. Die von Holzmann und Jorgensen gewählte Definition der sozialen Sicherheit geht deutlich über den Begriffsinhalt und die Instrumente von sozialer Sicherheit im herkömmlichen Verständnis hinaus. So werden üblicherweise viele Bereiche der Risikoprävention, wie eine gute makroökonomische Politik oder Infrastrukturmaßnahmen, welche beispielsweise die Verletzlichkeit für exogene Schocks mindern bzw. die Konsumpfade glätten, nicht der sozialen Sicherheit zugerechnet. Die vorgelegte Konzeption von sozialer Sicherheit soll mehreren Anforderungen genügen. Sie soll vom sozialpolitischen Standpunkt aus die wichtigsten Anliegen der Wohlfahrtsverbesserung erfassen. Sie soll vom entwicklungspolitischen Standpunkt aus einen vereinheitlichten Rahmen für die Analyse bieten. Methodisch soll der Rahmen universell - d. h. zeit- und raumunabhängig sein. Von einem operativen Standpunkt aus sollte der neue konzeptionelle Rahmen eine bessere Programmimplementierung ermöglichen. Die Autoren - beleuchten im weiteren sehr kurz die Frage der Informationsverteilung für das Risikomanagement (Moral Hazard, Adverse Selection), - erörtern verschiedene Formen der Kategorisierung von Risiken (idiosynkratische vs. kovariante Risiken, singulare vs. wiederholte Risiken, katastrophale vs. nichtkatastrophale Risiken), - machen Vorschläge für die Messung der Zielsetzungen des sozialen Risikomanagements, differenziert nach Einkommensgrupppen, - diskutieren unterschiedliche Risikostrategien (Präventionsstrategien, Ausgleichsstrategien, Bewältigungsstrategien), - unterscheiden Risikomanagement-Arrangements nach ihrer Formalität (informelle Arrangements, marktbestimmte Arrangements, staatlich vorgeschriebene Arrangements und - analysieren die Rolle verschiedener Akteure im Rahmen des Sozialen Risikomanagements. Aus der Aufzählung wird deutlich, daß der Beitrag insgesamt sehr stark kategorisierend und systematisierend ist. Die Frage, welche Strategien des Risikomanagements optimal sind, bleibt damit letztlich unbeantwortet. Dies ist kein gravierender Kritikpunkt, weil sich das Papier als konzeptives versteht. Viel schwerwiegender erscheint dem Rezensenten die Tatsache, daß die Anwendung des Konzepts des Risikomanagements auf soziale Risiken nur teilweise gelingt und damit das analytische Instrumentarium nur unzureichend genutzt wird. Eine konsequente Anwendung sollte m. E. wie folgt aufgebaut sein.2 Jedes Individuum hat ökonomisch gesehen drei Aktiva: Gesundheit, Vermögen, Fähigkeiten. Das Individuum sieht sich dem Risiko (negativer) Schwankungen dieser seiner Aktivbestände ausgesetzt. Die Impulse für diese Schwankungen gehen von sozialen Risiken wie Krankheit, Alter, Tod, Unfall, Arbeitslosigkeit etc. aus. Die Aktiva schwanken unter dem Einfluß dieser Impulse, und die Varianz stellt das eigentli2 Vgl. für eine ausführliche Darstellung auch Zweifel, Peter et al. (1996), Soziale Sicherung von Morgen: Ein Vorschlag für die Schweiz, Bern.

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che Risiko dar. Die individuellen Aktiva können damit als Portfolio aufgefaßt werden. Ziel der sozialen Sicherung ist die Optimierung dieses Portfolios. Diese Optimierung setzt eine positive Analyse der Wirkungszusammenhänge voraus. Um die Varianz der Aktiva zu bestimmen, ist es dabei sinnvoll, schrittweise vorzugehen. In einem ersten Schritt sind die vermuteten Korrelationen zwischen den Impulsen abzuschätzen. In einem zweiten Schritt gilt es die vermuteten Wirkungen der Impulse auf die Aktivitäten zu bestimmen. Schließlich sind in einem dritten Schritt die Korrelationen zwischen den Aktiva herzustellen. Auf Basis dieser Informationen lassen sich dann Risikomanagementstrategien ableiten. Diese Vorgangsweise erlaubt es auch, sozialpolitisch besonders relevante (negative) Teufelskreise zu identifizieren und die sozialpolitischen Arrangements so auszugestalten, daß ebendiese vermieden bzw. abgeschwächt werden. Antonin Wagner setzt sich im zweiten konzeptionellen Beitrag dieses Sammelbandes mit dem „Dritten Sektor" auseinander. Dieser Beitrag ist sehr umfassend angelegt. Das der Arbeit zugrunde liegende Forschungsverständnis wird interessanterweise erst in der Schlußbetrachtung formuliert: Es sind die beiden Postulate der Interdisziplinarität und der programmatischen Relevanz, wobei allerdings die Verbindung der beiden Postulate zu den Ausführungen des Beitrages nicht immer ganz offensichtlich ist. Klar ist aber, daß sich der Autor der Denktradition der Neuen Institutionellen Ökonomik, die in der Analyse dieses Sektors mittlerweile einen wichtigen Stellenwert hat, keinesfalls verpflichtet fühlt. In einem ersten Schritt wird auf normative und deskriptive Konzepte der vergleichenden Forschung von Nonprofit-Organisationen eingegangen. Im Rahmen der normativen Erfassungskonzepte wird keine eigenständige Abgrenzung dieses Begriffes durch den Autor gegeben, vielmehr wird die Diskussion um den Begriff „Economie Sociale" in Frankreich und in der EU nachgezeichnet. Dem stellt der Autor den „Dritten Sektor" als deskriptives Erfassungskonzept gegenüber. Im Vordergrund steht dabei die Erfassung des „Dritten Sektors" in der Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Dabei werden die Entscheidungsregeln des SNA93 für die sektorelle Zuteilung von Nonprofit-Organisationen ausführlich dargestellt. Wie in anderen Sektoren, zeigt sich auch im „Dritten Sektor", daß der Rahmen einer aggregierten VGR für die Erfassung dieses Sektors zu wenig detailliert ist. Deswegen wird in einem nächsten Schritt ein Satellitenkonto erstellt. Dieses Satellitenkonto nimmt eine Differenzierung nach der International Classification of Nonprofit Organizations (ICNPO) in Funktionsbereiche (z.B. Freizeit, Kultur, Sport, Gesundheit, etc.) vor. Diese Satellitenkonten werden dann beispielhaft für die Schweiz an Hand von ausgewählten ökonomischen Transaktionen (Wertschöpfung, Einkommensverwendung) und für ausgewählte Bereiche (Dritter Sektor insgesamt, Subsektor Sozialwesen) mit Daten gefüllt. Aufbauend auf diesem deskriptiven Teil, stehen im abschließenden Teil zwei Fragen im Vordergrund: - Welche gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren erklären die international unterschiedliche Branchenstruktur im Dritten Sektor? - Wie kann die Arbeitsteilung zwischen dem öffentlichen Sektor und NonprofitOrganisationen erklärt werden? Zur ersten Frage wird eine Darstellung der Branchenstruktur in unterschiedlichen Ländern an Hand des Beschäftigtenanteils präsentiert. Für die Schweiz werden für ein-

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zelne Branchen Erklärungen für die Beschäftigtenstruktur gegeben, eine empirische Analyse der Determinanten der Beschäftigtenstruktur erfolgt nicht. Ausfuhrlicher wird die zweite Frage der Arbeitsteilung von öffentlichem und Drittem Sektor analysiert. Den im „John Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project" aufgestellten konkurrierenden Thesen der Existenz von Substitutions- bzw. von Interdependenzbeziehungen und den dort präsentierten (unbefriedigenden) empirischen Schätzungen wird die These vom „social origin" der Institutionenbildung gegenübergestellt. Demnach ist das Staatsverständnis (jakobinisch vs. korporatistisch) und die Staatstruktur (zentralistisch vs. föderalistisch) für die Stellung des Dritten Sektors von großer Bedeutung. Mit Hilfe dieser Matrix wird die Entwicklung des Dritten Sektors in Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz in verschiedenen historischen Phasen eingeordnet, wenngleich nicht wirklich erklärt. Die steigende Lebenserwartung und die Verschiebungen der Altersstruktur der Bevölkerung haben in den letzten Jahren das Risiko der Pflegebedürftigkeit von einem Randrisiko zu einem Normalrisiko transformiert. Die einzelnen Länder haben auf diese Entwicklung mit einer Neuordnung der Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit reagiert, wobei unterschiedliche ordnungspolitische Regime gewählt wurden. Der in Deutschland - nach 25-jähriger Diskussion im Jahre 1994 als politischer Kompromiß zwischen den Befürworter einer gesetzlichen Pflegeversicherung nach dem Vorbild der Sozialversicherung und den Befürwortern eines privatwirtschaftlichen Versicherungsmodells - realisierte Vorschlag folgt dem Prinzip „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung". Dies bedeutet, daß für die in der Gesetzlichen Krankenversicherung Krankenversicherten diese auch in der Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit zuständig ist, während Krankenversicherte in der Privaten Krankenversicherung eine Pflegeversicherung im Rahmen der Privaten Krankenversicherung abzuschließen haben. Der Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos für diese Bevölkerungsgruppe (ca. 10 % der Bevölkerung) widmet sich Wasem. Der Beitrag behandelt in einem ersten Teil wichtige Dimensionen der Ausgestaltung des neuen Modells und nimmt im zweiten Teil eine Bewertung unter allokativen und distributiven Aspekten vor. Wichtige Charakteristiken in der Ausgestaltung des neuen Modells sind: die Versicherungspflicht, der Kontrahierungszwang, die gesetzliche Vorgabe des Leistungspaketes, die Dominanz des Kostenerstattungsprinzips, weitgehende staatliche Vorgaben in der Tarifierung der Beiträge (z.B. kein Ausschluß von Vorerkrankungen, keine Staffelung der Prämien nach dem Gesundheitszustand (bei bestehenden Verträgen), keine Prämienstaffelung nach dem Geschlecht, die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder, die Einfuhrung einer Beitragsobergrenze). Diese (sehr weitgehenden) staatlichen Regulierungen machen es auch notwendig, Regeln für die Beitragskalkulation und für den Risikoausgleich zwischen den Unternehmen festzulegen. Diese Regelungen werden von Wasem äußerst anschaulich und klar dargestellt. Daran schließt sich eine Einschätzung der Neuordnung aus allokativ-ordnungspolitischer und distributiver Sicht an. Diese Einordnung - dies macht auch das Korreferat von Eisen3 klar - hängt von den Referenzkriterien und den 3 Während Wasem von einem "innovativen" Instrument bzw. von einer echten "Innovation" spricht, attestiert Eisen der Neuregelung das Attribut "Mißgeburt".

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gewünschten Stoßrichtungen der Reform ab. Aus der Sicht einer stärker privatwirtschaftlichen Orientierung können der identische Leistungskatalog, das Fehlen wettbewerblicher Regelungen zwischen den Leistungserbringern, der fehlende Prämienwettbewerb, falsche Anreize im Risikostrukturausgleich und der zu wenig konsequente Umstieg auf ein Kapitaldeckungsverfahren kritisiert werden. Der Frage der optimalen Kombination von umlagefinanzierter und kapitalfundierter Alterssicherung in einer portfoliotheoretischen Analyse widmet sich Althammer. Ausgangspunkt des Beitrages von Althammer ist die Feststellung, daß in der vorherrschenden ökonomischen Meinung ein partieller Übergang vom Umlage- zum Kapitaldekkungsverfahren zumeist ohnedies nur als eine Second Best-Lösung angesehen wird, da das Umlageverfahren deutlich niedrigere Renditen und damit bei identischem Leistungsniveau niedrigere Beitragszahlungen erfordert und so einen „excess burden" erzeugt. Sozialpolitische Empfehlungen auf dem Renditenvergleich sind zudem angreifbar, da sie auf einem weitgehend deterministischen Vergleich beruhen und keine explizite Risikoanalyse beinhalten. Schließlich sind Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren keineswegs antagonistische Finanzierungsverfahren, und es stellt sich damit insgesamt die Frage, ob aus portfoliotheoretischer Sicht nicht eine Kombination der beiden Verfahren zu Pareto-superioren Lösungen führen könnte. Im Aufbau des Beitrages wird zuerst die Eignung des Effizienzkriteriums als Diskriminierungskriterium zwischen den Finanzierungsverfahren kritisch beleuchtet und eine Synopse der empirischen Abschätzung der internen Renditen von Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren vorgenommen. Den Kem der Arbeit stellt die portfoliotheoretische Analyse der Finanzierungsverfahren dar. Dazu wird das Effizienzkriterium entsprechend umformuliert, als statistische Dominanz interpretiert, und im weiteren werden die Bedingungen für das optimale Mischungsverhältnis abgeleitet. Eine erste empirische Abschätzung ergibt, daß die Renditen im Kapitaldeckungsverfahren eine höhere Standardabweichung aufweisen. Weiters zeigt sich, daß die beiden Finanzierungsverfahren negativ miteinander korreliert sind, so daß der dadurch ermöglichte Diversifikationseffekt eine erhebliche Bandbreite an MarfcovWte-effizienter Mischsysteme zuläßt. Der Beitrag von Althammer stellt insgesamt eine wesentliche Bereicherung dieses Sammelwerkes dar. Mit einem konkreten Beispiel der Umstellung des Rentensystems setzt sich Eisen in seinem Beitrag über „Das Modell Chile" auseinander. Der Autor gibt einleitend eine Kategorisierung der Privatisierungsformen und -typen und bringt dazu Länderbeispiele. Im weiteren werden zehn Gründe für die Privatisierung der Rentenversicherung, die allerdings nicht aus einem geschlossenen Modell abgeleitet werden, präsentiert. Die Rentenreform in Chile war Bestandteil einer umfassenden Neuorientierung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Im Zentrum der Reform steht ein privatisierter Pflichtsparplan, der von privaten Pensionsfonds verwaltet wird, gekoppelt mit einem Markt für indexierte Annuitäten zur Konversion von Kapitalansammlungen in Ruhestandseinkommen. Nach einer kurzen Darstellung der wichtigsten Elemente der Rentenreform unterzieht Eisen dieselbe einer ökonomischen Evaluierung. Dabei werden sowohl makroökonomische, als auch verteilungspolitische, nicht aber risikopolitische Aspekte herangezogen. Aus makroökonomischer Sicht werden der Konnex zwischen Wachstum, Kapitalbildung und Zins, die Ertragsraten der verschiedenen Systeme und die Konse-

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quenzen für die Kapitalmärkte untersucht. In der sozialpolitischen Betrachtung stehen Fragen der inter- und intragenerationalen Last- bzw. Risikoverteilung im Vordergrund. Dabei werden in erster Linie die relevanten Problemfelder aufgezeigt, eine empirische Überprüfung erfolgt nur teilweise. Ausgangspunkt des Beitrages von Ott „Haushaltsnahe Dienstleistungen zwischen Markt, Staat und Eigenproduktion" ist die Anmerkung, daß dieser Sektor als „Entdekkung" gesehen wird. Einerseits erhofft man sich von diesem Bereich einen Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems, andererseits soll durch eine Angebotsvielfalt eine möglichst bedarfsgerechte Leistungserbringung gewährleistet werden. Ott kritisiert daran, daß die Perspektive dabei ausschließlich angebotsorientiert sei. Dem wird ein nachfrageorientiertes Modell gegenübergestellt. In einem ersten Schritt wird in einem mikroökonomischen Kalkül, in dem der Haushalt als die Entscheidungseinheit angesehen wird, die Frage beantwortet, in welchem Ausmaß der Haushalt haushaltsnahe Dienstleistungen in Eigenproduktion bereitstellt oder externe, d. h. über den Markt vermittelte Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Aus dem verwendeten Gronau-Modell wird das Ergebnis abgeleitet, daß die Nachfrage nach haushaltsnahen Dienstleistungen am Markt um so größer ist, je höher der Lohnsatz und damit die Opportunitätskosten der Zeit, je niedriger der Preis des Marktgutes und damit der reale Wert des Lohnes und je geringer die Produktivität bei Produktion im Haushalt ist. In diesem Modellrahmen werden Hypothesen über die Wirkung einer Einkommensteuer abgeleitet. Im weiteren werden auf Basis der einkommensteuerlichen Regelung in Deutschland für unterschiedliche Einkommenshöhen und unterschiedliche intrafamiliäre Einkommenskonstellationen Angaben für die steuerbedingte Preisverzerrung zwischen Markt und Haushaltsgütern gemacht. Diese theoretischen Ergebnisse werden dann kurz mit der empirischen Situation des haushaltsnahen Dienstleistungssektors in Deutschland verglichen. In beiden Fällen ortet Ott eine Tendenz zur suboptimalen Ausbildung von Märkten für haushaltsnahe Dienstleistungen. Auf Basis dieses Befundes werden verschiedene Antworten auf die sich daraus ergebenden sozialpolitischen Herausforderungen diskutiert. Im Zentrum der Analyse stehen die Effekte einer Versicherung für hauswirtschaftliche Dienste. Für verschiedene Personentypen (Typ A: Hilfsbedürftige, Typ B: Anbieter von informeller Hilfe, Typ C: „normale" Anbieter von Arbeit) wird auf Basis eines mikroökonomischen Modells analysiert, wie ein unterschiedlicher Mix von Geld- und Sachleistungen der Versicherung wirkt. Aus der Analyse - und dies macht diesen Beitrag äußerst lesenswert - ergeben sich zum Teil überraschende Einsichten in die optimale Kombination von Geld- und Sachleistungen. Mit den Anreizwirkungen betrieblicher Sozialleistungen setzt sich der Beitrag von Frick auseinander. Die Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich ist ziemliches Neuland, sozial- und arbeitsmarktpolitisch äußerst aktuell und zudem theoretisch und empirisch relativ domig. Allein aus dieser Sicht sind der Beitrag von Frick und weitere Forschung auf diesem Gebiet zu begrüßen. In einem ersten Schritt wird der Versuch unternommen, das Phänomen „Betriebliche Sozialleistungen" für Deutschland, Großbritannien und Australien in den Griff zu bekommen. Dabei zeigen sich sowohl hinsichtlich des Niveaus als auch hinsichtlich der Art bzw. Empfanger deutliche Unterschiede. In einem nächsten Schritt wird die Motivation der Unternehmung zur Gewährung von

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betrieblichen Sozialleistungen analysiert, wobei hier die Entgeltsubstitutionsthese und die Motivationsthese im Vordergrund stehen. Hier sei angemerkt, daß die neueren Theorien der Lohnbildung noch tiefere Einsichten ermöglichen könnten. Diese beiden Thesen werden im weiteren einer empirischen Analyse auf Basis von Querschnittsdaten unterzogen. Wie Frick selber anmerkt, ist diese Datenbasis fur die Untersuchung der formulierten Hypothesen nur sehr bedingt geeignet. Ebenso unstrittig dürfte allerdings auch die Behauptung sein, daß die Anforderungen an das für eine „idealtypische empirische Untersuchimg erforderlich Datenmaterial vermutlich prohibitiv hoch sind" (S. 212). Der vorliegende Sammelband deckt ein breites Spektrum an Themen zur sozialen Sicherung ab. Erfreulich ist, daß dabei zahlreiche Fragestellungen aufgegriffen wurden, die sozialpolitisch äußerst aktuell sind, in der deutschsprachigen sozialökonomischen Forschung aber bisher sowohl in der theoretischen Fundierung als auch in der empirischen Erfassung eher stiefmütterlich behandelt wurden. Das Spannungsfeld im methodischen Zugang, welches in den Beiträgen deutlich zum Ausdruck kommt, ist wohl Ausdruck der Auseinandersetzung zwischen einer deutschen Tradition der Sozialpolitik und den (immer zahlreicher werdenden) Vertretern einer mikroökonomisch fundierten Sozialökonomik.

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Jürgen Zerth

Der Markt der Tugend Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Michael Baurmann* Auch wenn in der ersten Auflage bereits 1996 erschienen, verleitet das Buch von Michael Baurmann „Der Markt der Tugend" allein durch den Titel zu einer ausfuhrlichen Auseinandersetzung. Das vorrangige Ziel Baurmanns liegt nicht etwa darin, grundsätzlich über das Verhältnis von Moral und Ökonomie zu schreiben und sich damit in die vielfältig vorhandenen Werke der Wirtschaftsethik einzureihen, sondern es geht Baurmann explizit darum, die Vision des Liberalismus zu untersuchen, nach der es eine Harmonie zwischen Wohlstand, Freiheit und Moral geben kann, obwohl die einzelnen Bürger selbstinteressierte Akteure sind, die nach dem Rationalitätsprinzip handeln. Diesem klassischen Bild einer liberalen Idee des „doux commerce" (S. 11) stellt Baurmann grob zwei Richtungen der Kritik entgegen. Nach dem Kommunitarismus wird im klassischen Liberalismus die Bedeutung des Individuums auf Kosten der Gemeinschaft „überbetont". Der Autor trennt dabei die Kritik des Kommunitarismus in seine Begründungsebenen. Auf der institutionellen Ebene setzt der Kommunitarismus an der Atomisierung der Gesellschaft an, nach der jeder unabhängig von sozialen Bindungen, d. h. von moralischen Werten, seinen Zielen nachkommt. Dies führe auch zur Unfähigkeit des einzelnen, ethisch verbindliche Werte zu generieren. Die zweite Kritikrichtung nennt Baurmann immanent und lehnt seine Argumentation an der Dilemmaproblematik an. Er wählt als Untersuchungsgegenstand den Rechtsstaat in der Tradition eines Rechtsund Verfassungsstaates (S. 35). Darauf aufbauend will er diesen Rechtsstaat im ersten Teil seiner Untersuchung unter soziologischen Methoden analysieren, um im zweiten Teil zur ökonomischen Betrachtungsweise des Rechtsstaates zu kommen. Als Ergebnis seiner soziologischen Untersuchung gelangt Baurmann zum Schluß, daß für die Erklärung bestimmter „normorientierter Handlungsweisen", die für die Existenz sozialer Ordnungen eine Rolle spielen, auf andere Handlungsweisen bzw. „höherstufige Normen" Bezug genommen werden muß (S. 121). Aus dieser Betrachtungsweise heraus konstituiert sich jede Rechtsordnung aus dem Zusammenspiel von Zwang und Ausübung von Gewalt. Die moralische Qualität einer Gesellschaftsordnung macht Baurmann indirekt an der Konstruktion des Rechtsstaates fest und umgeht somit die problematische Auseinandersetzung um Inhalt und Grenzen von Moral und einer moralischen Ordnung, die ohne einen explizit gefaßten Referenzmaßstab sehr leicht in die Beliebigkeit abgleiten kann. Moral bedeutet im Sinne der Analyse, daß alle Normadressaten die rechtsstaatli*

Michael Baurmann, Der Markt der Tugend: Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft - eine soziologische Untersuchung, Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Band 91, Studienausgabe der Aufl. von 1996, Tübingen, Verlag Mohr Siebeck 2000, 681 Seiten.

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che Rechtsordnung auch ohne ausschließlich nutzenmaximierende Verhaltenshypothese einzuhalten gedenken. In einer Gesellschaft muß zwischen Norminteressenten und Normgebern unterschieden werden, wobei im Rechtsstaat insbesondere die Normgeber gleichzeitig auch Norminteressenten und Normadressaten sind, d. h. gleichzeitig wie alle anderen Norminteressenten unter der Herrschaft des Gesetzes stehen müssen. Die besondere Schwierigkeit liegt darin zu begründen, warum diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die prima facie über die nötigen Machtmittel verfugen, Normen nach ihrem persönlichen Belieben durchzusetzen, sich freiwillig in einem Rechtsstaat Normen unterwerfen, die gerade denjenigen zugute kommen, die keine vergleichbaren Machtmittel zur Verfugimg haben. In Anlehnung am Erklärungsversuch Harts spricht Baurmann vom Paradox des Rechtsstaats. Nach dieser Idee kommt eine stabile Existenz einer rechtsstaatlichen Ordnung nur zustande, wenn ein gewisser „interner Standpunkt" gegenüber den Normen einer Rechtsordnung eingenommen worden ist (S. 124). Der zweite Teil wendet sich der ökonomischen Erklärung zu, wobei explizit an der Vorstellung eines Homo oeconomicus angesetzt wird. Der Homo oeconomicus wird in der Vorgehensweise Baurmanns als rationaler Nutzenmaximierer beschrieben (S. 130), fur den nur die Folgen, die sein Handeln im konkreten Einzelfall für seine Interessen und Wünsche hat, von Interesse sind. Die im ersten Teil herausgearbeitete Unterscheidung zwischen Norminteressent und Normgeber ist für den Homo oeconomicus zu klären. Baurmann differenziert dabei weiter, ob Normen Handlungsweisen zum Gegenstand haben, die vor allem in der direkten Beziehung zwischen einzelnen Personen relevant sind (Interpersonalitätsnormen) und ihre individuellen Güter tangieren, oder Handlungsweisen, die persönliche Auswirkungen erst über den „Umweg" (S. 141) der Beeinträchtigung oder Förderung kollektiver Güter erzeugen (Fairneßnormen). Eine am Homo oeconomicus-Modell orientierte ökonomische Theorie kollidiert mit der Theorie des Rechtsstaates, weil die Entscheidungsmodellierung daran scheitert, „Macht und ihre Ausübung mit der Geltung von Normen zu erklären" (S. 273). In einer ökonomischen Welt des Homo oeconomicus kann es nicht gelingen, wie beispielsweise die Bürokratietheorie oder auch die Ansätze der politischen Ökonomie (Frey 1980) herausgearbeitet haben, die normative Bestimmung über die Verwendung eines staatlichen Zwangsapparates von der tatsächlichen Verfugung über diesen Apparat zu lösen. Mit anderen Worten muß Baurmann bei konsequenter Anwendung des situationsgebundenen Rationalkalküls eine Ausnutzung vorhandener Machtpositionen zu Rent seeking-Aktivitäten unterstellen. Das Paradox des Rechtsstaates bleibt ungelöst, weil zur Erklärung „freiwilliger Kooperation" eine Moral benötigt wird, die eine „dauerhafte Normkonformität" (S. 275) ermöglicht. In Teil drei des Buches greift Baurmann diese Problematik wieder auf und setzt an einem reformierten Homo oeconomicus an, um die Frage neu zu beantworten, ob es einen Widerspruch zwischen einer interessendominierten, ökonomischen Verhaltensorientierung und der Existenz und Stabilität eines Rechtsstaates gibt. Die Begründung seines reformierten Homo oeconomicus, den er im weiteren Verlauf schlicht „Homo sapiens" nennt, leitet Baurmann aus der notwendigen Berücksichtigung der Situations- und der Normorientierung durch Individuen ab, die sich letztendlich auf die Unterscheidung Max Webers zwischen Zweck- und Wertrationalität zurückfuhren läßt. Während der

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klassische Homo oeconomicus eine rein situationsbezogene Nutzenabwägung treffen muß, führt der Autor einen dispositionellen Nutzenmaximierer ein, der zwischen einer folgenorientierten oder einer normorientierten Handlungsweise wählen kann (S. 325). Damit wird es möglich, nicht nur Reziprozitätsmechanismen zu modellieren, sondern auch Reputationsmechanismen aufzuzeigen, was letztendlich die Implementierung einer historischen Erklärung zur Folge hat, wie auch Weise (1997) zeigt. Da der Homo oeconomicus die Situationsanalyse und die Handlungsanreize daraus nach seinen subjektiven Kosteneinschätzungen vornimmt, ist auch bei einem rational handelnden Homo oeconomicus die Adaption bisheriger erfolgsorientierter Strategien nicht zu vernachlässigen, soll die Aussagekraft des Homo oeconomicus nicht entleert werden. Auch Kirchgässner (2000, 289) weist darauf hin, daß eine Regelorientierung für den Homo oeconomicus sinnvoll erscheint, da in einer komplexen Welt niemals alle möglichen Konsequenzen des Handelns bekannt sein können, die aber wiederum Voraussetzung fur das Rationalhandlungskalkül des einzelnen sind. Baurmann kann ausgehend von diesen Annahmen ableiten, daß moralische Investitionen fur einen dispositionellen Nutzenmaximierer sinnvoll sind, insbesondere wenn in sozialen Netzwerken eine stabile und regelmäßige Befolgung von Normen zu erwarten ist. Eine normgebundene Verhaltensweise ist nach Baurmann (S. 347) für den dispositionellen Nutzenmaximierer rational, wenn - „..der Inhalt einer Norm eine Handlungsweise ist, deren Ausführung regelmäßig [kursiv im Originaltext], d. h. in jedem Einzelfall in seinem Interesse ist." - „..der Inhalt einer Norm eine Handlungsweise ist, deren Ausführung in der Regel [kursiv im Originaltext], d. h. in der Mehrzahl der Einzelfälle in seinem Interesse ist." - „..die Tatsache der Normbindung selber [kursiv im Originaltext] regelmäßig oder in der Regel in seinem Interesse ist." Jedoch ist daraufhinzuweisen, daß auch beim dispositionellen Nutzenmaximierer im Sinne Baurmanns die Durchführung einer normgebundenen Verhaltensweise von der Glaubwürdigkeit der Sanktion, d. h. von der Durchsetzung der Regeln, abhängig ist (S. 384). Eine Vorgehensweise anhand des dispositionellen Nutzenmaximierers stellt die Grundfrage einer sozialen Ordnung noch einmal neu, ob unter dem Gesichtspunkt individueller Nutzenverfolgung die persönliche Geltung sozialer Normen rational begründet werden kann (S. 346). Mit anderen Worten untersucht Baurmann ab dem 7. Kapitel die Frage, ob es sich bei persönlichen nutzenstiftenden Normen im Sinne des dispositionellen Nutzenmaximierers um Normen handelt, die für den Bestand einer sozialen Ordnung, d. h. für die Erklärung des Rechtsstaates relevant sind. Die entscheidende Veränderung hängt mit der Rolle des Lernprozesses im Sinne der Reputation zusammen. Während der klassische Homo oeconomicus durch eine aktuelle Sanktion keinerlei Schlüsse für künftige Handlungssituationen gezogen hat, wird der dispositionelle Nutzenmaximierer den Lernprozeß in seine individuelle Rationalität miteinbeziehen. Es stellt sich jetzt nur die Frage nach der Gültigkeit einer derartigen Aussage bei nicht-iterativen Beziehungen, d. h. in anonymen Großgesellschaften. In anonymen Beziehungen fehlen die offene Zukunft der sozialen Kontakte bzw. die Information über relevante

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Tatsachen wie die Urheberschaft einer Handlung oder die Tatsache der Handlung selbst. Insbesondere in Situationen mit asymmetrischer Informationsverteilung wird der Reputationsmechanismus eingeschränkt oder gar unterhöhlt, so daß auch für den dispositionellen Nutzenmaximierer kein Anreiz zur Normgenerierung besteht. Es kann zwar gezeigt werden, daß normkonformes Verhalten bei Annahme eines dispositionellen Nutzenmaximierers insbesondere in sozialen Netzwerken oder kooperierenden Unternehmen erklärt werden kann, dies läßt sich jedoch nicht auf die „anonymen Beziehungen" (S. 472) einer Großgesellschaft übertragen. Baurmann lehnt aber eine Gleichsetzung der Verhältnisse bei einem rein situativen Nutzenmaximierer als Synomym der „Alten ökonomischen Welt" und eines dispositionellen Nutzenmaximierers als Vertreter der „Neuen ökonomischen Welt" ab und verändert die Fragestellung, indem er nach den Bedingungen fragt, die es für einen dispositionellen Nutzenmaximierer sinnvoll erscheinen lassen, sich an bestimmte Normen zu binden und diese auch zu generieren, ohne den Anreizen sich wiederholender sozialer Kontakte ausgesetzt zu sein. Dies sei vor allem mit der „Reichweite" (S. 475) von Normen zu verknüpfen. Die Reichweite einer Norm hängt entscheidend davon ab, welche Interessen bei ihrer Festlegung berücksichtigt worden sind. Es müsse geprüft werden, ob ein dispositioneller Nutzenmaximierer Gründe haben kann, einerseits als Normgeber Normen mit uneingeschränkter Reichweite in Geltung zu setzen und sie andererseits als Normadressat zu befolgen. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob vom Standpunkt individueller Nutzenverfolgung aus die persönliche Geltung sozialer, universalisierbarer Normen mit einer uneingeschränkten Reichweite rational begründbar ist. Dies erscheint zunächst paradox. Zwar wird auch ein dispositioneller Nutzenmaximierer gezwungen sein, die Interessen anderer Interaktionspartner zu berücksichtigen, gleichwohl nur, wenn das Verhalten dieser Personen für seine eigenen Interessen bedeutsam ist oder zumindest potentiell bedeutsam sein kann. Daraus ließe sich folglich eine Grenze für die Reichweite von Normen ableiten. Baurmann stellt aber dar, daß es durchaus rational sein kann, die Universalisierbarkeit von Normen aus einem eigennützigen Standpunkt heraus zu fordern, d. h. die Einhaltung von Normen auch anderen gegenüber. Eine Begründung sieht der Autor im „Kooperationsinteresse" (S. 484) des einzelnen. Die Befolgung sozialer und moralischer Normen wird er schon gegenüber all denjenigen wünschen, mit denen er durch eine kooperative Beziehung verbunden ist, aber auch für diejenigen Situationen für wichtig erachten, in denen Kooperationen bedeutsam werden können. Über diesen noch im Geflecht sozialer Netzwerke befindlichen Begründungsversuch kann es eine von keinem Beteiligten zwingend intendierte Interessenharmonie geben, die sich „zufallig" ergibt (S. 485), weil das Verhalten der Norminteressenten gegenüber ihren unmittelbaren Interaktionspartnern unintendierte Nebenfolgen, eine Art „Spill over-Effekt" (S. 549) erzeugt. Dieses Ergebnis von Baurmann, d. h. die Norminteressenten verhalten sich unbewußt regelkonform im Sinne einer universalisierbaren Regel, kann in einer gewissen Hinsicht mit der Idee Hayeks (1994) verknüpft werden, daß die Regeln, nach denen sich die einzelnen richten, nicht unbedingt bekannt im Sinne von bewußt sein müssen. Baurmann führt weiter aus, daß „die Tatsache, daß ein Unternehmer als 'aktiver' Normgeber ungewollt...die Interessen anderer Normgeber fordert, [ihm unmittelbar keine Vorteile

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bringt], jedoch profitiert [er] seinerseits als 'passiver' Nonninteressent" (S. 550). Jedoch wird ein derartiger „Markt der Tugend" (S. 549 ff.) zwangsläufig von Institutionen abhängig sein, die ein derart geschildertes, moralisches Verhalten begünstigen, d. h. es existieren Persönlichkeiten mit einer kooperativen „Untemehmensstrategie" (S. 552). Jedoch ist daraus nicht ein blindes Vertrauen in einen derartigen Markt der Tugend zu setzen. Baurmann weist insbesondere daraufhin, daß vor allem nicht unterstellt werden könne, daß jeder in einer offenen Gesellschaft ein Interesse daran habe, „'globale' Kooperationsmöglichkeiten" (S. 555), d. h. Kooperation mit einer zunächst unbestimmten Reichweite, wahrzunehmen oder zu fordern. Darüber hinaus sind natürlich die Kosten zu berücksichtigen, die entstehen, wenn andere Personen die Kooperationsinteressen wahrnehmen, d. h. wenn es beispielsweise durch Konkurrenz zu einer Entwertung des eigenen Humankapitals kommt. Wenn also nicht alle Mitglieder einer sozialen Gruppe die Interpersonalitätsregeln beachten, dann bleibt bei Annahme dispositioneller Nutzenmaximierer der Anreiz vorhanden, zum Schutz der Individualgüter und zur Sicherstellung der Interpersonalitätsnormen besondere Regeln zur Durchsetzung der Interpersonalitätsregeln zu haben. Es geht folglich um Sanktionsnormen (S. 561), die die Kosten der Regeldurchsetzung senken, wenn es wenigstens eine ausreichend große Gruppe gibt, die diese Regeln auch beachtet. Die Frage der Durchsetzung fuhrt aber unmittelbar zur Diskussion der Sanktionsebene und zur Analyse, ob bei Annahme der „Neuen ökonomischen Welt" das Paradox des Rechtsstaates gelöst werden kann. Problematisch bleibt die Frage, wie die autonomen Entscheidungsspielräume der Inhaber kollektiver Sanktionsmacht konsistent eingeschränkt werden können. Dies führt letztendlich zu einer Abwägungsfrage, wie der Gewinn aus dem Wirken eines Sanktionsmechanismus dem Risiko gegenübergestellt werden muß, daß die übertragenen Machtmittel nicht zur Ausnutzung der Machtposition verwendet werden. Hier hilft auch ein Markt der Tugend, die grundsätzlichen Anreize zur Ausnutzung politischer Rentenpotentiale nur bedingt einzuschränken, jedoch lassen sich unter den Annahmen des dispositionellen Nutzenmaximierers die Aussichten der „Normalbürger", „Widerstand" im ökonomischen Sinne zu leisten, als „erfolgreicher" einstufen. Jedoch muß auch „eine realistische Chance" (S. 603) vorhanden sein, Widerstandshandlungen durchsetzen zu können, d. h. es müssen wiederum grundlegende Bedingungen für einen Markt der Tugend vorhanden sein. Als existentiell stuft Baurmann die Möglichkeit „[offener] Vereinigungs- und Assoziationsfreiheit" (S. 610) ein und die „soziale Kontrolle ... unkooperativer Verhaltensweisen" (S. 610). Sein zentraler Schluß lautet deshalb, daß „..solange eine liberale Gesellschaft günstige Rahmenbedingungen für eine freie und erfolgreiche Kooperation ihrer Bürger [gewährleisten kann, besteht die Chance für einen Markt der Tugend]" (S. 648). Baurmann sieht in diesen Zusammenhängen auch die Möglichkeit für eine globalisierte, mobile Gesellschaft. Es ist vor allem der Anreiz für den einzelnen, einen speziellen Moralbedarf für die jeweilige Gruppe zu entwickeln, der in einer mobilen Gesellschaft mit einem häufigeren Wechsel der Bezugsgruppe gefördert wird und dadurch zur Stabilisierung einer universalisierbaren Moral beitragen kann. Die Moral der Kleingruppe kann den universalistischen Anspruch des Rechtsstaates folglich nicht erfüllen, da der Anreiz sehr hoch ist, nur einseitig Gruppenmitglieder zu fördern und Außenstehende auszugrenzen oder gar auszubeuten. Eine unbeschränkte

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Reichweite der Moral benötigt eben durchlässige Abgrenzungen und die Möglichkeit des stetigen Austausches. Mit anderen Worten plädiert Baurmann für eine Dezentralisierung gesellschaftlicher Beziehungen, die damit Grundlage für eine Vielzahl von Kooperationen ist. Jedoch bleibt für die Existenz einer stabilen, freiheitlichen Gesellschaft ein „grundsätzlicher ,Moralbedarf " (S. 644) vorhanden, da das „Netz wechselseitiger Tauschbeziehungen [nicht immer] dicht genug [sei]" (S. 645), um ein kooperatives Interesse des einzelnen zu erzeugen. Die kritische Masse der Bürger, die ein Interesse daran haben, eine moralische Identität zu erwerben und damit Grundlage für die Herausbildung eines Marktes der Tugend zu sein, bleibt auch nach Baurmanns Analyse unbestimmt (S. 644, siehe auch die Kritik Wallachers 2000, 302.). Baurmann ging es in seiner Analyse darum zu begründen, ob es unter den Voraussetzungen einer liberalen, freiheitlichen Gesellschaft Anreize gibt, moralische Tugenden und daraus folgend eine stabile gesellschaftliche Ordnung zu begründen und zu verteidigen. Er konnte unter der Annahme eines dispositionellen Nutzenmaximierers zeigen, daß die Existenz des Untersuchungsobjektes „Rechtsstaat" durchaus aus der Annahme eigennützigen Verhaltens ableitbar ist, jedoch muß auch Baurmann den Nachweis einer notwendigen „Kernmoral" schuldig bleiben. Sein Verdienst liegt jedoch vor allem darin, in einer sehr schlüssigen Weise die Bedeutung der Anreizsituationen für „moralisches Handeln" entwickelt zu haben, insbesondere die Bedeutung dezentraler Wettbewerbsund Kooperationsmöglichkeiten. Die Kapitel, die sich mit den Bedingungen auseinandersetzen, die universalisierbare Regeln auszeichnen, vertiefen die ordnungsökonomische Diskussion sehr eingehend und weisen auf die Notwendigkeit „geregelter" gesellschaftlicher Diskurse hin, was sich in die Tradition Homanns einordnen läßt. Gleichwohl kann sich die Auseinandersetzung Baurmanns mit dem Homo oeconomicus dem Vorwurf einer nicht immer trennscharfen Differenzierung zwischen eigennutzorientiertem Handeln und Moralsprache nicht entziehen. Offen bleibt, inwiefern bei Baurmann der Homo oeconomicus primär ein Verhaltensmodell ist, was der vom Autor vorgebrachten immanenten Kritik und der Kritik des Kommunitarismus entsprechen würde, oder nicht vielmehr ein heuristisches Analysemodell darstellt, das eine Situationslogik (Homann 1994, 405ff.) darlegen will. Geht man von letztgenannter Annahme aus, dann bietet der Homo oeconomicus eine stringente Vorgehensweise an, die es erlaubt, gesellschaftliche Anreizsituationen zu analysieren, ohne zugleich einen normativen Anspruch damit zu verbinden. Baurmann gelingt es jedoch deutlich, anhand seines Tugendmarktes die Bedeutung von institutionenökonomischen Lösungen für moralische Probleme moderner Großgesellschaften herauszuarbeiten, und zwar genau dadurch, daß das moralische Problem nicht von den allgemeinen Rahmenbedingungen zu trennen ist und Pluralismus erst durch ein regelorientiertes Handeln mit entsprechenden Freiheitsgraden möglich sein kann. Insgesamt hat der Leser eine sehr fundierte und klar geschriebene Analyse „moralischer" Probleme des modernen Ordnungsstaates vor Augen. Eine Anleitung, wie moralische oder ethische Probleme der Gegenwart und Zukunft in einem liberalen Rechtsstaat gelöst werden können, erhält der Leser freilich nicht, doch dies war auch letztendlich nicht die Zielsetzung des Autors. Allen, die an Fragen der normativen Institutionen-

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Ökonomie und deren Bedeutung für die ordnungspolitische Gestaltung interessiert sind, kann die Lektüre dieses Buch nur nachdrücklich empfohlen werden. Literatur Frey, Bruno (1980), Ökonomische Theorie der Politik, in: Willi Albers et al. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Fünfter Band, Stuttgart, Tübingen u.a.O., S. 658666.

Hayek, Friedrich A. v. (1994), Arten der Ordnung, in: Friedrich A. v. Hayek (Hrsg.), Freiburger Studien, gesammelte Aufsätze, 2. Auflage, Tübingen, S. 32-46. Kirchgässner, Gebhard (2000), Homo oeconomicus: das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, 2. erg. u. erw. Auflage, Tübingen. Homann, Karl (1994), Homo oeconomicus und Dilemmastrukturen, in: Hermann Sautter (Hrsg.), Wirtschaftspolitik in offenen Volkswirtschaften, Festschrift zum 60. Geburtstag von Helmut Hesse, Göttingen, S.387-411. Wallacher, Johannes (2000), Perspektiven einer globalen Sozialordnung aus sozialethischer Sicht, in: Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski (Hrsg.), Internationaler Wettbewerb nationale Sozialpolitik?, Berlin, S. 299-306. Weise, Peter (1997), Ökonomik und Ethik (Korreferat), in: Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski (Hrsg.), Wirtschaftsethik und Moralökonomik, Berlin, S. 59-70.

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Urban Mauer

Arbeitsmarkt und Beschäftigung: Deutschland im internationalen Vergleich Zu dem gleichnamigen, von Hartmut Berg herausgegebenen Sammelband* Basierend auf dem internationalen Vergleich der Entwicklung nationaler Arbeitslosenquoten im Zeitverlauf, muß der Bundesrepublik Deutschland ein schlechtes Zeugnis in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ausgestellt werden. Während es einer ganzen Reihe von Ländern, so z.B. den USA, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden und Neuseeland gelungen ist, die hohen Arbeitslosenquoten der achtziger Jahre zum Teil mehr als zu halbieren, verharrt die deutsche Arbeitslosenquote auf einem hohen Niveau. Die zaghaften Reformen scheinen eher an Symptomen zu kurieren, statt entschieden eine ursachenadäquate Wirtschaftspolitik anzustreben und umzusetzen. Diese Fakten waren Grund genug für den Wirtschaftspolitischen Ausschuß im Verein für Socialpolitik, sich auf der Jahrestagung 1999 des Themas „Arbeitsmarkt und Beschäftigung: Deutschland im internationalen Vergleich" anzunehmen. Das hier besprochene Buch dokumentiert die auf der dreitägigen Tagung vorgelegten Beiträge. Der Band umfaßt Aufsätze sowohl zu regionalen als auch zu internationalen Erfahrungen, zu den möglichen Beschäftigungswirkungen der Europäischen Währungsunion, zum Wandel der Tariflohndeterminanten in der Bundesrepublik Deutschland seit 1952, zu einer dialogorientierten Wirtschaftspolitik als einem möglichem Weg zu mehr Beschäftigung sowie zu den möglichen Auswirkungen von Investivlöhnen auf die Beschäftigung. Ullrich Heilemann untersucht den Wandel der Tariflohndeterminanten in der Bundesrepublik Deutschland von 1952 bis 1997 und wählt als Analyserahmen einen erweiterten Phillips-Ansatz. Als Kerneinflüsse der Tariflohnentwicklung erweisen sich - in dieser Rangfolge - die Anzahl offener Stellen als Arbeitsmarktindikator, die Veränderung der Stundenproduktivität der abhängig Erwerbstätigen jeweils der Vorperiode sowie die Veränderung des Preisindex der Lebenshaltung eines 4-Personen-Arbeitnehmerhaushalts. Temporär übt auch die Gewerkschaftsmacht Einfluß auf die Tariflohnentwicklung aus, hingegen ist die Wirkung der Globalisierung äußerst gering. Ob sich das letztere Ergebnis auch in mehreren Jahren unter den Bedingungen der EWU bestätigen läßt, dürfte ein interessantes Forschungsfeld für die Zukunft sein. Die Erklärungskraft des Ansatzes variiert allerdings im Zeitablauf beträchtlich. Als Hauptursache für die

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Hartmut Berg (Hrsg.), Arbeitsmarkt und Beschäftigung: Deutschland im internationalen Vergleich, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Band 272, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2000, 276 Seiten.

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vorübergehend verringerte Erklärungsleistung sieht Heilemann die Reaktionen der Gewerkschaften auf Verschlechterungen der gesamtwirtschaftlichen Lage bzw. der Beschäftigung. Gemäß dieser Einschätzung muß wohl als Antwort auf die im Obertitel des Beitrags gestellte Frage „Arbeitsmarkt und Löhne - was haben wir gelernt?" mit Blick auf die Tarifparteien eher von „pathologischem Lernen" (Siebert 1998) gesprochen werden. Auch wenn Heilemann Defizite in der ökonomischen Theorie beklagt, die explizite Vorstellungen über den Wandel der Tariflohndeterminanten vermissen läßt, unternimmt er drei Erklärungsansätze fur die Parameteränderungen: die institutionelle Perspektive der Tarifautonomie, den wirtschaftspolitischen Kurswechsel in den 70er und 80er Jahren sowie die gesunkene Reagibilität der Beschäftigungsnachfrage auf die Änderungen der Lohnstückkosten seit Anfang der 70er Jahre. Ökonometrische Modellrechnungen (RWI-Konjunkturmodell) veranschaulichen nachdrücklich, daß ein markanter Abbau der Arbeitslosigkeit nur durch eine mehrjährige beträchtliche Lohnzurückhaltung erreicht werden kann (so bereits Lehment 1991; 1993). Über den gesamten untersuchten Zeitraum billigt Heilemann den Tarifparteien gesamtwirtschaftliche Effektivität zu, was sicherlich nicht gänzlich unumstritten sein dürfte. Die wichtigste lohnpolitische Aufgabe der Wirtschaftspolitik sei es, lohnpolitische „Ausreißer" zu verhindern. Ob dies mit Maßhalteappellen und der Verdeutlichung der Konsequenzen expansiver Lohnpolitik gelingen wird, darf in Anbetracht der jüngsten Lohnforderungen allerdings angezweifelt werden. Ansgar Belke und Wim Kösters wählen als Ausgangspunkt ihres Beitrags „Asymmetrische Schocks, Arbeitsmärkte und finanzpolitische Anpassung in der EWU" den Bericht von Metten (1998) fur das Europäische Parlament über Anpassungsmechanismen im Falle asymmetrischer Schocks. Der dort gemachte Vorschlag zur Einrichtung eines Stabilisierungsfonds mit sog. ,safety net'-Funktion zur Bekämpfung länderspezifischer Schocks wird von den Autoren in bezug auf seine Vereinbarkeit mit den theoretischen Erkenntnissen und empirischen Fakten hinterfragt. Auf breiter Quellengrundlage weisen die Autoren nach, daß asymmetrische Schocks zum einen überwiegend sektorale bzw. regionale und nicht nationale Dimensionen besitzen. Zum anderen sinke die Empfänglichkeit der EWU 11-Länder fur externe Schocks durch Gründung der EWU. Als Schlüssel zur Stabilisierung der Arbeitsmärkte nach asymmetrischen Schocks sehen die Autoren einerseits umfassende Arbeitsmarktreformen mit einer Übertragung von Kompetenzen auf die regionale Ebene und mit einer die regionale Anpassungsflexibilität erhöhenden Reduzierung landesweiter Regulierungen. Andererseits befürworten sie die Institutionalisierung eines - ursachenadäquaten - regionalen Schock-,Absorber'-Mechanismus, ohne allerdings bereits konkrete Vorschläge fur die konkrete Ausgestaltung eines solchen Instruments zu machen, das die mit dessen Installierung einhergehenden Probleme minimiert (,moral hazard'-Probleme, Gefahr des Mißbrauchs zur Kompensation unangemessener nationaler Politiken). Francois Bilger stellt in seinem Beitrag der französischen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik insgesamt ein verheerendes Zeugnis aus. Die auf Bestandssicherung ausgerichteten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen unterbanden ordnungspolitische Reformen und verschärften stattdessen die Insider-Outsider-Problematik. Ein Kurieren an Symptomen, unvollständige Reformen und das Fehlen einer ursachenad-

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äquaten Politik, die an den Gründen für die strukturelle Arbeitslosigkeit ansetzt, eine Verwaltung der Unterbeschäftigung und deren sozialverträgliche Abfederung sowie eine kostspielige Interventionsspirale kennzeichneten die Politik des Nachbarlandes in den vergangenen 25 Jahren. Die Beschreibungen und Analysen des Autors zeigen zahlreiche Analogien zum deutschen Arbeitsmarkt auf. Seinem Plädoyer fur den Abbau marktwidriger Organisationsregeln zugunsten eines funktions- und leistungsfähigen Arbeitsmarktes dürften sich zahlreiche Kritiker der bestehenden Arbeitsmarktordnung in Deutschland anschließen. Kees van Paridon erläutert in seinem Beitrag die „Arbeitsmarktentwicklung in den Niederlanden seit 1983". Die mit dem Abkommen von Wassenaar 1983 eingeleitete Wende am Arbeitsmarkt mit den drei Säulen einer auf unbestimmte Zeit zwischen den Tarifparteien vereinbarten Lohnzurückhaltung, einer Eindämmung des Staatsdefizits sowie einer offensiven Strukturpolitik statt einer Förderung strukturkonservierender Maßnahmen unterstreicht die Bedeutung der folgenden - in Deutschland fehlenden Bestimmungsgründe für die positive Entwicklung auf dem niederländischen Arbeitsmarkt: Die starke Stellung der Beratungsorgane der Regierung und deren Akzeptanz bei Regierung, Parlament, Interessengruppen und Bevölkerung ermöglichte erst die „communis opinio" über Ursachen und Lösungen der Krise - eine in Deutschland undenkbare Vorstellung, wenn man beispielsweise an den nur sehr eingeschränkten Einfluß des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung denkt {Frey 2000); das Selbstverständnis der Gewerkschaften als Vertreter sowohl der Insider als auch der Outsider; der Mut zur Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen trotz zu erwartender Sanktionen durch die Stimmzettel der Bevölkerung bei der nächsten Parlamentswahl; die Bereitschaft zu einer mehij ährigen Lohnzurückhaltung ohne Garantieverpflichtungen der Arbeitgeber für den Erhalt oder die Schaffung von Arbeitsplätzen, auch wenn sich Erfolge zunächst nicht einzustellen scheinen. Alle diese Faktoren unterstreichen die gesellschaftspolitische Verantwortung, derer sich die Träger der Wirtschaftspolitik in den Niederlanden offensichtlich - z.T. im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants - bewußt sind. Horst Gischer und Guido Henkel betonen in ihrem Artikel „Strukturwandel zwischen Produktivitätskriterium und Beschäftigungsziel" am Beispiel von Sachsen-Anhalt die schlechten Ausgangsbedingungen des Landes, beschreiben den im Verlaufe des letzten Jahrzehnts vollzogenen Strukturwandel und konstatieren, daß die bislang praktizierten Arbeitsmarktprogramme an dieser Situation wenig zu ändern vermocht haben. In weiteren Beiträgen diskutiert Renate Neubäumer die Frage, ob der amerikanische Arbeitsmarkt ein Modell für die Bundesrepublik Deutschland sein könnte, untersucht Rainer Klump mit Hilfe der Aussagen ökonomischer Institutionen- und Organisationstheorien die Frage, ob eine dialogorientierte Wirtschaftspolitik (z.B. „Bündnis für Arbeit") zu mehr Beschäftigung führen könnte, fragen Norbert Berthold und Rainer Fehn nach der Bedeutung von Investivlöhnen für die Lohnpolitik und die Beschäftigungsentwicklung und analysiert Siegfried F. Franke die Arbeitsmarktpolitik Dänemarks. Insgesamt besticht das Buch durch die Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge und gibt somit eine Fülle von Anregungen für eine Beschäftigung und Wachstum stimulierende Wirtschaftspolitik. Den Trägern der Wirtschaftspolitik in Deutschland kann nur

338 · Urban Mauer nachhaltig empfohlen werden, aus den Erfahrungen im positiven wie im negativen Sinne ihre Schlüsse für das eigene Handeln zu ziehen. Literatur Frey, Bruno S. (2000), Was bewirkt die Volkswirtschaftslehre?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band 1, S. 5-33. Lehment, Härmen (1991), Lohnzurückhaltung, Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigung: Eine empirische Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland 1973-1990, Die Weltwirtschaft, Heft 2, S. 73-85. Lehment, Härmen (1993), Bedingungen für einen kräftigen Beschäftigungsanstieg in der Bundesrepublik Deutschland: Zur Tarifpolitik der kommenden Jahre, Die Weltwirtschaft, Heft 3, S. 302-310. Metten, Alman (1998), Draft Report on ,Asymmetrie Shock or Shock Specific to One Country' (INI0972), European Parliament, Part B: Explanatory Statement, Commitee on Economic and Monetary Affairs and Industrial Policy, 16 July, Brussels. Siebert, Horst (1998), Arbeitslos ohne Ende? Strategien für mehr Beschäftigung, Wiesbaden.

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Hannes Hofmeister

Ein neuer Dritter Weg? Bemerkungen zu dem gleichnamigen Aufsatz von Ralf Dahrendorf Seit einige, überwiegend sozialdemokratisch geführte Regierungen westlicher Industriestaaten vorgeben, mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik zumindest partiell der Giddensschen Konzeption des Dritten Weges1 zu folgen, erfreut sich der Terminus „Dritter Weg" einer lebhaften öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Diskussion. Hierzu leistet Dahrendorf einen Beitrag, indem er das Giddenssche Konzept zunächst als eine Antwort auf die gesellschaftspolitischen Herausforderungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts kurz darstellt und kritisch würdigt. Im Anschluß daran gibt Dahrendorf selbst einige Empfehlungen fur „strategische Veränderungen in einer gewandelten Welt" (S. 26), die er als mögliche Alternative zu Giddens' Vorstellungen verstanden wissen will. Dahrendorf beginnt mit einer Bestandsaufnahme: Den westlichen Demokratien, die am Ende des „sozialdemokratischen Jahrhundert[s]" (S. 10) stehen, attestiert er Reformbedarf. Das sozialdemokratische Reformprojekt, das er mit den Namen Keynes, Beveridge und, in Deutschland, Schiller verbindet, ist erstarrt und bedarf neuer Impulse. Hinzu kommt, daß mit der Revolution von 1989 die Systemfrage seiner Meinung nach obsolet geworden ist und sich seitdem die „offene Gesellschaft" (S. 12) in nahezu allen Teilen der Welt auf dem Vormarsch befindet. Zur Diskussion stehende Reformkonzepte müssen Dahrendorf zufolge grundsätzlich gewährleisten, daß diese Offenheit der Gesellschaft gewahrt bleibt. Inhaltlich müssen sie Antworten geben auf die Herausforderungen, denen sich viele demokratische Gesellschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert gegenübersehen: ständig steigende Staatsquoten, einhergehend mit überbordender Bürokratie, der Wandel des traditionellen Arbeitsmarktes sowie das Phänomen der Globalisierung (S. 13f.). Dahrendorf betont, daß es in einem derartigen Umfeld für die Politik nicht primär um Besitzstandswahrung, d. h. um eine „Reperatur des Reperaturbedürftigen" (S. 16) gehen kann. Vielmehr ist ein „ganz neues politisches Projekt" notwendig, „um unter den neuen Bedingungen mehr Menschen mehr Lebenschancen" (S. 14ff.) eröffnen zu können. Damit ist die Agenda gesetzt. Dahrendorf geht im weiteren der Frage nach, welche Antwort das Konzept des Dritten Weges auf die dargestellten Probleme gibt. Hauptanliegen des Dritten Weges ist es, über das „neoliberale Projekt" (S. 21), d. h. über die *

Ralf Dahrendorf, Ein neuer Dritter Weg? Reformpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1999, 29 Seiten. 1 Siehe hierzu Giddens (1999) sowie auch die Besprechung von Watrin (1999, 475ff.).

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reine Entfesselung der Marktkräfte, hinauszugehen und eine „neue gemischte Wirtschaftsordnung" zu schaffen, die „die Dynamik der Märkte nutzt, aber dabei das öffentliche Interesse im Sinn behält" (S. 20; Dahrendorf zitiert hier Giddens). Derart unbestimmte Formulierungen taugen freilich allenfalls für eine politische Vision; für eine Operationalisierung in ein konkretes politisches Programm erweisen sie sich als wenig praktikabel, wie auch Dahrendorf konzediert (S. 23f.)· Dennoch versucht er, die wesentlichen Bereiche einer Politik des Dritten Weges zu skizzieren: Die „Reform des Wohlfahrtsstaates" (S. 24) orientiert sich am Leitbild einer stärkeren Eigenverantwortung. So sollen staatliche Leistungen nicht mehr ohne Eigenleistung der Empfänger verteilt werden. Im Bereich der Gesellschaftspolitik schwebt den Protagonisten des Dritten Weges vor, die Menschen zu stärkerer Eigeninitiative bei der Gestaltung ihres eigenen Lebens sowie bei der Verrichtung gemeinnütziger Tätigkeit zu animieren (S. 24f.). Schließlich ist der Politik des Dritten Weges ein „klarer Internationalismus" (S. 25) zu eigen. Die Globalisierung der Märkte wird positiv gesehen; gleichzeitig ist es aber auch Aufgabe der Nationen, bei der Schaffung weltweiter, demokratisch kontrollierter Institutionen mitzuwirken. Diese Bereiche konstituieren zusammen mit der grundsätzlichen Übernahme der „neoliberalen" Wirtschaftspolitik das „neosozialdemokratische Projekt" (S. 25) des Dritten Weges. Obwohl Dahrendorf grundsätzlich Sympathie für das skizzierte Konzept hegt (S. 29), unterbreitet er im Anschluß daran selbst einige Vorschläge für mögliche Reformen, die er mit dem Begriff „strategische Veränderungen" (S. 26) belegt. Das Prädikat „strategisch" verdienen Reformoptionen dann, wenn sie nur geringe Veränderungen induzieren, die ihrerseits aber große „Hebelwirkung entfalten" (S. 26). Dahrendorf postuliert im einzelnen fünf Punkte, mit denen er sich freilich stark an das Konzept des Dritten Weges anlehnt (S. 27f.): Zum einen muß eine Antwort auf die bereits erwähnte Veränderung des Arbeitsmarktes gegeben werden, ein Bereich, bei dem Dahrendorf im Giddens sehen Projekt klare Schwächen diagnostiziert. Ferner sollte der notwendigen Reform des Wohlfahrtsstaates der Leitgedanke zugrunde liegen, das „verallgemeinerte Universalitätsprinzip" nur noch dort anzuwenden, wo es „Solidarität stiftet" (S. 28). Weiterhin bedarf es zur Förderung gemeinnütziger Tätigkeit der Schaffung geeigneter Anreize durch den Staat. Schließlich bemüht Dahrendorf das Marktversagensargument, wenn er die ungenügende Bereitstellung öffentlicher Güter im Rahmen der marktlichen Koordination beklagt und daher für eine Stärkung des „öffentlichen Raum[es]" (S. 28) plädiert. In einem fünften Punkt mahnt Dahrendorf eine Sicherung und Erneuerung der Demokratie an: Er kritisiert, daß mit der fortschreitenden Internationalisierung eine „Entdemokratisierung" (S. 28) einhergehe. Zugleich sieht er durch zunehmende „Prozesse der Dezentralisierung" innerhalb einiger Staaten „das demokratische Prinzip" (S. 28) in Frage gestellt. Dahrendorf gelingt es mit seiner Schrift, dem Leser einen zwar knappen, aber aufschlußreichen Überblick über das Programm des Dritten Weges zu vermitteln. Zugleich verhehlt er nicht, daß er Giddens' Vorschläge grundsätzlich als adäquate Antwort auf die Probleme, mit denen die westlichen Demokratien konfrontiert sind, ansieht. Folgerichtig bildet die skizzenhafte Wiedergabe des Programms des Dritten Weges den Schwerpunkt des Aufsatzes. Da dieser Ansatz bereits an anderer Stelle Gegenstand ei-

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ner Besprechung wurde,2 soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Bemerkenswert erscheinen dagegen die angedachten „strategischen Veränderungen". Dahrendorf folgt damit zwar weitgehend der Giddensschen Programmatik, geht aber in einem Punkt darüber hinaus: Während im Konzept des Dritten Weges notwendige Reformen innerhalb des gegebenen konstitutionellen Rahmens implementiert werden sollen, schließt Dahrendorf die Stärkung der demokratischen Entscheidungsfindung in seinen Forderungskatalog mit ein. Er befurchtet, daß sich in einer globalisierten Welt immer mehr Entscheidungen einer demokratischen Kontrolle entziehen. Begreift man jedoch eine offene Gesellschaft mit Popper (1980, 233) als Gesellschaft, „in der sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen", fallt eine Zustimmung zu der geforderten Ausweitung kollektiver Entscheidungsprozesse schwer. Persönliche Entscheidungen, verbunden mit individueller Verantwortlichkeit, sind konstituierende Merkmale einer freiheitlichen Gesellschaft. Eine derartige Einheit von Handlung und Haftung wird jedoch bei zunehmender Anwendung der demokratischen Koordination immer weiter ausgehöhlt, weil sich Individuen dort nicht persönlichen, sondern Mehrheitsentscheidungen gegenübersehen; individuelle Verantwortlichkeit wird dabei mehr und mehr sozialisiert. Die zunehmende Vergemeinschaftung individueller Ressourcen, die Dahrendorf unter dem Stichwort „Erhöhung der Staatsquote" (S. 13) als Problem demokratischer Gesellschaften identifiziert, ist nicht zuletzt Ergebnis des bei kollektiven Entscheidungen bestehenden Verantwortungsvakuums. Auch die beiden anderen Herausforderungen, der Rückgang der traditionellen Arbeitsverhältnisse und die abnehmende Bedeutung nationaler Grenzen, verlangen eher nach einer Stärkung der dezentralen Koordination: Zunehmende Komplexität kann schwerlich durch eine verstärkte Suche nach einheitlichen Lösungen absorbiert werden. Festzuhalten bleibt, daß es Dahrendorf in seinem Beitrag gelingt, einen kurzen Aufriß der Probleme westlicher Demokratien, eine Zusammenfassung des Dritten Weges Giddensscher Provenienz und sein eigenes Konzept fur „strategische Veränderungen in einer gewandelten Welt" geschickt miteinander zu verknüpfen. Der Aufsatz ist lesenswert, auch wenn man die Vorschläge Dahrendorfs nicht in allen Punkten unterstützen kann. Es steht freilich zu befürchten, daß aufgrund der Preisgestaltung des Verlags - 24 DM fur ein Heft mit 29 Seiten - die Schrift keinen allzu großen Leserkreis erreichen dürfte. Literatur Giddens, Anthony (1999), Der dritte Weg: Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt. Popper, Karl R. (1980), Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Piatons, 6. Aufl., Tübingen. Watrin, Christian (1999), Giddens' Dritter Weg, ORDO, Band 50, S. 475-480.

