200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien [1 ed.] 9783205208587, 9783205207276

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200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien [1 ed.]
 9783205208587, 9783205207276

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Hartmut Krones (Hg.)

200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS Herausgegeben von Hartmut Krones

Hartmut Krones (Hg.) 200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Institut für Musikalische Stilforschung (aufgegangen im Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis Herausgegeben von Hartmut Krones

Sonderband 8 (gemeinsam mit der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) Hartmut Krones (Hg.) 200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Herausgegeben von Hartmut Krones

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Umschlag: Der Musikverein in Wien um 1898 (Photo: Josef Loewy) (Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2018 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar ISBN: 978-3-205-20858-7

Typographische Gestaltung und Satz: Silvia Wahrstätter, www.buchgestaltung.at, Wien Schrift: Adobe Garamond Pro

Zum Geleit

Zum Geleit „Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen“, nichts weniger als das war das Ziel der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bei ihrer Gründung im Winter 1812/13. Diesem Ziel sind wir bis heute verpflichtet. Es ist Ansporn für uns, die Liebe zur Musik mit dem ständigen Blick auf ihr Wachsen und Gedeihen zu verbinden: Musik in allen ihren Zweigen. Wie enorm sie gewachsen ist, die Musik unter Wiens Musikfreunden, das läßt sich schon rein quantitativ zeigen. Nie haben mehr Menschen in diesem Haus Musik gehört und erlebt als heute: Mehr als 800 Konzerte finden hier jährlich statt, besucht von nicht weniger als 800.000 Menschen. Was mich dabei besonders freut, ist die Gewichtung. So tragen unsere Initiativen im Kinder- und Jugendbereich reiche Früchte: Zuletzt gab es – auch das ein Rekordwert ! – 218 Musikvereinskonzerte pro Saison mit edukativem Charakter. Mehr als 48.000 Kinder und Jugendliche besuchten diese Veranstaltungen. Der „Nachwuchs“ ist uns ein Herzensanliegen. Damit Neues nachwachsen kann, junge Zweige der Musik, haben wir vor nunmehr 14 Jahren die Vier Neuen Säle gebaut. Dieses größte Bauprojekt seit der Errichtung des Musikvereinsgebäudes hat neue Räume für die Musik erschlossen. Und Raum für Neue Musik – wie ja die Neue Musik überhaupt einen hohen Stellenwert bei uns genießt. In den 30 Jahren – die ich als Intendant verantwortlich gestalten durfte – hat die Gesellschaft der Musikfreunde mehr als 90 Kompositionsaufträge vergeben. Im Rahmen unseres „200-Jahr-Jubiläums“ richtete die Gesellschaft der Musikfreunde nun vom 14. bis 16. Juni 2012 gemeinsam mit dem „Institut für Musikalische Stilforschung“ der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – im „Gläsernen Saal“ sowie im „Steinernen Saal“ des Hauses – ein Symposion aus, das erstmals in umfassender Weise den Blick auf die Uraufführungen unserer Institution richtete, wie sie seit dem ersten „offiziellen“ Gesellschaftskonzert vom 3. Dezember 1815 realisiert wurden. Und der nunmehr vorliegende Symposions-Bericht, der die Referate der drei Tage versammelt, läßt auch eine breitere Öffentlichkeit sowie insbesondere die internationale Fachwelt die Ergebnisse der Veranstaltung nachvollziehen.

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Zum Geleit

Mein Dank gilt der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien sowie Herrn o. Univ.-Prof. MMag. Dr. Hartmut Krones; ohne sie hätte dieses Symposion nicht stattfinden und dieser Bericht nicht erscheinen können. Wien, im November 2018 Dr. Thomas Angyan Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

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Inhalt

Inhalt Thomas Angyan Zum Geleit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Inhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hartmut Krones (Wien) 200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. . . . . . . 9 Otto Biba (Wien) Von der Widmungskomposition zur Auftragskomposition. Eine musikgeschichtliche Entwicklung am Beispiel der Gesellschaft der ­Musikfreunde in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Hartmut Krones (Wien) Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt Musikgeschichte. Kompositionsaufträge und –wettbewerbe als Brennpunkte des Neuen. . . . . . . . . . . . 35 Rudolph Angermüller (Salzburg) Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Walther Brauneis (Wien) Uraufführungen Schubertscher Werke zu dessen Lebzeiten in den ­Veranstaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen ­K aiserstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .75 Ulrich Konrad (Würzburg) „Altrömische“ und „deutsche“ Studien. Otto Nicolais großes Konzert von 1843 und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89 Norbert Rubey (Wien) „Musik-Verein-Tänze“: Sträuße von Sträussen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Erich Wolfgang Partsch (Wien) † Bruckner-Uraufführungen im Musikverein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Otto Biba (Wien) Uraufführungen und frühe Aufführungen von Werken von Johannes Brahms in den Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien . . . . . . . . 125 7

Inhalt

Antony Beaumont (Bremen) Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Carmen Ottner (Wien) „Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe, wird mir, solange ich lebe, gegenwärtig sein.“ Franz Schmidt (1874–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Anna Dalos (Budapest) Háry auf der Reise nach Wien. Die Uraufführung von Kodálys ­Theater-Ouvertüre in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien . . . . . . . . . . . . . . . 173 Hannes Heher (Wien) „[…] in Würdigung seines Schaffens […] zum Ehrenmitglied zu ernennen“ Egon Wellesz und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Hartmut Krones (Wien) „Ein funkelnder Rubin von eigenem Feuer“ Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Ingrid Fuchs (Wien) Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Urauf­ führungen Gottfried von Einems in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Hartmut Krones (Wien) „Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen“ 200 Jahre Gesellschaft der Musikfreunde in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

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200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wie

Hartmut Krones (Wien) 200 Jahre Uraufführungen in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Zentraler Schwerpunkt der am „Institut für Musikalische Stilforschung“ der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien beheimateten Abteilung „Musikalische Stilkunde und Aufführungspraxis“ war die Erforschung spezieller Ausprägungen von kompositorischen oder aufführungspraktischen Traditionen, seien sie Ergebnis von jeweils ganz spezifischen Entwicklungen des Musiklebens einer Epoche, eines Landes oder einer Region, seien sie durch bedeutende Komponistenpersönlichkeiten ins Leben gerufen worden oder seien sie durch die gesellschaftlichen Verhältnisse in einem bestimmten Lebensraum bedingt. In allen Fällen galt hier das Interesse vor allem Ausprägungen, die für die Musikgeschichte bzw. das Musikleben in Österreich relevant waren oder aber für die Entwicklung einzelner österreichischer Komponisten bedeutsam wurden. Im Rahmen der primär stilgeschichtliche oder aufführungspraktische Fragen thematisierenden „Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis“ widmet sich eine eigene „Sonderreihe“ einerseits wichtigen Komponisten, die das Wiener Musikleben des frühen 20. Jahrhunderts in entscheidender Weise geprägt haben, andererseits arbeitet sie Themen auf, die für die Österreichische Musikgeschichte bzw. das Wiener Ambiente im allgemeinen oder aber für einzelne Wiener Komponisten im speziellen von Bedeutung sind. Dementsprechend galten die bisher erschienenen Bände Komponisten wie Alexander Zemlinsky, Anton Webern, Gustav Mahler (und zwar seinem ersten breiteren Wirkungskreis in Laibach), Jean Sibelius (der knapp zwei Semester in Wien studiert hat) oder Silvestre Revueltas, der für uns durch seine Freundschaft mit dem Wiener Schönberg-Schüler Hanns Eisler sowie insbesondere durch das parallele Wirken beider auf den Gebieten des politischen Liedes sowie der Filmmusik von Interesse ist, weiters einem Überblick über das österreichische symphonische Schaffen des 20. Jahrhunderts sowie noch der Musikgeschichte Mährens und Mährisch-Schlesiens bis 1945, welche Regionen bis zum Jahre 1918 ja dem „cisleithanischen“ österreichischen Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie angehörten und mannigfaltige Verbindungen zum Musikleben des heutigen Österreich und insbesondere Wiens besaßen. Der achte Band unserer Sonderreihe gilt nun einem ganz speziellen Kapitel der Musikgeschichte Wiens: der das Musikleben der Donaumetropole im 19., 20. 9

Hartmut Krones (Wien)

und 21. Jahrhundert wie keine andere Vereinigung prägenden „Gesellschaft der Musikfreunde“, die neben der Pflege der „classischen“ Musik immer auch neuen Strömungen gegenüber offen war, vielen Komponisten gleichsam eine Heimat bot und insbesondere in den letzten 30 Jahren eine überaus große Anzahl von Aufträgen vergab, deren Ergebnisse Wesentliches zur Bereicherung des Kanons von „Neuer“ Musik in Österreich beitrugen. Und die ersten Realisationen dieser Werke wurden auch speziell mit dem Prädikat „Uraufführung“ versehen, was in der Frühzeit der Gesellschaft äußerst selten geschah – „Uraufführungen“ besaßen damals noch nicht das Odium des Besonderen wie heute, da es selbstverständlich war, Werke lebender Komponisten aufzuführen. Daher war es – neben der Verzeichnung der Uraufführungen der letzten Jahrzehnte – auch ein Ziel des in vorliegendem Band dokumentierten Symposions, die Rolle bzw. sogar die „Unterbewertung“ erster Werk-Realisationen im 19. Jahrhundert zu beleuchten und so deren völlig unterschiedliche soziologische Funktion im Rahmen des Musiklebens und speziell der öffentlichen Wahrnehmung darzulegen. Im Fokus der Betrachtung standen dabei aber ausschließlich Konzerte, die von der Gesellschaft der Musikfreunde selbst ausgerichtet wurden, und nicht die vielen in den Sälen des Musikvereinsgebäudes „eingemieteten“ Veranstaltungen anderer Vereinigungen (wie u. a. der Wiener Philharmoniker, der Wiener Symphoniker oder anderer Orchester bzw. Ensembles, der „Musikalischen Jugend Österreichs“, der Arbeiter-Sinfonie-Konzerte oder der zahlreichen Konzertbüros des frühen 20. Jahrhunderts oder auch des Österreichischen Komponistenbundes und anderer Interessens-Gesellschaften auf dem Gebiet der „Neuen Musik“).1 Bekanntlich versammelten sich am 29. November 1812 in der kaiserlichen Winterreitschule „am Josephsplatze“ unter der Leitung des Hofkonzipisten, Hobbymusikers und Hobbykomponisten Ignaz Mosel2 590 Mitwirkende und führten vor nahezu 5000 Zuhörern Georg Friedrich Händels Oratorium „Timotheus, oder die Gewalt der Musik“ („Das Alexanderfest“ / „Alexander’s Feast“) „mit vermehrter Begleitung der Blasinstrumente von W. A. Mozart“ auf.3 Joseph 1 Angesichts der zahlreichen Zitate aus Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts sind sämtliche Beiträge des Bandes in der „alten“ Rechtschreibung gehalten, um bei unmittelbarem Nebeneinander von Zitat und Eigentext nicht zu verwirren. Die originalen Schreibweisen der Quellen wurden selbstverständlich immer beibehalten. 2 Zu lgnaz (später Edler von) Mosel siehe Theophil Antonicek, Ignaz von Mosel (1772–1844). Biographie und Beziehungen zu den Zeitgenossen, Phil. Diss. Wien 1962. 3 Zu diesen und anderen allgemeinen Fakten siehe insbesondere: Monatsberichte der Gesellschaft der Musikfreunde des Oesterreichischen Kaiserstaates, Wien 1829 und 1830; C.[arl] F.[erdinand] Pohl,

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Sonnleithner, der das Konzert im Namen der „Gesellschaft adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen“ organisierte, „ergriff“ damals „der Gedanke, daß die allgemeine Begeisterung, welche das classische Werk Händels erweckt hatte, hoffen lasse […], diese große Zahl von Musikfreunden zu einer bleibenden Gesellschaft zu verbinden, welche die Beförderung der Musik in allen ihren Zweigen und die Gründung eines Conservatoriums der Musik zum Zwecke hätte“.4

Trotz der Wirren der napoleonischen Kriege schritt man schnell zur Tat: Ein „Vorschlag zur Organisierung eines Dilettantenvereines“ wurde gedruckt und an alle Mitwirkenden mit der Aufforderung verteilt, sich im Falle ihres Interesses binnen zweier Wochen in eine Liste einzutragen. So kamen 507 Beitrittserklärungen zustande, worauf man den Verein ins Leben rief und ihn von Kaiser Franz I. von Österreich bereits am 22. Jänner 1813 genehmigt erhielt. – Nach einigen organisatorischen Überlegungen wurde sodann am 25. März 1813 ein Komitee gegründet, das man mit der Ausarbeitung eines Statuten-Entwurfes beauftragte, und bereits drei Tage später lag ein solcher vor, der die Aufgaben des Vereines folgendermaßen umriß: „Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen ist der Hauptzweck der Gesellschaft; der Selbstbetrieb und Selbstgenuß derselben sind nur untergeordnete Zwecke. Um den Hauptzweck zu erreichen, wird sie Erstens: Ein Conservatorium errichten, in welchem Zöglinge beyderley Geschlechtes aus den gesammten k. k. österreichischen Staaten im Gesang, in der Declamation, auf Instrumenten, im praktischen Generalbaß, im Tonsatze, in Sprachen, und andern Nebengegenständen gebildet werden sollen. Zweytens: Wird sie die vorhandenen classischen Werke zur Aufführung bringen, theils, um dadurch den musikalischen Geschmack überhaupt zu erheben und zu veredeln, theils um durch die Anhörung derselben aufkeimende Talente zu begeistern, und zu dem Bestreben zu erwecken, sich auch zu classischen Tonsetzern zu bilden,

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Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates und ihr Conservatorium, Wien 1871; Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1. Abteilung: 1812–1870[,] verfasst von Richard von Perger, 2. Abteilung: 1870–1912[,] verfasst von Dr. Robert Hirschfeld, und Zusatz=Band zur Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Sammlungen und Statuten[,] zusammengestellt von Dr. Eusebius Mandyczewski, Wien 1912; Herfried Kier. Raphael Georg Kiesewetter (1773-1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus, Regensburg 1968; Michaela Schlögl, 200 Jahre Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Wien–Graz–Klagenfurt 2011. Speziell zur Geschichte des Konservatoriums siehe auch noch: Robert Lach, Geschichte der Staatsakademie und Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, Wien 1927; Ernst Tittel, Die Wiener Musikhochschule, Wien 1967; Hartmut Krones, „ … der schönste und wichtigste Zweck von allen …“. Das Conservatorium der „Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates“, in: Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), S. 66–83; Beate Hennenberg, Das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Wien 2013. Monatsbericht I/1829 (Anm. 3), S. 3.

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Hartmut Krones (Wien)

wozu die Gesellschaft durch Aufmunterungen und Belohnungen nach ihren Kräften beytragen wird.“

Vier weitere Anliegen waren schließlich „Preisfragen über Gegenstände, welche unmittelbar auf die Musik Bezug haben“, also ein musikbezogener Vorläufer der „Millionenshow“, weiters die Herausgabe einer „musikalischen Zeitschrift“ unter dem Titel „Annalen der Gesellschaft der Musikfreunde“, das Anlegen einer musikalischen Bibliothek sowie die Unterstützung von „Kunsttalenten“ und „Privatanstalten, welche die Musik wesentlich befördern.“5 Angesichts dieser Statuten, die gleichsam auf dem Boden des 29. November 1812 entstanden sind, feierte die Gesellschaft der Musikfreunde 2012 ihr 200-JahrJubiläum, obwohl ihre vorläufige Genehmigung durch den Kaiser am 22. Jänner 1813 erfolgte, ihre endgültige „Allerhöchste Genehmigung“ (durch eine „kaiserliche Entschließung“) erst durch die Sanktionierung der Statuten am 30. Juni 1814 vor sich ging und das erste „Gesellschafts=Concert“ erst am 3. Dezember 1815 stattfand. Die Universität für Musik und darstellende Kunst, die Nachfolgeanstalt des „ersten Hauptzwecks“ der Gesellschaft (wie deren „Conservatorium“ bezeichnet wurde), sah als Anlaßdatum für ihre 200-Jahr-Feier hingegen den 4. August 1817, an welchem Tag der Unterricht in der von Raphael Georg Kiesewetter geleiteten „Singschule“ (der Gesellschaft der Musikfreunde) begann. Die seinerzeitige Hochschule für Musik und darstellende Kunst6 aber hatte ihr 175-Jahr-Jubiläum eingedenk des Konzertes vom November 1812 sehr wohl bereits im Studienjahr 1987/88 gefeiert, und zwar unter anderem mit dem von mir (bzw. meiner Lehrkanzel „Musikalische Stilkunde und Aufführungs­ praxis“) organisierten Symposion „Alte Musik und Musikpädagogik“7 (das auch Master classes und zahlreiche Podiumsdiskussionen umfaßte)8, weiters mit einer Reihe von Festkonzerten sowie mit einem Themenschwerpunkt ei5

Alle Protokolle, Briefe, Entwürfe, Berichte, Schulstatuten, Lehrpläne, Statistiken, Programme u. a. befinden sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 6 Die 1909 aus dem „Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde“ hervorgegangene „[bis 1918 k. k.] Akademie für Musik und darstellende Kunst“ wurde 1970 zur „Hochschule für Musik und darstellende Kunst“ und 1998 zur „Universität für Musik und darstellende Kunst“. Hiezu siehe u. a. Hartmut Krones, „ … der schönste und wichtigste Zweck von allen …“ (Anm. 3), S. 80ff. 7 Der (wesentlich erweiterte) Bericht über dieses vom 6. bis 14. November 1987 veranstaltete Symposion ist 1997 erschienen: Hartmut Krones (Hg.), Alte Musik und Musikpädagogik (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, Band 1), Wien–Köln–Weimar 1997. 8 Das damalige Symposion kam laut der Eröffnungsrede des damaligen Wissenschaftsministers Hans Tuppy „anläßlich des 175jährigen Jubiläums der Hochschule zustande“ und stand laut den Grußworten des damaligen Rektors Gottfried Scholz „am Beginn der Feier zum 175-Jahr-Jubiläum unserer Hochschule“.

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ner Nummer der „Österreichischen Musikzeitung“9. Demgemäß beging das von mir geleitete „Institut für Musikalische Stilforschung“, dessen Abteilung „Stilkunde und Aufführungspraxis“10 die Nachfolge-Organisation der seinerzeitigen Lehrkanzel darstellte, auch das 200-Jahr-Jubiläum gemeinsam mit der Gesellschaft der Musikfreunde im Jahr 2012, und dies erneut mit einem diesem Anlaß und unserer gemeinsamen Geschichte gewidmeten Symposion, das vom 14. bis 16. Juni in den Neuen Sälen des Musikvereinsgebäudes stattfand. Und ich danke meinem langjährigen Freund und „Mitstreiter“ Dr. Thomas Angyan, dem Intendanten der Gesellschaft, für die Mit-Finanzierung dieser so ertragreichen Veranstaltung. Der erste Anstoß zur Gründung des „Conservatoriums“ kam im übrigen bereits vier Jahre früher, und zwar ebenfalls von Ignaz Mosel – und auch dieses Datums soll hier kurz gedacht werden: Am 27. Mai 1808 erschien in den „Vaterländischen Blättern für den österreichischen Kaiserstaat“ ein aus der Feder Mosels stammender Artikel mit dem Titel „Uebersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien“, in dem u. a. zu lesen ist: „[…], daß, ungeachtet die Musik hier eine so außerordentlich große Anzahl von Kennern und Freunden, und unter diesen so viele Große, Mächtige, und Reiche zählt, dennoch bisher kein öffentliches, bloß dieser Kunst, ihrer Lehre, Ausübung und Vervollkommnung gewidmetes Institut, keine musikalische Akademie, kein Conservatoire, oder wie man es nennen wollte, zu Stande gekommen ist, wäre vielleicht schwerer zu entscheiden. Wohl aber muß jeder Fremde den Mangel einer solchen öffentlichen Anstalt mit Verwunderung wahrnehmen, und jeder Eingeborne ihn herzlich bedauern.“11

Nachdem nun so lange vom „ersten Zweck“ der Gesellschaft der Musikfreunde die Rede war, muß nun doch auch der „zweyte Zweck“ kurz betrachtet werden: Die Gesellschaft „wird die vorhandenen classischen Werke zur Aufführung bringen“, aber nicht nur, „um dadurch den musikalischen Geschmack überhaupt zu erheben und zu veredeln“, sondern auch – und jetzt sind wir bei unserem Symposions-Thema – „um durch die Anhörung derselben aufkeimende Talente zu begeistern, und zu dem Bestreben zu erwecken, sich auch zu classischen

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Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), Heft 2-3 (Februar–März): 175 Jahre Hochschule für Musik und darstellende Kunst. 10 Neben dieser Abteilung gehörte dem Institut als weitere Abteilung das „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg“ an, das mittlerweile ebenfalls in dem „Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung“ aufgegangen ist. 11 Ignaz Mosel, Uebersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien, in: Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat Nr. VI. Freytags, den 27. May 1808, S. 39–44, hier S. 41.

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Tonsetzern zu bilden, wozu die Gesellschaft durch Aufmunterungen und Belohnungen nach ihren Kräften beytragen wird“. Es ging also immer auch darum, junge Komponisten bzw. neue Musik zu fördern, und zwar durch „Aufmunterungen“ und „Belohnungen“; ganz abgesehen davon, daß die Wortwahl erkennen läßt, daß auch im frühen Wien „classisch“ weniger ein Epochenbegriff denn ein Qualitätssiegel war. Und so ist die Geschichte sowohl der Gesellschaft der Musikfreunde als auch des Conservatoriums bzw. der Akademie, Hochschule und Universität immer auch eine Geschichte der Neuen Musik gewesen. Am Conservatorium studierten Generationen von Komponisten, von denen hier nur Gustav Mahler, Hugo Wolf, Alexander Zemlinsky oder Leoš Janáček genannt sein sollen, und in den Conservatoriums-Konzerten erblickte so manches Werk der genannten Meister das Licht der Öffentlichkeit. Aber auch in den großen Gesellschaftskonzerten war immer die Gegenwart präsent, und das nicht selten in buntester Reihenfolge. So standen auf dem Programm des ersten Konzertes vom 3. Dezember 1815 eine Symphonie (von Mozart), eine Arie (von Righini), ein Rondo für Klavier und Orchester (von Hummel), ein Chor (von Händel), eine Ouverture (von Cherubini) und ein Opernfinale (von Salieri). Sechs Komponisten, darunter drei lebende, waren versammelt, von denen nur einer (Händel) schon vor längerer Zeit gestorben war; die zwei weiteren Gestorbenen waren Jahrgang 1756, wären also erst 59 Jahre alt gewesen (Vincenzo Righini starb erst 1812). Und im zweiten Konzert erklangen Werke von Beethoven, Paër, Moscheles, Salieri, Cherubini und Mehul – alle sechs erfreuten sich bester Gesundheit. Daß wir bei vielen der gespielten Werke nicht wissen, wann sie wo uraufgeführt wurden, ist allgemein bekannt, ganz abgesehen davon, daß Angaben wie „eine Symphonie von XY“ oder „eine Arie von YX“ uns im unklaren darüber lassen, um welche Komposition es sich handelt, und auch kaum zum genauen Verifizieren eines Werkes beitragen können. Unser Symposion warf nun den Blick auf (vor allem) prominente Uraufführungen in den von der Gesellschaft der Musikfreunde veranstalteten Konzerten – „Fremdveranstaltungen“ (siehe oben) fanden keine Berücksichtigung. Und selbstverständlich galt das auch für die Zeit vom 16. März 1938 bis Mai 1945, als das Haus unter der (der Gesellschaft aufgezwungenen) Führung des kommissarischen Leiters Franz Schütz stand,12 denn ansonsten wäre (u. a.) einiger Werke von Joseph Marx oder Robert Wagner zu gedenken, ganz zu schweigen 12 Hiezu siehe Hartmut Krones, Die Konzertpolitik der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien in den Jahren 1938 bis 1945, in: Die Wiener Schule und das Hakenkreuz. Das Schicksal der Moderne im

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von der „Deutschen Auferstehung“ von Franz Schmidt, die am 24. April 1940 die Zuhörer mit dem schlagkräftigen Jubel-Abschluß „Wir wollen unsren Führer sehn! Sieg! Heil!“ entließ.13 Einer wichtigen Uraufführung, nämlich der des Klavierkonzertes für die linke Hand von Maurice Ravel am 5. Jänner 1932 durch den Auftraggeber Paul Wittgenstein und die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Robert Heger, wurde zwar im Symposion (durch Martin Haselböck) gedacht, doch geschah das nur der Vollständigkeit halber bzw. auch wegen der Prominenz des Werkes, ohne daß es hier zu neuen Ergebnissen kommen konnte.14 Herausgeber und Referent haben deswegen auch auf die Aufnahme dieser Bekanntes zusammenfassenden Übersicht in den Symposions-Bericht verzichtet; Teile des Abendprogrammes sind aber auf Seite 16 abgebildet. Und wenn es Verwunderung auslösen sollte, daß nur bereits verstorbene Komponisten mit einem eigenen Vortrag bedacht wurden, dann sei darauf verwiesen, daß in den Gesellschaftskonzerten seit dem Amtsantritt von Thomas Angyan im September 1988 bis zum Zeitpunkt des Symposions bereits von 51 Komponisten Auftragswerke erklungen sind und aus Anlaß der 200-Jahr-Feier acht weitere Werke in Auftrag gegeben wurden. Unter der Annahme, daß an einem Tag maximal acht Vorträge stattfinden können, hätte dies eine Symposionsdauer von weiteren sechs bis sieben Tagen bedeutet, was organisatorisch und auch finanziell unrealistisch gewesen wäre. Und von nahezu 60 Komponisten zwei oder drei auszuwählen, ist schon aus Gründen der „Gerechtigkeit“ unmöglich. Es werden (in meinem ersten Beitrag) aber alle Werke genannt, die im Laufe der letzten 30 Jahre in Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde ihre Uraufführung erlebten, und zwar über den Termin des Symposions hinaus bis zum Erscheinen des vorliegenden Bandes Ende 2018.

gesellschaftspolitischen Kontext des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung, Band 22), Wien-Graz 1990, S. 188–201. 13 Vgl. Hartmut Krones, „Das Reich“ … „ein Volk“ … „zu Deutschlands Größe“. Große Intervalle für große Inhalte in Franz Schmidts „Deutsche Auferstehung“, in: Musik in Wien 1938–1945. Symposion 2004, hrsg. von Carmen Ottner (= Studien zu Franz Schmidt XV), Wien 2006, S. 141–165. 14 Wittgenstein hatte bei dem Werk bekanntlich zahlreiche Veränderungen vorgenommen, was Ravel, der bei der Uraufführung nicht anwesend war, anläßlich einer Wiederaufführung am 3. Februar 1932 (bei der Walter Bricht den Orchesterpart auf einem zweiten Klavier spielte) erboste. Als Wittgenstein Ravel dann schrieb „Interpreten sind keine Sklaven“, schrieb Ravel zurück: „Interpreten sind Sklaven.“ Siehe Irene Suchy, Allan Janik, Georg Predota (Hg.), Empty Sleeve. Der Musiker und Mäzen Paul Wittgenstein, Innsbruck 2006.

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Hartmut Krones (Wien)

Abendprogramm (Ausschnitte), Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Viertes Sym­ phonie=Konzert vom 5. Jänner 1932: Uraufführung des Klavierkonzertes für die linke Hand von Maurice Ravel durch Paul Wittgenstein (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 16

Von der Widmungskomposition zur Auftragskomposition

Otto Biba (Wien) Von der Widmungskomposition zur Auftragskomposition. Eine musikgeschichtliche Entwicklung am Beispiel der Gesell­ schaft der Musikfreunde in Wien In der aktuellen gegenwärtigen Musikszene werden die Begriffe Uraufführung und Auftragskomposition meist gleichgesetzt. Kaum ein namhafter Komponist schreibt mehr ohne Auftrag ein neues Werk, kaum ein Konzertveranstalter, der sich nicht mit der Vergabe von Auftragskompositionen schmückt, weil er und sein Haus auf diese Weise mit dem Werk verbunden bleiben. Dem Komponisten bringt das Auftragswerk Anregungen und es nimmt ihm Sorgen1, dem Veranstalter bringt es Anerkennung. Belassen wir es bei diesen Feststellungen und denken wir nicht darüber nach, welche Nachteile dieses System für das „Nachspielen“ eines neuen Werkes und für dessen eventuelle und jedenfalls wünschenswerte Etablierung im Repertoire bringt. Denn für nachgespielte Werke haben die Veranstalter wenig Platz: Neues wollen sie in erster Linie mit Auftragswerken etablieren. Selbst wenn prominente Interpreten das für die Uraufführung einstudierte Auftragswerk anderswo auch noch interpretieren, das Nachspielen dem Veranstalter also durch das Gewicht des prominenten Interpreten schmackhaft gemacht wird, ist das für das Werk in der Regel problematisch: Es ist dann so sehr mit einem Namen verbunden, daß es für andere Interpreten uninteressant wird.2 Die überwiegende Mehrzahl von Bachs kirchenmusikalischem und profanem Instrumental-Schaffen waren Auftragskompositionen, geschaffen im Rahmen der Dienstverpflichtungen als in kirchlichen oder fürstlichen Diensten stehender Kapellmeister. Komponist-Sein war kein Beruf. Man war Kapellmeister, Kantor oder hatte eine ähnliche Funktion, und innerhalb dieser hatte man Kompositionen zu schaffen. Bezahlt wurde man aber nicht für das Komponieren, sondern für das Musizieren. Denn das Komponieren war ein selbstverständlicher Teil dieser Funktion und keine „außerordentliche“, also außerhalb der Ordnung liegende, Leistung, die gesondert zu honorieren gewesen wäre. Das im Rahmen einer Dienstverpflichtung oder aus gegebenem Anlaß, also beauftragt, Komponie1 Gottfried von Einem, Auftrag, ja oder nein?, in: Musik 1947. Ein Wiener Jahrbuch, hrsg. von Hans Rutz, Wien o. J. [1946], S. 65. 2 Otto Biba, Auftragskompositionen, in: Musikblätter der Wiener Philharmoniker 66 (2012), S. 405– 413.

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ren war so selbstverständlich, daß es den Terminus Auftragswerk gar nicht gab. Die „scrittura“, wie man den Auftrag für das Komponieren einer Oper nannte, bedeutete einfach das Schreiben schlechthin; ohne eine solche schrieb man keine Oper. Ganz gleich war es für Mozart und Haydn, um noch weitere große Namen aus der Musikgeschichte zu nennen. Als Mozart 1779 zum Salzburger Hoforganisten bestellt wurde, hieß es im Anstellungsdekret3, daß er alle musikalischen Dienste „mit embsigen Fleis ohnklagbar versehe“ und die Hofhaltung wie die Kirche „nach Möglichkeit mit neüen von Ihme verfertigten Kompositionen bediene“. In Joseph Haydns Anstellungsdekret von 17614 hieß es, daß er im Rahmen seiner Dienstverpflichtungen als Kapellmeister auf Befehl des Fürsten „solche Musicalien zu Componiren“ habe, die von ihm verlangt werden. Haydn wie Mozart blieb es unbenommen, nach einer gewissen Frist die für den Hof geschaffenen Kompositionen weiter zu verwerten, also nun mit den Kompositionen Geld zu lukrieren. Beide (bei Bach war das noch eher die Ausnahme) hatten die Möglichkeit, auch für fremde Auftraggeber gegen Honorar zu komponieren; in Haydns Dienstvertrag war – moderne Dienstrechtbestimmungen vorwegnehmend – festgehalten, daß er solche Nebenbeschäftigungen seinem Dienstgeber melden müsse. Er ließ sich tatsächlich zeitlebens solche von Dritten stammende, also außerhalb seiner Kapellmeisterverpflichtungen liegende und eigens honorierte, Kompositionsaufträge erteilen. Mozart war damit etwas sparsamer. Aber ob es Serenaden für Salzburger bürgerliche oder kleinadelige Familien, „Idomeneo“ für die Münchener Hofoper oder das in seiner Funktion als Compositeur der Pariser Concerts spirituel jährlich nach Paris zu liefernde Werk waren, Mozart hat außerhalb seiner Verpflichtungen in der Hofkapelle ebenfalls für verschiedene Auftraggeber im eigentlichen Sinne des Wortes einzelne Auftragswerke geliefert. Nicht anders war es in Wien, wo er sich 1781 als Klavierlehrer niederließ, immer nur im Hinblick auf einen gegebenen Aufführungsanlaß komponierte, wenn sich dieser zerschlug, die Komposition sofort abbrach und weiterhin von uns eindeutig zu definierende Auftragswerke schuf.

3 Otto Erich Deutsch, Mozart. Die Dokumente seines Lebens, Kassel–Basel–London–New York 1961, S. 163. 4 Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen, unter Benützung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon hrsg. von Dénes Bartha, Budapest etc. 1965, S. 42.

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Ludwig van Beethoven, eigenhändiger Brief an Raphael Georg Kiesewetter, Vizepräsident der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien, 23. Jänner 1824 (Archiv der Gesellschaft der Musik­ freunde in Wien). Beethoven informiert darüber, daß er den übernommenen Kompositions­ auftrag nicht ausführen werde.

Beethoven suchte als erster Unabhängigkeit für seine Komponistenarbeit, ließ sich, als er wegen seines Gehörleidens keine Kompositionskonzerte mehr veranstalten und nicht mehr als Pianist auftreten konnte, den Lebensunterhalt mit einer regelmäßigen Rentenzahlung einiger Adeliger sichern und sah die Zeit des 19

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Komponierens über Auftrag als abgeschlossen, überwunden und nicht mehr aktuell an. Als ihm die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien einen Kompositionsauftrag für ein Werk seiner Wahl erteilte, nahm er diesen und die vereinbarte Anzahlung des Honorars zwar an, entschied sich auch noch für ein Oratorium, schrieb dafür aber keine Note. Die Gesellschaft beschloß schließlich, Auftrag und Honorar zu vergessen, erkannte, daß der Kompositionsauftrag keine gute Idee war, und ernannte, um die Affäre zu applanieren, Beethoven zum Ehrenmitglied. Daß Beethoven in seiner Jugend Auftragswerke ausgeführt hatte, wie jeder andere Komponist auch, war kein Thema mehr. Es ging Beethoven ja nunmehr ganz offensichtlich nur darum, jeden Eindruck eines Komponierens über Auftrag zu vermeiden, das Schaffen über Auftrag als überwunden anzusehen. Die Gesellschaft der Musikfreunde hat Beethovens nicht ausgesprochene, aber de facto erkennbare Weigerung, das bestellte und zum Teil bezahlte Auftragswerk zu schreiben, verstanden.5 Das romantische Künstler-Ideal war nun bereits gültig geworden, das künstlerisches Schaffen als einen dem Künstler immanenten Vorgang ansah, der ohne jeden Zwang und sonstigen Eingriff ablaufen müsse. In keiner anderen Kunst war dies, meinte man, so konsequent möglich, wie in der Musik. Schubert hat zwar am 17. Juni 1816 noch stolz in sein Tagebuch geschrieben: „An diesem Tag componirte ich das erste Mahl für Geld“6, aber in der Folge – abgesehen von Opern – kein Auftragswerk mehr geschrieben, also dieses romantische Schaffens- und Künstler-Ideal noch vehementer vertreten als Beethoven. Er verzichtete auf die Sicherung des Lebensunterhalts, war der erste Komponist, der das Komponieren als seinen Beruf ansah, und vertraute – erfolgreich! – vor allem auf das finanzielle Verwerten seiner Kompositionen in Publikationen, also auf Verlegerhonorare und finanzielle Dankabstattungen von auf der Titelseite der Druckausgabe genannten Widmungsträgern, die dazu freilich im voraus ihre Zustimmung haben geben müssen. Denn noch stärker als Beethoven setzte Schubert auf Widmungskompositionen, die seine Unabhängigkeit beim Schaffen nicht irritierten, ihm aber dennoch vom Widmungsträger eine Art Bezahlung – ein Ehrengeschenk auf freiwilliger, aber durch Konventionen annähernd geregelter Basis – brachten. Wie weit sich hinter solchen Widmungen vielleicht doch zurückliegende Wün-

5 Michael Ladenburger, Beethoven und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Mitteilungen zum Oratorium „Der Sieg des Kreuzes“ oder Das Verdienst der Geduld, in: Festschrift Leopold Kantner zum 70. Geburtstag (= Studien zur Musikwissenschaft 49/2002), S. 253–297. 6 Franz Schubert. Briefe und Schriften, hrsg. von Otto Erich Deutsch, Wien 41954, S. 14.

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sche oder Anregungen verbargen, wie weit mit der Widmung einer hoffnungsfroh formulierten Erwartung des Widmungsträgers entsprochen wurde, wissen wir freilich nicht. Damit ist in der Epoche, die wir die musikalische Klassik nennen, etwas zu einer Hochblüte gelangt, was es seit der Renaissance gegeben hat: Ein Komponist läßt bei der Publikation einer in welcher Form der Veranlassung oder des Auftrags auch immer entstandenen Komposition den Namen eines Widmungsträgers auf das Titel- oder ein eigenes Widmungsblatt setzen und macht diese so zu einer Widmungskomposition. Neu war jetzt nur die Intensität, mit der das gemacht wurde, die Erweiterung des Kreises der möglichen Widmungsträger von ursprünglich fürstlichen auf adelige und bürgerliche Persönlichkeiten sowie ein sich entwickelnder Mechanismus der Widmung und Belohnung, der Kompositionswidmungen zu einer vom Komponisten steuerbaren Verdienstmöglichkeit machte: Er wählte die Widmungsträger aus, die er freilich um die Annahme der Widmung fragen mußte, bevor ihr Name auf dem Titelblatt einer gedruckten Komposition erschien,7 konnte voraussehen, daß sie die Widmung nicht ablehnen würden, und spekulierte so auf voraussehbare Einnahmen, die nicht Salär und nicht Honorar waren, aber der ursprünglichen Form des „honorarium“ entsprachen. Schubert, der tatsächlich ein freischaffender Komponist war, hat genial damit operiert. Beethoven hat nach einem Intermezzo der Unabhängigkeit mit der 1808 angestrebten und umgehend realisierten Rentenzahlung durch mäzenatisch wirkende Adelige – die Fürsten Lobkowitz und Kinsky sowie Erzherzog Rudolph von Österreich - geradezu demonstriert, daß er nicht an die Behauptung des Komponisten auf dem Markt glaubte, hat aber dennoch zeitlebens mit Widmungen Einnahmen gemacht und Widmungswerke produziert, d. h. ohne formellen Auftrag entstandene Kompositionen zu Widmungswerken gemacht. Daß diese drei Mäzene sowohl vor wie nach dem Abschluß des Rentenvertrages besonders reich mit solchen Widmungskompositionen bedacht wurden, Fürst Lobkowitz nach seinem Konkurs aber keine mehr zugedacht bekam, weil von ihm nun keine finanzielle Ehrengabe mehr zu erwarten war, ist interessant zu beobachten. Vom allgemeinen wieder zurück zu Schubert. Natürlich, möchte man sagen, wollte dieser durch die Gesellschaft der Musikfreunde aufgeführt werden. Er hat 7 Otto Biba, Zur Zensur für musikalische Publikationen im Wiener Biedermeier und Vormärz, in: Beruf(ung): Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky (= Mitteilungen der Österreichischen Staatsarchivs 55/2011), Wien 2011, 1. Teil, S. 419–426.