2 Siehe hierzu Watrin (1999, 475ff.).

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Michael Weber

Arbeit statt Sozialhilfe Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Holger Feist* Im Rahmen der Diskussion um Einsparungsmöglichkeiten in den staatlichen Haushalten, sowohl auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen, richtet sich das Augenmerk immer wieder auf die Sozialhilfe. Die Diskussionen über Umgestaltungsmöglichkeiten bzw. Kürzungen erlangen immer größere Bedeutung, da viele Menschen in Deutschland das Gefühl haben, daß ihre gezahlten Steuern in diesem Bereich mißbräuchlich verwendet werden. In diesem Zusammenhang sind mehrere Fragen zu stellen: Wie ist das Grundsicherungssystem in Deutschland ausgestaltet? Welche alternativen Systeme existieren? Wie sind die Sicherungssysteme in den verschiedenen EUStaaten konzipiert? Besteht durch eine EU-Osterweiterung eine Gefahr für die Grundsicherungssysteme? Holger Feist stellt in seinem Buch „Arbeit statt Sozialhilfe" das gegenwärtige Grundsicherungssystem in Deutschland dar. Er erläutert zu Beginn drei Begründungen für die Existenz einer staatlichen Grundsicherung. Als erstes betrachtet er die Grundsicherung als eine Versicherung zum Schutz gegen Armut und Bedürftigkeit, die von keinem privaten Versicherer angeboten wird. Im zweiten Begründungsansatz beschreibt er die Grundsicherung als öffentliches Gut, bei dem es bei einer reinen privaten Mildtätigkeit zu einem Trittbrettfahrerverhalten auf Seiten der Spender kommt und somit keine ausreichende Versorgung von Bedürftigen gewährleistet wird. Bei seiner dritten Begründung sieht Feist die staatlichen Zahlungen als eine Umverteilung von leistungsfähigen Mitgliedern einer Gesellschaft an weniger leistungsfähige. Mit Hilfe dieser Zahlungen soll der rechtliche und soziale Frieden zwischen beiden Gesellschaftsgruppen gewährleistet werden, um so ein Produktionsklima zu erzeugen, in dem sich die Produktivität einer Volkswirtschaft erhöhen kann. Unabhängig von den Gründen für ein Grundsicherungssystem ist dessen Ausgestaltung für die Akzeptanz, insbesondere bei denen, die die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, wichtig. In diesem Zusammenhang setzt sich Feist mit den Ausprägungen der deutschen Sozialhilfe auseinander. Er erläutert die relative Bedeutung der Sozialhilfe im Sozialbudget und die verschiedenen Arten der Hilfe. Neben den Determinanten für einen Sozialhilfebezug stellt er auch die Alterstruktur und den durchschnittlichen Bedarf von Sozialhilfeempfängern in Deutschland ausführlich dar. Die Diskussion in Deutschland entzündet sich hauptsächlich an den Kosten, die durch die Sozialhilfe entstehen, und an den Fehlanreizen, die dem gegenwärtigen Hilfs*

Holger Feist, Arbeit statt Sozialhilfe: Zur Reform der Grundsicherung in Deutschland, Beiträge zur Finanzwissenschaft, Band 12, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2000, 241 Seiten.

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system innewohnen. Als gravierendes Argument gegen die Sozialhilfe in der jetzigen Form wird ein fehlender bzw. ein ungenügender „Lohnabstand" aufgeführt. Hierbei ist gemeint, daß Haushalte von Hilfsempfängern gleich viel bzw. mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben als vergleichbare Arbeitnehmerhaushalte in den unteren Lohngruppen. Feist stellt verschiedene empirische Studien, die versuchen den Lohnabstand in Deutschland zu messen, gegenüber und erläutert die teilweise sehr unterschiedlichen Ergebnisse. Neben dem fehlenden Lohnabstand ergibt sich auch aufgrund der Bemessungsgrundlage für die Höhe der Auszahlung, die im Gegensatz zu den Nettolöhnen am ersten Arbeitsmarkt von der Haushaltsgröße abhängt, kein Anreiz, arbeiten zu gehen. Dies wird deutlich, wenn man den 1999 in Deutschland gewährten staatlichen durchschnittlichen Bedarf an Sozialhilfe für ein Paar mit zwei Kindern in Höhe von 2931 DM mit dem durchschnittlichen Monatsnettoeinkommen eines Arbeitnehmers in Höhe von 2710 DM (Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2000, Nr. 39) vergleicht. Bei größeren Haushalten wird die Differenz zwischen Sozialhilfe und Arbeitsnettoeinkommen immer größer. Das Problem eines fehlenden Anreizes vergrößert sich weiter, wenn die Möglichkeit einer Tätigkeit in der Schattenwirtschaft berücksichtigt wird. Feist entwickelt ein optionstheoretisches Modell, welches den Wert eines festen Arbeitsplatzes als Optionspreis angibt. In der Modellwelt werden der Lohnabstand und die Arbeitsmöglichkeit in der Schattenwirtschaft berücksichtigt. Im folgenden Abschnitt wird das deutsche Transferentzugssystem für arbeitende Hilfsempfänger ausfuhrlich dargestellt, um im Anschluß verschiedene Reformideen zu erläutern. Als Transferentzugssystem wird die Anrechnungssystematik von Arbeitseinkommen auf die staatliche Sozialhilfe verstanden. Das „Bürgergeld" als umfassenden Reformansatz wird sowohl in einem mikroökonomischen Modell, das versucht, den Arbeitsanreiz für einen Hilfsempfanger zu messen, als auch auf makroökonomischer Ebene, hier insbesondere die Finanzierbarkeit, erörtert. Als weitere Reformansätze werden das Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose, die Lohnsubvention und der US-amerikanische Earned Income Tax Credit dargestellt. Feist zeigt am Ende des dritten Kapitels die Grenzen der obigen Reformansätze auf. Aufbauend auf dem Problem der Fehlanreize flir Hilfsempfanger im Hinblick auf eine Arbeitsaufnahme, werden in Kapitel IV Reformmöglichkeiten im Rahmen einer „Hilfe zur Arbeit" diskutiert. Hierzu werden die Hilfsempfanger in zwei Gruppen unterteilt, in Arbeitsunfähige und Arbeitsfähige. Die Gruppe der Arbeitsunfähigen umfaßt unter anderem alte und behinderte Hilfsempfanger. Ausgehend von der Unterteilung von Hilfsempfängem, werden praktizierte Vorgehensweisen, die den Willen eine Arbeit aufzunehmen bei arbeitfahigen Sozialhilfeempfangern stärken sollen, untersucht. Als erstes wird das Subsidiaritätsprinzip der deutschen Sozialhilfe um das Gegenleistungsprinzip ergänzt. Dies bedeutet: Wer die Annahme einer Arbeit verweigert, verwirkt sein Recht auf Sozialhilfe. Dieses Gegenleistungsprinzip ist im Bundessozialhilfegesetz allerdings nur als Kann-Vorschrift verankert. Die Kommunen können für alle Hilfesuchenden, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Beschäftigung finden, Arbeitsgelegenheiten schaffen. Feist stellt Erfahrungen von zwei „Hilfe zur Arbeit"-Projekten vor. Zum einen das „Wisconsin Work"-Projekt der USA und zum anderen den „Betrieb für Beschäftigungsförderung" der Stadt Leipzig.

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Nach einer ausführlichen Darstellung der einzelnen Reformschritte des US-amerikanischen Projekts wird die „Beschäftigungsleiter" des Wisconsin Work-Programms vorgestellt. Jeder arbeitsfähige Hilfesuchende wird in Abhängigkeit von seinen Fähigkeiten in eine von vier Stufen eingeteilt. In den drei staatlich subventionierten Stufen kann der Hilfesuchende jeweils nur eine beschränkte Zeit verbleiben. Versagt der Hilfesuchende aus eigenem Verschulden oder tritt die Zeitbegrenzung in Kraft, so wird er nicht mehr unterstützt. Als weiteres Damoklesschwert sitzt dem Hilfesuchenden die Begrenzung der Gesamthilfe auf maximal fünf Jahre Lebenszeit im Nacken. Als großer Vorteil des Wisconsin Work-Programmes wird die Zielgenauigkeit der Transferleistungen gesehen. Eine weitere Beurteilung des im Jahre 1995 von der Clinton-Regierung eingeführten Programms ist aus Mangel an verfügbaren Daten noch nicht durchführbar. Als zweites stellt Feist das „Hilfe zur Arbeitsprogramm der Stadt Leipzig vor. Seit 1994 hält Leipzig alle arbeitsfähigen Bewerber um Sozialhilfe zu Arbeitsleistungen an. Erfolgen diese nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt, dann in dem städtischen „Betrieb für Beschäftigungsförderung" (BfB). Auf diese Art verringert die Stadt Leipzig eines ihrer Probleme. Der BfB entfaltet seine Wirkung in zwei Richtungen. Zum einen fallen alle nicht arbeitswilligen Bewerber aus der Sozialhilfe und belasten somit nicht den Leipziger Haushalt. Zu den arbeitsunwilligen Bewerbern sind jene arbeitfahigen Hilfesuchenden zuzuordnen, die beispielsweise eine höhere Freizeit- als Arbeitspräferenz besitzen oder die Sozialhilfe mißbräuchlich beantragen, weil sie gleichzeitig aus einer anderen Quelle ein höheres Einkommen beziehen und keine Zeit für die staatlich geforderte Arbeitsleistung aufbringen wollen bzw. können. Zum anderen erhalten die restlichen arbeitsfähigen Hilfesuchenden einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz und werden wieder an eine regelmäßige Arbeit gewöhnt. Die in dem BfB arbeitenden Hilfesuchenden werden automatisch nach genau einem Jahr entlassen, um einen Arbeitsplatz für einen anderen Sozialhilfebewerber freizumachen, und erhalten in Folge ihrer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung jetzt Arbeitslosengeld, welches die Stadt nicht bezahlen muß. Summa summarum ergibt sich für die Stadt Leipzig aufgrund dieser Maßnahmen ein finanzieller Vorteil. Dieser bleibt auch erhalten, wenn man die Kosten, die durch den BfB für die Stadt entstehen, berücksichtigt. In einer abschließenden Diskussion der empirischen Erfahrungen beider Programme geht Holger Feist auf unterschiedliche vorgebrachte Befürchtungen, ζ. B. Verdrängung von regulären Arbeitsplätzen, ein. Der Vorteil beider Vorgehensweisen liegt in der Selbstselektion von arbeitsfähigen Hilfesuchenden in arbeitswillige und arbeitsunwillige. Im Anschluß stellt Feist ein theoretisches Modell dar, um den Selektionsmechanismus durch „Hilfe zur Arbeit" zu erklären. Das Leipziger Modell kann den Anfang einer grundlegenden Reform der Sozialhilfe in Deutschland bedeuten, zum einen, weil bei einer breiten Anwendung des Leipziger Modells eine enorme finanzielle Belastung auf den Bundeshaushalt zukommen würde, und zum anderen, weil die politische Akzeptanz für die Subventionierung von arbeitsfähigen Hilfesuchenden in der gegebenen Form sinkt. Im fünften Kapital befaßt sich Feist mit dem Wettbewerb von Grundsicherungssystemen in einer sich globalisierenden Welt. Der Systemwettbewerb zwischen Ländern

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beschränkt sich nicht nur auf einen Wettbewerb um Investitionen, sondern findet auch zwischen den Sozialbereichen statt. Ein hohes Transferniveau in einem Land ist ein Wanderungsanreiz für Wanderungswillige. Je mobiler die Menschen werden, desto höher ist der Anreiz, seinen Wohnort in ein Gebiet mit hohen Transferniveaus zu verlegen. Die Wahl des Wohnorts ist von einer Vielzahl von Bedingungen abhängig; für Arme ist, gemäß Feist, ein wesentliches Kriterium die Großzügigkeit bei der Bemessung der Grundsicherung. Allerdings werden in einer mobilen Welt auch die Steuerzahler, die ein Umverteilungssystem finanzieren, reagieren. Die Steuerzahler werden sich Länder suchen, in denen die Steuerbelastung nicht so hoch ist. Hieraus kann sich langfristig eine Gefahr für die Finanzierbarkeit des Sozialsystems von der Einnahmenseite ergeben. Im Endeffekt wird es zu einem Unterbietungswettbewerb auf der Steuer- und Transfemiveauebene zwischen den beteiligten Ländern kommen. Deutschland befindet sich in einem solchen Wettbewerb. Es stellt sich die Frage, was ist zu tun? Eine Möglichkeit ist, die Ineffizienzen im Sozialsystem abzubauen. Es bleibt allerdings zu befürchten, daß dies allein nicht ausreichen wird, die zu erwartenden Finanzierungsprobleme zu lösen. Feist untersucht an einem theoretischen Modell den Transferwettbewerb innerhalb eines Bundesstaates. Er analysiert die Transfemiveaus von mobilen und immobilen Armen. Im Anschluß stellt Feist die Grundsicherungssysteme der einzelnen EU-Staaten dar und vergleicht sie miteinander. Schon bei den Vorraussetzungen für einen Bezug von Grundsicherungsleistungen unterscheiden sich die EU-Staaten. Es gibt drei Klassen von Voraussetzungskategorien: In einigen Ländern kann jeder Bedürftige Hilfe beantragen, während in anderen Ländern nur bestimmte Nationalitäten bzw. nur Inländer Hilfe erwarten können. Neben Unterschieden bei den Vorraussetzungen existieren auch erhebliche Differenzen im Niveau der Grundsicherung. 1995 reichte die Spanne der zu Kaufkraftparität umgerechneten Beträge für eine Einzelperson ohne Kinder von 258 DM (Spanien) bis 1613 DM (Luxemburg). Diese Angaben berücksichtigen allerdings nicht, daß in vielen Ländern die Auszahlungen zeitlichen Beschränkungen unterliegen. Die osteuropäischen Beitrittskandidaten bewegen sich beim Niveau der Grundsicherung teilweise erheblich unter dem EU-Durchschnitt. Als Ergebnis der obigen von Feist durchgeführten institutionellen Analyse ergibt sich, daß die Grundsicherung in der EU zur Zeit allein Aufgabe der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten ist. Im folgenden Abschnitt erörtert Feist ausführlich die Frage, ob das Transferniveau für eine Wanderungsentscheidung ausschlaggebend ist. Er kommt zu der Ansicht, daß bei der Entscheidung zu wandern das Transfemiveau nur eine von vielen Determinanten ist. Allerdings stellt er fest, daß, wenn erst mal die Entscheidung zu wandern getroffen wurde, es zu einer transferinduzierten Wahl des Ziellandes kommen kann. Hieraus könnte bei unveränderten Grundsicherungssystemen eine Gefahr für die Finanzierbarkeit aufgrund der EU-Osterweiterung entstehen. Die Gefahr erklärt sich aus den teilweise sehr großen Transferniveau- und Einkommensunterschieden zwischen den „alten" EU-Staaten und den Beitrittskandidaten. In seiner Schlußanalyse gelangt Feist zu der Ansicht, daß dezentrale Grundsicherungssysteme bei steigender Mobilität nicht geeignet sind, das Problem der Armut effizient zu lösen. Mit Hilfe einer Zentralisierung und Harmonisierung der Grundsicherungssysteme kann seiner Meinung nach ein Wettlauf der Transferniveaus nach unten

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vermieden werden. Neben der Zentralisierungs- und Harmonisierungsidee erörtert Feist auch das Heimatlandprinzip und das Prinzip der Umverteilungsclubs. Als Fazit sieht Feist eine steigende Notwendigkeit zur Reform der Sozialhilfe. Er plädiert hierbei für eine Reform, die zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Hilfesuchenden unterscheidet. Neben den positiven Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit des Grundsicherungssystems würde ein derartiges System auch die Zuwanderungsanreize auf internationaler Ebene reduzieren. Literatur Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2000), Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Ausgabe 2000, Köln.

ORDO · Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Marcus Cieleback

On the Economics of Immobility Zum gleichnamigen Buch von Peter A. Fischer* Wir leben heutzutage in einer Welt in der Freihandel in zunehmendem Maße akzeptiert wird. Globalisierung ist zu dem Schlagwort der vergangenen Jahre geworden. Durch das Sinken der Transport- und Transaktionskosten hat sich der Welthandel vervielfacht, und vor allem auf den Finanzmärkten ist es zu einer weltweiten Integration gekommen, die aber nicht immer unproblematisch verlaufen ist, wie die internationalen Finanzkrisen der vergangenen Jahre gezeigt haben. Trotz dieser Probleme arbeiten nicht zuletzt die Politiker in Europa an einer immer weitergehenden wirtschaftlichen Integration. Die aktuelle Diskussion im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung zeigt jedoch, daß die Globalisierung und die mit ihr verbundene zunehmende Integration der Wirtschaftsräume, namentlich der damit verbundene freie Personenverkehr und die Freizügigkeit der Arbeitskräfte, nicht unproblematisch sind. Die durch die Integration ausgelöste internationale Migration stellt für die Politiker eine der zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderungen dar. Anders als beim internationalen Handel wird bei internationaler Migration nicht nur die ökonomische Sphäre berührt. Vielmehr gehen mit internationaler Migration eine Reihe von sozialen und politischen Veränderungen einher. In vielen EU-Ländern besteht deshalb die Angst, daß es ohne zeitliche Übergangsregelungen im Bereich des Personenverkehrs und der Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu einer Massenwanderung von Ost nach West kommen wird. Es bestehen Befürchtungen, daß die Menschen aus den osteuropäischen Beitrittskandidaten nach Wegfall der politischen Migrationsrestriktionen in großem Maße von Ost nach West wandern. Ist diese Angst gerechtfertigt? Sind die erheblichen Einkommensunterschiede zwischen Ost- und Westeuropa ein ausreichender Grund für eine massenhafte Wanderung von Arbeitskräften, oder gibt es nicht eine Reihe von Faktoren, die einer derartigen Wanderungsbewegung entgegenstehen? Welche Faktoren stehen einer Wanderung entgegen, und welche Bedeutung haben sie im Rahmen der Migrationsentscheidung des einzelnen? Vor allem die letzte Frage steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches von Peter A. Fischer. Anders als die meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Frage auseinandersetzen, was die Ursachen für die Wanderungsbewegungen der Menschen von einem Land ins andere sind, versucht Fischer zu erklären, warum es für die Mehrheit der Bevölkerung optimal ist, nicht zu wandern. Das Buch von Peter A. Fischer ist zu diesem Zweck in fünf Teile gegliedert, in denen der Leser *

Peter A. Fischer, On the Economics of Immobility, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 1999, 327 Seiten.

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einen detaillierten theoretischen und empirischen Überblick über die Einflußfaktoren der Entscheidung, zu wandern oder nicht zu wandern, erhält. Ausgangspunkt der Darstellungen bilden in Kapitel 2 die makroökonomischen Erklärungsansätze für Mobilität. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Bedeutung Migration für die regionale wirtschaftliche Entwicklung und ökonomische Integration hat. Im ersten Teil werden dabei die allokativen und distributiven Migrationswirkungen im neoklassischen Modell analysiert. Die komparativ-statische Darstellung der kurz- bis mittelfristigen Migrationswirkungen wird in diesem Zusammenhang durch eine Betrachtung der langfristigen dynamischen Auswirkungen der Wanderungsbewegungen ergänzt. Es wird deutlich, daß in der neoklassischen Modellwelt Wanderungsbewegungen dazu dienen, regionale Anpassungsprozesse zu beschleunigen und somit die langfristige interregionale Konvergenz zu unterstützen. Werden jedoch eine oder mehrere der rigiden Annahmen des neoklassischen Modells aufgehoben, so fuhrt die Migration nicht mehr zu einer Konvergenz zwischen den einzelnen Regionen, sondern zu einer zunehmenden Divergenz, wie im zweiten Teil deutlich wird. Fischer diskutiert hier die Auswirkungen unterschiedlicher Produktionstechnologien in den Regionen, zunehmender Skalenerträge und sozialer Externalitäten. In allen drei Fällen fuhrt Migration zumindest temporär zu steigender Divergenz und nicht zu Konvergenz. Im letzten Teil von Kapitel 2 werden die Auswirkungen von Migration im Rahmen wirtschaftsgeographischer Modelle aufgezeigt. Aufbauend auf diesen makroökonomischen Erklärungsansätzen fur die Migration und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die regionale Entwicklung von Wirtschaftsräumen, erfolgt in Kapitel 3 eine empirische Überprüfung dieser theoretischen Zusammenhänge. Dabei erfolgt eine deskriptive und panel-ökonometrische Analyse von Daten über die Entwicklungen in den Industrieländern und in den verschiedenen europäischen Regionen sowie von Daten über regionale Wanderungsbewegungen innerhalb Finnlands und Norwegens. Ziel Fischers ist es herauszufinden, ob es einen generellen Zusammenhang zwischen Migration und wirtschaftlicher Entwicklung gibt. Die Ergebnisse machen jedoch deutlich, daß das Zusammenwirken zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Migration zu komplex sein dürfte, um es mit Hilfe einer einfachen Analyse makroökonomischer Daten feststellen zu können. Ein weiterer Grund, warum sich kein Zusammenhang zwischen Migration und regionaler Entwicklung feststellen läßt, dürfte auch in der Tatsache liegen, daß die tatsächlichen Wanderungsbewegungen nur sehr gering sind und der Großteil der makroökonomischen Anpassungen zwischen Regionen über den interregionalen Handel und Kapitalbewegungen erfolgt. Als Ergebnis der empirischen Analyse muß daher festgehalten werden, daß es einer stärker mikroökonomisch fundierten Erklärung der Migrationsentscheidungen bedarf, um die zu beobachtenden Wanderungsbewegungen zu erklären. Diese mikroökonomische Erklärung der Mobilität bzw. Immobilität steht im Mittelpunkt von Kapitel 4. Im ersten Teil dieses Kapitels werden von Fischer die ökonomischen Determinanten der Wanderungsentscheidung wie Einkommensperspektiven, Wanderungskosten, der individuelle Zeithorizont und die Risikoeinstellung, ausgehend von einem einfachen Modell auf der Basis von Push- und Pull-Faktoren, analysiert. Durch die im zweiten Teil vorgenommene Erweiterung um multidisziplinäre Aspekte

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wie Familie, Netzwerke und soziale Referenzgruppen entsteht ein Modell, mit dessen Hilfe die beobachtbaren Migrationsströme recht gut erklärt werden können. Allerdings läßt sich mit Hilfe eines derartigen Modells die Immobilität des Großteils der Bevölkerung nur sehr unbefriedigend erklären. Fischer entwickelt daher im letzten Teil von Kapitel 4 eine sogenannte „insider advantages theory of immobility", um die vorherrschende Immobilität der Bevölkerung erklären zu können. Im Mittelpunkt dieses Erklärungsansatzes steht der mit einer Wanderung verbundene Verlust standortspezifischer Immobilitätsvorteile. Bezieht man diese explizit in die Erklärung des Wanderungsverhaltens der Bevölkerung mit ein, so lassen sich für die Mehrheit der Menschen überzeugende mikroökonomische Gründe finden, die Immobilität als Nutzenmaximierend erscheinen lassen. Immobilität erlaubt es den Menschen, ortsspezifisches Know-how zu nutzen, welches sie bei einer Wanderung verlieren würden, da es den Charakter von Sunk costs aufweist. Laut Fischer lassen sich diese ortsspezifischen Vorteile der Menschen, aus denen sich für sie ein Wert der Immobilität ergibt, in zwei Kategorien, produktionsorientierte Vorteile und konsumorientierte Vorteile, unterteilen. Im Rahmen der produktionsorientierten Vorteile lassen sich laut Fischer gesellschaftsspezifische, finnenspezifische und ortsspezifische Insidervorteile unterscheiden. Erstere ergeben sich aus lokalen, sozialen Netzwerken und gesellschaftsspezifischen Kenntnissen, die vielfach einen impliziten Versicherungscharakter haben und nicht an andere Standorte transferiert werden können. Firmenspezifische Insidervorteile entstehen aus dem qualifizierten, nicht transferierbaren Wissen und Kontakten, die sich während des Arbeitslebens innerhalb des Unternehmens ergeben haben. Zu den ortsspezifischen Insidervorteilen gehören schließlich die Kenntnisse über die ortsspezifische Produktionsfunktion und Technologie sowie über die ortsüblichen formellen und informellen Regeln. Neben diesen Insidervorteilen bei der Einkommenserzielung haben die Menschen auch Insidervorteile bei der Einkommensverwendung, sogenannte konsumorientierte Vorteile. Bei diesen lassen sich laut Fischer wiederum ortsspezifische und gesellschaftsspezifische Insidervorteile unterscheiden. Erstere ergeben sich aus den Kenntnissen über die lokalen Freizeitangebote mit ihren Preis-Leistungs-Verhältnissen und über das öffentliche Dienstleistungsangebot, die von den Menschen im Laufe der Zeit erworben worden sind. Die gesellschaftsspezifischen Insidervorteile entstehen aus dem Nutzengewinn auf Grund gesellschaftlicher Integration und Anerkennung, beispielsweise auf Grund der Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Der Wert dieses ortsspezifischen Know-how muß bei der Analyse der Migrationsentscheidung von Individuen explizit berücksichtigt werden, da Immobilität für den Menschen durch diese Faktoren einen Wert hat. Auf Grund dieses Wertes der Immobilität wird es auch erklärbar, warum trotz zum Teil erheblicher Einkommensunterschiede internationale Immobilität eher die Regel darstellt als die in vielen Modellen angenommene vollkommene Mobilität. Läßt sich mit Hilfe dieses Insideransatzes die zu beobachtende Immobilität der Menschen erklären? Mit Hilfe neuer anonymisierter Mikrodaten für die gesamte schwedische Wohnbevölkerung zwischen 1985 und 1995 wird der Erklärungsgehalt des InsiderAnsatzes in Kapitel 5 überprüft. Die empirischen Ergebnisse unterstützen die theoreti-

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sehen Aussagen des Insider-Ansatzes. Erstaunlicherweise liefern regionale makroökonomische Daten nur einen geringen Erklärungsbeitrag im Rahmen der Wanderungsentscheidungen der schwedischen Bevölkerung. Fischer zieht daher die Schlußfolgerung, das in hochentwickelten und spezialisierten Ländern wie Schweden Immobilität die folge individueller Nutzenmaximierung darstellt und nicht direkt von der Arbeitsmarktsituation bestimmt wird, weshalb diese auch keinen Erklärungsbeitrag für die Wanderungsentscheidung des einzelnen beitragen kann. Im letzten Kapitel setzt sich Fischer mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen die in der Bevölkerung trotz fortschreitender Globalisierung weiterhin vorhandene Immobilität fur die Wirtschaftspolitik hat. Es wird deutlich, daß es für die Regionen in Zukunft am vorteilhaftesten ist, sich darauf zu spezialisieren bestimmte mobile Faktoren anzuziehen. Fischer macht in diesem Zusammenhang deutlich, daß es durch die Globalisierung im Interesse der (rationalen) immobilen Faktoren ist, die mobilen Faktoren nur im Sinne von Nutzungsgebühren zu besteuern. Der Grund ist, daß durch die steigende Elastizität des Angebots an mobilen Faktoren die allokativen Verzerrungen, die durch Steuern auf mobile Faktoren hervorgerufen werden, zunehmen. Fischer zeigt auch, daß Globalisierung in diesem Zusammenhang nicht Internationalisierung der Politik bedeuten muß, vielmehr wird den Regionen und der regionalen Politik eine immer größere Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung zukommen. Diese Entwicklungen können allerdings zu erheblichen Problemen führen, da die Regionen auf Grund regionaler Arbeitsmärkte abzugrenzen sind und nicht auf Grund nationalstaatlicher Grenzen. Den Nationalstaaten werden auf diese Weise politische Einflußmöglichkeiten verloren gehen. Abschließend ist zu sagen, daß das Buch von Peter A. Fischer einen umfassenden Überblick über Gründe von Migrationsentscheidungen der Individuen liefert. Er konzentriert sich dabei vor allem auf die Gründe der Immobilität, wodurch die Diskussion über internationale Wanderungsbewegungen um einen wichtigen Aspekt ergänzt wird. In der öffentlichen Diskussion wird nämlich in der Regel übersehen, daß der Großteil der Bevölkerung nicht wandert und den Bestimmungsfaktoren der Immobilität daher größere Bedeutung beizumessen wäre. Es bleibt zu hoffen, daß durch Fischers Buch auch in der Wissenschaft die Diskussion über die Immobilität von Wirtschaftssubjekten stärkere Beachtung findet. Vor allem die Diskussionen über den freien Personenverkehr und die Freizügigkeit der Arbeitskräfte, die im Rahmen der EU-Osterweiterung immer mehr in den Mittelpunkt der politischen Diskussion rücken, können mit Hilfe von Fischers Analyse auf eine neue Basis gestellt werden.

ORDO • Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Arne Feddersen

Politik und Währung Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Markus Freitag* Das vorliegende Buch von Markus Freitag ist als Dissertation an der Universität Bern entstanden. Es handelt sich bei dieser Studie um den Versuch, die zahlreiche Literatur zur rein ökonomischen Erklärung von Wechselkursschwankungen durch eine Betrachtung von politischen Bestimmungsgründen zu ergänzen. Hierzu bedient sich Freitag einer umfangreichen ökonometrischen Analyse. Die Studie ist dabei zweckmäßig wie folgt aufgebaut. Der Einleitung folgt eine Übersicht des bisherigen Forschungsstandes. Hier wird zunächst ein kurzer Überblick der verbreiteten Wechselkurstheorien gegeben. Anschließend werden diese einer ersten bivariaten Korrelationsanalyse unterzogen. Darauf folgend werden der Wechselkurs als zu erklärendes Phänomen in der Politikwissenschaft betrachtet und einige politikwissenschaftliche Erklärungsansätze zur Wechselkursbestimmung beurteilt. Die Vorbereitungen zur eigentlichen Untersuchung schließt eine Vorstellung des eigenen Forschungsdesigns ab. Dabei kombiniert Freitag ökonomische und politikwissenschaftliche Erklärungsansätze, hier namentlich die Theorien des politischen Konjunkturzyklus (insbesondere den Credibility-Ansatz), und die Theorien der international vergleichenden Staatstätigkeit. Im folgenden Kapitel werden die politischen Variablen als Determinanten des Wechselkurses mittels einer empirischen Querschnittsanalyse überprüft. Nach diesen bivariaten Analysen wird im fünften Kapitel die Erklärungskraft ökonomischer und politisch-institutioneller Ursachen ungleicher Währungsentwicklungen mit Hilfe von multivariaten Schätzmethoden untersucht. Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse im Lichte der Globalisierung und insbesondere der starken Integration der internationalen Finanzmärkte betrachtet. Abschließend folgt ein Fazit mit einem interessanten Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des Euro. Ausgangspunkt für die Studie von Freitag ist die Feststellung, daß die Währungsentwicklungen im Nationenvergleich seit dem Ende des Systems fester Wechselkurse von Bretton Woods 1973 stark divergieren. Seitdem reihen sich Staaten mit aufwertenden Währungen neben Länder, die sich in unterschiedlicher Weise mit dem Wertverlust ihrer Währung im Zeitablauf konfrontiert sehen. Zudem zeigten sich in der jüngeren Währungsgeschichte verstärkte Währungskrisen, so z.B. die EWS-Krise (1992) und die Krisen in Südostasien, Rußland und Lateinamerika (1998), infolge derer wiederum die als sicher geltenden Währungshäfen Deutschland und Schweiz vermehrte Kapitalimporte verzeichneten und die Deutsche Mark wie der Schweizer Franken unter Aufwertungs*

Markus Freitag, Politik und Währung: Ein internationaler Vergleich, Bemer Studien zur Politikwissenschaft, Band 8, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 1999, 243 Seiten.

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druck gerieten. In der Regel wird versucht, die Ursachen dieser Divergenzen mit Hilfe der bekannten ökonomischen Wechselkurstheorien, die makroökonomische Fundamentalfaktoren in den Vordergrund stellen, zu erklären. Es zeigt sich aber, daß die klassischen Wechselkurstheorien einer empirischen Überprüfung nicht in vollem Umfang standhalten, sondern daß sich Wechselkurse eher zufallsbedingt (Random walk-Hypothese) als von Fundamentalfaktoren bestimmt entwickeln (Maennig und Wilfling 1998, 371f.). Auch im Lichte der aktuellen Entwicklung des Euro zeigen sich Schwächen bei der Begründung des Wechselkurses auf der Grundlage rein makroökonomischer Fundamentalfaktoren. Diese Schwächen versucht Freitag mittels einer systematischen Erweiterung der bestehenden Erklärungsansätze durch die zusätzliche Betrachtung von politischen und institutionellen Ursachen von Währungsschwankungen, unter Beibehaltung der ökonomischen Bestimmungsgründe, zu mindern. Als abhängige Variable wählt Freitag bei seinen Analysen die unterschiedlichen jährlichen Auf- bzw. Abwertungsraten der inländischen Währungen zwischen 1973 und 1995 in ausgewählten OECD-Staaten. Der Beginn des Untersuchungszeitraumes entspricht dabei dem Ende des Systems fester Wechselkurse von Bretton Woods. Als Indikator für die Währungsentwicklungen ist der effektive nominale Wechselkurs des Internationalen Währungsfonds herangezogen worden. Dieser mißt, als multilateraler Kurs angelegt, den Wert einer Währung gegenüber einem gewichteten Bündel anderer Währungen (International Monetary Fund 1997). Freitag begründet die Wahl des nominalen Wechselkurses wie folgt. Erstens informiert er über die gesamten Austauschbeziehungen eines Landes mit seinen Handelspartnern. Zweitens zeigt er eine starke Abhängigkeit von Kapitalbewegungen, die fur die Wechselkursentwicklung von zunehmender Bedeutimg sind. Drittens läßt sich eine hohe Korrelation zwischen nominalem und realem Wechselkurs feststellen ( Willms 1995, 143). Die Studie beruht, aus Gründen der Vergleichbarkeit der Fälle, auf den folgenden 18 OECD-Staaten: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, die Schweiz, und die Vereinigten Staaten von Amerika. Als politische Variablen, Freitag sieht sich in diesem Zusammenhang in der Tradition der international vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, identifiziert er den Status der Zentralbank, die Form der Demokratie, die Stabilität der Regierung, die wirtschaftspolitischen Präferenzen der Regierungsparteien, die Konfliktträchtigkeit der Arbeitsbeziehungen, die Struktur des Staatsaufbaus (fiskalpolitischer Schwierigkeitsgrad), den Grad der Offenheit einer Volkswirtschaft und die Zugehörigkeit zu einem Währungsregime. In einem ersten Analyseschritt wird der bivariate Zusammenhang zwischen den zentralen Variablen der ökonomischen Wechselkurstheorien (Inflationsdifferenz, Leistungsbilanzsaldo, Zinsdifferenz, jährliche Wachstumsrate der inländischen Geldmenge) und den beobachteten Wechselkursentwicklungen überprüft. Hier erzielt Freitag, im Gegensatz zu seinen eher skeptischen Voreinschätzungen bezüglich der ökonomischen Theorien, für empirische Analysen zu diesem Thema erstaunlich gute Ergebnisse (Taylor 1995). So errechnet er fur die Beziehung zwischen Wechselkurs und internationaler Zinsdifferenz einen erklärten Zusammenhang von nahezu 80 Prozent (R2= 0,7966). Selbst bei den übrigen bivariaten Schätzungen erhält er für die restlichen Variablen ein

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Bestimmtheitsmaß von mehr als 0,4 (S. 36 f.). Dies ist insofern von Bedeutung, weil er im Verlauf seiner Untersuchung bei den multivariaten Schätzungen deutlich geringere, allerdings korrigierte Bestimmtheitsmaße erhält. Dennoch erscheint es, nicht zuletzt durch die teilweise hohen Signifikanzen in den multivariaten Modellen, von Interesse zu sein, auch die politischen Variablen und ihren Einfluß auf die Wechselkursentwicklung zu analysieren. Dazu stellt Freitag im vierten Kapitel zu jeder dieser politischen Variablen eine Hypothese bezüglich des jeweiligen Einflusses auf den Wechselkurs auf, anhand derer zunächst einzelne bivariate Korrelationsanalysen durchgeführt werden. Die erste Schwierigkeit stellt dabei die Operationalisierung der einzelnen politischen Variablen dar. Die Quantifizierung dieser Variablen entlehnt er verschiedenen, vornehmlich politikwissenschaftlich geprägten Untersuchungen. Dabei importiert er auch deren immanente Schwächen, die bei der Übertragung von qualitativen Merkmalsausprägungen auf eine quantitative Skala zwangsläufig entstehen. Durch die Betrachtung mehrerer Untersuchungen zu jeder politischen Variablen und die Ermittlung von Rangkorrelationen zwischen diesen Untersuchungen versucht er jedoch diese Schwächen zu heilen. Die quantifizierten Variablen sind daher nicht willkürlich festgelegt, sondern erscheinen in hohem Maße nachvollziehbar. Es werden zwar für nahezu alle politischen Variablen geringere Bestimmtheitsmaße ermittelt, als dies bei einigen ökonomischen Variablen der Fall ist, dennoch erscheint auch hier die erklärte Varianz von 23 - 65 Prozent im Angesicht üblicher Werte im Rahmen von Untersuchungen zu Wechselkursschwankungen akzeptabel. Für alle Variablen läßt sich zudem ein signifikanter Einfluß feststellen. Im Rahmen der bivariaten Analyse kommt Freitag dabei zu folgenden, nicht immer überraschenden, Ergebnissen. Eine Aufwertungstendenz weisen Länder auf, die eine unabhängige Zentralbank besitzen, deren Staatsform der einer Konsensdemokratie am ehesten entspricht, deren Arbeitsbeziehungen konfliktarm sind, die hohe institutionelle Hürden gegen starken fiskalpolitischen Instrumenteneinsatz besitzen sowie langfristig einem Währungsregime angehören (S. 162). Im fünften Kapitel erfolgt eine simultane Überprüfung aller Korrelationsbefunde unterschiedlicher Wechselkursentwicklungen. Um das Problem der bei nur 18 Untersuchungsfällen bei multivariaten Schätzungen auftretenden niedrigen Zahl der Freiheitsgrade zu vermeiden, verwendet Freitag eine gepoolte Zeitreihen-Querschnitts-Analyse. Nachdem er zuerst die ökonomischen und politisch-institutionellen Variablen in getrennten multivariaten Schätzungen analysiert, betrachtet er im Abschluß des Kapitels ein integriertes polit-ökonomisches Modell. Für die separaten Modelle errechnet er signifikante korrigierte Bestimmtheitsmaße von 0,21 und 0,22. Wobei der Erklärungsgehalt des politisch-institutionellen Modells leicht höher ausfällt. Für das kombinierte polit-ökonomische Modell ergibt sich ein, ebenfalls signifikantes, korrigiertes R2 von 0,26. Wenn die einzelnen Variablen betrachtet werden, dann stellt sich heraus, daß lediglich die Unabhängigkeit der Zentralbank, der Demokratietypus, die Konfliktträchtigkeit der Arbeitsbeziehungen sowie die Zugehörigkeit zu einem Wechselkursregime in allen Modellen einen signifikanten Einfluß auf den Wechselkurs besitzen (S. 183). Im sechsten Kapitel beschäftigt sich Freitag mit der Frage der Auswirkung der Globalisierung auf die Erklärungsmuster von Wechselkursveränderungen. Die hier betrach-

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teten 18 OECD-Staaten haben seit Mitte der 1980er Jahre ihre Kapitalmärkte sehr stark liberalisiert. Um die in diesem Zusammenhang auftretenden verstärkten Kapitalbewegungen, die fur die Wechselkursentwicklung von zunehmender Bedeutung sind, zu erfassen, trennte er seine Betrachtungen in zwei Zeitreihen-Modelle auf (1973-1984 und 1985-1995). Dadurch steigt der Erklärungsgehalt gegenüber dem Modell des gesamten Zeitraumes, so daß sich fur die Periode von 1973-1984 ein korrigiertes R2=0,31 und für die Periode von 1985-1995 ein korrigiertes R2=0,34 ergibt. Es erweist sich allerdings, daß nur die Zentralbankunabhängigkeit in beiden Perioden einen signifikanten Einfluß auf den Wechselkurs besitzt. Ansonsten haben sich die Bestimmungsgründe verändert. Für die, aus unserer Sicht interessante, Globalisierungsperiode haben vor allem der Demokratietypus und die Regierungsstabilität einen signifikanten Einfluß. Etwas verwundert zeigt sich Freitag, daß der fiskalpolitische Schwierigkeitsgrad im Gegensatz zur Periode von 1973-1984 in der Globalisierungsperiode keinen signifikanten Einfluß auf die Wechselkursentwicklung hat (S. 196). Zu beachten ist jedoch, daß der fiskalpolitische Schwierigkeitsgrad keinen direkten Einfluß auf den Wechselkurs hat. Die Beeinflussung erfolgt über die erwartete und tatsächliche fiskalpolitische Tätigkeit. Der Schwierigkeitsgrad ist dabei nur ein Indikator dafür, wie leicht es den jeweiligen Regierungen gemacht wird, eine expansive Fiskalpolitik durchzuführen. Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich jedoch in den meisten der westlichen Industrieländer ein Wandel hin zu einer konsequenten Stabilisierungspolitik ergeben, der nicht unbedingt institutionalisiert worden ist. Somit hat sich die wechselkursbeeinflussende Fiskalpolitik verstetigt, ohne daß sich der fiskalpolitische Schwierigkeitsgrad entsprechend verändert haben muß. Zum Abschluß seiner Studie versucht Freitag seine Ergebnisse auf die neueren Entwicklungen in der Währungspolitik zu übertragen. Sein Hauptaugenmerk richtet er hierbei auf die aus seiner Sicht, die vorliegende Studie wurde im Mai 1999 als Dissertation angenommen, zukünftige europäische Einheitswährung. Er unternimmt den Versuch, die Stabilität des Euro anhand der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen zu prognostizieren. Hierzu vergleicht er die Europäische Zentralbank, die Demokratieform der EU, die Ausprägung der Fiskalpolitik sowie die Konfliktträchtigkeit der Arbeitsbeziehungen innerhalb der EU. Dabei läßt er sich nicht auf eine abschließende Beurteilung der zukünftigen Stabilität des Euro ein. Das ist auch auf den frühen Zeitpunkt, zu dem die Studie verfaßt wurde, zurückzuführen. Ein interessanter Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen mit Freitags Forschungsansatz bietet sich hier jedoch auf alle Fälle. Die Studie von Freitag stellt eine interessante Erweiterung der vornehmlich rein ökonomisch geprägten Literatur zur Erklärung von Wechselkursentwicklungen dar. Wie schon angedeutet, erscheint auch der Forschungsbedarf auf diesem Teilgebiet noch nicht gedeckt. Es muß jedoch auch eine kleine Kritik an Markus Freitag vorgenommen werden. Er hat den Vorsatz, die bestehenden Theorien zur Wechselkursentwicklung durch ein politisch-institutionelles Modell zu erweitern. Dabei macht er jedoch nicht deutlich genug, daß seine politischen und institutionellen Variablen in der Regel den Wechselkurs nicht direkt beeinflussen, sondern größtenteils über die Glaubwürdigkeit der Politik Einfluß auf die Preisniveaustabilität und damit auf den Wechselkurs ausüben. Somit stellt er eigentlich kein eigenständiges Modell auf, sondern liefert nur Er-

Politik und Währung - 3 5 7 klärungsmöglichkeiten für eine in vielen ökonomischen Modellen vorhandene Variable: die Inflationsrate. Dies gesteht er sich sogar indirekt ein (S. 180), jedoch am Ende der Studie und leider zu zaghaft.

Literatur International Monetary Fund (1997), International Financial Statistics Yearbook, Washington. Maennig, Wolfgang und Bernd Wilfling (1998), Außenwirtschaft: Theorie und Politik, München. Taylor, Mark P. (1995), The Economics of Exchange Rates, The Journal of Economic Literature, Vol. 33, S. 13-47. Willms, Manfred (1995), Internationale Währungspolitik, 2. Auflage, München.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Sven L. Eisenmenger

Wettbewerbsorientierte Reformen der Stromwirtschaft Besprechung der gleichnamigen institutionenökonomischen Analyse von Lars Kumkar Für die deutsche Stromwirtschaft war der 29. April 1998 das wohl einschneidendste Ereignis in ihrer rund einhundertjährigen Geschichte. Der Wettbewerb hat mit der Umsetzung der EG-Richtlinie Strom in deutsches Recht Einzug in die deutsche Elektrizitätswirtschaft gehalten (Gröner und Sauer 2000, 435 ff.). Die wissenschaftliche Aufarbeitung nicht nur der ökonomischen, sondern gerade auch der technischen Fragestellungen jener Liberalisierung hat begonnen. Die institutionenökonomische Analyse „Wettbewerbsorientierte Reformen der Stromwirtschaft" von Lars Kumkar gibt einen aktuellen Überblick über die grundsätzlichen Probleme der Elektrizitätswirtschaft und zeigt theoriegeleitet ökonomische Lösungsansätze, nicht zuletzt auch für den deutschen Strommarkt, auf. Im ersten Schwerpunkt werden in dieser Untersuchung die technischen und damit bestehenden ökonomischen Besonderheiten der Stromwirtschaft problematisiert (S. 3 ff.). Schließlich werden in einer institutionenökonomischen Analyse Vorschläge für eine sinnvolle Regulierung dieses Wirtschaftszweiges, insbesondere des Stromtransportes, entwickelt (S. 53 ff.). Die Arbeit führt sodann in eine vergleichende Analyse alternativer Liberalisierungsmodelle als weitere Referenzgrundlage (S. 200 fif.). Die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse über eine sinnvolle Regulierung des Elektrizitätsmarktes werden schließlich auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen und mit praktischen Forderungen verbunden (S. 334 ff.). Im folgenden werden einige wesentliche Punkte dieser Untersuchung herausgegriffen. Den ersten Schwerpunkt bildet die Einführung in die technischen Besonderheiten der Stromwirtschaft als allgemeine Diskussionsgrundlage. Dabei gibt Kumkar zunächst einen Überblick über die Kostenstruktur der Stromerzeugung. Schließlich wird der Stromtransport, also die Übertragung und Verteilung, analysiert. Kumkar zeigt, daß die hohe Kapitalintensität und die Kapitalbindungsdauer sowie die Leitungsgebundenheit das Vorliegen eines natürlichen Monopols beim Stromtransport als Teilbereich der Stromwirtschaft begründen (S. 34). Diese Feststellung nimmt eine zentrale Rolle in den folgenden Kapiteln, insbesondere bei der Darstellung alternativer Liberalisierungsmodelle, ein. Im letzten Schritt werden Koordinierungserfordernisse im Hinblick auf die Kraftwerkseinsatzplanung vorhandener Netze sowie für den Bau und die Stillegung von Anlagen zur Erzeugung aufgezeigt. Die Koordination solle bei den integrierten Unter*

Lars Kumkar, Wettbewerbsorientierte Reformen der Stromwirtschaft: Eine institutionenökonomische Analyse, Kieler Studien, Band 305, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2000, 500 Seiten.

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nehmen selbst oder in privatwirtschaftlichen Koordinationsformen realisiert werden, öffentliche Regulierung sei dagegen nur notwendig, soweit gesamtwirtschaftliche Ineffizienzen vorlägen (S. 52). Grundsätzlich besteht damit eine klare Aussage zugunsten privatwirtschaftlicher Eigenregulierung. Im zweiten Kapitel unternimmt Kumkar eine Analyse der Stromwirtschaft aus institutionenökonomischer Sicht. Die grundlegende Frage dieses stark theoriegeleiteten Kapitels lautet, wie eine institutionelle Regulierung der Stromwirtschaft ausgestaltet sein kann. Dazu wird zunächst die Institutionenökonomik allgemein erläutert. Sodann wird speziell eine industrieökonomische Analyse der Stromwirtschaft vorgenommen. Kumkar hebt dabei hervor, daß hoch konzentrierte Märkte und vermeintlich effizienzgefahrdende Verhaltensweisen im Strommarkt nicht a priori Anzeichen einer schädlichen Monopolisierung seien. Die bestehenden komplexen Koordinierungsstrukturen in der Stromwirtschaft seien vielmehr nur als Antwort auf die schwierigen technischen und vertragsökonomischen Besonderheiten aufzufassen. Eine Rechtfertigung für eine allgemeine öffentliche Regulierung, und dies gerade im Bereich der Erzeugung, könne daraus aber nicht gefolgert werden (S. 91 f.). Eine Ausnahme bestehe allerdings im Bereich des Stromtransportes, bei dem öffentliche Regulierung notwendig sei (S. 117 ff.). Auf der Basis einer regulierungsökonomischen Analyse wird gefragt, wie die Ausgestaltung der Regulierung im Stromtransport aussehen kann. Hierzu wird ein dezidierter Überblick über Kostenermittlungsverfahren (Rendite- versus Preisgrenzenregulierung) gegeben, wobei kein Modell für sich, sondern vielmehr eine Zusammenführung beider Modelle anhand der jeweiligen Gegebenheiten des Landes befürwortet wird. Ferner wird auch ein Einblick in eine effiziente Preisstrukturregulierung durch einen öffentlichen Regulierer gewährt. Anhand eines konkreten Fallbeispiels wird die Ableitung von Stromtransportpreisen nach dem Konzept der „nodalen Preise", dem Nachfolger des Konzeptes der „Kontraktpfade", veranschaulicht (S. 149 ff.). Den dritten Schwerpunkt der Untersuchung bildet schließlich ein praktischer Vergleich alternativer Liberalisierungsmodelle. Dabei stellt Kumkar vier denkbare Modelle mit aufsteigendem Grad der Liberalisierung dar: das sogenannte „Alleinabnehmermodell", das Modell spezifischer Durchleitungsrechte in Form des „verhandelten Netzzugangs" sowie zwei wirkliche Deregulierungsmodelle, und zwar das „Poolmodell" mit vollständiger Deregulierung der Stromerzeugung und partieller Deregulierung des Stromhandels sowie das „Common Carrier-Modell" mit vollständiger Deregulierung von Stromerzeugung und -handel. Die überaus interessante Frage nach dem idealen Modell muß im wesentlichen anhand von drei Kriterien entschieden werden: Marktgröße, Netzausbaustand sowie Stabilität des institutionellen Umfelds des jeweiligen Landes. Hierzu wird tabellarisch eine abstrakte Prüfungsreihenfolge für jedes in Frage stehende Land entwickelt (S. 332). Im letzten Kapitel der Untersuchung Kumkars werden die vorangegangenen Ergebnisse auf den deutschen Elektrizitätsmarkt zusammenfassend übertragen. Nach Ansicht des Verfassers ist für Deutschland das „Common Carrier-Modell" mit dem höchsten Grad der Liberalisierung empfehlenswert. Grund hierfür sind die Größe des deutschen Marktes, der gute Netzausbaustand und ein passendes institutionelles Umfeld (S. 348).

Stromwirtschaft · 361 Diese Erkenntnis wird zudem um konkrete Empfehlungen für die Netznutzung, Netznutzungspreise, die Ausgestaltung des Stromhandels, die öffentliche Regulierung des Stromtransportes sowie um Vorschläge für die Liberalisierung des Anlagenbaus in Erzeugung und Transport erweitert (S. 349ff.). Neben der Frage, „wie" also die Regulierungspolitik in Deutschland aussehen kann, wird im Überblick auch das Problem aufgeworfen, „wer" als Regulierungsinstanz in Frage kommt: das zuständige Ministerium, eine Regulierungsbehörde, die Kartellbehörde oder die Gerichte (S. 374ff.)? Die Gerichte seien allein als Regulierungsinstanz keinesfalls ausreichend, sondern zusätzlich müßte das Kartellamt oder eine separate Regulierungsbehörde als Regulierer einbezogen werden. Jedenfalls sind eine Rechenschaftspflicht, die Unabhängigkeit und die Entscheidungstransparenz als essentielle Handlungsmaximen eines solchen Regulierers unabdingbar (S. 387). Kumkar fordert in seinem Fazit die Einführung des Common Carrier-Modells in Deutschland, wo bisher schwerpunktmäßig das Modell des „verhandelten Netzzugangs" umgesetzt wurde. Femer empfiehlt er erhebliche Veränderungen des Energiewirtschaftsrechtes, insbesondere eine Abänderung des prioritären Eigennutzungsrechtes der Transportunternehmen sowie eine drastische Einengung der Durchleitungsverweigerungsrechte. Dabei handelt es sich zum einen um die sogenannte „Braunkohleschutzklausel", die den Stromtransportuntemehmen ein Durchleitungsverweigerungsrecht einräumt, um eine ausreichend hohe Verstromung von Braunkohle aus Ostdeutschland zu gewährleisten. Zum anderen liegt eine wettbewerbshinderliche Schutzklausel als Durchleitungsverweigerungsrecht für Strom aus Kraft-Wärme-Koppelungsanlagen vor. Ein ebenso wettbewerbsschädliches Durchleitungsverweigerungsrecht besteht in der Schutzklausel vor ausländischen Stromlieferanten als sogenannter „Reziprozitätsklausel" (Theobald und Zenke 2001, S. 19ff). Alle diese Durchleitungsverweigerungsrechte sollten deutlich eingeengt werden (S. 423). Ein Überblick über Erfahrungen mit dem Regulierungsrisiko in der US-Stromwirtschaft sowie eine Darstellung der europäischen Stromrichtlinie mit ihren Umsetzungen in das deutsche Recht runden die Untersuchung im Anhang ab. Die vorliegende Arbeit besticht insgesamt durch ihre dezidierte Analyse der als äußerst komplex einzuordnenden Fragestellungen in der neueren Stromwirtschaft. Gerade der erste Schwerpunkt der Untersuchung gibt einen guten Überblick über die technischen und ökonomischen Besonderheiten der Stromwirtschaft und führt dem Leser die bestehenden Problemstellungen in einer klaren Abhandlung vor. Der zweite Schwerpunkt, die institutionenökonomische Analyse, bleibt zunächst relativ abstrakt, erhält dann aber im Rahmen der regulierungsökonomischen Analyse, insbesondere bei der Stromtransportpreisbetrachtung, sehr praktische Konturen. Die vergleichende Analyse alternativer Liberalisierungsmodelle und die Übertragung auf den deutschen Markt mit den daraus resultierenden Reformvorschlägen vermitteln dem Leser einen überaus klaren und zugleich tiefgründigen Einblick in die praktische Seite der Stromwirtschaft. Ergänzend ist im Hinblick auf die Frage einer Regulierungsbehörde im deutschen Elektrizitätsmarkt auf eine neue Untersuchung von Brunnekreeft und "Keller (2000, S. 125 ff.) hinzuweisen, die sich kritisch mit den bisher getroffenen privatwirtschaftlichen „Verbändevereinbarungen" und der Notwendigkeit einer Regulierungsinstanz auseinan-

362 · Sven L. Eisemnenger dersetzt. Gerade das hohe Niveau der Netzzugangsgebühren wird in dieser Untersuchung als Indiz dafür gewertet, daß in Deutschland eine effektive, öffentliche Regulierungsinstanz erforderlich sei. Das Postulat einer ausgewiesenen Regulierungsbehörde für den Stromtransportbereich, wie sie die vorliegende institutionenökonomische Analyse ebenfalls fordert, wird damit um so mehr durch jene Untersuchung gestützt. Das Verständnis der institutionenökonomischen Materie wird durch gelungene Einleitungen und durch zahlreiche Zwischen- und Endergebnisse sowie Schaubilder erleichtert. Kumkar hat insgesamt mit seinem Beitrag zu den wettbewerbsorientierten Reformen der Stromwirtschaft neuen Diskussionsstoff für die bestehenden Probleme geliefert und wertvolle Denkanstöße für weitere Reformüberlegungen entwickelt.

Literatur Brunekreeft, Gert und Katja Keller (2000), Elektrizität: Verhandelter versus regulierter Netzzugang, in: Günter Rnieps und Gert Brunekreeft (Hrsg.), Zwischen Regulierung und Wettbewerb: Netzsektoren in Deutschland, Heidelberg, S. 125-149. Gröner, Helmut und Gerhard Sauer (2000), Künftige kommunale Stromversorgung in Deutschland: Wettbewerb oder Konservierung von Privilegien?, in: Bernhard Külp und Viktor Vanberg (Hrsg.), Freiheit und wettbewerbliche Ordnung: Gedenkband zur Erinnerung an Walter Eucken, Freiburg i.Br., S. 435-457. Theobald, Christian und Ines Zenke (2001), Der Zugang zu Strom- und Gasnetzen: Eine Rechtsprechungsübersicht, Wirtschaft und Wettbewerb, 51. Jg., S. 19-36

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Thomas Welsch

Die Europäische Währungsunion Zum gleichnamigen, von Wolfgang J. Miickl herausgegebenen Buch* Der von Wolfgang J. Mückl herausgegebene Sammelband „Die Europäische Währungsunion" enthält vier Vorträge eines Symposiums der Sektion Wirtschafts- und Sozialwissenschaft der Gö/res-Gesellschaft, das im November 1998 in Bad Honnef stattgefunden hat. Der Band wurde um einen Beitrag ergänzt, um die Gesamtthematik abzurunden. In seinen einleitenden Ausführungen stellt Mückl fest, daß die „Errichtung einer Europäischen Währungsunion ohne gleichzeitige Fortentwicklung einer politischen Union der Mitgliedsländer" historisch beispiellos sei. In der Wirtschaftspolitik sieht er das entscheidende Moment, dieses Vorhaben zum Erfolg zu fuhren. So wirft er Fragen auf, die gleichsam als Kristallisationskerne einer adäquaten Wirtschaftspolitik dienen und in den Beiträgen des Bandes beantwortet werden sollen. Thematisiert werden unter anderem Folgen der Verlagerung geld- und währungspolitischer Kompetenzen auf supranationale Entscheidungsträger, Anpassungszwänge auf den Arbeitsmärkten, Möglichkeiten nationaler Finanzpolitik und Finanzausgleichssysteme. Friedrich Geigant vergleicht das Europäische System der Zentralbanken mit dem Referenzmodell der Deutschen Bundesbank, und zwar im Hinblick auf die Frage der Entwicklung, der Unabhängigkeit von staatlichen Weisungen und der demokratischen Legitimation. Seine Kritik an der „übermächtig gewordene[n] mittelbare[n] Staatsverwaltung Deutsche Bundesbank" (S. 27) überrascht. In der ablehnenden Haltung des früheren Bundesbankpräsidenten Karl Blessing zum staatlichen Ausgabenwachstum erblickt der Autor ein Demokratiedefizit: „Solche Erlaubnisse oder Verweigerungen, sollte man meinen, stünden in der Demokratie einem Parlament zu, nicht einer mittelbaren Staatsverwaltung" (S. 22). Geigant traut entweder einer parlamentarisch kontrollierten Zentralbank eher eine stabilitätsgerechte Geldpolitik zu, oder er sieht darin kein vorrangiges Ziel der Wirtschaftspolitik. Das letztere scheint der Fall zu sein, denn in der im Vergleich zur Deutschen Bundesbank gestärkten Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sieht Geigant ,,ein[en] Katalysator des Rückzugs der Geldpolitik aus prozessualer Einflußnahme" und stellt fest: „Geld wird somit auf das Mill'sehe Paradigma zurückgesetzt, stabilitätsverpflichtete Strukturkomponente zu sein. ... Nutzbarmachung für antizyklische Politik und schlechthin jedes schockreaktive Verhalten verbieten sich für dieses auf regelmäßigen Takt gestimmte Herzstück der Wirtschaft" (S. 44). Dieses *

Wolfgang J. Mückl (Hrsg.), Die Europäische Währungsunion, Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge, Band 90, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien und Zürich 2000, 159 Seiten.

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Plädoyer für eine diskretionäre konjunkturorientierte Geldpolitik hätte man angesichts der damit gemachten negativen Erfahrungen gerne näher begründet gesehen. Im zweiten Beitrag beschäftigt sich Wolfgang Harbrecht mit den Perspektiven der Geldwertstabilität des Euro. Aus der Feststellung, daß im Vertrag von Maastricht die Grundelemente der deutschen Geldordnung übernommen und rechtlich eindeutiger formuliert worden sind, werden für die europäische Geldordnung mindestens ebenso gute formale Voraussetzungen für ein hohes Maß an Geldwertstabilität gefolgert, wie sie die deutsche Geldverfassung bot (S. 54 f.). Harbrecht fragt dann nach der Bedeutung der Konvergenzkriterien für die Stabilität des Euro. Die Schlußfolgerung, nach der „von der im Endeffekt nicht genauen Einhaltung der Konvergenzkriterien ebensowenig eine unmittelbare Gefahrdung der Geldwertstabilität des Euro ausgehen dürfte wie umgekehrt ihre strikte Einhaltung noch keine Garantie für eine stabile europäische Währung in der Zukunft gewesen wäre" (S. 60), ist unmittelbar einsichtig. Hinsichtlich der von der Geld-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik ausgehenden Einflüsse legt der Autor ausfuhrlich dar, warum mit einem eher stabilen Euro zu rechnen ist. Die Begründung hierfür läßt Zweifel aufkommen, nicht nur, weil seit Erscheinen des Bandes einige der geäußerten Erwartungen nicht eingetreten sind. Dies gilt vor allem für die vom Verfasser erwarteten Anpassungen auf den Arbeitsmärkten, aber auch für das, was Harbrecht selbst betont: Die Europäische Zentralbank muß sich erst noch in der Abwehr von Begehrlichkeiten beweisen. Bernhard Herz und Marcus Cieleback teilen in ihrem Beitrag über den Euro als internationale Währung die Ansicht von Harbrecht, nach der der Wechselkurs US-Dollar/ Euro durch eine Dollar-Stärke, nicht durch eine Euro-Schwäche gekennzeichnet ist (S. 71, 81). Eine internationale Währung müsse die drei grundlegenden Geldfunktionen, die Funktion als Recheneinheit, als Transaktions- und Wertaufbewahrungsmittel, erfüllen. Die Verwendung der Währung in jeder dieser Funktionen verursacht Kosten, die beeinflußt werden durch die Stabilität der Währung, die Größe oder wirtschaftliche Bedeutung des Währungsraumes und die Breite und Tiefe seiner Finanzmärkte (S. 85). Die Währung mit den geringsten Kosten wird sich - so nehmen die Autoren an - im internationalen Wettbewerb durchsetzen. Dabei könne es in Abhängigkeit von der Geldfunktion vorteilhaft sein, international mit nur einer oder aber mit konkurrierenden Währungen zu agieren. In ihrer empirischen Untersuchung zeigen die Autoren, wie sich die internationale Verwendung verschiedener Währungen in den genannten Funktionen seit Einführung des Goldstandards im 19. Jahrhundert verändert hat und welche Bestimmungsgründe hierfür ausschlaggebend waren. Vor allem die relative Konstanz der Anteile der Währungen an internationalen Transaktionen (die Autoren sprechen von einem Hysterese-Effekt, S. 85) ist von Interesse, wenn die künftige Rolle des Euro untersucht wird. Herz und Cieleback kommen zu dem Schluß, daß - eine stabilitätsorientierte Politik der Europäischen Zentralbank vorausgesetzt - der Euro eine wichtige Anlage- und Reservewährung werden kann. Seine Funktion als Transaktions- und Fakturierungswährung beurteilen die Autoren zurückhaltender, wenngleich der Euro - nicht zuletzt wegen der Bemühungen mittel- und osteuropäischer Länder um eine engere Anbindung an die Europäische Union - auch in dieser Funktion an Bedeutung gewinnen könnte.

Europäische Währungsunion • 3 6 5

Gerhard Rübel widmet sich in seinem Beitrag den Implikationen der Währungsunion für die europäischen Arbeitsmärkte, gleichsam der Gretchenfrage, wenn es um den wichtigsten verbleibenden Anpassungsmechanismus zwischen Regionen unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklung geht. Ausgehend von der Feststellung, daß die heutige Europäische Union keinen optimalen Währungsraum darstellt (S. 107), untersucht der Autor auf einem gründlichen theoretischen Fundament zunächst Vor- und Nachteile einer Europäischen Währungsunion. So seien - Stabilität der gemeinsamen Währung vorausgesetzt - Vorteile zu erwarten, die aber den beteiligten Staaten nicht in gleicher Weise zugute kämen (S. 108). Die höhere Transparenz würde nämlich den Standortwettbewerb verstärken. Daraus folgert Rübel einen verschärften Anpassungsdruck (S. 110). Güterpreisflexibilität, Fiskalpolitik und Transferzahlungen werden als Anpassungsmechanismen als nur sehr begrenzt wirksam eingeschätzt. Um so mehr wird es auf die Faktorflexibilität, insbesondere die des Faktors Arbeit, ankommen, wenn sich im Gefolge asymmetrischer Schocks die Knappheitsverhältnisse ändern. Wie Rübel anschaulich zeigt, ist mit dem Auftreten dieser Schocks in verstärktem Maße zu rechnen: „Die fortlaufende Vertiefung und Integration hat also die Geeignetheit Europas als optimaler Währungsraum nicht erhöht, sondern, im Gegenteil, vermindert" (S. 120), zumal, wie der Autor auch mit dem Hinweis auf die Effizienzlohntheorie zeigt, mit der notwendigen Flexibilisierung nicht zu rechnen ist. Der Autor geht eher vom Gegenteil aus, und zwar aus einem Grund, der bisher weniger beachtet worden ist: Lohnerhöhungen im Ausland bleiben nicht ohne Rückwirkungen auf das Inland. Hier werden die Arbeitnehmer im direkten Vergleich, also ohne den Wechselkurspuffer, ebenfalls höhere Löhne verlangen. Die Lohnerhöhimg kann dann vom Sektor der handelbaren auf den Bereich der nicht-handelbaren Güter übergreifen, was höhere Gesamtlöhne, den Export von Realkapital und eine höhere Arbeitslosigkeit im Inland zur Folge haben kann. Von daher ist es durchaus möglich, daß die Arbeitsmärkte in einer Währungsunion unabhängig vom Verhalten der Tarifpartner strukturelle Flexibilitätseinbußen erleiden, wie der Autor auf S. 126 folgert. Transferzahlungen bieten in dieser Situation auch deshalb keinen Ausweg, weil mit dem staatlichen Umverteilungsinterventionismus „der Zusammenhang zwischen Löhnen und Beschäftigung .. grundlegend verzerrt" würde (S. 126 f.). Protektionistische Tendenzen oder die Rückkehr zur eigenen Währung könnten die Folgen sein. Der letzte Beitrag des Bandes beschäftigt sich mit dem Handlungsbedarf und den Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Finanzpolitik in der europäischen Währungsunion. Darüber hinaus soll die Frage geklärt werden, ob ein europäischer Finanzausgleich erforderlich ist. Thomas Döring klärt zunächst, welche Schocks Handlungsbedarf hervorrufen. Empirische Untersuchungen über die Angleichung der nationalen Wirtschaftsstrukturen in der EU ergeben nach Ansicht des Autors „kein einheitliches Bild" (S. 134) und lassen Zweifel aufkommen, ob die Euroländer künftig durch mehr Symmetrie gekennzeichnet sein werden (anders Rübel S. 114). Im Falle des Auftretens temporärer asymmetrischer Schocks seien diese „finanzpolitisch zu alimentieren" (S. 134). Permanenten Schocks sollte nur im Falle unzulänglich funktionierender Arbeitsund Kapitalmärkte begegnet werden (ebenda). Hierbei bleibt offen, wie die beiden Schocks unterschieden werden können. Immerhin dürften sich dauerhafte Störungen aus

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solchen entwickelt haben, die zunächst als vorübergehend eingeschätzt wurden. Da aber die Arbeitsmärkte in den meisten EU-Ländern höchst unvollkommen sind, scheint der Autor von einem ständigen fiskalpolitischen Handlungsbedarf auszugehen. Döring untersucht deshalb die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für entsprechende Interventionen. Diese sind durch die Verpflichtung zur Einhaltung der Konvergenzkriterien und durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt begrenzt. Auf die erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten fiskalpolitischer Interventionen weist der Autor nachdrücklich hin (S. 136). Die Frage der Notwendigkeit eines europäischen Finanzausgleichs untersucht er ausfuhrlich und kenntnisreich, verzichtet aber auf eine vergleichende Beurteilung und Würdigung des finanzpolitischen Standortwettbewerbs und eines europäischen Finanzausgleichs als konkurrierende Lösungen für eine Schockbewältigung. Es stellen sich hierbei zwei Fragen: 1. Fallen die Unvollkommenheiten des Standortwettbewerbs, auf die der Verfasser zutreffend hinweist, stärker ins Gewicht als die Unvollkommenheiten eines europäischen Finanzausgleichs? 2. Können die jeweiligen Unvollkommenheiten im Hinblick auf das zu lösende Problem in dem einen oder in dem anderen Fall leichter überwunden werden? Insgesamt beleuchten die Beiträge des von Wolfgang J. Mückl herausgegebenen Bandes zentrale wirtschaftspolitische Fragen, die einen gründlichen Einblick in das beträchtliche Ausmaß ungeklärter Fragen geben, die für den weiteren Prozeß der europäischen Integration besondere Beachtung verdienen.

ORDO · Jahrbuch fìir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Martina Eckardt

Finanzdienstleistungen und Finanzmärkte im Umbruch Anmerkungen zu dem von Peter Oberender herausgegebenen Sammelband* Wie der Blick auf das Börsengeschehen der letzten Jahre zeigt, befinden sich die Finanzmärkte in einer rasanten Veränderung. Der Börsenboom mit seinen hohen Spekulationsgewinnen und -Verlusten, die insbesondere am „Neuen Markt" erzielt wurden, und die Diskussion um weitergehende private Altersvorsorge haben in Deutschland zu einer bis vor kurzem nicht vorstellbaren Einstellungsveränderung des breiten Publikums zu Kapitalanlagen gefuhrt. Die neu erwachte Nachfrage nach Finanzanlagen trifft dabei auf vielfältige Innovationen hinsichtlich der angebotenen Finanzdienstleistungen und der gehandelten Produkte. Die Nutzung neuer Technologien und Verkaufsstrategien erschließt neue Abnehmer und schafft neue Marktsegmente. Die Arbeitsgruppe Wettbewerb des Wirtschaftspolitischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik befaßte sich daher bei ihrer Tagung im März 2000 mit den neuen Entwicklungen und den sich daraus ergebenden wirtschaftspolitischen Regulierungsnotwendigkeiten auf den Finanzmärkten. Um in dieser turbulenten Entwicklungsphase informierte Aussagen über einen möglichen ordnungspolitischen Handlungsbedarf treffen zu können, sind zunächst eine gründliche Kenntnis der Funktionsweise der einzelnen Teilmärkte und des gegenwärtigen Ordnungsrahmens sowie die Identifikation regelungsbedürftiger Probleme notwendig. In sechs der sieben Referate stellen daher ausgewiesene Praktiker aus Wirtschaft und Verwaltung die in ihrem Tätigkeitsfeld jeweils aktuellen Entwicklungen vor, so daß der Leser einen breiten Überblick über das aktuelle Geschehen und die Problemlagen in den verschiedenen behandelten Teilsegmenten erhält. Im Mittelpunkt stehen dabei neben dem sogenannten Grauen Kapitalmarkt der Markt fur Unternehmensfinanzierung und die Veränderungen auf dem Bankenmarkt weg von der Filialbank hin zur Direktbank. Den Abschluß bildet der Versuch, die dargestellten heterogenen Veränderungsprozesse im Rahmen der Theorie der Finanzintermediation zu systematisieren und einen Ausblick auf mögliche künftige Entwicklungen zu geben. Einen fundierten, gut strukturierten und - soweit vorhanden - mit Datenmaterial angereicherten Überblick über das Geschehen auf dem Grauen Kapitalmarkt gibt Peter Lischke. Zum Grauen Kapitalmarkt, für den es keine gesetzliche oder theoretische Definition gibt, rechnet er alle Unternehmen und Produkte, für die die Gewerbeordnung (GewO) den zentralen hoheitlichen Aufsichtsrahmen abgibt und bei denen das Risiko

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Peter Oberender (Hrsg.), Finanzdienstleistungen und Finanzmärkte im Umbruch, Schriften des Vereins fiir Socialpolitik, Band 280, Duncker & Humblot, Berlin 2001, 119 Seiten.

368 · Martina Eckardt

eines Totalverlustes der angelegten Gelder aufgrund von kriminellen oder unseriösen Praktiken der Anbieter nicht unerheblich ist. Eine eindeutige Abgrenzung zum regulären Kapitalmarkt zu ziehen wird dadurch erschwert, daß die angebotenen Anlageformen häufig den dort gehandelten Produkten nachgebildet sind, wobei Beteiligungssparpläne (die meist nach dem Schneeballprinzip funktionieren) weit vor Bankgarantie- und Termingeschäften die Produktpalette dominieren. Aufgrund der fehlenden Regulierung, der Komplexität der Finanzprodukte, der mangelnden Transparenz des Kapitalmarktes und des geringen Wissenstandes der Nachfrager fuhren betrügerische und unseriöse Geschäftspraktiken auf dem Grauen Kapitalmarkt zu Schädigungen der Anleger in Milliardenhöhe, für die jedoch nur sehr vage quantitative Schätzungen vorliegen. Nach Ansicht des Autors ist daher eine Erhöhung der Regulierungsintensität notwendig, um unerwünschte Marktergebnisse weitgehend auszuschalten. Insbesondere sollte die bislang nach der GewO bei den Gewerbeämtem liegende Zuständigkeit für die Überwachung des Grauen Kapitalmarktes weitgehend dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen zugeordnet werden. Neben der allgemeinen Überwachungs- und Kontrollfunktion sollten zudem Mindeststandards für die Art der gehandelten Produkte, ihren Vertrieb und das Marketing festgelegt werden. Zudem könnten durch eine andere einkommensteuerrechtliche Behandlung die Anreize für das Angebot und die Nachfrage insbesondere nach Beteiligungen als atypische stille Gesellschafter verringert werden. Neben diesen rechtlichen Reformen sieht der Autor in der Aufklärungs- und Beratungsarbeit durch Verbraucherschutzorganisationen einen wesentlichen Beitrag zur Minderung der Funktionsmängel des Grauen Kapitalmarktes. Einen weiteren Schwerpunkt nehmen wettbewerbsrechtliche Unterlassungsverfahren zur Überprüfung von Vertragsbedingungen und Werbestrategien der Anbieter ein. Der Artikel von Lischke gibt damit einen detaillierten Überblick über die Problematik des Grauen Kapitalmarktes, wenngleich auch nicht alle vorgeschlagenen Reformmaßnahmen unstrittig sind. Zwei Aufsätze befassen sich mit dem regulierten Markt für Unternehftiensfinanzierung, der ebenfalls in den letzten Jahren durch eine massive Expansion gekennzeichnet war. Nach der Theorie der Finanzintermediation lassen sich qualitative Vermögenstransformationen, bei denen der Intermediär auch Leistungen in bezug auf die Fristigkeit, die Teilbarkeit, das Risiko und die Liquidität von Finanzvermögen erbringt, sowie Maklergeschäfte, bei denen nur eine Rolle als Informationsmittler übernommen wird, unterscheiden (Greenbaum und Thakor 1995, 50ff.; Neuberger 1998, 16 ff.). Dietrich Weber widmet sich dem ersten Aspekt, indem er sich mit den volkswirtschaftlichen Funktionen von Beteiligungsgesellschaften auseinandersetzt. Diese sind durch Unternehmensbeteiligungen auf Zeit gegen eine fixe Verzinsung des zur Verfügung gestellten Kapitals und durch Mitwirkungsrechte an der Unternehmensführung gekennzeichnet. Zu den positiven Wirkungen zählt (1) die zeitliche Überbrückungsfunktion durch die Bereitstellung von Kapital, wenn Angebot und Nachfrage nach Unternehmenskäufen auseinanderfallen. (2) Effizienzerhöhungen ergeben sich aufgrund der Verbesserung der Eigenkapitalausstattung, die eine höhere Ertragskraft der Unternehmen ermöglicht, sowie durch den Transfer von Humankapital und Know-how durch die Mitwirkung der Beteiligungsgesellschaften an der Unternehmensführung der vorwiegend mittleren Unternehmen. Zudem wirken Beteiligungsgesellschaften (3) positiv auf die Marktstruktur, da sie Mana-

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gement-Buy-outs unterstützen und damit Konzentrationseffekten durch Untemehmensübernahmen entgegenwirken. Allerdings besteht hier die Gefahr einer den Substanzwert des Unternehmens gefährdenden Fremdkapitalaufnahme, die erst durch die Erhöhung der Eigenkapitalausstattung durch die Beteiligungsgesellschaft ermöglicht wird. Von noch untergeordneter Bedeutung sind Beteiligungsgesellschaften laut Weber schließlich bei der Neugründung von Unternehmen, was er jedoch vor allem auf die unzureichende Gründungskultur in Deutschland und auf die mangelnde kaufmännische Einstellung der Unternehmensgründer selbst zurückfuhrt. Carl Xaver Zimmerer gibt dagegen einen Überblick über die mit Maklergeschäften auf dem Markt für Untemehmenskäufe und -Verkäufe in Deutschland befaßten Akteure. Während Investmentbanken und - seiner Einschätzung nach - zunehmend auch Töchter von Unternehmensberatungen vor allem das Marktsegment der börsennotierten Unternehmen, die zu 80% den deutschen M&A-Markt dominieren, beherrschen, konkurrieren Unternehmensmakler, Töchter von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Privatbanken um mittelständische Unternehmen. Kleinunternehmen mit weniger als 10 Mio. DM Jahresumsatz sind dagegen relativ unattraktiv als Handelsobjekt, so daß sie auf die IHKUnternehmensbörsen und die Börsen der Handwerkskammern verwiesen bleiben. Eine Rolle könnten hier zunehmend auch Internetunternehmensbörsen spielen. Da weder Unternehmenskäufe und -Verkäufe und die dabei erzielten Preise noch die bei den Maklern anfallenden Honorare statistisch erfaßt werden, ist dieser Markt durch hohe Intransparenzen gekennzeichnet, so daß der Preiswettbewerb nur eine geringe Rolle spielt und hohe Renditen erzielt werden können, die unterschiedlichste Anbieter anlocken. Beide Beiträge geben einen gut lesbaren Überblick über das Geschehen auf den betrachteten Märkten aus Sicht der Praxis. Allerdings wäre eine etwas fundiertere Untermauerung der Argumente mit aktuellerem Datenmaterial wünschenswert gewesen. Bernhard Hafner diskutiert schließlich neuere Entwicklungen auf dem Bankenmarkt. Dort haben sich inzwischen Direktbanken als innovative Antwort auf bankinterne Mängel (Vernachlässigung des Privatkundengeschäftes in bezug auf Konditionen, Gebühren und Service durch die Filialbanken) und bankexterne Veränderungen (anspruchsvollere Kunden, neue Technologien, Globalisierung der Finanzmärkte) etabliert. Diese sind vor allem durch das Fehlen eines Filialnetzes und das Angebot eines begrenzten Produktsortiments gekennzeichnet. Die in diesem Markt aktiven Banken lassen sich danach unterscheiden, ob sie eine Zweitbankstrategie verfolgen, indem sie primär auf Preiswettbewerb setzen, oder eine Hausbankstrategie, bei der sie sowohl Preis als auch Service als Wettbewerbsparameter einsetzen. Für reine Internetbanken sieht der Autor dagegen nur ein kleines Marktsegment, da der Beratungsbedarf bei Bankgeschäften zu hoch sei. Aufgrund der hohen Intransparenz und der vorherrschenden Prinzipal-Agent-Beziehungen sind die verschiedenen Segmente des Finanzmarktes auch mit vielfältigen Ineffizienzen verbunden, die nicht allein auf den eingangs geschilderten kriminellen oder unseriösen Praktiken auf dem Grauen Kapitalmarkt beruhen. Die Europäische Union hat darauf mit dem Erlaß von verschiedenen Richtlinien, die der Schaffung eines regulierten Finanzbinnenmarktes dienen sollen, reagiert. In dem Beitrag von Ekkehard Kurth wird dabei deutlich, daß allein dadurch jedoch noch kein funktionsfähiger Finanzbinnenmarkt gewährleistet ist. Weitere Abstimmungen sind vor allem auf Ebene der Exekutive nötig,

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um eine Ungleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Handelsteilnehmem an den Wertpapierbörsen zu verhindern (Problem des sog. remote membership). Zur Erleichterung grenzüberschreitender Kontrollen, die unter das jeweilige nationalstaatliche Hoheitsrecht fallen, wendet sich der Autor gegen eine Zentralisierung in Form einer supranationalen Aufsichtsbehörde. Statt dessen plädiert er für eine stärkere Kooperation zwischen den verschiedenen nationalen Behörden auf Basis von einheitlichen Aufsichtsstandards. Ein ähnlicher Weg scheint auch tatsächlich gegenwärtig auf europäischer Ebene in Form des Ausschusses der Europäischen Wertpapierregulierungsbehörden eingeschlagen zu werden.1 Wolfgang Artopoeus befaßt sich schließlich systematisch mit der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer zweckmäßigen Regulierung der Aktivitäten des Grauen Kapitalmarktes. So zählen seit der 6. KWG-Novelle 1998 eine Vielzahl von Finanzdienstleistungen, die bislang nur der allgemeinen Gewerbeaufsicht unterlagen, zum regulierten Kapitalmarkt. Allerdings sind auch nach Ansicht des Autors noch Regulierungslücken verblieben. Diese betreffen insbesondere die auf dem Grauen Kapitalmarkt angebotenen „stillen Beteiligungen" und Beteiligungssparverträge. Hier scheinen ihm die Unterstellung dieser Anlageunternehmen unter die Bundesaufsicht sowie die Einfuhrung der Prospektpflicht angemessene Instrumente zu sein. Um unseriöse Geschäftspraktiken von Finanzvermittlern und -beratern einzudämmen, hält er dagegen anders als Lischke (s.o.) eine quantitative und qualitative Verbesserung der Gewerbeaufsicht für zweckmäßiger als eine weitere Zentralisierung. Allerdings betont auch er die Relevanz, die kritischen und informierten Konsumenten zukommt, und die Rolle, die hierbei insbesondere Verbraucherschutzeinrichtungen spielen können. Auch in diesem Beitrag werden wieder die Bedeutung der Exekutive für die Gewährleistung eines funktionsfähigen Wettbewerbs sowie die generelle Begrenztheit staatlicher Regulierungen in stark dynamischen Märkten deutlich. Eine Einordnung dieser recht unterschiedlichen Beiträge unternimmt Bernhard Herz in einem abschließendem Aufsatz unter Rückgriff auf die Theorie der Finanzintermediation. Innovationen im Bereich der Informationstechnologien und die Deregulierung des Finanzsektors stellt er als zentrale Determinanten für die in den verschiedenen Segmenten des Finanzmarktes zu beobachtenden Veränderungen heraus, da sie über die damit verbundene Senkung der Transaktions- und Informationskosten die Entwicklung neuer Finanzprodukte, Vertriebstechniken, aber auch die Integration bislang unterschiedlicher Marktsegmente ermöglichen. Als Abrundung wäre es durchaus wünschenswert gewesen, wenn dabei auch grundsätzlicher auf die ordnungspolitischen Konsequenzen, die sich daraus für die Regulierung der Finanzmärkte ergeben, eingegangen worden wäre. Wie die kurze Darstellung deutlich gemacht haben dürfte, geben die einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes einen guten Einblick in das turbulente Geschehen auf den betrachteten Finanzmärkten. Insbesondere durch die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Autoren erhält man vielfältige Informationen über den gegenwärtigen Entwicklungsstand und die möglichen Problemlagen. Ein wichtiges Verdienst dieses Sammelbandes ist es dabei vor allem auch, durch den Diskurs zwischen Wissenschaft 1

Vgl. hierzu http://europa.eu.int/comm/intemal_market/de/fmances/mobil/01-792.htm.

Finanzdienstleistungen und Finanzmärkte im Umbruch · 371

und ökonomischer wie politischer Praxis die Grundlage für eine informierte wirtschaftspolitische Beratung zu schaffen und Anregungen hinsichtlich relevanter, noch ungelöster Problemlagen zu geben, fur die eine nähere wissenschaftliche Beschäftigung sinnvoll wäre. Literatur Neuberger, Doris (1998), MikroÖkonomik der Bank: eine industrieökonomische Perspektive, München. Grennbaum, Stuart I. und Anjan V. Thakor (1995), Contemporary Financial Intermediation, Fort Worth u.a.O.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Dirk Wentzel

Fairneß, Reziprozität und Eigennutz Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Axel Ockenfels* „Was bewirkt die Volkswirtschaftslehre?" So fragt Bruno S. Frey (2000) in einem vieldiskutierten Artikel über die Leistungsfähigkeit ökonomischer Theoriebildung. Wo liegen die Stärken ökonomischer Theorien, welche wirtschaftlichen Erscheinungen können erklärt werden und welche Beratungsleistungen und Politikempfehlungen sind möglich? Im Hinblick auf diese Fragen stellt Frey eine zunehmende Krise des Fachgebietes fest. Neben der übertriebenen und teilweise wenig ertragreichen Formalisierung sieht er vor allen Dingen in den sog. „Homo oeconomicus-Modellen" einen Grund für die nachlassende Erklärungskraft ökonomischer Theorien und die zunehmende Selbstausgrenzung aus den allgemeinen Sozialwissenschaften (siehe auch Falk 2001; Fehr 2001 ; Fehr und Schmidt 2000). Die vorliegende Arbeit von Ockenfels setzt genau an diesem Punkt an und versucht, ein theoretisch anspruchsvolles und zugleich empirisch gehaltvolles Gegengewicht zu dieser reduktionistischen Form ökonomischer Modellbildung zu entwickeln. Er konstatiert ein vollständiges „Versagen der Eigennutzhypothese" (S. 29) als allgemeine und alleinige Verhaltensannahme in wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen. Als Forschungsziel der Arbeit wird die „Aufdeckung altruistischer Motivationen" (S. 37) genannt, wobei unterstellt wird, daß die tatsächlichen Verhaltensmotivationen unter verschiedenen Rahmenbedingungen sehr heterogene Ausprägungen haben können (S. 103126). Ockenfels betont mehrfach, daß es ihm nicht darum geht, die Eigennutzhypothese vollständig durch eine Altruismushypothese zu ersetzen. Dies ließe sich auch nicht mit der empirischen Evidenz vereinbaren. Vielmehr ist es sein wissenschaftliches Anliegen, eigennütziges und altruistisches sowie faires und reziprokes Verhalten in einem gemeinsamen Erklärungsansatz komplementär abzubilden und damit zu einer Verhaltenshypothese zu gelangen, die einen höheren Realitätsgehalt aufweist und auch im empirischen „Belastungstest" besser abschneidet als die Homo oeconomicus-Hypothese (HÖH). Ockenfels verwendet die Methoden der Spieltheorie und der experimentellen (empirischen) Wirtschaftsforschung. Die Arbeit ist in Teilen formal, aber jederzeit gut lesbar. Zudem ist festzuhalten, daß die formalen Methoden keinen „Selbstzweck" darstellen, sondern stets auf das unmittelbare Erklärungsziel bezogen sind. Ockenfels ' Buch ist zweckmäßig in drei Teile mit jeweiligen Unterkapiteln gegliedert. Im ersten Teil gibt der Verfasser einen fachkundigen Überblick über die Literatur der Spieltheorie und der experimentellen Wirtschaftsforschung, die die HÖH nachdrücklich in Frage stellen. Im *

Axel Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz, Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Band 108, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1999, 246 Seiten.

374 · DirkWentzel zweiten Teil werden neue Experimente vorgestellt, die die Natur und die Bedingungen altruistischen Verhaltens analysieren. Im dritten Teil der Arbeit stellt der Autor dann sein eigenes Modell vor, in dem er sich um die Integration von Eigennutzmotiven, Fairneß und Reziprozität bemüht (sog. ERC-Modell). Im Anhang der Arbeit finden sich die Dokumente, in denen die Versuchsanordnungen der Experimente beschrieben werden, sowie einige formale Beweise und die empirischen Datensätze. Im ersten Teil der Arbeit (S. 1-34) präzisiert Ockenfels sein Forschungsziel und den Anspruch der eigenen Arbeit, nämlich die Weiterentwicklung einer ökonomischen Verhaltenstheorie. Im ersten Unterkapitel schlägt er vor, von drei Kategorien von Spielen zu sprechen: erstens Fairneß-Spiele, zweitens Dilemma-Spiele und drittens MarktSpiele. Mit den sogenannten Fairneß-Spielen (als Beispiele nennt Ockenfels Diktator-, Ultimatum- und „Alternating-offer-Spiele") wird empirisch festgestellt, daß die HÖH vollständig falsifiziert ist. Im Diktatorspiel beispielsweise, bei dem ein einzelner Spieler autonom über die Verteilung eines Betrages entscheiden kann, prognostiziert die HÖH, daß der „Diktator" immer den maximalen Betrag für sich behält. Empirische Untersuchungen in verschiedenen kulturellen Umgebungen (USA, Westeuropa, Rußland, Philippinen) und zum Teil mit hohen finanziellen Anreizen dokumentieren jedoch, daß nur ein geringer Anteil der Versuchspersonen sich gemäß der HÖH verhält. Die meisten „Diktatoren" sind relativ großzügig und geben einen signifikant höheren Betrag an die Empfänger ab. Offensichtlich spielen bei der Wahl der Strategie bestimmte Fairneßvorstellungen eine wichtige Rolle. Ein weiteres Argument gegen die HÖH liefert das Ultimatumspiel. Hier kann ein Spieler über die Verteilung eines Betrages entscheiden, ist jedoch an die Zustimmung eines Empfängers zu seinem Vorschlag gebunden.1 Lehnt der Empfanger den Vorschlag ab, so erhalten beide die Auszahlung Null. Die standardtheoretische HOH-Prognose ist trivial: Der Diktator behält den maximalen Betrag fur sich und wird nur einen minimalen Betrag an den Empfänger weitergeben. Der Empfänger wird jedoch jedes positive Angebot akzeptieren, da es immer „besser" im Sinne der HÖH ist als die alternative Nullauszahlung. Doch auch hier irrt der Homo oeconomicus vollständig. Das empirische Ergebnis zeigt zuverlässig, daß ein signifikanter Anteil an Verteilungsvorschlägen annähernd auf eine Gleichverteilung hinausläuft und daß ebenso signifikant viele positive Verteilungsvorschläge abgelehnt werden - wenn sie denn den Fairneßvorstellungen der Empfänger widersprechen. Eine weitere klassische Widerlegung der HÖH findet in Dilemma-Spielen statt {De Cremer et. al 2001). Ockenfels nennt hier die Beispiele des Gefangenendilemmas, der Freifahrerspiele und vor allem das gift exchange-Spiel von Fehr. Alle diese Spiele haben eine Gemeinsamkeit, daß nämlich das teilspielperfekte Nash-Gleichgewicht eine unkooperative Spielstrategie für einen Homo oeconomicus empfiehlt, die aber zu nachteiligen Resultaten für alle Beteiligten führt. Für das Gefangenendilemma ist diese Hypothese schon früh in empirischen Untersuchungen widerlegt worden (Axelrod 1984). Aber auch in den komplexeren Mehr-Personen-Verhandlungsspielen der neuen 1 Variationen dieses Spiels mit mehreren Empfängern in unterschiedlichen Rollen liegen vor, etwa im sog. "Giith-van Damme-Spiel".

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Generation (Fehr und Schmidt 2000) konnte die HÖH vollständig widerlegt werden. Menschen sind offenkundig in der Lage, reziproke Strategien zu entwickeln und damit aus den Sackgassen sozialer Dilemmata zu entfliehen, aus denen es formal-logisch keinen Ausweg gibt ( Wentzel 2000). Die spieltheoretische Gemeinsamkeit von Fairneß- und Dilemmaspielen ist, daß die Spielteilnehmer eine extrem ungleiche Verteilung ablehnen - wie sie eben von der HÖH prognostiziert würde: Dies ist aber in sog. Marktspielen nicht der Fall. In Spielen dieser Art wird eine Auktion nachempfunden, bei der es um den Erwerb eines sehr kostbaren Produkts geht, das für den Käufer den Wert von 10 Einheiten hat, für den Verkäufer jedoch ohne Wert ist. Die standardtheoretische HOH-Prognose ist trivial: In einem Bietungsverfahren mit mehreren Teilnehmern wird es darauf hinauslaufen, daß es zu einem permanenten Überbietungsprozeß kommt, bis am Schluß mindestens zwei Angebote gleich 10 sind. Damit käme es zur maximalen ungleichen Verteilung der Werte zwischen Käufer und Verkäufer. Bemerkenswerterweise kommt es bei dieser Spielanordnung zur empirischen Bestätigung der HÖH. Ockenfels zieht hieraus die Schlußfolgerung, daß offenkundig das tatsächliche Verhalten in Entscheidungssituationen von vielfaltigen Motiven abhängt, die in einer Art komplementärem Verhältnis zueinander stehen. In manchen Situationen spielen eigennützige Überlegungen eine wichtige Rolle, in anderen Überlegungen sind Vorstellungen von Faimeß und Reziprozität handlungsleitend. Die offensichtlichen Fehlleistungen der HÖH als allgemeine Verhaltenshypothese sind in der wissenschaftlichen Debatte jedoch nicht unbeachtet geblieben. Ockenfels nennt in Kapitel Π verschiedene neuere Modelle altruistischen Verhaltens, die sich an den Kriterien Motivation, Reputation, Adaption und Kognition ausrichten: Jedes dieser Kriterien läßt sich unter spezifischen Laborbedingungen testen. Ockenfels verweist hier beispielsweise im Zusammenhang mit der Motivationshypothese auf das vielbeachtete „Vergleichsmodell" (Comparative Model) von Bolton, das implizit mit Verteilungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen arbeitet, oder auch auf das „Intentions-Modell" der experimentellen Psychologie von Rabin, in dem davon ausgegangen wird, daß ein Spieler seine beste Strategie immer daran orientiert, mit welcher Intention der Mitspieler seine Strategie gewählt hat. Jedoch sind auch diese Modelle in bestimmten Konstellationen überfordert, manche Erscheinungen des Wirtschaftslebens zu erklären. So kann beispielsweise das erklärungsstarke Reputationsmodell, in dem sich das sog. Folk-Theorem2 für unendlich wiederholte Spiele ausdrückt, nicht erklären, warum sich empirisch gesichert die meisten Spieler auch in Ein-Perioden-Spielen kooperativ oder fair verhalten. Gleichwohl: Auch die HÖH kann Kooperation in Ein-Perioden-Spielen nicht erklären. Auch mit den sog. Adaptionsmodellen sind interessante Experimente und Erkenntnisse angesprochen. Hier geht es vor allem um die verschiedenen Lerntheorien, etwa das „reinforcement learning" oder die Lernrichtungstheorie von Selten. Viele Verteidiger der HÖH behaupten, daß Abweichungen vom teilspielperfekten Gleichgewichtspfad 2 Das Folk-Theorem besagt, daß opportunistisch rationale Spieler die Reaktionen anderer Spieler wegen möglicher zukünftiger Aufeinandertreffen berücksichtigen.

376 · DirkWentzel letztlich auf die Unerfahrenheit und die Dummheit der Spieler zurückzufuhren sind. Je klüger die Spieler würden und je mehr Erfahrung sie hätten, desto näher würden sich die Spieler an die HÖH annähern. Aber auch diese Hypothese ist empirisch fur verschiedenste Fairneß- und auch Dilemma-Spiele eindeutig falsifiziert. Im Gegenteil: Bestimmte Faimeß- und Reziprozitätsvorstellungen sind im empirischen Belastungstest außerordentlich robust und sogar teilweise selbstverstärkend. Kognition ist das letzte Kriterium, mit dem sich Ockenfels im ersten Teil der Arbeit intensiv befaßt. Hier wird auf verschiedene Konzepte verwiesen, etwa die Theorie der „Bounded Rationality" von Simon oder auch auf die Anspruchsanpassungstheorie von Sauermann und Selten. Mit dem ganzen Gebiet der „Anomalien-Forschung" (hierzu Thaler 1992) ist der Sachverhalt angesprochen, daß teilweise eine unterschiedliche Präsentation einer Entscheidungssituation schon ausreicht, um die auf logischen Rationalitätserwägungen beruhende Standardprognose zu widerlegen. Ockenfels verweist in diesem Zusammenhang auf die Kognitionspsychologie und auf verschiedene Bemühungen, leistungsfähigere Verhaltenshypothesen zu entwickeln - etwa das evolutorische ModulModell von Giith. Interessant und wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis (siehe Fußnote 18), daß Selten die Formulierung Verhaltensawoma/z'e ablehnt, weil ,glicht das menschliche Verhalten anomal sei, sondern das vollständig rationale Verhalten". Im zweiten Teil der Arbeit (S. 37-127) widmet sich Ockenfels verschiedenen aktuellen Sachverhalten und Fragestellungen experimenteller Forschung. Im dritten Kapitel wird zunächst ein Einblick in den „Werkzeugkasten" der experimentellen Wirtschaftsforschung gegeben. Sodann wird ein mit Selten entwickeltes Spiel vorgestellt - das „Solidaritätsspiel" (Kap. IV). In Kapitel V folgt eine Charakterisierung reziproken Verhaltens, wobei sich der Verfasser an einer modifizierten Form seines Solidaritätsspiels orientiert. In Kapitel VI geht es um Fairneß in Dilemma-Spielen, und in Kapitel VII werden heterogene Verhaltensmuster und Spielertypen analysiert. Es würde den Rahmen der vorliegenden Buchbesprechung überschreiten, auf jeden Aspekt intensiv einzugehen. Besonders hervorzuheben sind zwei Ergebnisse. Zunächst ist auf das Solidaritätsspiel hinzuweisen, in dem verschiedene Verhaltenshypothesen aus dem Diktatorspiel und dem Ultimatumspiel kombiniert werden. Bei diesem Spiel ist jeder Spieler Mitglied einer Gruppe von drei Personen. Jeder Spieler gewinnt unabhängig voneinander 10 DM mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 oder Null mit der Wahrscheinlichkeit 1/3. Bevor gezogen wird, muß jeder Spieler erklären, wieviel er als Sieger an einen oder zwei Verlierer in seiner Gruppe abzugeben bereit wäre (sogenannte konditionale Abgaben). Die standardtheoretische HÖH ist eindeutig: Ein Sieger wird keinen Beitrag an die Verlierer abgeben. Die empirischen Ergebnisse (50 ff.) widerlegen die Standardprognose jedoch eindeutig: Nur 25 von 118 Spielern leisten eine Nullabgabe, während die anderen Spieler entweder eine konstante und beachtliche hohe Abgabensumme leisten, die im Falle von zwei Verlierern aufgeteilt werden muß, oder aber eine konstante Verliererabgabe, unabhängig davon, ob nur ein oder zwei Verlierer in der Gruppe sind. Die Interpretation der Ergebnisse ist unter mehreren Gesichtspunken aufschlußreich. Es zeigt sich, daß es prominente Zahlen im Dezimalsystem gibt (mathematische Promi-

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nenzzahlentheorie), die mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit von den Probanden gewählt werden - dies erklärt beispielsweise unterschiedliche Resultate in Versuchsanordnungen mit verschiedenen Währungen. Ebenfalls zeigt sich die besondere Rolle der Erwartungen über das Verhalten der anderen Spielteilnehmer (S. 58-64). Hier sind unterschiedliche verhaltenstheoretische Optionen nachweisbar, die die eigenen Spielzüge kanalisieren. Als zentrales Ergebnis (S. 64) ist zudem festzustellen, daß reiner Altruismus1' nicht die treibende Kraft für positive Abgaben ist, sondern daß vielmehr bestimmte Verteilungsvorstellungen, in denen sich Fairneß und Reziprozität dokumentieren, einen wichtigen Einfluß auf die eigene Spielstrategie haben. Eine weitere spannende Fragestellung wird vom Verfasser in Kapitel ΧΠ (S. 103127) aufgeworfen: Hier geht es um die Heterogenität der Verhaltensmuster und Spielertypen, die die Wahl einer Spielstrategie beeinflussen. Der Homo oeconomicus ist für solche Differenzierungen blind: Er modelliert den Menschen lediglich als „uniformen Maximierungsautomaten" ohne geschichtliche Vergangenheit und soziale Prägungen. In sogenannten „cross culture-Studien" läßt sich die HÖH jedoch nachweislich widerlegen. Bei diesen Studien werden die gleichen Spiele in unterschiedlichen Ländern und Kulturen durchgeführt - mit teilweise bemerkenswerten und statistisch signifikanten Unterschieden. Allerdings stehen diese Studien immer vor dem Problem, für die Probanden die gleichen Versuchsanordnungen über kulturelle Barrieren hinweg bereitzustellen. Hier ist beispielsweise auf den sog. Experimentator-Effekt, auf den Sprachen-Effekt oder auch auf den Währungseffekt zu verweisen.4 Eine besonders interessante Studie dieser Art führte Ockenfels in Kooperation mit Weimann durch. Durch die deutsche Wiedervereinigung ergab sich die seltene Gelegenheit zu einer cross culture-Studie, die die genannten Einschränkungen vermied. Versuchsgruppen waren dabei die Studenten in Magdeburg und in Bonn, die zu Faimeßund Dilemmaspielen herangezogen wurden. Das statistisch hochsignifikante Ergebnis dieser Studien ist eindeutig: Weststudenten erwiesen sich als wesentlich kooperationswilliger als Oststudenten. Dieses überraschende Ergebnis wird auch durch nachfolgende Studien in Bochum und Halle bestätigt. Ebenso zeigt sich ein signifikanter Geschlechtereffekt (Frauen sind kooperationswilliger als Männer) und ein signifikanter Ausbildungseffekt (Studenten der Wirtschaftswissenschaften sind egoistischer als die Studenten anderer Fächer). Besonders lesenswert ist in diesem Zusammenhang die abwägende Diskussion dieser Resultate. Der Verfasser stellt verschiedene Hypothesen vor, etwa zur Erklärung des Ost-West-Unterschieds. So könnte die geringe Kooperationsbereitschaft der Oststudenten einerseits aus den prägenden Erfahrungen in einem sozialistischen System resultieren, das ein allgegenwärtiges soziales Dilemma produzierte, in dem sich 3 Reiner Altruismus im Sinne der Spieltheorie ist eine Nutzenfunktion, die grundsätzlich die Besserstellung des Spielpartners beinhaltet. Eine „Bestrafung" der Partner, wie sie in vielen Spielen empirisch gesichert festgestellt werden kann, ist mit dieser Definition von Altruismus nicht zu erklären. 4 Der Experimentator-Effekt besagt, daß Spielleiter mit unterschiedlichen kommunikativen Fähigkeiten ausgestattet sind: Dies kann sich in der Erklärung des Spiels für die Probanden auswirken. Der Sprachen-Effekt besagt, daß verschiedene Versuchsanordnungen sich nicht direkt in andere Sprachen übersetzen lassen. Hierdurch kann es zu Inteipretationsspielräumen kommen, die die Validität der Ergebnisse beeinflussen. Der Währungs-Effekt besagt, daß die Formulierung von Spielen in unterschiedlichen Währungen (mit unterschiedlichen Prominenzzahlen) das Ergebnis beeinflussen können.

378 · DirkWentzel Fairneß als wenig erfolgversprechende Strategie erwies. Andererseits könnte die geringe Kooperationsbereitschaft auch durch die ersten Erfahrungen nach der Wiedervereinigung verursacht worden sein, wodurch sich der Eindruck verfestigt habe, in einer Marktwirtschaft könne man sich kaum kooperativ verhalten. Ockenfels hütet sich jedoch vor Trivialisierungen der Schlußfolgerungen und zeigt zugleich spannende neue Fragestellungen auf, die einer experimentellen Untersuchung bedürfen. Im dritten Teil der Untersuchung (S. 131-187) legt Ockenfels seinen eigenen Entwurf für eine verbesserte Verhaltenshypothese vor, die in Kooperation mit Bolton entstanden ist. Es handelt sich um das sogenannte ERC-Modell, welches in Kapitel VIE vorgestellt wird, wobei die Abkürzung für „equity, reciprocity and cooperation" steht. Dieser Teil der Arbeit ist vergleichsweise formal und ohne mathematische Grundkenntnisse nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die Grundidee von Ockenfels ist jedoch einfach und vielversprechend. Der Verfasser entwickelt eine Motivationsfunktion (S. 133 ff.) für ein einzelnes Individuimi, die so"wohl absolute als auch relative Ziele umfaßt. Der komparative Effekt ist dabei der eigentliche Kernpunkt von ERC. Es wird also keine absolute Größe maximiert, sondern es wird ein Gleichgewicht zwischen eigenen absoluten Ergebnissen und einer relativen Position innerhalb einer Bezugsgruppe angestrebt. In Kapitel IX werden die mit Hilfe des ERC-Modells abgeleiteten Hypothesen abschließend einem empirischen Test in verschiedenen Spielen ausgesetzt. Die Prognoseleistungen sind dabei beachtlich und zudem deutlich besser als unter alternativen Verhaltensannahmen - etwa der HÖH. Was kann die ökonomische Theorie leisten und erklären? So wurde eingangs gefragt. Legt man die vorliegende Arbeit zugrunde, die als Dissertation an der Universität Magdeburg entstanden ist, so fallt die Antwort recht positiv aus. Ockenfels liefert einen beachtlichen Diskussionsbeitrag zur Weiterentwicklung der volkswirtschaftlichen Theorie. Der Verfasser wird dabei dem eingangs gestellten Anspruch durchaus gerecht, faires und reziprokes Verhalten besser erklären und theoretisch analysieren zu können, als dies mit den standardtheoretischen Homo oeconomicus-Modellen möglich ist. Die empirische Evidenz sowie die theoretischen Argumente, die der Verfasser gegen die HÖH ins Feld führt, dürften auch die Weiterentwicklung der Ordnungs- und Institutionenökonomie nachdrücklich beeinflussen. Das besondere Verdienst der Arbeit liegt in der Ausgewogenheit der Argumentation sowie in der Bereitschaft, die eigenen Hypothesen einer permanenten empirischen Prüfung sowie dem wissenschaftlichen Wettbewerb (S. 190) auszusetzen. Die Arbeit wird somit dem Popperschen Anspruch des Kritischen Rationalismus gerecht, daß Theorien einem permanenten Belastungstest ausgesetzt werden müssen. Es ist dabei besonders zu würdigen, daß der Autor auch seine eigenen Theorieentwürfe einem solchen Test aussetzt. Seine Forschungsbemühungen deuten in eine Richtimg, die Selten (1990, 653) schon früh aufgezeigt hat: „There is no reason to suppose that human behavior is guided by a few abstract principles. Nobody should be surprised if it turns out that the motivational system is as complex as the anatomy and physiology of the human body." Die vorliegende Arbeit bietet eine sehr fruchtbare methodologische Grundlage für die Zusammenarbeit mit anderen sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschern. Eigeninteresse ist, wie schon Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle feststellte,

Fairneß, Reziprozität und Eigennutz · 379 immer nur in einem Umfeld der Fairneß und der Reziprozität zu interpretieren. Diese „alte Erkenntnis" wird durch die Arbeit von Ockenfels mit neuen Methoden wieder ins Zentrum der ordnungsökonomischen Debatte eingeführt.

Literatur Axelrod, Robert (1984), The Evolution of Cooperation, New York. De Cremer, David, Mark Snyder und Siegfried Dewitte (2001), The less I trust, the less I contribute (or not)? The effects of trust, accountability and self-monitoring in social dilemmas, European Journal of Social Psychology, Vol. 31, S. 93-107. Falk, Armin (2001), Wirtschaftswissenschaftliche Experimente: Homo Oeconomicus auf dem Prüfstand, Wirtschaftsdienst, 81. Jg., S. 300-304. Fehr, Ernst (2001), Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus. Ansätze zu einer neuen Synthese von Psychologie und Ökonomie, Neue Zürcher Zeitung vom 3. Mai 2001. Fehr, Ernst und Klaus M. Schmidt (2000), Theories of Fairneß and Reciprocity - Evidence and Economic Applications, CESifo Artikel, Social Science Research Network. Frey, Bruno (2000), Was bewirkt die Volkswirtschaftslehre?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band 1, S. 5-33. Ockenfels, Axel (1999), Fairneß, Reziprozität und Eigennutz, Tübingen. Selten, Reinhard (1990), Bounded Rationality, Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 146, S. 649-658. Thaler, Richard H. (1992), The Winner's Curse, Princeton. Wentzel, Dirk (2000), Der Ordnungsbezug der Spieltheorie, in: Helmut Leipold und Ingo Pies (Hrsg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik·. Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart, S. 197-223.

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Marcus Mittendorf

Innovation und Diffusion von Normen Anmerkungen zum gleichnamigen Werk von Stefan Okruch* Nur allzuoft fragt man sich im täglichen Leben, warum das eine so und das andere so ist. Die Dinge, auf die wir dabei mit dieser Frage abzielen, sind nichts anderes als Regeln und Normen, die irgendwann einmal entstanden sein mögen und sich im Laufe der Zeit gesellschaftlich etabliert haben. Doch warum derartige Regeln und Normen entstanden sind, sich verändern und in den meisten Fällen breite gesellschaftliche Akzeptanz finden, blieb bisher ungenügend unbeantwortet. Stefan Okruch unternimmt dahingehend in seiner Dissertation den Versuch, die Entstehung und Veränderung („Innovation") und die Ausbreitung („Diffusion") von Normen im Rahmen einer evolutorischen Theorie des Institutionenwandels zu erklären. Seine Arbeit ist in sechs Hauptabschnitte (A-F) gegliedert. Der erste und zweite Teil (A, B) widmen sich neben einer Einleitung einer ausfuhrlichen Diskussion zur terminologischen Abgrenzung des Normbegriffes. Okruch erarbeitet dabei zunächst grundlegend die geschichtliche Bedingtheit einer Norm und begreift normativen Wandel als ein Raum-Zeit-bedingtes Phänomen (S. 18). Vor diesem Hintergrund hebt er das Recht als ein wissenschaftlich gut dokumentiertes Phänomen heraus und setzt sich das Ziel, „das Recht als konkretes Normenensemble in eine Theorie der kulturellen Evolution einzubauen, es als anschauliches Beispiel zu verwenden, es aber gleichzeitig als Testfall und als Ausgangspunkt möglicher theoretischer Erweiterungen zu akzeptieren" (S. 19). Die terminologische Abgrenzung des Normbegriffes im engen Sinn erfolgt durch Prüfung verschiedener Verwendungskonzepte aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, wobei die Begriffsvariationen der Sozialwissenschaften zwangsläufig im Mittelpunkt stehen. An dieser Stelle wird folgerichtig die Spannbreite der Sozialwissenschaften deutlich, indem die Soziologie Mängel bei der Erklärung nicht normgeleiteten Verhaltens aufweist, während „die ,reine Ökonomie' ihre Forschungsobjekte zunehmend ,aus ihrer sozialen Einbettung bewußt herausgelöst (hat)' " (S. 25). Im Zusammenhang mit dem Begriff der „sozialen Einbettung" und dessen Berücksichtigung bzw. Nicht-Berücksichtigung in der „reinen Ökonomie" wäre jedoch zusätzlich die begrifflich naheliegende Verwendung des Konzepts der „embeddedness" von Granovetter (1985) zur intradisziplinären Abgrenzung hilfreich gewesen. Die Erläuterung des Begriffes der „Norm" bzw. erweiternd der „sozialen Norm" erfolgt durch sukzessive Ableitung wichtiger Teilelemente aus gängigen Definitionen bzw. dem Ausschluß von ungeeigneten Kriterien. Im Ergebnis dessen definiert Okruch *

Stefan Okruch, Innovation und Diffusion von Normen. Grundlagen und Elemente einer evolutorischen Theorie des Institutionenwandels, Duncker & Humblot, Berlin 1999, 220 Seiten.

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den Begriff der Norm als einen gemeinsamen Bewertungsstandard (S. 50). Vor diesem Hintergrund verdient die sich anschließende Klassifikation und Abgrenzung gegenüber semantisch verwandten Begrifflichkeiten - aufgrund der oftmals praktisch teils synonymen Verwendung - große Beachtung, zumal sie sehr gut gelungen ist.1 Im dritten Teil der Arbeit (C) erörtert der Autor methodologische Aspekte. Ziel dieser Diskussion ist es, das theoriengeleitete Selbstverständnis der Ökonomie offenzulegen und dessen Implikationen fur eine Normgenese herauszuarbeiten. Nachdem u. a. das Rationalmodell des homo oeconomicus als wenig hilfreich für die Analyse von Normen verworfen wurde, konzentriert sich Okruch auf einen „theoretischen Institutionalismus" (.Albert 1978, 81), der nach seinem Dafürhalten für eine systematische Integration der Nonnerklärung in die ökonomische Theorie geeignet ist. Über die sinnvolle Einengung des Forschungsziels auf vollständig nomologische Erklärungen leitet er im weiteren seine Forschungspragmatik sowie ein methodologisches Minimalprogramm ab. Kern des ersteren ist zum einen die Kontroverse zwischen Individualismus und Kollektivismus, die zugunsten des methodologischen Individualismus entschieden wird. Den zweiten wesentlichen Aspekt stellt zum anderen die Einordnung von normgeleitetem Handeln in eine evolutorische Perspektive dar. Hierbei konnte sich lediglich bedingt die Erklärung von Ereignistypen durch Muster durchsetzen, wobei deren Einschränkung aus der Unmöglichkeit der Falsifikation von Musteraussagen resultiert. Das methodologische Minimalprogramm beinhaltet demzufolge zwar die Anknüpfung an die Mustervoraussage, erkennt aber deren begrenzten Erklärungsgehalt an, da erst nach Spezifizierung der Randbedingungen für konkrete Anwendungsfalle eine empirische Überprüfung möglich ist. Die zuvor bereits schon eingeschränkte Betrachtung des Rechts als konkretes Normenensemble wird an dieser Stelle weiter spezifiziert und der Fokus im folgenden auf die Privatrechtsgeschichte und dabei insbesondere auf die Institution des Privateigentums gelegt (S. 90). Im vierten Teil der Arbeit (D) diskutiert Okruch nunmehr - nach abnehmender Allgemeinheit geordnet - einzelne Theorien zur Erklärung der Normenstehung und -ausbreitung. Dabei beginnt er mit der Ontologie der Norm nach Gehlen, die Institutionen zwar als anthropologische Notwendigkeit begreift, das individuelle und subjektive Element bei ihrer Entstehung und Wandlung jedoch ungenügend berücksichtigt. Der folgende Ansatz von Marx stellt Normen als geschichtliche Notwendigkeit vor, die entscheidend und absolut durch die Art des Wirtschaftssystems geprägt werden („ÜberbauLehre") und somit eine eigenständige Analyse der sozialen und rechtlichen Normkomplexe verhindern. Des weiteren sieht Okruch in dem amerikanischen Institutionalismus eine neomarxistische Fortführung, indem etwa Vehlen von dem „Entwicklungsprimat der Technologie" ausgeht und die institutionelle Entwicklung der technologischen Entwicklung unter Berücksichtigung eines „cultural lag" nachfolgt (S. 95). Gegen diese Ansätze werden die Überlegungen von Habermas ins Feld geführt, der eine 1

Eine stärkere Akzentuierung, als durch den Autor in Fußnote 183 vorgenommen, wäre für den Begriff der „Regel" jedoch schon an dieser Stelle wünschenswert gewesen, da der Verweis auf die „besondere Bedeutung" des Begriffes in der Theorie der kulturellen Evolution neugierig macht, die folgende „Quasi-Zurückstufung" auf eine weitgehend(l) synonyme Verwendung somit tendenziell unbefriedigend ist.

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Eigengesetzlichkeit des normativen Wandels betont. Den Veränderungen von Normen geht ein primär individueller Lernprozeß voraus, der „die Geltung aller Normen an die diskursive Willensbildung der Betroffenen" (Habermas 1977, 210; Hervorhebung im Original) bindet. Jedoch wird hier folgerichtig der Erklärungsmangel der Übertragung der individuellen Willens- und Normenbildung auf die kollektive Ebene beklagt. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den funktionalistischen Ansätzen nach Parson und Luhmann. Während bei Parson normatives Handeln nur auf der Mikroebene angenommen und auf der Makroebene quasi „wegdefiniert" wird, so erscheint bei Luhmann das umgekehrte Problem, indem normativer Wandel nur aus komplexitätsreduzierender Systemdifferenzierung entsteht. Den breitesten Teil der Diskussion zur Normenstehung und -Veränderung nehmen die „rationalen Theorien" ein. Die Aussagen der Spieltheorie konnten zwar Verhaltensregelmäßigkeiten bei bestimmten Situationen darlegen, jedoch besteht weiterhin das Problem, wie aus einem uniformen Verhalten ein gemeinsamer Bewertungsstandard entsteht. Eine partielle Erklärung hierfür bildet die Häufigkeitsabhängigkeit des institutionellen Wandels, die in einer engen Verbindung zur geschichtlichen Bedingtheit steht. Okruch diskutiert in diesem Zusammenhang das Auftreten von Hysterese zur pfadbestimmten Normentwicklung, wobei diese Diskussion m. E. insgesamt etwas zu kurz kommt. So wurden u. a. die beiden wichtigen Beiträge von Elster (1976) und Cross und Allan (1988) nicht berücksichtigt. Des weiteren ist die Behauptung nicht aus sich heraus selbstverständlich, daß das grundlegende Muster der Hysterese im institutionellen Wandel die häufigkeitsabhängige Verhaltenswahl ist, und müßte insofern näher begründet werden (S. 117). Auch wäre es an dieser Stelle - oder gegebenenfalls als eigenständiger Punkt - im Hinblick auf die Normenstehung und -ausbreitung sicherlich erforderlich gewesen, Paretos Konzept der sozialen Mobilität einzubeziehen {Eisermann 1987). Pareto geht davon aus, daß in jeder Gesellschaft fundamentale Gefühlsstrukturen existieren, die von Generation zu Generation so genau wie möglich weitergegeben werden, womit, in der Analogie offensichtlich, zumindestens der Aspekt der Normdiffusion angesprochen wird. Die Überlegungen Okruchs zu einer „Persistenz ineffizienter Standards" (S. 118) lassen sich ideal - für sein Werk jedoch sicherlich nicht zwingend notwendig durch ein Beispiel von Dixit und Nalebujf (1997, 225ff.) ergänzen, mit dem sie die beharrliche Existenz des heutigen Tastaturstandards erklären, der, obwohl von den erforderlichen Bewegungsabläufen nicht ökonomisch, sich durchgesetzt hat. Den „rationalen Theorien" schließen sich im folgenden die Theorie der kulturellen Evolution nach v. Hayek sowie der institutionenökonomische Ansatz der Property Rights an. Zu ersterem ist zu bemerken, daß die Ableitung der „kulturell erworbenen Regeln" im Zusammenhang mit der Entstehung von sozialen Organisationsformen (S. 126) durch die Ergänzung des Beitrags von Engels (1953/1884) vermutlich angereichert worden wäre. Dennoch ist die Darstellung beider Abschnitte gut gelungen; die Bedeutung für die Thematik ist unumstritten. Der fünfte Teil der Arbeit (E) enthält den Versuch einer eigenen Synthese zu einer evolutorischen Theorie des Wandels rechtlicher Normen. Dabei gelingt es Okruch überzeugend, die Entstehung von Normen direkt beim Individuimi anzusiedeln (S. 148f.). Schade ist jedoch, daß die zugehörige Abbildung 3 „ein wenig" isoliert im Raum steht.

384 · Marcus Mittendorf Die Frage der Innovation von rechtlichen Normen versucht der Autor im folgenden mit den Ansätzen der Rechtsevolution sowie dem Ansatz von Jhering zu beantworten. Dabei werden die Theorien der Rechtsevolution abgelehnt. Für den Jheringschen Ansatz weist Okruch ein Innovationspotential nach, das zu wechselseitigen Entwicklungen bei unterschiedlichen Normhierarchien führt. Bei der Normdiffusion wird zwischen einer spannungsfreien und einer konfligären Ausbreitung unterschieden, wobei letzteres den Regelfall darstellt. Für die konfligäre Ausbreitung konnten mit der Abstimmung, der Durchsetzung und dem Rechtsstreit drei Diffusionskanäle identifiziert werden (S. 161). Diese Unterscheidung ermöglichte die Integration einer Reihe existierender Ansätze, wobei die Berücksichtigung des Rechtssystems beim Wandel von Normen Probleme aufwarf. Die sich anschließende Analyse dieser Probleme führt zu einer evolutorischen Sichtweise bei der Untersuchung der Rechtserzeugung (Normdiffusion), in der die Rolle von richterlichem Verhalten ausführlich diskutiert wird. Da jede Rechtsnorm in der Regel einen „grauen Schleier" aufweist, der neue sowie unterschiedliche Interpretationen in konkreten Fällen ermöglicht, wird es die richterliche Praxis sein, die die Verbindung von der individuellen zu der kollektiven Normensetzung darstellt. Die Transmission basiert dabei notwendigerweise auf historischem rechtsmethodischem Wissen (S. 174f.). Abschließend werden einige empirische Aspekte zur Überprüfung der Thesen herangezogen, wobei der Einfluß des römischen Rechts den Schwerpunkt einnimmt. Das Werk schließt mit einer Zusammenfassung sowie einem Ausblick (F). Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß mit der vorliegenden Arbeit ein sprachlich und inhaltlich anspruchsvolles Werk präsentiert wird, welches sich insbesondere an den sozialwissenschaftlich vorgebildeten Leser wendet. Ein praktisches Resümee: Die Verschiedenartigkeit des Rechts in einem einheitlichen Wirtschaftsraum - ein Problem, welches uns Europäer noch häufiger beschäftigen wird - verlangt nach den theoretischen Ausführungen Okruchs somit nicht zwangsläufig nach einer exogenen Harmonisierung, sondern nach mehr Berücksichtigung der „Rolle des Fremden beim Kulturwandel" und/oder nach einer höheren transnationalen richterlichen Mobilität. Literatur Albert, Hans (1978), Traktat über rationale Praxis, Tübingen. Cross, Rod und Andrew Allan (1988), On the History of Hysteresis, in: Rod Cross (Ed), Unemployment, Hysteresis, and the Natural Rate Hypothesis, Oxford and New York, S. 26-38. Dixit, Avinash K. und Barry J. Nalebuff (1997), Spieltheorie für Einsteiger: Strategisches Know-how für Gewinner, Stuttgart. Eisermann, Gottfried (1987), Vilfredo Pareto: ein Klassiker der Soziologie, Tübingen. Elster, Jon (1976), A Note on Hysteresis in the Social Sciences, Synthese, Vol. 33, S. 371-391. Engels, Friedrich (1953/1884), Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Berlin. Granovetter, Mark (1985), Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology, Vol. 91, S. 481-510. Habermas, Jürgen (1977), Notizen zum Begriff der Rollenkompetenz, in: Jürgen Habermas, Kultur und Kritik: Verstreute Aufsätze, 2. Aufl., Frankfurt am Main, S. 195-235.

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Jochen Fleischmann

Ordnungspolitik in der Demokratie Besprechung des gleichnamigen Buches von Ingo Pies* Ingo Pies strebt mit seiner Habilitationsschrift einen Grundlagenbeitrag zur Theorie der Wirtschaftspolitik an. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der von Ökonomen vielbeklagte Umstand, daß Reformvorschläge seitens der ökonomischen Wissenschaft in der Öffentlichkeit häufig nicht den Anklang finden, der ihnen - zumindest nach Meinung ihrer Urheber - eigentlich zuteil werden sollte. Ausgeklügelten Reformvorschlägen wird nicht gefolgt; lieber verharrt man in einem für alle offensichtlich ungenügenden System. Die Ökonomie wird also ihrer Aufgabe, bei der Lösung politischer Probleme zu helfen, offenbar nicht gerecht - sie hat ein Implementierungsproblem (oder ,Marketingproblem'), zu dessen Lösung diese Arbeit beitragen möchte. Wo liegen die Ursachen dieses Implementierungsproblems? Die Ursachen sind nicht etwa bei notorisch lernunwilligen politischen Akteuren zu finden, sondern, so Pies, bei der Wissenschaft selbst. Die Wirtschaftswissenschaften versäumen es demnach systematisch, den Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft eine intellektuelle Orientierungsleistung zu bieten, die es ihnen erlaubt, den allgemein als krisenhaft empfundenen Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft - Pies nennt hier insbesondere die Doppelkrise von Arbeitsmarkt und Sozialstaat - durch kluge Regelsetzung zu überwinden. Das häufig zu hörende Klagelied der Wirtschaftswissenschaftler lenkt also weitgehend vom eigenen Versagen ab - sie müssen zuerst bei sich anfangen und überprüfen, ob ihre Reformvorschläge überhaupt den Gegebenheiten einer pluralistischen Gesellschaft entsprechen. Denn häufig muten sie mit ihren Vorschlägen politischen Akteuren zu, gegen ihre eigenen Interessen zu verstoßen - ein Scheitern ist damit vorprogrammiert. Nicht (nur) Markt- oder Politikversagen sind damit die relevanten Tatbestände, um die sich die Wirtschaftswissenschaften bzw. die Theorie der Wirtschaftspolitik kümmern sollten, sondern vor allem und zuallererst auch Theorieversagen (S. 188). Der von Pies entwikkelte ökonomische Ansatz diskursiver Politikberatung soll dieses Theorieversagen vermeiden helfen und die Wirtschaftswissenschaften in die Lage versetzen, mittels ökonomischer Information der Öffentlichkeit Anreize zu geben, politisch-gesellschaftliche Handlungsblockaden zu überwinden (S. 1). Damit wird auch das Implementierungsbzw. Marketingproblem der Theorie der Wirtschaftspolitik gelöst: Der Ansatz drängt die Theorie der Wirtschaftspolitik zur ,Kundenorientierung' - es sollen solche Lösungsvorschläge (oder .Produkte') erarbeitet werden, die sich auch konsequent an den Anwendungsproblemen ihrer Adressaten orientieren (S. 313f.). *

Ingo Pies, Ordnungspolitik in der Demokratie: Ein ökonomischer Ansatz diskursiver Politikberatung, Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Band 116, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2000, 367 Seiten.

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Wie sieht dieser Ansatz, den Pies im ersten Kapitel seiner Schrift entwickelt, aus? Die zeitgenössische ökonomische Literatur wird Pies zufolge der Aufgabe einer ökonomischen Politikberatung nicht gerecht. Sie hat sich vom klassischen Erkenntnisprogramm einer „Erklärung zwecks Gestaltung" entfernt, ist zur reinen Bereichswissenschaft verkümmert und trägt darüber hinaus mit Appellen an Bereichswerte eher zu Handlungsblockaden bei, als daß sie Wege aus der Krise zeigt. Der Autor folgert daraus, daß eine Neuausrichtung der Wirtschaftswissenschaften notwendig sei. Sie muß sich ganz im Sinne der klassischen Nationalökonomen zu einer Theorie der Gesellschaft mit dem Ziel der Erklärung zwecks Gestaltung wandeln. Theoretische Basis bildet dabei ein „Interaktionsökonomik" (Homann und Suchanek 2000, 26) bzw. „Anreizökonomik gesellschaftlicher Dilemmastrukturen" (S. 310) genannter Ansatz. Interaktionsökonomik versucht, neoklassische Anreizanalyse, Spieltheorie und Neue Institutionenökonomik zu integrieren, um gesellschaftliche Interaktionen zum wechselseitigen Vorteil der Beteiligten zu untersuchen. Diese theoretische Basis dient Pies dazu, das von ihm initiierte Forschungsprogramm einer normativen Institutionenökonomik, das „die klassische Fragestellung mit nunmehr neoklassischem Instrumentarium" (Pies 1995, 312) bearbeiten will, in eine Methode münden zu lassen, die er „orthogonale Positionierung" nennt. Um diese Methode zu entwickeln, nimmt Pies Anleihen bei den beiden ordnungspolitischen Klassikern Walter Eucken und Friedrich August v. Hayek. Vor allem die Art ihrer „Problembearbeitung" (S. 16) ist es, die Pies für fortsetzenswert hält. Was war ihr Problem? Es handelte sich um die Frage, ob moderne Staaten im Stile eines LaisserFaire-Liberalismus oder sozialistisch verfaßt sein sollen. Die Zeitgenossen von Eucken und Hayek haben diese beiden Optionen als unvereinbare Gegensätze gesehen. Nicht so Eucken und Hayek-, sie haben mittels einer orthogonalen Positionierung diesen Gegensatz aufgelöst. Als Grundlage diente ihnen eine Ordnungstheorie, die zwischen dem rechtlichen Rahmen von Handlungen und Handlungen innerhalb dieses Rahmens unterscheidet. Zwischen völliger Enthaltsamkeit des Staates und weitreichenden Prozeßinterventionen im sozialistischen Stil gibt es demnach noch eine weitere Handlungsoption, nämlich Wirtschaftspolitik als Ordnungspolitik, die den Regelrahmen einer Wettbewerbsordnung festlegt, innerhalb dessen die Individuen über die Freiheit verfügen, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Die mit dieser Auseinandersetzung verbundene Wertedebatte sei damit auf eine Zweckmäßigkeitsdiskussion zurückgeführt worden. Es gelang den beiden Klassikern, wertfrei zu einem Werteproblem Stellung zu nehmen. Das Problem der Klassiker - der konstitutionelle Konflikt zwischen Markt und Plan - hält Pies mittlerweile für gelöst. Die Problemstruktur tritt aber weiterhin auf, allerdings auf subkonstitutioneller Ebene. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Probleme werden von der politischen Öffentlichkeit vorwiegend als schier unüberwindbare Konflikte zwischen Werten (Dualismen) wahrgenommen. Die Wirtschaftswissenschaften versagen weitgehend, wenn es darum geht, dazu beizutragen, diese Probleme zu klären. Das hängt mit der gängigen Interpretation von Wertfreiheit zusammen. Wertfreiheit wird als „Freiheit zum Werturteil" (S. 5) verstanden; Wissenschaftler dürfen sich demnach durchaus auf Werte beziehen, sie müssen sie nur offen ausweisen. Für Pies ist dies nicht ausreichend, sogar kontraproduktiv: Bereichsdenken wird auf diese Weise Vorschub geleistet und integrative Reformen werden verhindert. Ihre Fähigkeit, gesell-

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schaftspolitische Probleme (bzw. damit verbundene Konflikte) lösen zu helfen, werden die Wirtschaftswissenschaften in einer pluralistischen Gesellschaft nur wiedererlangen, wenn es ihnen gelingt, im Stile der skizzierten Problemlösung Euckens und von Hayeks wertfrei zu gesellschaftspolitischen Problemen Stellung zu nehmen. Der Pjessche Ansatz will daher völlig ohne Werte auskommen und ausschließlich auf die Interessen der Individuen rekurrieren; die in pluralistischen Gesellschaften brüchige Wertebasis wird durch „eine gemeinsame Interessenbasis" (S. 15) ersetzt bzw. kommt es darauf an, „Zweckmäßigkeitsargumente" {Pies 1995, 314) zu generieren. Um die gemeinsame Interessenbasis herauszuarbeiten, verwendet Pies die Problembearbeitungsstrategie der beiden Klassiker, allerdings nicht deren theoretische Überlegungen. Vielmehr ersetzt er von Hayeks und Euckens Ordnungstheorie durch eine institutionenökonomisch fundierte Anreizanalyse, die oben genannte Interaktionsökonomik. Damit ist nicht mehr das Denken in Ordnungen relevant, sondern ein Denken in Anreizen. Zentrale Argumentationsfigur ist dabei das soziale Dilemma. Illustriert wird diese Figur durch das Gefangenendilemma, dessen Vorteil darin gesehen wird, daß es "das Spannungsverhältnis gemeinsamer und zugleich konfligierender Interessen thematisiert" (S. 48). In der öffentlichen Wahrnehmung werden Pies zufolge häufig nur die konfligierenden Interessen gesehen, symbolisiert durch strittige Werte, die sich in einem Nullsummenspiel gegenüberstehen. Analog zu von Hayeks und Euckens Lösung ist es Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften, den in diesem Dilemma gefangenen Individuen zu helfen, dieses Nullsummenspiel zu überwinden. Dazu müssen die gemeinsamen Interessen im Sinne eines Positivsummenspiels aufgezeigt werden. Sind diese gemeinsamen Interessen identifiziert, so sind daraus Zweckmäßigkeitsargumente zu generieren und der demokratischen Öffentlichkeit zu vermitteln. Im Idealfall wirkt dieses Argument für politische Akteure als Anreiz, institutionelle Reformen einzuleiten, die dieses gemeinsame Regelinteresse umsetzen (S. 315, S. 187ff.). Die Arbeit bleibt bei diesem abstrakten Muster nicht stehen, sondern zeigt in den Kapiteln zwei und drei, wie „orthogonale Positionierung" einen Beitrag zur Lösung gesellschaftspolitischer Probleme leisten kann. Kapitel zwei arbeitet heraus, wie eine „orthogonale Positionierung" die aktuelle Sozialstaatsdebatte entschärfen könnte. In der Sozialstaatsdebatte verläuft die Frontlinie in Wissenschaft und Politik entlang der Werte Freiheit und Gerechtigkeit - sichtbarer Ausdruck ist die weitgehend strikte Trennung der wissenschaftlichen Wirtschaftspolitik von der wissenschaftlichen Sozialpolitik. Ausfuhrlich zeichnet Pies diese Frontstellungen nach und macht für diese verfahrene Debatte vor allem einen Fehler in der Konstruktion des Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft verantwortlich. Dieses Leitbild beruht Pies zufolge weitgehend auf dualistischem Denken: Der Markt als Sphäre der Freiheit steht der Sozialpolitik als Träger des Sozialen gegenüber. Das sei aber eine „Schönwetter-Programmatik" (S. 75), die in Krisenzeiten keinerlei heuristischen Wert habe. Politik und Wissenschaft haben sich ganz dem Ansatz der Sozialen Marktwirtschaft entsprechend auf reine Wertedebatten verlegt: Die einen fordern „Mehr Freiheit durch weniger Umverteilung", die anderen „Mehr Gerechtigkeit durch mehr Umverteilung" (vgl. S. 131). Diese Wertstreitigkeiten führen Pies zufolge nicht weiter. Vielmehr müßte das gemeinsame Interesse von Umverteilungsgewinnern und (zunächst scheinbaren) Umverteilungsverlierern aufgezeigt werden.