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bei seinem Eintritt in die Gesellschaft auch seine Dienste als Komponist angeboten, aber was in den Gesellschaftskonzerten oder Abendunterhaltungen der Gesellschaft aufgeführt wurde, waren von ihm beigestellte neue oder nicht mehr ganz neue Werke – beigestellte, aber weder über Auftrag komponierte noch gewidmete. 1826 entschloß er sich, der Gesellschaft seine Große C-Dur-Symphonie zu widmen. Diese Absicht hatte sich zuvor schon in den leitenden Organen herumgesprochen, und es stellte sich die Frage, wie man darauf reagieren solle oder wolle. Schubert war nicht irgendjemand, sondern ein namhafter, anerkannter Komponist und überdies als Mitglied des Repräsentantenkörpers in leitender Verantwortlichkeit für die Gesellschaft tätig. Bezahlt man ihm etwas für das gewidmete Werk, so erinnert das an die überwundenen Auftragskompositionen, bei denen der Komponist bei Ablieferung eines Werkes Geld erhielt. Das wollte man seit den Erfahrungen mit Beethoven nicht mehr. Eine finanzielle Diskretion als Ehrengabe, die Privatpersonen für Widmungskompositionen leisteten, war für eine Institution nicht machbar. Ohne jede Erkenntlichkeit die Widmung annehmen, wollte man auch nicht. Die gefundene Lösung war vielsagend: Man unterlief Schuberts Widmung zeitlich um wenige Tage und überraschte ihn mit einer Renumeration von 100 fl CM und bat ihn, diese „nicht als ein Honorar, sondern als einen Beweis anzunehmen, daß sich Ihnen die Gesellschaft verpflichtet finde“, denn „Sie haben der Gesellschaft der Musikfreunde des Oesterreichischen Kaiserstaates wiederholt Beweise der Teilnahme gegeben, und Ihr ausgezeichnetes Talent als Tonsetzer zum Besten derselben und insbesondere des Konservatoriums verwendet“.8 Ziemlich zeitgleich mit der Widmung der Symphonie erhielt also Schubert eine Dankesgabe, ganz allgemein für alles, was er für die Gesellschaft geleistet hat. – Kein Honorar, kein Eindruck eines Auftragswerkes, kein plumper Widmungsmechanismus und dennoch eine Erkenntlichkeit – eine salomonische Lösung. So aufwendig diplomatisch war die Gesellschaft ansonsten nicht. Binnen kurzem hatte sie einen hohen Ruf als Konzertveranstalter. Sie war daher eine höchst attraktive Adresse für Komponisten, die unabhängig, d. h. ganz aus eigenem Antrieb geschaffene Werke von ihr aufgeführt wissen wollten. Sie boten der Gesellschaft der Musikfreunde diese Werke zur Annahme als Widmung an oder stellten sich einfach mit Widmungskompositionen ein. Die Gesellschaft war 8

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Franz Schubert. Briefe und Schriften (Anm. 6), S. 160; vgl. Otto Biba, Franz Schubert und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, in: Schubert-Kongreß Wien 1978. […] Bericht […] hrsg. von Otto Brusatti, Graz 1979, S. 23–36.

Von der Widmungskomposition zur Auftragskomposition

selbstbewußt wählerisch, nahm an oder nahm nicht an und führte keinesfalls immer auf. Carl Maria von Weber, der mit einem Schreiben vom 17. April 1816 seine Kantate „Kampf und Sieg“ von den „trefflichen Musik Legionen Wiens“ aufgeführt wissen wollte und sie deshalb der Gesellschaft zur Aufführung anbot, erfuhr einen ablehnenden Bescheid.9 Die Kantate war ein Gelegenheitswerk zum Abschluß der Befreiungskriege, also schon aus diesem Grund keine Komposition, die Voraussetzungen mitbrachte, einen bleibenden Platz im Repertoire zu finden, zu einem „klassischen“ Werk zu werden. Solche aber wollte die Gesellschaft aufführen und fördern,10 nicht Kurzlebiges. Ferdinand Himmel, um nur noch ein Beispiel zu nennen, erging es ebenso. Antonio Salieri war neben dem Domkapellmeister Joseph Preindl der einzige Berufsmusiker und Berufskomponist, der Gründungsmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde war; noch dazu war er entscheidend an ihrem Aufbau beteiligt. Wohl von keinem anderen Komponisten des 19. Jahrhunderts wurden so viele Werke von der Gesellschaft uraufgeführt wie von ihm. (Nur bei Schubert könnte die Statistik zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, wenn bei ihm nicht Uraufführungen so schwer eindeutig als solche festzustellen wären.) Man kann die uraufgeführten Werke von Salieri – allein 1814 waren dies vier Werke11 – nicht Auftragswerke nennen, weil Salieri ja Mitglied des Leitenden Ausschusses, also in erster Instanz für die Gesellschaft mitverantwortlich war, und kraft dieser Funktion die Verpflichtung wie die Möglichkeit hatte, Werke zur Aufführung beizustellen. Alle uraufgeführten Werke Salieris waren von ihm zur Verfügung gestellt, waren also, wenn man so will, eine Sonderform von Widmungskompositionen, weil sie weder bezahlt noch belohnt wurden. Daß seine für das Konservatorium der Gesellschaft geschriebene und von ihm der Gesell-

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Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Briefe C. M. von Weber 63; Faksimile in: Richard von Perger, Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1. Abteilung: 1812–1870 [und Robert Hirschfeld, 2. Abteilung: 1870–1912], Wien 1912, nach S. 14. 10 Statuten der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates. Wien 1814, in: ZusatzBand zur Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Sammlungen und Statuten, zusammengestellt von Eusebius Mandyczewski, Wien 1912, S. 197: „Wird sie die vorhandenen classischen Werke zur Aufführung bringen, theils, um dadurch den musikalischen Geschmack überhaupt zu erheben und zu veredeln, theils um durch die Anhörung derselben aufkeimende Talente zu begeistern, und zu dem Bestreben zu erwecken, sich auch zu classischen Tonsetzern zu bilden, wozu die Gesellschaft durch Aufmunterung und Belohnungen nach ihren Kräften beytragen wird.“ 11 Rudolph Angermüller, Antonio Salieri, Teil II/1, München 1974, S. 324ff. Vgl. den Artikel von Rudolph Angermüller in vorliegendem Band.

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schaft ausdrücklich versprochene Gesangschule12 von ihr bei der Aufnahme des Gesangsunterrichtes 1817 nicht am Konservatorium eingeführt, sondern Joseph Preindls Gesangschule13 zur Verwendung vorgeschrieben wurde, mag vielleicht mit der unterschiedlichen Ausrichtung der beiden Schulen zusammenhängen: Während Salieris Schule fast eine allgemeine Musiklehre ist, geht Preindl konzis auf das Notenlesen ein, während ein eigentlicher Unterricht in der Gesangstechnik weder da noch dort zu finden ist. Vielleicht war auch mitentscheidend, daß Salieris „Scuola di Canto“ freilich noch hätte publiziert werden müssen, Preindls Gesangschule jedoch schon publiziert vorlag. Daß diese von ihm im Gründungsjahr der Gesellschaft, 1812, veröffentlicht wurde, war vielleicht ein vorausblickender Schachzug Preindls, daß Sie von ihm damals der Gattin des 1817 zum Präsidenten der Gesellschaft gewählten Landgrafen Friedrich Egon von Fürstenberg gewidmet worden war, vielleicht nun ein hilfreicher Zufall. Ob dieses der Gesellschaft ausdrücklich versprochene Opus nun ein Auftrags- oder eine aus der Kenntnis der Notwendigkeit heraus entstandene spezielle Spezies eines Widmungswerkes war, es ist jedenfalls für sie geschrieben worden und unter den Auftrags- wie Widmungskompositionen das einzige Werk, das von der Gesellschaft nicht seiner Bestimmung zugeführt wurde. Das erste Gesellschaftskonzert – heute würden wir sagen: Abonnementkonzert – am 3. Dezember 1815 war für Johann Nepomuk Hummel Anlaß, nach langen Jahren wieder als Solist aufzutreten, mit einem eigens für diesen Anlaß komponierten Konzert-Rondo für Klavier und Orchester: Wenn auch nicht auf der Titelseite der Erstausgabe als solches deklariert,14 war es aber den inneren 12 Am 27. April 1816 schrieb er an Ignaz von Mosel, in der Gesellschaft federführend für den Aufbau des Konservatoriums: „Sul momento ch’io stavo per metter in ordine le promesse Regole onde formar una Scuola fondamentale di Canto ad uso della compagnia die Dilettanti, si sono presentati alla mia mento […]. Vgl. Rudolph Angermüller, Antonio Salieri, Teil III, München 1972, S. 160. 13 Joseph Preindl, Gesang Lehre. Der Durchlauchtig-Hochgebohrnen Frauen Theresia Landgräfinn zu Fürstenberg gebohrnen Fürstinn zu Schwarzenberg gewidmet von Verfasser, Wien, Chemische Druckerei, VN 1830 [1812]. Eine dieser lithographierten Ausgabe folgende Neuauflage in Typendruck (Gesang-Lehre. Der Durchlauchtigsten Hochgebornen Frau Theresia Landgräfinn zu Fürstenberg, gebornen Fürstinn zu Schwarzenberg, ehrfurchtsvoll gewidmet) dürfte mit der Einführung als Unterrichtsbehelf am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Zusammenhang stehen, wofür eine höhere Auflage notwendig wurde, die mit einem lithographischen Druckverfahren nicht hergestellt werden konnte. Beide Exemplare in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. 1231/Sch. 14 Johann Nepomuk Hummel, Rondeau brillant pour Pianoforte avec accompagnement d’orchestre, Repertoire de Musique composé par Jean Nep. Hummel, 1. Année, Cahier 8–9, Wien, Selbstverlag [1815 oder kurz davor]. Exemplar im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. VI 15580 (Q 16258).

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Zusammenhängen nach ein Widmungswerk oder anders gesagt, ein neues Werk, der Gesellschaft für eine – wohl die erste öffentliche – Aufführung zu einem bestimmten Anlaß zur Verfügung gestellt. Es war also wieder ein beigestelltes Werk – allerdings zum Unterschied von Salieris beigestellten, aber unveröffentlicht gebliebenen Werken ein publiziertes, dem diese Aufführung eine Absatzförderung sein sollte oder konnte15 – und somit eine Sonderform von Widmungswerk, die in der musikwissenschaftlichen Terminologie noch keine Bezeichnung gefunden hat. Johann Nepomuk Hummel ist auch noch aus einem zweiten Grund einer der wichtigsten unter jenen Komponisten in der Frühzeit der Gesellschaft, die Uraufführungen eigener Werke durch die Gesellschaft erlebt haben. 1831 stellte er sich ganz aus eigenem mit zwei Werken für das Eröffnungskonzert des neu errichteten Musikvereinsgebäudes in den Tuchlauben ein, das seit der 1870 erfolgten Eröffnung des neuen Musikvereinsgebäudes als das alte Musikvereinsgebäude gilt. An sich waren es nicht neue Werke, sondern der dem Anlaß entsprechend umtextierte Doppelchor mit Orchesterbegleitung „Das Morgenopfer“ und das Te Deum in D-Dur. Man hörte eine Arie aus Rossinis „Cenerentola“ und Variationen für Klavier und Orchester über ein Thema von Rossini von Henri Herz, womit der musikalischen Mode Reverenz erwiesen wurde, und eine Kantate von Franz Lachner, von der gleich noch zu sprechen sein wird; sie sollte wohl einen jungen Komponisten in das Programm bringen, dem man das Zeug zum „Klassisch-Werden“ zutraute, dem man Talent bescheinigt, der viel versprechend ist und mit dem an diesem Abend uraufgeführten Werk einen Höhepunkt in seinem bisherigen Schaffen erreicht hat. Dementsprechend war in einer Kritik16 von einem „talentvollen […] Tonsetzer“ die Rede, „von dem wir uns noch recht viel Rühmliches versprechen“, während es in einer anderen17 hieß: „Schon öfters wurde dieses talentvollen Komponisten rühmlichst erwähnt, aber vielleicht noch nie mit so vielem Rechte als hier.“ Die Musik der Gegenwart, die man bereits als „klassisch“ bezeichnen konnte, stammte von Ignaz von Mosel (eine Ouvertüre) und mit den beiden Werken von Johann Nepomuk Hummel. Mosels Ouvertüre bescheinigte die Kritik „Ge-

15 Die Ausgabe im Selbstverlag war für die Subskribenten bestimmt. Sobald diese beliefert waren, gingen die Verlagsrechte an den Verlag Artaria über, der es unter der Verlagsnummer 2380 Ende September 1815 als eigenes Verlagswerk in den Handel brachte. 16 Der Sammler, 23/1831, Nr. 138, S. 552. 17 Allgemeine Theaterzeitung, 24/1831, Nr. 137, S. 556.

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diegenheit des Satzes und Fülle der Harmonie“18, während ein anderer Bericht19 erklärte, daß sie „zu den gelungensten Werken dieses geschätzten Gelehrten gezählt werden darf, und für den Tag der Eröffnung um so passender war, als am Schlusse derselben auf eine sehr zarte Weise die unsterbliche Volkshymne eingewebt ist.“ Gediegenheit, gelungenst, unsterblich, das sind die Epitheta für ein nicht uraufgeführtes, bereits anerkanntes Werk der Gegenwart. Auch von Hummel wollte man nichts ganz Neues, sondern bereits bewährtes Neues. ­Joseph Sonnleithner hat mit ihm eine Korrespondenz über passend auszuwählende Werke geführt, die leider nicht zur Gänze erhalten ist. Jedenfalls hat man von ihm gar kein neues, uraufzuführendes Werk gewünscht, sondern ihn um die Überlassung eines neuen, hier noch nicht gehörten Werkes gebeten.20 Am 18. Jänner 1831 antwortete Hummel21 auf Sonnleithners Anfrage, er habe „zwei Manuscripte liegen nämlich: das Morgenopfer, welches ich zum 50 jährigen Regierungs Jubilaeum unseres seel[igen] Großherzogs schrieb“, und ein Te Deum. Ein zum Regierungsjubiläum eines Großherzogs geschriebenes Werk, das versprach genau das Bewährte zu sein, das man suchte und das man jetzt für diesen Anlaß umtextieren könne. Sonnleithner zeigte Interesse, stimmte zu, und Hummel schrieb ihm am 16. Februar 1831:22 „Hier überschike ich Ihnen die zwei zur Aufführung bei Eröffnung des neuen Musik Verein-Saales bestimmten Werke, nämlich, das Morgenopfer und das Te Deum in Partitur und Stimmen; […] Von dem Morgenopfer schike ich nur vier Chorstimmen mit, weil sie die andern nicht brauchen können, da Sie einen andern Text anzupassen gedenken.“23 18 Der Sammler, 23/1831, Nr. 138, S. 552. 19 Allgemeine Theaterzeitung, 24/1831, Nr. 137, S. 556. 20 Dementsprechend heißt es in der der Presse übermittelten Ankündigung dieses Eröffnungskonzertes (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Gesellschaftsakten 122 ex 1831): „Der vaterländische Dichter H[err] Franz Grillparzer hat eine Cantate für diese musikalische Feyer gedichtet, und H[err] Kapellmeister Franz Lachner hat sie in Musik gesetzt, H[err] Kapellmeister Johann Nep[omuk] Hummel hat gleichfalls zu dieser Feyer eine hier noch nie gehörte große Cantate mitgetheilt.“ Statt Cantate sollte es freilich Doppelchor heißen. 21 Dieter Zimmerschied, Thematisches Verzeichnis der Werke von Johann Nepomuk Hummel, Hofheim am Taunus 1971, S. 205. 22 Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Briefe J. N. Hummel 5. 23 Die beiden von Hummel übersandten Partituren, von denen allerdings nur eine Verwendung gefunden hat, weil das „Te Deum“ als liturgische Komposition nicht im Konzertsaal erklingen durfte, befinden sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, jene für den Doppelchor „Morgenröte“ mit der Signatur V 4096 (Q 2280) und jene für das „Te Deum“ mit der Signatur I 3177 (Q 174). Letztere besitzt ein von Hummel geschriebenes Titelblatt „Te Deum di me Hummel“. Der unterlegte Text zur „Morgenröte“ liegt nicht vor, da die neu geschriebenen Stimmen gemeinsam mit den von Hummel übersandten offensichtlich an ihn geschickt wurden. Er ist teilweise abgedruckt in: Allgemeine Theaterzeitung, 24/1831, Nr. 137, S. 556.

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Der zweite Komponist, der sein kompositorisches Schaffensvermögen der Gesellschaft für das Eröffnungskonzert in ihrem ersten selbst errichteten Haus zur Verfügung gestellt hat, war also Franz Lachner. Zum Unterschied von Hummel erwartete man sich von ihm ein neues Werk, aber nicht als Auftragswerk, denn es heißt, er habe sich ganz aus eigenem angeboten, den von Franz Grillparzer eigens dafür verfaßten Text zu einer Kantate zu vertonen. Man mag heute enttäuscht sein, daß auf dem Titelblatt der autographen Partitur24 des unveröffentlicht gebliebenen Werkes keine Widmung an die Gesellschaft zu lesen ist, de facto ist ihr aber diese Komposition zu einem ganz besonderen Anlaß zur Verfügung gestellt worden, was wieder eine Sonderform von Widmung darstellt. Davor hat man wegen der Vertonung von Grillparzers für diesen Anlaß geschaffenen Textes erst bei dem Hofkapellmeister Ignaz Umlauf und danach – als dieser abgelehnt hatte – bei dem Hofkapellmeister Joseph Weigl angefragt. Auch er verschloß sich der Idee, über Anfrage – im weiteren Sinn über Auftrag – zu komponieren. Die alte Selbstverständlichkeit des Komponierens über Auftrag war verlorengegangen, und das uns heute vertraute Phänomen des Auftragswerks gab es noch nicht. Zur Vertonung dieser Festkantate kam es erst aus zumindest nach außen hin freiem Antrieb Lachners. Es gab, soweit wir sehen, keine offizielle Anfrage bei ihm und jedenfalls keine Honorarzahlung an ihn. Insgesamt paßte es auch bestens in das Konzept, daß das neue eigens für den Anlaß komponierte Werk von einem jungen, für die Zukunft viel versprechenden Talent stammt. Fassen wir zusammen: Kein förmlicher Kompositionsauftrag, das war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig wichtig geworden, die unabhängige Schaffensfreiheit des Komponisten höchstes Prinzip. Unter dem modernen Terminus „Widmungskomposition“ kann man in dieser Zeit verschiedenes subsumieren: Von Schuberts Formulierung, seine Symphonie „zu widmen und sie seinem Schutz höflichst anzuempfehlen“, bis zu dem Bereitstellen von Kompositionen zu Uraufführungen, wie an den exemplarischen Beispielen Salieris, Hummels und Lachners zu zeigen war. Und ob Graf Franz von Oppersdorff Beethoven, wie es oft in der einschlägigen Literatur über die Vierte und Fünfte Symphonie heißt, wirklich mit der Komposition zweier Symphonien beauftragt habe, muß dahingestellt bleiben, weil sich kein solcher formeller Auftrag nachweisen läßt. Beethoven schwankte, ob er die Vierte oder die Fünfte dem Grafen widmen solle, und hat ihm schließlich die Vierte Symphonie gewidmet, also 24 Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. III 8122. Auf dem Titelblatt heißt es: „Cantate von Grillparzer in Musick gesetzt von Franz Lachner. Wien den 10ten Juli [1]831.“

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wohl auch wieder nur einer ihm bekannten Erwartungshaltung entsprochen, als er den Namen des Grafen auf das Titelblatt der Erstausgabe setzen ließ, um eine finanzielle Ehrengabe zu lukrieren. Das ist das einzige, was sich dazu sagen läßt, wie denn überhaupt vor dem Umgang mit schlampigen und mißverständlichen Formulierungen gewarnt sein muß. Ein Werk für jemanden schreiben, kann sowohl einen Auftrag wie eine beabsichtigte Widmung bzw. ihre Sonderform der Bereitstellung intendieren, was sehr schön an den Beispielen Salieris, Hummels und Lachner im Zusammenhang mit der Gesellschaft der Musikfreunde gezeigt werden kann. Es war notwendig, sich bei diesem Konzert vom 4. November 1831 und seinem Programm länger aufzuhalten, weil sich hier bestens erkennen läßt, wie in der Programmierung zwischen Mode, zukunftsweisendem Neuem und bewährtem Neuem unterschieden, das aber auch miteinander kombiniert wurde. Zu erkennen ist aber auch, daß in dieser Kategorisierung das Auftragswerk von einem namhaften Komponisten, wie wir es heute bei einem solchen Anlaß erwarten würden, keinen Platz hatte. Auch der der Gesellschaft eng verbundene Carl Czerny muß jetzt mit einem signifikanten Beispiel erwähnt sein, das für viele Werke und Komponisten stehen kann. Er widmete seine Symphonie op. 78025 gar nicht der Gesellschaft insgesamt, sondern dem Konservatorium der Gesellschaft, weil er wußte, daß neuartige Werke, von denen nicht abzusehen war, ob sie für den „klassischen“ Repertoire-Kanon, der die Programme der Gesellschaftskonzerte bestimmte, geeignet sein würden, nicht in diesen, sondern in den – jährlich in der Regel vier – vom Konservatoriumsorchester gespielten Konzerten aufgeführt wurden.26 Sie wurden deshalb auch selten offiziell, aber jedenfalls umgangssprachlich Novitätenkonzerte genannt. Vor einem speziell neugierigen, eigens daran interessierten 25 Première Grande Sinfonie […] composée et dediée au Conservatoire de Musique à Vienna par Charles Czerny Oeuvre 780, Wien Selbstverlag (Exemplar im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. XIII 21051). Dementsprechend heißt es in typographisch gleicher Aufmachung auf dem Titelblatt von op. 781: Seconde Grande Sinfonie […] composée et dediée au Conservatoire à Paris par Charles Czerny Oeuvre 781, Wien, Selbstverlag (Exemplar im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. XIII 23769). 26 Sie waren für die Mitglieder der Gesellschaft bestimmt und realisierten das, was im ersten StatutenEntwurf der Gesellschaft den von ihr veranstalteten nicht öffentlichen Konzerten zugedacht war (Zusatzband, Anm. 10, S. 193f.): „Diese Concerte, vorzüglich die nicht öffentlichen, sollen benutzt werden, um die neuesten Compositionen, welche schon öffentlich erschienen sind, hören zu machen, damit die Mitglieder des Vereines immer mit dem Zustande der musikalischen Kunst bekannt bleiben. Auch sollen hier die Componisten Gelegenheit finden, ihre neuen Compositionen vortragen zu hören, um sich von der Wirkung derselben zu überzeugen.“

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Carl Czerny, Première Grande Sinfonie op. 780, Partitur, Erstausgabe. Gewidmet dem Kon­ servatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Archiv der Gesellschaft der Musik­ freunde in Wien)

Publikum sollte von einem – wie wir heute sagen würden – „Jugendorchester“ Neues, manchmal vielleicht sogar Experimentelles aus der Taufe gehoben oder zur Diskussion gestellt werden. Diese Symphonie mit jener c-Moll-Ouvertüre Carl

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Czernys27 zu vergleichen, die am 10. Dezember 1826 in einem Gesellschaftskonzert uraufgeführt wurde, läßt an zwei Werken ein und desselben Komponisten erkennen, wie die programmatische Ausrichtung der Gesellschaftskonzerte und jene der vom Konservatoriumsorchester gespielten Konzerte geplant war. Letztere fanden allerdings schon vor der Jahrhundertmitte ihr Ende, wohl primär, weil die spieltechnischen Ansprüche für ein Konservatoriumsorchester zu hoch geworden waren. Daran scheiterte auch die 1827 geplante und im Probenstadium befindliche Aufführung von Schuberts Großer C-Dur-Symphonie, D 944, durch das Konservatoriumsorchester in einem solchen Novitätenkonzert, die bis heute in der Schubert-Literatur oft falsch dargestellt wird.28 Czernys dem Konservatorium gewidmete Symphonie führt uns schließlich zu allen jenen Kammermusik- und Chorwerken, die nachgewiesenermaßen – entweder durch Widmungen der gedruckten Ausgaben oder durch einschlägige Hinweise im Autograph29 – eigens für das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde geschrieben wurden und im Rahmen der Unterrichtspraxis erstmals erklungen sind. Es sind keine Unterrichtswerke, sondern vollwertige Kompositionen, die nicht als Auftragswerk entstanden sind, sondern mit der Intention gewidmet wurden, in diesem Milieu erstmals und öfters gespielt zu werden: Sie waren neue Musik für angehende oder für junge Künstler und von diesen aus der Taufe gehoben, ohne daß wir das genaue Uraufführungsdatum kennen würden. Wurden sie gedruckt und erschien auf dem Titelblatt eine Widmung an 27 Carl Czerny. Ouverture Nro. 2., Partitur, Manuskript, von Carl Czerny eigenhändig ergänzt, signiert und mit „im August 1826“ datiert im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. XII 7704 (Q 18267). 28 Diese Aufführung folgte also der Idee, dem Komponisten die Möglichkeit zu geben, sein neuestes Werk zu hören (vgl. Anmerkung 17). Zu den Mißverständnissen und Mißdeutungen in der Schubert-Literatur siehe Biba (Anm. 8), im bes. S. 30 f. 29 Zum Beispiel: Franz Anton Pössinger, III Terzetten für 2 Violinen und Viola concertant zum Gebrauche des vaterländischen Conservatoriums componirt und der löbl[ichen] Gesellschaft der Musikfreunde des oesterreichischen Kaiserstaates gewidmet, op. 37, Wien Cappi und Comp. VN 119-121 [vor 1820], Exemplar im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Sign. IX 7451; Adalbert Gyrowetz, Uibungs-Gesänge Für die Jugend des grossen Musick-Vereins. Gewidmet Sr. Excellenz dem H[errn] Grafen P[eter] v[on] Goëß Praeses des Vereins etc. etc. Vom Adalbert Gyrowetz. Partitur, Manuskript mit eh. Titel und Korrekturen, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. V8627; derselbe: „Gottes Macht und Vorsehung“, „Zum Gebrauch der Sing-Jugend des großen Musick-Vereins in Wien“, Partitur, Autograph, signiert und datiert 1828, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. V 8628; derselbe: „Der teutsche Knab“, „Zum Gebrauch der Gesang-Schüller des großen Musick-Vereins in Wien“, Partitur, Autograph, signiert und datiert 1840, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. V 19676; derselbe: „Alpen-Gesang für 2 Discant, und 2 Alt-Stimmen. Zum Gebrauch der Sing-Jugend des großen Musick Vereins in Wien“, Partitur, Manuskript, mit eh. Titel, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sign. V 18559 (Q 2260).

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Von der Widmungskomposition zur Auftragskomposition

das Konservatorium, so war diese – wie eigentlich jede Widmung, wenn auch auf unterschiedlichen Arten – eine Empfehlung. Der Gesellschaft der Musikfreunde ein Werk zu einem Anlaß zur Verfügung zu stellen und es ihr zu widmen, konnte auch noch aus anderen Gründen im Interesse des Komponisten liegen: Er konnte sich gedrängt fühlen, der Gesellschaft Dank und Anerkennung zu zollen, er konnte sich damit im Glanz eines besonderen, von der Gesellschaft initiierten Ereignisses sonnen oder er konnte das Werk als eine „captatio benevolentiae“ einbringen. Wie Hummel und Lachner 1831 am Großereignis der Eröffnung des ersten als solchen erbauten Konzertsaals in Wien mitpartizipierten, taten dies die Brüder Strauß mit den Tanzkompositionen, die sie – aus eigenem und nicht im Auftrag – für den Eröffnungsball des neuen Musikvereinsgebäudes am 15. Jänner 1870 beistellten und auf dem Titelblatt der Erstausgaben mit einer Widmung an die Gesellschaft der Musikfreunde versahen: Johann Strauß Sohn komponierte und widmete den Walzer op. 340, „Freut Euch des Lebens“, Joseph Strauß die Polka française op. 274, „Künstlergruß“, und Eduard Strauß die Polka mazur op. 55, „Eisblume“. Damit das Wohlwollen der Gesellschaft zu erringen war aktuell und wichtig, weil man den neuen Konzertsaal für Konzerte der Strauß-Kapelle mieten und mit ihr für die Tanzmusik bei Bällen der Gesellschaft engagiert werden wollte. Daß man von sich aus die Gesellschaft, die den Tanzkapellmeister mit seinem Orchester für einen ihrer Bälle engagiert hatte, mit einer dort uraufgeführten neuen Komposition ehrte (sich damit gleichzeitig bedankte und auf das nächste Engagement hoffte), hatte schon eine länger zurückliegende Tradition. Johann Strauß Vater brachte bei den Bällen der Gesellschaft der Musikfreunde in den Jahren 1836 bis 1846 seine Opera 84, 120, 128, 140, 148, 162, 169 und 187 zur Uraufführung, ohne daß dies regelmäßig zu einer Widmung geführt hätte, Joseph Lanner beim ersten Ball der Gesellschaft, für den er 1837 engagiert worden war, sein Opus 115, beim zweiten nichts mehr, wohl weil er wußte, daß man wieder zu Johann Strauß Vater und seiner Kapelle zurückkehren würde. Schlicht Dank (verbunden mit hoffnungsvollen Auspizien für eine gute Zukunft) war es, wenn sich Eduard Strauß beim Festball zum 25jährigen Bestand des Musikvereinsgebäudes mit seinem neuen eigens dafür komponierten Walzer op. 295, „Die Jubilanten“, einstellte. Alle diese bei der Gesellschaft der Musikfreunde uraufgeführten Tanzkompositionen haben eines gemeinsam: Sie waren keine Auftragswerke, nur zu einem Teil als Widmungswerke definiert und dennoch für die Uraufführung bei

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der Gesellschaft der Musikfreunde geschrieben.30 Sie dokumentieren also ganz deutlich die Emanzipation des Komponisten, der selbst entscheidet, wo etwas von ihm uraufgeführt wird und damit den Veranstalter überrascht, auszeichnet oder wohlwollend stimmt. Im historischen Rückblick erinnern sie aber auch an die alte und damals nur mehr in der Tanzmusik fortlebende Tradition, daß derjenige, der einen Kapellmeister engagiert, damit rechnen kann, daß dieser auch komponiert, also eigene Kompositionen einbringt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgten die Gesellschaftskonzerte, also die Abonnementkonzerte der Gesellschaft der Musikfreunde, und die von den Wiener Philharmonikern veranstalteten Abonnementkonzerte grundverschiedene Ziele. Die Wiener Philharmoniker veranstalteten sogenannte Novitätenproben, zu denen Komponisten ihre neuen Werke einreichen konnten; sie wurden vom Orchester durchgespielt und danach wurde abgestimmt, ob sie zur öffentlichen Aufführung angenommen würden oder nicht. Daher ist die Zahl der Uraufführungen durch die Wiener Philharmoniker eine wesentlich höhere. Die Gesellschaft verfolgte ein anderes, auf lange Sicht vielleicht sogar wichtigeres Ziel. Ihr ging es auch bei neuer Musik um die Pflege eines anerkannten oder langfristig Anerkennung verdienenden Repertoires, also um die Etablierung solcher neuen Werke, die bleibenden Repertoirewert erlangen könnten. In ihren Konzerten finden wir nicht so viele Ur-, aber zahlreiche Zweit- und Drittaufführungen sowie Wiener Erstaufführungen. Die Selektion war hier eine strengere und von Weitsicht geprägt. Die Verantwortung, die man für neue Musik und damit für die Förderung und Unterstützung von Komponisten verspürte, manifestierte sich auch in neuen Ideen: 1861 wurde von der Gesellschaft erstmals ein Kompositionswettbewerb veranstaltet, dem bis in die Gegenwart viele nachfolgten: So erhielt man – weit weg von den damals aus ideologischen Gründen abgelehnten Auftragswerken – neue Kompositionen zur Uraufführung und die Komponisten eine Bezahlung in Form von Preisen.31 Drei Jahre später, 1864, wurde erstmals in Europa eine Art von Tantiemenzahlungen eingeführt, für die es damals keinerlei rechtliche Voraussetzung gab. Die Gesellschaft zahlte für die erstmalige Aufführung ei-

30 Zu den uraufgeführten und den aufgeführten Werken der Strauß-Dynastie vgl. Max Schönherr – Karl Reinöhl, Johann Strauß Vater. Ein Werkverzeichnis, Wien 1954, sowie Otto Biba, Uraufführungen im Musikverein, in: Goldene Klänge. Künstler im Musikverein, hrsg. von Eva Angyan, Otto Biba, Man­ fred Wagner, Wien 1995, S. 33–55. 31 Richard von Perger (Anm. 9), S. 101f. Näheres hiezu im Artikel von Hartmut Krones, hier S. 37–40.

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nes Werkes in den Gesellschaftskonzerten aus eigenem Antrieb je nach Umfang der Komposition einen Ehrensold zwischen einem und acht Golddukaten. 1873 wurde diese freiwillige Zahlung reorganisiert: Für eine erste Aufführung in den Gesellschaftskonzerten erhielt der Komponist je nach Umfang des Werkes zwischen zwei und acht Golddukaten, für jede Wiederholung zwischen einem und vier Golddukaten.32 Höchst bemerkenswert ist an dieser Frühform von Tantiemenzahlungen, daß der Begriff Uraufführung nicht vorkommt; es ging lediglich darum, ob ein Werk zum ersten Mal in den Konzerten der Gesellschaft aufgeführt oder innerhalb dieser wiederholt wurde. Deutlicher kann man nicht zeigen, daß es um die Einführung eines neuen Werkes in einen Repertoire-Kanon ging, eines Werkes freilich, von dem man sich dort eine Etablierung erwarten konnte. Im 20. Jahrhundert vollzog sich langsam jener Wandel im Selbstverständnis der Komponisten, von dem eingangs die Rede war. Zum 125jährigen Bestand der Gesellschaft hatte sich Franz Schmidt noch mit einem aus eigenem Antrieb geschaffenen Widmungswerk, dem Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“, eingestellt. Zum 150jährigen Bestand der Gesellschaft im Jahr 1962 ahnte man, daß die Zeit für solche Widmungskompositionen vorbei sei; man fragte bei Dmitrij Schostakowitsch an, ob man ihm einen Kompositionsauftrag erteilen dürfe. Er lehnte ab bzw. sah sich gezwungen, einen Kompositionsauftrag aus dem Ausland abzulehnen. Ein Kompositionsauftrag für ein Orchesterwerk wurde danach nicht erteilt. Alfred Uhl erhielt den für ein Kammermusikwerk vorgesehenen Kompositionsauftrag und schrieb sein „Jubiläumsquartett“.33 Zum hundertjährigen Bestand des Musikvereinsgebäudes 1970 zeigte sich noch ein letztes Mal die Spannung zwischen Auftrags- und Widmungswerk. Frank Martin lehnte die Übernahme eines Kompositionsauftrags ab, widmete der Gesellschaft zu diesem Anlaß aber aus eigenem sein neues, 1968/1969 komponiertes Klavierkonzert. Anton Heiller stellte sich mit einer strengen Zwölftonkomposition als Widmungswerk ein: Die hundert Noten umfassende Reihe ist mit einem hundert Buchstaben umfassenden Text unterlegt: „Herzlichste Glückwünsche zum

32 Robert Hirschfeld, Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 2. Abteilung: 1870– 1912, Wien 1912, S. 132. 33 Näheres hiezu im Artikel von Hartmut Krones, hier S. 43.

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hundertsten Geburtstag des Musikvereinsgebäudes, hochachtungsvollst Anton Heiller“.34 Die Zeit solcher Kompositionsgeschenke ist heute vorbei, ob für immer, bleibe dahingestellt. Kein namhafter Komponist überrascht heute mehr einen Veranstalter mit einem Kompositionsgeschenk, also mit einer Widmungskomposition. Das Komponieren über Auftrag, das kompositorische Schaffen gegen Vorbezahlung ist zur Selbstverständlichkeit geworden; dementsprechend groß ist die Zahl der seit Mitte der siebziger Jahre – beginnend bei Gottfried von Einems „Wiener Symphonie“ – und insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten von der Gesellschaft erteilten Kompositionsaufträge. Wenn das solcherart bestellte und bezahlte Werk eine Widmung auf dem Titelblatt trägt, ist das der Dank für den Auftrag und daher etwas ganz anderes als die verschiedenen Spielarten von jenen Widmungswerken, die von Salieri oder Schubert bis zu Franz Schmidt, Frank Martin oder Anton Heiller übergeben wurden. Wenn das Werk keine Widmung an die Gesellschaft der Musikfreunde trägt, was bei der Mehrzahl dieser Kompositionen der Fall ist, so war es dennoch ein Auftragswerk, was in der Regel als Faktum bei der Publikation vermerkt wird. Wozu sich also Beethoven einst nicht überwinden konnte, nämlich einen bezahlten Kompositionsauftrag der Gesellschaft auszuführen, das hat heute auf Komponisten eine große Anziehungskraft. Andererseits sind Widmungswerke rar geworden. Wenn wir unter verschiedenen Gesichtspunkten die zweihundertjährige Geschichte der Gesellschaft der Musikfreunde überblicken, so erkennen wir viel Allgemeingültiges für die Geschichte der Musik: Wir können vom pars pro toto schließen und am konkreten Beispiel Allgemeingültiges erkennen. Etwas davon, den Wandel des Selbstverständnisses der Komponisten, den Wandel vom Auftrags- zum Widmungs- und wieder zurück zum Auftragswerk sowie den Wandel vom Interesse am Etablieren von Neuem zum Interesse am Präsentieren von Neuem war hier an ausgewählten und exemplarischen Beispielen aufzuzeigen.

34 Das Autograph von Heillers und das autographe Widmungsblatt von Frank Martins Komposition sind auf den Spiegeln bzw. Vorsatz- und Nachsatzblättern folgenden Buches faksimiliert: Der Wiener Musikverein. Photographiert von Erich Lessing. Herausgegeben von Franz Endler, Wien 1987.