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Dieses gemeinsame Interesse arbeitet Pies heraus, indem er das Umverteilungsdenken dekonstruiert. Aufbauend auf den Arbeiten Gary Beckers und Hans Werner Sinns argumentiert er, daß Umverteilung für die Belasteten nicht eine Leistimg ohne Gegenleistung darstelle. Vielmehr sei sie als Versicherung zu interpretieren, die jedem Bürger Umverteilungsgewinnern wie Umverteilungsverlierern - die Teilnahme am Marktgeschehen ermöglicht. Pies nennt diesen - sich orthogonal zu den Werten Freiheit und Gerechtigkeit positionierenden - Argumentationsstrang „Sozialpolitik für den Markt". Dadurch werde das Leitbilddenken in der Sozialpolitik überwunden zugunsten eines neuen Standards, der sich auf „ konsensföhige Argumente " (S. 134) gründet. In einem weiteren Kapitel wird der Wert dieses Ansatzes für die Reformdebatte am Arbeitsmarkt aufgezeigt, indem eine Sozialpolitik für den Arbeitsmarkt als Ausweg aus der Arbeitslosigkeitsfalle entwickelt wird. Von der Anwendungs- bzw. Steuerungsebene springt Pies im vierten Kapitel auf die Metaebene. Dabei grenzt er sich von alternativen Ansätzen zur Ordnungspolitik (Manfred Streit und Heinz Grossekettler) sowie von alternativen Ansätzen wissenschaftlicher Politikberatung (John Rawls und James Buchanan) ab. Seinen eigenen Ansatz sieht Pies als Beitrag zur Rationalisierung des politischen Liberalismus, der nicht einem bestimmten Wert folgt, sondern bei der „demokratisch-konsensualen (Weiter-)Entwicklung des gesellschaftlichen Institutionensystems" (S. 310) hilft. Ingo Pies hat eine lesenswerte, in sich durchkonstruierte und in geschliffenem Stil geschriebene Monographie vorgelegt, die neue Wege beschreitet und vielfältige Denkanstöße für die ordnungs- und wirtschaftspolitische Debatte liefert. „Ordnungspolitik in der Demokratie" greift schon veröffentlichte Gedanken des Autors (z.B. Pies 1995) auf, führt sie konsequent fort, verfeinert sie. Das Buch enthält nicht nur einen originellen eigenen Theorieansatz, sondern versteht es, diesen zwischen den Positionen einflußreicher Autoren zur Wirtschafls- und Gesellschaftspolitik zu verorten (die jeweils präzise formulierte - und insbesondere, was von Hayek und Eucken angeht, durchaus eigenständige und -willige - Interpretation der Gedanken dieser Autoren durch Pies vermittelt an sich schon vielfältige anregende Impulse). „Ordnungspolitik in der Demokratie" enthält - unter anderem zur Sozialstaatsdebatte - zahlreiche Gedanken, die zu kontroverser Diskussion einladen bzw. eine solche aufgrund früherer Veröffentlichungen des Autors schon ausgelöst haben.1 Im Rahmen einer Besprechung können diese Aspekte allerdings nicht aufgegriffen werden; zu groß ist die thematische Spannbreite des Buches. Daher einige eher grundsätzliche Anmerkungen: Beeindruckend ist die Stringenz dieses Werkes (auch innerhalb des bisherigen Gesamtwerkes von Pies). Pies hält konsequent an dem Ansatz fest, daß es vor allem die Institutionen sind, auf die es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ankommt. Kommt es zu Fehlentwicklungen bzw. kollektiven Selbstschädigungen, so kann den Individuen kein Vorwurf gemacht werden; vielmehr sind es falsch gesetzte Anreizstrukturen, die individuell rationales Handeln in eine kollektive Rationalitätenfalle münden lassen. Es ist daher folgerichtig, daß Wirtschafis- und Sozialpolitik, will sie langfristig tragfahige Lösungen bieten, zuallererst gesellschaftliche Anreizstrukturen analysieren und institutio1 Vgl. z.B. Homann und Pies ( 1996) sowie dazu Priddat ( 1996).

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nelle Reformansätze aufzeigen muß, die kollektive Selbstschädigung vermeiden. Der Gedanke an sich ist nicht neu und sollte insbesondere ordnungspolitisch denkenden Wirtschaftswissenschaftlern - zumindest vom Grundsatz her - nicht fremd sein. Neu ist aber sehr wohl die Art und Weise, wie Pies versucht, diesen Grundgedanken in eine systematische Anleitung an die Wirtschaftswissenschaften, wie konsensfahige und implementierbare institutionelle Reformen zu generieren sind, umsetzt. Die beiden wesentlichen Elemente dieser Anleitung sind der institutionentheoretische Analyserahmen und darauf aufbauend der Ansatz der „orthogonalen Positionierung". Der Analyserahmen betrachtet Institutionen und ihre Wirkungen mittels konsequent neoklassisch orientierter Denkmuster. Das hat den Vorteil, daß die Untersuchung von der Eleganz neoklassischen Denkens profitiert und - aufgrund des Rationalitätspostulats - nachvollziehbare Aussagen, wie Ordnungsstrukturen auf menschliches Verhalten wirken, ermöglicht. Sahen sich ordnungsökonomisch denkende sowie neoklassisch denkende Wirtschaftswissenschaftler bisher häufig in einem Gegensatz zueinander, so bietet dieser Ansatz beiden Seiten die Möglichkeit, voneinander zu lernen. Ordnungstheoretiker können auf klar nachvollziehbare Anreizanalysen zurückgreifen, während Neoklassiker auf die zentrale Funktion des Institutionengeflechts und damit des Ordnungsrahmens einer Volkswirtschaft hingewiesen werden. Sie sind damit gehalten, ihre Politikvorschläge vor allem auf diesen Institutionenrahmen zu beziehen. Darauf aufbauend soll der Ansatz der „orthogonalen Positionierung" Zweckmäßigkeitsargumente generieren, die sich nicht an Werten, sondern rein an den Interessen der Individuen orientieren. Dieser Ansatz stellt für die praktische und wissenschaftliche Wirtschaftspolitik eine Art Warnsignal dar: Wertedualismen sollen nicht vorschnell als gegeben hingenommen werden und schon gar nicht dürfen sich die Wirtschaftswissenschaften in solchen Wertedebatten bedingungslos auf die eine oder andere Seite schlagen, wenn sie an einer Umsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Vorschläge interessiert sind. Das ist die Kernbotschaft der Schrift von Pies\ diesen Aspekt herausgestellt und systematisch mit einem institutionentheoretischen Argumentationsrahmen verknüpft zu haben, ist ein wichtiges Verdienst dieses Buches und sollte in der Theorie der Wirtschaftspolitik ernst genommen werden. Die Probleme der „orthogonalen Positionierung" beginnen dann eher im Detail. Dieser Ansatz leistet zwar wertvolle Dienste als eine Art Warnsignal vor vorschnellem Engagement in Wertedebatten. Ob er eine weiterführende wissenschaftliche Analyse ermöglicht, ist allerdings fraglich (Mantzavinos 2000, 481 f.). Im konkreten wirtschaftspolitischen Anwendungsfall würde es darum gehen, die Interessen der Beteiligten zu beachten, um ihnen durch wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht zumuten zu müssen, gegen diese Interessen zu verstoßen (S. 311). Solange aber nicht geklärt ist, wie diese Interessen aussehen bzw. wie diese zu ermitteln oder wie diese im Zweifel zu gewichten sind, entbehren die so begründeten Vorschläge nicht einer gewissen Beliebigkeit. Im Zweifel werden dann doch wieder die Werturteile des Wissenschaftlers in die Analyse eingesetzt, diesmal verkleidet als die Interessen der Akteure. Vollkommen ausgereifte Lösungen des ,Marketingproblems' der Theorie der Wirtschaftspolitik - also implementierbare Politikvorschläge - sind auf diese Weise nicht zu erwarten; es fehlt, um in der Marketingterminologie zu bleiben, die .Marktforschung'.

390 · Jochen Fleischmann Auch die konsequente Verwendung eines neoklassisch gestützten institutionentheoretischen Argumentationsrahmens weist nicht nur Vorteile auf. Zwar gewinnen die Ausführungen auf diese Weise ein hohes Maß an analytischer Klarheit, sind nachvollziehbar und kritisierbar. Jedoch hat das konsequente Festhalten an diesem Ansatz zur Folge, daß manche Folgerungen überspitzt erscheinen und der Autor gelegentlich etwas über sein Ziel hinausschießt. So ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen - und darauf wurde zumindest indirekt schon des öfteren bei Besprechungen A'esscher Werke 2 hingewiesen - , daß ein mechanistisches Bild des Menschen zugrunde gelegt wurde. Menschen sind in diesem Ansatz durch geeignete Institutionenwahl praktisch beliebig steuerbar. Das führt ohne weiteres zu einer Überschätzung der Fähigkeit der Wirtschaftspolitik, gesellschaftliche Prozesse zu steuern, bzw. der Theorie der Wirtschaftspolitik, als „ordnende Potenz" zu wirken. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Kritik, die Pies an den Arbeiten von Norbert Berthold (zur Reform der Arbeitsmarktordnung) sowie von Manfred Streit (grundsätzlich zur Ordnungsökonomik) übt, als überzogen. Ihnen wirft er vor, das Problem der Implementierung wirtschaftspolitischer Vorschläge zu umgehen, indem sie auf den Systemwettbewerb (Berthold) bzw. auf spontane Ordnungskräfte (Streit) vertrauen. Es mag zwar zutreffen, daß bei überzogener Auslegung gerade bei dem Ansatz von Manfred Streit die Gefahr besteht, in eine „resignative Ratlosigkeit der Laisser-faire-Tendenz seines ,hayekianischen' Evolutionismus" (S. 245) zu verfallen. Jedoch sollte man deswegen den Verweis auf spontane Ordnungskräfte, politischen Wettbewerb bzw. Wettbewerb der Regelsysteme nicht pauschal verurteilen. Schließlich ist dies eine Möglichkeit, um Neuentwürfe von Institutionensystemen einem Test zu unterziehen und so konstruktivistische Ansätze zu vermeiden (vgl. Geue 1998, 158). Derartige Gedanken sind sicherlich auch geeignet, den Pzesschen Ansatz zu bereichern vielleicht um den fehlenden Aspekt der Marktforschung'.

Literatur Geue, Heiko (1998), Sind ordnungspolitische Reformanstrengungen mit Hayeks Evolutionismus vereinbar?, ORDO, Band 49, S. 141-163. Homann, Karl und Andreas Suchanek (2000), Ökonomik: Eine Einführung, Tübingen. Homann, Karl und Ingo Pies (1996), Sozialpolitik für den Markt, in: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.), James Buchananas konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, S. 203-239. Mantzavinos, Chrysostomos (2000), Karl Poppers kritischer Rationalismus: Bemerkungen zu dem von Ingo Pies und Martin Leschke herausgegebenen Buch mit dem gleichen Titel, ORDO, Band 51, S. 481-484. Pies, Ingo (1995), Normative Institutionenökonomik: Zur Problemstellung eines Forschungsprogramms demokratischer Politikberatung, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Band 44, S. 311-340. Priddat, Birger P. (1996), Sozialpolitik ohne Sozialpolitik?, in: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.), James Buchananas konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, S. 240-247. Weizsäcker, Carl Christian von (2001), Wirtschaftsethische Perspektiven: Besprechung des von Wulf Gaertner herausgegebenen Sammelbandes, in diesem Band.

2 Vgl. z.B. die Bemerkungen von Weizsäckers (2001) zu einem Aufsatz von Pies mit etwas anderer Zielrichtung.

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Ronald Coase' Transaktionskosten-Ansatz Zum gleichnamigen Buch, herausgegeben von Ingo Pies und Martin Leschke* Externe Effekte als Ursache für (Rechts)streitigkeiten haben eine lange Tradition. Rabbi Mosche Safer (1762-1839), ein führender jüdischer Rechtsgelehrter seiner Zeit in Zentraleuropa,1 sah sich mit folgendem Externalitätenproblem konfrontiert: In einem zweistöckigen Haus wohnten drei Brüder. Einer von ihnen plante, im oberen Stockwerk eine Kneipe zu eröffnen. Dagegen setzte sich der im Erdgeschoß mit dem Argument zur Wehr, daß dies zu Beeinträchtigungen im gemeinsamen Vorgarten führen würde. Der hier zu konsultierende Abschnitt der Mishna2 sieht vor, daß derjenige, der einen Laden in einem gemeinsamen Hof betreiben will, von seinen Nachbarn aufgrund der zu erwartenden Lärmbelästigung daran gehindert werden kann. Beabsichtigt allerdings jemand, dort eine Produktionsstätte aufzubauen, gewährt die Mishna kein Einspruchsrecht. Es scheint fast so, als ob dieser Gesetzeskodex den Verursacher einer hohen Lärmbelastung aus Produktionsprozessen gewähren läßt, während die wahrscheinlich geringeren Emissionen eines Ladenlokals unterbunden werden. Die Interpretation dieser etwas unklaren Vorschrift durch Rabbi Mosche Sofer mutet erstaunlich modern an. Der Unterschied der von der Mishna beschriebenen Fälle sei in ihren wirtschaftlichen Charakteristika zu sehen. Die Hofanwohner könnten Widerspruch gegen die von einem Ladenbetreiber ausgehenden externen Effekte geltend machen, weil er zu relativ geringen Kosten sein Geschäft auf die Straße verlagern könne. Hingegen sei es prohibitiv teuer, das gleiche mit Maschinen und anderen Produktionsanlagen zu tun. Entscheidend für den hier zu beurteilenden Fall sei demnach, ob eine Kneipe eher den Charakter eines „Ladenlokals" oder einer „Produktionsstätte" habe. Dies sei anhand der relativen Kosten festzumachen, die ein Verbot der Kneipe für den im Obergeschoß wohnenden Bruder nach sich zögen. Bei seiner Abwägung kam Rabbi Sofer zu dem Schluß, daß sie für den Fall einer Verlagerung der Kneipe relativ hoch seien: Anders als ein Warenverkäufer kann ein Wirt seine Gäste nicht ohne weiteres auf der Stra*

Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.), Ronald Coase' Transaktionskosten-Ansatz, Konzepte der Gesellschaftstheorie, Band 6, Verlag Mohr-Siebeck, Tübingen 2000, 260 Seiten. 1 Die jüdischen Gemeinden in Zentraleuropa waren bis zur Neuzeit in inneren Angelegenheiten autonom. Deswegen befaßten sich jüdische Rabbinatsgerichte zu einem großen Teil mit inneijüdischen Zivilstreitigkeiten. Vgl. Breuer (2000, 160 ff., insbes. 164). 2 Die jüdische Jurisdiktion basiert auf einem umfangreichen Gesetzeswerk, das einerseits aus formalen Kodizes, andererseits einer reichen Responsenliteratur besteht. Beide stützen sich auf den Talmud, der sich aus Mishna (ca. 200 n. Chr.) und Gemara (ca. 500 n. Chr.) zusammensetzt. Responsen sind rabbinische Rechtsgutachten, die sich mit Fragen beschäftigen, die nicht im kodierten Recht behandelt werden. Sie reichen vom 10. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Vgl. Liebermann (1981, 294).

392 · RonBrinitzer ße bedienen, da sie bei ihm Geselligkeit und Entspannung suchten - beides Dinge, die gewisse Räumlichkeiten benötigen. Insofern würde er bei einem Verbot seine Einkommensgrundlage verlieren und mit prohibitiv hohen Kosten konfrontiert. Daher sei der Kneipe der Charakter einer Produktionsstätte zuzuordnen.3 Rabbi Mosche Sofer hält es in diesem Fall mit Coase, denn seine Mishna-Interpretation enthält implizit eine Abwägung zwischen den Kosten der am externen Effekt Beteiligten. Das Verbot einer störenden Aktivität im gemeinsamen Hof zieht immer auch Kosten fur den von diesem Verbot Betroffenen nach sich. Entsprechend muß zwischen den Kosten des von der Externalität Geschädigten und den Kosten des von einem Verbot Betroffenen abgewogen werden: „The real question that has to be decided is: should A be allowed to harm Β or should Β be allowed to harm A? The problem is to avoid the more serious harm" (Coase 1960, 2). Genau das versucht der Rabbi und nimmt damit den Gedanken der Reziprozität von Externalitäten, der für soviel Furore gesorgt hat, um einige Zeit vorweg (vgl. Liebermann 1981,297). Auch Hansjürgens weist im hier zu besprechenden Sammelband daraufhin, daß bereits Buchanan diesen Zusammenhang erkannt hat - vor Coase (S. 97). Was also macht Coase so interessant? Oder - um die Fragestellung des Beitrages von Pies zu verwenden - was kann man heute noch von diesem zu Recht als Pionier der Institutionenökonomik bezeichneten Ökonomen lernen? Und schließlich, was waren die Ursachen für die Zeitverzögerung, mit der das Werk von Coase rezipiert wurde? Der zur Beantwortung dieser Fragen beschrittene Weg ist sowohl innovativ als auch höchst instruktiv und bildet zugleich die Einführung des von Ingo Pies und Martin Leschke herausgegebenen Buches. Es enthält fünf Beiträge einer Tagung vom September 1999, die jeweils von zwei Korreferaten kommentiert und von einer Einleitung und einem Epilog eingerahmt werden. Pies analysiert in seinem Aufsatz nicht so sehr die Inhalte der Coaeesehen Arbeiten, sondern den darin immanenten Denkansatz. Dazu stellt er zunächst in bemerkenswerter Kürze und Verständlichkeit die Kerngedanken der wichtigsten Arbeiten des Nobelpreisträgers dar. Hier lernt der Leser, daß das Werk von Coase nicht nur aus den bekannten Aufsätzen von 1937 und 1960 besteht. Es wird auch ein Aufsatz aus dem Jahr 1946 vorgestellt, der sich mit der Regulierung natürlicher Monopole befaßt. Durch einen Vergleich dieser Beiträge kommt Pies zu dem Schluß, daß allen eine gemeinsame Methode zugrundeliegt. Sie besteht in der Konfrontation einer gängigen Lehrmeinung mit einer innovativen Fragestellung, zu deren Beantwortung das Kategoriensystem der ökonomischen Theorie Korrekturen unterworfen werden muß. Der Clou besteht darin, daß Coase dazu dieses Kategoriensystem nicht verläßt, sondern immer auf eine herkömmliche Basiskategorie zurückgreift. In diesem Sinne schlägt er die Neoklassik mit den eigenen Waffen oder wie Pies (S. 20) schreibt, „Coase geht es darum, die Mängel ökonomischer Theorie mit Hilfe ökonomischer Theorie zu heilen". Das mache es schwer, die Arbeiten von Coase als Paradigmenwechsel zu verstehen, weshalb sie lange vernachlässigt oder falsch verstanden wurden. Zugleich scheint ihn das gehindert zu haben, den wohlfahrtsökonomischen Effizienzmaßstab der Güterma-

3 Vgl. Liebermann (1981, 294ff.). Er weist daraufhin, daß das Urteil implizit die Ansicht enthält, daß die Anmietung eines anderen Lokals ebenfalls prohibitiv teuer ist.

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ximierung zugunsten des Kriteriums demokratischer Zustimmung abzulegen. Die Erkenntnisse zum methodischen Vorgehen von Coase werden mit der Analyse eines wissenschaftstheoretischen Aufsatzes des Nobelpreisträgers untermauert, dem Pies neben den schon genannten Arbeiten ebenfalls einen elementaren Stellenwert einräumt. Insgesamt gelingt es Pies, selten beachtete Aspekte ins Blickfeld zu rücken, indem er Coase vorwiegend methodisch und weniger inhaltlich analysiert. Die daraus resultierenden neuen Erkenntnisse wecken das Interesse für die folgenden Beiträge. Das sich anschließende Referat von Birgitta Wolff will den Einfluß des Coaseschen Werks auf die ökonomische Theorie der Organisation ausloten. Dazu versucht die Autorin in einem ersten Schritt, durch die Synthese vier verschiedener Theoriezweige der Neuen Institutionenökonomik zu einer umfassenden Organisationstheorie zu gelangen. Zu diesem Zweck stellt sie zunächst den Property-Rights-Ansatz, die Transaktionskostenökonomik, die Prinzipal-Agent-Theorie und die ökonomische Verfassungstheorie dar. Durch die Integration dieser Ansätze ersetzt sie - wie übrigens die meisten anderen Autoren des Buches auch - den wohlfahrtsökonomischen Begriff der allokativen Effizienz durch das aus der konstitutionellen Ökonomik bekannte Konsenskriterium. Danach ist ein institutionelles Arrangement dann effizient, wenn die Betroffenen ihm unter Kenntnis der für sie relevanten Alternativen zustimmen. Sie weist darauf hin, daß sich beide Effizienzbegriffe ineinander überführen lassen: Können die Verlierer einer organisationellen Maßnahme kompensiert werden, dann findet die Organisationsform Zustimmung, deren Gesamtertrag im Vergleich zu den Alternativen der höchste ist - vorausgesetzt, alle sind sich einig darüber, was der maximale Gesamtertrag ist. Letztlich gelangen sie so zu einer Pareto-optimalen Lösung. Am Beispiel der Leistungstiefenoptimierung will die Autorin schließlich die Konsequenzen der Coaseschen Ideen für die Praxis darstellen. Allerdings gerät Wolff dieser Abschnitt eher zu einer Hommage an ihren akademischen Lehrer Arnold Picot. Insgesamt muß man konstatieren, daß das Werk von Coase in diesem Beitrag zu kurz kommt, zumal die im ersten Teil geschilderten Theorien nur zum Teil auf Coase zurückgehen. Erst durch die Korreferate - insbesondere das von Erlei - wird die Bedeutung des Nobelpreisträgers für die governanceund measurement-Richtimg deutlich. Der nächste Beitrag von Helmut Karl zeichnet anhand der Rezeptionsgeschichte des 1960 erschienenen Aufsatzes „ The Problem of Social Cost" die Bedeutung von Coase für die Umweltökonomie nach. Karl beginnt mit der von Pigou und Hotelling dominierten Ausgangslage, um dann auf die als Coase-Theorem bekannt gewordene verkürzte Interpretation der oben genannten Arbeit einzugehen. Während Coase lediglich zeigen wollte, daß unter den Annahmen der Wohlfahrtsökonomik das Problem externer Effekte nicht relevant ist, weil sich in jedem Fall eine effiziente Allokation einstellen wird (Effizienzthese), unabhängig davon, wie die Nutzungsrechte ursprünglich verteilt sind (Invarianzthese), ist diesen Aussagen lange Zeit ein instrumenteller Charakter zugesprochen worden. Aufgrund dieses Mißverständnisses entbrannte eine von Karl treffend nachvollzogene Diskussion um die mannigfaltigen irrealen Voraussetzungen, unter denen das Theorem Gültigkeit hat. Allerdings greift man zu kurz, wenn man mit der Ablehnung der Verhandlungslösung dem Coase-Beitrag jegliche Relevanz für die Umweltökonomie absprechen wollte. Abgesehen davon, daß das wohlfahrtsökonomische

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Referenzmodell ad absurdum gefuhrt wird, hilft das Coase-Theorem, so Karl, die Probleme sinnvoll zu strukturieren. Daneben bietet es Vergleichskriterien für die Gegenüberstellung alternativer institutioneller Arrangements. Dies lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß das Umweltproblem auf fehlenden Institutionen beruht, woraus erst Preisverzerrungen resultieren. Institutionen wiederum beeinflussen die Höhe der Transaktionskosten, was bei einem Vergleich verschiedener institutioneller Lösungen berücksichtigt werden muß. Zudem eröffnet das Coase-Theorem aufgrund des Reziprozitätsgedanken neue Spielräume beim institutionellen Design. Karl beendet seinen Beitrag mit dem Verweis auf Forschungsbeiträge, die direkt im Coase-Theorem fußen, und der Bedeutung der Coase sehen Kritik für das Konzept der Pi'goM-Steuer. Damit gelingt ihm ein profunder und vollständiger Überblick über den Einfluß von Coase in der Umweltökonomie. Interessant ist die Feststellung, daß die wahrlich nicht geringen Auswirkungen des Coase-Aufsatzes mittlerweile auch bei eher neoklassisch orientierten Umweltökonomen Gemeinwissen sind, so daß' der Unterschied zu mehr institutionenökonomisch geprägten Umweltökonomen geringer ausfallt als zu erwarten wäre. Diese Annäherung geht Hansjürgens in seinem Korreferat nicht weit genug. Noch heute beschränkten sich die meist neoklassich geprägten Umweltökonomen lediglich darauf, alternative institutionelle Lösungen anhand neoklassischer Kriterien zu beurteilen, zu denen sich lediglich vereinzelt Transaktionskosten hinzugesellen. Der nächste Beitrag von Markus Dietz ist als exemplarische Anwendung einer normativen Institutionenökonmik zu verstehen. Er nutzt das Beispiel Korruption zur Klärung methodischer Fragen. Zunächst stellt der Autor dem ressourcenorientierten sprich neoklassischen - Ansatz den institutionenökonomischen Ansatz einer Interaktionsanalyse gegenüber, wie ihn Homann vertritt.4 Im Mittelpunkt steht hier die Beziehung zwischen Menschen, von denen jeder einzelne als „lebendige Restriktion" {Homann und Suchanek 2000, 90) in die Pläne des anderen eingeht - und folglich angestrebte oder bestehende Arrangements sprengen kann. Deshalb muß als normative Richtschnur das Konsensparadigma, nicht das Maximierungskalkül verwendet werden. Zugleich macht dies deutlich, daß die Restriktionen nicht mehr unveränderlich sind, sondern an ihre Stelle nach dieser Richtschnur variierbare Institutionen treten, die die Interaktionen in einer für alle Akteure vorteilhaften Weise regeln. Das kann auch bedeuten, daß bestimmte Transaktionskosten gezielt zu erhöhen sind, um konsensual unerwünschte Interaktionen zu unterbinden. Dietz verdeutlicht dies am Beispiel der Korruption, die er dazu zunächst in den Rahmen des Prinzipal-Agent-Ansatzes einordnet. Zwar kann Korruption durchaus positive Effekte haben, wenn sie die Mängel einer defekten institutionellen Rahmenordnung lindert, die die gesellschaftlich erwünschten Transaktionen ungenügend unterstützt. Da Korruption aber mit dem Zwang zur Geheimhaltung und daher mit immensen Transaktionskosten einhergeht, ist es immer sinnvoller, den Rahmen direkt umzugestalten. Er sollte daher für eine sinnvolle Analyse als unproblematisch angenommen werden. Eine Interpretation der Korruption als Reparaturinstrument ist so unmöglich, weshalb ihre Folgen erst jetzt ganz faßbar werden. Nun wird deutlich, daß Korruption die von der Rahmenordnung unterstützten und damit konsen4

Vgl. Homann (1998, 4Iff.) oder Homann und Suchanek (2000, 90ff. und 404 ff.).

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suai gewünschten Transaktionen zusätzlich mit Transaktionskosten belastet, was dazu fuhren wird, daß sie letztlich unterbleiben. Die Akteure begehen diese kollektive Selbstschädigung, weil sich jeder einzelne in einem Gefangenendilemma befindet und durch den Verzicht auf Korruption selbst schädigen würde. Erst eine durch die Veränderung des institutionellen Rahmens bewirkte Erhöhimg der Transaktionskosten korrupten Verhaltens kann dieses Gebaren beenden. Abschließend untermauert Dietz seine Aussagen durch die Analyse eines Aufsatzes von Tullock. Weil er zu sehr dem eingangs erwähnten ressourcenorientierten Paradigma verhaftet ist, kann er ein ähnliches soziales Phänomen - den Diebstahl - nicht in voller Gänze erfassen. Der Beitrag von Dietz ist ein treffendes und interessantes Beispiel einer normativen institutionenökonomischen Analyse. Er zeigt an einem konkreten Beispiel die Leistungsfähigkeit der Institutionenökonomik im Vergleich zur Neoklassik. Allerdings bleibt unklar, wo der Bezug zum Coaseschen Transaktionskostenansatz liegen soll, außer vielleicht in der Tatsache, daß Coase allgemein als einer der Väter des hier gewählten Paradigmas gilt und zudem fordert, vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Probleme zu arbeiten. Dies gilt auch, weil Dietz dem Buchananschen Konsenskriterium einen hohen Stellenwert zuspricht. Insofern fragt man sich, weshalb der Aufsatz in einem Sammelband mit diesem Titel erscheint. Im vierten Referat setzt sich Detlef Aufderheide mit der Rolle von Coase als (Mitbegründer der Forschungsrichtung „Law and Economics" auseinander. Erst der 1960er Aufsatz von Coase hat eine aussagefahige ökonomische Analyse des Rechts ermöglicht, da nur unter Einbeziehung von Transaktionskosten eine komparative Analyse verschiedener rechtlicher Ausgestaltungen sinnvoll wird. Nach einer treffenden Wiedergabe und Interpretation des Beitrages von 1960 stellt Aufderheide unter Einbezug weiterer Arbeiten von Coase die Folgen für die ökonomische Theorie des Rechts dar. Im folgenden widmet er sich dann dem von Coase verwendeten Effizienzbegriff. Aufgrund der Verteilungswirkung unterschiedlicher Rechtszuteilungen sind die sich herausbildenden Pareto-Optima nicht miteinander vergleichbar, weshalb Coase an Stelle des Effizienzkriteriums der paretianischen Wohlfahrtsökonomik die gesamtgesellschaftliche Outputmaximierung heranzieht. Allerdings ist auch dieses Konzept nicht verteilungsneutral. Zudem zeigt Aufderheide - wie bereits die anderen Autoren vor ihm - am Beispiel des Gefangenendilemmas, daß Effizienz nicht immer mit einer Transaktionskostenminimierung einhergehen muß, sondern durch deren gezielte Erhöhung erreicht werden kann. Das Festhalten an diesem problembehafteten Effizienzbegriff ist für ihn der Grund, warum von juristischer Seite nach wie vor eine starke Zurückhaltung gegenüber den ökonomischen Vorstößen zu spüren ist: Bei Zielkonflikten mit anderen, als höherrangig eingestuften Zielen laufen ökonomische Empfehlungen Gefahr, in toto als nicht zielfuhrend zurückgewiesen zu werden. Das Problem liegt allerdings noch tiefer. Der analytische Dreischritt in der ökonomischen Theorie des Rechts - Ermittlung der Alternativen, Aufdeckimg der jeweiligen Konsequenzen, Anwendung ökonomischer Effizienzkriterien als Vergleichsmaßstab - wird in der wohlfahrtsökonomischen Tradition nicht eingehalten. Die Pareto-Optimalität als Konsequenz des Modells der vollständigen Konkurrenz ist zugleich der Vergleichsmaßstab, an dem die Alternativen gemessen werden, weshalb positive und normative Aussagen nicht voneinander zu trennen sind. Allerdings

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bietet Aufderheide neben dieser treffenden Analyse auch gleich einen Lösungsvorschlag an: Er möchte das Coasesehe Effizienzkonzept durch einen Zustimmungstest ergänzt wissen, nach dem institutionelle Änderungen effizient sind, wenn sie auf das Einverständnis der Betroffenen stoßen. In einem ersten Schritt soll wie bisher unter den institutionellen Alternativen das outputmaximierende Arrangement gesucht werden. Die Outputwirkungen sind dann zu disaggregieren und auf die einzelnen Betroffenengruppen herunterzubrechen. Ist eine Änderung für eine Gruppe nicht zustimmungsfähig, muß der Vorschlag modifiziert werden und den ersten Schritt noch einmal durchlaufen. Erst bei Affirmation aller ist institutionelle Effizienz erreicht. Handeln die Individuen als Nutzenmaximierer, wird es diese Zustimmung nur geben, wenn jedes Individuum eine Verbesserung erwarten kann, so daß im Ergebnis ein Pareto-Optimum steht. Wo, fragt sich der Leser, liegt hier das Neue? Der einzige Unterschied zu den neoklassischen Kompensationskriterien scheint allein darin zu bestehen, daß beim Zustimmungstest eine Kompensation der Verlierer tatsächlich erfolgen muß. Martin Leschke und Dirk Sauerland befassen sich in ihrem Beitrag mit den Grundlagen einer allgemeinen Theorie der Wirtschaftspolitik. Ihre Ausgangsthese besteht darin, daß Coase mit seiner Kritik an Pigou diesbezüglich zwar ein Fortschritt darstellt, die bei ihm verbliebenen Lücken aber erst durch Buchanan geschlossen werden. Zum Beleg dieser These gehen sie zunächst auf die Coase-Pigow-Debatte ein, indem sie Ansätze beider Ökonomen erst darstellen und dann vergleichen. Im nächsten Schritt geben sie dann einen Abriß von Buchanans Forschungsprogramm, um anschließend seine Kritik an Coase vorzutragen. Die Autoren zeigen, daß sich die Sicht der beiden Ökonomen bis auf den normativen Referenzpunkt kaum unterscheiden. Diesbzüglich lehnt Buchanan das von Coase verwendete Effizienzkriterium ab. Individuen können sich sehr wohl effizient in dem Sinne verhalten, daß sie sich optimal an institutionelle Regeln anpassen. Dies muß jedoch nicht bedeuten, daß die Ergebnisse tatsächlich gesellschaftlich wünschenswert sind, wie das Gefangenendilemma beweist. Maßgeblich ist vielmehr, daß die institutionellen Regeln, unter denen die Individuen sich anpassen, konsensual sind. Zugleich verdeutlicht das Beispiel des Gefangenendilemmas Buchanans Kritik an der aus seiner Sicht zu undifferenzierten Sichtweise der Transaktionskosten bei Coase: Sie seien eben nicht bloß als immer zu senkender Störfaktor zu sehen, sondern ihre gezielte Erhöhung kann ebenso wünschenswert sein. In bezug auf die Marktteilnehmer einer Ebene ist eine Kooperationslösung eben nicht erwünscht, weshalb man versuche, sie in einer Situation eines Gefangenendilemmas zu belassen, indem man die Transaktionskosten bewußt erhöhe. Insgesamt verbleibt Coase aus Sicht von Buchanan und der Autoren in Bezug auf die Normativität seiner Empfehlungen zu sehr der neoklassischen Sicht verhaftet, was insbesondere die Unterscheidung in Wahl der Spielregeln und der Spielzüge verhindert. Im Abschluß ihrer schlüssigen Analyse gehen die Autoren auf die Kritik am Konsensprinzip ein. Zum einen stellen sie klar, daß es hier nicht um einen empirischen Konsens, sondern ein heuristisches Prinzip zur Ermittlung Pareto-superiorer Zustände geht. Zum anderen zeigen sie, daß sich die meisten Probleme als Dilemmasituationen formulieren lassen, also eine kollektive Selbstschädigung vorliegt, denn dies ist überhaupt erst Voraussetzung dafür, über den Konsens zu Pareto-superioren Situationen zu gelangen. Wenn das Problem hingegen in der einseitigen Ausbeutung einer

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Gruppe durch die andere besteht, wird kein Konsens über eine Änderung des status quo zustande kommen. In seinem Epilog knüpft Michael Schmid an die Einleitung an. Beide Beiträge setzen wissenschaftstheoretische Schwerpunkte, so daß sich hier gewissermaßen der Kreis schließt. Während Pies sich in bemerkenswerter Weise mit der Methodik von Coase auseinandersetzt, untersucht der Epilog, ob und wie Coase zur Theoriebildungsstrategie in den Sozialwissenschaften beigetragen hat. Zunächst analysiert Schmid das Vorgehen des Nobelpreisträgers: Durch die Konfrontation einer jeweils als allgemein geltenden Theorie mit einer widersprüchlichen Beobachtung zeigt er die Mängel des herrschenden Dogmas auf. Allerdings verwirft er es dann nicht, sondern führt einen Zusatzfaktor ein. Wenn dieser Faktor keine Bedeutung hat, ist die Vorgängertheorie sehr wohl in der Lage, wahre Folgerungen zu treffen. Diese Fälle sind aber selten. In diesem Sinne verbessere Coase das herrschende Dogma durch korrigierende Theoriekritik, er revolutioniere sie aber nicht. Diesbezüglich kommen der Autor und Pies zu ähnlichen Ergebnissen. Schmid untersucht dann, ob sich diese Vorgehensweise in den wenigen wissenschaftstheoretischen Äußerungen von Coase nachweisen und zu allgemeinen Aussagen zur Theoriebildung erweitern lasse. Allerdings übt auch Schmid die sich durch das gesamte Buch ziehende Kritik: Er bemängelt den „holistischen" Erklärungsansatz von Coase, der die institutionelle Struktur einer Volkswirtschaft so gestalten will, daß der Wert der totalen Produktion maximiert wird. Dieser normative Ausgangspunkt übersieht den Konflikt individueller Nutzenmaximierung einerseits und totaler Produktionsmaximierung andererseits. Die Mängel des wohlfahrtsökonomsichen Ansatzes hätten durch die Entwicklung einer verallgemeinerungsfähigen Handlungstheorie vermieden werden können. So allerdings - und damit faßt Schmid die in diesem Band geübte Kritik zusammen - ist die Theorie von Coase normativ unzureichend, da sie keine Anweisung darüber zu geben vermag, unter welchen Bedingungen die Akteure das Wohlfahrtsziel akzeptieren werden. Diese Kritik ist der Grund dafür, warum sich das institutionenökonomische Erklärungsprogramm von Coase nicht zu einer allgemeineren Sozialtheorie, die den Zusammenhang zwischen individuellen und kollektiven Zielen erklären kann, ausgestalten läßt. Erst - und damit stößt Schmid in das Horn der anderen Autoren durch die Ergänzung mit einer Verfassungstheorie, die die Wahl zwischen konkurrierenden Zielen und Umsetzungsmechanismen behandelt, können diese Mängel geheilt werden. In der Gesamtschau der hier kurz wiedergegebenen Referate zeigt sich, daß der vorliegende Tagungsband eine Vielzahl äußerst interessanter und treffender Einsichten in das Werk von Coase vermittelt. Die meisten Analysen überzeugen und werden durch die Korreferate sinnvoll ergänzt. Die Idee eines Sammelbandes, der Coase in seiner Methodik, seinem Einfluß auf die Organisationstheorie, die Umweltökonomie, die Forschungsrichtung „Law and Economics" und die Wirtschaftspolitik ausleuchtet, ist als durchweg positiv zu beurteilen. Allerdings ist dies auch zugleich der Schwachpunkt des Buches: Statt die Vielschichtigkeit von Coase auch durch unterschiedliche Interpretationen und Blickrichtungen zu würdigen, nehmen fast alle Autoren gleiche Perspektiven ein oder setzen ähnliche Schwerpunkte. Auch wenn sie den 1960er Aufsatz für das bedeutendere Werk halten, so ist Coase eben auch wegen seines 1937er Beitrages zu

398 · RonBrinitzer Ruhm gelangt. Unterstellt man, daß Williamson seine Transaktionskostenökonomik in der Tradition dieses Aufsatzes sieht und insofern direkt am Titel des Buches anknüpft, dann wird der Band dem Stellenwert der Transaktionskostenökonomik in der Institutionenökonomik nicht gerecht. Zugespitzt sieht man Coase auf die Auseinandersetzung mit Buchanan um das Effizienzkriterium reduziert, denn bis auf den Beitrag von Karl vergaß kein Referat zu erwähnen, daß allein das Konsensprinzip einer komparativen Institutionenanalyse gerecht werde und die gezielte Erhöhung von Transaktionskosten auch sinnvoll sein kann, um andernorts Transaktionskosten zu senken. Man ist versucht, sich diesbezüglich einer Schlußfolgerung von Schmids Epilog anzuschließen: „Auf der anderen Seite wird man sich aber auch nicht einreden dürfen, daß der Kampf um die Auswahl gesellschaftlicher Institutionen umstandslos den Regeln eines Konsensmodells folgt, wie einige Autoren dieses Bandes zu hoffen scheinen. Konsens wird nur zu erreichen sein, wenn tatsächlich Kooperationsgewinne verteilt werden können ..." (S. 247). Insofern - und auch darauf weisen die meisten Autoren hin - ist Coase ' Forderung nach einer gesellschaftlichen Outputmaximierung kein Widerspruch, sondern eher Voraussetzung für das hier propagierte Konzept, zumindest aber mit ihm vereinbar. Sieht man das Verhältnis beider Standpunkte so, könnte man das Urteil fallen, daß der Diskussion einen zu großen Stellenwert beigemessen wird. Zwar betonen die Herausgeber in ihrem Vorwort die Intention, Coase im Hinblick auf die durch ihn induzierten Erkenntnisfortschritte bei der Gestaltung des Institutionengefüges demokratischer Marktwirtschaften untersuchen zu wollen, womit sie einen normativen Standpunkt einnehmen, doch diese Verengung wird dem Titel des Buches nicht gerecht. Mit dieser Kritik im Hinterkopf ist das Buch eine spannende Lektüre und durchweg zu empfehlen, denn jeder Beitrag ist lesenswert und enthält zahlreiche Details, die nicht jedem bekannt sein dürften.

Literatur Breuer, Mordechai (2000), Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Mordechai Breuer und Michael Graetz (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Band I, 1600 - 1780, München, S. 85-247. Coase, Ronald H. (1960), The Problem of Social Cost, The Journal of Law & Economics, Vol. m , S. 1-44. Homann, Karl (1998), Normativität angesichts systemischer Sozial- und Denkstrukturen, in: Wulf Gaertner (Hrsg.), Wirtschaftsethische Perspektiven IV, Berlin, S. 17-50. Hommann, Karl und Andreas Suchanek (2000), Ökonomik: Eine Einfährung, Tübingen. Liebermann, Yehoshua (1981), The Coase Theorem in Jewish Law, The Journal of Legal Studies, Volume X, S. 293-303.

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Indira Gurbaxani

Globalisierung, Europäische Union und internationaler Standortwettbewerb Anmerkungen zu dem Buch von Horst Rodemer und Hartmut Dicke* „Die Menschen im Westen beginnen gegen Ende der 90er Jahre allmählich zu begreifen, welch ironische Pointe die Geschichte mit dem Sieg des Westens (gemeint ist der Sieg über den Sozialismus, A.d.V.) gesetzt hat" (S. 13). Mit diesen Worten bringen die Autoren des Buches „Globalisierung, Europäische Integration und internationaler Standortwettbewerb" Horst Rodemer und Hartmut Dicke auf den Punkt, was viele Ökonomen erkannt haben, was aber - dies stellen Rodemer und Dicke von Beginn an klar häufig falsch interpretiert wird. So kommt es dazu, daß die Bürger in immer verstärktem Ausmaß Ängste mit der Globalisierung verbinden, statt die mit ihr verbundenen Chancen zu erkennen. Über Globalisierung sind inzwischen wohl mehr Bücher auf dem Markt erschienen als über jedes andere aktuelle Thema der Nationalökonomie. Hunderte von Büchern sind in der jüngeren Vergangenheit geschrieben worden, die zum einen entsprechend viele Interpretationen des Begriffs zulassen und die zum anderen die Menschen glauben machen, daß es sich bei der Globalisierung um ein neues Phänomen der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts handelt. Daß letzterem nicht so ist, stellen die Autoren gleich zu Beginn heraus. Rodemer und Dicke haben ihr Buch - und das hebt es entscheidend von anderen Aufsätzen und Monographien zum Thema Globalisierung ab - in einen besonderen Kontext gestellt. Am Beispiel der Europäischen Integration im Standortwettbewerb analysieren die Autoren die Probleme und Chancen, die sich im Rahmen der Globalisierung ergeben können. In diesem Zusammenhang arbeiten sie unterschiedliche wirtschaftspolitische und politische Standpunkte in der Globalisierungsdebatte heraus. Es gelingt den Autoren, diese Standpunkte auf vier wesentliche Hauptpositionen zu reduzieren: Für die Systemtheoretiker, so erklären es Rodemer und Dicke, hat der Globalisierungsprozeß dazu beigetragen, daß das sozialistische System zusammengebrochen ist. Hier kommt die Haltung zum Ausdruck, daß das Zusammenwachsen der Welt durch die sich immer schneller verbessernde Technologie im Informations- und Kommunikationssektor mit irreversiblen Folgen verbunden ist. Den Systemtheoretikern stehen die Vertreter des Kommunitarismus, des Sozialismus und der Wirtschaftsliberalisten gegenüber. Letztere bewerten - ganz im Gegensatz zu den Systemtheoretikern - die Globalisierung positiv. Die Wirtschaftsliberalisten vertreten nämlich die Auffassung, daß sich den westlichen *

Horst Rodemer und Hartmut Dicke, Globalisierung, Europäische Integration und internationaler Standortwettbewerb, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2000, 335 Seiten.

400 • Indira Gurbaxani Ländern (und somit auch der Europäischen Union) nur über die Verschärfung des Standortwettbewerbs die Möglichkeit bietet, die in der Vergangenheit entstandenen Verkrustungen wieder aufzubrechen und einen „Neubeginn" zu starten. Rodemer und Dicke gelingt es von Beginn des Buches an, die genannten Positionen, die sie im wesentlichen als unterschiedliche Reaktionen in den „weltanschaulich-politischen Lagern" interpretieren, mit den Verträgen von Amsterdam und Maastricht zu verknüpfen. Denn letztendlich kommt die unterschiedliche Einstellung zur Globalisierung auch in einer unterschiedlichen Bewertung dieser Vertragswerke zum Ausdruck. Unter den Vertretern des Wirtschaftsliberalismus finden sich unterschiedliche Auffassungen zu den Verträgen. Viele Theoretiker und einige Praktiker dieser Position sehen keinen Sinn in der Errichtung einer Währungsunion mit einer Einheitswährung „EURO". Auch anderen in Amsterdam und Maastricht beschlossenen Maßnahmen stehen sie kritisch gegenüber. Aber in dieser Gruppierung finden sich auch solche, die eine Einheitswährung für durchaus sinnvoll und für das Zusammenhalten Europas sogar notwendig erachten. Die Verschärfung des Standortwettbewerbs wird auch von den Kommunitariem positiv beurteilt. Zumindest sehen sie im Globalisierungsprozeß, ähnlich wie die Wirtschaftsliberalen, eine Chance, über grundlegende Reformen der Ordnungspolitik nachzudenken, die schließlich zu einer Veränderung des Wirtschaftsablaufs und somit zu einer verbesserten Wettbewerbssituation führen sollen. Der Unterschied zu den Wirtschaftsliberalisten ist in einem entscheidenden Punkt zu erkennen: Den Kommunitariem geht es ausschließlich um die Maximierung des eigenen, sprich heimischen Wohlstands. Einige Vertreter des Kommunitarismus, so etwa der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Lester Thurow, der fast jährlich mit Büchern über immer neue Horrorszenarien über die wirtschaftliche Entwicklung der Welt aufwartet, wenn die Staaten sich nicht stärker industriepolitisch engagieren (u.a. „Die Zukunft des Kapitalismus", „Die Reichtumspyramide"), sehen den Globalisierungsprozeß in gewisser Weise als Bedrohung für den Sozialstaat an. Gleichzeitig wird dieser aber auch als Erscheinung interpretiert, der in selbstzerstörerischer Form den Kapitalismus bedroht. Dies erinnert fast an Schumpeters Theorie über den sich langfristig selbst zerstörbaren Kapitalismus. Auch im Lager des Kommunitarismus existieren verschiedene Ausrichtungen. In einem Punkt sind sich jedoch alle einig: In der Notwendigkeit einer Industriepolitik. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam spielen hier eine entscheidende Rolle, denn schließlich wurde im Vertrag von Maastricht der Weg für eine gemeinsame EU-Industriepolitik geebnet. Bleiben als letzte Gruppierung die Anhänger des (marxistischen) Sozialismus, die zumindest im Ergebnis - mit den Systemtheoretikern übereinstimmen. Die Überlegungen, warum der Globalisierungsprozeß schädlich ist, sind jedoch etwas anders gelagert. Globalisierung wird als eine „Verschwörung" des internationalen Kapitals gesehen (woran der Leser erkennen kann, daß jede Entwicklung in der Wirtschaft, sofern sie nicht sozialistisch ausgerichtet ist, eine „Verschwörung des internationalen Finanzkapitals" gegen die Arbeiter- und Bauernklasse der Welt ist). Zur Rettung der Welt helfen nur die marxistischen Lehren, die der Marktwirtschaft endlich ein Ende bereiten, die Kapitalisten vertreiben und endlich Platz für eine sozialistische Gesellschaft schaffen. Rodemer und Dicke erklären, daß es den Sozialisten dabei durchaus nicht um den Zusammenbrach der Europäischen Union geht. Im Gegenteil. Von einigen Sozialisten wird

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eine - natürlich umstrukturierte - EU sogar als geeigneter Rahmen gesehen, innerhalb dessen der „Reale Sozialismus" wieder auferstehen kann. Nachdem Rodemer und Dicke einen Überblick über die einzelnen Globalisierungspositionen gegeben haben, gehen sie im Detail auf die genannten Positionen ein. Für den Leser sehr übersichtlich aufbereitet, folgen die Autoren immer dem gleichen Schema. Nach der Darstellung der jeweiligen Argumente der betreffenden Gruppe, folgt die Zusammenfassung des Konzepts bzw. innerhalb einzelner Positionen die Beschreibung der verschiedenen Konzepte. Zu den jeweiligen Argumenten wird eine entsprechende Kritik angeführt, sei es eine allgemeine Kritik, oder eine Kritik, die aus einem anderen Lager der Gruppierung (z.B. innerhalb der Wirtschaftsliberalisten) aufgebracht wird. Da sich die Gruppe der Wirtschaftsliberalisten in die unterschiedlichsten Zweige teilt, ist die Analyse am längsten geraten. Immer erläutern Rodemer und Dicke die Argumentation der Gruppierungen zu den Vertragswerken zu Amsterdam und Maastricht, so daß der „rote Faden" nicht nur durchgängig erhalten bleibt, sondern auch die Möglichkeit für den Leser besteht, einzelne Aspekte herauszugreifen. So z.B. die bei den Kommunitariern übereinstimmende Konzeption einer Industriepolitik. Sie orientieren sich vor allem an der so berühmt gewordenen Industriepolitik Japans, wie sie in vielen Büchern und Aufsätzen dem ΜΓΓΙ (Ministry for Industry and Trade) zugeschrieben wird. Entsprechend wird der Vertrag von Maastricht in diesem Punkt besonders positiv beurteilt, da er zum ersten Mal in der Geschichte der EU ganz klar eine Ausrichtung - über die von Deutschland sonst in den Mittelpunkt gestellte Wettbewerbspolitik hinaus - in Richtung Industriepolitik ausweist. Der oben schon erwähnte Wirtschaftswissenschaftler Lester Thurow, der als wirtschaftspolitischer Berater in der ersten Administration von Bill Clinton versucht hat, die USA auf den Kurs einer industriepolitisch klar ausgerichteten Konzeption zu bringen (und damit gescheitert ist), steht eindeutig fur diese Position. Auch Kritiker können den Befürwortern einer gemeinsamen Industriepolitik nichts anhaben. „Die Befürworter einer Gemeinsamen Industriepolitik wenden gegen ihre wirtschaftsliberalen Kritiker ein, daß diese sich auf ihre ordnungspolitischen Grundsätze zurückzögen, ohne im einzelnen auf die Argumentation der Befürworter einzugehen. Für sie selbst hätten die Prinzipien der (neo-)liberalen Philosophie keinen absoluten Rang, auch nicht das der menschlichen Freiheit. Die Vorteilhaftigkeit marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik werde von ihnen primär unter dem Aspekt wirtschaftlicher Effizienz geprüft" (S. 43 f.). Rodemer und Dicke erläutern, daß von den Befürwortern der Industriepolitik die Theorie der „Strategischen Protektion" und die „neue Wachstumstheorie" zugrundegelegt werden. Auch hier versäumen es die Autoren nicht, diese Theorien zu analysieren. Die Unsinnigkeit einer solchen Politik, die staatlichen Interventionismus über Wettbewerbspolitik stellt, muß hier nicht diskutiert werden. Die Analyse der wirtschaftsliberalen Position teilt sich in die Argumente zugunsten bzw. gegen die Verträge. Neben handelspolitischen, finanzpolitischen oder beschäftigungspolitischen Absprachen steht ein Aspekt eindeutig im Mittelpunkt der Betrachtung: Das „Für" und „Wider" in punkto Währungsunion. Besonders deutlich werden die Gegensätze bei der ordnungspolitischen Betrachtung. „Was Auffassungsunterschiede zum zukünftigen Kurs der Europäischen Zentralbank anlangt, so lassen die offenen oder eher verhohlenen Bekundungen von Politikern und Gewerkschaftlern erkennen, daß es

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in der Europäischen Union starke Kräfte gibt, die gewillt sind, die bestehenden Einfallstore fiir eine instabile Geldpolitik zu nutzen. Befürworter einer Politik des leichten Geldes gibt es zwar in allen Mitgliedsländern der Währungsunion; doch gibt es bis heute in Frankreich sehr viel mehr Stimmen als in Deutschland, die der Europäischen Zentralbank nicht die Unabhängigkeit einräumen wollen, über die einstmals die Deutsche Bundesbank verfugte" (S. 117). Seit dem Erscheinen dieses Buches ist zwar nur etwas mehr als ein Jahr vergangen. Aber welche negativen Folgen die Politik der Europäischen Zentralbank mit sich gebracht hat, konnte jeder in der noch sehr jungen Vergangenheit des EUROS miterleben. Aber genau dies ist es, was das Buch von Rodemer und Dicke neben seinem enormen Informationsgehalt, seiner Einteilung in verschiedene Positionen und der Einbindung der Verträge in diese Positionen auszeichnet: Die Autoren neigen nicht dazu, dem Leser etwas darzulegen, was er als alleinig richtig akzeptieren soll. In der Darstellungsform der Pro- und Contraseiten der Argumentationen der jeweiligen Gruppierungen kann sich der Leser ein eigenes Bild machen. Dies im Hinblick auf eine der vier Gruppierungen und, noch weiter gesehen, auf einzelne Positionen und Argumente innerhalb dieser Gruppen. Die sozialistische Sicht der Europäischen Integration behandeln die Autoren weitaus weniger ausfuhrlich als die vorangegangenen. Interessant ist vor allem der Aspekt, daß gerade diese politische Gruppierung mehr als Konservative oder Bürgerliche die politische Union Europas fordern. „Es hat den Anschein, daß die so plötzlich entflammte Begeisterung der politischen und intellektuellen Linken für eine gemeinsame europäische Währung und für die generell in Maastricht und Amsterdam eingeschlagene Marschrichtung sich nicht allein auf die Hoffnung gründet, die von der Globalisierung entfesselten Marktkräfte besser eindämmen zu können als auf nationaler Ebene" (S. 275). Zum Schluß ihres Buches wenden sich Rodemer und Dicke der Frage der Irreversibilität der Globalisierung zu. Hier spielen die eingangs angesprochen systemtheoretischen Fragestellungen erneut eine Rolle. Die Autoren wägen unterschiedliche Auffassungen gegeneinander ab. Eine endgütige Lösung der Frage bieten sie nicht; wollen sie vielleicht auch nicht bieten. Eines machen Rodemer und Dicke aber deutlich: „Fehlte es an die Welt verstehbar machenden Theorien, so wäre jedem Versuch, auf die Ordnung und das Geschehen in der Welt auf systematische Weise einzuwirken, der Boden entzogen" (S. 292). Möglich scheint also alles. Auch, daß die Überkomplexität dadurch verringert wird, daß die Autorität, daß die Souveränität der Staaten - wie immer sie aussehen mag - gestärkt und „nicht im Zuge der Auflösung überkommener Bindungen verschlissen wird. Es liegt auf der Hand, daß dies sehr wahrscheinlich nicht ohne Auswirkung auf die innere Ordnung und das politische Handlungssystem der Staaten bliebe" (S. 293). Die abschließende Analyse zum Spielraum staatlicher Wirtschaftspolitik im Zeitalter der Globalisierung wirft die von den Systemtheoretikem aufgebrachte These von der Aushöhlung des überkommenen Nationalstaats nochmals auf. Detailliert gehen Rodemer und Dicke z.B. auf die Argumente vom Verlust der wirtschaftlichen Autarkie ein. Fazit: Es handelt sich um keinen Verlust! „Stellt man bei der Beurteilung des Autarkiegrades auf den Nationalstaat der Kolonialmächte ab, so ist gerade bei diesem die Arbeitsteilung mit der Außenwelt besonders groß" (S. 294). Auch das Argument der „unaufhaltsamen Verarmung" der Wohlstandszonen wird nochmals aufgegriffen. Die Auto-

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ren kommen zu dem Ergebnis, daß mittel- und langfristig gedacht werden muß und daß die Einbeziehung der jetzt noch wirtschaftlich weniger entwickelten Länder in die internationale Arbeitsteilung dann zu einer Mehrung, nicht aber zu einer Minderung des Wohlstands der hochindustrialisierten Länder fuhrt. Wie steht es um das „Absterben des Sozialstaates"? Rodemer und Dicke verdeutlichen einmal mehr, daß nicht die Globalisierung, sondern die Umgestaltung des Sozialstaates selbst zu einer Wachstumsschwäche geführt hat. Abschließend wird das Argument vom „Ende der Wirtschaftspolitik" aufgegriffen. Die Autoren beziehen sich an dieser Stelle auf Herbert Giersch und Hans Tietmeyer. Die nationale Politik muß Rücksicht auf die Globalisierung nehmen, aber nicht dadurch, daß sie aufhört zu existieren. Die verbesserte Standortwahl fordert aber auch eine durchdachte Wirtschaftspolitik, die die entsprechenden Chancen nutzt. Dies gilt sowohl für die Angebots- als auch für die Nachfrageseite. Daß Europa gefordert ist, sich im internationalen Standortwettbewerb zu behaupten, haben Rodemer und Dicke klar ausgearbeitet. Die Globalisierung wird dabei als Herausforderung gesehen. Nichts anderes ist sie. Nur eine Welt, in welcher der Freihandel über die Protektion dominiert, kann sich weiter entwickeln. Sonst erlahmt der technische Fortschritt, und es kommt zu einer Senkung der weltweiten Wohlfahrt. Beschäftigung läßt sich nicht durch wirtschaftlichen Stillstand erreichen. Im Gegenteil. Das müßte inzwischen auch den Gegnern der Globalisierung bewußt sein. Wenn nicht, so sollten sie das differenziert geschriebene Buch von Rodemer und Dicke zur Hand nehmen.

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Fred, von Gunten

Privatization, Corporate Governance and the Emergence of Markets Review of a book edited by Eckehard F. Rosenbaum, Frank Bönker and HansJürgen Wagener*

I. Introduction In order to transform a planned economy into a market oriented system one has to begin from the planned condition and certainly not from the market system, which may be the ultimate goal. If transfer of knowledge and experience from West to East and vice versa is to take place a number of other important aspects must be taken into account too. First, researchers in transition economies have now realised that it is an entire economic (and social) system which is the object of transition and not merely aspects thereof, such as corporate governance (Mihàlyi 1997). Second, the literature in industrialised economies has always been interpreted as providing a "theory of markets and competition" and in many research traditions this view is still maintained. However, within the "Anglo Saxon" research literature doubts have been accumulating as to whether received micro-analysis is in practice useful for market and competition analysis (von Gunten 1982). Wagener, for example, has concluded that existing analyses of economic systems are both inadequate and controversial ( Wagener 1979). It is not sufficient merely to assume the existence of a system. The analytical models and conceptual tools, which belong to particular partial paradigms (or disciplines), have to be identified and interpreted. Taken together they help explain an organised economic system. Over the past three decades, a body of literature in industrialised economies, incorporating the discipline of management, has sought to develop an understanding of the analytical structure of an entire economic system. Sometimes this is called the Competitive Advantage of Nations (Porter 1990) or a market oriented system and has also been characterised as organised capitalism (von Gunten 1996a). In this approach, unlike what is common in the literature of received microeconomics, formalisation is sought from within the economic system, that is to say from below, at what has been called the micro-micro level (Leibenstein 1979). *

Eckehard F. Rosenbaum, Frank Bönker and Hans-Jürgen Wagener (eds), Privatization, Corporate Governance and the Emergence of Markets, Macmillan Press, St. Martin's Press, Houndmills, New York 2000, 284 pp.

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With this new insight, a re-interpretation of the research literature is necessary. Existing analyses of markets and competition must be replaced by the notion of a general theory of "organised capitalism" or a "market oriented system". This re-interpretation reflects a fundamental change of paradigms, since it turns the laissez faire attitude of neo-classical analysis on its head. Furthermore understanding of the requirement for organisation within an economic system is also more consistent with the regulatory behaviour one observes at the policy level. The objective of this article is to put the content of the book to be reviewed here in perspective with respect to this new insight. It is therefore legitimate to enquire why the notion of an organised system (whether planned or organised) has not been taken as the starting point for the book, all the more so, as it is now clear why in former socialist countries the collapse of the plan as a co-ordinating mechanism did not automatically lead to the emergence of the market as an alternative. For this, systemic problems have first to be solved, which require political decisions and public policies. Discussion of privatisation has developed through three time periods which took place after 1989. In the first period, narrowly defined micro models were taken as the basis for initiating privatisation programmes. A general critique of these models led to the second period, in which particular aspects, previously not considered, were incorporated into the theoretical analysis. But if one moves beyond traditional micro analysis, fully more developed perspectives on privatisation can be provided. However, the extension of analyses has groundbreaking consequences. One is automatically led into other scientific disciplines outside received micro economics. But these other disciplines have not been treated in this book, even though they form part of the economic sciences. In the third period, case studies were carried out. This practice may have been new in transition economies, but within western research literature it has been in existence for a long time. Here is where the general discussion remains today, in both types of economies. The objective of the book is to discuss privatisation as a means of creating competitive structures in transition economies. It focuses on the broader perspective of privatisation. This common theme is dealt with in three phases: a broad treatment of the political and fiscal dimension of privatisation (Π.), discussion of privatisation in terms of corporate governance and economic restructuring (ΙΠ.) and the question of privatisation and the emergence of markets (IV.). In the concluding part those aspects are reviewed which still require to be analytically finalised (V.). The various chapters are the result of a conference held in Berlin in May 1998. There is a summary in Chapter One and a name and subject index at the end of the book.

II. The political and fiscal dimension of privatisation Privatisation as a political project served political and economic objectives. It was used to buy off opposition by making capitalism popular and to build up a constituency for reform by making privatisation irreversible. Originally, government programmes

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were initiated "from above" (privatisation as a programme), afterwards a shift to privatisation "from below" occurred (privatisation as a spontaneous process). The subject of Chapter Two is the Polish Mass Privatisation Programme (MPP). It served economic, fiscal and social-political objectives. Initiated early, but implemented only in 1995, it was exceptional compared to other approaches since it relied heavily on state involvement by the creation of government-led intermediaries. The results of the programme were positive with respect to the political objective. The number of companies participating was considerable. In terms of economic objectives, a number of flaws and weaknesses were noticed. The programme did not accelerate the process of privatisation, there were no clear-cut incentives for enterprise restructuring and the role of the state was considered to be too strong. The traditional view in the former GDR that privatisation policy was based primarily on efficiency and welfare is challenged in Chapter Three {Siegmund). To analyse the privatisation policy, a political economy approach is used: vote maximisation by politicians, budget maximisation by a bureaucratic agency (Treuhandanstalt) and interest group pressure by entrepreneurs (profit maximisation). Siegmund concludes that the former GDR was not a special case in its privatisation policy. It is not entirely clear whether welfare (efficiency) or vote maximisation (equity) behaviour dominated the privatisation policy. In order to overcome the inefficiencies brought about by the government, leading to inefficiencies of state firms (the Jasinski-Yarrows paradox), a shock approach is proposed as an alternative. In Chapter Four, the impact of fiscal aspects of privatisation on state revenue in Poland, the Czech Republic and Hungary are compared. In addition to the amount of privatised assets, the design is found to be a particularly decisive factor.

III. Privatisation, corporate governance and economic restructuring This part of the book is divided into three sub-sections. In the first of these, the characteristics and the coherence of different systems of corporate governance in industrialised and transition countries are discussed. In the second, available theories of corporate governance are compared with the empirical findings on privatisation, corporate governance and enterprise restructuring. In the third, the connection between privatisation, corporate governance and economic restructuring is examined. The overview by Moerland (5) concentrates on the two dominant models of corporate governance for corporate enterprises listed on a stock exchange. A distinction is made between the market-oriented (Anglo-Saxon) and the network-oriented type (Europe and Japan). Because of the complexity of the costs and benefits aspects of corporate governance, it is difficult to determine which system is superior. Due to an increase in globalisation, there is a process of mutual convergence all over the world. Heinrich (6) finds the various instruments of corporate governance to be complementary. For this reason, the different instruments and institutions of corporate governance have to be studied as elements of broader systems (of governance). The literature fails to consider the interplay of the different governance instruments, since it conventionally

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analyses each instrument in isolation. This practice is too restrictive, and may have contributed to a lack of coherence at the policy level. The conclusion for this sub-section is that there are no clear cut solutions and patterns provided. As complementarities have been observed, both at the enterprise and the policy level, there is a need to analyse these instruments and institutions of corporate governance as broader systems. The interplay between privatisation and the regulatory framework should not be underestimated; where there is no coherence between these levels the resulting effects are negative. In the second sub-section, Carlin and Andreff compare the available theories of corporate governance with the empirical findings on privatisation, corporate governance and enterprise restructuring in transition countries. For Carlin (7) there is no clear consensus regarding the threshold characteristics of an effective system of corporate governance. A wider view is required of the systems of corporate governance that are evolving. There is a need to "utilise the information from firm-level studies in conjunction with country level characteristics" (p. 121). Otherwise the differences in performance in both market and transition economies cannot be explained. Using evidence on corporate governance and enterprise restructuring in transition countries, Andreff (8) challenges the dominant principle-agent model (Meckling, Fama and Jensen, Shleifer and Vishny). Corporate control and governance cannot be studied for a company in isolation. The simple dichotomy between outside and inside owners should be supplanted by more complex analyses of ownership structures, which give more attention to the identity of owners and the existing coalitions and alliances inside and outside firms. However, with respect to the second sub-section it is now clear that in order to understand wider systems of corporate governance, one has to go beyond the traditional context of corporate governance: one must include market and competition analysis on the one hand (market-oriented view), and company level aspects on the other hand (resource-oriented view). Both of these aspects have been analysed conventionally in management literature, law and even by economic historians (e.g. Böckli 2000; Lazonick 1991). Böckli (2000), for example, distinguishes two "diamonds" which are related to each other. There is an "internal diamond" seeking a balance of control within a company between the management as decision unit, the board of directors as control unit and external revision (in addition to internal revision) as supervision unit. These micromicro aspects are part of management literature and integrate tools from both the market-oriented view and the resource-oriented view. The "external diamond" relates to the control exercised by the capital market and the stakeholder groups (competitors included). Here, an interplay between micro and micromicro aspects exists. With the introduction of micro-micro aspects, fundamental methodological problems are raised. The topics in the third sub-section deal with the connection between privatisation, corporate governance and economic restructuring. There is a focus on individual countries and/or particular aspects of this area.

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Mihàlyi (9) gives an account of corporate governance structures in Hungary over the past 10 years. There was a drastic reduction in cross-ownership after 1992 and a significant increase in financial investors after 1994. In relation to the sub-sector of state owned firms, Mihàlyi shows what happens when these companies continue to be politically enmeshed and how each side, management and politicians, attempt to influence the other. Frequent changes in privatisation policy lead to changes in the political staffing of company management and its board. Compared to the private sector, the control of state-owned enterprises has been deteriorating in this sub-sector ever since. The role of banks as owners, and the particular role they might play in the context of transition, is the subject of Chapter Ten (Chudzik). Reservations about large bank shareholdings in the wake of the Polish Bank Conciliation Programme are confirmed by two studies. There has been no significant impact of bank equity holdings on enterprise performance and restructuring. Claessens and Djankob (11) provide new evidence on the relationship between corporate governance and changes in managers and incentives in the Czech Republic. A change of managers, either by hiring expatriates or with newly trained people, resulted in a significant increase in corporate governance performance. This policy is found to be superior compared to the one of improving equity incentives to existing managers. In such a situation, the decision to introduce fresh ideas and new heads has turned out to be worthwhile rather than attempting to influence the (incentive) behaviour of existing managers steeped in the old Communist culture. Hunya (12) analyses the relationship between Foreign Direct Investment (FDI), privatisation, and economic restructuring. The degree of foreign penetration by FDI strongly depended on the pace and method of privatisation. One of the effects was the strong export orientation of FDI enterprises. Problems arising from FDI, such as balance of payments, or those of economic duality, are considered to be important, but may be alleviated by establishing appropriate public policies. What can be concluded for this sub-section? Some of the aspects treated require a review of their own. With regard to Chapter Twelve, we may observe that, even within the traditional literature of market economies, there is no clear consensus on the overall effects of exposing the domestic economy abroad. Australia and Canada, as host countries, have had negative experiences with FDI activities (from abroad) which do not match those outlined in the literature. The debate with respect to the welfare implications of FDI activities in host countries in industrialised economies, transition economies and developing economies remains open for further analysis.

IV. Privatisation and the emergence of markets The core question of privatisation concerns the interrelationship between the emergence of markets and market actors, corporate governance, and restructuring. In the last three chapters, the network in which firms operate is commonly used as the conceptual starting point for an analysis of the emergence of markets in transition economies.

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Keren's chapter focuses on the interaction of firms in alternative (socialist and capitalist) environments and the forces that lead to the development of given modes of behaviour. Incentives for managers in socialist networks are considered to be insufficient for transforming the old environment into a market oriented system. They find it difficult to fulfil the requirements of a market economy as long as the old patterns of behaviour within and between firms prevail. "Towards a theory of markets: networks, communication and knowledge" is the title of Chapter Fourteen {Rosenbaum). Due to existing differences within industry and commerce, various types of networks have to be distinguished. One concludes that building markets is a far from easy task and the present account is only the first step towards a more comprehensive theory of markets. Meyer (15) also expresses reservations with respect to the utility of textbook micro economics, which is no longer appropriate to illuminate the understanding of real world markets, in particular when international aspects are involved. The Chapter describes the overall impact of foreign investors, such as multinational companies, on the development of markets in transition economies. The example of the motor car industry in Central and Eastern European economies is used, since it accounts for a major share in FDI. The (international) network he describes comprises the stages of supply of parts and the production of cars. Production on platforms is primarily carried out by the motor car manufacturers themselves. These are the leading companies within the network. Compared to the real market situation, the network is considered to be a good instrument in a stage of transition. It makes a positive contribution to overcoming difficulties with respect to capital, technology, know how, management and production techniques and provides access to international markets. It seems that, for this sub-section of the book, analytical problems emerge of two distinct kinds: first, since by and large markets do not emerge spontaneously, they have to be created by establishing organisational arrangements. The necessary institutional arrangements and market instruments are only partly in place. Those policies which are still missing cannot be assumed to exist already (see section V.). Second, the contributions in the book document the difficulties outlined in the beginning as to why received micro-analysis is not very useful for market and competition analysis in practice. A number of issues are addressed which go far beyond the original topic of corporate governance and for which there is no proper analytical basis available, either at the domestic, or, and in particular, at the international level (e. g. how is a network constructed?). In addition, the profusion of concepts from a number of different disciplines ultimately leads more to confusion than to clarity. This is in particular the case with Meyer's contribution, which describes an international network and the problems existing in the motor car industry in transition economies (what is the purpose of using received micro analysis in a business school? Have management concepts become outdated?). Since there are thousands of firms in this industry, a number of studies are essential, each concentrating on one or more aspects in each economy, including the distribution system. The patterns observed in transition economies have been strongly influenced by the structures existing in market economies and also by the problems these multinational firms are facing today. These are the subject of western research literature. As outlined

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above (Chapter 12), the welfare implications of being integrated into international networks still remain open for analysis. In order to analyse topics such as the structure of the markets and networks in which firms operate, it is more effective to move to the micro-micro level, where the same issues have been analysed as part of an organised system. This is the case for the concept of the market (the subject of Industrial Organization), the various types of barriers, the structures within industries and the notion of gaps. (Porter 1980, von Gunteti 1991, Chapter 2). Even here, the necessity to construct objects between the hierarchy of the management company and the market (industry) is not recognised. For most of the time, the required groups, networks and clusters are assumed to be in existence. Today, analysis is also available which explains the relationship between the notion of an organised system and a framework for carrying out empirical analysis (von Gunten 1991). With such a framework, the structure of a market and a network in which firms operate (the market environment) can be worked out. For sure, the networks alone are not per se sufficient to induce transformation {Keren, Chapter 13). This is a systemic/political issue and has to be solved at this level. Even within the literature in market economies, the same conflict exists. On the one hand, there are the constraints of the legal system with respect to the overall economy (for example, the constitution). On the other hand, there is the individual company, at the levels of micro-, semi-micro or micro-micro economics. Based on this analysis, one cannot establish one giant network in between, since various types of networks have to be carefully distinguished in practice, depending on the industry in question. Most importantly, the relevant market environment of a particular network is not visible. This always remains an empirical issue and has to be identified on a case by case basis.

V. Overall conclusions 1. The book's account of the theoretical and policy shifts which have taken place It was a positive decision to address the topics of privatisation, corporate governance and the emergence of markets, within a wider context and to view the "embeddedness of privatisation" as part of a broader process of economic restructuring and institutional change. To examine the way corporate governance structures influence enterprise transformation was an interesting idea. Based on the insight introduced in the beginning, showing how existing research analyses can explain an organised economic system, we may conclude that the shifts proposed go so far, but not far enough. The three dimensions introduced remain insufficient.

412 · Fred von Gunten 2. What is missing? Within an organised economic system, all the other public policies necessary for the function of the system cannot be assumed to exist already. Apart from the macro level, and the need for the formal and informal institutions which exist in market economies, the importance of industry associations, market-related skills and forms of behaviour, as well as regulatory skills and behaviour must be emphasised. In particular, all those issues which arise from the internal part of an economic system must be brought into a lower level of analysis. This is what is known as micro-micro analysis, addressed by the disciplines of Industrial Organization and Management and which includes the notion of a civilian society. There is a need for additional policy instruments beyond those of corporate governance, privatisation and restructuring in a state of transition. Competition policy and consumer protection, R&D policies, all those institutions dealing with basic research (where governments, universities and technical institutes are heavily involved), industry promotion and structural adjustment policies, together with public policies with respect to matters such as economic crime, are all important here. At the international level, further instruments are required. Correctly explaining the notion of organised capitalism imposes methodological requirements. In order to distinguish the various levels of formalisation, we need a methodology which makes it possible to penetrate more deeply into matter, as has been developed in the natural sciences: beyond micro issues, semi-micro issues and in particular, micro-micro issues become relevant (von Gunten 1996b). Only then will the properties of an organised system become clear within the research literature. When economists move from the abstract level of received micro economics directly to the policy level, there are crucial methodological, conceptual, institutional and legal implications involved. This kind of behaviour is observed in sub-section three of the second part of the book. It is also quite common with regard to competition policy in industrialised economies. Such strange behaviour has never been criticised in the literature, nor by institutions such as the OECD or the World Bank. For example, very important aspects of institutional structures existing within an economic system remain untouched. In addition, the internal part of an economic system is by-passed, excluding entirely or partially the disciplines of 10 and the management literature. Unless these dimensions are explicitly introduced, the analytical structure of an organised system will never be revealed. The consequences of this behaviour on constitutional, institutional, political and legal issues are important and should not be neglected. If any kind of economic system is to function properly, we not only need policy tools and institutions at the micro level, but also, importantly, the micro-micro level too. Today, this distinction is not made within the western research literature, nor at the policy level, even though governments have been active there for quite some time. This fact may have contributed to the existing degree of confusion within this field. At the same time it may have prevented researchers from perceiving the whole and identifying it as an organised economic system.

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Literatur Böckli, P. (2000), Corporate Governance on express-ways and off the tracks, the consequences of international developments for the Swiss Policy Level, Neue Zürcher Zeitung vom 26./27. February, p. 29. Lazonick, W. (1991), Business organization and the myth of the market economy, Cambridge. Leibenstein, H. (1979), A Branch of Economics is Missing: Micro-Micro Theory, Journal of Economic Literature, Vol. XVII, pp. 477-502. Mihàlyi, P. (1997), Corporate Governance during and after privatisation: the lessons from Hungary, Frankfurt Institute for Transformation Studies, discussion paper, Frankfurt (Oder). Porter, M.E. (1980), Competitive Strategy, Techniques for Analysing Industries and Competitors, New York. Porter, M.E. (1990), The Competitive Advantage of Nations, London. von Gunten, F. (1982), The concepts of market power and competition, a study of comparative analysis between economic theory and economic policy in relation to the Australian Trade Practices Legislation, Sydney. von Gunten, F. (1991), Competition in the Swiss Plastics Manufacturing Industry, a group analysis based on micro-micro considerations, Heidelberg. von Gunten, F. (1996a), The notion of organised capitalism, manuscript, Fribourg. von Gunten, F. (1996b), The methodology of penetrating deeper into the matter: 'From micro to micro-micro economics ', manuscript, Fribourg. Wagener, H.-J. (1979), Zur Analyse von Wirtschaftssystemen. Eine Einführung, Berlin u.a.O.

ORDO • Jahrbuch fìir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Manfred

Hilzenbecher

Gesundheitsökonomik Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Johann-Matthias Graf von der Schulenburg und Wolfgang Greiner Das Gesundheitswesen in Deutschland steht - wieder einmal - vor dem finanziellen Kollaps. Ursächlich dafür ist zum einen die demographische Entwicklung. In dem gewachsenen umlagefinanzierten Versicherungssystem führt der anhaltende Anstieg des Rentnerquotienten zu einer immer höheren Belastung der erwerbstätigen Bevölkerung. Diese Entwicklung wird durch eine steigende Lebenserwartung, die nicht zuletzt durch einen kostenintensiven medizinischen und medizinisch-technischen Fortschritt hervorgerufen wird, noch verstärkt. Zum anderen zeichnet sich das deutsche Gesundheitssystem durch eine Reihe eingebauter Steuerungsmängel aus. Diese führen dazu, „daß die Präferenzen der Versicherten nach Gesundheitsleistungen und die Kosten der Bereitstellung solcher Leistungen durch Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und die Hersteller pharmazeutischer Produkte ökonomisch nicht effizient in Einklang gebracht werden. Angebot und Nachfrage nach Gesundheitsleistungen können sich vermehren, weitgehend ohne Rücksicht auf die Kosten".1 Vor diesem Hintergrund hat die gesundheitsökonomische Forschung und die ökonomische Beratung der Gesundheitspolitik in den letzten Jahren einen beträchtlichen Aufschwung erfahren. Wichtige Anstöße dafür gaben die diversen Gutachten, die der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen herausgegeben hat. Daneben hat sich vor allem der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung regelmäßig und ausführlich mit dem Reformbedarf im Gesundheitswesen auseinandergesetzt. Gleichwohl betrachten Schulenburg und Greiner in ihrem Buch Deutschland als ein „gesundheitsökonomisches Entwicklungsland" (S. 15). Sie haben sich deshalb zum Ziel gesetzt, ein „Lehrbuch Gesundheitsökonomik" (S. 9) zu schreiben. Dieser Titel läßt den interessierten Leser erwartungsvoll aufhorchen, wird doch so etwas wie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema bzw. eine tiefschürfende theoretische Betrachtung der Ökonomie des Gesundheitswesens suggeriert. In den beiden einführenden Kapiteln beschäftigen sich die Autoren zunächst mit „Besonderheiten" und „Forschungsfeldern" der Gesundheitsökonomik. Hierbei stellen sie die „Rolle von Institutionen" sowie die „asymmetrischen Informationsverteilungen" heraus, „die das Verhalten der Akteure und damit das Marktergebnis beeinflussen" (S. *

Johann-Matthias Graf von der Schulenburg und Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonomik, Neue ökonomische Grundrisse, Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 2000, 314 Seiten. 1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ( 1996), Ziffer 426.

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6). Darauf aufbauend definieren sie dann Gesundheitsökonomik als „die umfassende ökonomische Analyse der Interdependenzen und der Verhaltensweisen sowie der Produktionsbedingungen im Gesundheitswesen" (S. 16), bevor in knapper Form ausgewählte Forschungsansätze der Gesundheitsökonomik (mikroökonomische Verhaltensforschung, Versicherungstheorie und Entscheidungstheorie unter Unsicherheit, ökonomische Theorie der Politik, Ordnungspolitik und -theorie , ökonomische Evolutionstheorie) beschrieben werden. Einem weiteren Theoriegerüst, dem Zusammenhang zwischen „Krankenversicherung und Versicherungstheorie", widmen die Autoren ein eigenes Kapitel ΠΙ, in dem ausgiebig die bekannten, in Versicherungsmärkten generell bestehenden „Phänomene Moral Hazard und Adverse Selektion" (S. 54 ff..) erläutert werden. In dem Kapitel „Nachfrage nach Gesundheitsleistungen" treten die Autoren der häufig vorgetragenen Argumentation entgegen, diese Nachfrage sei wegen mangelnder Konsumentensouveränität nicht mit der ökonomischen Konsumtheorie zu vereinbaren, weshalb eine staatliche Regulierung nötig sei. Schulenburg und Greiner halten diese Interpretation für einen „Schnellschuß". Asymmetrische Informationsverteilungen lägen auch auf den meisten anderen Märkten vor. „Die Leistungsfähigkeit der ökonomischen Theorie wird hierdurch nicht in Frage gestellt, es steigen nur die Anforderungen an eine brauchbare Theorie" (S. 65). Diesen Anforderungen versuchen sie gerecht zu werden, indem mit Hilfe eines Zwei-Güter-Modells „Einsichten über das Zusammenwirken monetärer Größen und der Zeitkosten gewonnen werden (sollen)" (S. 70 ff.). Um die zugrundeliegenden Interdependenzen besser verstehen zu lernen, machen die Autoren dabei den interessanten Vorschlag, „mit dem Modell entsprechend rumzuspielen" (S. 73). In einem weiteren Abschnitt wird der Versuch unternommen, „Aussagen über die Wirkungsweise von Selbstbeteiligungsregelungen abzuleiten und empirisch zu überprüfen" (S. 77). Dazu werden Schätzergebnisse der Nachfrageelastizität nach Gesundheitsleistungen vorgestellt, die auf „76 Tarifen für die Versicherung ambulanter Krankenbehandlungen" von privaten Krankenversicherern basieren (S. 99). Genauere Angaben zur verwendeten Datenquelle sucht der geneigte Leser jedoch vergeblich. Immerhin findet sich der Hinweis, daß die Ergebnisse bereits in einer Studie von Schulenburg aus dem Jahr 1987 nachgelesen werden können (S. 104). Diese somit mindestens 15 Jahre alten Daten lassen die Autoren zu der Überzeugung gelangen, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sei preiselastisch, d. h. von einer Selbstbeteiligung seien „signifikante Nachfragedämpfungseffekte zu erwarten" (S. 100). Dies allerdings ist eine Erkenntnis, die so überraschend auch nicht ist. Aufschlußreicher wäre in diesem Zusammenhang eine Erörterung der Frage gewesen, ob die durch Selbstbeteiligung zu erzielende Nachfrageeinschränkung nach Gesundheitsleistungen unter gesellschaftspolitischen Aspekten überhaupt erwünscht ist. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat beispielsweise in seinem Sondergutachten von 1995 auf die begrenzte Einsatzfahigkeit der Selbstbeteiligung hingewiesen,2 und in seinem Sondergut-

2 Sachverständigenrat flir die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1995), Ziffer 479 ff.

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achten von 1997 noch einmal wichtige Pro- und Contra-Argumente zusammengestellt.3 Die Analysen dieses Gremiums wie auch die Berichte des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung werden indessen von Schulenburg und Greiner schlicht ignoriert. Für ein „Lehrbuch Gesundheitsökonomik" ist ein solches Vorgehen schon erstaunlich. Kapitel V hat das „Angebot an Gesundheitsleistungen" zum Inhalt. Als Anbieter von Gesundheitsleistungen werden Menschen und Institutionen erkannt, die vielfach nicht gewinnorientiert arbeiten, sondern sich an bestimmten Versorgungszielen ausrichten (S. 115). Dabei würden auch Subventionen eingerechnet. So erhalte etwa ein Universitätsklinikum „einen Defizitausgleich vom Land" (S. 117). Dies ist im gesamten Buch von Schulenburg und Greiner der einzige Hinweis auf die besondere Stellung der Universitätsklinika, die bekanntermaßen die Umsatz- und leistungsstärkste Gruppe unter den deutschen Krankenhäusern bilden. Auch hier wäre ein Blick in die Gutachten des Sachverständigenrats fur die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hilfreich gewesen. So wird etwa in dessen Sondergutachten von 1997 ausgiebig über die herausragende „Rolle der Universitätsklinika" berichtet.4 Im übrigen sind Schulenburg und Greiner hier keineswegs auf der Höhe der Zeit, denn seit 1998 sind fast alle Bundesländer dazu übergegangen, ihre Universitätsklinika rechtlich zu verselbständigen, und haben das Instrument des „Defizitausgleichs" abgeschafft. Der jeweilige Landeszuschuß ist seitdem ausschließlich für Zwecke der Forschung und Lehre bestimmt. Ein vom Umfang her wesentlicher Teil dieses Kapitels ist eine weitschweifige Betrachtung der „machtvollen" Berufsverbände im Gesundheitswesen (S. 118 f f ) . Später erfahrt dann der Leser auch das Ziel dieser Ausführungen. Es handele sich dabei nämlich um „erste Mosaiksteine einer ökonomischen Theorie der Entstehung körperschaftlicher Berufsverbände" (S. 131). Da darf man gespannt sein ! Ein weiterer Abschnitt befaßt sich mit der Preisbildung und Entlohnung von Gesundheitsleistungen. Im Gegensatz zu den verschiedenen „Formen der Honorierung von ambulant tätigen Ärzten", die immerhin auf 16 Seiten (S. 139 - 155) illustriert werden, scheint das Krankenhaus-Vergütungssystem nicht zu den Steckenpferden der Autoren zu gehören, denn dieses wird nur auf 4 Seiten (S. 135 - 138) abgehandelt. Das ist bedauerlich, wurde doch das bisherige Verfahren mit dem zum 1. Januar 2000 in Kraft getretenen GKV-Reformgesetz auf eine völlig neue Grundlage gestellt und hätte eine ausfuhrliche Erörterung nahegelegt. So wird das seit 1995 geltende System von Fallpauschalen und Sonderentgelten sowie krankenhausindividuell vereinbarten tagesgleichen Pflegesätzen ab dem 1. Januar 2003 durch die Einfuhrung eines pauschalierenden Entgeltsystems auf der Basis von „Diagnosis Related Groups" (DRGs) abgelöst, womit weitreichende Auswirkungen auf das gesamte Gesundheitswesen in Deutschland verbunden sind. Schulenburg und Greiner war diese Gesetzesänderung zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Buches bekannt, denn an anderer Stelle verweisen sie explizit auf die „Gesundheitsreform 2000" (S. 190).

3 Sachverständigenratför die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ( 1997), Ziffer 529. 4 Sachverständigenrat fu r die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ( 1997), Ziffer 181 ff.

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In einer analytischen Betrachtung auf der Grundlage eines „einfachen Modells der angebotsinduzierten Nachfrage" im Gesundheitssektor läßt sich nach Darlegung der Autoren „theoretisch und empirisch zeigen, daß ältere Ärzte tendenziell weniger Nachfrage induzieren als junge, und daß eine höhere Arztdichte c. p. zu einer höheren angebotsinduzierten Nachfrage fuhrt" (S. 172). Empirische Basis bilden hierbei „individuelle Praxisdaten von 918 Praxen niedergelassener Ärzte im Kanton Bern eines Jahres" (S. 164). Auch fur diese Datenquelle finden sich keine genaueren Angaben. Wiederum wird lediglich daraufhingewiesen, in einer Studie von Schulenburg aus dem Jahre 1981 sei das Thema bereits erörtert worden (S. 170). Somit ist davon auszugehen, daß die herangezogene Datenbasis zwischen 20 und 25 Jahren alt ist. Von einem Lehrbuch sollte eigentlich erwartet werden können, daß es sich zur Begründung aufgestellter Thesen auf etwas aktuelleres Zahlenmaterial stützt. Informativer ist da schon Kapitel VI „Gesundheitssysteme", in dem die Finanzierungsform und die Anreizmechanismen des deutschen Sozialversicherungssystems mit jenem in Großbritannien und in den USA verglichen werden. Besonders positiv fallt hier auf, daß sich die Autoren nicht auf eine rein deskriptive Analyse beschränken, sondern zugleich die Stärken und Schwächen der jeweiligen Systeme herausarbeiten. So habe der vergleichsweise geringe Anteil am Bruttoinlandsprodukt, der in Großbritannien für das Gesundheitswesen aufgebracht wird, „an vielen Stellen zu einer erheblichen Unterfinanzierung (geführt), die nur durch spürbare Rationierung verschiedener Leistungen bewältigt werden können" (S. 205). Charakteristisch für das amerikanische Gesundheitssystem sei das Nebeneinander von privater und öffentlicher Finanzierung, das zumindest fur die „voll versicherte Bevölkerungsmehrheit ... eine Versorgung nach höchsten Qualitätsmaßstäben erwarten" lasse (S. 222). Ein „sehr schwerwiegendes Problem" sei aber die „hohe Zahl von Bürgern, die keinen Versicherungsschutz genießen" (S. 223). Für die künftige Entwicklung der Gesundheitssysteme in den Industrieländern rechnen die Autoren mit einer „Umstellung auf wettbewerblichere Strukturen", die aber „eher noch zu einem Schub der Regulierungstiefe fuhren wird" (S. 232). Mit dieser Prognose ist der Leser erst einmal für alle Eventualitäten gerüstet. Im letzten Kapitel des „Lehrbuchs Gesundheitsökonomik" wird die „Ökonomische Evaluation von Gesundheitsleistungen" thematisiert. Nach der Feststellung, im Gesundheitswesen sei der Preis in seiner Funktion als Knappheitsindikator nahezu vollständig außer Kraft gesetzt worden (S. 238), wird unter Verweis auf den Humankapitalansatz dargelegt, daß Gesundheitsausgaben aus volkswirtschaftlicher Sicht als Investitionen angesehen werden können. Eine solche Sichtweise sei aber „kaum zieladäquat, da es keine primäre Aufgabe der Gesundheitspolitik sein kann, dazu beizutragen, die gesamtwirtschaftliche Produktivität zu steigern" (S. 249). Auf die naheliegende Frage eines Gesundheitsökonomen, was denn sonst Aufgabe der Gesundheitspolitik sein soll, wird allerdings keine Antwort gegeben. In einer Diskussion verschiedener Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen (Kostenvergleichs-Analyse, Krankheitskostenstudien, Kosten-Nutzen-Analyse und Kosten-Nutzwert-Analyse) kommen die Autoren zu dem Ergebnis, die Methodik solcher Untersuchungen sei „in mehrfacher Weise noch immer sehr vielfaltig, was sich nachteilig auf das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Studienresultate auswirkt" (S. 277). Dem

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schließt sich eine Betrachtung über die Möglichkeiten zur Erfassung „intangibler Effekte" an. Da hierfür „das Konzept der gesundheitsbezogenen Lebensqualität große Bedeutung erlangt" habe (S. 278), werden Instrumente zur Lebensqualitätsmessung („Wohlfahrtstheoretische Verfahren" sowie „Index- und Profil-Instrumente") kurz erläutert (S. 282 ff.). Diese seien aber im klinischen Bereich kaum einsetzbar. Hier seien unter Praktikabilitätsgesichtspunkten „einfacher anwendbare Instrumente erforderlich" (S. 300). Damit bleibt nicht nur die Struktur, sondern auch der Zweck des gesamten Schlußkapitels reichlich nebulös. Wesentlich lohnenswerter wäre an dieser Stelle eine fundierte Diskussion über die verschiedenen Reformkonzepte zur Gesundheitspolitik gewesen, wie sie etwa in den Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagen worden sind. Diese Standardwerke eines jeden Gesundheitsökonomen finden aber, wie erwähnt, in dem „Lehrbuch Gesundheitsökonomik" von Schulenburg und Greiner keine Berücksichtigung. Unter dem Aspekt der Leserfreundlichkeit hervorzuheben ist, daß jedem Kapitel „Lektürevorschläge", eine „Zusammenfassung der Grundüberlegungen", einige „Schlüsselbegriffe" sowie jeweils 10 „Kontrollfragen" angefügt sind. Dies reicht jedoch für ein Lehrbuch, daß die Studierenden mit den Grundlagen ihres Fachgebiets vertraut machen sollte, nicht aus. Hierfür ist eine sorgsame Aufbereitung der wissenschaftlichen Literatur, ein seriöser Umgang mit empirischen Daten und eine Beachtung der aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen vonnöten. Es bleibt zu hoffen, daß Schulenburg und Greiner bis zu einer Neuauflage ihres Buches genügend Zeit für die notwendigen Nachbesserungen gewährt wird. Literatur Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1995), Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Mehr Ergebnisorientierung, mehr Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit, Sondergutachten, Baden-Baden. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1997), Gesundheitswesen in Deutschland. Kostenfaktor und Zukunftsbranche, Band II: Fortschritte und Wachstumsmärkte, Finanzierung und Vergütung, Sondergutachten, Baden-Baden. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1996), Reformen voranbringen, Jahresgutachten 1996/97, Stuttgart.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Jürgen Volkert

Sozialstaatsprinzip und Marktwirtschaft Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Peter Thuy* Ausgehend von der kaum bestreitbaren Hypothese, das Sozialleistungssystem befinde sich bereits seit langem in einer konzeptionellen Krise, fragt Thuy nach grundlegenden ordnungspolitischen Wirkungszusammenhängen im Sozialstaat. Hierauf aufbauend versucht er, ordnungspolitische Konturen einer Theorie der Sozialpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft herauszuarbeiten und diese anhand der derzeitigen Reformdiskussion um die deutsche Sozialhilfe zu verdeutlichen. Hier hat der Verfasser in der Tat eine Forschungslücke ausgemacht, zumal sich die derzeitigen Simulationen, mit Hilfe derer entsprechende Vorschläge beurteilt werden, meist nur mit „Nettobeschäfiigungseffekten" und „Nettokosten" befassen, ohne der ordnungspolitischen Interdependenz in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Thuy gliedert seine Arbeit in fünf Teile. Nach einem Überblick über die Vorgehensweise befaßt er sich im zweiten Kapitel mit dem Gehalt und der Entwicklung des Sozialstaatsgedankens, aber auch mit dessen Verankerung in der deutschen Verfassung. Hieran schließt sich im dritten Kapitel eine ordnungspolitische Analyse des Sozialstaatsgedankens vor dem Hintergrund des Leitbilds der Sozialen Marktwirtschaft an. Der vierte Abschnitt zeigt die Entwicklung und Problematik der deutschen Sozialhilfe und untersucht grundsätzliche Reformvorschläge. Den Abschluß bildet eine auf die Situation der Sozialhilfe bezogene Lösungsskizze im fünften Kapitel. Das zweite Kapitel stellt mit etwa 100 Seiten einen wesentlichen Schwerpunkt der Ausführungen dar. Mit der gebotenen Sorgfalt beschäftigt sich Thuy zunächst mit den Prinzipien der sozialen Sicherung sowie sozialethischen Prinzipien. Breiten Raum nimmt die Darstellung der historischen Entwicklung ein, was sich als äußerst bereichernd erweist. Der Verfasser verdeutlicht dabei nicht zuletzt die lange Geschichte und die sehr unterschiedlichen Motive der Diskussion um eine adäquate Existenzsicherung. Vieles, was in der aktuellen Diskussion scheinbar neu „erfunden" wird, läßt sich anhand der hochinteressanten Ausführungen auf recht „alte Vorfahren" zurückführen. Nach einer Darstellung der verfassungsmäßigen Kodifizierung des Sozialstaates, einer Diskussion der Verfassungsinterpretationen des Sozialstaates sowie weiterer Verfassungsgrundsätze geht Thuy auch auf das Zusammenspiel von Grundgesetz, Sozialstaatsprinzip und Wirtschaftsordnung ein. Hier findet sich viel Wichtiges und Richtiges, wohl *

Peter Thuy, Sozialstaatsprinzip und Marktwirtschaft: Eine ordnungspolitische Analyse unter besonderer Berücksichtigung des gmndgesetzlichen Sozialstaatspostulats und der Sozialen Marktwirtschaft. Dargestellt am Beispiel der Sozialhilfe und ihrer Reform, Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Band 71, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 1999, 359 Seiten.

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aber auch weitgehend Bekanntes für die meisten ORDO-Leser. Da die Grundrechtsgarantien sowohl eine zentrale Planung als auch eine reine Verkehrswirtschaft ausschließen, verwirft Thuy die damit verbundenen Sozialstaatskonzeptionen. Abgelehnt werden einerseits der steuerungspolitische Ansatz, der sich durch eine umfassende Steuerung des politischen Prozesses nach sozialen Kriterien auszeichnet, und der konfliktreduzierende Ansatz andererseits, der sich auf eine reine „Befriedungsfunktion" beschränkt. Als „Untergrenze" von Konzeptionen, die sich mit den Kriterien „Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaftsordnung" vereinbaren lassen, arbeitet Thuy den notmindernden Ansatz heraus (S. 126). Voll vereinbar mit diesen Kriterien ist auch der „gerechtigkeitsorientierte Ansatz", der außer einer Fürsorgepflicht eine Annäherung von Startchancen und eine begrenzte Umverteilung zugunsten einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung umfaßt. Nur bedingt mit den Konformitätskriterien zu vereinbaren ist so Thuy - dagegen eine „Demokratisierung der Wirtschaft" im Rahmen eines demokratie-identischen Ansatzes, zumal die Gefährdungen für das Recht auf Eigentum und Handlungsfreiheit (S. 128) klar erkannt werden. Im dritten Kapitel „Sozialstaatsprinzip und Soziale Marktwirtschaft" werden im wesentlichen die Grundkonzeption der Sozialen Marktwirtschaft sowie die Einbindung des Sozialstaates in die Wirtschaftsordnung diskutiert und ein Überblick über die sozialstaatliche Entwicklung in Deutschland gegeben. Da das Grundgesetz Spielraum für verschiedene Realtypen zwischen Zentralverwaltungswirtschafi und reiner Marktwirtschaft beläßt, entscheidet sich der Verfasser fur die Soziale Marktwirtschaft als Referenzsystem. Dies, da die Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Leitbild weithin akzeptiert werde, auch wenn sich diese breite Anerkennung nicht zuletzt auch auf einen mancherorts anzutreffenden Mangel an analytischer Klarheit stütze. Zur Präzisierung solle daher „zunächst nach den historischen Wurzeln gesucht werden, deren Freilegung dafür Sorge tragen kann, die eine oder andere Unklarheit im Konzept selbst zu beseitigen und Aufschluß über die tatsächlichen Intentionen der Sozialen Marktwirtschaft gibt" (S. 130). Nicht diese Vorgehensweise, wohl aber ihre Begründung könnte in eigentümlicher Weise statisch anmuten - auch wenn in einer Fußnote die Offenheit und Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft erwähnt wird, auf die Müller-Armack mit Nachdruck verwiesen hat. Fast schon archäologisch inspirierte Begriffe wie die „Freilegung" der historischen Wurzeln (S. 130) und ein „richtig, d.h. im Sinne seiner geistigen Väter" interpretierter Begriff der Sozialen Marktwirtschaft (S. 22) könnten bei ordnungspolitisch weniger informierten Lesern den Eindruck erwecken, die gewählte Vorgehensweise diene einer „nostalgisch verbrämten Gedenkveranstaltung" ohne aktuelle wirtschaftspolitische Relevanz. Zwar ist dies für Ordnungspolitiker ein völlig abwegiges Argument, doch zielt dieses Buch sicherlich auch auf Sozialwissenschaftler und -politiker, die mit ordnungspolitischen Grundlagen weniger vertraut sind. Ihnen wäre damit geholfen, wenn der Rekurs auf die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft inhaltlich mit den von den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft herausgearbeiteten, nach wie vor geltenden, wesentlichen ökonomischen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten erfolgt wäre und nicht auf eine vordergründig dogmenhistorische Art und Weise. Der Abschnitt zur ordnungspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft (S. 130-156) referiert die wesentlichen Grundlagen der deutschen Wirtschaftsordnung in

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der gebotenen Kürze recht zutreffend. Allein die Charakterisierung von Euckens Konzeption gerät ein wenig zu einseitig. Zwar ist unstrittig, daß Eucken die soziale Frage über den Markt lösen lassen will und eine ordnungskonforme Wirtschaftspolitik einen Großteil sozialpolitischer Eingriffe von vornherein überflüssig machen soll. Doch die These „sozialpolitische Eingriffe werden daher konsequenterweise von Eucken abgelehnt, da die Wettbewerbsordnung ,νοη selbst' für den sozialen Ausgleich sorgt" (S. 140), ist gerade unter Verweis auf Euckens „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" nicht haltbar. Enthält doch speziell dieses Werk Euckens einen Abschnitt über die „spezielle Sozialpolitik", die - so Eucken - notwendig werde, weil selbst eine vollkommene Politik zur Ordnung der Wirtschaft die Notwendigkeit zu weitergehenden Hilfsmaßnahmen nicht beseitigen könne, zumal eine Beschränkung auf den Ordnungsrahmen den individuellen Fall nicht berücksichtigen könne. Weil aber die mangelnde Beachtung individueller Notlagen immer die Existenz von Menschen beeinträchtige, wird nach Eucken eine spezielle Sozialpolitik erforderlich, die Lücken beseitigt und Härten mildert (Eucken 1975, 318 f.; Volkert 1991, 95 f.). Gut gelungen ist Thuys Begründung der Notwendigkeit von Sozialpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft (S. 157 ff.). Mit Hilfe der Vertragstheorie arbeitet er überzeugend heraus, daß ein Trade-off zwischen individueller Freiheit und sozialem Ausgleich nicht zwangsläufig besteht (S. 158-160) und der Zusammenhang zwischen Sozialleistungsquote und Wachstumspotential nicht verabsolutiert werden könne, da ein gewisses Maß an Sozialpolitik die gesamtwirtschaftliche Entwicklung fordere (S. 169). Zu den wesentlichen Zielen der Sozialen Marktwirtschaft zählt Thuy die Herstellung von Sicherheit und Gerechtigkeit. Entscheidend für den Gehalt der Sozialstaatskonzeption wird damit die Interpretation des Gerechtigkeitsziels. Hierunter subsumiert der Verfasser über die formale Gerechtigkeit hinaus auch die materielle Gerechtigkeit, beschrieben als Start-, Leistungs- und (Mindest-) Bedarfsgerechtigkeit. Bei der Abgrenzimg der Startgerechtigkeit rekurriert Thuy auf Rawls faire Chancengleichheit, aber auch auf dessen Unterschiedsprinzip der Legitimation von Ungleichheiten durch die Besserstellung der Schwächsten. Diese unvermeidlichen Werturteile, die Thuy im Interesse einer methodisch soliden Transparenz gut nachvollziehbar offenlegt, fuhren den Verfasser schließlich zu dem Ergebnis, daß aus den verschiedenen Konzeptionen, die mit den grundgesetzlich verankerten Rechtsstaats-, Demokratie- und Wirtschaftsverfassungsprinzipien vereinbar wären, nur der gerechtigkeitsorientierte Ansatz seiner Interpretation des Leitbilds der Sozialen Marktwirtschaft entspräche (S. 191). Hieran schließt sich eine gelungene Darstellung der Entwicklung des deutschen Sozialstaats an. Mittels einer an die Neue Politische Ökonomie angelehnten Argumentation gelangt Thuy zu dem Schluß, daß eine „Zielantinomie, wie sie zwischen Marktwirtschaft und Sozialstaatsprinzip häufig diagnostiziert wird, so nicht besteht". Es gehe letztlich nicht um das „Ob", sondern um das „Wie" sozialstaatlicher Korrekturen (S. 201). Diese grundlegenden Ausführungen sollen im daran anschließenden vierten Kapitel „Grundeinkommenssicherung in der Sozialen Marktwirtschaft" zunächst am Beispiel des existierenden Systems und dann anhand der Reformdiskussion um die deutsche Sozialhilfe veranschaulicht werden. Thuys Ausführungen zur Sozialhilfe lassen die notwendige Ausgewogenheit erkennen und vermeiden vorschnelle Schlußfolgerungen. Zu-

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nächst sieht er den Gestaltungsspielraum durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt, nach der Sozialhilfe mehr abdecken solle als nur das physiologische Existenzminimum. Damit werde allen Bestrebungen, die Sozialhilfe auf dieses Niveau abzusenken, eine klare Absage erteilt (S. 207). Von Bedeutung - auch mit Blick auf die im Anschluß diskutierten Reformoptionen - ist die Frage des Mißbrauchs von Sozialhilfe. Mit Recht stellt sich Thuy gegen weit verbreitete Vorurteile eines „massenhaften Mißbrauchs von Sozialhilfe", für den in der Tat konkrete empirische Belege fehlen. Zuzustimmen ist aber auch Thuys These, nach der die teilweise versuchte Darstellung des Mißbrauchs als Kavaliersdelikt („strategische Nutzer") die Idee der Sozialhilfe in einer Weise zu verformen droht, die das System auf Dauer nicht verkraften könnte (S. 231 f.). Eine weitere wichtige Frage betrifft die Arbeitsanreize in der Sozialhilfe, die einerseits durch den Lohnabstand, andererseits durch die Anrechnung von Arbeitseinkommen auf die Sozialhilfe bestimmt werden. Allen Vorurteilen zum Trotz zeigt Thuy, daß der unabdingbare Lohnabstand bis heute in den meisten Fällen gewahrt wird. Thuys These, nach der Abweichungen vom Lohnabstandsgebot vornehmlich bei extremen Bedarfskonstellationen entstehen, werden auch durch jüngste Untersuchungen gestützt (Engels 1999). Die Modalitäten der Anrechnung von Arbeitseinkommen auf die Sozialhilfe sind in der Regel nur hart gesottenen Technokraten und Ökonomen mit atypischer Präferenzordnung (der Rezensent zählt sich zur zweiten Gruppe) geläufig. Insoweit spricht es weniger gegen den Verfasser als gegen die Eignung der geltenden Bestimmungen, daß er diese Regelungen - ebenso wie die große Mehrzahl der Sozialhilfeempfanger, die ihnen unterliegen - nicht ganz erfaßt hat. Anrechnungsfrei waren Ende der neunziger Jahre, nicht wie von Thuy unterstellt, 269 DM monatliches Nettoarbeitseinkommen (S. 240), sondern lediglich 135 DM. Von jeder darüber hinaus verdienten Mark wurden 85 Pfennige vom Sozialhilfeanspruch abgezogen. 269 DM monatlich war dabei die Obergrenze. Mehr konnte selbst unter solch hohen Anrechnungssätzen nicht hinzu verdient werden. Jede weitere Mark wurde von den Sozialämtern zu 100 % angerechnet. Das heißt: Das hier entstehende Anreizproblem war und ist gravierender, und die von Thuy angedeutete Senkung der Transferentzugsrate (S. 241) würde vermutlich noch stärkere Arbeitsanreizwirkungen erbringen, als aufgrund seines fehlerhaften Beispiels zu vermuten ist. Nach Thuys Zwischenergebnis zur Situation in der deutschen Sozialhilfe (S. 246) werden Verwerfungen nicht durch Ordnungsinkonformitäten des Gesetzes verursacht, sondern durch dessen mangelhafte Anwendung. Negative Beschäftigungswirkungen ergeben sich nach seiner Ansicht vor allem durch eine unzureichende Beratung und eine große Zurückhaltung der Kommunen bei der Zuweisung von Beschäftigungsmöglichkeiten. Damit sind die Lösungen vorgezeichnet. Weshalb der Verfasser nicht intensiver an diesen arbeitet, sondern sich im folgenden mit Reformvorschlägen befaßt, die auf negative Einkommensteuern und ähnliche höchst gesetzgebungsrelevante Änderungen abzielen, bleibt offen. Allerdings ist die nach Thuys Ansicht mangelnde Eignung dieser nicht zu seiner Diagnose passenden Therapievorschläge am Ende alles andere als überraschend.

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Immerhin ist die Erörterung der Reformvorschläge (unbedingtes Grundeinkommen, bedarfsbezogene integrierte Grundsicherung, allgemeine negative Einkommensteuern, Mindesteinkommen sichernde Lohnsubvention, Bürgersteuer als Konsumsteuer) über weite Strecken überzeugend (S. 246-305). Lediglich in einzelnen Punkten sind Zweifel anzumelden. Dazu zählt die These, Spermann „entlarvt... sich und die Denkweise anderer Protagonisten dieser Idee ... insoweit, als eingestanden wird, daß der Anreiz zur Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung nicht ausreichen dürfte" (S. 266 f.), weil Spermann daraufhinweist, bei einer verbesserten Anrechnung lohnten sich nicht nur geringfügige Jobs, sondern auch geregelte Teilzeitbeschäftigungen. Der Anreiz verbesserter Anrechnungsverfahren reicht - je nach Haushaltsgröße - durchaus bis in den Bereich der Vollzeitbeschäftigungen. Allerdings ist ein direkter Ausstieg aus der Sozialhilfe mit Vollzeitstellen einerseits leichter möglich, so daß auch das Problem der hohen Anrechnung von Arbeitseinkommen auf die Sozialhilfe nicht ganz so häufig auftritt. Andererseits ist zu fragen, ob ein großer Teil, insbesondere von Langzeitarbeitslosen und allein erziehenden Sozialhilfeempfängem, nicht doch über reguläre Teilzeitbeschäftigungen leichter in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren ist. Zumal Thuys Unterstellung, Teilzeitbeschäftigungen führten nur selten aus der Sozialleistungsabhängigkeit heraus, in dieser undifferenzierten Form nicht haltbar ist und im Widerspruch zu neueren Mobilitätsuntersuchungen (Kaltenborn und Klös 2000) steht. Insgesamt ist dem Verfasser jedoch zuzustimmen, daß die Garantie eines Grundeinkommens ebenso wie negative Einkommensteuern das Subsidiaritätsprinzip unterlaufen, zumal Thuy von negativen Einkommensteuern ohne Bedürftigkeitsprüfungen ausgeht. Unterläßt man Bedürftigkeitsprüfiingen, so stellen niedrige Anrechnungsfaktoren in der Tat einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip dar (S. 302 ff.). Im fünften Kapitel „Ordnungskonforme Grundsicherung in der Sozialen Marktwirtschaft - eine Lösungsskizze" resümiert Thuy zunächst noch einmal kritisch wesentliche Gestaltungselemente der von ihm diskutierten Reformansätze (S. 308-310). Gegen die Verringerung der Transferentzugsrate fuhrt er aus, wer durch Schwarzarbeit sein Einkommen vergrößere, verfüge über eine Transferentzugsrate von Null und werde daher auch weiter schwarzarbeiten. Hierzu ist zweierlei festzuhalten: Zum einen hat Thuy zuvor betont (S. 231), daß konkrete empirische Belege für einen massenhaften Sozialhilfemißbrauch fehlten. Solange Sozialhilfemißbrauch kein Massenphänomen ist, könnten aber zumindest der Masse der arbeitsfähigen Empfanger durch verbesserte Anrechnungsbedingungen deutlich mehr Arbeitsanreize gegeben werden. Zum anderen kann sich auch die Bereitschaft von Schwarzarbeitern zu legaler Arbeit erhöhen, wenn von einem System eines fast lOOprozentigen Transferentzugs auf geringere Anrechnungssätze übergegangen wird. Nicht nur moralische, sondern auch schlichte Risikoüberlegungen können dann dazu beitragen, bisherige Schwarzarbeit zu legalisieren. Thuys Lösungsskizze baut auf seiner Problemdiagnose für die deutsche Sozialhilfe auf. Zunächst solle in arbeitsfähige und nicht arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger unterschieden werden. Weil die Gefahr der Schwarzarbeit bestehe, müßten die Kommunen gezwungen werden, vermehrte Arbeitsgelegenheiten für Arbeitsfähige anzubieten, die das Zeitbudget für die Schwarzarbeit schmälerten. Hierfür sollten Entgelte gezahlt werden, die arbeitende Empfänger besserstellen als untätige, aber unter dem Niveau von

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Entgelten am Normalarbeitsmarkt liegen (S. 310 f.). Darüber hinaus solle eine auf 70 % verbesserte Transferentzugsrate die Aufnahme von Teilzeitbeschäftigungen attraktiver machen. Damit „entlarvt" sich Thuy insofern, als er die Grundintentionen einer Anrechnungsvergünstigung zur Verbesserung der Attraktivität von Teilzeitstellen am Ende ungeachtet seiner vorhergehenden Kritik an solchen Argumenten - wohl doch durchdrangen hat. Neben einigen weiteren Vorschlägen, die teilweise bereits seit längerem realisiert sind (Tagesstrukturierungs- und Qualifikationsmaßnahmen, Kürzung bzw. Streichung des Sozialhilfeanspruchs bei Arbeitsverweigerung), aber als Teil einer Gesamtstrategie zu sehen sind, konzentriert sich Thuys Lösungsskizze damit auf einen kommunalen Beschäftigungszwang fur arbeitsfähige Sozialhilfeempfanger sowie auf eine etwas verbesserte Anrechnung von Zusatzverdiensten. Eine solche Koppelung von Arbeitszwang oder Arbeitsanreizen hat sich in den USA im Rahmen von Experimenten bewährt. Allerdings steht der erwünschten Verkürzung des Zeitbudgets, das für Schwarzarbeit zur Verfugung steht, das Problem gegenüber, daß ein verpflichtendes Beschäftigungsangebot an alle arbeitsfähigen Empfänger die weitere Schaffung einer Vielzahl von staatlich subventionierten Beschäftigungsmöglichkeiten erfordert. Würde es sich um „schlechte Jobs" zur Überprüfung der Arbeitswilligkeit handeln, wie dies bereits heute in einer Reihe von Kommunen Praxis ist, entstünde wohl kaum eine Konkurrenz zu einfachen Beschäftigungen im Niedriglohnsektor des ersten Arbeitsmarktes (Feist 2000). Anders sieht es jedoch in der vorgeschlagenen Lösungsskizze aus, die nicht (nur) abschrecken, sondern auch qualifizieren und an den Arbeitsmarkt heranfuhren soll. Hier entsteht die Gefahr, daß ordnungspolitisch vielversprechendere Stellen am privaten ersten Arbeitsmarkt durch kommunale Beschäftigungen noch stärker als bisher verdrängt werden. Angesichts von insgesamt 300.000 kommunalen Beschäftigungsverhältnissen für Sozialhilfeempfänger in deutschen Städten erscheint ein weiterer Ausbau ordnungspolitisch nicht unproblematisch, wenn dem gut begründeten Vorrang des on-the-jobTrainings im privaten ersten Arbeitsmarkt Rechnung getragen werden soll (Berthold und Fehn 1997). Wäre dagegen der Anreiz durch die höheren Löhne im privaten Sektor so hoch, daß solche Verdrängungseffekte keine Rolle spielen, weil der Großteil der Hilfeempfänger ohnehin in die Privatwirtschaft abwandert, so wäre es sinnvoller die finanziellen Anreize weiter zu stärken, um die Mobilität in den ersten Arbeitsmarkt weiter zu erhöhen (Volkert 1999). Eine andere Alternative - die Vermittlung einer nur begrenzten Zahl von Hilfeempfängern in subventionierte Beschäftigung - ist in den meisten Kommunen bereits heute gängige Praxis. Insgesamt erscheint es notwendig und sinnvoll, die Lösungsskizze kritisch zu hinterfragen und zu verfeinern. Nach der von Peter Thuy vorgelegten sorgfaltigen Grundlagenanalyse erscheint dies durchaus vielversprechend. Immerhin stellt bereits die vorliegende Publikation nicht nur eine Bereicherung der ordnungspolitischen Sozialstaatsdiskussion, sondern zudem einen Baustein für die unerläßliche ordnungspolitische Durchdringung der wirtschaftspolitischen Konsequenzen der deutschen Sozialhilfe dar. Diese bedeutsame Diskussion für die Ordnungspolitik weiter erschlossen zu haben ist ein wesentliches Verdienst des Autors.

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Literatur Berthold, Norbert und Rainer Fehn (1997), Aktive Arbeitsmarktpolitik - wirksames Instrument der Beschäftigungspolitik oder politische Beruhigungspille?, ORDO, Band 48, S. 411-435. Engels, D. (1999), Der Abstand zwischen der Sozialhilfe und unteren Arbeitnehmereinkommen, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Köln. Eucken, Walter (1975), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Auflage, Tübingen. Feist, Holger (2000), Hilfe zur Arbeit: Theorie und Lehren aus den USA, Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Band 51, S. 105 - 125. Kaltenborn, Bruno und Hans-Peter Klös (2000), Arbeitsmarktstatus und Lohnmobilität in Westdeutschland 1984/96, iw-trends, Nr. 2, Köln, S. 24 - 41. Volkert, Jürgen (1991), Sozialpolitik und Wettbewerbsordnung: Die Bedeutung der wirtschaftsund sozialpolitischen Konzeption Walter Euckens für ein geordnetes sozialpolitisches System der Gegenwart, ORDO, Band 42, S. 91-115. Volkert, Jürgen (1999), Das Einstiegsgeld für langzeitarbeitslose Sozialhilfeempfänger - ein Modellversuch in Baden-Württemberg, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft 2, S. 29-33.

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Peter Thuy

Arbeitspolitik für alle Besprechung des von Peter Ulrich herausgegebenen Bandes* Der zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderung der Gegenwart, der Frage nach Möglichkeiten zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit und ihrer ökonomischen wie sozialen Folgen, widmet sich der Sammelband Arbeitspolitik für alle, der in der Reihe St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik erschienen ist. Im Gegensatz zu vielen arbeitsmarktpolitischen Tagungsbänden zu diesem Thema gehen die hier vorgelegten Beiträge in ihrer Mehrzahl weit über die Erörterung von Optionen zur Gestaltung der Saldenmechanik am Arbeitsmarkt hinaus und diskutieren, dem im Titel formulierten Anspruch des Bandes durchaus gerecht werdend, auch Fragen über die zukünftige Rolle der Arbeit in der Gesellschaft. Dies wird bereits im Eingangsbeitrag von Ulrich deutlich, der zunächst den Problemaufriß liefert und dabei die These vertritt, die Lösung des Arbeitslosenproblems lasse sich unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht realisieren, sondern rufe „letztlich nach einer Neubestimmung der grundlegenden Prinzipien der gesellschaftspolitischen Organisation der komplex-arbeitsteiligen Wirtschaft" (S.10, Hervorhebung im Original). Durchaus in Übereinstimmung mit den empirischen Fakten konstatiert Ulrich, daß insbesondere die schwachen, d.h. unqualifizierten und die armen Teile der Bevölkerung durch die überragende Bedeutung der Arbeit für Einkommensverteilung und gesellschaftliche Integration der Gefahr einer fortschreitenden Exklusion ausgesetzt sind, der es durch die Entwicklung eines zukunftsfähigen Leitbildes „des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens" (S.12) zu begegnen gilt. Dieses normativ festgelegt Leitbild dient dann als Orientierungsrahmen für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. In diesem Zusammenhang argumentiert Ulrich, der Markt bräuchte normative Vorgaben, die er - vorgeblich in ordoliberaler, besser wohl ÄMstowscher Tradition - als Vitalpolitik bezeichnet, der er die Wettbewerbspolitik nachlagert (S.14). Daß dabei der ordoliberalen Idee Gewalt angetan wird, erweist sich spätestens dann, wenn Ulrich davon spricht, daß die „blinden" Marktkräfte ausgerichtet und begrenzt werden müssen. Dabei bleibt der Maßstab dieser Ausrichtung freilich verborgen. Daß es ganz im Sinne des Ordoliberalismus ist, Märkte wettbewerbsfähig zu machen, um die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital möglichst effizient zu verwerten, wird dabei verschwiegen. So kann es auch nicht verwundem, daß der Titel des Beitrags Arbeit für alle sich nicht auf eine der Marktrationalität folgende Vollbeschäftigung, sondern auf die Bereitstellung als sinnvoll erachteter Tätigkeitsfelder für alle bezieht. *

Peter Ulrich (Hrsg.), Arbeitspolitik für alle: Eine Debatte zur Zukunft der Arbeit, St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik, Band 24, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 2000, 138 Seiten.

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Diesem Grundmuster folgend, entwickelt Ulrich das magische Dreieck der Arbeitspolitik (S. 16), an dessen Polen sich drei Stilelemente, nämlich sinnvolle Arbeitsformen, die gerechte Arbeitsgesellschaft und ein effizienter Arbeitsmarkt finden, durch die die sehr unbestimmt gehaltene Zielsetzung von der wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleicher Bürger näher beschrieben werden soll. Als sinnvoll werden Arbeitsformen dann erachtet, wenn sie drei Funktionen erfüllen, nämlich - Sicherung der materiellen Existenz, - persönliche Fähigkeitsentfaltung und - soziale Integration. Insbesondere, begründet Ulrich weiter, werden diese Funktionen nicht nur von der Betätigung am Arbeitsmarkt, sondern auch und - so der Verfasser weiter - in noch viel stärkerem Maße in der nicht-marktwirtschaftlichen (Selbst-)Versorgungsarbeit erfüllt. Arbeitslosigkeit aber sei eben nur in der Marktarbeit gegeben, wohingegen die Betätigungsfelder jenseits des offiziellen Arbeitsmarktes Beschäftigung in Hülle und Fülle versprächen. Madörin (S. 67ff.) wird weiter hinten im Band diesen Themenkreis eingehender und dann vorwiegend aus feministischer Perspektive beleuchten und insbesondere auf die einkommenspolitische Problematik hinweisen, die eine Beschäftigung im informellen Sektor mitsichbringt. Kann ihr und Ulrich bis zu diesem Punkt durchaus gefolgt werden, so gilt dies nicht mehr fur die von Ulrich aus diesen Umständen gezogene Schlußfolgerung, sieht der Verfasser das Arbeitsmarktproblem doch „nur" als ein Verteilungsproblem an. Zu dessen Lösung genüge es durchaus, diejenigen, die gesellschaftlich sinnvolle, aber nicht-marktfähige Arbeit zu leisten bereit wären, vom Zwang zur Existenz durch Erwerbsarbeit zu befreien (S.18) und ihnen Ansprüche auf die Teilhabe am Sozialprodukt zu verschaffen. Ein solches Unterfangen freilich kann, und das verschweigt der Autor, nur dann gelingen, wenn denjenigen, die sich zur Erwerbsarbeit bereit finden, ein Teil ihrer Leistung zwangsweise entzogen wird, um sie auf all diejenigen umzuverteilen, die sich eher auf die Bereitstellung nicht-marktfahiger Güter verlagert haben. Dies ist freilich einerseits nicht mit den die Marktwirtschaft tragenden Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung vereinbar, da der Zwang zur Erwerbsarbeit ersetzt wird durch den Zwang zum Konsum der Ergebnisse von Nicht-Erwerbsarbeit. Andererseits steht nicht zu erwarten, daß das Produktionsergebnis in einem solchermaßen, mehr oder weniger planwirtschaftlich organisierten System dem eines nach dem Kriterium der Marktrationalität organisierten Wirtschaftssystem auch nur annähernd gleichwertig ist (Buchanan 1993, 27). Unbeachtet bleibt nämlich, daß auch in der durch die Erwerbsarbeit dominierten Gesellschaft Eigenarbeit und gesellschaftlich nützliche, aber nicht entgoltene Arbeit geleistet werden. Die Entscheidung über Struktur und Umfang wird hier freilich nicht durch einen, im System von Ulrich offensichtlich unverzichtbaren benevolenten Diktator gefällt, sondern durch das Individuum, das mit der Entscheidung über die Verwendung seiner Zeit gleichzeitig eine Abwägung trifft zwischen dem Nutzen des Entgelts aus der Erwerbsarbeit und demjenigen Nutzen, der aus der Eigenarbeit bzw. aus der daraus resultierenden gesellschaftlichen Anerkennung resultiert.

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Da die individuelle Entscheidung aufgrund der durch die Marktrationalität gegebenen Prämissen von Ulrich freilich nicht akzeptiert wird, fallt auch die im zweiten Schritt vorgenommene Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gerechtigkeit anders aus, als dies von ordoliberal gesinnten Ökonomen oder Vertretern des politischen Liberalismus zu erwarten wäre. Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil sich der Verfasser in seiner Argumentation ausdrücklich auf das liberale Prinzip stützt (S. 19). Er interpretiert dieses freilich nicht im Sinne von Freiheit und Gleichberechtigung durch den Markt, sondern als Freiheit und Gleichberechtigung vor dem Markt. Während Adam Smith (1974, 17) das Eigeninteresse der Produzenten als treibende Kraft bei der Bereitstellung von Gütern betrachtet, dessen Verfolgung lediglich den ungehinderten Zugang zu den Ressourcen am Arbeits- und Gütermarkt erfordert (auch Skinner 1973), interpretiert Ulrich - deutlich weiter gehend als der schottische Moralphilosoph - in diesen Anspruch auch das Recht auf eine Betätigung, die nicht darauf achtet, ob das Ergebnis menschlicher Anstrengungen für andere von Nutzen ist, was sich aus dem Marktprinzip freilich unmittelbar ergibt. Vielmehr genügt in Ulrichs Konzept die Feststellung eines Einzelnen oder einer Gruppe, daß Arbeit sinnvoll ist, ohne daß jene Entscheidungsträger, die über den Ressourcenverzehr entscheiden, im Gegenzug selbst eine Gegenleistung von allgemeinem Nutzen erbringen müßten, wie das beim Tausch stets der Fall ist. Folgerichtig muß Ulrich aus diesem sehr weit gefaßten Recht auch weitreichende Ansprüche der einzelnen Leistungserbringer an die Gesellschaft ableiten. Unter Berufung auf das Gerechtigkeitskonzept von Walzer (1992) sieht Ulrich nicht nur ein Recht auf Erwerbsarbeit als wirksames Instrument zur Realisierung einer gerechten Arbeitsgesellschaft an, sondern auch die Umverteilung des Produktionsergebnisses in Form eines allgemeinen Bürgergeldes, das den Einzelnen seiner Existenzsorgen enthebt und Arbeit und Einkommen entkoppelt (auch Ulrich 1998, 237ff). Dies sei, so wird weiter argumentiert, notwendig, um die immer größer werdende Zahl von Verlierern des intensiver werdenden Wettbewerbs zu kompensieren. Dabei übersieht Ulrich, daß der Marktmechanismus mehr Machtpositionen zerstört als aufbaut und von daher tendenziell eher gerechter ist als jeder andere Verteilungsmechanismus, wenn man Gerechtigkeit nicht als Gleichheit im Ergebnis definiert. Von daher muß es wohl als Trugschluß bezeichnet werden, daß eine an der Ergebnisgleichheit orientierte und nicht auf die Anreizmechanismen der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft setzende Politik als gute Ordnungspolitik im ordoliberalen Sinne bezeichnet werden kann. An diese grundsätzlichen Überlegungen schließen sich im folgenden Betrachtungen aus der Sicht verschiedener Interessengruppen am Arbeitsmarkt an, die das Problem der Arbeitslosigkeit aus ihrer eigenen, zum Teil natürlich interessengeleiteten Sichtweise beleuchten. Gaillard (S. 27ff.), der Ausführungen aus Sicht der Arbeitnehmer beisteuert, beschränkt sich dabei ausschließlich auf quantitative Aspekte der Arbeitsmarktproblematik. Arbeitslosigkeit wird, ganz der Tradition gewerkschaftlicher Argumentationsmuster folgend, als Folge verfehlter Wirtschaftspolitik klassifiziert. Nicht die Politik der Liberalisierung und Deregulierung der Märkte, wie sie in der von Gaillard so bezeichneten „ultraliberalen Wende" (S.32), der er neben der Arbeitslosigkeit auch den Lohndruck und die Finanzierungsschwierigkeiten der Sozialversicherungen zuschreibt, sondern

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eine richtig angewandte keynesianische Wirtschaftspolitik, in deren Zentrum er die Bereitstellung von Arbeitsplätzen auch jenseits von ökonomischen Rationalitätserwägungen stellt, kann nach Auffassung des Autors die Arbeitsmarktproblematik nicht nur in der Schweiz lösen. Wenig überraschend vertritt Daniel Hefti, Sekretär des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, genau die gegenteilige Position, wobei er sich insbesondere gegen eine zwangsweise Verteilung von Arbeit durch eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit wendet. Damit vertritt er eine Position, die sich konsequent gegen jene Ulrichs im gleichen Band wendet, die jedoch sowohl angebots- als auch nachfrageseitig begründet werden kann. Mit Blick auf die Reaktion der Arbeitsnachfrage wird darauf verwiesen, daß diese Strategie nicht nur ökonomisch problematisch, weil kostentreibend sei, sondern darüber hinaus als Rationierungsstrategie zur Verteilung von (Arbeitsplatz-) Mangel klassifiziert werden muß, also eher zur Kaschierung als zur Lösung des zugrundeliegenden ökonomischen Problems taugt. Hinzu kommt, daß die Arbeitsanbieter die beschäftigungspolitische Option Arbeitszeitverkürzung dadurch konterkarieren können, daß sie die frei werdenden Teile ihrer Arbeitskraft anderweitig anbieten, mitunter sogar auf dem Schwarzmarkt.1 Konsequenterweise vertritt Hefti vor diesem Erkenntnishintergrund eine Politik der Arbeitsmarktflexibilisierung, die seiner Einschätzung nach dazu führt, daß ein Umfeld reaktiviert werden kann, „in dem sich das eigenständige Wirtschaften und die Übernahme der Rolle des Arbeitgebers auch in Zukunft lohnen" (S. 50). Soziale Grundbedürfnisse aber, die sich nicht von jedermann über den liberalisierten Markt befriedigen lassen, werden - ganz in der Denktradition der Sozialen Marktwirtschaft - der subsidiären Fürsorge des Staates anheimgestellt. Einen Eingriff in das Marktgeschehen selbst rechtfertigen sie freilich nicht. Durchaus in diesem Sinne argumentiert auch Monika Stocker, die auf die sozialintegrierende Rolle von Arbeit verweist und aus diesem Grund für einen subsidiären zweiten Arbeitsmarkt für diejenigen plädiert, „die nicht direkt in den Arbeitsmarkt integriert werden können" (S. 59), wie ihn die Stadt Zürich organisiert. Dabei wird nicht, wie in dieser Diskussion nicht unüblich, auf die dauerhafte Verwahrung von Arbeitslosen, sondern auf deren alsbaldige Reintegration abgestellt, die - so wird argumentiert - ohne diese Hilfe vielen der Betroffenen verwehrt bliebe. Dies wird jedoch, so der einhellige Tenor aller Beiträge in diesem Sammelband, aus verschiedenen Gründen als gesellschaftspolitisch inakzeptabel klassifiziert, weswegen sich die letzten drei Beiträge noch einmal intensiv mit dem normativen Aspekt der Arbeits(markt)politik auseinandersetzen. So fordert Maak, der Arbeitspolitik aus der Sicht der Bürgergesellschaft beleuchtet, nicht nur ein Recht auf Arbeit ein, sondern auch ein Recht auf Anerkennung der Arbeit. Anders als die vorangegangenen Beiträge thematisiert Maak jedoch die Methode der Umsetzung einer solchen Vision. Insbesondere lehnt er hier jede Form von umverteilendem Zwang ab, da auf diese Weise, was an der Vision der Bürgergesellschaft von Beck (1999) kritisiert wird, Bürgerarbeit in der gleichen Form organisiert würde wie Erwerbsarbeit, und der angestrebte Wandel von der Fremdzur Selbstbestimmung nicht erreicht werden kann (S. 92). Somit verbleibt, so Maak, nur 1 Zu diesem Problemkreis siehe auch Schneider und Enste (2000, 105ff.).