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Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt Musik­geschichte

Hartmut Krones (Wien) Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt Musik­ geschichte. Kompositionsaufträge und -wettbewerbe als ­Brennpunkte des Neuen Im Jahre 1912 feierte die Gesellschaft der Musikfreunde ihr 100-Jahr-Fest, und das wichtigste Anliegen hiefür war zunächst die Renovierung und der Umbau des Hauses, in dem man durch den Auszug des vor kurzem zur staatlichen Akademie für Musik und darstellende Kunst gewordenen Konservatoriums Platz gewonnen hatte und das auch für neue Anforderungen anderweitig umgerüstet werden mußte. Um das Fest dann neben Festkonzerten mit älterer Musik auch innovativ zu begehen, schrieb man einen Kompositionswettbewerb aus, über dessen Hergang wir aus der frühen Geschichte der Gesellschaft zitieren: „Noch war der Umbau der Prunkstätte für kommende Taten – ihm wurde eine halbe Million Kronen geopfert – nicht vollendet, da gab sich die Gesellschaft der Musikfreunde im Vorgefühl der Jubeltage auch mit Intensität ihrer inneren Mission hin und setzte den ansehnlichen Preis von 10.000 Kronen für ein großes Chorwerk mit Orchester aus. Am 22. Mai 1910 wurde die Ausschreibung des Preises, der für Tonsetzer aller Länder erreichbar sein sollte, zum Beschluß erhoben. Das Preisgericht wurde aus sieben Mitgliedern zusammengesetzt, von denen fünf dem Inlande und zwei dem Auslande angehören. Der Berufung in die Jury folgten: Karl Goldmark (Wien), Dr. Robert Hirschfeld (Wien), Geheimrat Dr. Hermann Kretschmar (Berlin), Dr. Daniel de Lange, Direktor des Konservatoriums in Amsterdam, Ferdinand Löwe, Konzertdirektor in Wien, Gustav Mahler (Wien) und Franz Schalk, k. k. Hofopernkapellmeister in Wien. Nach dem Ableben Gustav Mahlers und als Karl Goldmark noch vor dem Einlangen der Bewerbungen das Preisrichteramt wegen Arbeitsüberhäufung wieder in die Hände der Direktion zurückgelegt hatte, wurde das Kollegium durch Eugen d’Albert und Dr. Julius Korngold ergänzt. Die Gesellschaftsdirektion hoffte durch die Preisausschreibung den Tonsetzern unserer Tage einen kräftigen Impuls zur Wiederbelebung der Oratorienmusik zu geben. Die Bestrebungen für die Durchbildung und Hebung dieser Kunst, denen die Gesellschaft der Musikfreunde durch ein Jahrhundert ihre Kräfte widmete, verdichteten sich in dem Preisausschreiben zu einem symbolischen Akt. In der mächtigen Anregung zu bedeutendem Schaffen wird die Wirksamkeit der Gesellschaft offenbar.“1

Im nächsten Band der Gesellschaftsgeschichte lesen wir dann (siehe auch Abbildung 1):

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Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. [vorgebunden: 1. Abteilung: 1812–1870[,] verfasst von Richard von Perger] 2. Abteilung: 1870–1912[,] verfasst von Dr. Robert Hirschfeld, Wien 1912, S. 270f. Sperrungen sind hier, wie auch im folgenden, durch Unterstreichung wiedergegeben.

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Abbildung 1: Uraufführung von Karl Prohaskas „Frühlingsfeier“ am 29. Oktober 1913. Abendprogramm, Ausschnitte (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 36

Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt Musik­geschichte

„Die Verleihung und feierliche Überreichung des Kompositionspreises der Gesellschaft fand in der Sitzung vom 20. Dezember 1912 statt. Sieger im Wettbewerb war der Wiener Komponist und Konservatoriumsprofessor Karl Prohaska mit seinem Chor- und Orchesterwerk ,Frühlingsfeier‘, das am 29. Oktober 1913 im ersten ordentlichen Gesellschaftskonzert zur erfolgreichen Uraufführung kam. Mittlerweile war der Preis für 1914 in der Höhe von 2000 Kronen neuerdings ausgeschrieben worden; als Juroren wurden Robert Fuchs, Hermann Graedener, Richard Heuberger, Dr. Robert Hirschfeld, Eduard Kremser, Dr. Eusebius Mandyczewski und Franz Schalk eingeladen.“2

Der Krieg ließ diese Pläne allerdings zunichte werden. Statt dessen führte man am 6. März 1918 noch einmal Prohaskas „Frühlingsfeier“ auf. Der Wettbewerb von 1912 war nicht der erste und auch nicht der letzte seiner Art gewesen. Über den ersten Wettbewerb, der 1861 stattfand, lassen wir zunächst ebenfalls die Chronik berichten – wie auch zur bald darauf eingeführten Zuerkennung von „Ehrensolden“ an Komponisten von „Novitäten“: „Im Zusammenhang mit dem Konzertleben steht auch ein öffentlicher Konkurs, an dem sich sowohl einheimische als auch auswärtige Komponisten beteiligen konnten und der die Zuerkennung des Preises für eine neue Symphonie zum Zweck haben sollte. Die Ausschreibung erfolgte am 1. April 1861 und bestimmte den 1. August als Endtermin für die Einreichung der Partituren. Ein Preis in Geld oder Geldeswert wurde dabei allerdings nicht in Aussicht gestellt, wohl aber verpflichtete sich die Gesellschaft, die beiden besten Symphonien zu Anfang des Jubiläumsjahres 1862, und zwar in einem besonderen Novitätenkonzert öffentlich aufzuführen. Für das Preisrichteramt waren vorzügliche Tonsetzer und Fachmänner gewonnen worden. A.[ugust] W.[ilhelm] Ambros, Ferdinand Hiller, Franz Liszt, Karl Reinecke und Robert Volkmann bildeten die Jury. An Stelle Liszts, der später verhindert war, sein Wort einzulösen, trat Franz Lachner. Anfangs September 1861 konnte man feststellen, daß 29 Manuskripte eingelaufen waren und daß die Preisrichter ihre Tätigkeit beginnen konnten. Die Entscheidung zog sich in die Länge. Erst am 3. April 1862 referierte Ambros in dem Sinne, daß die Symphonien Nr. 31 und 6 als die besten von der Jury zur Aufführung bestimmt und vier andere dem Orchesterverein empfohlen worden seien. Als Komponisten der beiden ausgewählten Symphonien meldeten sich Joachim Raff und Albert Becker.3

Hier muß der Chronist allerdings berichtigt und ergänzt werden. Am 3. April 1862 referierte Wilhelm Ambros nicht „in dem Sinne“, daß die genannten „Preissymfonien“ (wie sie im Protokoll geschrieben erscheinen) „als die besten von der 2 Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1912–1937 (Fortsetzung der Festschrift zur Jahrhundertfeier vom Jahre 1912). Im Auftrage der Direktion der Gesellschaft verfasst von Carl Lafite. Die Sammlungen der Gesellschaft verfasst von Dr. Hedwig Kraus, Wien 1937, S. 14. Dirigent der „Frühlingsfeier“ war Franz Schalk. 3 Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1. Abteilung: 1812–1870[,] verfasst von Richard von Perger, Wien 1912, S. 101f.

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Jury zur Aufführung bestimmt und vier andere dem Orchesterverein empfohlen worden seien“, sondern er „berichtet über seine [!] Beurtheilung. […] Er sezt 1.mo loco Nr 31[,] 2.d Nr 6, 3.t Nr. 12, als Akzept: Nr 28“. Und erst Monate danach, am 26. Juni 1862, wurde beschlossen, „Gen. Director Lachner in München zu ersuchen, an Stelle Liszts das Preisrichter=Amt zu übernehmen; Eventuell Vinzenz Lachner in Mannheim.“ In der Direktions-Sitzung vom 13. November 1862 wurden dann die „Ergeb­ niße der Beurtheilung der Preissinfonien“ mitgeteilt: Die Nr. 31 war von Ambros und Hiller „1.mo loco“ gesetzt, je einmal waren die Nummern 14 (Reinecke), 18 (Lachner) und 28 (Volkmann) genannt. „2.d. loco“ standen je zweimal die Nummern 31 (Reinecke, Lachner) sowie 6 (Ambros, Volkmann) und einmal die Nr. 17 (Hiller), die zudem zweimal „3.t loco“ (Volkmann, Lachner) plaziert war. An diesem Tag wurde aber noch kein endgültiger Beschluß gefaßt, der dann erst am 22. November erfolgte. Offensichtlich hatten die Mitglieder der Direktion in der Zwischenzeit entweder Gespräche mit den (jetzt so genannten) „Kunstrichtern“ geführt oder selber Einblick in die Partituren genommen, jedenfalls folgten sie dem Urteil der Jury nur zum Teil: Zwar befanden alle 11 Anwesenden die Nr. 31 als bestes Werk, den zweiten Platz vergaben aber nur 8 von ihnen: fünf der Nr. 17, zwei der Nr. 18 und einer der Nr. 6. Der Beschluß lautete danach folgendermaßen: „Nur 31 als Preissimfonie [!] zu erkennen. In Bezug auf die anderen Numern Umfrage bei den Preisrichtern mittels Circulares. Sie aufmerksam zu machen, daß 4 – zu nennen.“4

Über das Ergebnis dieser Umfrage ist in den erhaltenen Protokollen nichts zu lesen. Ob sich auch die Preisrichter für die Nr. 17 als „Nr. 2“ entschieden oder ob das Votum der Direktionsmitglieder ausschlaggebend war, kann daher nicht eruiert werden. Jedenfalls wurden dann am Sonntag, dem 22. Februar 1863, die Symphonien Nr. 17 und Nr. 31 (laut dem Protokoll vom 27. Dezember 1862 groß angekündigt und sogar „in den musik. Blättern [inserirt]“) als preisgekrönte Novitäten zur Uraufführung gebracht (Abbildung 2). Und laut Beschluß vom 14. Februar 1863 waren „bei diesem Konzerte die Namenszettel der 2 Kompositeure durch ein Komite von 2 Direkt. Mitgliedern zu eröffnen“ – als Autor der Symphonie Nr. 31, „An das Vaterland !“, entpuppte sich Joachim Raff, als Autor der Symphonie Nr. 17 „in G-moll“ mit dem Motto „Trotz allem Freundeswort 4 Zit. nach den Protokollen der „Direction der Gesellschaft der Musikfreunde des österr. Kaiserstaates“ (Archiv der Gesellschaft).

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Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt Musik­geschichte

Abbildung 2: „Aufführung der Preis-Symphonien am 22. Februar 1863“. Programmzettel ­(Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 39

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und Mitgefühlsgeberden, | Bleibt wahrer Schmerz ein Eremit auf Erden.“ Albert Becker. Die „Morgen=Post“ berichtete darüber gleich am nächsten Tag: „Bekanntlich hatte die Gesellschaft der Musikfreunde im Jahre 1861 eine Preisbewerbung für einige würdige symphonische Werke ausgeschrieben. Die fünf Preisrichter […] konnten sich für die Preiswürdigkeit von nur zweien entscheiden, und auch diese Majorität erscheint, wenn man die Geschichte der Stimmabgabe liest, namentlich für Nr. 17 mehr als künstlich. Gestern nun kamen die zwei Tonwerke […] zur Aufführung, und zwar zuerst die Symphonie Nr. 17. Leider ist dieser musikalischen preisgekrönten Dichtung nicht viel Gutes nachzusagen. Gedankenlos und styllos in der Konzeption, vermag das Werk kein bedeutendes Moment aufzuweisen. Die Eröffnung des Zettels unmittelbar nach der Aufführung ergab den vorläufig in der musikalischen Welt ganz unbekannten Namen Albert Becker (Berlin). Die zweite Symphonie (Nr. 31) dagegen muß als ein Werk von Bedeutung anerkannt werden. Ist auch diese Symphonie (Programmmusik) nicht frei von Reminiszenzen aus Beethoven und Schumann, ist sie nicht überall der Ausfluß ureigenster Gedanken, so läßt sich doch ein strenger, einheitlicher Styl nicht vermissen. Der Komponist dieser sehr beachtenswerthen Arbeit ist Joachim Raff. Auf eine Einladung der Gesellschaft nach Wien gekommen, wurde er stürmisch gerufen.“5

Noch einmal sei die Chronik des Hauses zitiert, die dann auch ein weiteres Kapitel aus der Geschichte der Gesellschaft aufschlägt: „[…] das nicht sehr zahlreich erschienene Publikum, das ganz Besonderes erwartet hatte, fühlte sich durch die Bekanntschaft mit den zwar tüchtigen, aber ziemlich konventionellen symphonischen Produkten enttäuscht. Da das Resultat der Preisausschreibung bald von der in= und ausländischen Musikwelt zur Kenntnis genommen und besprochen wurde, bekam der Name der Gesellschaft einen erhöhten Klang. Auch eine 1864 erfolgte Entschließung, solchen Komponisten, deren Werke zum erstenmal in einem Gesellschaftskonzert aufgeführt wurden, Ehrensolde zu widmen, fand innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen Anerkennung. Dieser Bestimmung gemäß erhielt der Autor einer Novität, die sich in der Form eines einzigen Satzes bewegte, einen Dukaten; bestand das Werk aus mehreren Sätzen, dann entfielen darauf Dukaten in entsprechender Zahl, doch durften höchstens deren acht als Ehrensold gegeben werden.“6

Die kurze Frist für die Einreichung einer Symphonie führte also, wenn die Komponisten nicht bereits ein bislang unaufgeführtes Werk dieser Gattung geschaffen hatten, auch dazu, daß die handwerkliche Schnelligkeit zum Kriterium wurde. – Novitäten ab Herbst 1864 waren dann Werke von Franz Lachner und Johann Herbeck (Suite Nr. 2 e-Moll bzw. „Weihnachtslied“, beide am 27. November 1864), Heinrich Esser („Sängers Fluch“ am 26. März 1865), Bernhard Molique 5 Morgen=Post 13 (1863), Nr. 53, 23. Februar, S. 3. Vgl. auch die ähnliche, im Falle Beckers noch kritischere Rezension in der „Wiener Zeitung“ vom 24. Februar 1863 (No. 44), S. 14f. 6 Geschichte […]. 1. Abteilung (Anm. 3), S. 102. Vgl. hiezu auch den Beitrag von Otto Biba, hier S. 32f.

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(Violinkonzert a-Moll am 12. November 1865), Julius Maier („Nachtlied“ am 3. Dezember 1865), Anselm Hüttenbrenner (Ouverture c-Moll am 17. Dezember 1865) und Franz Lachner (Suite Nr. 4 Es-Dur am 25. Februar 1866). – Und diese „bisher nur für Erstaufführungen gewidmet[en]“ Ehrensolde wurden dann 1872/73 auf „folgende Aufführung[en]“ bestimmt, um „der Deutschen Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten [entgegenzukommen]“: „8 k. k. Golddukaten, 4 oder 2 für Erstaufführungen, 4 k. k. Golddukaten, 2 oder 1 für jede folgende Aufführung. Ausgenommen sind Lieder und Instrumentalsoli ohne Begleitung.“7 Einem Wettbewerb ähnlich wurde ab dem Schuljahr 1874/75 die Vergabe des „Zusner-Preises“ gehandhabt: „Der am 12. Juni 1874 in Graz verstorbene Dichter Vinzenz Zusner hat dem Konservatorium ein Kapital von 6200 Gulden mit der Bestimmung hinterlassen, daß jährlich zwei Preise von 20 und 10 Dukaten für die beste Vertonung zweier Lieder aus seinen Poesien verliehen […] werden.“8

Diese Preise erhielten dann u. a. Rudolf Krzyzanowski (1877/78), Robert Fischhof (1879/80), Alexander Zemlinsky (1890/91 sowie 1891/92 [II. Preis]) Franz Schrecker (sic !, II. Preis 1899/1900), Carl Weigl (1900/01), Ferdinand Rebay (II. Preis 1903/04) und Laura Knapek (1904/05). Nach der Verstaatlichung des Konservatoriums zur „Akademie“ wurden die Preise gemäß der Quellenlage zumindest noch bis 1918/19 vergeben, u. a. an Bernhard Buchbinder (1908/09), Franz Hasenöhrl (II. Preis 1908/09), Alois Dité (1910/11), Egon Kornauth (1911/12 sowie 1913/14 [I. und II. Preis]), Franz Hallasch (1914/15), Wilhelm Grosz (II. Preis 1914/15), Ludwig Czaczkes (1915/16), Felix Petyrek (1918/19) und Elisa­beth Rózsa (II. Preis 1918/19). Ebenfalls kein offizieller Wettbewerb war die am 7. Oktober 1875 für neue Kompositionen ins Leben gerufene „Beethoven=Stipendiumstiftung“; ihre vom „Komitee, das im Jahre 1870 das Beethovenfest veranstaltet hatte“ festgesetzte „Widmung“ lautete, „daß ein Stipendium errichtet werde für die beste Komposition von Tonsetzern (ohne Unterschied der Nationalität und Konfession), die mindestens die zwei letzten Jahrgänge des Kompositionskurses am Konservatorium gehört und in den dem Verleihungsjahre vorausgegangenen letzten sechs Jahren absolviert haben.“9

7 8 9

Geschichte […]. 2. Abteilung (Anm. 1), S. 131f. Vgl. den Beitrag von Otto Biba, hier S. 32f. Geschichte […]. 2. Abteilung (Anm. 1), S. 136f. Ebenda, S. 166.

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Das bald in „Beethoven=Kompositionsstiftung“ umbenannte Beginnen führte erst Dezember 1879 zu einer ersten Preisverleihung, und zwar an Hugo Reinhold (für dessen dann am 6. Jänner 1882 uraufgeführtes „Intermezzo scherzoso“), nachdem man 1878 noch die Ouverture zu „Die Argonauten“ aus der Feder von Gustav Mahler für nicht preiswürdig befunden hatte. 1882 erhielt dann Robert Fuchs den nächsten Preis (für sein Klavierkonzert b-Moll), und wieder war Gustav Mahler unter den „Verlierern“ (mit der Kantate „Das Klagende Lied“). Ab 1888 „konnten österreichische Komponisten, auch wenn sie nicht Schüler des Konservatoriums gewesen waren, des Preises teilhaft werden, kamen aber erst nach solchen in Betracht“. 1891 wurden dann „internationale Bewerbung[en]“ zugelassen, und am 26. November 1896 wurde über Antrag von Johannes Brahms beschlossen, den Preis in „Kompositionspreis der Gesellschaft der Musikfreunde“ umzuwandeln, den hier zu betrachten allerdings zu weit führen würde.10 Wir machen nun einen Sprung in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg; denn sowohl für die Jahre des Ersten oder Zweiten Weltkrieges als auch für die Zwischenkriegszeit ist in Bezug auf unser Thema nur wenig zu berichten. Den ersten Kompositions-Wettbewerb veranstaltete die Gesellschaft der Musikfreunde dann (gemeinsam mit Wettbewerben für Klavier, Violine, Violoncello und Gesang) in der Zeit vom 9. bis 14. Juni 1947, der Jury gehörten unter dem Vorsitz von Joseph Marx die Komponisten Hans Erich Apostel, Viktor Keldorfer, Egon Kornauth, Alois Melichar, Franz Salmhofer sowie der Dirigent Josef Krips an. Preisträger wurde der Priester Raimund Weißensteiner, dessen (bereits am 23. April 1946 im Rahmen eines „Kompositionsabends“ Weißensteiner im Großen Saal uraufgeführte) 5. Symphonie dann am 7. April 1948 im Rahmen eines Konzertes „Österreichische Meister“ erklang, das ebenfalls nur Werke Weißensteiners aufwies; der Komponist übernahm auf eigenen Wunsch selbst die Leitung, für die ursprünglich „Josef Krips vorgesehen war“.11 In der Folge erklangen im Großen Saal der Gesellschaft bis 1955 jährlich und dann noch einmal 1962 Werke Weißensteiners,12 zum Teil in der ab 1951/52 erstmals eingerichteten Konzert­

10 Ebenda, S. 167f. 1897 etwa erhielt Alexander Zemlinsky diesen Preis für seine 3. Symphonie B-Dur. Siehe Antony Beaumonts Artikel über Alexander Zemlinsky in vorliegendem Band, hier S. 140–143. 11 Leopold Wech, Raimund Weißensteiner. Leben. Bekenntnis. Musik, Wien 1975, S. 49. In diesem Konzert wurden noch Weißensteiners Hymne „O nun Liebe du …“ realisiert (Solistin: Hilde Konetzni) sowie seine „Variationen über einen gregorianischen Choral“ zur Uraufführung gebracht. 12 Uraufführungen in Gesellschaftskonzerten waren noch das Klavierkonzert am 14. April 1950, der 4. Gesang aus „Das Hohe Lied“ am 26. April 1951, die Suite für Streichorchester am 7. Mai 1953 sowie

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reihe „Österreichisches Musikschaffen der Gegenwart“, die zunächst die Wiener Symphoniker (und ab 1957/58 dann die Niederösterreichischen Tonkünstler) bestritten, für die aber nie Aufträge vergeben wurden. Die Saison 1961/62 stand dann gemäß einem Brief des Generalsekretärs der Gesellschaft, Rudolf Gamsjäger, an Alfred Uhl vom 15. März 1961 „unter dem Titel ,Jubiläumskonzerte der Gesellschaft der Musikfreunde zur Feier ihres 150-jährigen Bestehens‘“, und man wollte u. a. „zu Joseph Marx’ Streichquartett in modo classico und Franz Schmidts A-Dur Quartett [!] eine Uraufführung u.zw. eines Quartettes oder Quintettes von Ihnen bringen“. Die Begründung war: „„Sie sind nun einmal unser Hauskomponist13 und deswegen wenden wir uns mit der Bitte an Sie, uns ein Kammermusikwerk für unser Jubiläumsjahr zu schreiben.“14 Ergebnis war das „Jubiläumsquartett“, das am 15. Mai 1962 zur Uraufführung gelangte. – Die gleichzeitig mit dem Quartett-Auftrag ausgesprochene Einladung an Dmitrij Schostakowitsch, einen Auftrag für ein Orchesterwerk anzunehmen, wurde von diesem abschlägig beantwortet.15 Ein großer internationaler Kompositionswettbewerb der Gesellschaft der Musikfreunde fand dann in den Jahren 1962–1964 statt, und zwar in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Musikrat der UNESCO in Paris; er führte aber bewußt zu keinen Uraufführungen. Die Initiative ging von dem damaligen Präsidenten der Gesellschaft Alexander Hryntschak und von dem Generalsekretär Rudolf Gamsjäger aus, die gemeinsam mit dem Generalsekretär des Internationalen Musikrates Jack Bornoff an 157 Orchester mit der Aufforderung herantraten, „sie möchten das Werk eines lebenden Komponisten, das in der Saison 1961/62 auf ihrem Repertoire stand, zur Teilnahme an der Konkurrenz einsenden“. Zunächst trat in Wiener eine erste Jury, bestehend aus Hans Erich Apostel, Franz Kosch, Frank Martin, Joseph Marx, Andrzej Panufnik, Hermann Ullrich und Wilhelm Waldstein, zusammen und „nahm eine erste Wertung vor“, 1963 erfolgte in Paris eine zweite Wertung durch Georges Auric, Nadia Boulanger, Pierre Colombo, Gail Kubik, Mario Labroca, Yoritsune Matsudaira und Goffreso Petrassi. Die beiden Wertungen wurden addiert, und es ergab sich folgendes Ergebnis:

„Christ ist erstanden“ am 16. Oktober 1962. 13 Von Uhl erklangen in den Jahren zuvor zahlreiche Werke in Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde, u. a. am 3., 4., 5., 6. und 7. Dezember 1957 das Oratorium „Gilgamesch“. Am 24. und 25. Juni 1961 folgte die Kantate „Wer einsam ist, der hat es gut“. 14 Abbildung des Schreibens in: Alexander Witeschnik, alfred uhl (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 8), Wien 1966, S. 57. 15 Hiezu siehe den Beitrag von Otto Biba, hier S. 33.

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Abbildung 3: Festkonzert vom 18. Juli 1964 mit den „preisgekrönten Werken aus dem Kom­ positionswettbewerb UNESCO – Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“. Abendprogramm, Titelseite (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 44

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1. Preis: Witold Lutoslawski, Konzert für Orchester; 2. Preis: William Walton, Symphonie Nr. 2, 3. Preis: Peter Maxwell Davies, Fantasia on an „In nomine“ of John Taverner. Die drei Werke wurden dann am 18. Juni 1964 durch die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Hans Schmidt-Isserstedt zur Aufführung gebracht (Abbildung 3).16 In der Zeit der Intendanz von Albert Moser gab es dann drei offizielle Aufträge, und zwar alle an Gottfried von Einem.17 Das erste der Werke, die 1976 entstandene „Wiener Symphonie“, wurde zwar noch im Saisonprospekt 1977/78 für den 3. Dezember als Uraufführung angekündigt, erklang dann aber bereits am 16. November 1977 in Minneapolis, ehe sie am 1. Dezember 1977 in Wien zu Gehör gebracht wurde. „Richtiger“ erging es den ebenfalls über Auftrag entstandenen Streichquartetten Nr. 2 und Nr. 3 (dieses aus Anlaß des 60. Geburtstages von Univ.-Prof. Dr. Horst Haschek, dem Präsidenten der Gesellschaft), die tatsächlich im Musikverein zur Uraufführung gelangten: am 7. Februar 1978 sowie am 11. Oktober 1981. – Albert Moser wurde von seinem Freund Erik Werba als „in sich so ausgewogener, mit der Elite der international anerkannten Künstlerwelt persönlich so angenehm kontaktierender, sachkundiger und charmanter Organisator“ gewürdigt, durch den die „Kontinuität in der künstlerischen Linie der GdM gewahrt“18 worden sei. Aus Anlaß der 175-Jahr-Feier der Gesellschaft wurden dann 1986/87 drei Aufträge in unterschiedlichen Gattungen vergeben, wobei ja bereits Thomas Angyan designierter Nachfolger von Albert Moser war und hier seine ersten Zeichen setzte: Es entstanden Gottfried von Einems 4. Symphonie (Uraufführung 23. Mai 1988), Iván Eröds Klavierquartett (Uraufführung: 26. Mai 1988) und Peter Planyavskys Orgelwerk „Goldenes Stück für Goldenen Saal“ (Uraufführung: 2. Juni 1988). Alle drei Werke erklangen in Konzerten der Wiener Festwochen 1988. 1988 trat der bis dahin die Musikalische Jugend Österreichs leitende (und schon dort in einem hohen Maß die zeitgenössische Musik fördernde) Thomas Angyan endgültig die Nachfolge von Albert Moser an, womit eine große Ära der Auftragswerke begann. Angyan reformierte und erweiterte das von vielen als allzu traditionell empfundene Programm des Hauses deutlich. „Neuer Wind in alten Mauern“ schrieb die Österreichische Musikzeitschrift im Juni 1988 und zitierte

16 k. [Rudolf Klein], Der internationale Kompositionswettbewerb, in: Österreichische Musikzeitschrift 18 (1963), S. 583. 17 Siehe in vorliegendem Band den Artikel von Ingrid Fuchs über Gottfried von Einem. 18 E.[rik] W.[erba], Albert Moser, in: ÖMZ 35 (1980), S. 393.

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Hartmut Krones (Wien)

in einem Interview insbesondere Angyans Aussagen zur Förderung der Neuen Musik: „Es kann nicht Aufgabe einer, wenn auch noch so alten und traditionsbewußten Konzertgesellschaft sein, ausschließlich Kunst der Vergangenheit zu pflegen, und auch der Prozentsatz, in welchem sich die Hereinnahme zeitgenössischer Werke ausprägt, sollte ein angemessener sein. Mir liegt daran, für jede Saison zwei bis drei Kompositionsaufträge an jüngere österreichische Komponisten zu vergeben, und zwar verteilt auf alle Sparten. […] oberstes Ziel [ist es], Vergangenheit und Gegenwart zu integrieren und die Angst gewisser Publikumsschichten vor dem Neuen abbauen zu helfen. Die persönliche Begegnung mit Komponisten, die ihrerseits ihre Auseinandersetzung mit Tradition und Geschichte darlegen, könnte, ja sollte eine wichtige Hilfe für dieses Anliegen sein.“19

Und der neue Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde vergab nun in den nächsten drei Jahrzehnten 93 Aufträge an insgesamt 58 in den folgenden Listen jeweils alphabetisch gereihte Komponisten, von denen (zunächst) bis zum Zeitpunkt des in diesem Band dokumentierten Symposions (Juni 2012) die folgenden 76 Werke zur Uraufführung gelangten20: Roland Batik 3. 4. 2001: Vier Intermezzi für Violine, Violoncello und Klavier Martin Bjelik 6. 4. 1992: „Verformungen“. Satz für Kammerensemble Francis Burt 17. 12. 2001: „Bavarian Gentians“ für Kammerchor und sechs Instrumentalisten Charles Camilleri 8. 3. 2005: „The Vienna“. Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 2 Friedrich Cerha 12. 5. 2000: „bevor es zu spät ist …“. 3. Satz des „Triptychon“ für Tenor und ­Orchester 12. 5. 2010: Kammermusik für Orchester Dirk D’Ase 12. 4. 2010: „Silberfluss, Feuermond …“. Klangreise für Ensemble Christian Diendorfer 30. 3. 1998: „Souffleusen“ für Kammerensemble

19 Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), S. 315. 20 Angemerkt sei, daß das „Ensemble Kontrapunkte“ (unter seinem Leiter Peter Keuschnig) einen besonders großen Teil der Realisationen besorgte.

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Johanna Doderer 27. 11. 2004: „Bolero“ für zwei Klaviere und Orchester Richard Dünser 12. 11. 2007: „Die letzten Dinge“. Vier Lieder nach Texten von Thomas Höft 3. 12. 2009: Synopsis I für Klavier zu vier Händen und Streichquartett Helmut Eder 11. 4. 1991: Streichquartett Nr. 4, op. 94 28. 5. 2000: „Burleska“. Symphonie Nr. 7, op. 114 Gottfried von Einem 3. 2. 1996: „Prinzessin Traurigkeit“ oder „Ein Känguruh im Schnee“. Duette in allen Farben, op. 100 Iván Eröd 4. 5. 1999: Doppelkonzert für Klarinette und Fagott mit Begleitung des Orchesters, op. 72 17. 6. 2004: Streichquartett Nr. 3, op. 78 Roland Freisitzer 30. 1. 2006: „red“. music for piano and ensemble Bruno Hartl 16. 12. 1996: Concertino für Fagott und Ensemble, op. 19 8. 12. 2005: „Pas de trois“ für Flöte, Violoncello und Schlagzeug, op. 28 Thomas Heinisch 30. 1. 2006: „Für FC“ für vier Instrumentalgruppen und Schlagzeug 12. 4. 2010: „Charons Bild“. Toten-Maske für Singstimme und Ensemble 5. 12. 2011: „Heraklit-Fragmente“ für Sprecher und Ensemble Ayis Ioannides 10. 1. 2006: Trio für Violine, Violoncello und Klavier Paul Kont 29. 1. 1991: „En rose et noir“ für Klaviertrio Thomas Larcher 8. 4. 1992: „Noodivihik“ für Klavier 21. 3. 1994: „Pain Music“. Fragment in fünf Sätzen für Viola und Ensemble Herbert Lauermann 3. 5. 1989: „Caccia“ für Orchester („Ah! Dov’e il perfido?“) 16. 1. 1993: VERBUM III. „Gedicht“ für Ensemble 15. 3. 1996: VERBUM IV. „An die Sonne“ für Orchester (mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst) 47

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Wolfgang Liebhart 10. 1. 2000: „Szenario III – … wie ein schwarzes Band mit Gold bestickt …“ für Kammerorchester und Kinderchor Michael Mautner 5. 6. 1996: Kammersymphonie in den Farben des Regenbogens Elias Meiri Ensemble 4. 6. 2004: „Percussion“ Bartolo Musil 5. 12. 1994: „SCHÖN!trauerwunschkonzert“ für Kammerorchester und zwei Sänger Christian Muthspiel 19. 4. 2008: „Geliebte Frau Clara!“ für sechs Chöre und Posaune mit Live-Electronics (Auftrag gemeinsam mit dem Wiener Mozartjahr 2006) 7. 5. 2012: Sonett XVIII für Mezzosopran und Violoncello Tibor Nemeth 18. 12. 2000: „paradigma“. Komposition für Kammerorchester Ludwig Nussbichler 22. 4. 1996: „Schattenspiele II – Palimpsest“ 7. 3. 2005: „IL PRIMO ANGELO – Traumbildfragmente V“ Krzysztof Penderecki 7. 6. 2000: Sextett für Klarinette, Horn, Violine, Viola, Violoncello und Klavier 19. 6. 2005: Largo für Violoncello und Orchester Thomas Pernes 1. 4. 1993: „Ohne Beirrung“ für Kammerorchester 28. 4. 1994: „ … diese zerbrochene Zeit“. 4. Streichquartett 1. 12. 2003: Quartetto doppio („Jack in the box“) 7. 4. 2008: „Aus der Fremde“. Musiktheater in sieben Szenen; Text von Ernst Jandl (konzertante Fassung) Werner Pirchner 11. 10. 1988: „Wem gehört der Mensch…?“. Trio für Violine, Violoncello und Pianoforte, PWV 31 Peter Planyavsky 16. 5. 2011: „Kohelet“ für Bariton, Sprecher, Chor, Orgel und Schlagzeug Gerhard Präsent 14. 4. 1997: Chaconne für 14 Instrumente Michael Radulescu 23. 2. 1996: Streichsextett 48

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Wolfgang Rihm 22. 5. 2000: „In Frage. In memoriam Kurt Kocherscheidt“ für Ensemble Wolfgang Sauseng 19. 6. 2001: „Hiobsgesänge“ nach Texten von Bachmann, Podrimja, Zajc, Celan und aus dem Buch Hiob für gemischten Chor und 14 Instrumente Gerhard Schedl 5. 2. 1992: Sinfonie Nr. 3 (mit Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst und der Austro Mechana) Thomas Daniel Schlee 23. 4. 2008: „Körper in Cafés“. Fünf Szenen für hohe Stimme, Flöte, Fagott und Klavier, op. 69 Tristan Schulze 6. 11. 2010: „Der gestiefelte Kater“ für Sprecher und Streichquartett nach den Gebrüdern Grimm und Ludwig Tieck Kurt Schwertsik 2. 10. 1988: „Neues von EU-SIRIUS“. Namentlich drei Sonaten und zwei Fugen für Karlheinz Stockhausen zur Unterhaltung, op. 55 4. 3. 1991: „Am Ende steht ein Marsch“ für Bläseroktett 8. 2. 1996: „Möbelmusik – Klassisch“, op. 68 12. 6. 1996: Sinfonia – Sinfonietta, op. 73. 5 Sätze für Orchester Wolfgang Seierl 4. 5. 2009: „die wolke und die uhr“ für Sopran und acht Instrumente Werner Steinmetz 4. 5. 1998: Konzert für Saxophonquartett und Orchester 30. 9. 2003: Konzert für Violoncello und Orchester 12. 12. 2008: Konzert für Violine und Streicher in fünf Teilen Norbert Sterk 13. 12. 2004: „die sonne stand still. der mond trieb davon“ für Ensemble 12. 4. 2010: „Vertigo. Saxophon. Desaster“. Konzert für Saxophon und Orchester Robert Stiegler 15. 4. 1993: Quartett für zwei Violinen, Viola und Kontrabaß Franz Thürauer 8. 2. 1999: Dramatische Szene aus William Shakespeares „Richard III.“ für Sopran, Bariton und Ensemble Erich Urbanner: 9. 4. 1991: „ …in Bewegung …“. Trio für Violine, Violoncello und Klavier 12. 4. 2010: Kammerkonzert für zwölf Spieler 49

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Peter Vujica 15. 12. 2008: Madrigal für neun Instrumente Alexander Wagendristel 20. 12. 1999: „A house that tries to be haunted“. Eleven poems and 2 quotes by Emily Dickinson für Sopran und Ensemble, op. 78 Wolfram Wagner 17. 6. 1999: „Sonnengesang“ nach Worten des Franz von Assisi für großen gemischten Chor, Blechbläser, Schlaginstrumente und Solocello 29. 1. 2011: Konzert für Flöte, Klavier und Streicher Thomas Wally 4. 5. 2009: loops& grids für großes Ensemble Herbert Willi 29. 5. 1990: „Für 16“. Kleines Kammerkonzert 15. 5. 2002: „Eirene“. Konzert für Trompete und Orchester aus dem Zyklus „Montafon“ Wilhelm Zobl 13. 5. 1991: „Escada da vida“ für Chor und Bläserensemble („Leiter des Lebens“) Otto M. Zykan 15. 6. 2002: „Messe!“. Messe für Bariton, zwei Chöre und großes Orchester Aus Anlaß der 200-Jahr-Feier der Gesellschaft sowie im Hinblick auf die „Jubiläumssaison“ 2012/13 wurden dann acht weitere Werke in Auftrag gegeben, und zwar bei Pierre Boulez, Friedrich Cerha, Gerd Kühr, Christian Muthspiel, Krzysztof Penderecki, Wolfgang Rihm, Thomas Daniel Schlee und Herbert Willi. Pierre Boulez, der (neunzigjährig) am 5. Jänner 2016 starb, konnte den Auftrag nicht mehr ausführen, die Uraufführungen der anderen Werke fanden an folgenden Tagen statt: Friedrich Cerha 9. 4. 2016: Drei Sätze für Orchester Gerd Kühr 9. 1. 2013: „Jetzt wohin?“. Spurensuche für Sprecher, Chor und Orchester Christian Muthspiel 7. 5. 2012: Sonett XVIII für Mezzosopran und Violoncello (siehe oben) Krzysztof Penderecki 22. 10. 2012: concerto doppio per violino, viola e orchestra 50

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Wolfgang Rihm 20. 11. 2013: „Verwandlung 5“. Musik für Orchester Thomas Daniel Schlee 15. 6. 2013: 2. Symphonie, op. 81 Herbert Willi 1. 11. 2012: „Sacrosanto“. Konzert für Violine und Orchester Parallel mit bzw. nach diesen Uraufführungen wurden weitere Komponisten mit Aufträgen bedacht, die bis Ende 2018 zu Realisationen folgender Werke führten: Thomas Amann 18. 10. 2013: „hands, yard, infinity“. Konzert für Orgel und Orchester (Auftrag gemeinsam mit dem RSO Wien) Johannes Berauer 23. 3. 2014: Fanfare für acht Bläser Martin Bjelik 12. 10. 2015: „Gegenpole“ Bernd Richard Deutsch 26. 11. 2015: Okeanos. Konzert für Orgel und Orchester Christian Diendorfer 17. 12. 2012: „Hubano-Arien“ für Männerstimme und Ensemble Johanna Doderer 16. 11. 2015: „Break on Through“ für Violoncello und Klavier (Auftrag gemeinsam mit der European Concert Hall Organisation) Christoph Ehrenfellner 13. 12. 2017: „Suite des Alpes“ für Violine solo, op. 36 (Auftrag gemeinsam mit der European Concert Hall Organisation) Gerald Resch 30. 9. 2016: „Inseln“ für Orchester (Auftrag gemeinsam mit dem RSO Wien) Thomas Daniel Schlee 5. 3. 2013: „Rufe zu mir“. Symphonische Szene für Orgel und Orchester, op. 80 (Auftrag gemeinsam mit dem Gewandhausorchester Leipzig) Auch einen Kompositionswettbewerb gab es in dem betrachteten Zeitraum: „Mozart 1991“ hieß er und wurde gemeinsam mit dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst durchgeführt. Die Preisgelder in der Höhe von insgesamt 410.000.- stiftete die Österreichische Mineralölverwaltung. Beteiligen konnten 51

Hartmut Krones (Wien)

sich Komponisten bis zu 36 Jahren, dem von Mozart erreichten Lebensalter, gesucht wurden einerseits Werke in „klassischer“ Orchesterbesetzung, andererseits für „Harmoniemusik“-Formationen.21 Der Jury gehörten (wieder alphabetisch) Francis Burt, Iván Eröd, Hartmut Krones, Cristobal Halffter und Wolfgang Rihm an. 65 Einsendungen aus 18 Staaten langten ein, die Gewinner waren bei den Orchesterwerken (bei Nichtvergabe des 1. Preises) Giampiero Castagna (Italien, 2. Preis: „Nachtmusik“; die Uraufführung fand dann am 25. 11. 1991 statt), Stefano Gervasoni (Italien, 2. Preis: „Adagio für Glasorchester“; Uraufführung: 16. 11. 1992), Jan Bus (Niederlande, 3. Preis: „Quando salte fuori la tonica ?“; Uraufführung: 11. 11. 1994) und Dan Dediu (Rumänien, 3. Preis: „Motto-Studien“; Uraufführung: 9. 11. 1993), bei der Harmoniemusik Su Wung Yu (Korea, 1. Preis: „Figaro-Fantasie“, op. 6; Uraufführung: 17. 2. 1992), Patrice Challulau (Frankreich, 2. Preis: „Monostiques“; Uraufführung: 11. 12. 1991) und Thomas Herwig Schuler (Österreich, 3. Preis: „Eine kleine Harmoniemusik“).22 Als Abschluß sei von einem für alle Beteiligten ganz speziellen Erlebnis berichtet: Für den 7. Juni 2000 war im Rahmen der Wiener Festwochen die Uraufführung des über Auftrag der Gesellschaft der Musikfreunde zu komponierenden Sextettes von Krzysztof Penderecki angesetzt, für die ein internationales Solistenensemble engagiert war: Maxim Vengerov Violine, Yuri Bashmet Viola, Mstislaw Rostropowitsch Violoncello, Paul Meyer Klarinette, Radovan Vlatkovic Horn und Krystian Zimerman Klavier. Die drei Streicher sollten dann (zusammen mit Julian Rachlin) noch Schostakowitschs 8. Streichquartett, op. 110, spielen. Am 1. Juni gab es noch keine Noten, da Penderecki noch komponierte. Am 2. Juni traf der 1. Satz des zweisätzigen Werkes ein, am 3. Juni noch immer kein 2. Satz. Mittlerweile warfen Maxim Vengerov und Krystian Zimerman das Handtuch, weil sie das Werk nicht „vom Blatt“ spielen wollten. Da Penderecki signalisierte, bald fertig zu sein, sollte die Uraufführung aber doch durchgezogen werden, und Thomas Angyan konnte Julian Rachlin für den Geigenpart sowie ­Dmitri Alexeev für den Klavierpart gewinnen. Ich schrieb die Einführung für den seit kurzem vorhandenen 1. Satz und wartete ebenfalls auf den als „Larghetto“ angekündigten zweiten – wie auch die Musiker, die mittlerweile den 1. Satz probten. Am 4. Juni kam die erste Hälfte des 2. Satzes, die sofort sowohl in die Probe wanderte als auch zu mir, der angesichts dieser Hälfte die Einführung 21 Hiezu siehe Österreichische Musikzeitschrift 46 (1991), März–April, S. 187. 22 Thomas Herwig Schuler bat dann, anstelle von „Eine kleine Harmoniemusik“ sein Konzert für Baritonsaxophon, Schlagwerk und Streichorchester, op. 8, aufzuführen, was am 10. Oktober 1991 geschah.