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die Hoffnung auf einen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft, der schließlich zu einer freiwilligen Aufteilung jedweder Form von Arbeit zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft führt. Diese Vorstellung, so kann konstatiert werden, läßt sich durchaus mit den im Eingangsartikel des vorliegenden Sammelbandes als Referenzrahmen verwendeten ordoliberalen Gedankengut in Einklang bringen, bedeutet aber letztlich eben nichts anderes, als die präferenzgerechte Verteilung der individuell verfugbaren Zeit auf verschiedene Tätigkeiten nach dem Opportunitätskostenprinzip, eine Verteilung, die letztlich dann am besten realisiert werden kann, wenn die Freiheit des Einzelnen auch am Arbeitsmarkt durchgesetzt werden kann. Insofern versöhnt dieser Beitrag die Idee der gerecht organisierten Arbeitsgesellschaft (Ulrich, S. 19) ein Stück weit mit den Prinzipien der marktwirtschaftlich organisierten, ordoliberalen Gesellschaft und relativiert so manche Festlegung, die im Vorfeld einseitig zugunsten von sogenannten „gesellschaftlich nützlichen Tätigkeiten" getroffen worden ist. Literatur Beck, Ulrich (1999), Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt und New York. Buchanan, James (1993), Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus, Freiburg i.Br. Schneider, Friedrich und Dominik Enste (2000), Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit, München und Wien. Skinner, Adam (1973), Adam Smith and the role of the state, Glasgow. Smith, Adam (1974), Der Wohlstand der Nationen, München. Ulrich, Peter (1998), Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 2. Auflage, Bern, Stuttgart und Wien. Walzer, M. (1992), Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer fur Pluralität und Gleichheit, Frankfurt am Main und New York.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Mark Oelmann

Zur Deregulierung des Hochschulbildungssystems Anmerkungen zum Buch von Artur Woll „Reform der Hochschulausbildung durch Wettbewerb"* Das Buch „Reform der Hochschulausbildung durch Wettbewerb" stützt sich auf ein Gutachten, das Artur Woll Ende 1999 für die Monopolkommission erstellt hat. Folglich erwartet den Leser hier nicht ein ökonomisches Lehrbuch im Stile der allseits bekannten „Allgemeinen Volkswirtschaftslehre". Es handelt sich um einen flüssig geschriebenen Text, der auch dem ökonomisch nur bedingt gebildeten Leser eindrücklich verdeutlicht, wo der Handlungsbedarf fur die deutsche Hochschulpolitik besteht. In der Regel findet sich in den Fußnoten hilfreiche weiterfuhrende Literatur, von der ausgehend sich auch die theoretischeren Zusammenhänge erschließen lassen. Institutionelle Details geben einen Eindruck von der enormen Regulierungsdichte. Neben Kernpunkten des Hochschulrahmengesetzes weist Woll nach, welche schleichende Zentralisierung bereits vor dessen Erlaß im Jahre 1976 festzustellen war. In einem ersten Schritt soll die insgesamt sehr stichhaltige Argumentation Artur Wölls nachgezeichnet werden. Einzig dessen Überlegungen zum inneruniversitären Reformbedarf werden in der kritischen Analyse noch einmal aufgegriffen. Daran anschließend wird dessen These von der zunehmenden Studierunfahigkeit einer tieferen Beurteilung unterzogen. Den Abschluß bildet ein knapper Verweis auf die Entwicklungen im Weiterbildungsbereich. Die Beschäftigung mit diesem Feld schließt Artur Woll in seiner Einleitung zwar explizit aus, dennoch soll die folgende These knapp umrissen werden. So sind nicht nur von privaten Hochschulen oder von Dependenzen ausländischer renommierter Universitäten Signalwirkungen auf die Gestaltung des deutschen Hochschulbildungssystems zu erwarten (S. 30f.). Angesichts der Entwicklungen in den USA, wo derzeit die Märkte der qualifizierten Weiterbildung umkämpft werden, wird zunehmend auch für deutsche Universitäten ein Zwang zur eigenen Positionierung im Markt der Weiterbildung bestehen. Die heutigen Probleme im Bereich der Hochschulausbildung sind das Resultat zweier Entwicklungen. Erstens ist die Nachfrage stark angestiegen. Gegenüber 1950 hat sich die Zahl der Studienanfänger verzehnfacht. Die Zahl eingeschriebener Studenten verdoppelte sich zwischen 1975 und 1995. Auf diesen Nachfrageschub reagierte zweitens die Politik nur unzureichend. Das zur Verfügung stehende Lehrpersonal blieb quantitativ nahezu unverändert. Ferner antwortete die Regierung - wie es „für die Behandlung von Problemen in einem öffentlichen Sektor typisch ist" (S. 10) - mit Dekreten. Dem *

Artur Woll, Reform der Hochschulausbildung durch Wettbewerb, Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht, Band 10, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2001, 97 Seiten.

436 · MarkOelmann punktuellen, orientierungslosen hochschulpolitischen Aktionismus der vergangenen Jahrzehnte setzt Artur Woll den Wettbewerb als übergeordnete Leitidee entgegen. Aus dieser leitet er dann die konkreten Reformelemente ab. Er untergliedert diese unter den Kapitelüberschriften „Verstärkung des Wettbewerbs zwischen den Bundesländern", „Finanzielle Anreize für Wettbewerb" und „Wettbewerb durch Deregulierungen". Die spätere kritische Auseinandersetzung mit einer seiner Forderungen legt nahe, die einzelnen Vorschläge unter den Rubriken „Herstellung verstärkten Wettbewerbs auf der Angebotsseite" und „Herstellung verstärkten Wettbewerbs auf der Nachfrageseite" zu subsumieren. Damit sich im Sinne eines Wettbewerbs der Systeme ein „unvorhersagbarefr] Pool von Alternativregelungen" (S. 39) einstellt, ist eine möglichst vollständige Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes zu fordern. Die bundesweite Koordination von Studienund Prüfungsordnungen ist sowohl für die etablierten als auch fur die neuen Abschlüsse wie Master oder Bachelor abzuschaffen. Damit wäre eine erste Voraussetzung für eine verstärkte Ausdifferenzierung des Angebots gegeben. Die zweite und dritte leiten sich ebenso unmittelbar aus dem Hochschulrahmengesetz ab. Würde es abgeschafft, so folgte daraus, daß die restriktiven Auflagen, denen derzeit private Hochschulen unterliegen, fielen. Im Bestreben, Rahmenbedingungen für einen sich verstärkenden Wettbewerb auf der Bildungsanbieterseite zu begründen, wäre diese Maßnahme zu begrüßen. Das Stiftungsrecht und das Steuerrecht wären dergestalt zu reformieren, daß das Einwerben von Spenden leichter möglich wird. Woll stellt in einer dritten Forderung die Notwendigkeit heraus, daß Hochschulen sich ihre Studenten selber aussuchen dürfen müssen, denn: „Eine Hochschule kann nur so gut sein wie ihre akademischen Lehrer und Schüler" (S. 60). Eine automatische Zulassung aufgrund erlangter Hochschulzugangsberechtigung würde ebenso obsolet wie eine Verteilung der Studenten über eine Institution wie die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS). Eine vierte Forderung zur Verbesserung des Wettbewerbs auf der Anbieterseite betrifft die interne Organisation, unter die hier auch das Besoldungs- und Dienstrecht gefaßt wird. Wie eingangs angesprochen, besteht in diesem Punkt wohl der größte Dissens. Auf ihn wird im Anschluß an die inhaltliche Darstellung der Forderungen Wölls eingegangen. Überlegungen zu Maßnahmen zur Verstärkung des Wettbewerbs auf der Nachfrageseite klangen bereits in der dritten Forderung an. Wenn den Hochschulen das Recht zur individuellen Auswahl ihrer Studenten eingeräumt würde, so stünden diese Bildungsnachfrager auf eben der Nachfrageseite miteinander in Konkurrenz. Gleichwohl scheint eine solche Maßnahme aus den folgenden Gründen gliederungstechnisch auf der Angebotsseite besser eingeordnet. Zum einen ergäbe sich diese Forderung unmittelbar aus einer Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes, und zum anderen würde die Zusammensetzung der Studenten natürlich das Profil und längerfristig die Reputation der Hochschule wesentlich prägen. Folglich findet sich als Forderung fur einen sich verstärkenden Wettbewerb auf der Nachfrageseite nur die nach Studiengebühren. Für Woll hat diese Maßnahme eine „kaum zu überschätzende Bedeutung" (S. 49). Neben dem wegen des Studiums entgangenen Einkommen wären zusätzlich direkte Kosten zu tragen. Es ist zu erwarten, daß wirtschaftliche Überlegungen ganz anders Einfluß darauf nähmen, ob überhaupt ein Studium aufgenommen wird, welches Studienfach gewählt wird und

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wie effizient die Zeit an der Hochschule dann genutzt wird. Die gewollte engere Verflechtung von Bildungssystem und Arbeitsmarkt wäre hergestellt. Natürlich beschäftigt sich Woll auch mit möglichen negativen Auswirkungen von Studiengebühren. Diese sind aber nach allgemeinem Konsens (z.B. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1998, Zf. 447) dadurch auszuräumen, daß Studiengebühren in ein System von Stipendien, Studienkrediten und sozialpolitischer Abfederung einzubetten wären. Wie Artur Woll ausführt, wäre eine solche Lösung nicht nur unter distributiven Gesichtspunkten gerechter, sondern sie würde sich zudem durch größere allokative Effizienz auszeichnen. Es wird deutlich, daß die oben angeführten Forderungen zur Verbesserung des Wettbewerbs auf der Bildungsanbieterseite zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend sind. Erst wenn die Hochschulen zu einem wesentlichen Teil von Studiengebühren als Einnahmequelle abhängig sind, werden sie ihr Angebot der Nachfrage des Marktes entsprechend ausdifferenzieren. So würde nicht mehr die Bürokratie, sondern die Nachfrage von Studenten über Art und Inhalt des Studienangebots entscheiden (S. 44). Die Interdependenz der verschiedenen Maßnahmen wurde bereits in deren Darstellung deutlich. Ähnlich wie die Euckenschsa konstituierenden Prinzipien eine funktionsfähige Wettbewerbsordnung nur in ihrer Gesamtheit begründen, so sind auch die Forderungen Wölls aufeinander abgestimmt und sollten möglichst zusammen verwirklicht werden (S. 71). Es bleibt in diesem Zusammenhang nur zu klären, ob sämtliche Reformvorschläge auch weit genug greifen. Wie angedeutet ist die letzte Forderung zur Verbesserung des Wettbewerbs auf der Angebotsseite diskussionswürdig. Artur Woll fordert hier eine Rückkehr zu mehr Länderkompetenz und zu einer stärkeren Orientierung an der Lehre im Besoldungs- und Dienstrecht der Hochschullehrer. Beide Punkte sind prinzipiell unstrittig. Ist aber die Einführung einer leistungsbezogenen Gehaltskomponente erwünscht, so hat sich unmittelbar die Frage anzuschließen, wer denn für die Bestimmung der konkreten Höhe im Einzelfall zuständig sein soll. An dieser Stelle bemerkt Woll schlicht, daß er Bedenken gegen das Verfahren einer Zulagengewährung durch Hochschulleitungen habe (S. 47). Der Verweis auf auftretende Verteilungskonflikte ist wichtig, aber ohne sich mit Fragen der Lösung weitergehend auseinanderzusetzen, geschieht dreierlei. Das Kolleggeldsystem - prinzipiell eine gute Idee - soll nach Woll (S. 46) erstens wieder eingeführt werden. Wie aber eine individuelle Lehrleistung ohne an der Hochschule etablierte Entscheidungsgremien sich konkret gestalten könnte, bleibt vage. Es drängt sich fast der Eindruck auf, als ob Artur Woll zweitens aufgrund obiger Skepsis die Alterszulage im Besoldungsrecht als tragende Komponente eines Systems leistungsabhängiger Bezahlung verteidigt (S. 47f.). Es mag richtig sein, daß sich Humankapital mit der Zeit herausbildet und weiterentwickelt, aber der Kern einer leistungsabhängigen Bezahlung soll ja darin bestehen, Anreize zu noch weitergehendem Engagement zu implizieren. Noch diskussionswürdiger erscheint seine dritte Folgerung. Aufgrund der Gefahr von Verteilungskonflikten werden en passant auch Globalbudgets (staatliche Finanzzuweisungen ohne Zweckbindung) für prinzipiell ungeeignet erklärt. Ist es denn aber vermeidbar, eine weitgehende Autonomie für die Mittelverwendung durch Hochschulen zu fordern? Gibt es eine Alternative zu der Errichtung eines inneruniversitären Gremiums, das bei

438 · MarkOelmann der Zuweisung der knappen Mittel individuelle Privilegien in Frage stellt und qua Macht Entscheidungen auch über die Köpfe einzelner fällt? Ich denke nicht. Von herausragender Bedeutung für das mittelfristige Ziel einer autonomen, effizienten Verwendung eines Globalbudgets ist die Abkehr von der althergebrachten kameralistischen Buchführung (Foders 2001, 48f.). Auch wenn mit vielfältigen Detailproblemen belastet, ist die Abkehr von einer outputorientierten hin zu einer inputorientierten Unternehmensrechnung Vorbedingung dafür, daß auch die Lockerung verschiedenster haushaltsrechtlicher Regeln und im Anschluß eine weitgehende Einführung von Globalbudgets Sinn machen {Monopolkommission 2000, 55ff.). Wird folglich eine effiziente Mittelverwendung über die Schaffung von mehr Leistungsanreizen angestrebt, sind die Rahmenbedingungen für einen möglichst weitgehenden inneruniversitären Wettbewerb zu begründen. Mit diesen Erweiterungen wäre das aufeinander abgestimmte „Bündel von Maßnahmen" (S. 71) komplett. Durch einen solchen institutionalisierten Wettbewerb auf unterschiedlichen Ebenen der Bildungsangebotsseite und der Bildungsnachfrageseite würde die Hochschulausbildung grundlegend reformiert oder - wie Woll es an anderer Stelle (S. 21) ordnungstheoretisch ebenso stringent ausdrückt - Bildungssystem und Beschäftigungssystem wären gleich verfaßt. Nach Darstellung der Argumentationsführung und der kritischen Auseinandersetzung mit zumindest einer der erhobenen Forderungen soll nun ein zweiter, unscheinbar wirkender Sachverhalt etwas näher analysiert werden. Es geht um die These einer zunehmenden Studierunfahigkeit. Artur Woll ist der Ansicht, es sei doch - unter anderem durch die alltäglichen Erfahrungen von Hochschullehrern - hinreichend gesichert, daß viele Studenten mit einem Studium überfordert wären (S. 25, auch S. 61). Es ist unstrittig, daß die Zahl der Studienabbrecher zugenommen hat und daß dieser Anstieg auch darin begründet liegen mag, daß der durchschnittliche Student heute geringer qualifiziert ist als vor 30 Jahren. Dieser Zusammenhang aber ergäbe sich aufgrund weiter oben genannter Zahlen selbst dann, wenn keine Verschlechterung der Schulausbildung unterstellt würde. Da erwartet werden kann, daß die Qualifiziertesten eines Jahrgangs sich zur Aufnahme eines Studiums entschließen werden, wird der Durchschnitt des Fähigkeitsniveaus bei einem 3%-Anteil höher liegen als bei einer Quote von 30%. Insofern wäre an dieser Stelle zweierlei wünschenswert gewesen: Neben dem schlichten Nennen einer Studie aus dem Jahre 1984 wäre eine Auseinandersetzung mit aktuelleren Erhebungen (z.B. Gundlach, Wößmann und Gmelin 2000; OECD 2001) und gegebenenfalls Verweise auf Literatur zu Fragen der Reform der Schulausbildung (z.B. Wößmann 2000; Weise 2000) zu erwarten gewesen. Zudem ist es vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktentwicklung - geringe Arbeitslosenquoten bei höher Qualifizierten, steigende bei gering Qualifizierten - fraglich, ob dieser 30%-Anteil von heute tatsächlich an den Maßstäben von vor 30 Jahren zu messen ist. Im Zuge strukturellen und technologischen Wandels ist auch weiterhin von einer zunehmenden Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitnehmern auszugehen (Foders 2001, 73f.). Vor diesem Hintergrund ist die implizite Aufforderung der OECD (2001) zu sehen, Schulabgänger verstärkt zur Aufnahme eines Studiums zu motivieren und nicht diese davon abzuschrekken. Gegenüber einem Durchschnitt von 25% in allen OECD-Ländem liegt der Anteil der Bevölkerung mit einem Hochschulabschluß in Deutschland nur bei rund 16%. Die

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anzusetzenden Anforderungen auf den einzelnen Ebenen der Hochschulausbildung sollten Gegenstand umfangreicher Diskussion sein. Ein verstärkter Ausbau von weniger theoretisch unterrichtenden Fachhochschulen ist eine Lösung; eine andere besteht in der Etablierung kürzerer Studiengänge. So könnte der Grad eines Bachelor als ein erster Abschluß etabliert werden. Zu Recht bemerkt Woll, daß in den USA der Bachelor zwar erst nach vier Jahren verliehen werde, dieser aber im Vergleich zum deutschen Studiensystem nur eine Verbindung aus gymnasialer Oberstufe und akademischer Grundstufe darstelle (S. 27). Eine Regelstudienzeit von zwei Jahren ließe sich auch im Zusammenhang mit einer wünschenswerten besseren internationalen Vergleichbarkeit ableiten. Mit der Festlegung einer Regelstudienzeit von mindestens drei und höchstens vier Jahren zur Erlangung eines Bachelor scheint über das Ziel hinausgeschossen worden zu sein. Es ist nicht überraschend, daß sich mit der Novelle des Hochschulrahmengesetzes (1998) für Hochschulen die Möglichkeit eröffnet, Master- und Bachelorstudiengänge anzubieten. Im Zuge der Globalisierung nimmt die Mobilität von Arbeit und Kapital stark zu. Damit kommt der Vergleichbarkeit der Abschlüsse heute eine andere Bedeutung zu. Darüber hinaus wachsen nicht nur die Märkte für Sachkapital, sondern auch die für Humankapital zusammen. So ist zu begründen, weswegen deutsche Universitäten über international bekannte Abschlüsse ausländische Studenten attrahieren wollen oder weswegen ausländische Hochschulen in Deutschland „Filialen" (S. 30) eröffnen. Hervorhebenswert scheint eine weitere Entwicklung. Die neueren technischen Möglichkeiten ermöglichen es nun, daß Bildungsinhalte orts- und zeitungebunden angeboten werden. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Erstausbildung in der Zukunft zu einem wesentlichen Teil von virtuellen Universitäten bereitgestellt wird. Durchaus denkbar aber mag es sein, daß Elemente der Weiterbildung verstärkt online angeboten und nachgefragt werden. Im Zusammenhang einer sich verkürzenden Halbwertszeit des Wissens und des demographischen Wandels erscheinen Diagnose und bildungspolitische Handlungsvorschläge von Foders (2001, 39ff.; Foders 2000) nachvollziehbar. Ein sich rapide änderndes Arbeitsumfeld fordert eine Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Die aktive Lernzeit sollte mehrere Lernphasen umfassen, die gleichmäßig auf das Arbeitsleben zu verteilen wären. Damit verlöre die rein Stoff vermittelnde Erstausbildung an Relevanz, das kontinuierliche Auffrischen gewänne. Vor diesem Hintergrund, den Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie, der Verminderung der Halbwertszeit des Wissens und der Alterung der Gesellschaft in vielen Industriestaaten, ist ein Blick in die USA interessant. Beispielhaft sei angeführt, daß sich im sogenannten Internet2-Projekt (s. hierzu die Internetseite http://www.ucaid.edu) über 180 Universitäten mit Behörden und der Industrie zusammengeschlossen haben, um die Nutzungsmöglichkeiten des Internets für den Bildungsbereich fortzuentwickeln. Die These soll aufgestellt werden, daß der Weiterbildungsmarkt eine solche Relevanz bekommt, daß auch deutsche Hochschulen verstärkt Angebote anbieten werden. Dies könnte einen weit stärkeren Druck auf die Verfaßtheit des deutschen Hochschulbildungssystems ausüben, als dies von der Gründung von einigen privaten Universitäten zu erwarten ist. Möglicherweise wird in zehn Jahren über die

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derzeitige Hochschulorganisation in ähnlicher Art und Weise geschmunzelt, wie wir es heute über die Organisation der Telekommunikationsbranche der 80er Jahre tun.

Literatur Foders, Federico (2000), Demographie und Bildung: Gehen uns die Qualifizierten aus? Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf das deutsche Bildungssystem, Institut für Weltwirtschaft, Kieler Arbeitspapier Nr. 1003, Kiel. Foders, Federico (2001), Bildungspolitik für den Standort D, Kieler Studien, Band 311, Berlin und Heidelberg (im Druck). Gundlach, Erich, Ludger Wößmann and Jens Gmelin (2000), The Decline of Schooling Productivity in OECD Countries, Kiel Institute of World Economics, Kiel Working Paper No. 926, Kiel. Monopolkommission (2000), Wettbewerb als Leitbild für die Hochschulpolitik, Sondergutachten Nr. 30, Baden-Baden. Organization for Economic Co-Operation and Development (2001), Education at a Glance: OECD Indicators 2001, Paris. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1998), Vor weitreichenden Entscheidungen, Jahresgutachten 1998/99, Stuttgart. Weise, Christian (2000), Globalisierung, Wettbewerb und Bildungspolitik, DIW Diskussionspapiere, Nr. 209, Berlin. Wößmann, Ludger (2000), Institutions of the Education System and Student Performance: The International Evidence, Kiel Institute of World Economics, Kiel Working Paper No. 983, Kiel.

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Kurzbesprechungen

Reinhold Biskup (Hrsg.), Dimensionen Europas, Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Band 68, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 1998,394 Seiten. Die Frage nach den Dimensionen Europas - und damit implizit auch die Frage nach den Grenzen Europas - ist ein altes Thema. Es ist aber immer noch aktuell, wie das irische Nein zum Vertrag von Nizza und die darauf folgenden Beschwichtigungsversuche europäischer Politiker zeigen. Welche der Dimensionen Europas wurde in Irland letztlich abgelehnt? Geographisch gesehen die Erweiterung und die damit einhergehende Verringerung der europäischen Transfers, wirtschaftlich gesehen die zunehmende Zentralisierung oder die Kritik an der eigentlich äußerst erfolgreichen irischen Wirtschaftspolitik, sie sei zu expansiv, politisch gesehen die Bürgerfeme - oder waren es doch nur innenpolitische Gründe, die das irische Nein bestimmten? Der Frage nach den Dimensionen Europas, insbesondere aber den wirtschaftspolitischen Implikationen dieser Dimensionen, ist auch der vom Leipziger Wirtschaftsprofessor Reinhold Biskup herausgegebene Sammelband gewidmet, der die Beiträge des VIH. Zermatter Symposions enthält. Die Schweiz mit ihrer ambivalenten Haltung zum europäischen Integrationsprozeß ist wohl ein geeigneter Ort, um über die Probleme dieses Integrationsprozesses nachzudenken. Nach einer Einleitung, von Biskup, der die verschiedenen Dimensionen Europas einzeln und in ihrem Zusammenhang betrachtet, befassen sich die in Qualität und Länge sehr unterschiedlichen Beiträge teilweise mit dem Verlauf der europäischen Integration {Franz Schoser), teilweise mit einzelnen Dimensionen, etwa der Konvergenz der Regionen in Europa {Wolf Schäfer) oder dem Handwerk in der Europäischen Union (EU) {Hanns-Eberhard Schleyer) oder den Beziehungen der EU zu den USA {Manfred Knapp) und zu Osteuropa {Janusz Reiter). Die interessantesten Beiträge diskutieren die Entwicklung der europäischen Integration ausgehend von den Integrationsstrategien und ihren Auswirkungen insbesondere auf die wirtschaftliche Entwicklung der EU. Dabei gibt es eine große Gemeinsamkeit in den Beiträgen, nämlich daß die von Herrmann Lübbe in seinem Beitrag näher untersuchten drei Ursprünge der europäischen Gemeinsamkeiten im christlich-abendländischen Kulturkreis, in der griechischen philosophischen und wissenschaftlichen Tradition und im römischen Recht zu finden sind. Diese Gemeinsamkeiten dürften aber nicht als Erfolgsgaranten der wirtschaftlichen Integration, der Zentralisierung von Entscheidungen und der Europäisierung von Problemen mißverstanden werden, betont der Philosoph Lübbe. Interessanterweise sehen dagegen der Unternehmer Reinhard Mohn und der Ökonom Olav Sievert (letzterer in Bezug auf die Währungsunion) die europäische Integration zumindest zum Teil als Lö-

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sung des Problems einer zunehmenden ethischen Orientierungslosigkeit, die u.a. nationale Verteilungskoalitionen im Sinne Olsons ermögliche. Als Hauptproblem eines europäischen Integrationsprozesses, der die Interdependenz der verschiedenen Dimensionen berücksichtigt, wird die Methode der Integration erkannt, die staatliche Planung an die Stelle marktlicher Prozesse setzt. Joachim Starbatty fordert in seinem Beitrag (wie schon öfters) einen Paradigmenwechsel von der Politik zum Markt. Ähnlich äußert sich Thomas Straubhaar, der ein „Hundertwasserhaus" der europäischen Integration statt des dreisäuligen Modells von Maastricht vorschlägt, um die Forderung nach einem offenen, wettbewerblichen Integrationskonzept zu verdeutlichen. Rolf H. Hasse sieht in seinem Beitrag, der die Asymmetrien in den europäischen Verträgen von Maastricht und Amsterdam untersucht, ein Hauptproblem in der Unfähigkeit der Politik, primär politische Ziele wie die Währungsunion politisch zu verteidigen. Statt dessen wird auf angebliche ökonomische Sachzwänge verwiesen und ein Scheitern einzelner Integrationsprojekte mit dem Scheitern der europäischen Integration insgesamt gleichgesetzt („die Währungsunion eine Sache von Krieg und Frieden"). Wolf Schäfer stellt in seinen clubtheoretisehen Überlegungen zur Sozialpolitik in der EU explizit den Systemwettbewerb, die wettbewerbliche Entwicklung unterschiedlicher institutioneller Systeme, als wegweisende Integrationsstrategie heraus. Die Analyse des europäischen Integrationsprozesses als Wettbewerb von institutionellen Systemen hat in den vergangenen Jahren eine große Aufmerksamkeit erfahren. In den Beiträgen in diesem Sammelband werden allerdings noch keine Vorschläge zur Lösung der Probleme des Systemwettbewerbs gemacht, nämlich zu der Notwendigkeit, eine Wirtschaftsordnung zu finden, die Systemwettbewerb ermöglicht und Wettbewerbsbeschränkungen verhindert. Insofern gleicht der Band „Dimensionen Europas" eher einer Bestandsaufnahme als einem Blick in die Zukunft. Allerdings hat diese Bestandsaufnahme auch nach dem Vertrag von Nizza, auf dem sich praktisch keine Fortschritte im Hinblick auf die institutionelle Vorbereitung der EU auf die Osterweiterung ergeben haben, noch nichts von ihrer Berechtigung verloren. Die klare Formulierung einer Rahmenordnung, d.h. einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, daß eine solche Wettbewerbsordnung überhaupt politisch umgesetzt werden kann. Inzwischen gibt es in der Literatur auch etliche Ansätze für die Schaffung eines Wettbewerbssystems für den horizontalen und vertikalen Systemwettbewerb. In der politischen Realität der EU gibt die gegenseitige Anerkennung von Regulierungen gemäß dem Ursprungslandprinzip in Verbindung mit den vier Grundfreiheiten ebenso Anlaß zur Hoffnung wie weltweit die Welthandelsorganisation als rudimentäres Regelsystem. In der Weiterentwicklung der europäischen Verträge nach Maastricht hat sich dies allerdings kaum niedergeschlagen. Es bleibt zu hoffen, daß die Vorschläge, den Systemwettbewerb in der EU zu stärken, nicht in den Elfenbeintürmen der Universitäten verstauben. Das Zermatter Symposion sowie der daraus hervorgegangene Sammelband „Dimensionen Europas" können dazu beitragen. Bernhard Seliger, Seoul

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Susanne Cassel, Politikberatung und Politikerberatung, Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Band 76, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 2001, 277 Seiten. Mit der Beratung von Politikern durch Ökonomen sind alle Betroffenen unzufrieden. Wissenschaftliche Beratung wendet sich nicht nur an falsche Adressaten, sondern sie versorgt diese auch noch mit den falschen Ratschlägen. Daß institutionelle Defekte dafür verantwortlich sind, ist Teil der Diagnose: Politische Rationalität erlaubt es nicht, wirtschaftspolitischen Entscheidungen isoliert ökonomische Rationalität zugrundezulegen und zwar immer dann, wenn sich Bürgerinteressen und Politikerinteressen nicht entsprechen. Politikberatung ist daher von Politikerberatung zu unterscheiden. Die Autorin macht es sich nicht nur zur Aufgabe, diesen Unterschied konstitutionentheoretisch zu begründen. Zusätzlich sollen Gestaltungsempfehlungen herausgearbeitet werden, die die Anreizstrukturen des politischen Prozesses berücksichtigen. Gesucht wird nach einer Verfassung der ökonomischen Beratung, die im Interesse der Prinzipale liegt. Susanne Cassel führt die inadäquate wissenschaftliche Beratung auf die Orientierung an einem falschen Modell der Wirtschaftspolitik zurück. Sie beginnt ihre Analyse mit den Schwächen der traditionellen Theorie der Wirtschaftspolitik: Auf der Grundlage gewagter Informations- und Lenkungsannahmen agieren Politiker und Berater quasi als Automaten ohne eigene Präferenzen und spezielle Restriktionen. Alle sind wohlwollend. Noch immer entspricht die Beratung diesem dezisionistischen Modell. Ihm wird die konstitutionenökonomische Sicht einer rationalen Wirtschaftspolitik im demokratischen Staat gegenübergestellt: konsensfahig, mit Wissens- und Interessenproblemen konfrontiert. Rentensuchende Interessengruppen sind ebenso zu berücksichtigen wie die Folgen von Prinzipal-Agent-Beziehungen. Auf dieser Basis werden Angebot an und Nachfrage nach wissenschaftlicher Beratung unter Berücksichtigung der konkreten Anreizstrukturen hergeleitet. Die unterschiedliche Ausgestaltung wissenschaftlicher Beratung in Deutschland und den USA wird auf abweichende Rahmenbedingungen zurückgeführt. Konstitutionenökonomische Anforderungen begründen Reformvorschläge für die Institutionalisierung: Politikberatung durch die Wirtschaftsforschungsinstitute, privat finanzierte Institute nach amerikanischem Muster und einen reformierten Sachverständigenrat, Politikerberatung aber durch die wissenschaftlichen Beiräte bei den Ministerien. Susanne Cassel hat nicht nur eine theoretisch konsistent fundierte Arbeit über die institutionellen Grundlagen wissenschaftlicher Beratung vorgelegt, deren Lektüre uneingeschränkt zu empfehlen ist. Darüber hinausgehend gelingt es ihr, die Bedeutung institutioneller Konsistenz sowie die handlungsrelevanten Anreizstrukturen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsfindung und des wissenschaftlichen Beratungsbetriebes offenzulegen. Die irritierende Bedeutungslosigkeit der Ökonomen bei gleichzeitig expandierender Nachfrage nach ökonomischer Expertise ist institutionell bedingt. Dies birgt eine klare Perspektive: Reformen sind möglich, und sie haben Aussicht auf Erfolg. Theresia Theurl, Münster

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Dieter Cassel (Hrsg.), Perspektiven der Systemforschung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 268, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1999,331 Seiten. Der vorliegende Band enthält die Referate, die auf der Jubiläumstagung des Ausschusses für Wirtschaftssysteme des Vereins fur Socialpolitik im September 1998 in Potsdam gehalten wurden. Dort blickte der Ausschuß auf 30 Jahre seiner Arbeit zurück - seiner erfolgreichen Arbeit, wie der Herausgeber Dieter Cassel vermerkt. Gleichzeitig wollte der Ausschuß aber Zukunftsperspektiven der Systemforschung entwickeln und dabei drei Hauptströmungen näher beleuchten, nämlich die traditionelle Ordnungstheorie, die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) und die evolutorische Ökonomik. Im ersten Teil des Bandes stehen die Darstellung und der Vergleich systemtheoretischer Forschungsansätze im Vordergrund. Thomas Eger und Hans G. Nutzinger leiten ein mit einem Vergleich der traditionellen Ordnungstheorie, der Neuen Institutionenökonomik und der evolutorischen Ökonomik. Armin Bohnet und Ivo Bischoff versuchen sich an einer Systematisierung von Koordinationsverfahren. Volker Nienhaus untersucht die Relevanz des lange vernachlässigten Konzepts Wirtschaftsstil für die Erklärung der Systemdynamik und Effizienz in Entwicklungsländern. Philipp Herder-Dorneich diskutiert in einem teilweise sehr persönlich gehaltenen Beitrag Zugänge zur Systemforschung. Neben diese Standortbestimmung im ersten Teil treten im zweiten Teil Studien zur Anwendung systemtheoretischer Ansätze. Theresia Theurl untersucht die Beiträge der traditionellen Ordnungstheorie und der Neuen Institutionenökonomik zur Untersuchung monetärer Ordnungen. Horst Feldmann will die Eignung der Neuen Institutionenökonomik als Instrument der Analyse von Transformationsprozessen nachweisen. Carsten Herrmann-Pillath diskutiert die Handelspolitik aus Sicht der evolutorischen Ökonomik. Stefan Voigt untersucht den Zusammenhang von wirtschaftlichen Freiheitsrechten, Ressourcenverteilung und Wirtschaftswachstum und Hermann Ribhegge diskutiert ein spieltheoretisches Modell zur Verdrängung von Solidargemeinschaften durch staatliche Sozialpolitik. Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven sind in den meisten Beiträgen von den Akzeptanzproblemen geprägt, die einerseits die deutsche Ordnungstheorie hat - wie Voigt in seinem Beitrag festhält - , die aber andererseits wohl auch deutsche Ordnungstheoretiker haben, die sich der amerikanisch geprägten Methoden der NIÖ bedienen. Drei Strategien ergeben sich daraus für die deutschen Ordnungstheoretiker: Eger und Nutzinger - unterstützt von ihrem Korreferenten Alfred Schüller, aber auch von Theurl in ihrem Beitrag - postulieren eine Vereinbarkeit und gegenseitige Ergänzung von traditioneller Ordnungstheorie und NIÖ. Nienhaus in seiner Untersuchung der Bedeutung des Wirtschaftsstils versucht, das aus der , jüngsten historischen Schule" (Schumpeter) stammende Konzept mit den Inhalten der NIÖ zu füllen, d.h. die aus der deutschen ordnungstheoretischen Diskussion entwickelten Konzepte als Teil einer allgemein institutionenökonomischen Theorie zu sehen. Und Feldmann versucht, die NIÖ ohne irgendeinen Rückgriff auf die deutsche Ordnungstheorie als ausreichend für die Analyse der Transformationsstaaten zu sehen, das heißt die deutsche Ordnungstheorie ganz zu vernachlässigen. Dabei wird ihm von seinem Korreferenten Hans-Jürgen Wagener aller-

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dings zu Recht vorgehalten, daß sein Begriff der NIÖ (zum Beispiel anhand der zitierten Autoren) so weit gefaßt ist, daß sich kaum noch ein Unterschied zu anderen Schulen, insbesondere zur neoklassischen Orthodoxie, ausmachen läßt. Das zweite Problem, das über die Unterschiede verschiedener Schulen hinaus ein Kernproblem der institutionentheoretischen und besonders evolutionsökonomischen Arbeiten ist, ist die Spannung zwischen dem neoklassischen „Nirvana-Ansatz" einerseits und dem „panglossianischen" Ansatz andererseits (der postuliert, daß wir in der besten aller Welten lebten). Eucken hat versucht, dieses Problem durch die exogene Setzung eines Datenkranzes zu lösen, ohne die Wichtigkeit dieses Datenkranzes und seiner Interdependenz mit der Wirtschaftsordnung zu übersehen. Die Transaktionskostenanalyse scheint ein Instrument, den Datenkranz ebenfalls zu endogenisieren, wird aber, wie Herrmann-Pillath in seiner Analyse der handelspolitischen Literatur zeigt, nur selektiv angewandt. Allerdings führt die konsequente Fortfuhrung dieses Ansatzes, bei der auch der beobachtende Ökonom nicht mehr allwissend ist, zu einer Relativierung gewohnter Maßstäbe für die Vorteilhaftigkeit institutioneller Arrangements wie etwa Wirtschaftswachstum. Während die meisten institutionentheoretisch arbeitenden Ökonomen den Abschied vom wohlfahrtsmaximierenden, allwissenden und benevolenten Diktator der Wohlfahrtsökonomie neoklassischer und keynesianischer Provenienz begrüßen, ist dieser zweite Schritt weniger akzeptiert, wie die Kritik des Korreferenten Manfred Tietzel an Herrmann-Pillath zeigt. Die Beiträge im Band Perspektiven der Systemforschung zeigen, daß die deutsche Ordnungstheorie das Potential hat, in Verbindung mit NIÖ und evolutionären Ansätzen zu einem besseren Verständnis von Wirtschaftssystemen zu fuhren. Die Entwicklung der Theorien des Systemwettbewerbs und die Einbeziehung kognitiver Modelle in die Wirtschaftssystemforschung sind Beispiele für eine solche erfolgreiche Synthese. Dabei dürfen weder die Beiträge der NIÖ unterschätzt noch die Erkenntnisse der traditionellen Ordnungstheorie vernachlässigt werden. Das neuerwachte Interesse an Wirtschaftsstilen zur Interpretation des Zusammenhangs von Wirtschaft und Kultur und an den früheren wirtschaftssoziologischen Arbeiten sind ein Beispiel für die bleibende Fruchtbarkeit der älteren Ansätze. Ob und wie diese Ansätze allerdings angesichts eines gegebenen Wissenschaftsbetriebs in den „mainstream" der deutschen und internationalen Forschung einfließen können, ist eine Frage, die auch dieser Band offen läßt. Bernhard Seliger, Seoul

Daniel Dietzfelbinger, Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil: Alfred Müller-Armacks Lebenswerk, Chr. Kaiser Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998,336 Seiten. Die von Dietzfelbinger vorgelegte Monographie, aus einer Dissertation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München hervorgegangen, widmet sich den konzeptionellen und normativen Wurzeln der Staats- und Wirtschaftsordnung Deutschlands. Sind interdisziplinäre Arbeiten nur schwerlich im ökonomischen Bereich

446 · Kuizbesprechungen anzutreffen, so erst recht solche, die aus einer theologischen Sicht die Frage einer sinnund werteorientierten Wirtschaftsethik beleuchten, wie dies Dietzfelbinger vornimmt. Um der gestellten Frage näher zu kommen, widmet sich Dietzfelbinger zunächst den divergierenden ökonomischen und gesellschaftlich-ethischen Rationalitäten, deren Diskurs in der Tat als „komplementärer Reflex auf die zunehmende Ökonomisierung der Alltagswelt" (S. 17) verstanden werden kann. Unterschiedliche Rationalitäten, konkretisiert in einer Aufwandsminimalisierung mit dem Ziel der Erreichung maximalen Erfolgs vs. eines maximalen Einsatzes des Subjekts fur den Nächsten bei - möglicherweise minimalen output desselben stehen sich, zumindest in dieser skizzierten Form, kontrastierend gegenüber. Nun, wie ist dieser Rationalitätenkonflikt zu lösen? Dietzfelbinger schlägt mit Rendtorff eine „Durchdringung der einen mit der anderen Disziplin" (S. 25) vor, also ein „Erkennen" des Ethischen im Ökonomischen (und vice versa). Von diesen Überlegungen ausgehend, widmet sich der Autor insbesondere der Stiltheorie und dem Wirtschaftsstil „Soziale Marktwirtschaft". Erste Ansätze der Stiltheorie finden sich in der nationalökonomischen Schule; die Historische Schule prägte den Begriff insofern, als daß sie die wirtschaftliche Entwicklung in kontextualer raumzeitlicher Abhängigkeit sieht, sich also gegen universale Prinzipien ausspricht. Wurzeln für die Stiltheorie Müller-Armacks lassen sich konkret in einer Vielzahl von Ansätzen finden, so insbesondere in Max Webers Begriff des Idealtypus, der die Stildebatte in der Nationalökonomie entfachte, in Werner Sombarts Idee des „Wirtschaftssystems", in Arthur Spiethoffs Definition der Wirtschaftsstile über die Kategorie der Subjektivität oder in Heinrich Bechtels Stilbegriff, der diesen als geistesund auch kunstgeschichtliche Kategorie definiert - eine inhaltliche Zuschreibung, die die spätere Müller-Armacksche stark geprägt hat, die aber in der Nationalökonomie zunächst nur nachrangig beachtet wurde. Mit der Betonung des religiösen Einflusses auf den Wirtschaftsstil steht Müller-Armacks Konzeption einer idealistischen nahe; religiöse Vorstellungen sind, gleichwohl Müller-Armack die inhärenten Schwierigkeiten dieses Ansatzes sieht, nicht einer unter mehreren, sondern (auch aus methodologischen Gründen) der zentrale Einflußfaktor. Eucken sympathisiert mit Müller-Armacks Gedanken eines history matters, daß eine Universalität der wirtschaftlichen Entwicklung nicht gegeben sei. Gleichwohl steht er der Stillehre kritisch gegenüber - seine Kritik bezieht sich nicht nur auf die übermäßige Vereinfachung der gebildeten Stile, sondern vielmehr auf den ad hoc-Charakter der jeweiligen Zuweisung und die unzureichend berücksichtigten Interaktionsmodi der Akteure. Eucken ist zuzustimmen, daß der „Zusammenhang von Geistesgeschichte und Wirtschaftsgeschichte"(S. 103) ein wichtiger ist; hierauf das Augenmerk gelenkt zu haben, ist der Stiltheorie zu verdanken. Gleichwohl ist ihr Beitrag zur Lösung ökonomischer Probleme gering; es handelt sich um eine analytische, hermeneutische Kategorie, die zwar Ökonomen für die Interdependenz gesellschaftlich-geistiger Strömungen und ökonomischen Geschehens sensibiliert hat, nicht aber in der Lage ist, Probleme zu lösen - so das Problem der konfligierenden Rationalitäten, bezüglich deren Integration die Stiltheorie keine Antwort geben kann. Dietzfelbingers Monographie stellt Müller-Armacks Leben, auch bisher weitgehend unerschlossene, aber dennoch prägende Abschnitte umfassend dar; seine Studie er-

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schließt den Begriff der Stiltheorie, die diese bestimmenden Einflüsse und die oftmals unterschätzte Komplexität dieser Kategorie; sie verortet weiter - und hier zeigen sich möglicherweise Parallelen zur gegenwärtigen wirtschaftsethischen Diskussion - das Aufkommen der Stiltheorie im Kontext zusammenbrechender Welt- und Politikdeutungen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, in dessen Kontext geistige Strömungen, Kultur, kristallisierte Vergangenheit offenbar als stabilisierende Momente interpretiert wurden. Dies ist ein großes Verdienst, ebenso die Skizzierung des theologisch-ökonomischen Diskurses. Die Kritik richtet sich daher weniger an das Werk selbst, sondern an den Beitrag, den die Stildiskussion leisten kann - welchen Wert besitzt sie, um die auch vom Autor - eingangs aufgeworfene Frage nach einer Harmonisierung unterschiedlicher Rationalitäten zu beantworten? Cornelia Storz, Marburg

Lars P. Feld, Steuerwettbewerb und seine Auswirkungen auf Allokation und Distribution: Ein Überblick und eine empirische Analyse für die Schweiz, Beiträge zur Finanzwissenschaft, Band 10, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2000,465 Seiten. Der Steuerwettbewerb in der Europäischen Union gilt ob der befürchteten negativen Wirkungen in weiten Teilen von Gesellschaft und Politik als rasch zu beseitigender Mißstand. Wer möchte nicht jenen Ländern, die sich gegen eine europaweite Steuerharmonisierung aussprechen, unredliche Motive unterstellen? Es wird befürchtet, „Dumping" bei der Besteuerung mobiler Individuen und mobilen Kapitals könne zum Ende dezentraler Umverteilungspolitik führen. Die positiven Wirkungen eines Steuerwettbewerbs, wie eine höhere Übereinstimmung von Bürgerpräferenzen und öffentlichen Leistungen oder eine wirksamere Kontrolle eigennütziger Politiker, werden von den Befürwortern der Steuerharmonisierung (meist) ignoriert. Lars P. Feld stellt sich mit seinem Buch pragmatisch zwischen diese Fronten und konstatiert, „wenn Steuerwettbewerb zwischen Gebietskörperschaften zu negativen Auswirkungen führt, dann sollte dies in der kleinräumigen Schweiz feststellbar sein". Er reiht sich damit in eine Tradition von Autoren ein, die fiskalischen Wettbewerb anhand der Schweiz untersuchen, eines Landes, dessen dezentrale Finanzverfassung mit ihren weitreichenden föderalistischen Spielräumen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite die Voraussetzung für diesen Wettbewerb auf vorbildliche Weise verkörpert. Im ersten Teil des Buches wird zunächst ein umfassender Überblick über die theoretische und empirische Literatur zum Steuerwettbewerb sowie die Finanzverfassimg der Schweiz gegeben. Die Auswertung der empirischen Studien ergibt eine klare Dominanz der empirischen Literatur zur Überprüfung der Frage, ob niedrigere Steuern bzw. höhere öffentliche Leistungen mobile Faktoren attrahieren (Mobilitätsthese). Dagegen werden die Fragen nach einer durch fiskalischen Wettbewerb induzierten Übereinstimmung von öffentlichen Leistungen und Bürgerpräferenzen (Effizienzthese) und der Unmöglichkeit staatlicher Umverteilung (Umverteilungsthese) in der empirischen Literatur eher stiefmütterlich behandelt.

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Die als mager konstatierte empirische Evidenz bezüglich der Effizienz- und Umverteilungsthese sowie die Tatsache, daß der überwiegende Teil der Studien mit US-amerikanischen Daten durchgeführt wird, veranlassen Lars P. Feld dazu, im zweiten Teil des Buches eigene Schätzungen für die Schweiz durchzuführen. Er weist zwar auf den hohen Bedarf an empirischen Untersuchungen zur Besteuerung juristischer Personen hin, konzentriert sich jedoch selbst aufgrund von Datenproblemen auf die Besteuerung natürlicher Personen. Zunächst wird im Rahmen einer Wanderungsanalyse die Mobilitätsthese für die Schweiz untersucht. Die Ergebnisse bestätigen zwar, im Unterschied zu früheren Untersuchungen, grundsätzlich diese These, vermögen jedoch aufgrund mangelnder Robustheit nicht zu überzeugen. Zur besseren Bestätigung der Mobilitätsthese wird nun, aufbauend auf der Überlegung, die Schweiz könne sich in einer Situation befinden, in der die Bevölkerung aufgrund bereits erfolgter Wanderungen homogen verteilt ist, ein mikroökonometrisches (Logit-)Modell entwickelt. Die hierdurch gewonnenen Ergebnisse bestätigen die Mobilitätsthese recht gut und deuten insbesondere auf den negativen Einfluß der Steuerbelastung hoher Einkommen auf die Niederlassungswahrscheinlichkeit der Bezieher hoher Einkommen hin. Allerdings scheint die Steuerbelastung nicht vollständig durch öffentliche Leistungen kompensiert zu werden und eine Umverteilung von Beziehern hoher zu Beziehern niedriger Einkommen durchaus stattzufinden. Die Ergebnisse werden somit als Einschränkung der Effizienzthese und Widerlegung der Umverteilungsthese interpretiert. Die Umverteilungsthese wird noch zusätzlich auf Basis einer Inzidenzanalyse des staatlichen Budgets für verschiedene Jahre untersucht. Wiederum zeigt sich, daß Steuerwettbewerb nicht zum Zusammenbruch des Umverteilungsstaates führt, sondern vielmehr die staatliche Umverteilung von Einkommen im betrachteten Zeitraum auf allen Ebenen ausgeweitet worden ist. Das vorliegende Buch leistet in mehrfacher Hinsicht einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen und politischen Diskussion um das Phänomen Steuerwettbewerb. Zunächst bietet es einen gut lesbaren und reichhaltigen Überblick über die bestehenden Modelle fiskalischen Wettbewerbs sowie die entsprechenden empirischen Studien. Ferner wird ein Stück weit jenes Ungleichgewicht verringert, welches zwischen theoretischen und empirischen Analysen des Steuerwettbewerbs außerhalb der amerikanischen Literatur besteht. Gerade für die politische Diskussion sind Hinweise auf die theoretische Bedenken zerstreuende empirische Evidenz oft sehr wirkungsvoll. Das Buch kann als Plädoyer für einen Steuerwettbewerb auf europäischer Ebene verstanden werden und vermag mit seiner empirischen Widerlegung der Umverteilungsthese für die Schweiz sicherlich eines der Hauptargumente der Wettbewerbsgegner zu entkräften. Die Tatsache, daß bessere Kontrollmöglichkeiten des Leviathans durch fiskalischen Wettbewerb um so eher eintreten, je kleiner die im Wettbewerb stehenden Gebietskörperschaften sind, läßt zudem die Forderung nach einem „echten" fiskalischen Föderalismus innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten laut werden. Besonders laut tönt dieser Ruf sicherlich hinsichtlich der durch eine fatale Mischfinanzierung gekennzeichneten Bundesrepublik Deutschland! Kathrin Isele, Potsdam

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Dieter Freiburghaus, Wohin des Wegs, Europa? Ein Lesebuch zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der europäischen Integration, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 2000,411 Seiten. Die von Freiburghaus gestellte Frage ist sicherlich für jeden Institutionen- und ordnungstheoretisch arbeitenden Ökonomen von Interesse, nicht zuletzt aufgrund der ernüchternden Ergebnisse der Regierungskonferenz von Nizza. Freiburghaus nähert sich dem Phänomen der Europäischen Integration aus der Sicht des Politikwissenschaftlers und gewährt mit seinem Band einen umfassenden Einblick in Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Integrationsprozesses. Breiten Raum nimmt zunächst die historische Betrachtung ein. Freiburghaus teilt den Zeitraum von der Etablierung der Montanunion bis zum Vertrag von Amsterdam in drei Phasen ein: Aufbau (1958-73) und Stagnation (bis 1984) folgte ein gewaltiger Schub durch das Binnenmarktprogramm, der bis 1992 andauerte. Der zweite Teil des Buches beleuchtet die Entwicklung auf verschiedenen gemeinsamen Politikfeldern seit Maastricht. Dabei werden die Bereiche Sozialpolitik, Innen- und Rechtspolitik, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion einer differenzierten Würdigung unterzogen. Hier klingen bereits dezidiert kritische Töne an: Freiburghaus identifiziert im Anschluß an die Realisierung des Binnenmarktes eine „Vergemeinschaftungsund Vereinheitlichungswelle", die von einer Vielzahl von Ausnahmeregelungen für einzelne Mitgliedsstaaten begleitet wurde. Er folgert daraus, daß die Grenzen einer weiteren Integration erreicht sind, und führt als Beleg dafür die Ergebnisse der vergangenen Regierungskonferenzen an: Anstehende Probleme werden mit zunehmender Tendenz nicht mehr gelöst, sondern auf die nächste Revision verschoben. Gleichzeitig nimmt die Verflechtung von Politikbereichen immer weiter zu; die Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Union und Mitgliedsstaaten variiert dabei von Bereich zu Bereich. Mit Euckens Worten könnte man auch von einem fortschreitenden Auseinanderfallen von Handlung und Haftung sprechen. Die europäische Integration befindet sich Freiburghaus zufolge derzeit in einer Sackgasse. Den Optimalpunkt der Integration sieht er mit dem gemeinsamen Markt erreicht, während die Währungsunion schon jenseits dieses Punktes liegt. Mangelt es dieser Diagnose bereits kaum an Deutlichkeit, gilt dies für die vorgeschlagene Therapie um so mehr: Freiburghaus regt nicht weniger als einen „Rückbau" zum gemeinsamen Markt an - eine Überlegung, die bei liberalen Ordnungsökonomen sicherlich auf Zustimmung stoßen dürfte, aber wohl kaum Gehör bei den politischen Entscheidungsträgern finden wird. Hannes Hofmeister, Bayreuth

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Michael Hohlstein, Barbara Pflugmann-Hohlstein, Herbert Sperber, Joachim Sprink, Lexikon der Volkswirtschaft, München 1999, Verlag C.H. Beck, München 1999,675 Seiten. Das in der 1. Auflage herausgègebene Lexikon der Volkswirtschaftslehre wendet sich mit seinen etwa 2.000 Begriffen an Studierende und Praktiker zugleich. Mit seiner bewußten Abgrenzung zur Betriebswirtschaftslehre hin stößt es auf eine Marktlücke, die Vahlens Großes Wirtschaftslexikon zum einen und Gablers Lexikon Wirtschaft zum anderen in dieser Art nicht abzudecken vermögen. Das breite Spektrum der Volkswirtschaftslehre wird durch Eintragungen aus den Bereichen Theorie, Politik, Finanzen und empirischer Wirtschaftsforschimg erfaßt. Wenngleich wesentliche Themen der Mikro- und Makrotheorie aufgenommen wurden, liegt der Schwerpunkt des Werkes doch auf wirtschaftspolitischen Begrifflichkeiten. Neben der allgemeinen Wirtschaftspolitik werden Begriffe der Wettbewerbs-, Wachstums- und Entwicklungspolitik, der Sozial-, Außenwirtschafts-, Geld- und Währungspolitik ausführlich aufgeführt. Hervorzuheben ist die Aktualität, mit der einige Themen (EUIntegration, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Steuerharmonisierung, Arbeitsmarktpolitik, Rentenfinanzierung) aufbereitet wurden. Die Darbietungsform dürfte dem Anwenderkreis voll gerecht werden. Didaktisch gelungen ist die Variation zwischen verbaler, mathematischer und graphischer Darstellung. Als sehr hilfreich stellen sich die überaus vielfaltigen Verweise auf verwandte Themen heraus. Als Vorschlag für eine zukünftige Verbesserung bietet sich die Aufnahme von Autorenverweisen an. Dirk Meyer, Hamburg

Jörn Kleinert und Henning Klodt, Megafusionen: Trends, Ursachen und Implikationen, Kieler Studien, Band 302, Verlag Mohr-Siebeck, Tübingen 2000,113 Seiten. Die Krux dieser interessanten Arbeit ist, daß sie über Megafusionen (in dem heute doch wohl üblichen Sinn) berichten und diese beurteilen soll, daß dafür aber wenig theoretisches und statistisches Material zur Verfugung steht. Diesem Dilemma entgehen die Verfasser durch ihre Abgrenzung der Megafusionen nicht. Da eine Abgrenzung nicht ohne eine gewisse Willkür möglich ist, mag man zwar alle Unternehmenszusammenschlüsse mit einem Umsatz nach dem Zusammenschluß ab 5 Milliarden Ecu (nach den Kriterien der EU für ihre Prüfung) als Megafusionen bezeichnen, auch wenn das übernommene Unternehmen nicht sehr groß ist. So verfahren die Verfasser. Damit werden aber die besonderen Probleme sehr viel größerer Zusammenschlüsse, bei denen beide Fusionspartner sehr groß sind, mit Problemen kleinerer Zusammenschlüsse vermischt. Vor allem für die kleineren liegt Material vor. Aber es erhebt sich die Frage, inwieweit es für die sehr viel größeren Zusammenschlüsse verwandt werden kann und ob es nicht für sie Sonderprobleme gibt. Nach meiner Meinung ist der letzte Teil der Frage

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zu bejahen. Auf den ersten Teil der Frage neige ich zu der Antwort: nur mit großer Vorsicht. Man betrachte die Tabelle A 1 des Buchs (S. 101-103) „Ausgewählte von der EUKommission geprüfte Unternehmensübernahmen" und vergleiche sie mit den Zusammenschlüssen, die in den letzten Jahren unsere Aufmerksamkeit besonders fesselten. In den Tabellen sind nur wenige davon zu finden, die vor Ende 1996 stattfanden. Alle größeren stammen aus 1996. Der größte von ihnen hatte einen Wert von 21,3 Milliarden US $, der zweitgrößte von 16,5 Milliarden US $. Der bedeutsame Zusammenschluß von Sandoz und Ciba Geigy fehlt. War er von der EU nicht zu prüfen? Die Mehrzahl der in A 1 aufgeführten Fusionen ist viel kleiner. Der „Megafusionsreigen" begann richtig erst 1996. Schon 1997 war der Wert des größten Zusammenschlusses auf 43 Milliarden US $ gestiegen. 1998 betrug er schon 98 Milliarden US $. Inzwischen hat das Gewicht sehr großer Fusionen noch zugenommen. Der Wert der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone AirTouch 2000 wurde auf 370 Milliarden DM errechnet. Die Modelle und Analysen in den Kapiteln C I und Π (22 Seiten) helfen nach meiner Meinung für die Erklärung und Beurteilung solcher Zusammenschlüsse nur wenig. Auch für die Beantwortung der Fragen, die bei Megafusionen relevant sind und von den Verfassern auf S. 2 (Teil A) richtig gestellt werden, wird durch diese Kapitel nicht viel gewonnen. Die Teile Β „Umfang und Struktur von Untemehmenszusammenschlüssen: Das empirische Bild" (17 Seiten), D „Megafusionen und Wettbewerbsintensität: Empirische Analysen" (17 Seiten), E „Megafusionen und internationale Wettbewerbspolitik" (19 Seiten) und F „Trends, Ursachen und Implikationen: Zusammenfassung der Ergebnisse" (7 Seiten) sind für deren Beantwortung sehr viel interessanter. Aber teilweise sind die Ausführungen in Teil F zu knapp, bisweilen wohl auch nicht kritisch genug (vgl. ζ. B. „Kernkompetenz", S. 94; „Globalisierung", S. 95). In anderen Fällen ergeben sich kritische Fragen schon aus der Überschrift der Abschnitte: „Effizienzgewinne durch Fusionen empirisch nicht belegt" (S. 96); „Gesamtwirtschaftliche Vorteile durch Megafusionen zweifelhaft" (S. 97); „Fusionen kein Ausdruck funktionierender ,markets for corporate control'" (S. 98). Im letzten Absatz des Buchs steht ein wohl mißverständlicher Satz: „Die Wettbewerbspolitik sollte diesen Prozeß durchaus fordernd begleiten" (S. 100). Welchen Prozeß denn? Zuvor wird sowohl von „der gegenwärtigen Fusionswelle" als auch von „einer zunehmenden Integration internationaler Märkte und einer resultierenden Verschärfung des Wettbewerbs" berichtet. Nach meiner Meinimg sollte das an zweiter Stelle Zitierte durchaus „fördernd begleitet" werden, aber nicht die Fusionswelle. Kritische Bemerkungen zum Abschnitt D i l und zu weiteren Einzelheiten des Buchs sind in meinem Aufsatz „Zu den Megafusionen in den letzten Jahren" im ORDO-Band 51 zu finden. Die Lektüre des Buches halte ich für empfehlenswert. Ein Leser, der sich für sein Thema interessiert, kann auf die Teile C I und Π verzichten. Hans Otto Lenel, Mainz

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Markus Kobler, Der Staat und die Eigentumsrechte: Institutionelle Qualität und wirtschaftliche Entwicklung, Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Band 110, Verlag Mohr-Siebeck, Tübingen 2000,309 Seiten. Daß Eigentumsrechte förderlich für wirtschaftliche Aktivitäten und damit auch für das Wachstum von Volkswirtschaften sind, dürfte unter ordnungsökonomisch orientierten Ökonomen unumstritten sein. Wie genau aber die Wirkungsmechanismen zwischen Eigentumsrechten und Wachstum aussehen, das ist bislang wenig untersucht. Auf der Grundlage von Gedanken der Neuen Institutionenökonomik unternimmt Markus Kobler den Versuch, diese Zusammenhänge aufzuhellen. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Kobler den Staat. Aufgrund seines Gewaltmonopols sei der Staat erste Wahl, wenn es darum gehe, Institutionen zu schaffen und diese (sowie privat vereinbarte Regeln) durchzusetzen. Der Autor gelangt damit direkt zur zentralen Frage seiner Untersuchung: Unter welchen Bedingungen spezifiziert der Staat Eigentumsrechte in der Weise, daß sie einen positiven Einfluß aufs Wirtschaftswachstum ausüben? Es geht also um ,gute Eigentumsrechte' - so der Umschlagtext des Buches - , und der Autor sieht es als eine seiner wesentlichen Aufgaben an, das Adjektiv ,gut' mit Inhalt zu füllen. Aus diesem Grund entwickelt er den Begriff .institutionelle Qualität'. Institutionelle Qualität gründet er auf die statische und dynamische Effizienz von Institutionen. Statische Effizienz ist in einer Situation gegeben, in der es dem Staat unmöglich ist, Eigentumsrechte zu schaffen und durchzusetzen, die den Nutzen der Individuen erhöhen würden. Dynamische Effizienz liegt dann vor, wenn nicht nur optimale heutige, sondern auch optimale zukünftige Eigentumsrechte definiert werden und zudem keine Unsicherheit über zukünftige Eigentumsrechte besteht. Hohe institutionelle Qualität, so arbeitet Kobler heraus, führt über Kapitalakkumulation und Kapitalproduktivität zu einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung im Sinne von Wirtschaftswachstum. Wann schafft der Staat qualitativ hochwertige Institutionen und setzt diese auch durch? Um diese Frage zu beantworten, entwickelt der Autor ein Analyseschema, das im Spannungsfeld von Macht und Bindung des Staates angesiedelt ist. Macht: Der Staat muß einerseits die Stärke und die Ressourcen besitzen, Institutionen auch tatsächlich durchzusetzen. Bindung: Andererseits darf der Staat nicht zu stark werden; er darf sich nicht über den institutionellen Rahmen hinwegsetzen bzw. ihn willkürlich verändern können. Der Staat muß also einen Anreiz haben, effiziente Institutionen auch in Zukunft durchsetzen zu müssen. Es sind vielfältige Faktoren vorstellbar, die auf Macht und Bindung des Staates einwirken. Kobler beschränkt sich auf die genauere Untersuchung zweier Einflußgrößen, nämlich die Einkommens- und Vermögensverteilung (Macht) und die Informationsfreiheit (Bindung). Je ungleicher die Einkommens- und Vermögensverteilung ist, desto schwächer ist der Staat. Je besser die Bürger über das staatliche Handeln informiert sind (bzw. sich darüber informieren können), desto größer ist die Bindung des Staates - so zwei Kernthesen des Autors. Eine empirische Analyse untermauert die theoretisch abgeleiteten Ergebnisse Markus Kobler hat eine schlüssig und nachvollziehbar konzipierte sowie anregend geschriebene Untersuchung vorgelegt. Die Ergebnisse sind zwar größtenteils nicht un-

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bedingt als überraschend zu bezeichnen. Sie beziehen ihren Wert aber daraus, daß sie systematisch aus einem modernen institutionenökonomischen Analyserahmen abgeleitet worden sind. Das vorgelegte Analyseschema besticht durch Einfachheit und Klarheit, und zeigt gleichzeitig vielfältige Ansätze zum Weiterdenken auf. Als gelungen darf auch die Verknüpfung von institutionenökonomischen mit wachstumstheoretischen Fragestellungen angesehen werden, die schließlich in eine umfangreiche empirische Analyse mündet. Eine solche erfordert es natürlich, die theoretischen Zusammenhänge, die überprüft werden sollen, möglichst einfach und prägnant zu formulieren. Das ist auch hier geschehen; der Autor arbeitet mit weitreichenden ceteris paribus-Annahmen. Unter anderem abstrahiert er vom politischen System und postuliert die Gültigkeit seiner Aussagen sowohl in autokratischen als auch in demokratischen Systemen. Das hat zur Folge, daß einige Gegebenheiten etwas zu stark vereinfacht bzw. zu knapp dargelegt werden. Das gilt insbesondere für die Rolle des Staates. Der Staat wird in weiten Teilen der Arbeit als monolithischer Block, als handelnde Person gesehen, die Institutionen schafft und durchsetzt. Da das nur rudimentär erläutert wird, bleibt insbesondere unklar, was mit Opportunitätskosten dieses Staates (diese Größe benutzt der Autor einige Male, um seine Argumente zu untermauern) eigentlich gemeint ist. Jedenfalls ist der Eindruck nicht ganz von der Hand zu weisen, daß sich der Autor hier außerhalb eines methodologischen und normativen Individualismus bewegt. Zumindest bleibt aber außer acht, wie und unter welchen Bedingungen Institutionen von Menschen geschaffen und beeinflußt werden. Zudem läuft dieser Ansatz in Gefahr, staatliche Kompetenz zu überschätzen; Gedanken der Neuen Politischen Ökonomie sind nur in spärlicher Form in die Untersuchung eingeflossen. Diese Einwände schmälern den Wert dieses Werkes allerdings nur marginal; ihr großer Wert liegt - wie oben dargelegt - in dem Analyseschema zu Macht und Bindung staatlichen Handelns, das durchaus weiterentwickelnswert ist. Jochen Fleischmann, Bayreuth

Stephan Kuhnert, Gesellschaftliche Innovation als unternehmerischer Prozeß, Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 508, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2000,141 Seiten. Im Zuge der Globalisierung kommt es nicht nur zu zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen, sondern auch zu einem gesteigerten institutionellen Wettbewerb. Dabei rückt auch die Frage nach wohlstandserhöhenden institutionellen Innovationen ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Das von Kuhnert aufgegriffene Thema ist vor diesem Hintergrund von großer Aktualität. Der Autor beschäftigt sich mit dem Prozeß des institutionellen Wandels als Kollektivgutproblem. Im Mittelpunkt seines interdisziplinären Ansatzes steht die Figur des „Sozialen Unternehmers". Aufbauend auf einer kritischen Untersuchung Mancur Olsons Kollektivgütertheorie - wobei er sich insbesondere auf den „Politischen Unternehmer" bezieht, dessen Verhalten innerhalb des bestehenden Datenrahmens „rein reaktiven und statischen Charak-