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Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt Musik­geschichte

zum 2. Satz schrieb und hoffte, daß Penderecki auch so weiterkomponierte, wie ich ihn einschätzte. Und am 5. Juni kam der Rest, auch erst gegen Abend – die Musiker probten nun am 6. und 7., die Aufführung wurde ein grandioser Erfolg, und das Fest nachher war (im wahrsten Sinne) berauschend. Übrigens: ich mußte (im letzten Moment) nur sehr wenig an meiner Einführung ändern. – Wegen der späten Proben und des Ausfalls von Vengerov konnte das Streichquartett von Schostakowitsch natürlich nicht gespielt werden; statt dessen engagierte Angyan das soeben von einer Tournee zurückkehrende „Alban Berg Quartett“, das vor der Pause Beethovens Streichquartett B-Dur, op. 130, samt der „Großen Fuge“ B-Dur, op. 133, zur Aufführung brachte (Abbildung 4).

Abbildung 4: Festwochen-Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde vom 7. Juni 2000 mit der Uraufführung von Krzysztof Pendereckis Sextett für Klarinette, Horn, Violine, Viola, Vio­ loncello und Klavier. Abendprogramm (Fortsetzung auf der nächsten Seite), Ausschnitt (Ar­ chiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

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Hartmut Krones (Wien)

Abbildung 4, Fortsetzung

Das hier Geschilderte ist im wahrsten Sinne des Wortes lebendiges Musikleben, das man bei einem traditionellen Programm natürlich nicht erleben kann, sehr wohl aber bei Uraufführungen. Und das war schon immer so: Bekanntlich hat Mozart die Ouverture zu seinem „Don Giovanni“ in der Nacht vor der Uraufführung niedergeschrieben. Offensichtlich konnten damals alle Musiker blattspielen.

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Rudolph Angermüller (Salzburg) Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Hofkapellmeister Antonio Salieri1 war ein Mann der ersten Stunde im Leben der Gesellschaft der Musikfreunde, gehörte seit Anbeginn dem engeren provisorischen Ausschuß an und war von 1813 bis zu seinem Tod im Jahr 1825 Mitglied des Direktoriums. 1814 zählte die Chorübungsanstalt der Gesellschaft 272 Mitglieder (69 Soprane, 48 Alte, 77 Tenöre, 80 Bässe), deren oberste Leitung der Komponist kostenlos übernahm. Bedeutend ist, daß der Komponist die Autographe seiner Gesellschaftsmusik fast ausschließlich der Gesellschaft vermachte – die Opern kamen an die Hofbibliothek, die geistliche Musik an die Hofkapelle (heute: Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek). Es fällt auf, daß Salieri in drei frühen Gesellschaftskonzerten jeweils mit einem Werk vertreten war (1816 bis 1818), ehe seine Kompositionen von den Programmen verschwanden (erst in den 1990er Jahren begann eine kleine, von Otto Biba betriebene Salieri-Renaissance). Das mag daran gelegen haben, daß Salieri wenig Instrumentalmusik hinterlassen hat und daß sein kompositorisches Werk nach 1804 sehr gering war – er komponierte nur noch Gesellschaftsmusik und kirchenmusikalische Werke für die ihm unterstellte Hofkapelle. „Der musikalischen Dilettantengesellschaft“, der auch die „Chorübungsanstalt“ zuzurechnen ist, widmete Salieri aber bereits im Mai 1814 einen Artikel2, der sowohl die „Sänger“ als auch die „Spieler“ vor der „lächerlichen“ „maniera languida, smorfiosa“ warnte; und 1815 bot er zudem an, ein „Elementarlehrbuch“ zu verfassen, das „sämtliche Dilettanten, welche sich dort üben sollen, mit den Anfangsgründen und den wesentlichen Regeln der Singkunst bekannt“3 machen sollte – seine „scuola di canto“, von der weiter unten die Rede sein wird.

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Antonio Salieri (18. August 1750 Legnago bei Verona – 7. Mai 1825 Wien) kam 1766 nach Wien, wurde hier 1774 Kapellmeister der italienischen Oper und 1788 Hofkapellmeister. Er unterrichtete mehr als 70 Schüler. Zu Salieri vgl. Rudolph Angermüller, Antonio Salieri. Dokumente seines Lebens unter Berücksichtigung von Musik, Literatur, Bildender Kunst, Architektur, Religion, Philosophie, Erziehung, Geschichte, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und täglichem Leben seiner Zeit. 3 Bände, Bad Honnef 2000. Ferner: Elena Biggi Parodi, Catalogo tematico delle composizioni teatrali di Antonio Salieri. Gli autografi (= Strumenti della ricerca musicale. Collana della Società di Musicologia 8), Lucca 2005). – Antonio Salieri als Hofkapellmeister. Ölgemälde von Willibrord Mähler (1787–1860), Wien, Gesellschaft der Musikfreunde. 2 Der (zweisprachige) Artikel ist im Anhang im Faksimile abgebildet. 3 Sitzungsprotokoll der Gesellschaft der Musikfreunde vom 9. Jänner 1815. Siehe Hartmut Krones, „ … der schönste und wichtigste Zweck von allen …“. Das Conservatorium der „Gesellschaft der Musik-

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Rudolph Angermüller (Salzburg)

1. Gesellschaftskonzert am 3. Dezember 18154 Dirigent: Vinzenz Hauschka5 Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonie D-Dur, KV 504 [oder 385?] Vincenzo Righini6: Arie Johann Nepomuk Hummel7: Rondo Es-Dur für Pianoforte [op. 11] Georg Friedrich Händel: Chor aus „Athalia“8 Luigi Cherubini: Ouvertüre zu „Faniska“9 Antonio Salieri: 1. Finale aus der Opera eroico-comica in due atti „Cesare in Farmacusa“ Salieris Oper erlebte ihre Premiere am 2. Juni 1800 im Wiener Kärntnertortheater, dann gab es 17 weitere Aufführungen in Wien: 3. (Kärntnertortheater), 26., 29. (beide im Burgtheater) Juni, 10., 11., 21. (alle im Kärntnertortheater), 28., 30. Juli, 30. August, 3., 10. (alle im Burgtheater), 16. (Kärntnertortheater), 18. September, 16., 30. Oktober 1800, 15. Jänner, 2. Februar 1801 (alle im Burgtheater).

freunde des österreichischen Kaiserstaates“, in: Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), S. 66–83. 4 Vgl.: Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1. Abteilung: 1812–1870[,] verfasst von Richard von Perger, 2. Abteilung: 1870–1912[,] verfasst von Dr. Robert Hirschfeld, und Zusatz=Band zur Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Sammlungen und Statuten[,] zusammengestellt von Dr. Eusebius Mandyczewski, Wien 1912. 5 Vinzenz Hauschka (21. Jänner 1766 Mies in Böhmen – 13. September 1840 Wien) wurde 1793 Kanzlist am k. k. Kammerzahlamt in Wien, so fand er Eingang in die adeligen Musikkreise der Donau-Metropole. Der bewunderte Violoncellist und Barytonspieler wirkte als Mitglied des Musikvereins wesentlich an dessen Umwandlung in die Gesellschaft der Musikfreunde (1814) und bei der Gründung des Konservatoriums mit. Von 1813 bis 1834 war er Mitglied der Direktion, 1816 bis 1832 Rechnungsprüfer der Gesellschaft, 1815 bis 1827 Oberleiter der Konzerte, 1825 bis 1832 Inspektor und Vorsteher der Singschule, 1838 Gründer der Konzerte. 6 Vincenzo Righini (22. Jänner 1756 Bologna – 19. August 1812 Bologna), vornehmlich Opernkomponist. 7 Johann Nepomuk Hummel (14. November 1778 Preßburg – 18. Oktober 1837 Weimar), Pianist, Komponist, Kapellmeister. Die Erstausgabe des Rondos erschien 1804 bei Tobias Haslinger in Wien. 8 Georg Friedrich Händel (23. Februar 1685 Halle an der Saale – 14. April 1759 London): „Athalia“, HVW 52. Libretto: Athalia an oratorio: or sacred drama [in three acts (nach „Athalie“ von Jean Racine, 1691)]. As perform’d at the Theatre in Oxford. At the time of the Publick Act, in July, 1733. The musick compos’d by Mr. Handel. The drama by Mr. [Samuel] Humphreys. Händel schrieb das Werk für eine akademische Festveranstaltung der Universität Oxford vom 9. Juli 1733 (im Sheldonian Theatre), wegen deren voraussichtlichen Überlänge wurde die Uraufführung dann auf den 10. Juli verlegt. In London erklang das Werk erst im April 1735. 9 Luigi Cherubini (14. September 1760 Florenz – 15. März 1842 Paris) schrieb vornehmlich Opern und Kirchenmusik. Er war auch Direktor des Pariser Konservatoriums. „Faniska“. Oper in 3 Akten. Erstaufführung: Wien, Kärntnertortheater, 25. Februar 1806. Text: Luigi Privaldi (1771 Venedig – 1844 Venedig).

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Das Autograph der Oper befindet sich in der Musiksammlung der Nationalbibliothek. Es existieren zahlreiche zeitgenössische Kopien. Ein Klavierauszug erschien 1801 „nella Stamperia di musica degl’Imperiali Regi Teatri di Corte“. Ein Libretto (Text: Carlo Prospero Defranceschi) publizierte 1800 Mattia Andrea Schmidt in Wien (ein Exemplar befindet sich in der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek). Besetzung der Uraufführung: Julius Cäsar Gigi, Geliebte des Tullus, Sklavin Cäsars Tullus, Sklave Cäsars Nikanor, Anführer der Seeräuber Megisto, Anführer der Seeräuber

Hr. Simoni10 [Tenor], Sänger der k. k. Hofkapelle Mad. Tomeoni11 [Sopran] Hr. Angrisani12 [Baß] Hr. Saal13 [Baß] Hr. Vogel14 [Baß]

10 Joseph (Giuseppe) Simoni, eigentlich Schimon (13. Februar 1764 Zittow in Böhmen – 22. September 1832 Wien), sang zwischen 1783 und 1795 an den Bühnen von 15 verschiedenen Städten in Italien, 1793/94 auch in Madrid. Von 1796 bis 1804 war er Mitglied der italienischen und von 1808 bis 1810 der deutschen Oper in Wien. Er trug den Titel k. k. Hofkapellmeister und Kammersänger und k. k. Kammersingmeister. 11 Irene Tomeoni (Tommeoni) Dutillieus [Dutiglià, Dutigliò] (1763 Wien – 12. Oktober 1830 Wien) war von 1781 bis 1791 an den Bühnen von acht verschiedenen italienischen Städten engagiert und kehrte 1796/97 nochmals nach Neapel zurück. Sie debütierte im April 1791 am Wiener Burgtheater und gehörte dieser Bühne als prima buffa bis 1805 sowie 1809/10 als Ensemblemitglied an. Sie liebte die Einfachheit des Gesanges, ihr Charme und ihre Bühnenpräsenz begeisterten das Publikum. Die Komponisten vermieden es, für sie Koloraturen zu schreiben, weil sie keine virtuose Sängerin war. 1807 unterhielt sie in Penzing bei Wien ein Privattheater. 12 Carlo Angrisani [Angriz(z)ani] (ca. 1760/65 Reggio Emilia – nach 1826) trat zwischen 1784 und 1794 in 20 verschiedenen Städten in Italien auf, wirkte von 1794 bis 1800 in Wien, sang 1803/04 an der Mailänder Scala und später in Vicenza und Verona. 1817 gastierte er am Londoner King’s Theatre. 1825/26 nahm er an der berühmten Nordamerika-Tournee der Familie Garcia teil, während der am 23. Mai 1826 im New Yorker Park Theatre die amerikanische Erstaufführung des „Don Giovanni“ stattfand. Der Sänger komponierte auch. 13 Ignaz Saal (26. Juli 1761 Geiselhöring – 30. Oktober 1836 Wien) debütierte am 14. April 1782 an der deutschen Oper in Wien als Waldner in Ignaz Umlaufs (1746–1794) „Die Bergknappen“. Bis 1821 ist er sowohl als Sänger als auch als Schauspieler an Wiener Theatern nachzuweisen. 14 Johann Michael Vogl (10. August 1768 Ennsdorf bei Steyr – 19. November 1840 Wien) studierte Sprachen und Philosophie am Gymnasium von Kremsmünster und trat in einigen Singspielen von Franz Xaver Süßmayr (1766–1803) auf, mit dem er eng befreundet war. Die beiden gingen 1786 nach Wien, Vogl studierte dort Jus sowie bei Salieri Gesang. Süßmayr überredete ihn, sich der deutschen Operntruppe in Wien anzuschließen. Am 1. Mai 1794 debütierte er an der Wiener Hofoper, 1817 lernte er Franz Schubert kennen, 1822 verabschiedete er sich von der Bühne. Als Schubert-Interpret ging er in die Geschichte ein.

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Termutis, eine vornehme Bewohnerin Mad. Milloch15 [Sopran] der Insel, Nicanors Verlobte Nerbote, Wächter der Sklaven Hr. Lotti16 [Tenor], Mlle Gaßmann17 d. ält. [Sopran] Zosmia, Wächter der Sklaven Hr. Lotti Lentulus, ein römischer Offizier Römische Soldaten Chor der Piraten [Tenor, Baß] Chor der Sklaven und Sklavinnen [Sopran, Tenor] Soldati romani Die Handlung geht auf der Insel Pharmacusa vor. Das Libretto der Oper basiert auf Plutarch18, Sueton19, Velleio Patercolo20 sowie Polieno21 und ist ein Mixtum zwischen Komik und Ernst. Begeistert haben das Publikum die exotische Ausstattung, die vielen Chöre, das Pathos, die vokale Virtuosität der Opera seria und die Buffa-Manieren. Die Gefangennahme Caesars wird von Plutarch geschildert. Er wurde in der Nähe der Insel Farmakusa von einigen Piraten festgenommen, die ihn aber nicht erkannten. Sie forderten von ihm 20 Talente – eine ungeheure Summe. Der Imperator lachte sie aus. Das Geld wird herbeigeschafft; der Gefangene freigelassen. Caesar segelt dann gegen die Piraten, nimmt fast alle gefangen, setzt sie im Gefängnis von Pergamon fest und nimmt ihr Eigentum als Pfand. Später werden sie zwar aus dem Gefängnis entlassen, aber gekreuzigt. Über das 1. Finale hat Salieri in einem „Parere“ folgendermaßen geurteilt: 15 Louise Milloch war seit dem 27. Juli 1798 in Wien engagiert. 16 Gaetano Lotti trat zunächst in Italien auf: Florenz (1786 bis 1788 und 1792), Pistoia (1789), Pisa (1790), Genua (1791/92), Venedig (1792/93). 1793 kam er nach Wien. 17 Anna Gaßmann (23. Juli 1772 Wien – 27. August 1852 Wien), Tochter des Hofkapellmeisters Florian Leopold Gaßmann (1729–1774) und Schülerin Salieris sowie Joseph Weigls (1766–1846 Wien), war auch Pianistin. Sie erlebte in Wien und auf Gastspielen eine bedeutende Bühnen- und Konzertkarriere. Zu ihren Glanzrollen zählte die Königin der Nacht in der „Zauberflöte“. Sie heiratete 1816 den Geiger und Komponisten Peter Fux (22. Jänner 1753 Wien – 15. Juni 1831 Wien), nach dessen Tod sie sich von der Bühne zurückzog und der pädagogischen Tätigkeit widmete. 18 Plutarch (um 45 Chaironeia – um 125), griechischer Schriftsteller und Verfasser zahlreicher biographischer und philosophischer Schriften. Er gilt in der griechischen Literaturgeschichte als einer der wichtigsten Vertreter des Attizismus (Bewegung der Rhetorik, die in der Mitte des 1. Jahrhunderts vor Chr. begann). 19 Gaius Suetonius Tranquillus [Sueton] (um 70–122), römischer Schriftsteller und Verwaltungsbeamter. Er wurde durch Kaiserbiographien berühmt (von Caesar bis Titus Flavius Domitianus). 20 Gaio Velleio Patercolo (*20 vor Chr. Aeclanum), Kavalleriekommandant, wurde Quästor und kam in den römischen Senat. Er publizierte eine „Historia Romana“ in zwei Bänden. 21 Polieno, mazedonischer Schriftsteller und Rhetor.

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

„Il finale [I, 15; 545 Takte, Allegro maestoso, C-Dur, 12/8, Gigi – Termuti e Zosmia – Cesare – Tullo – Nicanore e Magistone – Coro di pirati (Tenor, Baß), Besetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Trompeten, 2 Hörner, Streicher, 2 Pauken, Basso continuo] ,Cogli evviva coi canti di gloria‘ ha molto buoni momenti di scena e musicali e sono: il primo tempo sopra le sud.te parole ,Cogli evviva‘ – Il secondo tempo – ,Per chi aspira ad alte imprese‘, musica, mi lusingo, degna di Pirati. Il terzo tempo – ,Òbella Venere‘ – dolce e armonioso. Quello che segue fino le parole – ,Spogli siete o sciagurati‘ – è cosa semplicemente di scena, ma cominciando appunto da queste ultime parole, sino la fine, forma quadro, e termina l’atto con un’ effetto strarodinario.“

Salieri gibt auch Anweisungen zu Regie und Szene: „Finale I:mo La decorazione sarà adornata di molti Trofei e bandiere di differenti nazioni, il tutto attaccato con simetria alle quinte del fondo. In mezzo, parimenti nel fondo, si vedrà una gran Botta sopra una specie di carro, dalla quale tutti i Pirati empiranno di vino i loro inargentati e grandi boccali. Si avrà l’avvertenza di far che quelli delli due principali Pirati, e di Termuti, per distinzione, siano dorati. La scena si apre sulla prima nota dell’orchestra, nel qual punto si farà dar un gran colpo di Tamburo turco, colpo che si replicherà anche alla ripresa del coro. Tutti i Pirati beveranno, e cesseranno di bevere nello stesso tempo, secondo che accenna la musica. In fondo della scena si potrà far vedere una fila di schiavi, come spettatori della Festa dei Pirati. Quando i Pirati ripetono le parole: ,Si beva, si tracanni‘ devono mostrarsi tutti mezzi ubriachi, e in tal guisa partire. La stessa avvertenza avranno Nicanore, e Megistone in tutto il restante del Finale, sull’esecuzione del quale tutto già comparisce chiaro dalle pazzie che si cantano e dalle annotazioni del libretto. N. B. di cantar la parte di Termuti non aveße le corde di mezzo forti sufficientemente per esguire con effeto la cantilena nel primo finale che dice ,andiamo dunque al‘ – ,Non ve’è Re che impero vanti‘ etc. – si farà cantare all’unisono dalli due capi Pirati perche è bene perche detta cantilena si senta tre volte.“

Das dreiteilige Finale, so Salieri, hat viele gute szenische und musikalische Teile. Der erste und zweite Teil ist der Piraten würdig, der dritte sanft und harmonisch. Was dann folgt, ist einfach Bühnenmusik, die den Akt mit außerordentlichem Effekt beschließt. Das Bühnenbild besteht aus vielen Trophäen und Fahnen verschiedener Nationen, die symmetrisch am Bühnenhintergrund aufgehängt sind. Dort gibt es auch ein großes Faß auf einer Art Wagen, auf dem alle Piraten mit ihren großen, glänzenden Pokalen lagern. Völlig besoffen verlassen sie den Platz. Die neuen Dekorationen sind von Herrn Joseph Platzer22, Mitglied der k. k. Akademie der bildenden Künste und wirklicher Kammermaler Sr. Majestät. 22 Joseph Platzer (20. September 1751 Prag – 4. April 1806 Wien) wird im Gothaer Taschenkalender auf das Jahr 1784 als junger, aber sehr geschickter Künstler genannt, dessen Dekorationen die herrlichsten Wirkungen hervorbringen.

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Über die Premiere berichtete die „Allgemeine musikalische Zeitung“ am 23. Juli 1800: „In Wien hat Salieri eine neue grosse Oper von seiner Komposition Cesare in Farmacusa auf’s Theater gebracht, welche sehr vielen Beyfall gefunden hat.“23 Weitere Aufführungen von „Cesare in Farmacusa“: Karneval 1801 Prag (in italienischer Sprache); 18. März 1801 Dresden, Kurfürstliches Theater: das Stück blieb hier bis zum 17. Jänner 1807 auf dem Spielplan und erlebte insgesamt 20 Aufführungen: „Dresd. D. 16ten Febr. Wir haben einigemal Cesare in Farmacusa gehört, und finden diese Salieri’sche Musik immer besser, je genauer wir damit bekannt werden. Wenn man auch zuweilen zu bestimmt an Axur24 erinnert wird, so ist es doch eine zu angenehme Erinnerung, als dass man sie dem Komponisten zu hoch anrechnen möchte, besonders da die Oper auch meisterhafte, ihr ganz eigene Sätze hat. Hr Penelli25 als Cäsar, übertrieb seine Stimme und seine Verzierungen hier, selbst nach dem Urtheil der sonst bezauberten Menge, zuweilen allzusehr. Man sagt, er wolle nach Petersburg gehen, wenn er nicht beträchtliche Zulage erhielt. Sgr. Punietti26 singt in dieser Oper recht brav, wie auch Herr Paris27. Auch Herr Miksch28 gefiel nicht mit Unrecht.“29

23 AmZ 2 (1799/1800), No. 43, 23. Juli 1800, Sp. 753. 24 Antonio Salieri: „Axur, Re d’Ormus“. Opera tragicomica in 4 atti. Erstaufführung: Wien, Burgtheater, 8. Jänner 1788. Text: Lorenzo Da Ponte (1749–1838). 25 Antonio Peregrino Benelli (3. September 1771 Forlì – 16. August 1830 Börnichen bei Dresden), Tenor, studierte am Konservatorium von Neapel und trat anschließend in Modena (1787), Rimini, Padua und Forlì (1789) auf. Von 1790 bis 1798 wirkte er in Neapel und wurde anschließend nach London an die italienische Oper engagiert. 1801 kam er als 1. Tenor nach Dresden und trat hier bis zu seiner Pensionierung 1822 auf. In der Dresdener Zeit entstanden auch die meisten seiner Kompositionen. 1823 wurde er als Gesangspädagoge nach Berlin berufen, kehrte aber nach einem Streit mit Gaspare Spontini (1774–1851) nach Dresden zurück. Benelli, einer der besten Tenöre seiner Zeit, der auch über großes schauspielerisches Talent verfügte, war jahrelang Korrespondent der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ und komponierte, neben geistlicher und weltlicher Vokalmusik, Klavierwerke und die Oper „Partenope“. Bedeutend sind seine „Regole per il canto figurato o siano precetti ragionali per apprendere i principi della musica con esercizi, lezioni et infinite solfeggi, per imparare a cantare“, deutsch und italienisch, Dresden 1814. 26 Luigi Pugnetti (Pugnietti, Pugneti) war von 1778 bis 1788 an den Bühnen von neun italienischen Städten engagiert, zwischenzeitlich von 1783 bis 1785 in Wien. 1802 sang er in Dresden. er war wohl ein eher mittelmäßiger Sänger, in Wien reichte seine Stimme an die Valentin Adambergers (1740–1804) nicht heran. 27 Giuseppe Paris (1747 Mantua – 28. April 1821 Dresden), Baß, war seit 1779 an der italienischen Oper in Dresden engagiert. 1804 wirkte er auch als Sänger in der Hofkirche und nach 1817 an der Hofoper. 28 Johann Aloys Miksch [Miecksch] (19. Juli 1765 Georgenthal in Böhmen – 24. September 1845 Dresden), Bariton, Komponist und Gesangslehrer, kam 1778 als Kapellknabe nach Dresden. 1799 begann er seine Bühnenlaufbahn, 1801 wurde er Gesangslehrer der Kapellknaben und 1820 Chordirektor der Hofoper. Nach seiner Pensionierung, 1824, arbeitete er als Kustos der Musikbibliothek des sächsischen Königs Anton (1755–1836). 29 AmZ 4 (1801/02), No. 22, 24. Februar 1802, Sp. 368.

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Weitere Aufführungen: 1801 Frankfurt am Main (unter dem Titel „Cäsar in Farmacusa“, deutsche Übersetzung von Johann Jakob Ihlee30); 15. Jänner 1802 Prag („Cesare in Farmacusa“, deutsche Übersetzung von Georg Friedrich Treitschke31); 12. August 1803 Hamburg (in deutscher Sprache); 26. Oktober 1803 Budapest; 1803 Lübeck („Cäsar unter den Seeräubern“, deutsche Übersetzung von Heinrich Gottlieb Schmieder32); 16. Oktober 1804 Berlin, Nationaltheater: „Berlin, d. 3. Nov. Den 16ten Oct. gab man zur Feyer des Geburtstags der Königin Mutter33 im Nationaltheater: Cäsar auf Pharmakusa. Singspiel in zwey Akten, frey nach dem Ital. von Treitschke. Musik von Salieri. Das Stück hat bereits vor einigen Jahren in Wien grossen Beyfall gefunden. Der Plan ist ernst und heroisch, mit abwechselnden komischen Zügen. Da die Musik von der Ouvertüre bis zum Schluss kraftvoll und originell ist, so gefiel es Kennern sehr, und wird gewiss, besonders da auch Theaterpomp von mancherley Art angebracht ist, sich auch bald den noch mangelnden Beyfall des Publikums erringen. Auszeichnungen verdienen die schöne, brillante, und der Würde des Charakters angemessene Arie des Cäsar: Ueber Bosheit hoch erhaben etc. die Hr. Eunike34 schön und delikat vortrug; das Echo und Duett des Tullus (Hr. Beschort35) und die Lucia (Mad. [Therese] Eunike); die Arie des Nikanor: der Held, der Mann von Stärke etc., das charakteristische Duett des Tullus und der Lucia: Des Gesanges schöne Gabe, mit dem schön vorgetragenen Flötensolo des Hrn. König; das grosse melodische Finale, worin das schöne Duett: O goldne Sonne etc. mit schönen Klarinett-Solostellen, von Hrn. Bliesener36 brav vorgetragen, und der meisterhafte, gewaltsam fortreissende Schluss desselben; das Terzett des Cäsar: Amena lass dir danken etc.; das Quartett mit dem Chor: Ich sollte dich 30 Johann Jacob Ihlee (8. Oktober 1762 Wolfhagen bei Kassel – 11. Juli 1827 Frankfurt am Main), Übersetzer und Bearbeiter von Operntexten, Theaterleiter. 31 Georg Friedrich Treitschke (29. August 1776 Leipzig – 4. Juni 1842 Wien), Übersetzer, Theaterregisseur, Schmetterlingskundler, verfaßte eine beträchtliche Anzahl von Bühnenstücken, Singspielen und Operetten. Er war auch der Librettist von Beethovens „Fidelio“ (3. Fassung, 1814). 32 Heinrich Gottlieb Schmieder (3. Juni 1763 Dresden – 1815 St. Petersburg), Jurist, Schriftsteller, Theaterdichter und –direktor, war seit 1804 Direktionsassistent des deutschen Theaters in St. Petersburg. 33 Friederike Luise von Hessen-Darmstadt (15. Oktober 1751 Prenzlau – 25. Februar 1805 Berlin) heiratete König Friedrich Wilhelm II. von Preußen (25. September 1744 Berlin – 16. November 1797 Potsdam) am 14. Juli 1769 in Charlottenburg. 34 Friedrich Eunike [Eunicke] (6. März 1764 Sachsenhausen bei Oranienburg – 12. September 1844 Berlin) sollte zunächst Theologie studieren, ging aber zum Theater. Er debütierte 1786 in Schwedt an der Oder und kam 1788 ans Mannheimer Hoftheater, von 1789 bis 1792 sang er in Frankfurt am Main, 1792/93 in Bonn und 1793 am deutschen Theater in Amsterdam. 1796 ging er an die Berliner Hofoper, der er bis zur seiner Pensionierung 1823 als Tenor angehörte. Er heiratete 1797 Therese Schwachhofer (24. November 1776 Mainz – 16. März 1849 Berlin), die seit 1786 als Sängerin in Berlin engagiert war. 35 Jonas Friedrich Beschort (14. Jänner 1767 Hanau – 5. Jänner 1846 Berlin) debütierte 1786 in Worms. 1790 kam er nach Hamburg und 1796 nach Berlin. Don Giovanni war die Paraderolle des Sänger/ Schauspielers. Gegen Ende seiner Karriere trat er nur noch als Schauspieler auf. Am 31. März 1838 verabschiedete er sich von der Bühne. 36 Friedrich August Bliesener (ca. 1780 – 21. Dezember 1844 Berlin) war bereits 1804 Konzertbläser, k. k. Kammermusikus und Klarinettist der Berliner Opernkapelle. 1805 kam er ins Orchester des Nationaltheaters (Klarinettist), 1823 wurde er pensioniert.

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strafen etc.: Megistons Arie: Zage nicht, mein liebes Mädchen; die Arie der Lucia: Amor mit beflügelten etc. und die der Amena (Mad. Müller37): Rasche Flucht etc.“38

Herbst 1805 wurde die Oper dann in Leipzig gespielt: „Die bisher in Leipzig noch nicht bekannten, wenigstens noch nicht auf der Bühne gesehenen Opern, welche man dies Vierteljahr gegeben hat, sind folgende: Cäsar in Pharmakusa, mit Musik von Salieri, die, wie man von diesem Meister ohnehin erwartet, mit Einsicht, immer dem Gegenstande angemessen, geschrieben und angenehm zu hören; übrigens aber etwas kalt und nicht frey von Reminiscenzen aus seinen frühern Werken ist. Da die Oper fast gar keine ausgeführten Arien hat, so legte Hr. Brandt39, als Cäsare, die Hauptscene aus Pär’s Achilles40 ein, und sang diese vorzüglich gut.“41

Am 22. Oktober 1808 wurde die Oper im Theater an der Wien unter dem Titel „Cäsar auf Pharmacusa“ (deutsche Übersetzung von Treitschke) gegeben: „Wien. Uebersicht des Nov u. Dezbr.) Caesar in Pharmacusa, eine grosse Oper mit der Musik von Salieri, welche schon vor einigen Jahren in italien. Sprache hier, und in deutscher auf mehrern andern Bühnen, mit Beyfall gegeben worden ist, erschien jetzt auf’s Neue, aber in einer jämmerlichen deutschen Uebersetzung. Das meisterhafte Finale des zweyten Aktes und überhaupt die darin befindlichen Ensembles fanden indessen auch jetzt wieder den verdienten Beyfall, wozu jedoch Dem. Fischer42, Dem. Marconi43 und Hr. Radichi44 gewiss nicht wenig beytrugen.“45

37 Marianne Müller, geb. Hellmuth (1772 Mainz – 31. Mai 1851 Berlin) trat schon als Kind in Bonn öffentlich auf. 1787 war sie in Schwerin unter ihrem Mädchennamen als Schauspielerin tätig, 1789 bis 1816 war sie Mitglied der Berliner Hofoper. 1792 heiratete sie den preußischen Beamten Müller. 38 AmZ 7 (1804/05), No. 7, 14. November 1804, Sp. 111–112. 39 Wahrscheinlich Hermann Christoph Brandt (*1750 Bonn); zunächst Tenorist und Violinist an der Kurfürstlichen Kapelle in Bonn, gehörte er von 1780 bis 1784 der Großmannschen Gesellschaft an. 1803/04 war er am Hoftheater in Weimar engagiert, dann in Frankfurt am Main, 1807 kam er nach Mannheim. Im Oktober 1808 wurde er dort als Violinist in die Theaterkapelle übernommen. Seine Tochter Karoline – auch Sängerin – heiratete 1817 Carl Maria von Weber (1786–1826). 40 Ferdinando Paer (1. Juni 1771 Parma – 3. Mai 1839 Paris): „Achille“, Oper in 2 Akten. Erstaufführung: Wien, Kärntnertortheater, 6. Juni 1801. Text Giovanni de Gamerra (1745 Livorno – 29. August 1803 Vicenza). 41 AmZ 8 (1805/06), No. 15, 8. Januar 1806. Sp. 232. 42 Therese Josepha Fischer (1782–1854 Mannheim), später verehelichte Vernier, eine Tochter des Bassisten Johann Ignaz Ludwig Fischer (1745–1825), war vom 23. Juni 1807 bis 1814 Mitglied der Wiener Hof­ oper. Sie gastierte in Mannheim und Stuttgart und gründete 1835 in Wien eine Musikschule. 43 Marianne Schönberger-Marconi (22. Oktober 1785 Mannheim – 9. Oktober 1882 Darmstadt), Alt, war die Tochter des italienischen Kontrabassisten Alois Marconi, der in der Mannheimer Hofkapelle verpflichtet war. Sie heiratete 1809 den Maler Lorenz Adolf Schönberger (4. März 1768 Vöslau – 10. August 1846 Mainz). Salieri holte sie nach Wien, wo sie allerdings nur drei Jahre blieb. 44 Giulio Radicchi [Julius Radicki] (1763 – 16. September 1846 Wien), Tenor, war von 1808 bis 1819 und von 1826 bis zu seiner Pensionierung Mitglied der Hofbühne in Wien. Beethovens erster Florestan im „Fidelio“ verabschiedete sich 1829 mit einem Galakonzert und wirkte dann als Gesangslehrer. 45 AmZ 11 (1808/09), No. 17, 25. Januar 1809, Sp. 262.

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

1818 wird das Stück auf dem Haugwitzschen46 Theater in Namiest aufgeführt, 1991 (April/Mai) die Ouverture auf CD eingespielt.

2. Gesellschaftskonzert am 7. Jänner 1816 Dirigent: Raphael Kiesewetter47 Ludwig van Beethoven: 2. Symphonie D-Dur, op. 3648 Ferdinando Paer: Duett aus der Oper in zwei Akten „Sofonisba“49 Ignaz Moscheles50: Variationen für Pianoforte über ein Thema von Georg Friedrich Händel, op. 29 (1814) Antonio Salieri: 2 Chöre aus den „Danaiden“ Luigi Cherubini: Finale aus der Oper in 2 Akten „Elisa“ (= „Le Voyage du Mont Saint-Bernard“)51 Étienne Nicolas Méhul: Symphonie aus der Oper in 3 Akten „Ariodant“52 Salieris erster Chor aus den „Danaiden“ (III, 3) war „L’amour sourit au doux vainquer du Gange“, Allegretto, D-Dur, 2/4, 90 Takte (4 Hörner, 2 Flöten, 2 Oboen, Streicher, 2 Fagotte, Pauken), ein brillanter Chor, der durch Charme besticht. Und wie der zweite Chor zeichnet er sich durch Charakter, Melodie und gute harmonische Effekte aus. Chœur dansé L’Amour sourit au doux vainqueur du Gange. Ses traits les plus heureux, il les tient de sa main; Il foule avec lui la vendange, Et fait couler ses feux dans la pourpre du vin. Que le plaisir intarissable, 46 Heinrich Wilhelm Graf Haugwitz (30. Mai 1770 – 19. Mai 1842 Namiest), Kunstfreund und Tuchindustrieller, erhielt seine Ausbildung in Wien, sein Violinlehrer war Franz Kreibich (1728–1797). Er wurde der Gründer des Schloßorchesters in Namiest und Schönwald und errichtete ein Mustergut in Karlshof bei Namiest sowie 1795 zusammen mit Johann Baptist von Puthon († 22. August 1839) eine Feintuchfabrik in Namiest. 47 Raphael Kiesewetter (29. August 1773 Holleschau – 1. Jänner 1850 Baden bei Wien), Musikhistoriker, wurde 1814 Mitglied der Gesellschaft der Musikfreunde. Er veranstaltete in seinem Haus Liebhaberkonzerte. 48 Komponiert 1801/02. Erstaufführung unter Leitung des Komponisten im Theater an der Wien am 5. April 1803. 49 Ferdinando Paer (1. Juni 1771 Parma – 3. Mai 1839 Paris): „Sofonisba“, komponiert 1805. 50 Ignaz Moscheles (23. Mai 1794 Prag – 10. März 1870 Leipzig), Komponist, Pianist, Musikpädagoge. 51 Erstaufführung: Paris, Théâtre Feydeau, 3. Dezember 1794 (Text: Jacques-Antoine Baron de Reveroni Saint-Cyr, 5. Mai 1767 Lyon – 19. März 1829 Paris). 52 Étienne Nicolas Méhul (22. Juni 1763 Givet in den Ardennen – 18. Oktober 1817 Paris): „Ariodant“, Erstaufführung: Paris, Opéra Comique, 10. Oktober 1798. (Text: Benoît Hoffmann, 11. Juli 1760 Nancy – 25. April 1828 Paris).