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ter" habe und der deshalb nicht zur Erklärung von „Schöpfiings- und Entwicklungsprozessen im Zeitverlauf' tauge (S. 17) - gibt Kuhnert im Rahmen einer evolutorischen institutionenökonomischen Betrachtung Hinweise auf die Möglichkeiten aktiven menschlichen Gestaltens (S. 45). Dabei kommt (in Anlehnung an handlungstheoretische Ansätze Elinor Ostroms) der Figur des „Sozialen Unternehmers" eine besondere Bedeutung zu. Dieser sei ein handlungsfähiger Akteur, zu dessen besonderen Eigenschaften in erster Linie „die Fähigkeit zur Vision, zum Umgang mit Ungewißheit und zur Führerschaft in Kollektiven" zählen (S. 36) - wobei dessen konkretes Aktionsfeld im vorliegenden Buch nicht näher abgegrenzt wird. In Anlehnung an den ,JSchumpeterschen Pionierunternehmer" sehe ein so definierter Unternehmer im politischen Bereich seine gesellschaftliche Umgebung nicht als „gegeben" an, sondern als Gestaltungsobjekt, als Objekt potentieller Verbesserungen. Der Autor integriert den „Sozialen Unternehmer" in einen breiteren institutionentheoretischen Analyserahmen, indem er - berechtigterweise - die Frage aufwirft, „inwieweit Menschen überhaupt in der Lage sein können, erfolgversprechend auf die sie umgebenden institutionellen Rahmenbedingungen einzuwirken" (S. 60). In einer vergleichenden Gegenüberstellung von Hayeks evolutorischem Konzept der „spontanen" Ordnung und der Theorie der Institutionenschöpfung durch „human artisanship" von Vincent Ostrom und James Buchanan, die sich beide mit der Gestaltung von Institutionen durch den Menschen befassen, kommt er zu dem Resultat, daß beide Ansätze die Einflußnahme des Menschen bei der Entwicklung institutioneller Verbesserungen anerkennen (S. 75f.). Der Mensch sei zugleich Schöpfer und Bestandteil von Institutionen, wobei innovative Vorstöße einzelner sozialer Unternehmer den institutionellen Rahmen fur andere Menschen verändern, die wiederum versuchen, mittels institutioneller Innovationen ihre eigene Position zu verbessern (S. 79). Das Ergebnis könne eine Atmosphäre „institutionellen Aufbruchs" sein. Abschließend geht der Autor den grundlegenden Voraussetzungen und den Antriebskräften gesellschaftlicher Innovationen nach. Unter Bezugnahme auf verschiedene Untemehmertheorien (schottische Moralphilosophie, Schumpeter, Max Weber) verweist er auf die Bedeutung von Ideen/Visionen. Dem Handeln des sozialen Innovators lägen „Visionen" zugrunde, die er in reale Zustände überfuhren will. Er sei darüber hinaus in der Lage, seine Ideen in eine „gemeinsame Leitidee" zu transformieren, über die ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht. Institutioneller Wandel komme nun zustande, wenn der „Soziale Unternehmer" die historische Chance zur Umsetzung seines „Leitbildes" erkennt, Wege der praktischen Durchsetzung aufzeigt und gesellschaftliche Widerstände gegen die Umsetzung seiner Idee überwindet. An dieser Stelle verweist der Autor zwar auf bestehende Retardierungsinteressen und praktische Durchsetzungsprobleme (S. 90), auf die aber nicht näher eingegangen wird. Gerade in der heutigen Zeit, die trotz starker Beharrungskräfte durch zahlreiche Reformen im Sinne institutioneller Innovationen geprägt ist, wären diese Aspekte jedoch von besonderer Brisanz und deshalb nicht zu vernachlässigen. Insgesamt nimmt Kuhnert eine gründliche, wirtschaftshistorisch fundierte Analyse des Prozesses institutioneller Innovationen vor dem Hintergrund der Kollektivgütertheorie vor. Sein interdisziplinärer, auf der Schumpeterschen Unternehmertheorie aufbauen-

Kuizbesprechungen • 455 der Ansatz enthält fur den mit der Thematik vertrauten Leser zwar wenig Neues, doch er lenkt den Focus auf die Schwächen der gegenwärtig herrschenden Lehre und mahnt einen „vorsichtigeren" Umgang mit ihr an. Er relativiert die Bedeutung der neoklassich basierten Kollektivgütertheorie Olsons indem er auf alternative handlungstheoretische Erklärungsansätze verweist - wobei er dem „Sozialen Unternehmer" eine alles überragende Bedeutung zumißt. Ein weiterer wichtiger Verdienst ist seine Betonung der gestaltenden Rolle des Menschen im gesellschaftlichen Innovationsprozeß, denn Institutionen ändern sich nicht von selbst. Das Buch Kuhnerts ist somit als Ermutigung für den Einzelnen zu verstehen, zu diesem Prozeß etwas beizutragen. Katrin Sobania, Potsdam

Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.), Freiheit und soziale Verantwortung: Grundsätze liberaler Sozialpolitik, Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt a. M. 2001,270 Seiten. Dem Buch geht es um „Grundorientierungen einer liberalen Sozialpolitik" als „selbstverständliche(m) Bestandteil (eines, d.V.) jeden liberalen Programms (...), das diesen Namen verdient" (S.7). Das vom ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (1977-84) als Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung herausgegebene Buch dokumentiert die Ergebnisse eines ehrgeiziges Projektes des Liberalen Instituts eben dieser Stiftung. Es mündet in zwölf, vom Liberalen Institut formulierten Thesen über die Grundsätze liberaler Sozialpolitik (S. 261ff.). In seiner Einleitung erteilt Graf Lambsdorff zunächst jeglicher „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik" eine klare Absage, weil „das Einfallstor für die Gefälligkeitspolitik wagenweit geöffnet wird, wenn man eine Instrumentalisierung der Sozialpolitik für .gesellschaftspolitische Zwecke' zuläßt" (S.9). Es wird beklagt, daß der sozialpolitische Status quo in Deutschland meilenweit entfernt sei von liberalen Konzepten einer am „Oberziel der Freiheit und Verantwortlichkeit des Einzelnen" orientierten Sozialpolitik. Folglich wird konstatiert, „wie weit der Weg zu einer liberalen sozialpolitischen Praxis noch ist" (S. 10). Naturgemäß sind die einzelnen Beiträge des Sammelbandes untereinander nicht völlig homogen, was „unter Liberalen auch höchst ungewöhnlich" wäre (S.9). Es verbleiben auch im Grundsätzlichen durchaus Widersprüche und offene Fragen. So verortet Hubertus Müller-Groeling in seinem Beitrag „Zur sozialen Dimension liberaler Politik" das Wesen liberaler Sozialpolitik in der ordoliberalen Idee von„Handlungsbedingungen (die, d.V.) über die Rechts- und Wirtschaftsordnung so gesetzt werden, daß im allgemeinen das, was dem einzelnen nutzt, auch gut ist für die Gesellschaft". Liberale Politik hat damit ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zum Ziel, „das intrinsisch sozial ist" (S. 12). Sozialpolitik sei kein „Reparaturbetrieb (...), in dem staatliche Sozialpolitik die Ergebnisse von Markt und Wettbewerb korrigieren soll" (S.15). Einem solchen Verständnis von Sozialpolitik geht es statt um „Ergebnisgerechtigkeit" durch Umverteilung originärer Marktergebnisse um „Verfahrensgerechtigkeit" durch ordnungspolitische Rahmensetzung. Dahinter steht der liberale Optimismus einer Gestaltbarkeit der Markt-

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prozesse zur Erzielung marktimmanent sozialer Ergebnisse, deren Korrekturbedarf sich dann auf die „wahrhaft Bedürftigen" (S.30) reduziert. Ein zumindest in Nuancen anderes Verständnis liberaler Sozialpolitik vertritt Johann Eekhoff in seinem Beitrag über „Sozialpolitik im marktwirtschaftlichen System". Schon „der Begriff .soziale Marktwirtschaft' lenkt den Blick auf eine unabdingbare Ergänzimg eines Marktsystems" (S. 32). Bei Eekhoff ist diese Ergänzung jedoch nicht ausschließlich ordnungspolitisch gemeint im Sinne von intrinsisch sozial, sondern durchaus als marktkorrigierende Umverteilungspolitik. Der Markt erscheint als Magd der Sozialpolitik: „Eine marktwirtschaftliche Organisation ist die effizienteste verfugbare Form des Wirtschaftens (...). Ein marktwirtschaftliches System ermöglicht damit auch ein hohes Niveau der sozialen Absicherung, ohne diejenigen zu überfordern, die durch entsprechende Umverteilungsmaßnahmen belastet werden" (S. 54). Diesem eher dualistischen Verständnis von Markt und Sozialpolitik folgend fordert Eekhoff eine konsequente „Trennung von Wirtschafts- und Sozialpolitik" (S. 35). Die „soll sicherstellen, daß die Preise und Löhne als Steuerungs- und Informationssystem möglichst nicht verzerrt werden" (S. 35). Ein solches Verständnis folgt dem Müller-Armackschen Postulat einer klaren Funktionsteilung zwischen den Aufgaben des Preissystems (=Allokation) und den Aufgaben des interpersonellen Finanzausgleichs (=Sozialpolitik). Dabei dürfte Eekhoff jedoch unverdächtig bleiben, dem Irrtum Müller-Armacks zu unterliegen, „theoretisch gesehen, könnte der Staat durch scharfe Erfassung aller höheren Einkommen eine Kaufkraftumleitung ins Werk setzen, die die denkbar stärkste Nivellierung zur Folge hätte (...), ohne mit den Spielregeln des Marktes in Widerspruch zu geraten".1 Denn gerade dieser Grundirrtum dualistischer Sozialpolitik hat ja ihre Entgrenzung provoziert und soll durch die ordnungspolitische Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik überwunden werden. Die Umsetzungswiderstände liberaler Sozialpolitik sind in dem Beitrag von Gisela Babel über „Wettbewerb im sozialen Bereich" zu besichtigen. Frau Babel war von 1993-1998 die sozialpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sie schildert darin das Elend der Pflegeversicherung, mit der noch 1994 (!) eine weitere umlagefinanzierte Sozialversicherung neu eingeführt wurde und sich der liberale Koalitionspartner des damaligen Bundesarbeitsministers Blüm (CDU) mit der Einfuhrung von Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern zu begnügen hatte. Der Beitrag macht deutlich, wie anachronistisch die Einfuhrung der Pflegeversicherung als Umlagesystem war, zu einem Zeitpunkt, als es in allen anderen Umlagesystemen nicht mehr nur knirschte im Gebälk, sondern bereits der Dachstuhl lichterloh brannte. Und wenn es eine Gemeinsamkeit liberaler Sozialpolitik gibt, dann ist es die Einführung von mehr Wettbewerb, Freiheit und Eigenverantwortung in unseren Sozialversicherungssystemen. Darin sind sich auch die weiteren Autoren des Sammelbandes einig, allen voran Norbert Berthold („Globalisierung der Märkte und nationale Sozialpolitik: Wie lange geht das noch gut?"), Gerhart Raichle („Zu Begründung und Inhalt liberaler Sozialpolitik"), Detmar Doering („Liberale Ordnung und privater Gemeinsinn"), Gerhard 1

Müller-Armack, Alfred (1948), Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. Wiederabgedruckt in: Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Bern 1976, S. 144ff.

Kurzbesprechimgen · 457 Schwarz („Wieviel Zwang ist mit einer liberalen Sozialpolitik vereinbar?" sowie „Plädoyer für mehr Transparenz") und Walter Hamm („Von der Umverteilungsmaschine zur Versicherung"). Des weiteren sind die Beiträge von Hartmut Kliemt („Das zweischneidige Schwert der Subsidiarität"), Wolfgang Wiegard („Der Grundsatz der Effizienz bei der Reform der Rentenversicherung"), Friedrich Breyer („Subjekthilfe statt Markteingriff oder Objektsubvention") sowie von Bernd Raffelhüschen über „Eine Generationenbilanz der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik" zu nennen. Der Band ist ein insgesamt gelungener Aufriß der Problematik und Chancen liberaler Sozialpolitik, dem es, obwohl in grundsätzlicher Absicht konzipiert, auch gelingt, erste Brücken hin zu einer realisierbaren politischen Programmatik einer liberalen Sozialpolitik für die Praxis zu bauen. RobertB. Vehrkamp, Witten/Herdecke

Christian Müller, Das vertragstheoretische Argument in der Ökonomik, Duisburger Volkswirtschaftliche Schriften, Band 33, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2000,242 Seiten. Diese Duisburger Dissertation setzt sich mit dem sozialphilosophischen Werk von Buchanan und Rawls auseinander. Insbesondere durch die Beiträge dieser beiden Autoren wurde einer alten Denktradition wieder neues Leben eingehaucht. Beide Autoren griffen in ihrer Kritik am herkömmlichen und modernen Utilitarismus auf die Lehre vom Gesellschaftsvertrag zurück, wie sie - aufbauend auf antiken Gedanken - von Hobbes in seinem Leviathan, von Locke, von Rousseau und von Kant entwickelt worden waren. Der Utilitarismus, auch in seiner modernen neoklassischen Variante der „New Weifare Economics" nach Bergson und Samuelson, wurde von Buchanan wie auch von Hayek und seiner Schule als „kollektivistisch" angesehen, weil er über die Präferenzen verschiedener Personen integriert. So ging es Buchanan in seinem Buch mit Tullock „The Calculus of Consent" von 1962 darum, wirtschaftspolitische Empfehlungen aus einer nicht-utilitaristischen Basis ableiten zu können. Auch im späteren Werk Buchanans ist dies ein Anliegen, wenn auch die Berührungspunkte mit dem Utilitarismus wieder stärker wurden. Ebenso ist bei Rawls die Betonung der Freiheit des Individuums gerade gegen den Utilitarismus gerichtet. Die Grundpositionen der modernen Vertragstheorie sind somit die eines „normativen Individualismus" (Vanberg). Im Kapitel 1 wird das „vertragstheoretische Argument" in seiner Grundstruktur dargestellt und methodologisch auf seinen Stellenwert untersucht. Es wird klar, daß der Gesellschaftsvertrag die hypothetische Einstimmigkeit der Beteiligten festlegt, damit eben die Verrechnung der Wohlfahrt verschiedener Individuen durch eine Obrigkeit vermieden wird. Der Verfasser betont, daß diese hypothetische Konstruktion als solche logisch keine Verbindlichkeit für heute lebende Individuen haben kann, die ja gar nicht mit beteiligt waren, sondern daß es bestimmter zusätzlicher Normen bedarf, um einer solchen Konstruktion Verbindlichkeit zu verleihen. Damit aber ist das Problem der Begründung solcher Normen nach wie vor ungelöst.

458 · Kurzbesprechungen Kapitel 2 behandelt die „starke Vertragstheorie", wie sie in der Form von Buchanans Limits of Liberty vorliegt. Dort geht es Buchanan um die Überführung des Hobbesschen Anarchiezustandes in einen Rechtsstaat vermittels eines Gesellschaftsvertrags, der alle Teilnehmer besser stellen soll. Die Ableitung Buchanans wird nicht im Detail kritisiert. Es wird nur darauf hingewiesen, daß das Kriterium der Pareio-Optimalität so vielen unterschiedlichen Zuständen eigen sei, daß sehr konkrete Schlußfolgerungen allein aus diesem Kriterium nicht möglich seien. Ich glaube, diese Kritik wird Buchanan nicht ganz gerecht. Könnte es nicht sein, daß sämtliche Pareto-optimalen Zuständen gewisse Charakteristika gemeinsam aufweisen, daß ihnen alle Eigenschaften des modernen Rechtsstaats eigen sind? Das ist eine ordnungstheoretische Frage von großem Interesse. Und Buchanans Buch trägt zu ihrer Beantwortung Wichtiges bei, wenn auch die endgültige Antwort sicher noch nicht gegeben ist. Ich kann mir jedenfalls schlecht vorstellen, daß ein Staat ohne verbindliche Rechtssätze und die damit implizierte Sicherheit Pareto-optimal sein könnte. Würde eine Diktatur in einen Rechtsstaat umgewandelt, dann würde das Sozialprodukt so stark steigen, daß auf dem Wege der Kompensationszahlung alle besser gestellt werden könnten, selbst der frühere Diktator. Mit anderen Worten: Ist es nicht Buchanans These, daß ein Pareto-optimaler Zustand bestimmte Elemente der Rechtsstaatlichkeit voraussetzt? Kapitel 3 ist dann der „schwachen Vertragstheorie" gewidmet, in der man von dem „Schleier des Nichtwissens" Gebrauch macht. Das tun in etwas unterschiedlicher Weise sowohl Buchanan (in Calculus of Consent und späteren Büchern außer „Limits of Liberty") wie auch Rawls. Für Rawls ist der Ausgangszustand mit dem „Schleier des Nichtwissens" ein normatives Konstrukt. Nur, wenn die Beteiligten in diesem Ausgangszustand einander so gleich sind, daß sie ihre spätere Position in der Gesellschaft nicht antizipieren können, ist ein Zustand hergestellt, von dem aus vermittels Gesellschaftsvertrags Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Müller weist daraufhin, daß diese Position nichts anderes ist als das moralische Universalisierungsprinzip (gemäß dem Manischen kategorischen Imperativ), das hier nur in eine der Steigerung der Plausibilität dienende „Story" eingekleidet ist. Buchanan sieht den Schleier des Nichtwissens als quasi-empirische Aussage: wenn es den Vertragsparteien um die Aushandlung der allgemeinen Verfassungsregeln geht, dann kennen sie eben ihre künftige Position in bezug auf diese Regeln noch nicht; und deshalb sind solche Regeln konsensfähig. Müller macht auf folgenden Zirkelschluß aufmerksam. Daß in dem Gesellschaftsvertrag keine Spezifika, sondern nur allgemeine Regeln festgelegt werden, liegt gerade an dem Schleier des Nichtwissens. Deshalb ist implizit in der Aussage, daß es nur um allgemeine Regeln geht, das abzuleitende Ergebnis schon vorausgesetzt. Beiden Kritiken - mit gewissen Einschränkungen bei Buchanan kann ich zustimmen. Im Kapitel 4 geht es erneut um die „schwache Vertragstheorie" und den „Schleier des Nichtwissens". Rawls leitet ja bekanntlich das Maximin-Prinzip der Gerechtigkeit ab. Diese Ableitung ist schon häufig kritisiert worden. Müller schließt sich dieser Kritik an. Wie viele utilitaristisch orientierten Kritiker sieht auch er den Versuch von Rawls als gescheitert an, den utilitaristischen Maximierungskalkül zu vermeiden. Müller macht insbesondere darauf aufmerksam, daß man bei den von Rawls eingeführten Grundgütern

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um Quantifizierungen und damit letztlich utilitaristische Kosten-Nutzen-Analyse nicht herumkommt. Ich persönlich verwende in wirtschaftspolitischen Diskussionen das Rawlssche Maximin-Prinzip gelegentlich als worst case Annahme, wenn es um die Propagierung von marktwirtschaftlichen Lösungen geht, die oft mit verteilungspolitischen Argumenten bekämpft werden. Müller weist dann darauf hin, daß Buchanans Ansatz in seinem späteren Werk, mit Erwartungswerten von Nutzen zu arbeiten, nicht so voraussetzungslos ist wie Buchanan vielleicht selber meint. Buchanan unterstellt, daß bei Abschluß des Gesellschaftsvertrags die Vertragsschließenden annehmen, mit gleicher Wahrscheinlichkeit jede der verschiedenen Positionen in der Gesellschaft einzunehmen. Nach Müller ist diese „Laplace-Annahme" genau so willkürlich wie jede andere und vor allem wie unterschiedliche Annahmen von Person zu Person, die die Einigung sehr erschweren könnten. Deshalb komme man letztlich um das Vorgehen der Utilitaristen nicht herum. Mit dieser Kritik hat Müller wohl recht. Dennoch finde ich den aus Buchanans Kalkül ableitbaren Gedanken stimulierend, daß man die empirisch vorgefundenen von Neumann-Morgenste/Ti-Nutzenfunktionen zum Ausgangspunkt einer utilitaristischen Wohlfahrtsfunktion machen könnte, daß also ein innerer Zusammenhang besteht zwischen dem Grad der Risikobereitschaft und dem Grad der Toleranz für Ungleichheit in einer Gesellschaft. Ich muß sodann gestehen, daß mich ein dicker Schleier des Unverständnisses von dem Sinn der spieltheoretisch aufgebauten Kritik an Rawls und Buchanan in den Kapiteln 5 und 6 trennt. Ich kann nicht ausschließen, daß ich den Verfasser hier mißverstanden habe. Aber nach meinem Eindruck bestätigen die vom Verfasser entwickelten spieltheoretischen Situationen eher die beiden Autoren, als daß sie diese widerlegen. So bestätigt etwa das „Gegenbeispiel" Müllers auf S. 140ff. meines Erachtens gerade die Maximin-Regel von Rawls, statt diese zu widerlegen. Insgesamt ist die Analyse des Verfassers scharfsinnig und interessant. Sie bestätigt das utilitaristische Vorurteil, daß es ohne den „kollektivistischen" interpersonellen Wohlfahrtsvergleich keine weitreichende distributive Gerechtigkeitsvorstellung geben kann. Carl Christian von Weizsäcker, Köln

Monica Luján dos Santos, Ordnungspolitische Bedingungen des Wirtschaftswachstums, Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Band 67, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 1998,611 Seiten. Die Frage nach den Bestimmungsgründen für wirtschaftliches Wachstum beschäftigt seit jeher Ökonomen, was die vielen verschiedenen Ansätze und empirischen Untersuchungen darüber, welche Determinanten das Wirtschaftswachstum wie beeinflussen, in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur zeigen. In ihrer Arbeit versucht Luján dos Santos nachzuweisen, daß „die Wirtschaftspolitik die entscheidende unabhängige Variable des Wirtschaftswachstums darstellt" (S. 25). Sie arbeitet dabei weniger theoretisch als vielmehr empirisch anhand von Daten lateinamerikanischer und ostasiatischer Staaten.

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Im ersten Teil ihrer Arbeit analysiert Lujan dos Santos, wie die Wirtschaftspolitik verschiedene Wachstumsdeterminanten und somit indirekt auch das Wirtschaftswachstum beeinflußt. Dabei geht sie nicht nur auf die „alten" Determinanten (Investirions-, Sparquote, marginaler Kapitalkoeffizient) ein, sondern auch auf die „neuen" Determinanten (externe Effekte, akkumulierbare Faktoren). Mit Hilfe des Konzeptes des „Economic Freedom Index" und empirischer Materialien weist sie im ersten Schritt nach, daß die Kontinuität und die Konsistenz wirtschaftspolitischer Maßnahmen eine entscheidende Grundlage für das Vertrauen der Wirtschaftssubjekte in die Politik und damit für die positive Entwicklung einer Volkswirtschaft sind. Im zweiten Schritt zeigt sie anhand von statistischen Daten, daß für einen erfolgreichen Konvergenzprozeß die erforderlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen und daß die Wirtschaftspolitik die Geschwindigkeit des Prozesses beeinflußt. Im zweiten Teil geht Luján dos Santos auf den konkreten Einfluß von Wettbewerb, Geldmengenwachstum und Inflation sowie Wirtschaftsordnung und -politik auf das Wirtschaftswachstum ein. Sie kommt zu dem Schluß, daß Marktwirtschaft, Wettbewerb und Geldwertstabilität die herausragenden Determinanten des Wirtschaftswachstums sind. Anhand umfangreicher Länderstudien für Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Mexiko und Peru untermauert sie ihr Aussage, daß der Einfluß der Wirtschaftspolitik auf das Wirtschaftswachstum gerade in jenen Volkswirtschaften bedeutend ist, in denen sich Wirtschaftsordnung und -politik radikal geändert haben. Zu der Arbeit von Luján dos Santos ist kritisch anzumerken, daß einerseits Fragestellungen ausführlich diskutiert werden, die zur eigentlichen Zielstellung wenig beitragen, andererseits wichtige Punkte nur knapp behandelt werden. So werden beispielsweise die unterschiedlichen Wirkungen der „alten" Bestimmungsgründe auf das Wirtschaftswachstum (Kap. 1.1 und 1.2) oder auch der Zusammenhang zwischen Geldmengenveränderung und Inflation (Kap. Π.2) umfassend erörtert, während die theoretische Diskussion des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsordnung, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswachstum (Kap. Π.3) - ein entscheidender Punkt der Arbeit - auf sechs Seiten beschränkt ist. Positiv muß hervorgehoben werden, daß Luján dos Santos jeden theoretischen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Wachstumsdeterminanten und dem Wirtschaftswachstum mit Hilfe existierender oder auch eigener empirischer Querschnittsuntersuchungen überprüft. Gerade dadurch unterstreicht sie, daß die Wirtschaftspolitik die entscheidende unabhängige Determinante für das Wirtschaftswachstum ist, daß aber ihr Wirkungsgrad immer von nationalen Besonderheiten abhängt. Zusammenfassend kann zu der Arbeit von Luján dos Santos gesagt werden, daß jene Leser, die auf Grund des Buchtitels eine - wie in der heutigen Wachstumstheorie häufig anzutreffende - formale und theoretische Abhandlung des Themas erwarten, eher enttäuscht werden. Solche Leser, die hingegen an einer empirischen Fundierung bestehender und neuer Erkenntnisse zu den Einflüssen der Wirtschaftspolitik auf das Wirtschaftswachstum interessiert sind, wird das Buch ansprechen - insofern hätte der Buchtitel eher „Ordnungspolitische Bedingungen des Wirtschaftswachstum am Beispiel ausgewählter Länder Lateinamerikas" heißen müssen. Silvio Kermer, München

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Friedrun Quass, Soziale Marktwirtschaft, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart und Wien 2000,448 Seiten. Die Wiedervereinigung Deutschlands liegt bereits über 10 Jahre zurück. Die Transformation der Zentralverwaltungswirtschaft in die Marktwirtschaft, genauer in die „Soziale Marktwirtschaft", ist noch nicht abgeschlossen. Und auch wenn wir in dieser Wirtschaftsordnung leben, so ist den wenigsten eigentlich bewußt, was genau damit zu verbinden ist, geschweige denn, welche Ökonomen und Politiker diese Ordnung nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufen haben. Gründe genug, um sich mit der Sozialen Marktwirtschaft auseinanderzusetzen. Friedrun Quass hat dies getan. Aber was zunächst wie ein genereller Überblick oder Einstieg in die Thematik anmutet, ist, dies deutet der Untertitel „Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts" bereits an, eher eine Art „Abrechnung" mit einem ökonomischen Konzept. Eine „Abrechnung", die die Autorin im übrigen zugleich mit dem Ordoliberalismus vornimmt. Nur einem der „Väter" der Sozialen Marktwirtschaft zollt Quass in gewisser Weise Respekt, wenn sie schreibt, daß man der Begriffsbestimmung von Alfred Miiller-Armack in der Regel zustimmen könnte, „nach der Soziale Marktwirtschaft im Kern bedeutet, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" (S. 12). Vielleicht eine Art Geburtstagsgeschenk an Alfred Müller-Armack, der am 28. Juni 2001 einhundert Jahre alt geworden wäre, und dessen religions- und kulturhistorischen Ansatz in Bezug auf „Werte" sie heraushebt. Aber auch das hier aufgeführte Zitat schränkt Quass gleich wieder ein, wenn sie schreibt, daß die Priorität eher dem marktwirtschaftlichen Moment vor dem sozialen Aspekt eingeräumt wurde. Das Adjektiv „sozial" bezeichnet sie sogar als „schmückendes Beiwort". Einen Punkt hebt die Autorin besonders heraus. Sie verweist darauf, daß der Sozialen Marktwirtschaft die Gefahr droht, daß sie von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wird. Quass führt dies auf das Auseinanderdriften von theoretischer Konzeption (die sie in Kapitel 4 wiederum als gar nicht existent bezeichnet) und wirtschaftspolitischer Praxis zurück. Aber auch in Bezug auf die Praxis muß bedacht werden, daß vielen Bürgern gar nicht bewußt ist, wie die ursprüngliche Konzeption der praktischen Wirtschaftspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft gedacht war. Wer kennt schon die konstituierenden und regulierenden Prinzipien von Walter Eucken, oder Alexander Riistows vitalpolitische Konzeption und sein Eintreten fur das Subsidiaritätsprinzip? Allenfalls der Name Ludwig Erhard ist den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ein Begriff, aber wohl mehr im Zusammenhang mit der Währungsreform. So wird von Anfang an klar, was sich beim Lesen des Buches immer wieder bestätigt findet: Quass, die sich tief in die Materie eingearbeitet und fast ein dogmengeschichtliches Buch geschrieben hat, geht es kaum darum, dem Bürger die Elemente der Sozialen Marktwirtschaft in ihrer Bedeutung nahezubringen. Dies trotz ihrer Kritik, daß der Sozialen Marktwirtschaft droht, von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert zu werden. Worum es ihr letztendlich geht, muß jeder, der die 16 Kapitel des Buches (gegliedert in drei Hauptteile) liest, letztendlich für sich entscheiden. Für konsensfähig hält Quass schließlich zwei Punkte: „(1) Die Soziale Marktwirtschaft ist keine reine Marktwirtschaft, sie bekennt sich zu sozialen Komplementen. (2) Die Soziale Marktwirtschaft ist in diesem Sinne eine einge-

462 · Kurzbesprechungen schränkte Marktwirtschaft, die auf normativen Werten basiert, welche wiederum potentielle Störfaktoren der marktwirtschaftlichen Effizienz sein können" (S. 130). Zwei Aussagen, die aus dem Kontext genommen, durchaus irreführend sein können. Ohne Frage hat sich die Soziale Marktwirtschaft von ihrer ursprünglichen Konzeption wegbewegt. Zu sagen, daß die Zeiten sich nun einmal ändern, wäre zu einfach. Industriepolitik und andere staatliche Fehler haben die Anreizstrukturen im Laufe der Jahre fehlerhaft gesetzt. Dies muß korrigiert werden. Friedrun Quass kritisiert zwar die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, den Ordoliberalismus und deren jeweilige Begründer, klar strukturierte Lösungen hält sie aber leider nicht parat. Der Titel „Soziale Marktwirtschaft" mag auch so manchen Laien, mag so manchen jungen Menschen anlocken, der schon immer wissen wollte, was es mit dieser Wirtschaftsordnung eigentlich auf sich hat. In diesem Buch wird er einiges erfahren, aber nicht das, was der Titel vermuten läßt. Indira Gurbaxani, Tübingen

Siegfried Rauhut, Soziale Marktwirtschaft und Parlamentarische Demokratie: Eine institutionenökonomische Analyse der Realisierungsbedingungen der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, Duisburger Volkswirtschaftliche Schriften, Band 34, Verlag Duncker & Humblot Berlin 2000,338 Seiten. Im ersten Hauptteil der Arbeit „Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft: Freiheit, allokative Effizienz, distributive Gerechtigkeit und ,starker Staat'" geht der Verfasser sehr detailliert auf die liberale ordnungspolitische Konzeption ein, die mit den Namen Euchen, Böhm, Miiller-Armack, Erhard, Rüstow, Röpke, aber auch Hayek verbunden ist. Die Auffassungen dieser verschiedenen Autoren decken sich bekanntlich nicht genau; ihnen gemeinsam ist nur die Betonung des Konkurrenzprinzips auf freien Märkten, die Auffassung, daß eine liberale Wirtschaftsordnung Voraussetzung für eine humane Gesellschaft, auch Voraussetzung fur eine Demokratie ist und die Skepsis gegenüber staatlicher Wirtschaftslenkung. Schließlich ist - wenn auch graduell unterschiedlich - diesen Autoren gemeinsam eine Zurückhaltung gegenüber Mehrheitsbeschlüssen im politischen Bereich. Die Frage nach dem „Sozialen" in der Marktwirtschaft oder als Ergänzung zur Marktwirtschaft wird von den Autoren bekanntlich kontrovers gesehen. Hayek einerseits, Müller-Armack andererseits mögen hier stellvertretend genannt werden. Dem Kenner der Materie bietet dieser Abschnitt der Arbeit von Rauhut im Grunde nichts Neues, aber die Art der Aufbereitung ist deswegen von Interesse, weil sie unter der modernen Perspektive der politischen Ökonomie den Rest der Dissertation vorbereitet. In einem zweiten Teil wird die moderne politische Ökonomie, die sehr stark von Beiträgen amerikanischer Autoren aus den letzten zwei bis drei Jahrzehnten geprägt ist, vorgestellt und diskutiert. Schwerpunkte der Darstellung und Auseinandersetzung Rauhuts sind die Beiträge von Buchanan und Downs sowie der Chicago-Schule (Stigler, Becker, Peltzman). Die in der Literatur vorgefundenen Ansätze werden von Rauhut er-

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weitert und ergänzt, ohne daß fundamental Neues dazukommt. Es ist aber ein Verdienst der Arbeit, die verschiedenen Ansätze in einem Schema einander zuzuordnen, um auf diese Weise die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Dem Verfasser ist wohl bewußt, daß die moderne Literatur, die angelsächsisch geprägt ist, von der überwiegend deutschsprachigen Literatur (mit Ausnahme Hayeks), der „Gründerväter", wie Rauhut sie nennt und die er im ersten Teil behandelt hat, überhaupt keine Notiz nimmt. Der erste und der zweite Teil der Arbeit Rauhuts behandelt damit Forschungsströme, die - mit gewissen Ausnahmen Hayek betreffend - sich wechselseitig ignorieren. So ist dann auch zum Beispiel die Frage nach der Umverteilung bei den „Gründervätern" ganz überwiegend eine normative Frage, während sie in der angelsächsischen politökonomischen Literatur allein unter dem Aspekt der Mehrheitsbildung in einer Demokratie ins Gesichtsfeld kommt und damit allein als positive Theorie behandelt wird. Im dritten Hauptteil der Arbeit „Ansätze einer staatspolitischen Ergänzung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft" behandelt der Verfasser Vorschläge, die im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte gemacht worden sind, um typische, vom politischen System herrührende Fehlentwicklungen in der Wirtschaftspolitik zu verhindern. Die Normvorstellung einer richtigen Wirtschaftspolitik ist aber bei diesen Vorschlägen in der Literatur - soweit ich sehe - nie die Konzeption der „Gründerväter" gewesen, sondern eine allgemein wirtschaftsliberale Einstellung zu diesen Fragen, wie sie insbesondere im angelsächsischen Bereich dominiert. Insofern ist dieser dritte Teil, genau wie der zweite, eigentlich gedanklich und logisch unabhängig vom spezifisch mitteleuropäischen Thema der Sozialen Marktwirtschaft im ersten Teil. Besprochen werden hier Vorschläge zur politischen Verfassung, die nach Auffassung der jeweiligen Autoren geeignet sind, zu besseren Ergebnissen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik zu führen. Hierzu gehören insbesondere Verfassungsbestimmungen im engeren Sinn, verstanden als Begrenzungen der Handlungsmacht einer jeweiligen demokratischen Mehrheit. Die vor einiger Zeit in den Vereinigten Staaten auch politisch recht aktive Bewegung, in die Verfassung eine Vorschrift zur Begrenzung bzw. Beendigung der Staatsverschuldung aufzunehmen, gehören dazu ebenso wie der Hayeks che Vorschlag eines Zwei-Kammer-Systems und verschiedene Ideen zur Trennung von verschiedenen Bereichen der Wirtschaftspolitik und der Überantwortung des jeweiligen Bereichs an ein stärker sachverständig zusammengesetztes Gremium. Von diesen letzteren Vorschlägen ist aufgrund der historischen Erfahrung inzwischen ja das Prinzip der Unabhängigkeit der Zentralbank sehr weitgehend durchgesetzt worden. Alle übrigen derartigen Vorschläge haben bisher wenig an der tatsächlichen Verfassungssituation geändert. Ein zweiter Schwerpunkt ist die Einfuhrung von institutionellem Wettbewerb oder auch Systemwettbewerb, mit dessen Hilfe die Drohung von Produktionsfaktoren auf Abwanderung eine höhere Rationalität der Wirtschaftspolitik erzwingen könne. Ein dritter Schwerpunkt ist ein ganzes Bündel von Vorschlägen auf Einführung plebiszitärer Elemente in der Demokratie, die gerade auch unter dem Aspekt höherer Rationalität von politischen Entscheidungen gemacht werden.

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Dieser dritte Teil liest sich ebenso wie die anderen Teile interessant, ergibt eine aufschlußreiche Zusammenfassung der gegenwärtigen Diskussion. Auch hier gibt es nun keinen originären Beitrag des Verfassers, der wesentlich über das in der Literatur schon Vorhandene hinausreicht. Aber es ist verdienstvoll, daß auch die Grenzen dieser verschiedenen Vorschläge ausfuhrlich diskutiert werden. Als Fazit zieht der Verfasser in einem letzten kurzen Teil die Konsequenz unter dem Titel „Mehr Soziale Marktwirtschaft durch mehr Äquivalenz und mehr Wettbewerb im politischen Bereich". Hier plädiert er, wie dies auch viele andere tun, fur verstärkten institutionellem Wettbewerb und fur eine Verstärkung des Äquivalenzprinzips im Finanzgebaren der Öffentlichen Hand. Auch dieses Buch kommt über eine bedeutsame analytische Hürde nicht hinweg, vor der bisher die allermeisten Vorschläge zur Ausgestaltung des politischen Rahmens einer Marktwirtschaft Halt machen. Dies ist die grundsätzliche kognitive Grenze des Bürgers, die wirtschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen. Es ist merkwürdig, daß diese Thematik bisher in der politökonomischen Literatur eine so untergeordnete Rolle spielt. Niemand findet etwas dabei, daß der Patient nicht dasselbe Fachwissen hat wie der Arzt; daß der Autofahrer zwar einen Führerschein braucht, aber nicht zu verstehen braucht, wie das Auto funktioniert. Bei den ganz anderen Entscheidungsmechanismen des politischen Bereichs wird aber diese Diskrepanz im Fachwissen zwischen Wähler (Kunden) und Gewähltem (Lieferant) ein fundamentales Problem. Dessen Überwindung ist in Ansätzen in der Realität immer schon versucht worden. Dennoch bleibt es ein riesiges Problem, und es ist bisher von der Wissenschaft nicht in systematischer Weise aufgegriffen worden - auch nicht von der vorliegenden Arbeit. Carl Christian von Weizsäcker, Köln

Regina T. Riphahn, Dennis J. Snower und Klaus F. Zimmermann (Eds.), Employment Policy in Transition: The Lessons of German Integration for the Labor Market, Springer-Verlag, Berlin u.a. 2001,302 Seiten. Das Buch faßt 12 Aufsätze zusammen, die sich im Kern mit dem ostdeutschen Arbeitsmarkt seit der Wirtschafts- und Währungsunion von 1990 befassen. Dabei wird ein interessantes „Kontrastprogamm" zum „mainstream" bei dieser Thematik von Sinn und Sinn2, Siebert3 und dem Sachverständigenrat (verschiedene Jahresgutachten seit 1990/91) entworfen. So stellen H. Bonin und K. F. Zimmermann den Mangel an institutionellen Innovationen seit der Wende als Hemmschuh für eine Erholung in den neuen Ländern heraus, während M. Burda und M. Funke mittlerweile eine erstaunliche Flexibilisierung bei der Lohnfindung diagnostizieren, welche sie den alten Bundesländern als Vorbild empfehlen. Ist diese nachhaltig genug, könnte sie auch den Abschied von dem „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit-Prinzip" besiegeln, welches fur Κ.-H. Paqué mitverantwortlich fur die Misere am ostdeutschen (wie westdeutschen) Arbeitsmarkt ist. Seine 2 Sinn, Gerlinde und Hans-Werner Sinn (1991), Kaltstart: Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen. 3 Siebert, Horst (1992), Das Wagnis der Einheit, Stuttgart.

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Analyse ergibt außerdem, daß „training on the job" gegenüber Qualifizierungsmaßnahmen zur Bildung von Humankapital effektiver ist. A. Börsch-Supan und P. Schmidt untersuchen die ökonomischen Anreize für die Frühverrentung zahlreicher Arbeitnehmer in den neuen Ländern nach der Wende; es zeigt sich, daß dieses Verhalten auf rationale ökonomische Gründe, wie die Furcht vor Arbeitslosigkeit, zurückgeführt werden kann. Bisherige Berufserfahrung und Bildungsabschlüsse, so T. Hinz und R. Ziegler, waren und sind wichtige Erfolgsfaktoren bei der Schaffung von Arbeitsplätzen durch Neugründer im Osten Deutschlands. Neugründungen haben außerdem im Durchschnitt jüngere Arbeitnehmer beschäftigt (als andere Unternehmenstypen), höhere Bildungsrenditen erwirtschaftet und eine stärkere Lohnspreizung zugelassen, wie die ökonometrischen Tests von Schwarze und Wagner ergänzend demonstrieren. Wenig neues bringt der Vorschlag von D. Begg und R. Portes, daß in den ersten drei Jahren nach der Einheit degressiv gestaltete Lohnsubventionen für Abhilfe am Arbeitsmarkt gesorgt hätten. Auch H. Klodt repliziert ein bekannte Ergebnis, wonach Lohnsubventionen im Vergleich zu Kapitalsubventionen geringere Kosten für den Erhalt von Arbeitsplätzen verursachen. D. J. Snower bricht eine Lanze zugunsten einer Subventionierung des Arbeitnehmerentgelts in Form einer Gewinn- bzw. Umsatzbeteiligung (statt von Löhnen). Auch Investivlöhne, so G. Illing, könnten, unter den Bedingungen unvollkommener Kapitalmärkte, die Allokation verbessern und interne Finanzierungs- und Liquiditätsprobleme der betroffenen Unternehmen mildern. Dagegen haben sich in Ostdeutschland Maßnahmen der Aus- und Fortbildung/Umschulung von Arbeitslosen durch die Arbeitsämter in der kurzen bis mittleren Frist nach den Studien von Eichler und Lechner als unwirksam erwiesen. Aktive Arbeitsmarktpolitik scheint, so H. Lehmann, auch in Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien wenig effektiv gewesen zu sein. Insgesamt ist es den Herausgebern gelungen, eine inhaltsreiche und gut strukturierte Aufsatzsammlung zu einem einheitlichen Thema zusammenzustellen. Friedrich L. Seil, München

Otto Schlecht, Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft: Erfahrungen, Orientierungen und Handlungsempfehlungen, Zukunft der Marktwirtschaft, Band 1, Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt am Main 2001,82 Seiten. Das Buch von Otto Schlecht ist der erste Band einer neuen Schriftenreihe der Ludwig-Erhard-Stiftung über die „Zukunft der Marktwirtschaft" vor. Der Autor hat, in den Jahren 1967-1973 als Leiter der Grundsatzabteilung unter Minister Karl Schiller und von 1973-1991 als Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, die bundesdeutsche Wirtschaftspolitik entscheidend geprägt. Sein Wirken wurde einmal treffend als die „Inkarnation beweglicher Grundsatztreue" gewürdigt. Insofern berechtigt, versprechen die vier Herausgeber der Reihe, J. Jürgen Jeske, Rainer Klump, Christian Watrin und Horst-Friedrich Wünsche dem Leser „auf Erfahrung gestützte Orientierungen und Handlungsempfehlungen".

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Auffallend ist zunächst, daß Titel von Schriftenreihe und Buch dem Markennamen „Soziale Marktwirtschaft" sein Beiwort verweigern. Die Rede ist von „zukunftsfähiger Marktwirtschaft", während das Buch selber durchgehend von „Sozialer Marktwirtschaft" handelt: Ist das nun reine Semantik oder ein Paradigmenwechsel? Ein Schelm, wer dahinter Programmatisches vermutet? Otto Schlecht wird im kommenden Jahr den Vorsitz der Ludwig-Erhard-S ti ftung an den Liberalen Hans D. Barbier (FAZ) weitergeben. Insofern ließe sich die Titulierung der als FAZ-Buch erscheinenden Schriftenreihe durchaus programmatisch interpretieren. Aber auch Ludwig Erhard selbst benutzte das zum typischen „Wieselwort" {Hayek) und „Beutebegriff' (Gehlen) degenerierte Beiwort des „Sozialen" zunehmend ungern. Auch mit der Definition des Wortschöpfers MiillerArmack, Soziale Marktwirtschaft bedeute, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden", war Erhard unzufrieden und ergänzte sie sinnstiftend um die „sittliche Verantwortung des Einzelnen dem Ganzen gegenüber." Auch Schlecht schreibt: „So ist es beispielsweise ein besonders heikles Problem im Bereich der Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft geblieben, das Soziale angemessen im freiheitlichen Sinne zu interpretieren" (S. 20). An anderer Stelle wird dennoch die Notwendigkeit eines „neuen sozialen Leitbilds" entschieden verneint: „Brauchen wir (...) ,Neue Leitbilder' (...)? Oder gar eine ganz ,neue Soziale Marktwirtschaft' - wie eine gut gemeinte Initiative fordert? Entschieden nein - wenn es um die Grundprinzipien geht; (...). Offensiv ja - soweit es darum geht, die konkrete Ausformung der flankierenden Politiken, die „Ausführungsbestimmungen", den neuen Bedingungen anzupassen" (S.47). Die Begrifflichkeit von „Grundprinzipien" und „Ausfuhrungsbestimmungen" lehnt sich an Walter Eucken an, der sinngemäß zwischen konstituierenden und regulierenden Prinzipien unterschied (S. 18ff). Ist eine Korrektur in den „Ausführungsbestimmungen" der regulierenden Prinzipien jedoch ausreichend, wenn die Soziale Marktwirtschaft nach Schlechte Urteil bereits „zur halben Staatswirtschaft pervertiert" ist (S. 46f.)? Und kommt dabei nicht die Notwendigkeit eines zwischen Eucken, Müller-Armack und Erhard differenzierenden Verständnisses von Sozialer Marktwirtschaft zu kurz? Das Miiller-Armacksche, eher additive, die originären Marktergebnisse korrigierende Verständnis des Sozialen in der Marktwirtschaft unterscheidet sich durchaus von dem Verständnis einer inhärent sozial geordneten Sozialen Marktwirtschaft im Sinne Euckens und Erhards. Eine inhärent Soziale Marktwirtschaft wäre aber auch mehr als eine reine Wettbewerbsordnung im Sine Euckens. Die Frage nach den konstituierenden Prinzipien stellt sich dann umfassender im Sinne einer Sozialen Marktwirtschaft als gesellschaftspolitische Konzeption. Die vom Autor zitierte ordoliberale „List der Idee" einer Begrenzung und Kanalisierung individuellen Markthandelns durch die staatliche Rahmenordnung (S. 17f.) alleine hat jedenfalls die Entfaltung einer wuchernden Staatswirtschaft nicht verhindern können. Die Ausführungsbestimmungen der regulierenden Prinzipien überwuchern und entstellen inzwischen den eigentlichen Bauplan der konstituierenden Prinzipien. Daraus ließe sich durchaus die Notwendigkeit einer Neuformulierung und Ergänzung auch der konstituierenden Prinzipien ableiten. Ebenso unterschätzt wird die Notwendigkeit einer Reformulierung der Sozialen Marktwirtschaft als politischer Ökonomie. Der ewige Verweis auf

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die reine Theorie und ihre politisch unreine Umsetzung fuhrt da nicht weiter. Insofern ist die Schelte des Autors, es sei „ein häufiger Fehler von gut durchdachten wissenschaftlichen Entwürfen und Theorien, daß die konkreten gesellschaftlichen und politischen Umstände zu wenig berücksichtigt werden", berechtigt. Sie fällt aber letztlich auf das rein ordoliberale Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft zurück. Dies kann kein Vorwurf an Walter Euchen sein, vor fünfzig Jahren seinen Grundsätzen und Prinzipien noch keine unseren Zeiten adäquate politische Ökonomie beigegeben zu haben, ändert jedoch an dem Defizit als solchem nichts. Sich dabei auf den „wirklichkeitsorientierten Politiker" (S.21) zu verlassen erscheint, gerade bei einem so politikerfahrenen Autor, zu naiv. Schlecht postuliert: „Auch unter den Bedingungen demokratischer und föderaler Entscheidungsprozesse im Parteienwettbewerb muß der Staat in der Lage sein, die Ordnung zu setzen und zu verteidigen" (S.21). (Ordnungs-)Politische Reformen sind aber möglicherweise ohne eine vorherige Reform der Politik gar nicht mehr möglich. Erkenntnisse der modernen Institutionenökonomik sowie der „neuen" und der „konstitutionellen" politischen Ökonomie sind hier wegweisend. Insofern ist das Buch von Schlecht im konzeptionellen Teil (Kapitel Π) mehr Rückblick als Vorschau und soll es auch ganz bewußt sein. Es ist das Vermächtnis eines überzeugten Ordoliberalen, der „seine" Jahrzehnte in Erfolg und Niederlage resümiert, und von diesem Standpunkt aus die umfassende Programmatik einer zukunftsfahigen Marktwirtschaft beschreibt (Kapitel ΠΓ). Ein lohnendes Buch also als Reminiszenz ohnehin, aber auch für alle diejenigen Theoretiker und Praktiker der Wirtschaftspolitik, die diesen zukünftigen Weg erst noch zu erkunden und dann auch zu gehen haben. Robert Β. Vehrkamp, Witten/Herdecke

Christian Schallermair, Ökonomische Merkmale sozialer Dienstleistungen und deren Beschäftigungspotentiale am Beispiel der stationären Altenheime, Schriften zur Gesundheitsökonomie, Band 27, Verlag P.C.O., Bayreuth 1999,399 Seiten. Die für Deutschland prognostizierten demographischen Veränderungen und die im Wandel befindlichen Familienstrukturen führen zu einem zunehmenden Bedarf an sozialen Dienstleistungen für ältere und pflegebedürftige Menschen. Zwar entstehen durch diese Entwicklung einerseits zusätzliche Probleme für die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems, andererseits werden jedoch Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen im tertiären Sektor vermutet. Vor diesem Hintergrund stellt sich Schallermair in seiner an der Münchener Universität der Bundeswehr entstandenen Dissertation die Aufgabe, „die Merkmale sozialer Dienstleistungen und deren künftige Beschäftigungspotentiale am Beispiel der stationären Altenpflege eingehend zu untersuchen" (S.

4). Nach dem einleitenden Teil werden der Begriff „soziale Dienstleistungen" und die ökonomischen Besonderheiten dieses Dienstleistungssegments analysiert. Die Diskussion der „Besonderheiten" (unter anderem mangelnde Konsumentenrationalität, asymmetrische Informationsverteilung und angebotsinduzierte Nachfrage) fallt dabei eher knapp

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aus und ist zudem mit der nur für einige der behandelten Aspekte passenden Überschrift „Argumente fur die Meritorisierung sozialer Dienstleistungen" versehen. Im dritten Kapitel ist unter anderem die Zunahme der Beschäftigtenzahlen in den sozialen Berufen seit den 70er Jahren ausfuhrlich nachgezeichnet. Als wesentliche Voraussetzungen für ein weiteres Wachstum der Beschäftigung im tertiären Sektor im Allgemeinen und bei den sozialen Dienstleistungen im Besonderen benennt der Verfasser wenig überraschend - eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine Senkung der Lohnkosten. Die folgende Diskussion arbeitsmarkt- und steuerpolitischer Instrumente könnte jedoch analytisch differenzierter und vertiefter erfolgen. Auch berücksichtigt Schallermairs grundsätzlich positive Beurteilung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu wenig die erheblichen Nachteile, die mit diesem Ansatz verbunden sind, und die wissenschaftlich kontrovers erörtert werden. In Kapitel IV folgt eine informative Bestandsaufnahme der stationären Altenpflege in Deutschland. Auch zu den Pflegebedürftigen als Nutzer der Pflegeeinrichtungen finden sich detaillierte Angaben. Einen Schwerpunkt der Studie bildet das fönfte Kapitel, in dem die „Beschäftigungspotentiale der stationären Altenpflege" untersucht werden. Zentrale Ergebnisse lauten, daß die Zahl der Pflegebedürftigen wachsen wird, der Rückgang der innerhalb von Familien erbrachten Pflegeleistungen sowie der zunehmende Anteil von Schwerstpflegebedürftigen zu einer erhöhten Nachfrage nach stationären Pflegeleistungen führen und eine Substitution stationärer durch ambulante Pflegeleistungen nur eingeschränkt möglich erscheint. Zugleich werden Verbesserungsmöglichkeiten im Bereich der geriatrischen Rehabilitation aufgezeigt, die dem zunehmenden Bedarf nach stationären Angeboten entgegen wirken und die sich nach Ansicht Schallermairs durch geeignete Finanzierungsregelungen aktivieren ließen. Um abschätzen zu können, inwieweit sich der steigende Bedarf an stationärer Pflege in einer zunehmenden Beschäftigung niederschlägt, werden im sechsten Kapitel systematisch die Rationalisierungspotentiale in der stationären Altenpflege diskutiert. Dabei geht es etwa um die Möglichkeiten einer Neuverteilung von Pflegeaufgaben zwischen unterschiedlich qualifizierten Mitarbeitern. Anschließend befaßt sich Schallermair mit der „Privatisierung und Deregulierung der stationären Altenpflege" und befürwortet eine verstärkte Nutzung wettbewerblicher Mechanismen. Zumindest teilweise offen bleibt jedoch, wie vor dem Hintergrund der erwähnten marktstrukturellen Besonderheiten ein geeigneter Ordnungsrahmen für die stationäre Altenpflege auszugestalten wäre. Abschließend werden in Kapitel VII „Entwicklungstendenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten in der stationären Altenpflege" behandelt. Hier ist mit einer expansiven Beschäftigung zu rechnen. Schallermair geht ausführlich auf die Herausforderungen ein, die mit der Deckung des zusätzlichen Personalbedarfs verbunden sind. Für erforderlich gehalten wird eine erhöhte Attraktivität der Pflegeberufe, die sich primär über verbesserte Arbeitsbedingungen erreichen lasse. Zudem spricht sich Schallermair gegen eine starre Vorgabe für den Fachkräfteanteil in Pflegeheimen aus, wobei er überzeugend sowohl die fehlende Notwendigkeit als auch die mangelnde Effizienz dieser Bestimmimg verdeutlicht. Schließlich werden die - begrenzten - Möglichkeiten diskutiert, im Pflegebereich neue Beschäftigungsfelder für Arbeitslose zu erschließen.

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Insgesamt handelt es sich um eine sorgfältige und bis in Details hinein informative Analyse des untersuchten Dienstleistungssegments, die sich durch Aktualität und einen hohen Praxisbezug auszeichnet. Aus ordnungspolitischer Perspektive ließen sich einige besonders diskussionswürdige Aspekte - ζ. B. die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der wettbewerblichen Selbststeuerung im Bereich der sozialen Dienstleistungen - noch vertiefter erörtern. Angesichts der zunehmenden volkswirtschaftlichen Relevanz dieses Sektors wäre eine weiterführende ordnungsökonomische Grundlegung hierfür wünschenswert. Frank Fichert, Mainz

Fritz Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, SpringerVerlag, 2. verb. Aufl., Berlin u.a. O. 2001,374 Seiten. Studenten der Volkswirtschaftslehre sind gut beraten, sich die wesentlichen theoretischen Grundlagen ihres Faches durch die Lektüre von Werken zu erschließen, die die Entwicklung der einzelnen Konzeptionen und Heuristiken von ihrer Wurzel her behandeln. Insofern ist die Dogmengeschichte von hohem propädeutischem Wert und eigentlich unverzichtbar im Rahmen jedes wirtschaftswissenschaftlichen Studiengangs. Erleichtert wird der Zugang zu den Denkwelten der Ökonomen durch eine Reihe leicht verständlich verfaßter Studienbücher, zu denen jenes von Fritz Söllner, das nun in zweiter Auflage vorliegt, zweifellos gehört. Das dogmenhistorische Lehrbuch - soviel sei vorweggenommen - ist kompetent und zuverlässig verfaßt, klar strukturiert sowie auf das Wesentliche reduziert. Zwischen „Einfuhrung" und „Ausblick" enthält es sieben Kapitel (Vorklassik, Klassik, MikroÖkonomie: Neoklassik, Geldtheorie, Makroökonomie, Konkurrierende Theorien, Aktuelle Entwicklungen). An den meisten von ihnen ist - zumal in der verbesserten 2. Auflage - kaum etwas auszusetzen. Sie bieten in knapper Form einen hervorragenden Überblick über das „Angebot" an wirtschaftswissenschaftlicher „Theorie" von Aristoteles bis zur Gegenwart. Die klare Systematik und Kompaktheit sucht ihresgleichen und erklärt den offensichtlichen Erfolg des Lehrbuchs. So wird die Sichtbarmachung von Zusammenhängen und Unterschieden der verschiedenen Denkrichtungen erleichtert. Dieses war auch das erklärte Hauptziel der Darstellung (S. 1). Insbesondere darf die „Übersetzung" der zuweilen schwer verständlich verfaßten dogmengeschichtlichen Originalquellen in eine einheitliche moderne Sprache und graphische Darstellungsform als sehr gelungen betrachtet werden. Die Schlüsselstellen in den Originalen sind sinnvoll selektiert und in die Darstellung klug eingestreut. Bewußt verzichtet der Verfasser auf die Ausleuchtung der zeit- und ideengeschichtlichen Hintergründe. Die Frage der Genese und Präferierung bestimmter Denkrichtungen vor dem Hintergrund realer zeitgenössischer wirtschaftlicher Herausforderungen wird absichtlich ausgeklammert. Dies bleibt Wissenschaftshistorikern und dogmenhistorisch orientierten Wirtschaftshistorikern überlassen. Ebenfalls ausgeklammert bleiben methodologische und wissenschaftstheoretische Aspekte, also Theoriebildung und Theorieüberprüfung. Auch wenn diese Vorgehensweise Söllners dem einen oder anderen etwas puristisch erscheinen mag: Es kommt dem Wunsch der meisten Studenten sehr entge-

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gen, die wesentlichen Inhalte didaktisch „abgespeckt" und in sprachlich wie strukturell ansprechender Form präsentiert zu bekommen. Vereinfacht könnte man die didaktische Reduktion wie folgt umschreiben: Man nehme einen Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften und stelle dessen Werk und dogmenhistorische Bedeutung im Überblick dar. Für die Zeit, als die Wirtschaftswissenschaften noch nicht nobelpreiswürdig waren, d.h. vor 1969, identifizierte der Verfasser jene Zeitgenossen, die den „mainstream" repräsentierten und die Auszeichnung wohl erhalten hätten, wenn es sie denn schon gegeben hätte. Gibt das Buch also einerseits wie wohl wenige vergleichbare den „mainstream" wieder, so mag es andererseits Leser geben, die sich deutlich mehr Hinweise auf Alternativen zu diesem wünschen würden, gewissermaßen Hinweise auf den „Alternativen Nobelpreis". Doch diesen hat der Verfasser, wie gesagt, bewußt ausgeklammert und behandelt ausschließlich den „mainstream", der für den Verfasser aktuell und zukünftig „Neoklassik" (Optimierungsprinzip, Gleichgewichtskonzept, methodologischer Individualismus) heißt. Sie ist für ihn der gültige Maßstab, auch wenn er im Schlußsatz des Buches (S. 332) die „nicht geringe Zahl von leeren Formalismen in der Neoklassik..." einräumt, gleichwohl aber meint, es dürfe „die Prognose gewagt werden, daß sie (die Neoklassik) auch in absehbarer Zukunft das dominierende ökonomische Paradigma sein wird" (S. 332). Angesichts dessen, daß von einer wirtschaftswissenschaftlichen Theorie mehr und mehr verlangt wird, daß sie endlich qualitativ-komplexe Phänomene, also Realitäten erklären und von solchen ausgehen soll und eingedenk dessen, daß die Neoklassik gerade hier (zumal gemessen an dem Aufwand, den ihre Kultivierung erforderte) bislang erhebliche Defizite hatte, wird man seine Prognose nicht teilen müssen. Seiner Einschätzung würde man möglicherweise folgen können, wenn die Kapitel über potentielle alternative Paradigmen, beispielsweise über die evolutionäre Ökonomik, mit derselben Souveränität und Hingabe verfaßt worden wären wie jene über die Neoklassik. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die beispielsweise im Zusammenhang mit der Evolutorik zitierte Literatur gibt knapp den Forschungsstand von vor zehn Jahren wieder. Sie wird unter Betonung ihrer frühen „biologistischen" Variante vorgestellt und damit in einer gewissen Verkürzung ihrer Möglichkeiten zur Erklärung wirtschaftlicher Entwicklung, menschlichen Verhaltens und qualitativer Komplexität. Jüngere und jüngste Befunde - enthalten etwa in den Sammelbänden des einschlägigen Ausschusses im Verein für Socialpolitik oder einige Werke aus den USA - fanden noch keinen Eingang in die Darstellung. Sie sind offensichtlich noch nicht „reif' genug, um im Rahmen einer „Geschichte des ökonomischen Denkens" erwähnt zu werden. Doch immerhin ist der evolutorischen Spieltheorie ein Abschnitt gewidmet. Auch wird die zunehmend als wichtig erachtete und bislang vernachlässigte Ressource „Wissen" bzw. Humankapital im Rahmen der Darstellung der Neuen Neoklassischen Wachstumstheorie (S. 250ff.) betont, doch erfahrt man nicht, daß sich auch hier die evolutorische Ökonomik in den vergangenen Jahren unter Rückgriff auf kognitionswissenschaftliche Befunde und in echter Interdisziplinarität bemüht hat, diesen komplexen Bereich fur die Wirtschaftswissenschaft zu erschließen. Ferner bemängelt der Verfasser zurecht die selbst von der Neuen Neoklassischen Wachstumstheorie ungenügend geleistete Modellierung der Innovationen (S. 259), doch wäre auch hier ein Hinweis auf die neuesten Forschungsansätze z.B. im Rahmen der

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Evolutorik wünschenswert gewesen. Mögen sich die angedeuteten Forschungsrichtungen aufgrund ihres höheren Komplexitätsgrades auch teilweise der Formalisierung entziehen und wohl noch einige Zeit jenseits des „mainstream" verharren; eine Auseinandersetzung mit ihnen könnte sich lohnen. Auch gelegentliche „links" zur betriebswirtschaftlichen Dogmengeschichte wären nicht verkehrt, zumal diese im Buchtitel nicht ausgeschlossen ist. Trotz mancher „Wünschbarkeiten", die sich vor allem auf das Forschungsspektrum des vergangenen Jahrzehnts und dessen eher knappe Berücksichtigung in vorliegendem Werk beziehen, bleibt dennoch ein überaus positiver Gesamteindruck. Es gibt - was die Darstellung der Grundlinien bis hin zu den neueren Ausprägungen der Neoklassik anbelangt - wohl kein kompakteres und für volkswirtschaftliche Studienzwecke besser geeignetes dogmenhistorisches Buch als das vorliegende. Eine angemessene Zahl von Abbildungen, Gleichungen sowie ein Autoren- und Stichwortregister erleichtern überdies die Erschließung seines anspruchsvollen Inhalts. Rolf Walter, Jena

Renate Schubert (Hrsg.), Ursachen und Therapien regionaler Entwicklungskrisen: Das Beispiel der Asienkrise, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2000,239 Seiten. Das vorliegende Buch von Renate Schubert enthält die Referate und Korreferate, die auf der Jahrestagung 1999 des Ausschusses Entwicklungsländer im Verein fur Socialpolitik diskutiert wurden. Zentrales Thema der Tagung waren die Ursachen und Therapien regionaler Entwicklungskrisen. Als aktuelles Beispiel einer derartigen Entwicklungskrise wird in den meisten Beiträgen die Asienkrise näher untersucht. Ziel des Buches ist es, nicht nur die Ursachen von Entwicklungskrisen am Beispiel der Asienkrise aufzuzeigen, sondern auch Vorschläge für die Verhinderung zukünftiger Krisen zu erarbeiten. Ausgangspunkt bildet ein detaillierter Überblick über das Erscheinungsbild und die Erklärungsmuster der Asienkrise von Christoph Rieger. Hier wird deutlich, daß die Asienkrise für die meisten Marktteilnehmer zwar überraschend, aber nicht unerwartet kam. Im Vorfeld wurde bereits seit einiger Zeit vor der Unvereinbarkeit der Inflation der Vermögenswerte im Immobilienbereich (Asset Inflation), der Leistungsbilanzdefizite und den quasi festen Wechselkursen gewarnt. Hier wird deutlich, daß der vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Regulierung der nationalen und internationalen Finanzmärkte eine zentrale Rolle bei der Erklärung und Ausbreitung der Asienkrise zukommt. Die Analyse der Rolle von internationalen und nationalen Finanzmärkten steht daher in den folgenden Beiträgen von Lukas Menkhoff, Eva Terberger-Stoy und Torsten Amelung sowie ihren Korreferaten im Mittelpunkt. Aus diesen Abhandlungen wird ersichtlich, daß es vor allem die Unterschiede zwischen den formalen Regelungen und der faktischen Umsetzung, verbunden mit der fehlenden Infrastruktur, waren, die den Ausbruch der Krise in Asien begünstigt haben. In den Krisenländer existierte zwar ein rechtlicher Rahmen für die Bankenaufsicht, dieser wurde jedoch nur schlecht oder gar nicht umgesetzt bzw. kontrolliert, da vielfach Regie-

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rungsziele von den Banken verfolgt wurden. Verstärkt wurde diese Problematik noch durch eine, in den meisten Fällen, unzureichende Regulierung der Realwirtschaft im Sinne strenger Rechnungslegungs- und Informationsvorschriften. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, daß die Implementierung des Basle Accord in den Krisenländern nicht als Lösung für die Probleme, welche im Rahmen der Asienkrise deutlich geworden sind, angesehen werden kann. Die abschließenden Beiträge von Wolfgang Veit und Peter Nunnenkamp mit ihren Korreferaten diskutieren die Bedeutung realwirtschaftlicher Verflechtungen bei der Ausbreitung regionaler Wirtschaftskrisen und die Rolle des Internationalen Währungsfonds. Marcus Cieleback, Bayreuth

Joachim Weimann, Wirtschaftspolitik: Allokation und kollektive Entscheidung, Springer-Verlag, 2. Auflage, Berlin u.a. 2001,439 Seiten. Vor einigen Jahrzehnten wurden Lehrbücher zur Wirtschaftspolitik oft von Ökonomen, insbesondere von „Theoretikern" mehr oder weniger naserümpfend zur Kenntnis genommen und mit dem Verdikt belegt, sie seien detailverliebt, rein deskriptiv und eben theorielos. Beginnend mit dem auch heute noch lesenswerten Lehrbuch von Sohmen4 hat sich seit einigen Jahren in der Theorie der Wirtschaftspolitik ein radikaler Wandel hin zu einer Neuorientierung vollzogen. Zu denken ist an das 1993 in erster Auflage erschienende Lehrbuch von Fritsch, Wein und Ewers5, aber auch an das hier zu besprechende Lehrbuch von Weimann. Die zweite Auflage des Lehrbuchs von Weimann ist aus den folgenden vier Gründen ein Paradebeispiel für die Neuorientierung der Theorie der Wirtschaftspolitik: (1) Wirtschaftspolitische Aussagen werden theoretisch fundiert und nicht dogmatisch postuliert. Wirtschaftspolitik versteht sich so als angewandte Theorie, die aber über die Theorie explizit hinausgeht und gesellschaftliche Alternativen bewertet und auf ihre politische Umsetzung hin reflektiert. (2) Kennzeichnend für das Lehrbuch von Weimann ist seine stark spieltheoretische Ausrichtung. Diese schafft Raum für neue Sichtweisen und Reflexionen und sorgt für eine konsequent entscheidungsorientierte Perspektive. (3) Darüber hinaus bietet sie sowohl die theoretische als auch empirische Grundlage zu denken ist hier an die experimentelle Spieltheorie - für methodologische Reflexionen. Hervorzuheben sind hier die Überlegungen zum individuellen Rationalverhalten. (4) Besonders anregend sind die im Lehrbuch zu findenden „Sidesteps". Dies sind schöne wirtschaftspolitische Fallstudien, die den Praxisbezug des Lehrbuchs stark fördern und die seine Attraktivität bei Betriebswirten immens steigern werden.