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Au sein d’une tranquille paix, Coule pour nous à jamais D’une coupe inépuisable. Übersetzung Amor lächelt dem süßen Sieger vom Ganges zu, die glücklichsten Pfeile hält er in seiner Hand, er selbst keltert die Trauben und läßt sein Feuer in den Purpur des Weines fließen. Damit die unerschöpfliche Freude Im Busen eines ruhigen Friedens Immer für uns mit einer nie versiegenden Quelle fließt.53

Salieris zweiter Chor aus den „Danaiden“ (V, 4, Chœur des Danaides, Plancippe) war „Gloire, Evan, Evoé – Ô Bacchus, Evoé“, Allegro assai e fiero, C-Dur, 4/4; Besetzung: Coro (2 Soprani, Alto), Plancipe (Sopran), 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Klarinetten, 3 Posaunen, Timpani, Streicher, Basso continuo, 109 Takte. Es ist ein tobender Chor der Bacchantinnen, der die Schrecken und Qualen des Tartarus mit flammender Phantasie malt: Les Danaides Gloire, Evan, Evoé, Bacchus, ô Dieu puissant! Terrible & bienfaisant! C’est toi que la Bacchante appelle! Le Citheron s’ébranle à ses cris furieux; Dans sa Main le fer étincelle, La mort suit l’éclair de ses yeux. Übersetzung Gloria! Gloria, Evan! Evohé! Bacchus, mächtiger Gott, grausam und gütig zugleich, dich ruft die Bacchantin. Der Kytheron54 hallt wider von ihren wilden Schreien. In ihrer Hand blitzt der Dolch, Tod verheißt der Blitz in ihren Augen.55

Salieris tragédie-lyrique en cinq actes „Les Danaides“ wurde am 26. April 1784 in der Académie Royale de Musique in Paris uraufgeführt. Das Libretto stammt

53 Hier wurde der Chor vorgespielt. 54 Kythera ist eine griechische Insel vor der Süd-Küste Lakoniens auf der Peloponnes. Manche griechische Mythen erzählen, Aphrodite sei dort an Land gegangen, nachdem sie aus dem Meeresschaum geboren worden war: daher wurde sie manchmal „Kythereia“, die „Cyprische“, genannt. 55 Hier wurde der Chor vorgespielt.

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

von du Roullet56 und Baron de Tschudi57 nach dem Libretto „Ipermestra e le Danaidi“ (1778) von Ranieri de’Calzabigi58. Teile des Stückes wurden Gluck59 zugeschrieben, weil man sich von dem damals berühmten Komponisten sofortigen Erfolg versprach. Doch nach der Uraufführung erklärte Salieri, daß die ganze Oper von ihm sei. Sie wurde bald in Paris bei Des Lauriers gestochen und gedruckt, Artaria vertrieb sie in Wien. 1784 verdiente Salieri mit der Oper 16.200 livres, eine wahrhaft gewaltige Summe für einen Musiker, der sich in Frankreich zum ersten Male hatte hören lassen. Der Pariser Auftrag hatte ihm sowohl Ruhm und Ehre, als auch finanziellen Erfolg gebracht. Von 1784 bis 1827 gab es in Paris 127 Aufführungen von „Les Danaides“, die Einnahmen betrugen in diesem Zeitrum 85.423 livres und 8 sols sowie 406.264 francs und 8 centimes, wodurch die Oper zu den einträglichsten dieser Zeit gehörte. (Eine Neuinszenierung in vier Akten fand am 20. Oktober 1817 in der Académie Royale de Musique statt.) „Les Danaides“ sind eine große Chor- und Ballettoper. Gefordert werden 50 Töchter des Danaus – es sangen wirklich 35 – und 50 Söhne des Égyptus – es agierten real 38 (folglich gab es 73 Choristen). Dazu kamen noch Garden, Krieger, Volk und Dämonen. – Es tanzten 16 Töchter des Danaus und 16 Söhne des Égyptus, dazu gesellten sich noch 12 Dämonen, folglich waren es 46 Tänzer.

12. Gesellschaftskonzert am 3. Mai 1818 Dirigent: Vinzenz Hauschka Ludwig van Beethoven: 1. Satz aus der Symphonie Es-Dur op. 55, „Eroica“60 ­Joseph Leopold Edler von Eybler: Vierstimmiger Chor61 John Field62: Wohl eines seiner Es-Dur-Klavierkonzerte aus dem Jahre 1815

56 François Gand-Leblanc Du Roullet (10. April 1716 Normanville bei Yvetot, Seine Martime – 2. August 1786 Paris), Schriftsteller. 57 Jean-Baptiste-Louis-Théodore de Tschudi (15. August 1734 Metz – 7. März 1784 Paris), Schriftsteller, Naturwissenschaftler und Politiker. 58 Ranieri Simone Francesco Maria da’Calzabigi (23. Dezember 1714 Livorno – Juli 1795 Neapel), Schriftsteller und Librettist, kam 1761 von Paris nach Wien und wurde hier der geistige Vater und eigentliche Inspirator der antimetastasianischen Oper. Wegen eines Theaterskandals kehrte er nach Italien zurück, lebte 1774 in Livorno und dann bis zu seinem Tod in Neapel. 59 Christoph Willibald Gluck (2. Juli 1714 Erasbach/Berching in der Oberpfalz – 15. November 1787 Wien), Opernkomponist, Reformator der Oper. 60 Komponiert 1804/04. Erste öffentliche Aufführung: Wien, Theater an der Wien, 7. April 1806. 61 Joseph Leopold Edler von Eybler (8. Februar 1765 Schwechat bei Wien – 24. Juli 1846 Wien) wurde am 16. Juni 1824 in der Nachfolge Salieris 1. Hofkapellmeister. Chor: „O Heil euch“ aus den „Vier letzten Dingen“, Autograph: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde. 62 John Field (26. Juli 1782 Dublin – 11. Jänner 1837 Moskau), Pianist und Komponist.

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Camillo Orlandi63: Arie mit Chor Ferdinand Bogner64: Variationen für Flöte Antonio Salieri: Kantate „Das Lob der Musik“. Vorgetragen von den Zöglingen der Singschule. Salieri komponierte im März 1818 die kleine Chorkantate „Das Lob der Musik“, eine seiner letzten groß dimensionierten Kompositionen. Auffallend ist, daß die Harmonik des Chores bisweilen frühromantisch erscheint. Die ausgedehnte Schlußfuge erreicht auch entfernte Tonarten. Salieri zeigt sich hier als Meister des Kontrapunkts. Die erhabene Coda verbreitet dann den obligaten Glanz.65 Chorkantate „Das Lob der Musik“ Es schallen, Kunst der Töne, / dir Lobgesänge hier! Erhabne, Milde, Schöne, / dich preisen wir! Du stimmst zu sanften Trieben / der Erde rohen Sohn: Du lehrst ihn seine Brüder lieben / und hebst sein Herz zu Gottes Thron. Um die Tugend, um die Freude / schlinget sich ein glänzend’ Band; dir zur Seite schweben beide, / beide reichen dir die Hand. Du rufst mit deiner Stimme Macht / den kühnen Krieger in der Schlacht. Du wandelst in Elysium / der Erde düstre Täler um. Es schalle, Kunst der Töne, / dir lauter Jubel hier! Erhabne, Milde, Schöne, / dich preisen wir!66

63 Camillo Orlandi trat 1616 in die Dienste des Salzburger Fürsterzbischofs und widmete Markus Sittikus von Hohenems (1574 Hohenems – 9. Oktober 1619 Salzburg, Fürsterzbischof von 1612 bis 1619) seine Arien a tre, due et voce sola (Venedig 1616) nach Dichtungen von Alessandro Becelli, Alberto Fabriano und Dionisio Lazari (RISM O 107). 64 Ferdinand Bogner (9. Dezember 1786 Wien – 24. Juni 1846 Wien), Flötist und Musikpädagoge, war zunächst Kanzlist der Hofkammer und wurde auf Grund seiner erfolgreichen Auftritte als Flötist 1821 Professor am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde. Mit Schubert war er spätesten seit Jänner 1819 bekannt. 65 Autograph: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung. Kritische Edition von Jouka Herrmann. 66 Das Werk wurde hier vorgespielt. Aufnahme: Mozart-Salieri-Gala am Sonntag, den 20. März 2011, im Rosengarten Mannheim im Mozartsaal anläßlich der Grammy-Nominierung des Mannheimer Mozart­orchesters. Mannheimer Mozartchor, Leitung: Thomas Fey.

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Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Scuola die Canto Im Brief vom 27. April 181667 schrieb Salieri an Ignaz von Mosel68: „Sul momento ch’io stavo metter in ordine le promesse Regole onde formar una scuola fondamentale di Canto ad uso della compagnia dei Dilettanti.“69 Wie aus dem zitierten Satz ersichtlich, ist sie im Frühjahr/Sommer 1816 entstanden und für die Wiener „Musikalische Dilettantengesellschaft“ geschrieben, und wie aus Salieris Vorbemerkungen hervorgeht, ist das Lehrbuch für die „gioventù tedesca“ gemacht. Daß es lebhaft benutzt wurde, beweisen Prüfungsaufgaben für das Konservatorium des österreichischen Kaiserstaates, das am 1. August 1817 in Wien eingeweiht wurde. Das Lehrbuch stellt in der Musikgeschichte ein einmaliges Kuriosum dar: die Regeln für die Lernenden sind nicht nur textlich fixiert, sondern noch dazu vertont. Der Schüler sollte sich durch diese Methode die Regeln besser merken können. Aus diesem Grunde hat Salieri die Vertonung des Lernstoffes so simpel gestaltet. Er verfolgte damit das pädagogische Ziel, daß durch einfache, aber sehr ins Ohr gehende Melodien die Schüler die trockenen Lehrsätze besser behalten sollten. Die Binsenwahrheiten der Regeln läßt er dabei oft in Kanons vortragen; ein Musterbeispiel dafür ist der Kanon „Chi vuol cantare non dee ballare“. Seine Gesangsprinzipien sind zweisprachig aufgebaut: zunächst italienisch konzipiert, dann sehr holprig ins Deutsche übersetzt. Methodisch läßt sich die „Scuola di Canto“ in 13 Paragraphen gliedern. § 1: Beschreibung der Notenlinien, Noten, Schlüssel, Tonarten. Wichtig ist der Umfang, den Salieri jeder Stimme abverlangt: Sopran c1–a2, Contra-Alt g–c2, Tenor c-a1, Baß F-f1. § 2: Er behandelt Taktstrich, Ligatur, Aushaltung (corona) und Appoggiatur. § 3: Vortragsanweisungen für Vokale. § 4: Beschreibung der Gestalt jeder Note mit ihrem Wert und ihrer Aushaltung. § 5: Bedeutung des Kreuzes und Doppelkreuzes. 67 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung, Signatur: 7/99. 68 Ignaz Edler von Mosel (2. April 1772 Wien – 8. April 1844 Wien), Komponist, Dirigent und Musikschriftsteller, spielte im Wiener Musikleben eine bedeutende Stellung und zählte zu den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft der Musikfreunde. Er war 1812 der erste Dirigent, der in Wien einen Taktstock benützte. Seit 1821 war er Vizedirektor der Hofbühnen und ab 1829 erster Kustos der k. k. Hofbibliothek. Er schrieb Opern, Lieder und Psalmen und verfaßte u. a. „Ueber das Leben und die Werke des Antonio Salieri“ (Wallishausser, Wien 1827, Neuausgabe von Rudolph Angermüller, Bad Honnef 1999). Sein Nachlaß befindet sich in der Musiksammlung der Wiener Nationalbibliothek. 69 Die „Scuola di Canto in versi e i versi in musica a 4 voci / il tutto composto da me Ant. Salieri“ befindet sich heute in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Signatur: 915).

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§ 6: Bedeutung der Wiederholungszeichen und der Fermate. § 7: Spricht über zwei Noten, die auf eine Silbe gesungen werden. § 8: Zeigt den Sinn der Synkope. § 9: Behandelt das Problem des Kreuzes und des B’s und ihre Auflösungsmöglichkeiten. § 10: Solfeggio-Regeln. § 11: Anleitungen zu einem vortrefflichen Gesang. „Man muß stehen bleiben, mit freyem ungezwungenen Gliedern: die Brust muß heraus, und das Gesicht ein wenig in die Höhe gehoben werden. Man muß den Mund gut, aber mit Anstand und Grazie öffnen. Die Stimme muß auf den Ton getragen nicht gezeret werden; und bey allen vocalen auf das deutlichste heraus gehen. Das Ohr muß auf die reinste Intonation aufmerksam seyn. An seinem Platze muß Athem geholt werden, man muß wissen ihn mit Vernunft herauszulassen und an einem kritischen Orte ihn mit Macht wieder einzuziehen. Das Tempo und die Bewegung ist immer im Gedächtnisse zu behalten. Der Sinn der Worte genau zu verstehen: sie rein, und auf die verständigte Art auszusprechen, und das ganze mit einem Ausdruck zu bekleiden. Wer diese Dinge beobachtet, ist der vollkommenste und wer auf sie nicht achtet der schlechteste Sänger.“

Nach Salieri „wird Atem auf drey Arten gehohlt und diese nennt man ganzen, viertel und halben. – Um dann zu unterschieden das wo und wie, giebt bloss der Vernunft die Regel.“ – Die letzten beiden Paragraphen sind: § 12: Lehre von den Intervallen. § 13: Über die Modi und Tempi. Für die Gesangsmethode der Zeit zwischen 1780 und 1830 ist die Gesangsschule nicht nur ein historisches Dokument, sondern auch für unsere Zeit ist sie sowohl für den ausführenden Sänger als auch für den Gesangspädagogen in vielen praktischen Fragen (Appoggiatur, Triller etc.) sehr klärend und instruktiv. Per La Prefazione della Scuola di Canto Si troverà strano che si voglia insegnare cantando i precetti del Canto, avanti che lo scolaro abbia almeno qualche cognizione delli primi elementi nella musica. In risposta di ciò si prega di far imparare a orecchio le prime Lezioni nella scuola proposte, ed il resto, non se dubiti, verrà di giorno in giorno da sè facilmente. Gran vantaggio ha portato per imparare a suonar il Pianoforte, ed altri strumenti, lo scriver sulle note per li principianti le dita colle quali si devono pigliare. Grand’utile porterà col tempo il Metronomo per chi avrà il giudizio di servirsene per suonar o cantar in misura. Forse che faciliterà l’imparar presto a cantar bene la presente Scuola. Si è sempre detto ars longa, vita brevis: ma se i Maestri delle Arti e anche delle Scienze cercheranno solidi, chiari e sicuri fondamenti, il provverbio perderà a poco a poco la sua scoraggiante verità. 68

Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Perché sono così rari li buoni cantanti in Germania ? Ecco intanto una delle ragioni principali: La fatale ostinazione nei maestri nazionali d’insegnare a nominar le note cantando c, cis, dis, fis, gis, as, etc. In fatti, come pretender che la voce sorta chiara, pura, sonora, ancora pronunziando sillabe simili ? Si dia la preferenza dunque al do, re, mi, fa, sol, si, la si crede l’antica delle sole sei sillabe, do, re, mi, fa, sol, troppo difficile per la musica moderna, come realmente lo è. Questa Scuola essendo fatta per la gioventù tedesca, l’autore ha creduto fra alcune denominazioni poter scegliere quelli che maggiormente s’approssimano alle più comuni della scuola musicale della Germania. S’invita li Scolari a imparare a memoria la prefazione per aver un’esercizio doppiamente utile al loro studio. È noto che di tutte le lingue, l’italiana è la più favorevole al Canto. Si è dunque data la preferenza a questa le presenti Regole, e l’autore prega di farne diligentissimo studio. (L’uso, in parte buono in parte cattivo, ha introdotto alcune convenzioni che si staccano dalle antiche Regole: per esempio, la Stanghetta anticamente divideva non solo la battuta, ma rimetteva in valore li diesis o li Bemolli del modo, ossia Tuono, che potessero esser stati levati nelle battute antecedenti. L’uso dunque ha introdotto presso alcuni Compositori che, se una nota che finisce una battuta è simile alla nota che comincia la battuta seguente, resti dello stesso suono, se anche, secondo l’antica Regola, abbisognasse di diesis di Bemolle e di Bequadro.) Imparate che avranno li Scolari in pieno le Regole soprascritte in versi etc. Dovranno poi passare ciascuno particolarmente sotto la scuola di un Maestro che insegnerà a loro le Regole di cantar a solo, cioè render regolatamente agile la voce, e studiar le al­ tre parti del canto come il trillo, li mordenti etc. Ma è più che certo, che istruiti delle prime Lezioni sopradette, troveranno la più gran facilità per imparare il restante. – Non si tralasci però, con la scuola di canto, di far imparar a ogni principiante d’ambo i sessi a suonar il P. f. prima regolatamente il genere di galanteria per il portamento di mano, e poi dopo tre ô quattro mesi il Basso generale. Uno studio deve ajutar l’altro. Ma una cosa necessaria trovo per questi Scolari di Canto, che imparino a suonare il P f. Se non tengono un Leggio, che proporzionatamente alla loro statura li obblighi a legger la musica colla testa alquanto alzata, il tempo che consumeranno nello studio di tale istromento, sarà svantaggioso al petto loro perché ogni persona che si dedichi al canto, deve cercar tutti i mezzi affinché lo studio d’altro genere non istanchi la parte del suo corpo più necessaria per cantare: anzi consiglio li Scolari d’ambo i sessi a metter in pratica tal consiglio, e ai maestri loro di farlo continuatamente osservare. Per la scelta d’un maestro di lingua etc. Questi, non solo deve esser Italiano di nascita e di educazione, ma deve esser di paese dove si parla l’italiano puro e osservare in quanto è possibile il proverbio: Lingua toscana in bocca romana. In fine su tal punto si deve pensare che altra cosa è l’insegnare e insegnare una lingua per semplicemente mercanteggiare ed altro è l’insegnare e l’impararla per farne uso in pubblico. Chi canterà bene in italiano, canterà bene anche in altre lingue, parlo soltanto di ciò che riguarda il Canto. Si dirà forse ancora che queste Regole in versi si ponno più facilmente declamare senza cantarli. Rispondo, che li per li principianti della lingua italiana sarà molto più facile di pronunziar bene cantando, che parlando semplicemente. Si provi obbligar uno scolaro imparar a pronunziar bene senza musica per esempio l’articolo: Per ben cantar son queste le necessarie Regole, e ad un secondo scolaro si faccia cantar lo stesso articolo. Si vedrà che il primo appena in otto giorni sarà capace di dir qualche verso senza errore, ed il secondo in due buone lezioni canterà e pronunzierà bene il 69

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tutto. Ne ho fatto la prova. E poi il mio fine è d’insegnar al giovine discepolo tedesco di parlar bene cantando più che parlar senza musica. La Nota facilita la sillaba, e la sillaba ben pronunziata rinforza e schiarisce la voce, e a poco a poco accostuma a cantar con espressione e forza in tutti i generi. È noto che la lingua italiana è di tutte la più amena e facile per il Canto, e perciò la prescelta in tutta l’Europa per tal genere di musica. Per la stessa ragione si raccomanda tale scuola alla gioventù tedesca se vuole procurassi il vantaggio di cantar per tutto in italiano, senza far rider la gente con difetti di lingua. Credo che sarà fino vantaggioso di far imparare a memoria alli scolari in forma di Lezione di lingua, tutta questa prefazione, perché contiene ancora dei precetti di Canto. E credo, inevitabile un poco di noja nello studio d’una scuola così indispensabilmente complicato. Per diminuire dunque tal noja ho pensato d’intrecciar molti articoli con piccioli Coretti di parole o morali, o decentemente allegre: e prego gli Scolari, quando saranno fuori della Scuola, di non cantarne mai d’altro genere. Anche la scelta dei Ragazzi e Ragazze che vogliono imparare il Canto è una cosa degna di riflessione. Sanitá e perfezione di corpo in generale, petto forte e largo: Voce intuonata e priva dei difetti di gola e di naso: Agilita e trillo naturale. Queste due ultime qualità, se mancano, manca molto, ma nella Scuola presente si troverà la regola per renderle il male meno sensibile. Si trova alle volte delle voci belle estese e molto forti, ma appunto perché molto forti, difficili a muoverle non si escludine però potendo esser di grand’effetto nel genere parlante: ma si cerchi di guadagnar con l’arte, parlo almeno di ciò che negato la natura. Perché manca quasi sempre qualche cosa fino ai più celebri compositori, cantanti o suonatori ? Quel compositore ha bellissime idee, ha dell’espressione, ma le sue composizioni mancano di purità d’armonia; i generi non sono abbastanza distinti o rispettati. L’altro scrive benissimo secondo le regole grammaticali della musica, ma è secco; modula senza gusto, senza necessità, o quando dovrebbe modulare resta monotono, ha un solo stile di musica per tutti li generi di poesia. Quel cantante ha una bella voce, agile, intuonata: ma il tempo e quasi sempre ad libitum, li passaggi o sono contro l’accompagnamento o contro le parole, e spesso contro l’uno e l’altra punto; strascina la voce in luogo di portarla, rompe il senso delle parole e del canto per prender fiato, o lo piglia convulsivamente; declama falso. Il suonator di stromento d’arco cade in molti simili errori riguardo il tempo, l’applicazione dei passaggi, la maniera di portar il tuono del suo istromento etc. Il suonatore di stromento di fiato fa pena sempre a presso a poco a poco per le stesse ragioni. Credo dunque che la Scuola presente prudentemente studiata potrà essere utile a’ principianti come pure a persone avanzate nell’arte. Dopo aver ben pensato ho risolto di servirmi della Solmisazione moderna, come la meno difficile ora che la musica è piena di continue modulazione e d’intervalli, se non poco cogniti almeno pochissimo usati dagli antichi. Tutti li mei Canoni serviranno alla stessa Scuola. Niente di più utile particolarmente alli Soprani che un’esercizio di composizioni simili. Si sa che in un Duetto, terzetto, o quartetto etc. la parte più alta e la più facile ad eseguirsi perché la cantilena è la più naturale, ma non è, ne può esser lo stesso con le altre parti; perciò … Già fino nelle parole di alcuni di questi Canoni si trovan dei precetti di Canto, come in quello per esempio che dice: Chi vuol cantare non dee ballare etc. 70

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Ciò che si chiama Recitativo Ha le sue Regole Ma un poco oscure. Quello che devesi Però sapere. Si è che di raro Si canta in tempo, Che non la Nota, Ma la parola, Dà il movimento. Oltre di questo Le appoggiature, Se non son scritte, Sono arbitrarie E sol dipendono Dal proprio gusto. Ma per intendersi Più chiaramente Passiam adesso A qualche esempio.

Wie aus Salieris Vorwort zu seiner Gesangsschule hervorgeht, gab er folgende Ratschläge: Für Sänger ist es von Vorteil, wenn sie Klavierspiel oder andere Instrumente beherrschen. Nützlich ist auch ein Metronom. Die deutschen Bezeichnungen c, cis, dis, fis, gis, as etc. sollen durch italienische ersetzt werden (do, re, mi, fa, sol, la, si). Italienisch ist die geeignetste Sprache für den Gesang. Es soll ein reines italienisch gesprochen werden, frei nach dem Motto „lingua toscana in bocca romana“. Wer gut italienisch singt, wird auch in anderen Sprachen gut singen. Um gut zu singen, bedarf es eines gesunden Körpers (starke und weite Brust). Kranke Kehle und Nase hindern am guten Singen. Wenn die Appoggiaturen nicht ausgeschrieben sind, sind sie willkürlich auszuführen, sie hängen dann vom eigenen Geschmack ab. Zum Abschluß möchte ich ein Blatt zeigen, das aus der Rudolf-Nydahl-Sammlung stammt und heute in der Stiftelsen Musikkulturens Främjande in Stockholm aufbewahrt wird. Diese Seite gehört zur Scuola di Canto:

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Nydahl (1882–1973) studierte Anfang des 20. Jahrhunderts Musik am Pariser Conservatoire und betrieb dann eine von seinem Vater ins Leben gerufene Wein- und Spirituosenhandlung. 1920 wurde von ihm eine Music Foundation ins Leben gerufen, die Musikmanuskripte (Briefe und Noten) sowie historische Musikinstrumente umfaßt. Die Sammlung verfügt über 550 alte Instrumente, davon 75 Tasteninstrumente. Auch enthält sie 6172 autographe Briefe. 1995 erschien ein „Catalogue of music manuscripts“, erstellt von Bonnie und Erling Lomnäs, 1999 ein „Catalogue of letters and other documents“, besorgt von Bonnie Lomnäs. Das hier gezeigte Blatt zeigt die Ausführung der 1) „Messa di voce“ im 1. Takt sowie des 2) „Trillo“ samt 3) der „Scaletta“ (der Skala) im 2. (bis 3.) Takt, und diese sowohl aufwärts als auch abwärts auf verschiedenen Tönen – „Tutti a piacere“ (alles nach Belieben). Danach folgen zwei Triller mit Nachschlag und folgendem höheren Ton sowie Hinweise, daß man dieses Aufsteigen auch zu anderen Intervallen bzw. Sprüngen durchführen kann, ehe Salieri Beispiele für den Trillo samt Scaletta in der Dezime (auf mehreren Tonstufen) anschließt. 72

Antonio Salieri und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Die „Messa di voce“ ist die Bezeichnung für eine dynamische Gesangsverzierung bei lang ausgehaltenen Noten, die in der Zeit des italienischen Belcanto sehr beliebt war. Sie besteht aus einem allmählichen Anschwellen des Tones vom zartesten Pianissimo bis zum stärksten Fortissimo und einem entsprechenden Abschwellen bis zur Ausgangslage und ist Grundlage des dynamischen Vortrages. Besonders gern wurde sie von Mozart benutzt.

Anhang70

70 Die zu Beginn des Artikels erwähnte Warnung Salieris vor der „maniera languida, smorfiosa“. Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Signatur 19696/14.

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Uraufführungen Schubertscher Werke zu dessen Lebzeite

Walther Brauneis (Wien) Uraufführungen Schubertscher Werke zu dessen Lebzeiten in den Veranstaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde des österrei­ chischen Kaiserstaates Eine Leermeldung? Zumindest aber: Die Verifizierung der ersten öffentlichen Aufführung der [Kleinen] Symphonie C-Dur [Nr. 6], D 589, durch die Gesellschaft der Musikfreunde Vorbemerkung: Mehrfach wurden die Gesellschaftsakten im Archivbestand der Gesellschaft der Musikfreunde statistisch nach Komponisten und deren aufgeführten Werken ausgewertet, so 1861 von dem Archivar, Musikhistoriker und Komponisten Carl Ferdinand Pohl oder zuletzt 1964 für Schubert von Otto Erich Deutsch, ohne dabei zwischen Uraufführung und Erstaufführung zu unterscheiden. Der Grund dafür liegt wohl in der schwierigen terminologischen Quellenlage, denn schon in dem das Maß aller Dinge festschreibenden „Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm“ heißt es zum Stichwort „Uraufführung“: „die allererste Aufführung eines dramatischen oder musikalischen Werkes […], zum Unterschied einer Erstaufführung, die nur die erste Aufführung eines solchen Werkes an einer bestimmten Bühne oder an einem bestimmten Orte bezeichnet.“ Aber wo sollte man über die „allererste“ Aufführung Gewißheit erlangen, bei einem Komponisten, der seinen künstlerischen Lebensmittelpunkt in den biedermeierlichen Salons seines Freundeskreises gefunden hatte. Daher die Fragestellung: Eine Leermeldung? Die Frage nach Uraufführungen von Werken Franz Schuberts zu dessen Lebzeiten im Rahmen des vielgestaltigen Konzertangebots der 1812 durch Joseph Sonnenfels initiierten Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates erscheint legitim, wenngleich sie schlußendlich eine kärgliche Ausbeute erbringt. Schuberts „first impact“ mit der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates erfolgte wenige Tage nach seinem 21. Geburtstag: Am 5. März 1818 bewarb er sich um Aufnahme als „ausübendes Mitglied“ in der Sparte „Begleitung von Singstücken am Klavier“. Gleichzeitig machte er sich unter Berufung auf seinen Unterricht bei Antonio Salieri erbötig, „eigene ausführbare Werke zu liefern“. Der Zeitpunkt der Bewerbung scheint gut gewählt zu sein, denn ab 1818 werden den Mitgliedern neben den bereits 1815 begründeten Gesellschaftskonzer75

Walther Brauneis (Wien)

ten sogenannte „Musikalische Abendunterhaltungen“ angeboten, die mit ihrem gemischten Programm jenen zahlreichen Privatveranstaltungen in vertrautem Freundeskreis ähnelten, in denen Schubert bislang sein Publikum gefunden hatte. Zweifellos sah Schubert in diesen Abendunterhaltungen eine neue Möglichkeit, seine Werke einem größeren Kreis von Musikliebhabern bekanntzumachen. Schuberts Erwartungen wurden allerdings enttäuscht. Im Sitzungsprotokoll des Leitenden Ausschusses vom März 1818 heißt es lapidar: „da H:[err] Schubert kein Dilettant ist, bedauert die Gesellschaft ihn nicht als Mitglied annehmen zu können“. Diese Begründung hat zu der Überlegung geführt, Schubert wäre, da Komponist und Musiker, nicht als Dilettant verstanden worden, was sich aber durch den Hinweis in den Statuten von 1814 auf die Möglichkeit von Bewerbungen durch Professoren der Musik selbst ad absurdum führt. Aber vielleicht steht hinter dieser Formulierung ganz einfach das mangelnde Vertrauen in die pianistischen Fähigkeiten des ehemaligen Hilfslehrers an der Grundschule am Himmelpfortgrund, heißt es doch dazu in den Statuten: Der Bewerber müßte es „zu dem Grade der Vollkommenheit gebracht haben, welcher nothwendig ist, um […] zur vollkommenen Aufführung mitwirken zu können […].“1

Schubert bei den Musikalischen Abendunterhaltungen Nach Erreichung der Großjährigkeit – nach dem „Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch“ von 1811 also mit 24 Jahren – bewarb sich Schubert neuerlich um Aufnahme als ausübendes Mitglied in die Gesellschaft der Musikfreunde, diesmal als Bratschist und Pianist. Hilfreich waren dazu möglicherweise drei „Zeugnisse“ namhafter Vertreter des musikalischen Wien vom Jänner 1821.2 Aufgenommen wird Schubert nach den handschriftlichen Matrikeln der Gesellschaft der Musikfreunde von 1844 als ausübendes Mitglied im März 1822.3 Äußeres Zeichen für Schuberts Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft der Musikfreunde ist wohl die bereits ab dem 25. Jänner 1821 zu konstatierende Präsenz seiner Vo1 Nur nebenbei sei erwähnt, daß schon zuvor Schuberts Bemühungen vom Anfang April 1816 um eine Anstellung als Musikdirektor der Philharmonischen Gesellschaft in Laibach (heute: Slovenska Filharmonija Ljubljana) erfolglos endeten. Drei Jahre später muß es einen neuerlichen Versuch um eine bisher nicht identifizierte Anstellung als Kapellmeister gegeben haben, denn wozu hätte das Zeugnis vom 21. September 1819 von Antonio Salieri denn sonst dienen sollen. Offensichtlich ist auch dieses Ansuchen von dem unbekannt gebliebenen Adressaten negativ beschieden worden. 2 Die drei „Zeugnisse“ zu Schuberts Kompositionstalent stammen von Ignaz Franz von Mosel vom 16. Jänner 1821, Hofmusikgraf Moritz Joseph von Dietrichstein vom 24. Jänner 1821 und Hofoperndirektor Josef Weigl gemeinsam mit Hofkapellmeister Antonio Salieri vom 27. Jänner 1821. 3 Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Handschriftliche Matrikeln der Gesellschaft von 1844.

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Uraufführungen Schubertscher Werke zu dessen Lebzeite

kalwerke bei den Musikalischen Abendunterhaltungen.4 Diese Abendunterhaltungen sollten den Zuhörern ein gemischtes Programm von Vokal- und Instrumentalmusik in überwiegend kleiner, kammermusikalischer Besetzung bieten. Bei dem an diesem Abend auf dem Programm stehenden „Erlkönig“, D 328, hat es sich allerdings um keine Uraufführung gehandelt, um dieses leidige Thema gleich einmal anzusprechen. Schauplatz der Musikalischen Abendunterhaltungen war seit dem Frühjahr 1820 der Gundelhof, ein belebtes Alt-Wiener Durchhaus zwischen Bauernmarkt und Brandstätte, das in den Jahren nach dem Wiener Kongreß zum „hot spot“ bürgerlicher Musikkultur geworden war. Hierher hatte die Gesellschaft der Musikfreunde nach Anfängen im Haus „Zum roten Apfel“ in der Singerstraße und im Müllerschen Gebäude am Donaukanal ihren Vereinssitz verlegt. Mag sein, daß Joseph Sonnleithner die Nähe seines Bruders Ignaz Sonnleithner gesucht hatte, der im „Gundelhof“ seit Mai 1815 im dritten Stock in seiner mit ihren zehn Zimmern als herrschaftlich zu bezeichnenden Wohnung regelmäßig, als „Musikalische Uibungen“ benannte Konzerte veranstaltete. Zuvor, 1817, war in eben dieses Haus Vinzenz Neuling als neuer Hausherr eingezogen, dessen Vater mit der Tochter des Mozart-Biographen Franz Xaver Niemetschek verheiratet war und der gleichfalls bis 1822 zu musikalischen Abenden zu sich einlud. Im Frühjahr 1818 kam noch Otto Hatwig dazu, der hier im Gundelhof mit seinem Liebhaberorchester Schuberts „Kleine Symphonie C-Dur“ [Nr. 6], D 589, in privatem Kreise aufführte, noch kurz bevor er aus gesundheitlichen Rücksichten die Leitung des mit Schubert und dessen Bruder Ferdinand eng verbunden Orchesters abgeben mußte. Die sich aufdrängende Frage, ob nicht im Sinne eines Synergieeffekts auch Joseph Sonnleithner, Vinzenz Neuling und Otto Hatwig – oder zumindest einer von ihnen – die etwa 120 Personen fassende, entsprechend eingerichtete Wohnung von Ignaz Sonnleithner für ihre Produktionen genutzt haben, muß unbeantwortet bleiben. Ob mit oder ohne Bruderzwist im Hause Sonnleithner, im Frühjahr 1822 verläßt die Gesellschaft der Musikfreunde den Gundelhof, angeblich gekündigt wegen Lärmbelästigung durch die Übungen der Vokal- und Instrumentalklassen des Konservatoriums. Für ein halbes Jahrhundert wurde nun das Haus „Zum roten Igel“, das als Durchhaus die Tuchlauben mit dem Wildpretmarkt verband, die neue Wirkungsstätte der Gesellschaft der Musikfreunde. In der Beletage hatte man von Franz Xa4

Bibliothek der GdM, Sign. 2697/32: Programme der Musikalischen Abendunterhaltungen (1818–1840 und 1856).

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ver Graf von Kolowrat eine Wohnung mit sechs Zimmern samt Nebenräumen angemietet. Zwei weitere Wohnungen sollten helfen, den ständig wachsenden Platzbedarf zu lindern. Für die Musikalischen Abendunterhaltungen war wohl durch Entfernen der einen oder anderen Zwischenwand Raum geschaffen worden, die nun – wie es in den Gesellschaftsakten ganz ausdrücklich heißt - „im Concertsaale des Musik-Conservatoriums im rothen Igel“ stattfanden. Daß dieser „kleine Vereins-Saal“ kein Konzertsaal im herkömmlichen Sinne war, erweist sich immer wieder aus Formulierungen in Konzertankündigungen, wo im Gegensatz dazu von den Gesellschaftskonzerten im Großen Redoutensaal die Rede ist. Erst nach Schuberts Tod kann die Gesellschaft der Musikfreunde das Haus „Zum roten Igel“ erwerben und 1829/31 auf diesem Grundstück einen eigenen Konzertsaal nach Plänen von Carl Högl erbauen lassen, der nach dem Bezug des neuen Hauses am Karlsplatz noch ein halbes Jahrzehnt als Theater unter den Tuchlauben bzw. Stampfertheater weiterexistierte. Merkwürdigerweise hat die Gesellschaft der Musikfreunde nie eine Innenansicht dieses Konzertsaals in Auftrag gegeben und auch nie daran gedacht, diese traditionsreiche Stätte durch eine Gedenktafel zu markieren. Eine ausführliche Studie zur Baugeschichte dieses ersten Konzertsaals in Wien hat Anna Schirlbauer in den „Wiener Geschichtsblättern“ veröffentlicht. Große Konzertveranstaltungen dagegen wurden nach wie vor im Großen Redoutensaal abgehalten. Aber kehren wir zu jenem 25. Jänner 1821 zurück, an dem Schuberts erstmalige künstlerische Präsenz bei einer Musikalischen Abendunterhaltung dokumentiert ist. Aus der 1978 von Otto Biba vorgelegten Zusammenstellung der SchubertAufführungen in den „Musikalischen Abendunterhaltungen“ wird deutlich, daß Schuberts Vokalwerke bis zu seinem Tod in ständig steigendem Maße in die insgesamt 116 durch Konzertprogramme nachweisbaren Veranstaltungen Aufnahme gefunden hatten. Innerhalb dieses Zeitrahmens werden 24 seiner Vokalwerke aufgeführt, wovon zehn zweimal, zwei dreimal und eine – es ist „Die Sehnsucht“, D 636 – sogar viermal auf dem Programm stehen. Ob Schubert eine seiner Liedkompositionen selbst am Klavier begleitet hat, läßt sich vorerst nur für den 8. März 1828 nachweisen, weil die Klavierbegleiter in den Programmen nicht genannt werden. Ebensowenig ist zweifelsfrei festzustellen, welche dieser Kompositionen im Rahmen dieser Musikalischen Abendunterhaltungen ihre Uraufführung erlebte. Vorsichtig kann man alle jene Kompositionen ausschließen, deren Niederschrift um Jahre gegenüber der Aufführung zurückliegt. Aber auch wenn Niederschrift und Aufführung relativ knapp beisammen liegen, ist Vorsicht geboten, wie etwa 78

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bei dem 1823 in Druck erschienenen Lied „Der Zwerg“, D 771, das im Programm der Musikalischen Abendunterhaltung vom 13. November 1823 aufscheint, aber zuvor schon Ende Mai / Anfang Juni 1823 nach einer brieflichen Mitteilung von Anton von Spaun im Stift St. Florian durch Johann Michael Vogl vorgetragen wurde. Nur einmal, nämlich am 3. Jänner 1828, wird auf dem Programmzettel bei dem 1826 entstandenen Quintett „Mondschein“, D 875, der Vermerk „Neues Quintett“ hinzugefügt, aber auch hier könnte es sich nur um die damals übliche Formulierung für eine Erstaufführung gehandelt haben. Letzte Gewißheit bleibt uns zum Thema „Uraufführungen“ bei den Musikalischen Abendunterhaltungen leider verwehrt.

Schubert bei den Konservatoriumskonzerten Eine zweite Konzertschiene innerhalb der Gesellschaft der Musikfreunde waren die Prüfungs- und Schülerkonzerte des 1817 seine Unterrichtstätigkeit aufnehmenden Konservatoriums. Auch hier finden wir Schubert: Für Anna Fröhlich und ihre Schülerinnen in der „Dritten Abtheilung“ (Gesangsklasse) vertonte er Ende 1820 den 23. Psalm „Gott ist mein Hirt“, D 706, in der Besetzung für Frauenstimmen mit Klavierbegleitung, der seine Uraufführung am 30. August 1821 im Gundelhof erlebte. Die beliebte Komposition wird zu Schuberts Lebzeiten bei ähnlichen Gelegenheiten mehrfach an anderer Stelle wiederholt, wie etwa im Festsaal des niederösterreichischen Landhauses („Landständischer Saal“) in der Herrengasse (1826) oder auch beim großen Konzert des Konservatoriums im Kärntnertortheater (1828). Unbeantwortet muß die Frage bleiben, ob dies wirklich die einzige Verbindung Schuberts zu den Lehrveranstaltungen des Konservatoriums gewesen war. Möglicherweise hat nämlich Schubert über diese eine Komposition hinaus doch noch mehr für das Konservatorium geschaffen, denn wie sonst wäre der Satz aus dem Brief der Gesellschaft der Musikfreunde vom 12. Oktober 1826 an Schubert zu verstehen: „Sie haben […] Ihr ausgezeichnetes Talent als Tonsetzer zum Besten derselben [GdM] und insbesondere des Konservatoriums verwendet.“ Schubert bei den Gesellschaftskonzerten Das Jahr 1821 hatte für Schubert aber auch bei den im Großen Redoutensaal stattfindenden Gesellschaftskonzerten initialen Charakter: Am 8. April 1821 ist er mit dem Quartett „Das Dörfchen“, D 598, erstmals vertreten, dem am 18. November 1821 seine „Ouverture in e-Moll“, D 648, folgt. Beides waren aber 79

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nachweislich keine Uraufführungen ! Allerdings findet sich danach interessanterweise Schuberts Name bis zu seinem Tod auf keinem weiteren Programmzettel.

Schubert als eigener Konzertveranstalter Schon im Frühjahr 1824 dachte Schubert an ein eigenes, von ihm selbst auf eigenes Risiko zu veranstaltendes „Privat-Concert“ in den Räumlichkeiten der Gesellschaft der Musikfreunde im „Roten Igel“ unter den Tuchlauben mit ausschließlich eigenen Werken, wie es Beethoven mit seinen „Musikalischen Akademien“ vorexerziert hatte. „Wen[n] Gott will, so bin auch ich geson[n]en, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben.“ Dazu kommt es aber erst in seinem letzten Lebensjahr. Vorgesehen für den 21. März 1828, findet es schlußendlich am 26. März, dem ersten Todestag Beethovens, statt. Als Auftakt steht der erste Satz eines neuen Streich-Quartetts auf dem Programm: Ob es sich um das in G-Dur oder in d-Moll gehandelt hat, muß offenbleiben. Nur im Falle des am 20. Juni 1826 vollendeten in G-Dur, D 887, wäre möglicherweise von einer Uraufführung zu sprechen, während das in d-Moll, D 810, (mit dem Beinamen „Der Tod und das Mädchen“) bereits zu Jahresbeginn 1826 im Milieu des Musikalischen Salons uraufgeführt worden war. Letzteres gilt auch für das nach dem ersten Teil eingeschobene neue Trio für das Pianoforte in Es-Dur, D 929,. Der Erfolg war so groß, daß Schubert – wie er seinem Verleger Probst am 10. April 1828 mitteilte – „zu einem zweyten Concert (:quasi als Wiederholung:) aufgefordert wurde“. Die Gesellschaft der Musikfreunde und Schuberts C-Dur-Symphonien D 944 und D 589 Als Schubert am 3. September 1825 zum stellvertretenden Mitglied in den Repräsentantenkörper der Gesellschaft der Musikfreunde gewählt worden war, war dies für ihn der Moment, nunmehr „seiner“ Gesellschaft die vor der Vollendung stehende neue Symphonie zu widmen und damit deren Uraufführung in einem der Gesellschaftskonzerte erleben zu können: nämlich seine „Große Symphonie C-Dur“ [Nr. 8], D 944. Sie stellte für Schubert nach mehreren, immer wieder abgebrochenen Kompositionsanläufen im symphonischen Schaffen zweifellos einen „Neubeginn“ dar, der sich schon in einem Brief vom 31. März 1824 an Leopold Kupelwieser ankündigte, in dem er dem in Rom weilenden Freund eröffnete, er wolle sich auf dem Instrumentalsektor über die Komposition mehrerer Quartette und einem Oktett „den Weg zur großen Sinfonie bahnen“. Mit wenigen Zeilen teilte Schubert dem Leitenden Ausschuß in einem undatierten Schreiben – in einem einzigen langen Satz – die Vollendung dieser seiner 80

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neuesten Symphonie mit: „Von der edlen Absicht des österreichischen MusikVereins, jedes Streben nach Kunst auf die mögliche Weise zu unterstützen, überzeugt, wage ich es, als ein vaterländischer Künstler, diese meine Symphonie demselben zu widmen […]“.5 In der Schubert-Forschung wird die Annahme vertreten, man könne aus dieser Hauptsequenz des Briefes die Übergabe des Autographs ableiten und das Schreiben selbst als das dazugehörige Begleitschreiben interpretieren. Es läßt sich aber in dieser Briefsequenz nichts entdecken, das diese Annahme rechtfertigen würde. Hier geht es einzig und allein um die von Schubert erwartete positive Akzeptanz der von ihm vorgesehenen Widmung an die Gesellschaft der Musikfreunde und seine hochgespannten Erwartungen, durch seine Komposition im Rahmen einer Uraufführung von der Gesellschaft der Musikfreunde neben Beethoven auch als Symphoniker akzeptiert zu werden. Insgesamt lassen die wenigen Zeilen keinerlei Selbstbescheidung erkennen, vielmehr spricht aus ihnen ein an dieser Komposition gewachsenes künstlerisches Selbstbewußtsein. Aber Schubert sollte enttäuscht werden: Wie aus dem Sitzungsprotokoll des Leitenden Ausschusses vom 9. Oktober 1826 zweifelsfrei hervorgeht, entschlägt man sich dort wortlos der Annahme der Widmung, in dem man Schubert einzig wegen seiner „um die Gesellschaft sich erworbenen Verdienste“ und „zur ferneren Aneiferung und Ermunterung“ ein Ehrengeschenk in Höhe von 100 Gulden Wiener Währung zuerkennt. So steht es dann auch in dem offiziellen Schreiben vom 12. Oktober 1826. Acht Tage später bestätigt Schubert den Empfang des Geldes. Als dann das im Kopftitel lapidar mit „Symphonie“ bezeichnete und von Schubert mit „Frz. Schubert mpia“ signierte Autograph – ohne Widmung – zu Jahresende 1826 übergeben wurde, wird es in der eben als eigenständige Abteilung des Museums der Gesellschaft der Musikfreunde begründeten „Sammlung von Original-Handschriften berühmter Componisten“ schubladisiert.6

5 Die von der Zensur eingeforderte formelle Erklärung über die Annahme einer Widmung durch den Widmungsträger war nur bei einer geplanten Drucklegung einer Komposition obligatorisch, nicht aber bei einer persönlichen Zueignung einer Komposition. Diese Zensurvorschriften kannte Schubert selbstverständlich und befolgte sie, wie etwa bei seinem Gönner Johann Karl Graf von Esterházy für vier Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung, D 702, 516, 586, 539 (erschienen als op. 8/1–4 im Frühjahr 1822), bei dem Freund seiner Jugendtage Joseph von Spaun für die „Fantasie für das Piano-Forte allein“, D 894 (15. Dezember 1826), und bei dem Bassisten Luigi Lablache für die „Drei italienischen Gesänge“, D 902 [op. 83] (20. April 1827). Schubert muß auch bei Beethoven wegen der Widmung der „Variationen über ein französisches Lied für das Piano-Forte auf vier Händen“, D 624, vorstellig geworden sein, auch wenn weder Anschreiben noch Antwort überliefert sind. 6 Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde, Sign. A 245.

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Dennoch scheint sich eine, wenn auch verblasene Lösung für eine Uraufführung durch die Gesellschaft der Musikfreunde in der Mitte des folgenden Jahres, also 1827, angebahnt zu haben. Ob dies mit Schuberts Berufung zum wirklichen Mitglied in den Repräsentantenkörper der Gesellschaft der Musikfreunde in Zusammenhang steht, kann nur gemutmaßt werden. Jedenfalls werden die notwendigen Auflagestimmen von Leopold Grams und Joseph Glöggl jun. ausgeschrieben und dem Schulorchester des eigenen Konservatoriums übergeben. Ob den für diese Entscheidung Verantwortlichen bewußt war, daß dieses Orchester mit der Aufführung eines Werkes, das neue Wege beschreitet und für vieles, was danach kommt, wegweisend werden sollte, weit überfordert war, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls wurde die Symphonie im Festsaal des niederösterreichischen Landhauses („Landständischer Saal“) in der Herrengasse, der schon 1823 für „öffentliche Productionen“ der Zöglinge des Konservatoriums Verwendung fand, auch tatsächlich „durchprobiert, aber wegen ihrer Länge und Schwierigkeit“ – was in Hinblick auf das Schulorchester nicht wirklich erstaunt – „vorläufig zurückgelegt“.7 Offensichtlich hat Schubert diese für ihn enttäuschende „Zurücklegung“ nicht tatenlos hingenommen. Will man nämlich Eduard Hanslicks diesbezügliche Textpassage in seiner „Geschichte des Concertwesens in Wien“ von 1869 Glauben schenken8 (und warum sollte man dies nicht tun ?), dann hätte Schubert in der Folge der Gesellschaft der Musikfreunde sozusagen als Ersatz seine bereits 1817/18 entstandene Symphonie C-Dur [Nr. 6], D 589, heute als „die Kleine“, von Schubert aber eigenhändig im Kopftitel als „Grosse Sinfonie. / in C.“ bezeichnet, angeboten, deren Erstaufführung er jedoch nicht mehr erleben sollte. Am 18. November 1828 endete Schuberts Mitgliedschaft im Repräsentantenkörper. Es war eine in den Statuten verankerte Rotationsklausel, die zu seinem Ausscheiden führte. Die statutengemäße mögliche Wiederwahl hat Schuberts Ableben am 19. November 1828 dann aber verhindert. Einen Tag später ehrt die Gesellschaft der Musikfreunde ihr verstorbenes Mitglied in der Musikalischen Abendunterhaltung mit dem Vortrag seiner Vertonung der Schiller-Verse „Dithyrambe“, D 801.

7 Diese Darstellung stammt aus Leopold Sonnleithners Leserbrief vom 20. Jänner 1861 an die in Wien erscheinende „Deutsche Musik-Zeitung“. Siehe dazu Anm. 16. 8 Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien. Erster Teil, Wien 1869, S. 284.

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Programmzettel, Zweytes Gesellschaft=Consert am 14. Dezember 1828 mit Franz Schuberts „Symphonie in C“, seiner Symphonie Nr. 6, D 589 (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

Post mortem: Schuberts D 589 Das eigentliche von Leopold von Sonnleithner initiierte Schubert-Gedenkkonzert der Gesellschaft der Musikfreunde – es war ihr „Zweytes Gesellschafts-Konzert“ in der Saison 1828/29 – fand am 14. Dezember 1828 im Großen Redoutensaal unter der Leitung von Johann Baptist Schmiedel statt. Als Auftakt vermerkt der Programmzettel eine „Symphonie in C, von Franz Schubert“. Wenig später – am 12. März 1829 – kommt es dann zu einer Wiederholung eben dieser Symphonie durch die 1819 gegründete, fast gleichnamige Gesellschaft von Musikfreunden in einem der von ihr veranstalteten „Concert spirituel“ im „Landständischen Saal“ in der Herrengasse. Das Konzert stand unter der Leitung von „OrchesterDirektor“ Ferdinand Piringer. Wieder steht Schuberts Komposition – diesmal ohne Angabe zur Tonart – auf dem Programmzettel an erster Stelle: „Symphonie von Fr. Schubert“.9

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Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Programmsammlung, 12. März 1829.

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Beide Aufführungen finden in der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ durch den Wiener Korrespondenten in seinem „Musikalischen Tagebuch“ Erwähnung. Zur ersten öffentlichen Aufführung – im Sinne der erwähnten Grimmschen Terminologie also die eigentliche Uraufführung – der SchubertSymphonie durch die Gesellschaft der Musikfreunde schreibt er: „Neue Symphonie in C dur, von Franz Schubert (aus dessen Nachlass), ein schönes, fleissig gearbeitetes Werk, dessen vorzüglich ansprechende Sätze das Scherzo und Finale sind. Was man vielleicht daran tadeln könnte, wäre, dass das blasende Orchester allzu reichlich bedacht ist, wogegen die Streichinstrumente fast im Durchschnitte nur subordinirt erscheinen.“10

Die Wiederholung läßt hinsichtlich der akustischen Bedingungen im Großen Redoutensaal aufhorchen und wird von ihm mit den Worten kommentiert: „Symphonie von Schubert. Machte heute eine ungleich bessere Wirkung, als vorlängst im grossen Redouten-Saale, welcher, akustisch betrachtet, für die Musik höchst ungünstig ist.“11 Auch die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ erwähnt das Winter-Konzert vom 14. Dezember 1828: „[…] wurde gegeben: Symphonie in C, von Franz Schubert. Ein schätzbarer Nachlass. Im Scherzo weht Beethoven’s geistreicher Humor.“12 Das Concert spirituel vom 12. März 1829 dagegen wird von der Wiener „Allgemeinen Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur und geselliges Leben“ in der Rubrik „Neuigkeiten. Wien“ lediglich als „II. Concert“ mit folgendem Programm gelistet: „1. Symphonie von Schubert. 2. Requiem von Tomascheck. 3. Ouverture zu dem Trauerspiele »Corolian,« [!] von Beethoven […].“13 Keine der Rezensionen erwähnt eine auffällige, die seinerzeitige mit Zeitüberschreitung gegenüber der üblichen Länge eines Konzerts begründete „Zurücklassung“ der Schubert-Symphonie in C-Dur, sodaß an der Identifizierung mit der „Kleinen Symphonie in C-Dur“ [Nr. 6], D 589, eigentlich kein Zweifel bestehen sollte. Auch der Hinweis, das Aufführungsmaterial stamme aus dem Nachlaß Schuberts, stimmt mit den ermittelten Quellen überein, hatte Schuberts Bruder

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Allgemeine Musikalische Zeitung 31 (1829), No. 5, 4. Februar, Sp. 75. Ebenda, No. 18, 6. Mai, Sp. 296. Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung 6 (1829), Nro. 21, 23. Mai, S. 165. Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur und geselliges Leben 22 (1829), Nr. 46, 16. Aprill [!], S. 183.

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Ferdinand nach dessen Tod neben einer Vielzahl an Kompositionen auch dieses Autograph an sich genommen.14 Ein Jahrzehnt später wird auch Ferdinand Schubert gegenüber dem Leipziger Verlagshaus Breitkopf und Härtel diese Aufführung in einem Brief vom 31. Jänner 1839 bestätigen: Er könne nämlich den Leipzigern nicht nur die Partitur, sondern auch die Auflagstimmen zur Verfügung stellen, „weil dieses Werk in Wien schon einmal (1829 [recte 1828!] von der Gesellschaft der Musikfreunde im kais. Redouten-Saale) mit großem Beifalle aufgeführt wurde […].“ Die undeutliche Quellenlage bei den Konzertprogrammen von 1828/29 und die lange Zeit kaum zugänglichen Erinnerungen der Zeitzeugen ließen es offen, welche von den beiden C-Dur-Symphonien – D 589 oder vielleicht doch D 944 – in der Wintersaison 1828/29 tatsächlich zur Aufführung gekommen war. Es war daher in der Folge nicht verwunderlich, wenn die nur kurzfristig in Wien erscheinende „Deutsche Musik-Zeitung“ vom 19. Jänner 1861 diese Thematik aufgriff. In der Rubrik „Vermischtes“ stellte die Redaktion das Programm vom 14. Dezember 1828 und die darin genannte Symphonie zur Diskussion, verbunden mit der Frage, ob damit „die sechste [heute Nr. 6] oder die bekannte und gedruckte siebente [später Nr. 9, heute Nr. 8], welche beide in C-dur gehen, darunter gemeint ist. Nach einer wenig zuverläßigen mündlichen Mittheilung soll es die siebente [später Nr. 9, heute Nr. 8] sein, von welcher allgemein angenommen wird, daß sie zuerst im Jahre 1839 in Leipzig zur Aufführung kam. Die sechste aber soll nur einmal, und zwar im März 1829 in einem Spirituel=Concerte in Wien aufgeführt worden sein.“15

Die Zweifel waren in dem Fehlen jeglichen Hinweises in den biographischen Mitteilungen über Franz Schubert auf diese „frühe, vier Wochen nach seinem Tode stattgefundene Aufführung einer Symphonie“ begründet. Mit einem Aufruf zur Wortmeldung schließt der Beitrag: „Vielleicht kann uns Jemand darüber näheren Aufschluß geben.“ Umgehend meldete sich daraufhin „Dr. Leopold Sonnleithner“ am 20. Jänner 1861 „als Ohrenzeuge und theilweiser Mitveranstalter“ in einem Leserbrief an die Redaktion zu Wort, der in der Folgenummer vom 26. Jänner 1861 abgedruckt wurde: 14 Erst 1901 kommt über Umwege das im Kopftitel mit „Grosse Sinfonie. / in C.“ und mit „Oct. [1]81(7?)“ bezeichnete sowie mit „Franz Schubert mpia“ signierte Autograph von D 589 an die Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde (Sign. A 242). Aber schon 1829 besaß das Archiv einen Teil der bei der Aufführung vom 14. Dezember 1828 verwendeten Auflagestimmen. 15 Deutsche Musik-Zeitung 2 (1861), No. 3, 19. Jänner 1861, S. 24.

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„Am 14. December 1828 wurden in einem Gesellschatfsconcerte der Musikfreunde des österr. Kaiserstaates nicht die große (siebente) [später Nr. 9, heute Nr. 8], sondern die kleine (sechste) [auch heute Nr. 6] C=Symphonie von Franz Schubert aufgeführt. Ebendiese wurde am 12. März 1829 im Concert spirituel wiederholt. Das vorliegende Programm des Letzteren enthält nur die einfache Angabe: Symphonie von Fr. Schubert, ohne Bezeichnung der Tonart und ohne den Beisatz ,neu‘ oder ,zum erstenmale aufgeführt‘, – der in solchen Fällen stets üblich war. Abgesehen von meiner deutlichen Erinnerung, könnte die im Concert spirituel aufgeführte Symphonie schon deßhalb nicht die große (siebente) gewesen sein, weil diese damals blos im Besitze der Gesellschaft der Musikfreunde war, – und weil in demselben Concerte auch noch ein ganz „neues“ Requiem von Tomaschek, Beethoven’s Coriolan Ouverture und ein Chor von Weigl gegeben wurden, welche Stücke neben der großen Symphonie die übliche Concertdauer weit überschritten hätten. Bei der Gesellschaft der Musikfreunde war die große C=Symphonie bald nach ihrer Composition in den Uebungen des Conservatoriums durchprobirt, aber wegen ihrer Länge und Schwierigkeit vorläufig zurückgelegt worden. Erst am 15. December 1839 wollte man dieselbe, und zwar vollständig, in einem Gesellschaftsconcerte aufführen; allein schon in der ersten Orchesterprobe weigerten sich die bezahlten Herren ,Künstler‘ die zur Einübung nöthigen Wiederholungen zu leisten, wodurch das Concertcomité genöthigt wurde, sich für dießmal auf die zwei ersten Sätze zu beschränlen. Am 1. December 1850 wurde zum erstenmale die ganze Symphonie in Wien in einem Gesellschaftsconcerte zu Gehör gebracht.“16

Die Gesellschaft der Musikfreunde hatte sich also erst elf Jahre nach Schuberts Tod und neun Monate nach der Uraufführung vom 21. März 1839 im Leipziger Gewandhaus unter Felix Mendelssohn Bartholdy17 der „Großen Symphonie in C-Dur“ [Nr. 8], D 944, erinnert. Das Werk – obzwar in voller Länge angekündigt – gelangte damals mit demselben Argument wie 1827 nur mit den beiden ersten Sätzen zur Aufführung, weil „ohne diese Hinweglassung die Dauer des Concertes weit über die gewöhnliche Concertzeit hinausgerückt“ worden wäre. Daß zwischen den beiden Sätzen eine Donizetti-Arie eingefügt worden war, hatte bei den Rezensenten verständlicherweise wenig Gegenliebe gefunden. Die

16 Ebenda, No. 4, 26. Jänner 1861, S. 32. 17 Die heute übliche Benennung als „Große Symphonie in C Dur, D 944“ stammt vom Programmzettel der Leipziger Uraufführung: „Grosse Symphonie von Franz Schubert (C dur, Manuscript)“. Vermutlich wußte man damals nicht, daß Schubert seine jüngere C-Dur-Symphonie eigenhändig im Kopftitel des Autographs als „Grosse Sinfonie in C“ bezeichnet hatte. Die Formulierung vom Programmzettel übernahm dann auch die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“ vom 27. März 1839, Sp. 256, wo von einer „völlig unbekannten grossen Sinfonie in C dur, nach Manuskript, von Franz Schubert“ die Rede ist. Der Leipziger Musikverlag Breitkopf und Härtel hat sich im darauffolgenden Jahr bei der Veröffentlichung der Orchesterstimmen elegant und völlig korrekt gegenüber D 589 mit der Formulierung: „Sinfonie / in C Dur / für / Grosses Orchester / von / Franz Schubert.“ aus der Affaire gezogen. Gleichlautend erschien 1849 die Partiturausgabe. Heute allerdings erscheinen Partitur und Orchesterstimmen unter: „Schubert – Symphonie Nr. 8 (Große C-dur-Symphonie) D 944“.

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erste Gesamtaufführung der „Großen Symphonie in C-Dur“, D 944, durch die Gesellschaft der Musikfreunde am 1. Dezember 1850 fand unter der Leitung von Josef Hellmesberger d. Ä. statt. Eine posthume Schubert-Uraufführung fand dann erstmals am 17. Dezember 1865 in einem Gesellschaftskonzert statt: Auf dem Programm stand die von Johann Ritter von Herbeck bei Anselm Hüttenbrenner in Graz wiederentdeckte „Symphonie h-Moll“ [Nr. 7], D 759, die damals mit dem Schlußsatz aus der „Symphonie D-Dur“ [Nr. 3], D 200, als Finalsatz ergänzt worden war. Bereits im folgenden Jahr wurde die Symphonie dann aber in der überlieferten zweisätzigen Form durch die Gesellschaft der Musikfreunde zur Aufführung gebracht. Als „Die Unvollendete“ ist sie seit 1867 in die Musikgeschichte eingegangen. Das Ergebnis der Recherchen zu Uraufführungen Schubertscher Werken zu dessen Lebzeiten in der Gesellschaft der Musikfreunde ist der spärlichen Quellenlage wegen eher bescheiden. Eigentlich muß man von einer Leermeldung sprechen, weil Schuberts kompositorisches Schwergewicht im Liedschaffen, im sakralen Bereich und dem Oratorium sowie im Singspiel und in der Oper, nicht aber im Konzertsaal gelegen war. Erst mit seiner „Großen Symphonie C-Dur“ [Nr. 8], D 944, versuchte Schubert sich im Konzertleben zu etablieren und sich gegen die übermächtige Präsenz Beethovens – allerdings erfolglos durch seinen frühen Tod – abzugrenzen.

Literatur Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie V: Orchesterstücke Band 2 / Sinfonien Nr. 4–6, Tübingen 1999; dazu: Mario Aschauer und Swenja Schekulin nach Vorarbeiten von Arnold Feil und Douglas Woodfull-Harris, Kritischer Bericht, Tübingen 2012. Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie V: Orchesterstücke Band 4 / Sinfonie Nr. 8 in C. Teil a: Sinfonie in C D 944, Kassel u. a. 2003; Teil b: Anhang (Entwurf-Fassungen, Quellen und Lesarten, Notenbeispiele), Kassel u. a. 2003; dazu: Werner Alderhold, Kritischer Bericht, Tübingen 2007. Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Gesammelt und erläutert von Otto Erich Deutsch, Kassel u. a. 1957. Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und hrsg. von Otto Erich Deutsch, Leipzig 21966.

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Otto Erich Deutsch, Franz Schubert. Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge, Kassel u. a. 1978. Franz Schubert. Dokumente, Band 1: Teilband 1 (1817–1830) und Teilband 2 (1801– 1830), hrsg. von Ernst Hilmar und Till Gerrit Waidelich, Tutzing 2003. Schubert-Handbuch, hrsg. von Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel 2007. Leopold von Sonnleithner / Wilhelm Böcking, Musikalische Skizzen aus Alt-Wien [1861–1863] III–V, in: Österreichische Musikzeitschrift 16 (1961), S. 97–110, insbesondere S. 108. Die Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates und ihr Conservatorium. Auf Grundlage der Gesellschafts=Acten bearbeitet von C.[arl] F.[erdinand] Pohl, Wien 1871. Otto Biba, Franz Schubert in den Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde, in: Schubert-Studien, hrsg. von Franz Grasberger und Othmar Wessely, Wien 1978, S. 7–31. Otto Biba, Franz Schubert und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, in: Schubert-Kongreß 1978. Bericht, hrsg. von Otto Brusatti, Wien 1979, S. 23–36. Peter Clive, Schubert and his World. A Biographical Dictionary, Oxford 1997. Anna Schirlbauer, Historische Standorte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Ein Rückblick zum 200. Jahrestag der Gründung, in: Wiener Geschichtsblätter 67 (2012), H. 4, S. 359–388, und 68 (2013), H. 1, S. 1–31. Beate Hiltner-Hennenberg, Das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde. Beiträge zur musikalischen Bildung in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wien 2013. Anna Schirlbauer, Visionen und Wirklichkeit: Zu den Wirkungsstätten der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens, in: Musikfreunde. Träger der Musikkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Ingrid Fuchs, Kassel u. a. 2017, S. 29–46. Ingrid Fuchs, Die Musikalischen Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Kammermusik auf dem Weg vom Salon in den Konzertsaal, in: ebenda, S. 47–73.

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„Altrömische“ und „deutsche“ Studien. Otto Nicolais großes Konzert von 1843

Ulrich Konrad (Würzburg) „Altrömische“ und „deutsche“ Studien. Otto Nicolais großes Kon­ zert von 1843 und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Zum 1. Juni 1837 hatte der Königlich preußische Musikdirektor Otto Nicolai vom Impresario des Mailänder Teatro alla Scala, Bartolomeo Merelli, der auch in der Leitung des k. k. Hoftheaters nächst dem Kärtnertor tätig war, eine Verpflichtung als Gesangslehrer und Kapellmeister an eben dieses Haus in Wien erhalten. Hinter ihm lagen Lehrjahre in Berlin unter anderem bei Karl Friedrich Zelter und Bernhard Klein, sodann eine erste Stellung als Organist an der Kapelle der Preußischen Gesandtschaft in Rom. Über Erfahrungen als Operndirigent verfügte er nicht, doch wußte er sich dank seiner profunden Ausbildung und seinem praktischen Geschick rasch einen Namen in der Residenzstadt zu machen. Als Komponist vornehmlich von weltlichen und geistlichen Chorwerken, Liedern, aber auch einiger großer vokal-instrumentaler Stücke vermochte er sich dagegen mangels geeigneter Konzertgelegenheiten zunächst nicht recht durchzusetzen. Sein Ehrgeiz brannte ohnehin mehr für die Oper, ein Feld, auf dem allerdings nicht nur die Konkurrenz groß war, sondern er bislang auch keine Leistungen vorzuweisen hatte; sein aufs Geratewohl angegangener Bühnenerstling unter dem Titel „Rosmonda d’Inghilterra“, WoO 110, lag noch unvollendet im Schreibpult.1 Nicolais Bemühungen, im Wiener Musikleben Tritt zu fassen und über das Theater hinaus zu wirken, hatten ihn nach einigen Monaten auch zur Gesellschaft der Musikfreunde geführt. Am 4. Jänner 1838 dedizierte er der Gesellschaft eine Partitur seiner fünf Jahre zuvor entstandenen „Weihnachts-Ouverture über den Choral ,Vom Himmel hoch, da komm’ ich her‘“, WoO 1092. Die Komposition

1 Zur Biographie Nicolais siehe die Arbeiten des Verfassers, in denen die ältere Forschungsliteratur vollständig bibliographiert und verarbeitet wurde: Otto Nicolai (1810–1849). Studien zu Leben und Werk, Baden-Baden 1986 (= Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen, Band 73), darin auch ein Werkverzeichnis (gegenwärtig nicht mehr vollständig aktuell); [Artikel] Nicolai, Carl Otto Ehrenfried, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Personenteil 12, Kassel u. a. 2004, Sp. 1052–1057; Zwischen Zelter und Palestrina, Beethoven und Bellini. Anpassung und Eigenständigkeit im Schaffen des Komponisten Otto Nicolai (1810–1849), in: Agnes Bohnert und Siegfried Mauser (Hg.), Geschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Laaber 2012 (= Geschichte der Oper, Bd. 3), S. 280–300. Die folgenden Ausführungen greifen im wesentlichen auf Ergebnisse und Darstellungen dieser Publikationen zurück. 2 Klaus Rettinghaus, Studien zum geistlichen Werk Otto Nicolais, Phil. Diss. Berlin 2014, S. 37–46 (mit willkommenen Korrekturen an Versehen in meiner Studie von 1986; die analytischen Darlegungen sind

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war lediglich in Berlin einmal zu Gehör gebracht worden, so daß Nicolai mit Blick auf seinen aktuellen Wirkungsort zu Recht von einem neuen Werk sprechen und es für eine Aufführung in den Gesellschaftskonzerten als Novität anbieten konnte. Wie immer in solchen Fällen forderte die Direktion ein Gutachten an, um den Wert der vorgeschlagenen Musik einschätzen zu können. Erstattet wurde es am 7. Februar 1838 vom Vorsteher des Komitees für diese Konzerte, Friedrich Klemm, einem Beamten im Hauptberuf, daneben aber erfolgreichen Musikdilettanten und Funktionär der Gesellschaft. In dem Votum heißt es: „Diese Ouverture weicht sowohl in Form, als in Hinsicht der Melodie ganz von dem ab, was wir bis jetzt durch diese Benennung bezeichnen. Der eingewebte Choral wird hier, wo derley Chorale gänzlich unbekannt sind[,] eben die Wirkung nicht erhöhen, der harmonische Theil ist aber durchaus lobenswerth. Es ist nicht zu leugnen, dass einige Stellen gute Wirkung machen müssen[,] ein großer Totaleffekt wird aber schwerlich zu erzielen seyn, wozu noch der kirchliche Schluß vieles beitragen wird. Das Ganze ist aber das Werk eines Mannes[,] der Talent und viele Kenntniße zu besitzen scheint, der sich aber noch nicht seinen eigenen Weg gebahnt hat. In dieser Rücksicht glaubt der ehrfurchts voll [!] Gefertigte keines Fehlgriffes beschuldigt werden zu können[,] wenn er diese Ouverture zur Aufführung im 4ten Gesellschafts Konzerte geeignet findet, wodurch zugleich die Gesellschaft sich einen Mann verbindlich macht, der seiner Stellung nach der Gesellschaft immer nützlich sein könnte.“3

Dieser durchaus zutreffenden Einschätzung, in die am Ende auch legitime taktische Überlegungen eingingen, schlossen sich die Verantwortlichen an, so daß am 11. März 1838 erstmals ein Werk Nicolais vor breiterem Wiener Publikum erklingen konnte (Abbildung 1). Den Erfolg der Aufführung wird man bestenfalls als mäßig einschätzen dürfen. Bezeichnend fällt der Kommentar eines Zuhörers aus, überliefert auf einem Programmzettel (Abbildung 2): „Tolles k­ onfuses ‚Wallpurgisnacht‘ Zeug mit ungeheuern Spektakel“4. Die Ouvertüre gehört ­ zu den ambitionierten Experimenten, die Nicolai in den 1830er Jahren unternahm, um zu eigenstän­digen symphonischen Großformen vorzustoßen. Zu diesem Zweck vereinte er – darin seinem Generationsgenossen Felix Mendelssohn Bartholdy ähnlich (denkt man an dessen 5. Sinfonie [„Reformations-Sinfonie“],

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allerdings diskussionswürdig). Eine kritische Ausgabe des Werks liegt nicht vor; greifbar ist weiterhin älteres Aufführungsmaterial des Verlags Bote & Bock Berlin: B&B 20449 (über B-Note Musikverlag, BN-15401). Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Gesellschaftsakten, 2 ex 1838. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Konzertprogramme, Jg. 1838.

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op. 107 [MWV N 15]) – protestantisches Kirchenlied, Fuge, Sonatenform und vierstimmigen Choralsatz zu einem hybriden Ganzen.5

Abbildung 1: Drittes Gesellschafts=Concert am 11. März 1838. Programmzettel (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

5

Konrad, Nicolai 1986 (wie Anm. 1), S. 307–309; Bärbel Pelker, Die deutsche Konzertouvertüre (1825– 1865). Werkkatalog und Rezeptionsdokumente, 2 Bände, Frankfurt am Main u. a. 1993, hier Teil 2, S. 560–562.

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Mochte der Komponist mit diesem Versuch auch nur bedingt auf Zustimmung gestoßen sein, so war der Weg in die Öffentlichkeit gebahnt. Schon vor der Darbietung im Gesellschaftskonzert hatte er sich dazu entschlossen, eine Art „Portraitkonzert“ zu geben, in dem er verschiedenartige Ausschnitte aus seinem bisherigen kompositorischen Schaffen vorstellen und die stilistische Breite seiner musikalischen Sprache demonstrieren wollte. Für dieses Vorhaben hatte er sich der Mitwirkung des Sängerpersonals sowie des Orchesters der Hofoper versichert. An die Gesellschaft der Musikfreunde war er am 9. März 1838 mit dem Antrag herangetreten, ihm ihren Konzertsaal im Vereinsgebäude „Unter den Tuchlauben“ mietweise zu überlassen.

Abbildung 2: Drittes Gesellschafts=Concert am 11. März 1838. Kommentare eines Zuhörers (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 92

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Diesem Wunsch war entsprochen worden, so daß Nicolai mit den Vorbereitungen beginnen konnte. Sein Programm konzipierte er, für damalige Gepflogenheiten durchaus ungewöhnlich, von historischen und gattungsbezogenen Gesichtspunkten aus. Der erste Teil firmierte unter dem Titel „Concert spirituel“, widmete sich demnach geistlichen Werken oder solchen, die dieser Sphäre zuzurechnen waren. Eröffnend sollte das achtstimmige „Pater noster“ für Soli und Doppelchor a cappella gesungen werden. Zu dem Werk heißt es auf dem Konzertzettel: „Im Styl des 17. Jahrhunderts nach altrömischen Studien. Vorbild: Palestrina“. Anschließend war eine, wie es hieß „Fugirte Ouverture für Orchester und Chor über einen Choral“ vorgesehen, im „Styl des 18. Jahrhunderts nach deutschen Studien. Vorbild Haendel“.6 Der zweite Teil, so die Planung, würde „Theater- und Concert-Musik im neuesten Styl“ bieten, nämlich als erstes ein Lied für Tenor, Violoncello und Klavier „Schmerz der Liebe“ (op. 24/1), gefolgt von der Sopran-Cavatine „Perché non ho del vento l’infaticabil volo“ aus der bereits erwähnten Oper „Rosmonda d’Inghilterra“, und als drittes die 2. Symphonie D-Dur, WoO 99. Mit letztgenanntem Werk hatte Nicolai im Jahre 1835 an einem Kompositionswettbewerb teilgenommen, ausgelobt von der Leitung der Wiener „Concert spirituels“ und vom Verlag Tobias Haslinger; ein Preis war ihm seinerzeit nicht zuerkannt worden.7 Vor der Symphonie sollte ursprünglich das Finalquintett „Un turbamento orcano“ erklingen, eines der beiden Stücke aus dem ansonsten aufgegebenen Opernplan „La figlia abbandonata“. Insgesamt läßt das Programm keinen Zweifel an der Absicht Nicolais, sich als vielseitigen, sowohl historisch gebildeten als auch in den zentralen Genres der aktuellen Musik versierten Komponisten zu empfehlen. Im übrigen hätte es sich um ein reines Uraufführungskonzert gehandelt, denn keines der Werke war bislang produziert worden, sieht man von Durchspielproben im privaten Rahmen ab. Daß bis hierhin von diesem Konzert lediglich im Konjunktiv die Rede war, hat einen einfachen Grund: Es wurde nämlich abgesagt. Zu diesem Schritt fühlte sich Nicolai nicht etwa durch künstlerische Bedenken veranlaßt, sondern durch ein fatales äußeres Ereignis. Wie schon so oft war auch in diesem Spätwinter infolge der Schneeschmelze die Donau über die Ufer getreten und hatte in der 6 Abbildung des Konzertzettels in: Georg Richard Kruse, Otto Nicolai. Ein Künstlerleben, Berlin 1911, nach S. 62. 7 Ulrich Konrad, Der Wiener Kompositionswettbewerb 1835 und Franz Lachners Sinfonia passionata. Ein Beitrag zur Geschichte der Sinfonie nach Beethoven, in: Augsburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 3 (1986), S. 209–239.

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ungarischen Stadt Pesth katastrophale Verheerungen angerichtet. Aus Solidarität mit der dort schwer bedrängten Bevölkerung wurden in Wien sofort Benefizveranstaltungen organisiert, etwa eine Reihe von Wohltätigkeitskonzerten, darunter eines von Franz Liszt. In dieser Situation wäre ein Konzert zum eigenen Vorteil Nicolais weder opportun noch aussichtsreich gewesen. Am 25. März 1838 teilte er der Gesellschaft der Musikfreunde daher seinen Verzicht mit.8 Eine Wiederaufnahme des Plans zu einem günstigeren Zeitpunkt blieb trotz dieser Entscheidung möglich, doch dazu kam es vorerst nicht. Allerdings – und diese Kuriosität verdient Erwähnung – führt Nicolais nie gegebenes Konzert vom 2. April 1838 bis in die Gegenwart hinein ein bemerkenswertes historiographisches Nachleben. Denn die Nicolai-Forschung des späteren 19. und des frühen 20. Jahrhunderts kannte zwar das bereits gedruckte Programm, wußte aber nichts von der Absage. Für sie war das „Por­traitkonzert“ eine Tatsache. In der allgemeinen musikwissenschaftlichen Literatur wurde Nicolais Programmkonzeption mit ihrer chronologischen Ausrichtung als aufschlußreiches Beispiel für den Historismus gewürdigt.9 Und obwohl der Irrtum seit über einem Vierteljahrhundert aufgeklärt und der wahre Tatbestand publiziert ist, feiert er im Vorwort zur jüngsten Ausgabe der „Fugirte[n] Ouverture“ – auf sie wird gleich zurückzukommen sein – fröhliche Ur­ständ und dürfte somit für die nächsten Jahrzehnte konserviert sein.10 Ende Mai 1838 verließ Nicolai Wien, nachdem sein Vertrag trotz der unbestrittenen Erfolge als Opernkapellmeister nicht verlängert worden war – an dieser Entscheidung der Theaterdirektion scheinen die ,Platzhirsche‘ am Kärtnertor­ theater, allen voran Konradin Kreutzer, denen der junge Kollege etwas zu ehr8

Brief Nicolais an den Inspektor der Gesellschaft der Musikfreunde Joseph Klöckl, in: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Briefe Otto Nicolai 6. 9 Martin Geck, Richard Wagner und die ältere Musik, in: Walter Wiora (Hg.), Die Ausbreitung des Historismus über die Musik, Regensburg 1969 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 14), S. 123–146, hier S. 142. 10 Otto Nicolai, Kirchliche Festouvertüre über den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, op. 31, hrsg. von Klaus Rettinghaus, Stuttgart 2010 (= Carus 10.389), S. 2. Außerdem beruht die dort gemachte Angabe, die Ouvertüre sei bereits in Nicolais Wiener Antrittskonzert vom 26. Juni 1837 erklungen, auf irrigen Annahmen. Nicolai veranstaltete an besagtem Tag kein förmliches Konzert, sondern er dirigierte – aufgefordert von der Intendanz und wohl anläßlich seines Debuts am Pult der Hofoper – „eine Ouvertüre seiner Komposition“. Bei diesem Werk dürfte es sich kaum um das geistliche Stück, sondern vielmehr um eine der (nicht erhaltenen) Ouvertüren in E-Dur (WoO 103) oder c-Moll (WoO 104) gehandelt haben; mit ihnen hatte Nicolai auch zuvor schon in Konzerten reüssiert. – Sowohl die „Weihnachtsouvertüre“ als auch die „Festouvertüre“ liegen in einer neueren CD-Produktion vor: Musikproduktion Dabringhaus und Grimm (Detmold), 601 1268-2 (2009).