4 Sohmen, Egon (1976), Allokationstheorie und Wirtschaftspolitik, Tübingen. 5 Fritsch, Michael, Thomas Wein und Hans-Jürgen Ewers (1999), Marktversagen und Wirtschaftspolitik, 3. Aufl., München.

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All dies ist aber - wie immer in der Ökonomie - nicht völlig kostenlos zu erhalten. Auf nicht uneingeschränkte Akzeptanz wird das Konzept der kollektiven Rationalität von Weimann stoßen, das er nur mit immensen Opfern durchhalten kann. Für Weimann besagt kollektive Rationalität simpel Pareto-Optimaliät. Damit verzichtet er auf eine umfassende gesellschaftliche Bewertimg, wie sie ζ. B. Arrow anstrebt. Weimann rechtfertigt seine restriktive Vorgehensweise unter anderem damit, daß er zwischen allokativen und distributiven Fragen trennt und daß Gerechtigkeitsaspekte erst bei der Auswahl zwischen den Aireio-optimalen Alternativen zum Tragen kommen. Diese Separierungsstrategie ist aber nicht unschuldig, sondern hat immense wirtschaftspolitische Implikationen: (1) Die Problematik von Disincentives wird dabei vernachlässigt. Entsprechend kurz fallen dazu die Ausführungen im Lehrbuch aus. (2) Die zentrale Frage der Wirtschaftspolitik - „Wie können wir rationalere Politik durch institutionelle Reformen erreichen, indem wir den Trade off zwischen ökonomischer Effizienz und Gerechtigkeit abbauen?" - wird von Weimann mehr oder weniger tabuisiert. (3) Da gerade Gerechtigkeitsaspekte universellen Charakter haben, worauf Weimann anhand der experimentellen Arbeiten zur Fairneß ausdrücklich hinweist, reduziert er seinen Objektbereich auf eine reine Tauschwirtschaft, in der Incentives nicht so relevant sind. Alle anderen Bereiche der Wirtschaftspolitik (Arbeit, Produktion, Wachstum usw.) werden höchstens am Rande behandelt. (4) Für Weimann ist das zweite Fundamentaltheorem der Wohlfahrtsökonomik, nach dem durch Umverteilung der Grundausstattung jede gewünschte Verteilung ohne allokative Nachteile realisiert werden kann, ein Allheilmittel. Dabei übersieht er, daß eine Umverteilung, wenn es um Fähigkeiten, Bildungsstand, Sozialisierungsgrad usw. geht, nur schwer und mit hohen Kosten zu realisieren ist, daß die Ankündigung von Umverteilung (siehe Erbschaftsteuer usw.) Disincentives bewirkt, und daß nach Sadmo eine in Abhängigkeit vom Einkommen differenzierende Umverteilung der Grundausstattung unter Umständen wie eine progressive Einkommenssteuer wirken kann. (5) Da Wettbewerbspolitik mehr als nur allokative Effizienz anstrebt, fallen die Ausführungen zu diesem Thema bei Weimann recht dünn aus. Insbesondere der Konflikt zwischen Freiheit und Effizienz wird dort nicht angesprochen. Von daher ist es nur konsequent, wenn Weimann auf das für die Wirtschaftspolitik fundamentale SenParadox nicht eingeht. (6) Akzeptiert man aber kollektive Rationalität als Verfahrens- und nicht als reine Ergebnisrationalität, dann verliert das Pare/o-Kriterium seine absolut dominante Position. Entsprechend implizieren die Axiome von Arrow auch keine allokative Effizienz, da sie dem einzelnen freistellen, nach welchen Kriterien er gesellschaftliche Zustände bewertet. Es gibt einen Punkt, der die Lesbarkeit des ansonsten didaktisch geschickt geschriebenen Buchs einschränkt und zu einer Überarbeitung veranlassen sollte. Dies ist der Aufbau des Buches, der Studenten im Grundstudium bestimmt Schwierigkeiten bereiten

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wird. So fehlen eine systematische Darstellung der spieltheoretischen Grundlagen sowie ein eigenes Kapitel zur Institutionenökonomik, so daß letztere immer wieder nur sporadisch und unsystematisch behandelt wird. Das 3. Kapitel zu den wohlfahrtstheoretischen Grundlagen ist relativ konventionell und die Effizienzbedingungen für öffentliche versus private Güter hätten besser in das 4. Kapitel zum Marktversagen gepaßt. Des weiteren hätte man das 6. Kapitel über Markt und Wettbewerb dem 4. voranstellen sollen. Leider leidet das 7. Kapitel, das sich mit mehr als der „Regulierung natürlicher Monopole" beschäftigt, unter einer rein preistheoretischen Ausrichtung und es fehlen oft wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen. Dies gilt insbesondere für das l x l der Industrieökonomik. Es wäre naheliegend gewesen, das 4. und 8. Kapitel zusammenzulegen, da das 4. im 8. Kapitel seine theoretische Fundierung findet. Bei den externen Effekten sollte man auf ein kompliziertes Modell zugunsten einer einfachen graphischen Darstellung verzichten und systematisch die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten der Internalisierung externer Effekte darstellen. Besonders gelungen ist das 5. Kapitel zu den kollektiven Entscheidungsprozessen, das sich mit der direkten Demokratie beschäftigt. Es wäre sinnvoll gewesen, das 9. Kapitel zur indirekten Demokratie an dieses anzuschließen und die für das Lehrbuch zentrale Frage der Politikberatung dort systematisch aufzugreifen. Gemäß der Redewendung: „Wer nichts riskiert, der nichts gewinnt", kann man sagen, daß Weimann mit seinem Lehrbuch einige riskante Strukturierungen vorgenommen hat, die nicht von jedem akzeptiert werden, daß er aber immens viel an wirtschaftspolitischer Relevanz mit seinem empfehlenswerten Lehrbuch gewonnen hat. Hermann Ribhegge, Franbfurt/Oder

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Personenregister Addison, John T. 22, 24 Akira, Takenaka 216 Albert, Hans 84,131, 311, 382 Alchian, Armen A. 119 Alecke, Björn 220 Allan, Andrew 383 Althammer, Jörg 320, 324 Amelung, Torsten 271,471 Amsden, Alice H. 175, 180,182 Anderson, G.M. 296 Andreff 408 Aoki, Masahiko 18 Aristoteles 469 Arnold, Volker 291 Arrow, Kenneth J. 473f. Artopoeus, Wolfgang 370 Aslund, Anders 176 Aufderheide, Detlef 395f. Austin, John 146 Axelrod, Robert 202, 374 Azfar, Omar 295 Babel, Gisela 456 Bäckström, Urban 258,263f. Ballestrem, Κ Graf 92 Bailot, Gerard 28 Barbier, Hans D. 466 Barr, Nicolas 217 Barro, Robert J. 177 Barry, Norman P. 90 Bartling, Hartwig 239 Bates, Robert H. 181 Baumbach, Adolf 142, 148 Baumol, William J. 177 Baurmann, Michael 327ff. Beach, William W. 181

Bechtel, Heinrich 446 Beck, Ulrich 432 Becker, Gary S. 297, 388,462 Beer, Doris 26 Begg.D. 465 Belke, Ansgar 29,336 Bell, James 253 Bender, Gerd 32 Benink, Harald 264 Bentham, Jeremy 40 Berg, Andrew 240 Berg, Hartmut 333 Bergson 457 Bernanke, Ben S. 252 Bertola, Guiseppe 23 Berthold, Norbert 15, 18f., 27ff., 31, 216, 225, 337, 390, 426f., 456 Beveridge 339 Bickenbach, Frank 16, 18 Biedenkopf, Kurt 232 Bilger, Francois 336 Bischoff Ivo 444 Biskup, Reinhold 441 Bismarck, Otto von 118,217 Blair, Tony 228 Blankart, Charles B. 109, 114f., 200f., 209, 295 Blesgen, Detlef J. 301 ff. Blessing, Karl 363 Block, Walter 181 Blüm, Norbert 456 Böckenforde, Ernst-Wolfgang 80 Böckli, P. 408 Boettke, Peter 140 Böhm, Franz 37, 41ff., 45ff., 49, 51f., 54ff., 59f., 76, 103f., 462

476 · Personenregister Bohnet, Armin 444 Bollard, Alan 216 Bonin, H. 464 Bönker, Frank 405 Bonn, Joachim K. 265 Bordo, M. 243, 257f. Born, Karl Erich 240,270 Borner, Silvio 156,163,166 Börsch-Supan, Axel 465 Bouillon, Hardy 90f., 138 Bradshaw, York W. 181 Brennan, Geoffrey 104,115, 158,206 Breyer, Friedrich 320,457 Brinitzer, Ron 391 Brittan, Samuel 91 Brunekreeft, Gert 362 Brzezinski, Zbigniew 175 Buch, Claudia M. 257 Buchanan, James M. 38ff., 56f., 78, 100, 105f., llOf., 114,119f., 122, 156, 191, 195, 199,203ff., 209, 388, 392, 395, 398, 430,454,457ff., 462 Burda, Michael 464 Butterwegge, Christoph 217, 222f. Cain, Michael J. G. 295 Cairnes, John Elliott 190 Caprio, Gerald Jr. 245f., 249, 253f., 257 Carlin 408 Casella, Alessandra 116 Cassel, Dieter 105f., 108,444 Cassel, Gustav 191 Cassel, Susanne 443 Chau, Nancy H. 227 Choi, Youn-back 225 Christi, Claudius 309 Churchill, Winston 290 Cieleback, Marcus 349, 364, 472 Ciaessens 409

Clapham, John 253 Clinton, Bill 345,401 Coase, Ronald H. 18ff., 25,119,122, 316, 391 ff. Coleman, James S. 84, 199 Congleton, Roger D. 298 Corsetti, Giancarlo 259 Courtois, Stéphane 179 Crain, W. Mark 296 Cremer, David de 374,379 Crespigny, Anthony de 90 Cross, Rod 383 Dadush, Uri 268 Dahrendorf, Ralf 339ff. Dalaker, Joseph 225 Darwin, Charles 93 Dasgupta, Dipak 268 Daumann, Frank 83, 87, 89 Davidson, Audrey Β. 298 Davidson, Paul 230 Davis, E. P. 243, 262f. Davis, Gareth G. 181 De Alessi, Louis 295 Demirgüc-Kunt, Asli 240, 252f. Demsetz, Harold 118f. De Soysa, Indra 183 Detragiache, Enrica 240, 252f. Diamond, Peter 195 Dicke, Hartmut 399ff. Dieter, Herbert 276 Dietl, Helmut 219 Dietze, Gottfried 85, 87 Dietzfelbinger, Daniel 445f. Dilger, Alexander 21 Dixit, Avinash 383 Djankob 409 Doering, Detmar 456 Dollar, David 184 Döring, Thomas 286f., 366, 392

Personenregister · 477 Dorn, James A. 99

Falk, Armin 373

Downs, Anthony

Feddersen, Arne 353

158,462

Dray, William 132,149

Fehl, Ulrich 53

Dunning, John H. 220

Fehn, Rainer 29, 216, 337,426

Durkheim, Emile 289

Fehr, Ernst 169, 373ff.

Dycke, Axel 222

Feist, Holger 343ff. Feld, Lars P. 155,163ff., 169,447

Eberl, Udo 291

Feldmann, Horst 444

Eckardt, Martina 367

Feldstein, Martin S. 224

Eckel, Carsten 220

Fichert, Frank 469

Edwards, Sebastian

Fischer, Peter A. 349ff.

181f,

Eekhoff, Johann 456

Fleischmann, Jochen

Eger, Thomas 444

Foders, Frederico 438f.

385, 453

Eichenberger, Reiner 218

Franke, Siegfried 337

Eichengreen, Barry 243, 255, 257ff.

Frankel, Jeffrey A. 255

Eichenhofer, Eberhard 216,218

Franz, Wolfgang 234

Eichler 480

Franzmeyer, Fritz 217,223,225

Eisen, Roland 216,232, 320, 324 Eisenmenger, Sven L. 363 Eisermann, Gottfried 387 Ekelund, Robert Β. 297f. Elster, John 383 Emmerich, Volker 142f., 148 Engel, Christoph 220 Engel, Heike 320 Engelhard, Peter 283f. Engels, D. 424 Engels, Friedrich 114,383 Enoch, Charles 245, 266 Enste, Dominik 79, 81,432 Erhard, Ludwig 461 f., 466 Erlei, Mathias 393 Esping-Andersen, Gösta 217 Esser, Josef 141,146f. Eucken, Walter 41, 59,103f., 107, 132, 136, 224, 232, 284,286, 305f., 319, 362, 386ff„ 423,427f„ 461f„ 466f. Ewers, Hans-Jürgen 472

Freeman, Richard B. 19, 31

Faber, Malte 203

Freiburghaus, Dieter 449 Freitag, Markus 353ff. Frey, Bruno S. 116,121, 123,160, 166,218, 328, 337,374 Frick, Bernd 18, 20,22, 325f. Friedrich, Gerd 234 Fritsch, Michael 472 Frydl, Edward J. 241,245 Funder, Maria 18, 34 Funke, M. 464 Furman, Jason 249 Furubotn, Eirik 18f., 21, 31f. Gabisch, Günther 304 Gohrisch, Hubert 227 Gaertner, Wulf 289ff. Gähde, Ulrich 293 Gaillard 431 Galbraith, John K. 221, 229 Galeotti, Α. E. 85,87 Ganßmann, Heiner 224

478 · Personenregister Gardlund, Torsten 190f. Gavin, Michael 252ff., 261 Gawel, Erik 122 Gehlen 382,466 Gehrig, Gerhard 303 Geigant, Friedrich 363 Geis, Heinz-Günter Gerber, David J.

259 41,148,162,164

Gerken, Lüder 209 Geue, Heiko 283ff., 390 Giddens, Anthony 219, 228, 339ff. Gierke, Otto von 199 Giersch, Herbert 233, 403 Gill, Colin 32 Gis eher, Horst 337 Gmelin, Jens 438 Goldsmith, Arthur A. 181 Goldstein, Morris 245ff. Gräbel, llene 250 Graf, Hans-Günther

230

Granovetter, Mark 381 Gray, John N. 86,91, 138f. Green, John H.

150

Greenaway, David 182,184 Greenbaum, Stuart 368 Greiner, Wolf gang 415ff. Gresham, Thomas 221 Grier, Kevin B. 296 Gröner, Helmut 239, 359 Grossekettler, Heinz 388 Gudnason, Eirikur 265, 276 Gunten, Fred von 405,414f. Güntzel, Joachim 303 Gurbaxani, Indira 399, 462 Güth, W. 374, 376 Gutmann, Gernot 283 Gwartney, James 181 Haan, Jacob de 181

Habermann, Gerd 103 Habermas, Jürgen 382f. Habich, Roland 225 Hafner, Bernhard 373 Hamel, Hannelore 283 Hamlin, Alan 104,115 Hamm, Walter 1,9,11,471 Hamowy, Ronald 90 Han, Jongwoo 176 Hansjürgens, Bernd 287, 392, 394 Harbrecht, Wolfgang 364 Hardy, Daniel C. 252, 254 Hartwig, Karl-Hans 103, 239 Hasenfuss, Ivar 93 Hasse, Rolf 452 Hauser, Heinz 309 Hauser, R. 236 Hausmann 253 Hawkins, John 245, 248, 267, 273 Hayek, Friedrich August von 49, 77, 80, 83ff., 103f., 108,13Iff., 155ff., 179f., 222, 224, 229f., 290, 310f., 330, 383, 386ff., 457, 462f., 466 Hefermehl, Wolfgang 142 Hefti, Daniel 432 Heilemann, Ulrich 335f. Heine, Klaus 285 Hellwig, Martin 271 Helmstädter, Ernst 303 Hempel, Carl G. 132 Henkel, Guido 337 Hensel, K. Paul 104,221 Herder-Dorneich, Philipp 444 Hermann-Pillath, Carsten 444 Herz, Bernhard 364, 370 Hesse, Günter 132f. Hillman, Arye L. 183 Hilzenbecher, Manfred 415 Hinz, T. 465 Hobbes, Thomas 195, 197

Personenregister • 4 7 9

Hodgson, Geoffrey 139 Hofmeister, Hannes 339, 449 Hoggarth, Glenn 242,245ff., 257f. Hohlstein, Michael 450 Holcombe, Randall G. 297 Holzmann, Robert 320f. Homann, Karl 204, 332, 386, 388, 394 Honohan, Patrick 243,253 Hopkins, John 323 Hoppmann, Erich 37, 42-53, 59f., 76, 105 Horioka, Charles Y. 224 Horowitz, Ira 118 Hösch, Ulrich 87 Hotelling, Harold 393 Hoy, Calvin 85 Huch, Ricarda 307 Hume, David 135,168 Hunya 413 Hutchinson, Michael 240,248,252f. Illing, Gerd 465 Isele, Katrin 448 Ittermann, Peter 16, 3 Of. Jasay, Anthony de 179 Jensen 408 Jeske, J. Jürgen 465 Jevons, William St. 190 Jhering, Rudolf von 137, 144f., 148, 152f., 384 Jodice, David A. 176,178, 181, 185 Jones, Eric L. 183 Jorgensen, Stehen 320f. Jouvenel, Bertrand de 103 Junkes, Joachim 20 Kallfaß, Hermann H. 118 Kaltenborn, Bruno 433

Kaminsky, Graciela L. 240, 245f. 252f., 257, 261 Kanaya, Akihiro 265f., 277 Kanbur, Ravi 227 Kant, Immanuel 76f., 86,168,458 Kantzenbach, Erhard 50,118 Karl, Helmut 11 Kasper, Wolfgang 185 Kaufman, G. G. 256f. Kautsky, Karl 190 Kay, Stephen S. 216 Keefer, Philip 181 Keller, Katja 169,361 Kerber, Wolfgang 103, 109,123, 218 Keren 405,407 Kermer, Silvio 460 Keynes, John M. 306,339 Kindleberger, Charles P. 240,252f. Kirchgässner, Gebhard 155, 158ff., 163f., 166,169f., 329, 333 Kirchhof, Paul 198 Kirsch, Guy 108 Kiwit, Daniel 75 Kiyonari, Tadao 216 Kleiner, Morris M. 34 Kleinert, Jörg 450 Kleinewefers, Henner 98, 157, 163 Klodt, Henning 16, 109,450,465 Klos, Hans-Peter 425 Kluge, Norbert 16 Klump, Rainer 337,465 Knack, Steve 181 Knapp, Manfred 441 Knappe, Eckhard 235 Knorr, Andreas 11, 216, 234 Kobler, Markus 452f. Kochan 16 Köhler, Claus 255, 267 Koop, Michael J. 123 Koskenkylä, Heikki 243, 245, 264f.

480 · Personenregister Kösters, Wim 336

Lipton, Michael 181

Kumkar, Lars 359ff.

Lischke, Peter

Krelle, Wilhelm 301ff.

Lizondo 240

Kreyenfeld, Michaela

320

367f., 370

Llewellyn 264

Krieger, Hubert 32

Locke, John 457

Krueger, Anne O. 181

Locke, Richard 16

Krüger, Reinald 118

Loy, Claudia 83

Krugman, Paul R. 165,225, 239,248

Lübbe, Hermann 441

Kuhnert, Stephan 453ff.

Luhman, Niklas 230, 289f., 292, 383

Kukathas, Chandran 86

Luján dos Santos, Monica 459ff.

Kunz, Harald

118

Kurth, Ekkehard 373

Maak 432 Mackie, John L. 87, 91 f.

Lamarck 93

Maddison, Angus

Lambsdorff, Otto Graf 114f., 455 Lampert, Heinz 302, 306 Lattimore, Ralph G. 233 Lawson, Robert 181 Lazear, Edward Ρ. 19 Lazonick, W. 408 Lechner 465 Legier, Harald 29 Lehmann, H. 465 Lehment, Härmen 336 Leibenstein, H. 405 Leipold, Helmut 80 Lenel, Hans Otto 239,451 Leoni, Bruno 75, 88, 90,146 Leschke, Martin 103,140, 391, 396 Lessenich, Stephan 217 Levine, DavidI. 20f., 32 Levine, Ross 177 Lie, John 182

Madörin 436

175,178,181

Liebermann, Yehoshua 391 f. Lindahl, Erik 190f., 202 Lindbeck, Assar 16f., 27,216f., 219 Lindgren, Carl-Johan 241,243,245, 266 Ling, L.H.M. 176

McFarlane, Bruce J.

Maennig, Wolfgang 315,354 Mahatir Bin Mohamad 267 Maneval, Helmut 303 Mankiw, N. Gregory 251 Mantzavinos, Chrysostomos

103, 389

Markt, Jörg 189,200,209 Marquis, Günter 2 Martinez-Peria

243,257f.

Marx, Karl 144,179, 303, 382 Mathieson 259 Mauer, Urban 335 Maußner, Alfred 236 Mavroidis, Petros C. 117 Maxeiner, Dirk 1 Maydell, Bernd von 234 Mazzola, Ugo 201 McCall, J.J. 118 McCormick, Robert E. 296 216

McGuire, James W. 227 McKinnon, Ronald I. 250 Meckling 412 Mehrwald, Sylvana 32 Meitzer, Allan H. 267

Personenregister · 481

Menger, Carl 131,190 Menkhoff, Lukas 266,471 Meran, Josef 86 Mestmäcker, Ernst-Joachim 40,42, 44, 51,54, 57, 70, 72

Metten, Alman 336 Metzger, Oswald 3f., 7,10 Meyer, Dirk 410,450 Meyer-Cording, Ulrich 145 Michaelis, Jochen 31 Mihàlyi, P. 405,408f. Milgrom, Paul 16,31 Mill, John St. 194,363 Mirrlees, James A. 195 Mises, Ludwig von 103,178ff., 218, 228 Mishkin, Frederic 251,253,257 Mitchell, William C. 295 Mittendorf, Marcus 381 Mohn, Reinhard 441 Molsberger, Josef 239 Morris, Felipe 245,249, 261 Möschel, Wernhard 37,41f., 44f., 47ff., 52f., 56f., 59f., 63, 65, 70, 114f., 126, 235

Moser, Peter 96 Mückl, Wolfgang J. 302,359,362 Müller, Christian 457 Müller-Armack, Alfred 422,445f., 456, 461 f., 466

Müller-Groeling, Hubertus 455 Müller-Jentsch, Walther 16, 24, 30f. Munger, Michael C. 296 Murreil, Peter 182 Musgrave, Richard 191f., 198, 200, 206

Mussler, Werner 79 Myrdal, Gunnar 229 Nalebuff, Barry J. 383

Neubäumer, Renate 337 Neuberger, Doris 368 Nienhaus, Volker 444 Nörr, Knut Wolfgang 54f. North, Douglass C. 104 Nunnenkamp, Peter 267, 472 Nutzinger, Hans G. 444 Nyland, Chris 216 Oberender, Peter 103, 239, 367 Ockenfels, Axel 373ff. Oelmann, Mark 435 Oeser, Erhard 144f. Okruch, Stefan 131,139, 146, 381ff. Oldenburg, Alexander 315ff. Olson, Mancur 24,78,177,182f„ 207, 216,219,231,295

Oppenheimer, Franz 301f. Oppenländer, Karl-Heinrich 303 Ortiz 245, 249, 261 Ostrom, Elinor 454 Ostrom, Vincent 454 Ott, Alfred Eugen 302f. Ott, Notburga 320,325 Padovano, Mario 103 Pain 240,251,253,275 Paqué, Κ.-H. 464 Pareto, Vilfredo 18, 31, 52, 53, 191, 324, 383, 393, 395, 396

Paridon, Kees von 337 Park, YungChul 176,239 Parson, Talcott 383 Pattillo 240 Pauli, Markus 233 Payne, James L. 177 Pazarbasioglu 240, 252, 254 Peffekoven, Rolf 239 Peltzman 297,402,461 Pesenti 259

482 · Personenregister Pesóla, Jarmo 240, 263, 265 Pfeiffer, Waldemar 236 Pflugmann-Hohlstein, Barbara 450 Phillips 335 Picot, Arnold 393 Pies, Ingo 204, 289f., 395ff. Pigou, Arthur C. 393f„ 396 Pill 250

Rieger, Christoph 471

Pipes, Richard 183 Pleskovic 278 Plutta, Thorsten 286 Pommerehne, Werner W 164ff. Popper, KarlR. 85, 87, 103, 147, 341, 378 Porter, Michael E. 405,401 Portes, R. 465 Preiser, Erich 30Iff. Proctor, Bernadette D. 225 Prosi, Gerhard 217f., 222f., 226, 230 Pryor, Frederic L. 175,178

Robinson, Joan 302

Quass, Friedrun 46Iff. Rabin 375 Radelet, Steven C. 274,267 Radnitzky, Gerard 83, 96, 135 Raffelhiischen, Bernd 457 Raichle, Gerhart 456 Rajan, Raghuram G. 27 Ratha 268

Rieger, Hans Christoph 266f., 269 Rieger, Wilhelm 301, 304 Riester, Walter 23,25 Riphahn, Regina T. 464 Ritter, Gerhard A. 218 Robbins, Lionel 90, 96 Roberts, John

16,31

Rodemer, Horst 399 Rodrik, Dani 113 Rojas-Suarez, Liliana

248

Röpke, Wilhelm 103,219,462 Rose, Andrew K. 255 Rosenbaum, Eckehard F. 405,410 Ros tow, Walt

221

Rothbard, Murray Ν. 85 Roubini 259 Rousseau, Jean-Jacques 457

158,168,196,

Rowley, Charles K. 299 Royer, Susanne 233 Riibel, Gerhard 365 Rubin, Paul Η. 146,296 Rudolf, Walter 108 Rüffer, Rasmus 259 Rummel, Rudolph J. 179 Rüstow, Alexander 429, 461 f. Rybak, Andrzej 181

Rauhut, Siegfried 462f.

Saal 241, 243, 245

Rawls, John 195, 203f., 211,290f., 293, 388,423, 457ff.

Sachs 267, 274

Razzolini, Laura 295

Sadowski, Dieter 20, 34 Saint-Paul, Gilles 27, 29f. Sala-i-Martin, Xavier 177 Samuelson, PaulA. 189, 191,197,200, 457 Sarna, Naveen 177 Sass, Tim 296

Rees, John C. 89 Reiter, Janusz 441 Renelt, David

177

Ribhegge, Hermann 444f., 474 Richter, Rudolf

18

Richter, Wolfram F. 195

Sadmo 473

Personenregister · 483

Sauerland, Dirk 400

Schüller, Alfred 103f„ 119f„ 216, 228, 230, 239,273, 283,444

Sauermann 376

Schulte, Christof

Sauernheimer, Karlhans 239

Schulz-Nieswandt, Frank

Savioz, M.R. 163, 166, 169

Schumpeter, Joseph A.

Sauer, Gerhard 359

222 320 191, 221, 224,

400, 448, 455

Schäfer, Wolf 441 Schallermair, Christian 467ff.

Schwarz, Gerhard 161,457

Schares, Christof

Schwarze 465

31

Scharpf Fritz W. 117,217,223

Seeleib-Kaiser, Martin 217

Schefold, Bertram 304f.

Seger, Frank 18

Schelsky, Helmut 145

Seliger, Bernhard 215f„ 218, 223,228, 231,442,445

Schenk, Karl-Ernst 236 Schick 200,209

Seil, Friedrich L. 465

Schiller, Karl

Selten, Reinhard 376

339,465

Schlecht, Otto 6, ll,465ff.

Sen, Amartya

Schleyer, Hanns-Eberhard

Shenfield, Arthur A.

441

305, 473 90

Schmähl, Winfried 216,319f.

Sherman 64, 67f.

Schmid, Michael

Shughart, William F. 295f.

397f.

Schmid, Günther 217

Sideras, Jörn

Schmidt, Frank A. 18

Sidgwick, Henry

Schmidt, Johannes

Siebert, Horst 123, 218, 260, 336,464

93,101

103, 119, 121ff. 190

Schmidt, Karsten 145, 147f.

Siermann, Clemens L.J. 181

Schmidt, Klaus M. 373

Sievert, Olav 441

Schmidt, Paul-Günther

239, 248, 250,

261,265 Schmidtchen, Dieter 43 f. Schmitter, Philippe C. 117 Schmitz, Wolfgang 292 Schnabel, F. 167 Schnatz, Bernd 255 Schneider, Dieter 316f. Schneider, Friedrich 79, 160, 164,432 Schoser, Franz 441 Schreiber 53 Schreiter, Carsten 285 Schröder, Rudolf 17, 227 Schubert, Renate 471 Schucher, Günter 216 Schulenburg, Johann-Matthias Graf von der 415ff.

Siewing, Rolf

93

Silver stone, Brian 233 Simon

376

Sinn, Gerlinde 464 Sinn, Hans-Werner

44, 67, 109, 124,

217, 223,464 Shleifer 408 Skinner, Adam 431 Smith, Adam 40, 65, 168,178, 289, 290, 379,431 Snower, Dennis J. 16f., 27f., 219, 464f. Sobania, Katrin 455 Sofer, Mosche 39If. Söllner, Fritz 469 Solitila, Heikki 263 Sommarin, Emil 190ff.

484 · Personenregister

Soros, George 267 Sosnitza, Olaf 142f. Sperber, Herbert 456 Spermann 425 Sprink, Joachim 456 Sohmen, Egon 472 Soltwedel, Rüdiger 16,18 Sombart, Werner 446 Spiethoff, Arthur 446 Starbatty, Joachim 442 Steele, DavidR. 138 Stein, Peter 146 Stettes, Oliver 15,18f., 27ff., 31, 225 Stevens, Oliver 28 Stewart, Frances 216 Stigler, G. J. 118,297,303 Stiglitz, Joseph E. 195, 249 Stocker, Monika 432 Storz, Cornelia 447 Straubhaar, Thomas 163,166, 220, 442

Streit, Manfred E. 75f., 79, 86, 103, 123, 179, 388, 390

Stroup, Michael D. 180 Suchanek, Andreas 386, 394 Sugden, Robert 138f. Sundararajan, V. 245 Swamy, Anand V. 177 Takao, Yasuo 216 Takatoshi 278 Taylor, Charles Lewis 176,178 Taylor, Mark Ρ. 354 Terberger-Stoy, Eva 256,265, 271,471

Thakor, Anjan V. 368 Thaler, Richard A. 376 Theobald, Christian 361 Theurl, Engelbert 319 Theurl, Theresia 283,443f. Thon, August 146

Thurow, Lester 400f. Thuy, Peter 421ff., 429 Tiebout, Charles M. 112,222 Tietmeyer, Hans 403 Tietzel, Manfred 445 Tinbergen, Jan 221 Tivig, Tusnelda 223 Tollison, Robert D. 296f. Torstensson, John 181 Trygg, Sven (Wickseil alias Trygg) 190, 193

Tsatsaronis, Kostas 259 Tullock, Gordon 195, 205ff., 395,457 Turner, Chad S. 296 Turner, Philip 273

245f., 248f., 254,256,

Tyson, Laura D. A. 20f., 32 Ubide 269 Uhr, Carl G. 190,192 Ulrich, Peter 429ff. Upper, Christian 256 Ursprung, Heinrich W. 183 Vanberg, Viktor 37f., 40,48, 54, 83, 93ff., 103-111, 109f., 114ff., 122f., 138ff., 147, 156, 172,199, 457

Vaubel, Roland 218 Vehlen, Thorstein 382 Vehrkamp, Robert B. 457,467 Veit, Wolfgang All Velasco, Andrés 257, 274 Vihriälä, Vesa 263f. Viner, Jacob 85 Vishny 404 Voigt, Stefan 75, 140, 444 Volkert, Jürgen 421,423,426 Wagener, Hans-Jürgen 405,444 Wagner, Adolf 297,301 Wagner, Adolph 190

Personenregister · 485

Wagner, Antonin 320,322 Wagner, Gert G. 465 Wagner, Richard E. 198,297f. Wallacher, Johannes 332 Walras, Leon 190f., 290 Walter, Ingo 296 Walter, Norbert 296 Walter, Rolf 471 Walzer, M. 431 Wasem, Jürgen 320, 323 Wassermann, Wolfram 16f., 31 Watkins, John W. N. 90f. Watrin, Christian 120, 228, 339, 341, 465

Weber, Dietrich 372f. Weber, Max

329,446,454

Weber, Michael 343 Weber, RalfL. 216,285, 286 Weede, Erich

175ff., 181ff.

Wegehenkel, Lothar 118f. Weicher, John C. 225 Weikard, Hans-Peter 292 Weimann, Joachim 381,472ff. Wein, Thomas 472 Weiß, Reinhold 26 Weisbrod, Steve 248 Weise, Peter 290 Weitbrecht, Hansjörg 32 Weizsäcker, Carl Christian von 19, 289, 459, 464

Weller, Christian E. 250 Welsch, Thomas 363 Wendeling-Schröder, Ulrike 17 Wentzel, Bettina 284 Wentzel, Dirk 287, 373, 375

White, William R. 274 Wicksell, Christiane 190 Wickseil, Johan 190 Wicksell, Knut 189ff. Wiegard, Wolfgang 195 Wielandt, Rotraud 216 Wiemeyer, Joachim 290f. Wilßing, Bernd 354 Willgerodt, Hans 230 Williamson, Oliver 398 Willms, Manfred 354 Wils, Wouter P. J. 64, 70f. Winiecki, Jan 178,183

Witt, Ulrich 96 Wohlgemuth, Michael 79 Wolff, Brigitta 393 Woll, Arthur 435 Wößmann, Ludger 438 Wünsche, Horst-Friedrich 465 Yamaguchi, Yukata 259 Zapf, Wolfgang 234 Zarnowitz, Viktor 303 Zeitler, Christoph 85, 91 Zenke, Ines 364 Zerth, Jürgen 327 Ziegler, R. 480 Zimmerer, Carl Xaver 369 Zimmermann, Klaus F. 464 Zingales, Luigi 18, 20, 27 Zinn, Karl Georg 301 Zintl, Reinhard 83, 87 Zohlnhöfer, Werner 239

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Sachregister Abwärtsspirale 222f. Abwertung 106,222, 227, 254ff., 354 Adverse Selektion 20f., 416 Aktienmärkte 272 Altenpflege 467f. Alterssicherung 231,320,324 Altruismushypothese 373 Anmaßung von Wissen 230, 237, 311 Anmeldesystem 69ff. Anreizstrukturen 283, 286, 289, 388, 443 Äquivalenz, konstitutionelle 103, 105, 109, 11 Iff., 121ff., 128 Arbeitslosigkeit 8,20, 30, 33,106,204, 215f., 218ff., 225f., 321, 336f., 365, 388,429 Arbeitsmarkt 20ff„ 28, 30,219, 225f., 228f., 232,285, 290f., 335ff., 340, 344f., 352, 364, 385, 388,425,429, 437, 464f., 468 Arbeitsmarktflexibilisierung 432 Arbeitsmarktpolitik 8, 284, 337, 364, 450,465 Asien 175,183,254,259,472 Asienkrise 215,224,240, 267, 273ff., 471 f. Asymmetrische Informationsverteilung 416,468 Asymmetrische Schocks 336 Außenhandelstheorie 31 Of. Australien 216,244,263,325,354 Auswirkungsprinzip 309,312 Autarkie 181,402 Autokratie 177 Bankenaufsicht 247f., 251, 256, 261 ff., 265f., 270f., 274,472 Bankenkrise 239ff.

Beschäftigungspolitik 335f., 427 Betriebsrat 16f., 20, 22ff. Betriebsverfassungsgesetz 15f., 20f. Bürgergeld 344,431 Bürgersouveränität 105 Chicago-Schule 295, 299,461 Coase-Theorem 18f., 25, 316, 347f. Common Law 146, 153 Common Carrier-Modell 360f. Corporate governance 18, 27,405ff. Demokratie 54, 59, 75, 81,106,113, 155-164, 207, 209, 239, 295f., 298, 339ff., 354ff., 363, 385, 388,422ff., 462f., 474 Demokratiedefizit 363 Deregulierung 226, 239,250,260f., 263f., 270, 360, 370,431,435f. Devisenspekulation 255,265,274 Diffusion 381 Dilemma-Spiele 374, 376 Direktinvestition 29,220, 268, 291, 409 Dritter Weg 305, 339ff. Economic Freedom Index 460 Effizienz 18,25ff., 52, 67,11 lf., 146, 155,157, 165,170,287, 393, 395f., 401, 444,448,452,457,462,468, 473 Effizienzlohntheorie 365 Eigennutzhypothese 375 Eigentumsrechte 109,119f., 178,186, 298,452f. Eigenverantwortung 216,340,456 Einkommensverteilung 195f., 229, 303f., 308,422,431

4 8 8 · Sachregister

Einstimmigkeit 52, 92, llOff., 189, 191,193-213 Elektrizitätswirtschaft 359 Entwicklungskrise 471 f. Energiepolitik 1, lOf. Entfernungspauschale 3 Entscheidungskosten 189, 206ff. Erwartungen 77, 84,134, 137ff., 142f., 148, 248, 250,253,263f., 287,297, 364, 377 EU-Osterweiterung 342, 346, 349, 352 Europäische Integration 399,441 Europäische Währungsunion 363 Evolution 83f., 93ff., 131,133ff., 381, 383 Evolution, kulturelle 102,135,140, 152 Evolution, rechtliche 140 Evolutorik 470 Ex ante-Kontrolle 63ff. Ex post-Kontrolle 63 ff. Externe Effekte 18, 52, 119, 391,461 Fairneß 41, 51,293, 373ff„ 473 Finanzintermediäre 246f., 249ff., 255, 258f., 265, 271 Finanzmärkte 239f., 250,259f., 263f., 272, 353, 364, 367,471 Finanzpolitik 157,219,271,363,365, 461 Finanzwissenschaft 191,195,200,287, 297, 343 Föderalismus 108,113, 114f., 208 Frankfurter Schule der Statistik 303 Freiburger Schule 41, 103,120,283 Freiheit 16, 37,42f. 45f., 49f., 54ff., 75ff., 79, 81, 85, 87, 89f., 92, 98f., 107, 110,137, 155, 179ff., 210, 284, 287, 310, 327, 386ff., 423,430f., 433, 455ff, 461 f. 466,473 Freizügigkeit 219, 222, 349, 352

Frühverrentung 465 Frühwarnsystem 240 Fundamentalfaktor 255, 354 Fusionskontrolle 63f., 66, 312 Fusionswelle 451 f. Gefangenendilemma 20f., 24, 95f., 139f., 374, 387, 395f. Gefängnisstrafen 63, 71 f., Geldmengenwachstum 460 Geldpolitik 162, 252,262f., 271, 363f., 402 Genossenschaft 40,199 Gerechtigkeit 4, 59, 78f., 86, 92, 97, 134,136f„ 141,152,195,198, 203, 229,284, 29Iff., 305f., 387f., 423, 431,456 Gesellschaftsvertrag 106, 195,457ff. Gesundheitsökonomik 415 ff. Gewerkschaften 15,22f., 25, 29f., 33, 336f. Glaubwürdigkeit 21, 329, 362 Globalisierung 17, 79,109,215,217, 219ff., 224,226ÍT., 259,276f„ 287f., 335, 339f„ 349, 353, 356f., 349, 352f., 355f., 369, 399ff., 439f., 451, 453,456 Gruppenfreistellungsverordnung 64, 67 Halbwertszeit des Wissens 439 Handlungsfreiheit 42,45ff., 54, 56, 58, 76ff., 215,422 Hardcore-Kartelle 66ff. Harmonisierung 47,221,223,228, 230,291, 346f., 384,447 Hedge-Fonds 259 Hochschulausbildung 435, 438f. Homo Oeconomicus-Modell 328, 373, 378 Humankapital 17ff. 2Iff., 26ff., 36, 178,180, 186, 223ff„ 331, 368, 418, 437,434

Sachregister · 489 Immobilienmarkt 253,262f„ 265 Individualismus 39, 56ff., 86,139, 189, 197,202, 210, 382,457 Industriepolitik 181f., 312,400f. Inflation 106,232, 249,252,460 Informationsasymmetrien 22, 36,247 Informationsfreiheit 452 Initiativrecht 105,112,115ff., 124, 128,168,170 Innovation 29, 95,113,123, 180,218, 230ff., 259f., 324, 367, 370, 381, 384, 453 Insider-Outsider-Problematik 336 Institutionalismus 132,382 Institutionelle Qualität 452f. Institutionelles Regime 217 Institutionen 29f„ 75f., 78, 81, 93,105, 112ff„ 121f., 124,128, 145, 157, 163f., 198, 217f., 221,223, 231,237, 247, 249, 262,285f., 288f., 292, 296ff., 311, 316, 331, 337, 340, 382, 388f„ 394, 398,415,417,452f., 454f. Institutionenökonomik 287f., 360, 386, 390, 392f., 395,398,444,453 Institutionenökonomik, Neue 287f., 386, 444,453 Institutionenschöpfung 453f. Institutionenwettbewerb 218,231 Investmentrecht 315 Japan 181,216,243,245,255,265, 270, 272,280, 354, 407 Kapitalakkumulation 452 Kapitalanlagegesellschaften 315 Kapitalbegriff 304 Kapitalbilanz 268 Kapitalkoeffizient, marginaler 460 Kapitalmarkt 307, 315, 317, 367ff. Kapitalmobilität 230

Katallaxie-Paradigma 11 Of. Kodifikationssystem 141, 146 Kollektivgutproblem 454 Kommunikations- und Informationssystem 259 Kommunitarismus 327f., 332, 399f. Konformitätskriterien 422 Konjunkturzyklus 353 Konstitutionelle Interessen 39f., 47f., 53ff., 110,112,118, 120,124, 207 Konstitutionenökonomik 48,105f., llOf., 115 Konvergenzprozeß 460 Kooperationsvertrag 199f. Koordinationsverfahren 444 Korea 175f„ 181ff„ 240,245, 267ff., 307 Korporatismus 80 Korruption 177,184, 394f. Krankenhaussektor 420 Lateinamerika 216,227, 231,243,246, 249f., 252ff, 259ff, 270,272,274f., 459f. Law and Economics 395, 397 Lebensqualität 419 Legalausnahme 65, 72 Leistungsbilanzdefizit 255,266,471 Lenkungswirkungen 4, 249 Leviathan 197,297,448,457 Liberalisierungsmodelle 359ff. Liberalismus 104,106, 327, 386, 388, 400,431 Maastricht 162, 368, 400ff Macht 30,96,108,114,197,287, 308, 328,439,452f. Marktform 308 Marktmacht 65f., 106, 193 Marktprozeßansatz 315ff. Marktunvollkommenheiten 25, 36

490 · Sachregister Marktverhalten 65 f. Marktversagen 17, 19, 21,25, 286, 316, 432, 474 Marktwirtschaft 37, 47, 57, 60, 75f., 82f., 96,216,220, 226, 239, 246, 285ff., 305, 307, 378, 400, 421, 432, 44 Iff., 460ff., 464 Marktwirtschaft, Soziale 4, 387,421ff., 445f., 460ff., 465f. Massenwanderung 349 Maximin-Prinzip 290,458 Megafusionen 450f. Migration 138, 291,231,287, 349f. Militarisierung 177 Mitbestimmung 15 ff. Mobilitätsthese 447f. Monopolkommission 435 Moralvorstellungen 92, 97f. Neuseeland 216, 219, 231, 244,263, 335, 354 New Welfare Economics 457 Nonprofit Organisation 322 Normen 93f., 133, 135f., 139ff., 144, 290, 327ff.,381ff., 458 Normerklärung 382 Ökonomie, Objektbereich der 131 f., 473 Ökonomische Analyse des Recht 395 Ökosteuer 1-14 Opportunismus 1 lf., 19,28 Ordnung, spontane 46, 77, 83,133f., 137f., 152, 231,290 Ordnungskräfte, spontane 390 Ordnungspolitik 4, 13,105ff., 120,122, 124,271,285f., 309, 385f., 388, 400f., 416, 426, 431 Ordnungsrahmen 60, 104,106,108, 123f., 128,184,229ff., 237, 367, 389,423

Ordnungstheorie 103, 105f., 149,309, 386, 444 Ordnungstheorie, Marburger 283, 288 Ordoliberalismus 55f., 104, 144,429, 460f. Orthogonale Positionierung 386f. Pareto-Optimalität 395,458 Pfadabhängigkeit 231,286,298 Pflegebedürftigkeit 323 Politikberatung 204, 385f., 388,443 Politikerberatung 443, 474 Politikversagen 9, 385 Poolmodell 360 Portfolioinvestitionen 268 Pionierunternehmer 453f. Public Choice 39, 103,229, 295ff. Preise 5,10, 65, 76,140,165,181,200, 252,253, 299, 369 Preissystem 11,13,122, 292 Privatautonomie 43,46, 54, 57f., 76 Privateigentum 76,178f., 181, 285, 382, 384 Privatrechtsgeschichte 382 Property Rights 23,25, 27, 44,105, 117ff., 187, 295,383 Quasi-Rente 18, 20ff., 25ff. Rahmenordnung 46, 59, 311, 394 Rationalhandlungskalkül 329 Rechtsevolution 384 Rechtsfortbildung, richterliche 145ff., 152 Rechtssicherheit 66, 68, 72,177 Rechtsstaat 87, 137 169, 183, 327ff, 422f. Regulierungsbehörde 242f., 259,262, 265, 274, 361f., 371 Rehabilitation 468 Reputation 21, 28, 60, 329, 375, 440

Sachregister • 4 9 1

Ressourcenausstattung 84, 223 Rezession 239,252,262 Reziprozität 373ff., 392 Richter 131,136ff., 140ff, 183 Risiko 18f., 23, 25f., 203, 207,232, 247, 249,251, 258, 270, 322ff. 331, 367f. Risikoeinstellung 350 Rußland 175ff., 371, 375 Schattenwirtschaft 79, 344 Schleier des Nichtwissens 293,458f. Second Best-Lösung 324 Selbstbeteiligung 416 Selbstheilungskräfte 75, 79, 81 Selbstkontrolle 75f. Selbstkoordination 75 f. Shirking 23,28,296 Skandinavien 250,263, 280 Sklerose, institutionelle 78ff., 116,223 Sklerotisierung 219,231,237 Solidargemeinschaft 444 Sowjet-Union 175ff. Sozialdumping 223 Soziale Dienstleistungen 467 Soziale Sicherung 216, 220, 287, 319f. Soziales Risikomanagement 320 Sozialhilfe 8f., 343ff., 421,423ff. Sozialismus 103f., 181, 183,221, 228, 305, 399,401 Sozialpolitik 10, 219,232,284, 293, 306, 319f., 326, 339, 387f., 421,423, 442, 444, 449, 455ff. Sozialstaat 203, 224, 385,400, 403, 42 Iff. Sozialstaatsprinzip 78,421 f. Sozialstaatsdebatte 387f. Sozialtechnologie 40 Sparkassen 264 Spekulationswellen 267

Spieltheorie 373, 377, 383, 386,472 Staat als Monoplist, Paradigma vom 105,108f., 123f. Staatssektor 272f., 280 Staatsunternehmen 261 Staatsversagen 21ff., 32, 298 Staatsverschuldung 160, 232, 463 Standortwettbewerb 218,236,291, 364f., 399f., 403 Steuerbelastung 2, 170, 346, 448 Steuerharmonisierung 291,455,461 Steuerwettbewerb 223,291,447f. Stiltheorie 445f. Südkorea 175ff.,216 Südostasien 239, 241, 243, 252, 266ff., 270 Staatsaufgaben 197f. Studiengebühren 436f. Studierunfähigkeit 435,438 Subjekthilfe 457 Subsidiarität 69, 72, 216,457 Subsidiaritätsprinzip 208,232, 344, 425, 461 Subvention 4,10, 60,182,226,418 Systemtheorie 230 Systemwettbewerb 79, 81, 285,287f., 345, 442,445,464 Tarifautonomie 31,36,336 Tariflohndeterminanten 335f. Terms of Trade 181, 254,261 Theorie der Ordnungen 283,288 Theorieversagen 385 Transformation 220,283,285,287, 292f., 411 f. Transformationsländer 231,250,261 Transformationsstaaten 216 Trittbrettfahrerproblem 20, 200ff. Umlagesystem 456

4 9 2 · Sachregister

Umsetzungswiderstände 456 Umverteilung 9,13, 167, 195f„ 202ff„ 216, 343, 387f., 422, 431,447f., 455f., 463,473 Umverteilung, produktive 203ff. Umweltökonomie 393f., 397 Umweltpolitik 10,122 Umweltschäden lf., 11 Universalisierbarkeit 77, 330 Universalitätskriterium 89, 92, 97 Unwissenheit, konstitutionelle 84, 94 99,135 Urban Bias 181,186 USA 64, 67f., 70,114,160,162,164, 214, 295, 175,181, 216, 225,228, 244, 255, 262, 335, 344, 374,401, 418,426,435,439 Utilitarismus 192, 205, 457 UWG 66, 141f., 152 Verfahrensgerechtigkeit 199f., 202, 205,454 Verfassung 38f., 41, 55, 80f., 155f., 164,169,207, 295f., 421 Verhaltenstheorie 374 Versicherungstheorie 416 Verteilungswirkungen 4 Vertikale Bindungen 67 Vertragsrecht 75f., 78,138 Vertragstheorie 189,195ff., 210,213, 457ff. Virginia-Schule 295,299 Währungskrise 243,251,353 Wachstumsdeterminanten 460 Wahlkampfspenden 296, 299 Wechselkurs 246, 249, 254f., 257ff., 269, 274,286, 353, 471 Wechselkurssystem 261 Weltwirtschaftskrise 182,252,257 Weiterbildung 8,26ff., 301, 435, 439

Wertfreiheit 386 Wettbewerb 4ff., 24, 30,33,42f„ 45, 49ff., 60, 65, 68, 79, 94f„ 106,109, 119, 123,135f„ 141,182,217ff., 222, 227f., 232, 237,248, 259,271, 285, 287,299, 309f., 313, 345f., 359, 364, 367, 378, 390,435f., 438,442, 447f., 451,453,455f., 460,463f., 474 Wettbewerbsbeschränkungen 43ff., 60, 63, 70,152, 219, 224, 228,237, 309, 442 Wettbewerbsfähigkeit 3, 8, 21, 24fT., 28,163f., 225 Wettbewerbsfreiheit 37f., 41-62,69,76 Wettbewerbshandlungen 43,48, 50, 52f„ 75 Wettbewerbspolitik 37, 39,41 f., 44f., 49f., 59ff., 309ff„ 401,429, 450f„ 473 Wettbewerbsrecht 41f., 45, 76,131, 141 f., 148f., 309, 312 Wettbewerbsverzerrungen 5 Wiedervereinigung 315, 377f., 461 Wirtschaftsethik 289f„ 327 Wirtschaftsforschung, empirische 103, 303, 306, 373 Wirtschaftsforschung, experimentelle 373f., 376 Wirtschaftslenkung 307,462 Wirtschaftsordnung 41f., 44, 55, 103, 106,120,123f., 221, 284ff., 306, 319,340,429f., 442, 445,455,460ff. Wirtschaftspolitik 11, 39,41ff., 46, 51, 54, 80, 103ff., 107ff., 159, 176,182, 184, 224,227, 230,270f., 296, 301, 304f„ 335ff„ 340, 352, 363, 385ff„ 396f., 402f., 421,423,431f., 441. 443. 450,459ff, 463, 465, 467, 472f.. Wirtschaftsstil 444ff. Wirtschafts- und Währungsunion 363ff., 450,471

Sachregister · 4 9 3

Wirtschaftswachstum 8ff., 175,177f., 180f., 242, 248f., 252f., 261, 266, 296, 299,444f, 452f., 459f. Wissen 28, 77, 85, 94f., 107, 118,132, 135f„ 179, 203f„ 220,229f„ 237, 285,311,351,384 Wissenschaftsverständnis 302 Wohlfahrtsfunktion 39,457 Wohlfahrtsökonomik 39,53, 111,393, 395, 473

Wohlfahrtsstaat 216ff., 227,229ff. Zahlungsbilanz 160 Zentralverwaltungswirtschaft 178,220, 285,422 Zielkonformität lf. Zweidrittel-Gesellschaft 224, 226 Zwei-Kammer-System 463

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2001) Bd. 52

Anschriften der Autoren Dr. Norbert Berthold Professor an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut fur Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2, D-97070 Würzburg Dr. Charles B. Blankart Professor am Institut für öffentliche Finanzen, Wettbewerb und Institutionen, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin, Spandauer Str. 1, D-10178 Berlin Dipl.-Volkswirt Ron Brinitzer Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Genossenschaftswesen, Am Stadtgraben 9, D-48143 Münster Dipl.-Volkswirt Marcus Cieleback Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWLI, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Dr. Frank Daumann Professor am Institut für Sportwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Seidelstraße 20, D-07749 Jena Dr. Martina Eckardt Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Rostock, Lehrstuhl für Geld und Kredit, Ulmenstr. 69, D-18057 Rostock Sven Eisenmenger Peuntlein 7a, D-95445 Bayreuth Dipl.-Volkswirt Arne Feddersen Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Institut für Außenhandel und Wirtschaftsintegration, Von Melle Park 5, D-20146 Hamburg

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Dr. Frank Fichert Geschäftsführer des Forschungsinstituts fiir Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz e.V., 55099 Mainz Dipl.-Volkswirt Jochen Fleischmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWLIV, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Dr. Fred von Gunten Stratégie et Concurrence Internationales, Université de Fribourg, Miséricorde, CH-1700 Fribourg Dr. Indira Gurbaxani Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universität Tübingen, insbes. Wirtschaftspolitik Π, Nauklerstr. 47, D-72074 Tübingen Dr. Walter Hamm Professor em. an der Philipps-Universität Marburg, Zur Klause 28, D-35041 Marburg Dr. Heinz Hauser Professor an der Universität St. Gallen, Schweizerisches Institut für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung, Dufourstraße 48, CH-9000 St. Gallen Dr. Manfred Hilzenbecher Regierungsdirektor, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Königstraße 46, D-70173 Stuttgart Dipl.-Volkswirt Hannes Hofmeister Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWL IV, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Dipl.-Volkswirtin Kathrin Isele Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Univeristät Potsdam, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftspolitik, Postfach 90 03 27, D-14439 Potsdam

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Dipl.-Volkswirt Silvio Kermer Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München, Institut für Volkswirtschaftslehre, insb. MakroÖkonomik und Wirtschaftspolitik, D-85577 Neubiberg Dr. Gebhard Kirchgässner Professor an der Universität St. Gallen, Schweizerisches Institut für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung, Dufourstraße 48, CH-9000 St. Gallen Dr. Hans Otto Lenel Professor em. an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Kupferbergterrasse 21, D-55116 Mainz Dipl.-Kaufinann, Dipl.-Volkswirt Urban Mauer Forschungsinstitut für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz e.V., Jakob-Weider-Weg 4, D-55128 Mainz Dipl.-Volkswirt Jörg Markt M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Walter Eucken Institut, Goethestr. 10, D-79100 Freiburg Dr. Wolfgang Maennig Professor an der Universität Hamburg, Institut für Außenhandel und Wirtschaftsintegration, Von Melle Park 5, D-20146 Hamburg Dr. Dirk Meyer Professor am Institut für Wirtschaftspolitik, Fachbereich Wirtschafts- und Organisationswissenschaften, Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22039 Hamburg Dipl.-Wirtschafts-Ingenieur Marcus Mittendorf Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München, Institut für Volkswirtschaftslehre, insb. MakroÖkonomik und Wirtschaftspolitik, D-85577 Neubiberg Dr. Wemhard Möschel, Professor an der Universität Tübingen, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Wilhelmstr. 7, D-72074 Tübingen

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Dipl.-Volkswirt Mark Oelmann, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln, Wirtschaftspolitisches Seminar, Robert-Koch-Str. 41, 50931 Köln Dr. Stefan Okruch Max-Planck-Projektgruppe, „Recht der Gemeinschaftsgüter", Poppelsdorfer Allee 45, D-53115 Bonn Dr. Hermann Ribhegge Professor an der Europa-Universität Viadrina, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für VWL, insb. Wirtschafts- und Sozialpolitik, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) Dr. Paul-Günther Schmidt Privatdozent an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 03 Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, D-55099 Mainz Dr. Bernhard Seliger Graduate School of International Area Studies, Hankuk University of Foreign Studies, 270, Imun-Dong, Dongdaemun-gu, 130 791 Seoul, Südkorea Dr. Friedrich Seil Professor an der Universität der Bundeswehr München, Institut für Volkswirtschaftslehre, insb. MakroÖkonomik und Wirtschaftspolitik, D-85577 Neubiberg Dr. Jörn Sideras Geschaeftsfuhrer des Walter Eucken Instituts, Goethestr. 10, D-79100 Freiburg Dipl.-Volkswirtin Katrin Sobania Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftspolitik, Postfach 90 03 27, D-14439 Potsdam Dipl.-Volkswirt Oliver Stettes Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2, D-97070 Würzburg

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Dr. Cornelia Storz Professorin am Japan-Zentrum der Philipps-Universität Marburg, D-35032 Marburg Dr. Manfred E. Streit Professor am Max-Planck-Institut, Abt. Institutionenökonomik, Kahlaische Str. 10, D-07745 Jena Dr. Engelbert Theurl Professor an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Institut für Finanzwissenschaft, Universitätsstrasse 15, A-6020 Innsbruck Dr. Theresia Theurl Professorin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Genossenschaftswesen, Am Stadtgraben 9, D-48143 Münster Dr. Peter Thuy Professor, Germersreuth 41, D-95234 Sparneck Dr. Viktor Vanberg Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik, Platz der Alten Synagoge 1, D-79085 Freiburg i. Br. Dipl.-Volkswirt Robert B. Vehrkamp Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Witten/Herdecke, Lehrstuhl für gesamtwirtschaftliche und institutionelle Entwicklung, Alfred-Herrhausen-Straße 50, D-58448 Witten. Dr. Jürgen Volkert Professor an der Fachhochschule Pforzheim, Fachbereich 7 (Volkswirtschaftslehre), Tiefenbrunner Str. 65 D-75175 Pforzheim Dr. Adolf Wagner Professor an der Universität Leipzig, Direktor des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Marschnerstr. 31, D-04109 Leipzig

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Dr. Rolf Walter Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Carl-Zeiß-Straße 3, D-07743 Jena Michael Weber Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWLI, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Dr. Erich Weede Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Seminar für Sozioloige, Adenauerallee 98a, D-53113 Bonn Dipl.-Volkswirt Thomas Welsch Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg, Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssystem, Barfüßertor 2, D-35032 Marburg Dr. Dirk Wentzel Privatdozent, Feodor Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Pennsylvania State University, College of Communication, 115 Carnegie Building, University Park, PA, 16802, USA Dr. Carl Christian von Weizsäcker Professor an der Universität Köln, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln Dipl.-Volkswirt Jürgen Zerth Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl VWL IV, Universitätsstraße 30, D-95447 Bayreuth

Allgemeine Wirtschaftspolitik Von Prof. Dr. Juergen B. Dönges und Andreas Freytag 2001. XVIII, 320 S. 35 Abb., 6 Tab. kt. DM 35,80 / sFr 33,- / € 17,90 ISBN 3-8282-0153-9 (Lucius & Lucius). UTB 2191. ISBN 3-8252-2191-1 (UTB) Dieses neu konzipierte Lehrbuch behandelt in moderner Weise und aktualitätsbezogen die Möglichkeiten und Probleme wirtschaftspolitischer Entscheidungsträger, angesichts fortschreitender Globalisierung wichtige gesamtwirtschaftliche Ziele erreichen zu können. Die Autoren verzichten bewusst auf eine enzyklopädische Behandlung sämtlicher Teilbereiche der Wirtschaftspolitik. Statt dessen wird anhand zahlreicher Beispiele ein ganzheitlicher Ansatz vorgestellt.

Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb Hrsg. von Prof. Dr. H. Walter, S. Hegner und J. M. Schechler 2000. XXXIV/587 S. gb. DM 144,- / sFr 124,- / € 72,-. ISBN 3-8282-0146-6 Die Beiträge dieses Bandes behandeln aktuelle Probleme aus den Gebieten • Wirtschaftliches Wachstum und Stabilisierung · Sektoraler und regionaler Strukturwandel · Wettbewerb und Globalisierung. Die thematische Spannweite reicht dabei vom Verhältnis zwischen Innovatoren und Imitatoren, den Problemfeldern der evolutorischen Ökonomik und der Beschäftigung über Megafusionen, Internet-Ökonomie, Umweltprobleme und Arbeitsplatzexport bis zum Aufschwung Ost und dem Systemwettbewerb zwischen Staaten.

Ordnungspolitik als konstruktive Antwort auf wirtschaftspolitische Herausforderungen Hrsg. von Prof. Dr. H.-F. Eckey, Kassel; Prof. Dr. D. Hecht, Bochum; Prof. Dr. M. Junkernheinrich, Trier; Prof. Dr. H. Karl, Jena; Dr. N. Werbeck, Bochum; PD Dr. R. Wink, Bochum. 2001. X/543 S. geb. DM 138,- / sFr 118,50 / € 69,-. ISBN 3-8282-0167-9 Dieser Band enthält im ersten Teil Beiträge zum räumlichen Wirtschaften. Im zweiten Themenkomplex „Umwelt und Nachhaltigkeit" werden die seit den 70er Jahren immer stärker wahrgenommenen umweltpolitischen Herausforderungen behandelt. Die Themengebiete „Innovation, Arbeit und Soziales" sowie „Recht und Politik" sind Gegenstand der abschliessenden Kapitel.

LUCIUS LUCIUS

Privatisierung und öffentliche Finanzen Zur politischen Ökonomie der Transformation von Dirck Süß Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 66 2001. XIV/236 S., kt. DM 62,- /sFr 55,10. ISBN 3-8282-0193-8 Wie hat sich die Privatisierung staatlicher Unternehmen bei der Transformation sozialistischer Wirtschaftssysteme auf die öffentlichen Finanzen ausgewirkt? Inwieweit wurde die Privatisierungspolitik durch fiskalische Restriktionen der Entscheidungsträger beeinflußt? Warum Unternehmen verkauft oder verschenkt wurden, wie das unterschiedliche Tempo von Privatisierungsprozessen zu erklären ist und wie der Kreis der neuen Eigentümer bestimmt wurde - diese Fragen werden in dem vorliegende Band am Beispiel Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik untersucht.

Monetäre Institutionenökonomik Dietrich v. Delhaes-Guenther/Karl-Hans Hartwig/Uwe Vollmer (Hrsg.) Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 67 2001. VIII/400 S., kt. DM69,- /sFr61,20. ISBN 3-8282-0194-6 "Money matters" und "institutions matter" sind in der modernen Ökonomik zwei gängige, weithin anerkannte Feststellungen. Da monetäre Institutionen als Spielregeln und Organisationen wesentliche Anreize und Kontrollen auf Märkten sowie im politischen Bereich vermitteln, ist es zur Folgerung, "monetary institutions matter", nur ein kleiner Schritt. Der vorliegende Band stellt diese Erkenntnisse in den Mittelpunkt, indem er monetäre Aspekte aus institutionenökonomischer Perspektive behandelt. Dazu gehören die Entstehung monetärer Institutionen im historischen Kontext und aus vertragstheoretischer Sicht, politische und konstitutionelle Dimensionen von monetären Institutionen sowie die Rezeption dieser Zusammenhänge in der modernen Geldtheorie.

Schlesien auf dem Weg in die Europäische Union Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft und Christliche Gesellschaftslehre Lüder Gerken/Joachim Starbatty (Hrsg.) Marktwirtschaftliche Reformpolitik Bd. 6 2001. XVI/253 S., DM 64,- / sFr 56,80. ISBN 3-8282-0155-5 Im vorliegenden Band dokumentieren das Walter Eucken Institut und die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft die Vorträge und Stellungnahmen des 7. Alfred Müller-Armack-Symposions, das im Mai 2000 im schlesischen Gleiwitz stattgefunden hat. Neben Ökonomen, Politikern und Unternehmern beteiligten sich daran auch Bischöfe und Theologen. Dieser interdisziplinäre Zugang erlaubt es, wesentliche Problembereiche zu skizzieren und so zu einem umfassenden Überblick über die aktuelle Situation Schlesiens zu gelangen. Zum ersten Mal werden für das trilaterale Schlesien eine umfassende und grenzüberschreitende Diagnose und eine Therapie vorgelegt.

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