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geizig auftrat, nicht ganz unschuldig gewesen zu sein. Drei Jahre später kehrte er in die Residenzstadt zurück, nun als gefeierter Maestro der italienischen Oper: Die Premiere seines Melodramma „Il templario“, WoO 111, im Februar 1840 in Turin war umjubelt worden und hatte ihm weitere scritture eingebracht.11 Erneut zog ihn Merelli nach Wien, zunächst für die Einstudierung eben des „Templario“, dann für die Übernahme der Position eines Ersten Kapellmeisters am Theater nächst dem Kärntertor, verbunden mit der Verpflichtung zur Komposition einer deutschen Oper innerhalb von drei Jahren. Wie schon beim ersten Engagement festigte Nicolai zunächst seinen Ruf als hervorragender Dirigent des italienischen wie des deutschen Bühnenrepertoires. Nach einem guten halben Jahr ergriff er zusammen mit einigen Kunstgenossen die Initiative und rief die Philharmonischen Konzerte ins Leben; deren erstes vom 28. März 1842 begründete bekanntlich die bis in die Gegenwart reichende bedeutungsvolle Tradition.12 Nicolais herausgehobene Stellung als Erster Kapellmeister der Hofoper brachte es mit sich, daß die Verbindung zwischen ihm und der Gesellschaft der Musikfreunde unmittelbar nach Dienstantritt wieder auflebte. Anfang Oktober 1841 schlug der Hofbeamte und Komponist Johann Vesque von Püttlingen dem leitenden Ausschuß vor, Nicolai als sogenanntes unterstützendes Mitglied in die Gesellschaft aufzunehmen, was dann auch umgehend geschah.13 Der vielbeschäftigte Musiker nahm seither Anteil an deren Geschicken, wurde im Frühjahr 1843 sogar zum Repräsentanten gewählt; Kandidaturen für den leitenden Ausschuß blieben dagegen erfolglos. In den Monaten von Februar bis Juni 1843 verdichtete sich der Austausch zwischen Nicolai und den Gremien anläßlich zweier sachlich nur lose miteinander zusammenhängender Vorgänge. Wegen der zeitlichen Koinzidenz sind sie im folgenden beide in den Blick zu nehmen, nämlich einerseits die Vorbereitungen 11 Zur Geschichte dieser Oper siehe die erhellenden Ausführungen von Michael Wittmann zum einen im Booklett zur CD-Produktion des Werks auf der Grundlage einer Aufführung im Theater Chemnitz vom 7. März 2008, cpo 777 434-2 (2009), zum andern im Programmheft der konzertanten Aufführung des Werks im Rahmen der Salzburger Festspiele am 27. und 30. August 2016: Belcanto mit Brisanz. Otto Nicolais Il templario – Anmerkungen zu einer Wiederentdeckung, S. 17–26. 12 Ulrich Konrad, Die Philharmonischen Konzerte unter Otto Nicolai: Die Gründungszeit (1842–1847), in: Klang und Komponist. Ein Symposion der Wiener Philharmoniker. Kongreßbericht, hrsg. von Otto Biba und Wolfgang Schuster, Tutzing 1992, S. 45–57; Christian Merlin, Die Wie­ner Philharmoniker. Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute. Aus dem Französi­schen von Uta Szyszkowitz und Michaela Spath. Bd. 1: Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute, Bd. 2: Die Musiker und Musikerinnen von 1842 bis heute, Wien 2017, hier Bd. 1, S. 23–29. 13 Sitzung des leitenden Ausschusses vom 6. Oktober 1841; Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Gesellschaftsakten, 130 ex 1841; Entwurf des Aufnahmeschreibens ebenda, 132 ex 1841.

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für Nicolais großes Konzert vom 4. April 1843, andererseits die Verhandlungen über seine mögliche Übernahme der Direktorenstelle am Konservatorium der Gesellschaft. Nach den überlieferten Briefen Nicolais sowie den einschlägigen Akten der Gesellschaft stellen sich die phasenweise parallelen Abläufe in groben Zügen wie folgt dar: Das Konservatorium und damit die gezielte Ausbildung künstlerischen Nachwuchses gehörten von Anfang an zu den zentralen Einrichtungen und Anliegen der Gesellschaft. Allerdings hatte es deswegen immer wieder Mißhelligkeiten gegeben, im wesentlichen bedingt durch die institutionell unbefriedigende Plazierung des Direktors im Organisationsgefüge. Seit 1838 gar war diese Position vakant, was ein allgemein sichtbares Problem darstellte. Zu dessen Lösung unternahm im Februar 1843 der Jurist und Musikschriftsteller Josef Bacher einer ernsthaften Anlauf. Näher mit Nicolai bekannt, bereits längere Zeit im Repräsentantenkörper und im Konservatoriumskomitee für die Gesellschaft tätig, schlug er den Komponisten in einer Repräsentantensitzung als „unentgeltlichen Direktor“ vor. Es ist anzunehmen, daß eine vorherige informelle Nachfrage Nicolais grundsätzliches Interesse an diesem Amt ergeben hatte. Der leitende Ausschuß bat den Komponisten daraufhin zunächst um ein Gespräch und trug nach dessen für beide Seiten offensichtlich günstigem Verlauf Nicolai am 27. Februar 1843 in aller Form das Amt des Konservatoriumsdirektors an.14 Wegen aktueller Konzertverpflichtungen stellte der Kandidat seine Entscheidung für Ende April in Aussicht. In dieser Situation allgemein positiver Gestimmtheit reichte Nicolai am 5. März 1843 einen Antrag auf Überlassung des Musikvereins-Saals für Sonntag, den 2. April ein, um an diesem Tag das 1838 stornierte „Portraitkonzert“ zu geben. Die Bewilligung erfolgte postwendend, wobei allerdings auf die übliche Miete nicht verzichtet wurde. Eine Woche später stellte sich heraus, daß Nicolais Konzert mit einem Auftritt des Geigenvirtuosen Henri Vieuxtemps im großen Redoutensaal kollidieren würde. Diese Konkurrenz schätzte Nicolai als seinen Zielen abträglich ein, plante daher eine Verschiebung seines Konzerts auf den 17. April, gab den Saal der Gesellschaft frei und meldete sich statt dessen für den Redoutensaal an. Die Gesellschaft ihrerseits entschied sich nun kurzfristig für eine Oratorienaufführung am 2. April im Redoutensaal anläßlich eines Ordensjubiläums von Erzherzog Carl und überredete Vieuxtemps dazu, sein Konzert auf den 26. März vorzuziehen. Dem für die Gesellschaft in dieser Sache

14 Ebenda, Gesellschaftsakten, ad Nr. 44 ex 1843.

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tätigen Bacher war aber entgangen, daß der genannte Termin eben wegen der Hoffeierlichkeiten bestimmten Vorschriften unterlag. So verbot das Obersthofmarschallamt die Zufahrt von Privatwagen an die Hofburg, wodurch den Besuchern des Redoutensaals einige Unbequemlichkeiten zugemutet wurden und das gesellschaftlich wichtige Zeremoniell des „Vorfahrens“ entfiel. Nicolai erfuhr in einem Gespräch mit Bacher von der Abmachung zwischen Gesellschaft und Vieuxtemps, was ihn veranlaßte, seinerseits der Gesellschaft einen Termintausch vorzuschlagen: Er würde gerne seinen ursprünglich gewünschten Konzerttag zurückhaben und im Gegenzug der Gesellschaft seine Reservierung, also die für den 17. April, abtreten. Tatsächlich wurde diese zwischen Bacher und Nicolai besprochene Planung am 15. März vom Präsidium der Gesellschaft gebilligt, was also hieß: 26. März Vieuxtemps, 2. April Nicolai, 17. April Gesellschaft. Diese Regelung konnte freilich nur so lange Bestand haben, bis der einstweilen ahnungslose Nicolai von den ungünstigen Umständen des Termins vom 2. April 1843 erfuhr. Hatte er die erste Abkehr von diesem Tag wegen unliebsamer Konkurrenz mit Vieuxtemps vollzogen, wäre es nun töricht gewesen, eine vorhersehbare Behinderung aufgrund von Verordnungen des Hofprotokolls einfach hinzunehmen. Deswegen verzichtete Nicolai auf die Apriltermine, die bislang in Rede standen, und bat die Gesellschaft, ihm ihren Saal nun für den bislang noch nicht erwogenen 4. April „entgeltlich oder unentgeltlich zu bewilligen.“15 Der leitende Ausschuß, dem das nicht ganz faire Verhalten der Gesellschaft gegenüber Nicolai wohl unangenehm war – immerhin hatte sie ja zum Zeitpunkt der letzten Terminvereinbarung über die am 2. April zu erwartenden Beeinträchtigungen Bescheid gewußt –, gewährte den Saal jetzt rasch ohne Gebühr, um die „besondere Achtung dadurch zu erkennen zu geben“16, wie es im Bewilligungsschreiben ausdrücklich hieß. Die schon am 12. März vereinbarte Beteiligung einiger Gesangsschülerinnen des Konservatoriums stand ohnehin außer Frage. Den ganzen Chor hatte Nicolai übrigens nicht gewünscht, „da ihm nicht sowohl an einer großen Chormasse, als an einer genauen Ausführung bei dem gedachten geistlichen Stück gelegen“17 war. Die zuletzt zitierte Bemerkung führt uns zum Programm des wie üblich mittäglichen Konzerts vom 4. April 1843 (Abbildung 3), übrigens dem Tag, an dem 15 Brief an den leitenden Ausschuß, 17. März 1843, in: ebenda, Gesellschaftsakten, Einlage ad Nr. 68 ex 1843. 16 Ebenda, Gesellschaftsakten, ad Nr. 63 und 68 ex 1843, 18. März 1843. 17 Brief Nicolais an den leitenden Ausschuß, 12. März 1843, in: Ebenda, Gesellschaftsakten, Einlage ad Nr. 60 ex 1843.

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Abbildung 3: „Vocal= und Instrumental=Concert“ Otto Nicolais vom 4. April 1843. Pro­ grammzettel (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 98

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abends Giuseppe Verdis „Nabucco“ seine Wiener Erstaufführung erlebte. Wie es fünf Jahre zuvor hätte sein sollen, erklangen nun im ersten Teil zwei „geistliche“ Werke, nämlich das „Pater noster“, op. 33, zu Beginn, und im Anschluß daran die „Fugirte Ouverture“, die später unter dem Titel „Kirchliche Fest-Ouverture über den Choral ,Ein feste Burg ist unser Gott‘“, op. 31, im Druck herauskommen sollte. Da diese Kompositionen bis dahin immer noch nicht öffentlich gespielt worden waren, handelte es sich um Uraufführungen. Der zweite Teil brachte vier Ausschnitte aus Nicolais Mailänder Oper „Il proscritto“, WoO 113,18 sowie das gerade bei Mechetti zur Publikation anstehende Lied „Wilhelmine“, op. 29, auch dieses erstmals öffentlich produziert. Wenigstens mit ein paar Bemerkungen seien die beiden größeren Kompositionen erläutert, nicht zuletzt deshalb, weil sie wegen ihrer stilistischen Ausrichtung dem Wiener Konzertpublikum eher fremd anmuteten. Das „Pater noster“ war im Herbst 1836 in Bologna entstanden, als Nicolai dort unter anderem seine zuvor in Rom betriebenen Studien der Klassischen Vokalpolyphonie weiterführte.19 Dem Vater berichtete er, daß er „vortreffliche Akquisitionen altitalienischer Musik […] aus der Sammlung des Padre Martini gemacht habe“, und weiter: „A capella verstanden nur die Alten zu schreiben ! Welche Kunst – welche Klarheit – welcher Klang – welche Einfachheit ! Im Studium und Anstaunen jener alten Meisterwerke vertieft, schrieb ich […] ein ,Pater noster‘ a 8. Wenn ich auch nur auf dem Theater Ruhm zu erwerben versuchen kann, so wird mir doch dieses Fach stets heilig bleiben.“20

Nicolai schuf mit seiner doppelchörigen Motette ein Werk, das hinsichtlich der Traditionszugehörigkeit durchaus ambivalent ist – der Komponist selbst sprach, wie bereits erwähnt, vom altrömischen Stil des 17. Jahrhunderts mit dem kon-

18 Zu dieser Oper Nicolais grundlegend Michael Wittmann, Das verkannte Hauptwerk? Zur Entstehung von Otto Nicolais Oper Il proscritto / Der Verbannte (Mailand 1841 / Berlin 1849), in: Thomas Betz­ wieser u. a. (Hg.), Bühnenklänge. Festschrift für Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag, München 2005, S. 399–425. 19 Neuausgabe, hrsg. von Günter Graulich, Stuttgart 2011 (= CV 23.327). Ulrich Konrad, Otto Nicolai und die Palestrina-Renaissance, in: Winfried Kirsch (Hg.), Palestrina und die Kirchen­musik im 19. Jahrhundert. Band 1: Palestrina und die Idee der Klassischen Vokalpolyphonie im 19. Jahrhundert, Regensburg 1989, S. 117–142; Ders., „Die heiligen Schauer der Tonkunst“. Zum geistlichen Schaffen Otto Nicolais, in: Musik und Kirche Mai/Juni 2010, Nr. 3, S. 188–191; Ullrich Scheideler, Komponieren im Angesicht der Musikgeschichte. Studien zur geistlichen a-cappella-Musik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umkreis der Sing-Akademie zu Berlin, Berlin 2010 (= Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, Bd. 11), S. 162–193; Rettinghaus, Studien (wie Anm. 2), S. 99–108. 20 Otto an Carl Nicolai, 12. Dezember 1836, in: Otto Nicolai, Briefe an seinen Vater, hrsg. von Wilhelm Altmann, Regensburg 1924 (= Deutsche Musikbücherei, 43), S. 194.

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kreten Vorbild Palestrinas, was historisch einigermaßen ungenau ist und nur bedingt zutrifft. Doch ging es ihm ja auch weniger um getreue imitatio als mehr um den schwärmerischen Anschluß an ein kunsthandwerkliches Ideal: „So wie die alten italienischen Meister schreibt doch niemand mehr ! Die wahre Kunst ist tot !“21 Immerhin: In Wien sollte die Zuhörerschaft erfahren, über welche satztechnischen Fertigkeiten ihr Opernkapellmeister verfügte. Anders als die „Weihnachts-Ouvertüre“, die das titelgebende evangelische Kirchenlied zwar als substantielles Motiv, jedoch nur als eines von mehreren behandelt, rückt die „Kirchliche Fest-Ouvertüre“, op. 31, den Choral ins Zentrum einer insgesamt strenger gehandhabten, da auf die Fuge konzentrierten Formbildung. Hervorgegangen ist das Werk aus einer im Sommer 1836 ausgearbeiteten kontrapunktischen Studie für Klavier zu vier Händen. Nach der Uraufführung 1843 revidierte Nicolai die Komposition und brachte sie ein Jahr später im Druck heraus. Neben dem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ und dem Fugenthema führt Nicolai noch ein weiteres Thema ein, dessen maestoso-Charakter sich von ähnlich gebauten instrumentalen Gedanken Georg Friedrich Händels ableitet. Die Entwicklung des Formverlaufs bringt in drei Durchführungen eine immer dichtere Schichtung und Verflechtung der drei Themen, ehe eine knappe Coda das Werk in barockisierendem Gestus beschließt. Nicolai sieht übrigens vor, daß zu Beginn und beim jeweiligen Auftreten des Chorals dieser vom Chor gesungen wird, die Singstimmen also nicht bloß fakultativ eingesetzt sind. Das „Portraitkonzert“, das schließlich doch nicht im Musikvereinssaal, sondern im Redoutensaal gegeben wurde, fand beim Publikum keine gesteigerte Nachfrage – der Dirigent der Philharmonischen Konzerte genoß damals eine höhere Reputation als der Komponist Nicolai, der, wie es der kluge Kritiker Alfred Julius Becher insgesamt richtig beurteilte, sich „stets als ein strebsames, geistreiches und mit ausgezeichneten Kenntnissen ausgerüstetes Talent gezeigt [habe], dem es aber bisher mehr um ein Erfassen fremder Tendenzen, die er denn mit Prägnanz in sich zu verarbeiten weiß, zu thun war, als mit der Ausbildung einer selbstständigen Richtung, deren er doch gewiß fähig wäre, wenn er sich mit Ernst dazu konzentriren wollte.“22

An dieser Stelle sei noch kurz der Faden unseres Berichts über die Verhandlungen um den Direktorenposten am Konservatorium wieder aufgenommen.

21 Tagebucheintrag vom 2. Oktober 1836, in: Otto Nicolais Tagebücher, soweit erhalten zum ersten Male vollständig hrsg. von Wilhelm Altmann, Regensburg 1937 (= Deutsche Musikbücherei, 25), S. 166 22 Konzertkritik in: Sonntagsblätter, 9. April 1843, S. 347.

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Gleich nach dem Konzert bestätigte Nicolai seine Absicht, zum ehrenvollen Angebot der Gesellschaft Stellung zu nehmen; er tat dies aber erst nach sorgfältiger Abwägung aller Argumente am 28. Juni 1843.23 In einem sehr gründlichen, von genauer Kenntnis der institutionellen Interna getragenen Votum hielt er fest, daß die „Direction des Conservatoriums“ erheblichen Zeitaufwandes bedürfe, weswegen es unzumutbar sei, die Tätigkeit auf längere Zeit unbesoldet auszuüben. Zwar wünschte er nicht sofort ein regelmäßiges Gehalt, jedoch einen Rahmenplan, in dem ein Modus künftiger Honorierung festgelegt werden sollte. Weiterhin forderte er für sich als Direktor die Mitgliedschaft im leitenden Ausschuß qua Amt, dann die permamente Vorsteherschaft im Konservatoriums-Komitee, außerdem die Zusage, die öffentlichen Großen Concerte der Gesellschaft zu dirigieren und schließlich die Befreiung von der Leitung der Gesellschaftsund Übungskonzerte. Nicolai strebte erkennbar eine wesentliche Stärkung der Stellung des Direktors gegenüber der Gesellschaft wie innerhalb des Konservatoriums an. Die Än­derung der betreffenden Paragraphen in den Instruktionen und Statuten, welche er in dieser Hinsicht verlangte, bedeutete einen recht tiefen Eingriff in die Struktur der Institution. Die Ausschußberatungen vom 18. Juli 1843 zeigten, daß die Leitung der Gesellschaft nicht gewillt war, Nicolais Vorstellungen zu folgen und die geforderten Reformschritte zu tun.24 Zunächst galt es aber, Zeit zu gewinnen – offiziell, um zu erkunden, wie weit Nicolai entgegenzukommen sei, inoffiziell, um eine andere Personalentscheidung anzubahnen. Diese lief im Frühjahr 1844 auf den Hoforganisten Gottfried Preyer hinaus. Er stand bereits als Theorielehrer in Diensten der Gesellschaft und wollte sich, anders als Nicolai, widerspruchslos in das satzungsgemäße Instanzensystem der Gesellschaft integrieren.25 Angesichts solcher Anpassungswilligkeit war der leitende Ausschuß nun sogar bereit, ein Jahresgehalt von immerhin 600 Gulden zu bewilligen.26 Ungeachtet dieses Ausgangs der Verhandlungen kooperierten Nicolai und die Gesellschaft weiterhin mit beiderseitigem Gewinn. Alois Fuchs, „Verwalter“ der Bibliothek, fungierte als bereitwilliger Ansprechpartner für alle Notenwünsche Nicolais. Zu den Philharmonischen Konzerten lieh er Partituren und Auflagstimmen aus dem reichen Fundus der Gesellschaft her, und es entspricht nur der 23 Brief an den leitenden Ausschuß, 28. Juni 1843, in: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Briefe Otto Nicolai 11. 24 Ebenda, Gesellschaftsakten, 160 ex 1843. 25 Elfriede Bernhauer, Gottfried von Preyer, maschinschr. Phil. Diss. Wien 1951, passim. 26 Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Gesellschaftsakten, 81 ex 1844.

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Wahrheit, zu sagen, daß ohne die großzügige Unterstützung der Gesellschaft die ambitionierte Programmgestaltung der Philharmoniker kaum zu realisieren gewesen wäre.27 Dem Komponisten Nicolai hat die Gesellschaft ihren Respekt nicht versagt. Auch wenn sie schließlich an den Uraufführungen des „Pater noster“ und der „Kirchlichen Festouverture“ nur mehr mittelbar beteiligt war: Ohne sie läßt sich die Geschichte dieser beiden Werke nicht erzählen.

27 Zeugnisse der engen Kooperation sind etwa die (unveröffentlichten) Briefe Nicolais an Alois Fuchs vom 24. Februar 1844, 5. März 1844, 29. Oktober 1844; 10. Februar 1845, 5. April 1845; 10. Februar 1846, 10. Dezember 1846; 21. Februar 1847, 29. März 1847. Am 20. April 1846 dankte das Komitee der Philharmonischen Konzerte dem Förderer in einem Brief explizit für die gewährte Unterstützung.

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„Musik-Verein-Tänze“: Sträuße von Sträussen

Norbert Rubey (Wien) „Musik-Verein-Tänze“: Sträuße von Sträussen 15 Kompositionen – 15 Melodien-Sträuße – widmeten (mehr oder weniger) die Sträusse1, die komponierenden Mitglieder der berühmten Wiener Musikerfamilie Strauss, der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und führten diese im Rahmen von Veranstaltungen derselben erstmals auf. Johann Strauss (Vater) übertrifft mit neun Werken für Bälle der Gesellschaft die Beiträge seiner drei Söhne – Johann (3), Josef (1) und Eduard (2) – zusammengenommen. Rein musikalisch war die Gesellschaft der Musikfreunde nur an Tanzmusik der Sträusse interessiert. Der erste Ball der „Gesellschaft der Musikfreunde des Oesterreichischen Kaiserstaates“ fand am 8. Februar 1830 im k. k. Redoutensaal der Wiener Hofburg statt.2 Wer bei diesem die Tanzmusik ausführte, ist nicht überliefert. Aber im darauffolgenden Jahr 1831 ist der Ballankündigung in der „Wiener Zeitung“ bereits zu entnehmen, „Der bekannte Herr Musik=Director Johann Strauß hat die Musik übernommen.“3 Im selben Jahr, am 1. und am 13. Februar, spielte Strauss mit seinem im April 1827 gegründeten Orchester auch schon erstmals bei zwei Bällen am Kaiserhof.4 In den Folgejahren bis einschließlich 1836 war Johann Strauss (Vater) die alleinige Ausführung der Tanzmusik bei allen Bällen der Gesellschaft der Musikfreunde übertragen. Stets fanden sie in den k. k. Redoutensälen statt.

Johann Strauss (Vater), „Erinnerung an Berlin“, Walzer, op. 78 Die Ankündigung des am 10. Februar 1835 wieder im k. k. Redoutensaal stattfindenden Balls versprach eine Novität: „Die Musik besorgt der bekannte Musik=Director Herr Johann Strauß, welcher seine neuesten Walzer unter dem Titel: Erinnerung an Berlin, vorzutragen die Ehre haben wird.“5 Der Name des Komponisten und der an Strauss’ Konzerte in Berlin im Herbst 1834 anspielen1 Zur Schreibung des Namens „Strauß“ bzw. richtig „Strauss“ siehe: https://www.johann-strauss.at/forschung/forschungssplitter/strauss-strauss/. Unabhängig davon sind die Quellen immer gemäß der dort verwendeten Schreibweise zitiert. 2 Wiener Zeitung, 28. 1. 1830. 3 Wiener Zeitung, 4. 1. 1831. 4 Hanns Jäger-Sunstenau, Johann Strauss. Der Walzerkönig und seine Zeit, in: Wiener Schriften, Heft 22, Wien 1965, S. 42. 5 Wiener Zeitung, 20. 1. 1835; Wiederholungen am 22. und 24. 1. 1835.

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de Werktitel heben sich in dieser Anzeige, erstmals erschienen in der „Wiener Zeitung“ vom 20. Jänner, durch deutlich größere Druckbuchstaben auffallend vom übrigen Text ab. Angesichts dessen mochten vielleicht manche Mitglieder der Gesellschaft der Musikfreunde noch auf eine Ballwidmung oder zumindest auf eine Uraufführung gehofft haben. Doch der Text des Inserats versprach nur die Aufführung „seiner neuesten Walzer“, nicht mehr. Strauss führte die Walzer „Erinnerung an Berlin“, op. 78, schon am 28. Jänner im „Sperl“ in der Leopoldstadt zum ersten Mal auf, nämlich auf dem „Gesellschaftsball zum Besten des unter dem Protectorate Sr. Kaiserl. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzoges Anton Victor stehenden Versorgungsvereins für Blinde.“6 Beide Bälle waren allerdings geschlossene Veranstaltungen. Die Öffentlichkeit hatte Strauss’ jüngstes Werk also noch nicht zu Gehör bekommen. Somit konnten die Mitglieder der Gesellschaft der Musikfreunde die Aufführung von Strauss’ „neuesten Walzern“ augenzwinkernd als „Uraufführung“ gelten lassen. Gewidmet ist das Werk Ihrer königlichen Hoheit Augusta7, der Gattin Wilhelms von Preußen, des späteren Deutschen Kaisers Wilhelm I.

Johann Strauss (Vater), „Heimath-Klänge“, Walzer, op. 84 Im nächsten Jahr wiederholten sich die Ereignisse. Der Ball der Gesellschaft der Musikfreunde fand am Mittwoch, dem 27. Jänner 1836 (Mozarts 80. Geburtstag), statt, wiederum im k. k. Redoutensaal. Die Ballanzeige in der „Wiener Zeitung“ war ähnlich formuliert wie im Vorjahr, Komponist und Werktitel stachen durch größere Buchstaben ins Auge: „Die Musik besorgt der Capellmeister Herr Johann Strauß, welcher seine neuesten Walzer unter dem Titel: Heimath=Klänge vorzutragen die Ehre haben wird.“8 Die erste Aufführung der (hier so genannten) „Heimathsklänge“, op. 84, fand aber bereits einen Tag vor dem Ball der Gesellschaft der Musikfreunde statt, nämlich am 26. Jänner im „Sperl“ beim Gesellschaftsball zugunsten der unter dem Schutz von Erzherzog Franz Carl stehenden „Versorgungs=Anstalt für Blinde“.9 Die Parallelen zum Vorjahr sind auffallend. Aber, wiederum waren beide Bälle als geschlossene Veranstaltungen nur einem ausgewählten Publikum zugänglich. In der Coda der „Heimath=Klänge“ zitierte Strauss den bekannten Refrain, „Ja nur ein Kaiserstadt, ja nur ein Wien !“, des

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Wiener Zeitung, 28. 1. 1835. Titelseite der Klavierausgabe. Tobias Haslinger, Wien o. J. [1835]. Wiener Zeitung, 21. 1. 1836; Wiederholung am 25. 1. 1836. Wiener Zeitung, 25. 1. 1836, sowie Der Wanderer, 29. 1. 1836.

„Musik-Verein-Tänze“: Sträuße von Sträussen

Duetts zwischen Zilly, „Was macht denn der Prater, sag blüht er recht schön ?“, und Bims, „Die Blätter fall’n ab, es ist völlig nicht z’ geh’n.“, aus dem Singspiel „Aline oder Wien in einem andern Welttheile“ von Adolph Bäuerle (Musik: Wenzel Müller).

Johann Strauss (Vater), „Cäcilien-Walzer“, op. 120 Zufolge seiner Konzerttourneen konnte Johann Strauss (Vater) erst wieder im Fasching 1840 engagiert werden. „Die Gesellschaft der Musikfreunde wird am 3. Februar d. J. in den neu decorirten Localitäten zum Sperl in der Leopoldstadt einen Ball abhalten […]. Die Musik in den beyden Tanzsälen wird von Herrn Capellmeister Joh. Strauß besorgt, und im oberen Saale unter dessen persönlicher Leitung ausgeführt werden, wobey derselbe seine neueste eigends für diesen Ball componirte Walzer=Partie, unter dem Titel: Cäcilien=Walzer, vorzutragen die Ehre haben wird.“10

Diesmal durfte sich die Gesellschaft über eine tatsächliche Uraufführung freuen. Die Titelseite der im September 1840 erschienenen Klavierausgabe11 beweist es: „bei dem Balle der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates zum ersten Male aufgeführt.“12 Die heilige Cäcilia wird als Schutzpatronin der Musik verehrt. Beide Melodien des ersten Walzers der „Cäcilien-Walzer“, op. 120, stammen aus dem zweiten Satz der Sonate für Violine und Klavier („Kreutzer-Sonate“), op. 47, von Ludwig van Beethoven. Strauss übertrug Beethovens Melodien vom Zweiviertel- in den Dreivierteltakt. Bei der Reprise des ersten Themas erklingt dieses im „Tremolo“, womit der Titelzusatz, „Cäcilien-Walzer / mit dem beliebten Tremolo“, als werkimmanent erklärt ist. Im Trio zum ersten Walzer verwendete Strauss ein Thema aus dem letzten Satz von Beethovens Sonate op. 47, das er vom Sechsachtel- in den Dreivierteltakt übertrug. Den Mitgliedern der Gesellschaft der Musikfreunde mochten Strauss’ musikalische Anspielungen wohl Vergnügen bereitet haben, bezogen sie sich doch auf recht aktuelle Ereignisse: Im Dezember 1840 würde sich zum 70. Mal Beethovens Geburtstag jähren. 1826 zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt,13 zählte Beethoven zu den ersten, denen diese Auszeichnung zuteil geworden war. Noch

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Wiener Zeitung, 25. 1. 1840; Wiederholung am 1. 2. 1840. Wiener Zeitung, 14. 9. 1840. Klavierausgabe. Tobias Haslinger, Wien o. J. [1840]. Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1. Abteilung: 1812–1870[,] verfasst von Richard von Perger, 2. Abteilung: 1870–1912[,] verfasst von Dr. Robert Hirschfeld, Wien 1912, Beilagen, S. 282.

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hatte man die fünf grandiosen Konzerte des berühmten deutschen Violinisten Wilhelm Bernhard Molique nicht vergessen, die dieser im Dezember 1838 und zu Jahresbeginn 1839 in Wien gab. Insbesondere begeisterte Moliques Interpretation (zusammen mit der Pianistin Fanny Sallamon) von Beethovens Sonate für Violine und Klavier, op. 47, aufgeführt beim vierten Konzert am Neujahrstag 1839.14 Im selben Jahr wurde Molique von der Gesellschaft der Musikfreunde zum Ehrenmitglied ernannt.15 In allerbester Erinnerung hatten die Wiener aber die beiden Gastkonzerte des berühmten Violinisten Charles-Auguste de Bériot, die am 3. November und am 30. November 1839 stattgefunden hatten.16 Vor allem Bériots Bravourstück für Violine solo, „Le Trémolo, caprice sur un thème de Beethoven“, eine das erste Thema des zweiten Satzes von Beethovens Opus 47 variierende virtuose Tremolo-Studie, löste große Begeisterung beim Publikum aus.17 Bériots Idee und das aktuelle Wiener Konzertleben aufgreifend komponierte Strauss also „Cäcilien-Walzer / mit dem beliebten Tremolo“, dasselbe Thema Beethovens im Tremolo darstellend wie Bériot, allerdings im Walzertakt.

Johann Strauss (Vater), „Apollo-Walzer“, op. 128 Im Fasching 1841 fand der Ball der Gesellschaft der Musikfreunde wie im Jahr 1836 wieder an Mozarts Geburtstag, dem 27. Jänner, und wie im Vorjahr wiederum im „Sperl“ statt. Strauss war fast schon traditionell für die Ausführung der Ballmusik engagiert worden. Dem in der „Wiener Zeitung“ dreimal geschalteten Inserat der Gesellschaft konnte man entnehmen, daß „J. Strauss […] seine neueste eigends für diesen Ball componirte Walzerparthie, unter dem Titel: ,Apollo=Walzer‘ vorzutragen die Ehre haben wird.“18 Musikalische Anspielungen sind in diesen Walzern nicht feststellbar, weder Mozarts 85. Geburtstag noch die Gesellschaft der Musikfreunde betreffend. Eine Erklärung des Werktitels von Strauss’ Walzern könnte etwa lauten: Apollo ist in der griechischen und in der römischen Mythologie neben vielem anderen der Gott des Lichts und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs. Die Titel­

14 Wiener Zeitung, 29. 12. 1838; Wiederholung am 31. 12. 1838. Der Humorist, 31. 12. 1838 und 3. 1. 1839. 15 Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde (Anm. 13), Beilagen, S. 284. 16 Der Humorist, 26. 10. und 2. 12. 1839. 17 Der Humorist, 11. 11. 1839; La Fama, 11. 11. 1839; Der Oesterreichische Zuschauer, 18. 11. 1839; Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, 19. 11. 1839; Der Humorist, 2. 12. 1839; Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, 5. 12. 1839. 18 Wiener Zeitung, 12. 1. 1841; Wiederholungen am 14. und 17. 1. 1841.

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illustration der Klavierausgabe der „Apollo-Walzer“, op. 128, zeigt eine Lyra im Strahlenglanz.19 Gewiß lassen diese Argumente einen Bezug zum Ball der Gesellschaft der Musikfreunde herstellen. Der Hintergrund sowohl für den Werktitel als auch für die Titel-Illustration ist jedoch ein ganz anderer. Wenige Tage nach dem Ball der Gesellschaft der Musikfreunde konnte man in der „Wiener Zeitung“ die folgende Ball-Anzeige lesen: „Dinstag den 2. Februar 1841 findet in den Sälen zum Sperl, bey brillantester Beleuchtung des Ball=Saales, die Wiederhohlung des, unter dem Titel: Apollo-Ball, im vorigen Jahre mit so großem Beyfalle abgehaltenen Festes Statt. Die Musik steht unter der persönlichen Direction des Herrn Capellmeisters Johann Strauß.“20

Hatte Strauss die „Apollo-Walzer“ auch für den „Apollo-Ball“ komponiert ? Worauf spielte in diesem Inserat der Hinweis auf ein im Vorjahr mit großem Beifall abgehaltenes Fest an ? Viermal wurde im Vorjahr in der „Wiener Zeitung“ per Inserat ein „Großer Gesellschafts=Ball“ am 5. Februar 1840 im „Sperl“ beworben. Auf eine Neuerung wurde dabei besonders hingewiesen: „Die hierbey zum ersten Mahle im Großen in Anwendung gebrachte Beleuchtung mit den neu in Verkehr getretenen privilegirten Apollo=Kerzen, deren Lichtstärke jede andere Gattung von Kerzen weit übertrifft, dürfte von entschiedenem Effecte seyn.“21 Die Fabrik, die diese „Apollo-Kerzen“ erzeugte, befand sich im „ApolloSaal“, dem ehemaligen Vergnügungsetablissement am Schottenfeld 343 (heute: Wien 7, Zieglergasse 15), woher der Produktname letztlich rührte. Fast täglich waren in den Wiener Tageszeitungen Inserate über die neuen Kerzen geschaltet.22 „Um Verfälschungen zu verhindern, ist jede Kerze am Fuße mit dem Zeichen einer Lira versehen.“23 Diesem Hinweis in der Zeitung „Der Adler“ ist sogar die Abbildung dieser Lyra beigegeben. Die Lyra ist also die Schutzmarke für die hell leuchtenden „Apollo-Kerzen“. Strauss’ „Apollo-Walzer“ wurden zwar beim Ball der Gesellschaft der Musikfreunde uraufgeführt, Werktitel und Titel-Illustration der Klavierausgabe sind jedoch vorrangig als Werbung für die neuen „ApolloKerzen“ und für den „Apollo-Ball“ 1841 im „Sperl“ zu verstehen.

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Klavierausgabe. Tobias Haslinger, Wien o. J. [1841]. Wiener Zeitung, 29. 1. 1841; Wiederholung am 30. 1. 1841. Wiener Zeitung, 30. 1. 1840; Wiederholungen am 2., 4. und 5. 2. 1840. Ein Beispiel: Wiener Zeitung, 31. 1. 1840. Der Adler, 30. 1. 1840.

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Johann Strauss (Vater), Musik-Verein-Tänze, Walzer, op. 140 Trotzdem den Mitgliedern der Gesellschaft der Musikfreunde Johann Strauss’ und seines Wiener Musikverlegers Tobias Haslingers zweigleisiges Vorgehen nicht entgangen sein konnte, engagierten sie Strauss für ihren Ball im „Sperl“ am 19. Jänner 1842 wieder. Stereotyp formuliert wie jedes Jahr inserierte die Gesellschaft den Ball, lediglich Strauss’ dem Anlaß in Aussicht gestellte Komposition austauschend: „Die Musik wird von Herrn Capellmeister Johann Strauss besorgt, […] wobey derselbe seine neueste, eigends für diesen Ball componirte Walzer=Partie (Musikverein=Tänze) vorzutragen die Ehre haben wird.“24 Ob Strauss’ „Musikverein=Tänze“, op. 140, ebenfalls einem mehrfachen Zweck dienten, konnte noch nicht eruiert werden. Der Werktitel war jedenfalls nicht neu: Im Februar 1832 erschienen nämlich im Wiener Musikverlag von Pietro Mechetti Walzer mit dem Titel „Musik-Verein-Tänze“, op. 45, von Joseph Lanner.25 Der ursprüngliche, in Vergessenheit geratene Titel von Lanners Opus 45 lautete allerdings „Conservatoriums Tänze“. Das Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde war zu dieser Zeit in Wien die einzige Musiklehranstalt dieser Art. Ein handschriftlich überlieferter, zeitgenössischer, vollständiger Stimmensatz der „Conservatoriums Tänze“ Lanners wird in der Musiksammlung der Wienbibliothek im Rathaus aufbewahrt.26 Strauss hatte in seinen „Musikverein=Tänzen“ keine Melodien Lanners zitiert oder adaptiert. Johann Strauss (Vater), „Saison-Quadrille“, op. 148 Der Ball der Gesellschaft der Musikfreunde im Fasching 1843 fand am 17. Jänner statt, wiederum im „Sperl“, wobei eigens auf den Zubau eines neuen Saales im ersten Stock hingewiesen wurde. Die Musik besorgte wieder Johann Strauss, „wobey derselbe seine neueste, eigends für diesen Ball componirte Quadrille vorzutragen die Ehre haben wird.“27 Bei diesem Werk handelte es sich um die „Saison-Quadrille / nach Motiven der berühmten Virtuosen Vieuxtemps, Evers und Kullak“28, wie der Titelseite der Klavierausgabe zu entnehmen ist. Sie war diesmal schon vor dem Ball im Handel erhältlich.29 Der belgische Komponist und Violinist Henri Vieuxtemps, der aus Hamburg gebürtige Komponist und 24 25 26 27 28 29

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Wiener Zeitung, 14. 1. 1842; Wiederholungen am 17. und 19. 1. 1842. Wolfgang Dörner, Joseph Lanner. Chronologisch-Thematisches Werkverzeichnis, Wien 2012, S. 200f. Signatur MHc-4531. Wiener Zeitung, 6. 1. 1843. Klavierausgabe. Tobias Haslinger, Wien o. J. [1843]. Anzeige in der „Wiener Zeitung“ vom 5. 1. 1843.

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Pianist Carl Evers, der sich 1841 in Wien niedergelassen hatte, und der aus Polen stammende Pianist und Komponist Theodor Kullak gaben in der laufenden Saison 1842/43 in Wien mehrere viel beachtete Konzerte. Aus aktuellem Anlaß arrangierte Strauss seine „Saison-Quadrille“, op. 148, nach Melodien dieser drei Virtuosenkomponisten.30

Johann Strauss (Vater), „Orpheus-Quadrille“, op. 162 Im Karneval 1844 mußte der Ball der Gesellschaft der Musikfreunde, der in diesem Jahr wieder in den neu renovierten k. k. Redoutensälen der Hofburg stattfand, vom 24. Jänner auf den 30. Jänner verschoben werden.31 Am 23. Jänner war nämlich Erzherzogin Maria Carolina Augusta verstorben.32 Johann Strauss (Vater) hatte wiederum eine Quadrille in Aussicht gestellt, wie den Ankündigungen in verschiedenen Wiener Tageszeitungen zu entnehmen war,33 Werktitel wurde allerdings keiner genannt. Tatsächlich kam bei diesem Ball eine Quadrille von Strauss zur Erstaufführung.34 Es konnte sich dabei nur um die „OrpheusQuadrille“, op. 162, gehandelt haben. Eine andere „neue“ Quadrille von Strauss stand nicht zur Verfügung. Die Titelseite der Klavierausgabe ziert ein schlichter Rahmen mit einer Lyra; es gibt keinen Hinweis auf eine Widmung oder die Uraufführung.35 Orpheus ist ein Sänger und Dichter der griechischen Mythologie, um den sich viele Sagen ranken, der mit seiner Musik wilde Tiere und sogar die Götter der Unterwelt besänftigte, der letztlich aber vergeblich versuchte, seine Geliebte Eurydike aus dem Hades zurückzuholen. Viele Komponisten griffen über 400 Jahre hinweg gerne das Orpheus-Thema auf, dieses durchaus auch variierend, und nicht nur auf dem Gebiet der Oper. Johann Strauss (Vater), „Die vier Haimonskinder“, Quadrille, op. 169 Im Fasching 1845 bewegte nur ein Thema das Wiener Opernpublikum: Die Oper des irischen Komponisten Michael William Balfe, „Die vier Haimonskinder“. Das Werk hatte in einer deutschen Übersetzung des Theaterdichters und 30 Zur Identifizierung der Melodien siehe Thomas Aigner, Beiheft zur „Johann Strauss I“-Edition, Marco Polo CD, Vol. 15, o. O. 2009, S. 8, sowie Max Schönherr / Karl Reinöhl, Johann Strauß Vater, ein Werkverzeichnis, London–Wien–Zürich 1954, S. 226. 31 Wiener Zeitung, 28. 1. 1844; Wiederholung am 29. 1. 1844. 32 Wiener Zeitung, 24. 1. 1844. 33 Allgemeine Wiener Musik-Zeitung, 13. 1. 1844; Sonntagsblätter, 14. 1. 1844; Österreichisches Morgenblatt, 20. 1. 1844. 34 Der Wanderer, 3. 2. 1844. 35 Klavierausgabe. Tobias Haslinger, Wien o. J. [1844].

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Theatersekretärs Josef Kuppelwieser seine Wiener Premiere am 14. Dezember 1844 im Theater in der Josefstadt. Der Erfolg war so groß, daß bereits im nächsten Jahr die beiden bedeutendsten Bühnen Wiens, das Theater an der Wien und das Kärntnertor-Theater, die Oper nachspielten. Schon Anfang Jänner 1845 erschienen in den renommierten Wiener Musikverlagen von Haslinger, Mechetti und Diabelli die ersten Arrangements nach Motiven dieser Oper. Was lag näher, als diesem sensationellen Erfolg auch beim Ball der Gesellschaft der Musikfreunde vom 19. Jänner Rechnung zu tragen: „Die Musik wird vom Herrn Capellmeister Johann Strauß unter seiner persönlichen Leitung ausgeführt, wobey derselbe seine neueste, eigens für diesen Ball componirte Quadrille über Motive aus der Oper: Die vier Haimonskinder, vorzutragen die Ehre haben wird.“36 Die Titelseite der Klavierausgabe bestätigt die Uraufführung von Strauss’ Opus 169, „Quadrille über beliebte Motive aus der Oper Die vier Haimonskinder […]. Componirt und bei dem Balle der Gesellschaft der Musikfreunde des oesterreichischen Kaiserstaates im k. k. grossen Redouten-Saale am 19. Jenner 1845 mit dem grössten Beifalle aufgeführt.“37 Zeugnis von der überschwenglichen Begeisterung des Publikums gibt auch eine Ende Jänner im „Wanderer“ zu lesende Notiz: „Man wird bald nur mehr von Einer Quadrille in Wien reden, und es wird die Strauß’sche aus den ,Vier Haimonskindern‘ seyn. Bisher hat sie Strauß noch in jeder Ballnacht viermal spielen müssen, und die bedeutende erste Auflage, die bei Haslinger erschienen, ist in ein paar Tagen so sehr zusammen geschmolzen, daß bereits eine zweite vorbereitet werden muß, welche die erste um einige Tausend Exemplare überragen wird.“38

Johann Strauss (Vater), „Concert-Souvenir-Quadrille“, op. 187 Auch 1846 wurde den Besuchern des Balles der Gesellschaft der Musikfreunde per Annonce in Aussicht gestellt, daß Johann Strauss (Vater) die Tanzmusik ausführen werde, „wobei derselbe seine neueste, eigens für diesen Ball componirte Quadrille vorzutragen die Ehre haben wird.“39 Der Ball sollte zunächst am 28. Jänner stattfinden,40 mußte aber „wegen eingetretenen Hindernissen in der Benutzung des k. k. Redouten-Saales“ auf den 4. Februar verschoben werden.41 In 36 37 38 39 40 41

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Anzeige in der „Wiener Zeitung“ vom 6. 1. 1845; Wiederholung am 11. und 16. 1. 1845. Klavierausgabe. Tobias Haslinger’s Witwe & Sohn, Wien o. J. [1845]. Der Wanderer, 29. 1. 1845. Wiener allgemeine Musik-Zeitung, 15. 1. 1846. Wiener Zeitung, 31. 12. 1845; Wiederholungen am 5. und 17. 1. 1846. Wiener Zeitung, 27. 1. 1846; Wiederholungen am 29. und 30. 1. sowie am 1. 2. 1846.

„Musik-Verein-Tänze“: Sträuße von Sträussen

einem Bericht über die Veranstaltung konnte man lesen, „daß die neue eigens für diesen Ball von Johann Strauß (Vater) componirte Quadrille wieder eine jener lieblichen und füßeberauschenden Compositionen sei, die Jedem den lebhaftesten Beifall abringen müssen.“42 Die musikalischen Themen für die „ConcertSouvenir-Quadrille“, op. 187, entnahm Strauss Kompositionen, die Höhepunkte in der laufenden Konzert-Saison 1845/46 darstellten. In der Klavierausgabe wird bei den einzelnen Quadrille-Abschnitten auf diese Werke hingewiesen:43 Das melodische Material der Touren „Pantalon“, „Poule“, „Trénis“ und „Pastourelle“ entstammt der Ode-Symphonie „Le désert“ [Die Wüste] des französischen Komponisten Félicien David, für „Été“ stand das Konzertstück „L’ Inquiétude“, op. 29, des böhmischen Pianisten und Komponisten Alexander Dreyschock Pate. Dem „Finale“ liegen die Variationen Opus 17, „Yankee Doodle“, des belgischen Violinisten und Komponisten Henri Vieuxtemps zugrunde.

Johann Strauss (Sohn), „Carnevals-Botschafter“, Walzer, op. 270 Bekanntlich wurde Johann Strauss (Sohn) im August 1862 von Jetty Treffz geheiratet. Erst nach der Hochzeitsreise, die das jung vermählte Paar nach Venedig und Triest unternahm, arbeitete Johann wieder. Er schien bester Laune und voller Schwung zu sein. Die Wiener Tageszeitungen meldeten, er werde Walzer mit dem wienerischen Titel „Spadifankerln“ komponieren. Der Spadifankerl ist in seiner ursprünglichsten Bedeutung der kleinste Teufel, eine ehemals beliebte Possengestalt, in übertragenem Sinn ein Witzbold und in weiterentwickelter Bedeutung ein geistig regsames Kind. Tatsächlich zeichnen die neuen Walzer eine witzige und sehr originelle Instrumentierung aus. Der endgültige Titel „Carnevals-Boschafter“ versteht sich als Bote des nächsten Faschings vor dem Advent. Am 11. November beginnt traditionell der Fasching – und genau an diesem Tag, dem 11. November 1862, veranstaltete die Gesellschaft der Musikfreunde ein großes Fest anläßlich ihres 50jährigen Gründungsjubiläums. Wahrscheinlich hat Strauss dabei erstmals seine „Carnevals-Botschafter“ zu Gehör gebracht. Die erste öffentliche Aufführung fand dann bei einem Konzert im „Sperl“ am 22. November 1862 statt.44

42 Oesterreichisches Morgenblatt, 7. 2. 1846. 43 Klavierausgabe. Tobias Haslinger’s Witwe & Sohn, Wien o. J. [1846]. 44 Vgl. Strauss-Elementar-Verzeichnis (SEV), 6. Lieferung, Tutzing 1995, S. 406f.

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Johann Strauss (Sohn), „Freuet euch des Lebens“, Walzer, op. 340 Josef Strauss, „Künstler-Gruß“, Polka française, op. 274 Eduard Strauss, „Eisblume“, Polka Mazurka, op. 55 Am 17. Juni 1867 war die Grundsteinlegung des von Theophil Hansen entworfenen neuen Musikvereinsgebäudes erfolgt; am 5. Jänner 1870 setzte Kaiser Franz Joseph I. den Schlußstein; am darauffolgenden Tag, dem 6. Jänner, fand im Großen Saal, dem „Goldenen Saal“, das Eröffnungskonzert statt. Neun Tage später, am 15. Jänner 1870, veranstaltete die Gesellschaft der Musikfreunde den ersten Ball im neuen, eigenen Haus. Bei diesem Eröffnungsball spielte die Strauss-Kapelle. Alle drei Brüder Strauss widmeten eine Komposition: Johann die Walzer „Freuet euch des Lebens“, op. 340, Josef die Polka française „Künstler-Gruß“, op. 274, und Eduard die Polka Mazurka „Eisblume“, op. 55. Für den Titel von Johanns Walzern, aber nur für diesen, jedoch nicht für die Komposition, stand ein sehr bekanntes Lied Pate, „Freuet euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht“, 1793 von Johann Martin Usteri gedichtet, 1794 von Hans Georg Nägeli vertont. Auch von Gustav Michaelis ist ein Lied mit demselben Text überliefert. Die Titellithographie von Johanns Walzern zeigt eine Ansicht des neuen Gebäudes der Gesellschaft der Musikfreunde. Weshalb eine drei Jahre später im Druck erschienene Titelauflage der Klavierausgabe anstatt des Musikvereinsgebäudes Spaniens Wappen und Krone zeigt, und dazu die gedruckte Zueignung, „Seiner Majestät dem König von Spanien Amadeus in tiefster Ehrfurcht gewidmet“, muß derzeit noch unbeantwortet bleiben. Mehrfachvergaben von Widmungen begegnen wir bei der Strauss-Dynastie wiederholt.45 Jedenfalls hatte die Gesellschaft der Musikfreunde Johann Strauss (Sohn) im Herbst 1894, anläßlich dessen 50-jährigen Künstlerjubiläums, die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Im Testament vom März 1895 hatte Strauss die Gesellschaft der Musikfreunde zum Universalerben nach seinem Tod eingesetzt. Johann Strauss (Sohn), „Klug Gretelein“, Walzer, op. 462 Eduard Strauss, „Die Jubilanten“, Walzer, op. 295 Am 6. Jänner 1895 jährte sich zum 25. Mal die Eröffnung des neuen Gebäudes der Gesellschaft der Musikfreunde. „Der Fest=Abend […], welcher die Reihe der Veranstaltungen anläßlich des Jubiläums schließen wird, findet am 18. April statt […]. In dem Concerte, welches dem Balle vorhergeht, […] und hat Meister Johann Strauß den für diese Feier neu compo45 Vgl. ebenda (SEV), 7. Lieferung, Tutzing 1997, S. 538ff.

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Fest-Abend vom 18. April 1895 mit der Uraufführung des der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien gewidmeten Gesangs-Walzers „Klug Gretelein“, op. 462, von Johann Strauss. Pro­ grammzettel (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 113

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nirten Gesangwalzer ,Klug Gretelein‘, welchen er persönlich dirigiren wird, bereits vollendet.“46

Weitere Ankündigungen in verschiedenen Wiener Tageszeitungen informierten über das Großereignis.47 Strauss’ Gesangswalzer „Klug Gretelein“, op. 462, textiert von dem Journalisten und Bühnenautor Alfred Maria Willner, stand als letzter Punkt auf dem Programm des Festkonzerts (Abbildung S. 113). Vom Publikum bejubelt, dirigierte Johann selbst die Strauss-Kapelle. In der Konzertsängerin Olga von Türk-Rohn „fand er eine glänzende Interpretin seines Walzers.“48 Die Titel-Illustration der Klavierausgabe stammt vom Maler und Graphiker Franz Wilhelm Marquis de Bayros,49 dem ersten Gatten von Johann Strauss’ Adoptivtocher Alice. Das Bild nimmt Bezug auf Willners Text: Obwohl von ihrer Mutter gewarnt, geht Gretchen allein in den Wald, wird überfallen – und kommt als Braut des Jägers nach Hause zurück. Strauss’ autographe Partitur wird im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien aufbewahrt. – Eduard widmete der Gesellschaft zum Jubiläum die Walzer „Die Jubilanten“, op. 295, und führte diese ebenfalls beim Festabend am 18. April 1895 erstmals auf.

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Neues Wiener Journal, 1. 4. 1895; Neue Freie Presse, 2. 4. 1895. Die Presse, 17. 4. 1895; Neues Wiener Journal, 17. 4. 1895; Wiener Zeitung, 17. 4. 1895. Neues Wiener Journal, 19. 4. 1895. Klavierausgabe. Emil Berté & Cie, Wien 1895.

Bruckner-Uraufführungen im Musikverei

Erich Wolfgang Partsch (Wien) † Bruckner-Uraufführungen im Musikverein In den nachfolgend betrachteten Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde mit zur Uraufführung gebrachten Werken Anton Bruckners sind im strengen Sinn eigentlich nur zwei Uraufführungen vertreten. Gründe dafür waren, das sei bereits hier vorweggenommen, vorrangig die personelle Konstellation sowie die Programmpolitik der Gesellschaft. Dadurch waren die wenigen Uraufführungen einerseits von geänderten Fassungen seitens des Komponisten geprägt, andererseits durch zeitliche Verzögerungen und Programmumstellungen seitens der Gesellschaft. Allesamt waren die Werke mäßig erfolgreich, bei der Uraufführung der III. Symphonie kam es sogar zum Skandal, der eine Vorahnung auf das berüchtigte „Watschenkonzert“ vom 31. März 1913 zuläßt.

II. Symphonie Die Uraufführung der 1. Fassung der II. Symphonie c-Moll, WAB 102, hatte am 26. Oktober 1873 im Großen Musikvereinssaal stattgefunden, und zwar laut dem Programm „Zur Schlussfeier der Wiener Weltausstellung“.1 Die Wiener Philharmoniker spielten unter der Leitung Anton Bruckners und bescherten dem Komponisten einen Erfolg, wenn auch bereits bekannte Stereotype, wie mangelnder Formsinn und zu viele Generalpausen, als Kritikpunkte auftauchten. Bruckners spätere ,ideal-ästhetische‘ Position schien zu dieser Zeit allerdings noch nicht ausgeprägt. Zweieinhalb Jahre später fand am 20. Februar 1876 eine neuerliche Aufführung unter veränderten Voraussetzungen statt. Nach erfolgter Umarbeitung war eine neue Fassung entstanden, die nun aufgeführt werden sollte. Johann Herbeck stellt dafür das Programm zusammen. Der erneut von Bruckner selbst dirigierten Symphonie folgten Franz Schuberts Lied „Der Friede sei mit Euch“ in einer Chor-Bearbeitung von Johann Herbeck, zwei Chorwerke von Robert Schumann sowie das „Tripel=Concert“ von Ludwig van Beethoven. – Im Vorfeld hatte sich Eduard Hanslick am „17 Febr. 876“ in einem Brief über die bevorstehende Aufführung erkundigt.

1 Allerdings besaß laut der Kritik in „Das Vaterland“ (XIV. Jg., No. 300, 31. October 1873, S. 1) „das Concert des Herrn Bruckner weder mit der Weltausstellung, noch mit der Schlußfeier dieses Ereignisses irgend einen Zusammenhang“.

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Erich Wolfgang Partsch (Wien) †

Sehr geehrter Herr ! Möchten Sie so gut sein, meinem Gedächtniß nachzuhelfen in betreff der Bruckner’schen Sinfonie, die Sonntag gegeben wird? Es soll ja dieselbe sein, die das philharm. Orchester vor einigen Jahren, unter Bruckners Direction gespielt hat. War das ein ,philharmonisches Concert‘ oder ein von Bruckner selbst gegebenes? Und wann war diese 1te Aufführung? Ich kann mich nicht genau erinnern und wäre Ihnen für 2 Worte sehr dankbar! Hochachtungsvoll Ihr ergebener Dr Ed Hanslick.2

Nirgendwo wird näheres zu dieser „Novität“ erklärt, in der nun (entgegen der ursprünglichen Reihenfolge) endgültig das – zunächst „Adagio“ überschriebene – Andante an 2. Stelle erklang und das Scherzo danach als 3. Satz. Die Ankündigung der Aufführung einer „Novität“ Bruckners in der „Neuen Freien Presse“ vom 17. Februar hatte sich allerdings in der Kritik äußerst negativ ausgewirkt. Man vermutete einen „Etikettenschwindel“, und die Kritiken verstärkten nun auch die alten Stereotype: Das Werk sei bombastisch, konfus, besäße keinen organischen Zusammenhang und insgesamt mehr Mängel als Lichtseiten. Im „Neuen Fremden-Blatt“ ist zu lesen, daß die gerühmte Uraufführung (von 1873) vor „Anhängern“ stattgefunden hätte, daß das „jedenfalls interessante aber unerquickliche“ Werk jetzt hingegen, vor einem „unbefangeneren Publicum […] kaum einen Achtungserfolg“ erlangen konnte. „Gefallen kann ja am Ende doch diese endlose, wenn auch noch so geistreiche Züge bringende, abstracte Grübelei Niemandem“.3 Ähnlich lautet es bei Edurard Hanslick: „Das Programm bezeichnete diese Composition ungenau und irreführend als ,neu‘; in Wahrheit ist es dieselbe C-moll-Symphonie, welche bereits im selben Saale, gleichfalls unter persönlicher Leitung des Autors, vom Philharmonischen Orchester am 26. October 1873 aufgeführt ward. Wenn die Direction der Gesellschafts=Concerte ein Orchesterwerk von Bruckner geben wollte, so hätte sie jedenfalls eine von den zwei oder drei neueren Symphonien dieses Componisten wählen sollen. […] Ueber letztere lautete seinerzeit das Urtheil ziemlich übereinstimmend, daß Spuren von Talent, einzelne bedeutende Anläufe, Momente von Geist und leidenschaftlichem Aufschwung darin walten – das Alles aber ohne gesunden organischen Zusammenhang, abgerissen, confus, überladen mit Bombast, voll directer Anklänge an Beethoven und Wagner, dabei unsäglich ermüdend durch übermäßige Länge.“4 2 Österreichische Nationalbibliothek, Handschriften-Sammlung, Autogr. 132/64-6. Adressat war vermutlich Eusebius Mandyczewski (1857–1929), der spätere Direktor des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde. 3 Neues Fremden-Blatt 12 (1876), Morgenausgabe, No. 52, 22. Februar, S. 4. 4 Neue Freie Presse Nr. 4128, 22. Februar 1876, S. 7.

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Bruckner-Uraufführungen im Musikverei

III. Symphonie Am 16. Dezember 1877 findet im Musikverein eine echte Uraufführung, nämlich jene der III. Symphonie d-Moll, WAB 103, statt. Bis dahin ist es ein langer, mühseliger Weg. Bereits 1873 gab es Proben mit den Wiener Philharmonikern, doch wurde das Werk damals nicht zur Aufführung angenommen. Nach ganz neuer Bearbeitung und mehreren Vorstandssitzungen wurde letztendlich doch eine Uraufführung beschlossen. Johann Herbeck stellte dafür folgendes Programm zusammen (Abbildung 1): Bruckners III. Symphonie (unter eigenem

Abbildung 1: Programmzettel, Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 16. Dezember 1877: Uraufführung der III. Symphonie d-Moll (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 117

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Dirigat), danach Werke von Arcangelo Corelli, Giovanni Pierluigi da Palestrina und Francesco Durante sowie eine Mozart-Symphonie. Nach dem plötzlichen Tod von Johann Herbeck übernahm Joseph Hellmesberger die Leitung und stellte das Programm der Uraufführung komplett um. An der Genese des Programms läßt sich ablesen, daß der Skandal vorprogrammiert zu sein schien. Den Beginn machte nun die Egmont-Ouvertüre von Beethoven, anschließend folgten Werke von Louis Spohr (Violinkonzert d-Moll), Mozart (Arie aus „Die Hochzeit des Figaro“), Peter von Winter (Arie aus „Das unterbrochene Opferfest“) und nochmals Beethoven („Meeresstille und glückliche Fahrt“). Bruckners III. Symphonie sollte am Schluß erklingen. Von vornherein war klar, daß das Programm eindeutig zu lang war und die Aufführung der anspruchsvollen Symphonie Bruckners als Abschluß eine Überforderung des Publikums darstellte, was sich auch in den Kritiken der Presse offenbart. – So äußerte sich Eduard Hanslick („h.“) in der „Neuen Freien Presse“: „Den Beschluß machte eine neue Symphonie (Nr. 2 [sic], D-moll) von Anton Bruckner, k. k. Hoforganist und Professor am Conservatorium. Wir möchten dem als Mensch und Künstler von uns aufrichtig geachteten Componisten, der es mit der Kunst ehrlich meint, so seltsam er auch mit ihr umgeht, nicht gerne wehthun. Darum setzen wir an die Stelle einer Kritik lieber das bescheidene Geständniß, daß wir seine gigantische Symphonie nicht verstanden haben. Weder seine poetischen Intentionen wurden uns klar – vielleicht eine Vision, wie Beethoven’s ,Neunte‘ mit Wagner’s ,Walküren‘ Freundschaft schließt und endlich unter die Hufe ihrer Pferde geräth – noch den rein musikalischen Zusammenhang vermochten wir zu fassen. Der persönlich dirigirende Componist wurde mit Beifall begrüßt und am Schlusse von einer bis zu Ende ausdauernden Fraction des Publicums für die Flucht der Uebrigen durch lebhaften Applaus getröstet.“5

Noch schärfer verurteilte Moritz Adler („M. A-r.“) das Werk in der „MorgenPost“: „Das zweite Abonnements=Concert der Musikfreunde ließ an Geschmacklosigkeit des Programmes nichts zu wünschen übrig. Die ,Egmont‘=Ouverture und die Arie aus ,Figaro’s Hochzeit‘ waren die Rettungsanker […]. Das Spohr’sche Zuckerwasser, das Violin=Concert in d-moll übergehend […,] kommen wir auf die Novität des Programmes, eine Symphonie in d-moll von Anton Bruckner. Mit Wahrheit – was wir an Symphonien noch gehört haben, einer solchen Mißgeburt sind wir bis heute noch nicht begegnet. Was an Geschmack= und Gedankenlosigkeit, an gehirnerschütternder Instrumentation zu leisten möglich ist, das leistet Bruckner in seiner neuen Symphonie. Von einer Form nicht die Rede, von einem redlichen, herzlichen Gedanken oder bloßem Anspielen an einen solchen nicht die Rede, was bleibt da Anderes zu bieten übrig, als was Herr Bruckner geboten. Das Werk verdient wirklich nicht, daß 5

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Neue Freie Presse Nr. 4782, 18. Dezember 1877, S. 7.

Bruckner-Uraufführungen im Musikverei

man darüber nachdenkt, denn es bietet keinen Stoff dazu. Mag man immerhin von hoher sittlicher und ethischer Bedeutung phrasiren, zur Musik braucht man Talent und nur Talent; Bruckner und Brahms werden sterben und ihre ethischen Einflüsse gleich Null sein. Eine geniale Schöpfung wirkt nur durch echten, musikalischen Gehalt, was aber Herr Bruckner geboten, kann auf tiefere Wirkung nicht rechnen, denn es ist keine Schöpfung, sondern das musikalischen Chaos ! Für den Applaus sorgten einige Schüler und blinde Anhänger des Compositeurs. Die Wenigen, welche noch im Parterre waren, staunten, schüttelten den Kopf und – gähnten. Recht so !6

Allerdings bestärkte das Fiasko der Aufführung die Achtung Bruckners durch seine Schüler und Anhänger (darunter auch den jungen Gustav Mahler) sowie das ihm zuteil werdende Wohlwollen des Verlegers Theodor Rättig, der folgendes über die Uraufführung berichtete: „Als Mitglied des Singvereines wohnte ich fast allen Orchesterproben bei. Es war für mich ein klägliches und empörendes Schauspiel zugleich, die Späße der jüngeren Orchester-Mitglieder über die unbeholfene Direktionsweise des alten Herrn, der allerdings vom Dirigieren keine Ahnung hatte und sich auf Angabe der Tempi in der Manier eines Hampelmannes beschränken mußte, mit anzusehen. Um so imposanter erschien mir die Komposition selbst und erweckte in mir die Überzeugung, daß hier einer der gewaltigsten Tonheroen aller Zeiten im Begriff sei, den für solche Geister üblichen, man möchte sagen, vorgeschriebenen Dornenweg zu betreten. In dieser Auffassung wurde ich durch die Aufführung vollends bestärkt. Einem Häuflein von 10 bis 20 meist blutjungen Menschlein beiderlei Geschlechts, welche applaudierten, stand die zischende und lachende Menge gegenüber und die Auguren der tonangebenden, ,musikalischen Haute-volée‘ lachten sich schadenfroh in’s Fäustchen: ein prächtiger Heiterkeitsstoff für das zu Hause ihrer harrende Diner. Als dann das Publikum den Saal, die Musiker das Podium verlassen hatten, umstand das kleine Häuflein seiner Schüler und Verehrer tröstend den jammernden Meister; er aber rief: ,Ach laßt’s mi aus, die Leut’ wollen nix von mir wissen.‘ Da trat meine Wenigkeit in den Kreis, sprach dem Meister in den wärmsten Worten meine Bewunderung aus und erbot mich, das soeben ausgezischte Werk auf eigene Kosten (circa 3000 fl) in würdigster Form erscheinen zu lassen.“7

Te Deum Nach diesem Debakel dauerte es fast neun Jahre bis zur Uraufführung des „Te Deum“, WAB 45. Bereits am 2. Mai 1885 war im „Wiener Akademischen Wagner-Verein“ die erste Aufführung des Werkes in der Fassung mit zwei Klavieren (Robert Erben und Franz Schalk) unter Bruckners Dirigat erfolgt. Die Uraufführung der Orchesterfassung fand dann am 10. Jänner 1886 im Großen Saal des Musikvereinsgebäudes unter der Leitung von Hans Richter statt. Der 6 7

Morgen-Post 27 (1877), Nr. 346, 17. December 1877, S. 3. Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffens-Bild von August Göllerich. Nach dessen Tod ergänzt und herausgegeben von Max Auer. Band IV, 1. Teil, Regensburg 1936, S. 477f.

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engagierte Dirigent leitete bis 1900 insgesamt die meisten Aufführungen von Bruckner Symphonien. Das Programm dieses 3. Gesellschaftskonzertes, in das die Uraufführung des „Te Deum“ eingebettet war, war sehr kontrastreich gestaltet und enthielt u. a. Werke von Heinrich Schütz und Franz Schubert. Das Werk errang einen respektablen Erfolg, und sogar Eduard Hanslick bemerkte, es sei wirkungsvoll und habe einen einheitlichen und logischen Aufbau: „Gegen den alten Schütz contrastirte mit fast gewaltthätigem modernen Effect das ,Tedeum‘ von Anton Bruckner. Volles Werk der Orgel, dröhnende Posaunen und Paukenschläge, der ganze Chor fortissimo und unisono – so kommt dieses Lob Gottes mit Donnergewalt angestürmt. Im Vergleiche mit anderen Compositionen Bruckner’s erscheint sein Tedeum jedenfalls einheitlicher und klarer. Zwar fehlt es auch da nicht an crassen Uebergängen und Contrasten, an unverblümt Wagner’schen Anklängen, doch besitzt das Tedeum mehr musikalische Logik, als wir von Bruckner gewohnt sind, der gerne das Heterogenste dicht nebeneinanderstellt und uns mit irgend einer längern schönen Stelle meistens nur erwärmt, um uns gleich darauf in eiskaltes Wasser zu stecken.“8

Theodor Helm stellte sich noch mehr auf Bruckners Seite und sprach von einem „glänzenden Erfolg“.9 Allerdings stellte er auch Mängel in der Ausführung fest und befand u. a., die Bläser seien zu laut gewesen. Ausschließlich hymnisch fielen hingegen die Rezensionen von Ludwig Speidel im „Wiener Fremden-Blatt“10 sowie von Hans Paumgartner (h. p.) in der „Wiener Zeitung“ aus, die hier ausschnittsweise zitiert sein soll: „In C-dur, grandios in den herben Quinten des Orchesters an Beethoven’schen Tongeist anklingend, hebt in felsenfestem Glauben der Gesang des Chores an. Mehrfach wechselt Soloquartett mit den Massen des Chores sinnreich ab. Der Schönheiten dieses wahrhaft erhabenen Werkes sind so viele, daß uns für eine erschöpfende musikalische Analyse desselben hier kaum Platz bleibt. […] Eine Machtfülle von Kraft und hoher Empfindung thronen in diesem wahrhaft genialen Werke. Hat Bruckner mit seinem Streichquintette sich einen bleibenden ersten Platz in der Kammermusik errungen […], so hat er sich mit seinem ,Te=Deum‘ würdig neben Bach und Beethoven gestellt. Denn von solchem Geiste ist auch in das Bruckner’sche Werk lebendig=kräftig eingeströmt. Der Erfolg des Te=Deum war ein ungewöhnlich stürmischer und jubelnder […].“11

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Neue Freie Presse Nr. 7685, 19. Januar 1886, S. 2. In: „Deutsche Zeitung“. Zit. nach Göllerich-Auer (Anm. 7). Band IV, 2. Teil, Regensburg 1936, S. 402. Zit. nach Göllerich-Auer, Band IV/2 (Anm. 9), S. 401f. Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung. 1886. Nr. 10, 14. Jänner, S. 1.

Bruckner-Uraufführungen im Musikverei

Abbildung 2: Programmzettel (Ausschnitt), Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 13. No­ vember 1892: Uraufführung des 150. Psalms von Anton Bruckner (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

150. Psalm Die letzte Uraufführung eines Werkes von Anton Bruckner im Musikverein fand mit dem Psalm Nr. 150, WAB 38, am 13. November 1892 im 1. Gesellschaftskonzert der Saison 1892/93 statt (Abbildung 2). Im Vorfeld gab es den nachfolgend wiedergegebenen Briefwechsel zwischen dem Dirigenten Wilhelm Gericke12 und Bruckner. Gericke richtete zunächst die folgende Anfrage an den Komponisten:

12 Gericke hatte am 20. Dezember 1891 im 2. Gesellschaftskonzert der Saison 1891/92 bereits Bruckners „Te Deum“ dirigiert.

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Sehr geehrter Herr Doctor !

Wien d. 19. Mai [1892] I Schellinggasse 3.

Soweit mir bekannt geworden haben Sie eine Cantate für die Eröffnung der Musik u. Theater=Ausstellung vorbereitet, welche zu unser aller größten Bedauern nicht zur Aufführung kam. Ich bin nun daran für die nächste Saison die Programme vorzubereiten, u. erlaube mir die Frage, ob Sie die Freundlichkeit hätten Ihre neue Composition uns behufs Aufführung in einem Gesellschaftskonzerte zu überlassen. Sollte es Ihnen bis jetzt ganz unmöglich sein mir einen kurzen Einblick in die Partitur zu gestatten so würde ich bitten, daß Sie wenigstens die Güte hätten mir wissen zu lassen in welchem Charakter das Stück gehalten ist u. welche Zeitdauer es in Anspruch nehmen wird. Einer freundlichen Nachricht entgegen sehend bin ich jederzeit Ihr ganz ergebener Wilhelm Gericke13

Bruckners Antwort lautete folgendermaßen: Hochverehrter Herr Director ! Der 150 Psalm, den mir H. Heuberger sandte, ist noch lange nicht fertig, da ich fußleidend bin, was mir oft Hindernisse bereitet. Der Psalm ist ungefähr im Sinne des Te Deum geschrieben, aber kürzer. Die Schlußfuge ist schwer zu singen; daher ich nur den Singverein zur Aufführung wünschte. Falls der Psalm auch zur Schlußfeier der Ausstellung o. dgl. aufgeführt werden sollte, wäre der Singverein schon für das Gesellschaftskoncert vorbereitet, wenn der H Director die Wahl zur Aufführung treffen sollten, was mich recht freuen würde. Mit aller Hochachtung und herzl[ichem] Dank 21. Mai 1892. ABrucknermp.14

Insgesamt wurde die Uraufführung dann ein Erfolg. Eduard Hanslick („Ed. H.“) bezeichnete das Werk in der „Neuen Freien Presse“ (vor allem im Vergleich

13 Stift St. Florian V/26. Lateinschriftlich geschriebene Worte sind in dem ansonsten in Kurrentschrift verfaßten Brief kursiv wiedergegeben. Die „Musik u. Theater=Ausstellung“ war die vom 7. Mai bis 9. Oktober 1892 in Wien stattfindende Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. Richard Heuberger hatte Bruckner am 23. Dezember 1891 mit der Komposition einer „Hymne oder Kantate für gem. Chor u. Orchester“ für das Eröffnungskonzert dieser Ausstellung beauftragt und angeboten, ihm „einen Text oder ein paar zur Auswahl vorzulegen“. Er übersandte ihm dann den 98. und den 150. Psalm, worauf Bruckner ihm am 7. März 1892 mitteilte, den 150. Psalm „wegen seiner besonderen Feierlichkeit gewählt“ zu haben. Der Komponist konnte das Werk jedoch nicht bis zum Konzerttermin (7. Mai) abschließen. Anton Bruckner, Briefe II. 1887–1896, vorgelegt von Andrea Harrandt und Otto Schneider (= Anton Bruckner. Sämtliche Werke. Band 24/2), Wien 2003, S. 164f., 171 und 176. 14 Boston, Harvard University, Houghton Library bmsmus 132 (29–30). Zu den Kursivierungen siehe Anm. 13.

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Bruckner-Uraufführungen im Musikverei

mit „Wanderers Sturmlied“ von „Richard Strauß“) zum Teil sogar als „vortrefflich“, allerdings könne man es mit dem „Te Deum“ nicht vergleichen: „Das Wohlthätige des Zwanges, daß der Vocalcomponist sich dem Inhalt und der Form einer bestimmten Dichtung anbequemen muß, bewährt sich in Strauß’ ,Sturmlied‘ sowie auch in dem ,150. Psalm‘ von Bruckner. Die absolute Freiheit der Instrumental=Composition erscheint bei Strauß und Bruckner als ein meisterloses Schweifen der Phantasie, welche, des organischen Zusammenhanges spottend, sich gern ins Ungemessene verliert. Dem wenigstens ist in der Vocal=Composition ein Zügel angelegt. […] Mehr Beifall erzielte der ,150. Psalm‘ von Anton Bruckner; ihm kam ein doppelter Vortheil zustatten: die Kürze des Werkes und die Anwesenheit des hier persönlich beliebten Componisten. Bruckner’s Muse ist die Ekstase. In einem für festliche Gelegenheit bestimmten Hallelujah=Chor fühlt sie sich so recht zu Hause. Schade, daß sie in diesem Hause vorwiegend mit materiellen Mitteln wirthschaftet. Der Psalmtext verleitet allerdings zu einem gewaltigen Aufgebot von Kraft und Klangfülle. Der Anfang ist vortrefflich: ein majestätisches Unisono in D-dur; auch die nächste Ausweichung nach As-dur mit ihren mysteriösen Accordfolgen im ,Palestrina=Styl‘ klingt schön und würdig. Lange jedoch vermag Bruckner nicht im Gleichgewichte zu bleiben. […] Die neue Composition Bruckner’s entbehrt nicht der äußerlichen Wirkung, ist aber nach ihrem künstlerischen Gehalt mit seinem ,Te Deum‘ nicht zu vergleichen.“15

Ebenfalls zwiespältig fällt die Meinung der „Wiener Abendpost“ aus. So habe man zwar Achtung vor den Symphonien, aber der Psalm hätte „gar keine Freude gemacht“. Und weiter: „Er ist vor Allem ganz unnatürlich, geschraubt ohne innere Ursache. Dieses ewige äußerlich=effectvolle Hinaufschrauben der Singstimmen, besonders der Soprane, in die höchsten Lagen wirkt befremdend, man fragt sich erstaunt, warum das alles so sein muß. Vielleicht will sich Bruckner dramatisch aussprechen, uns erschien das Ganze mehr opernhaft. Das kurze Sopransolo, von einer Solovioline äußerst befremdend vorbereitet, ist wohl das unsanglichste, was man hören kann. Wenn Beethoven im dithyrambischen Fluge seiner Neunten die Stimmen die Stimmen über alle Grenzen hinaus jubeln läßt, so ist dies der Ausfluß und äußere Ausdruck eines ungeheuren inneren Lebens im Künstler. Bruckner jedoch ist nur unsanglich und unschön.“16

Das „Neue Fremden-Blatt“ schreibt hingegen von einem „rauschenden Korpus voll genialer Beitze“, das „Extrablatt“ sah in dem Psalm eine „überwältigende Komposition“ mit einer „Abgeschlossenheit, wie sie kein früheres Werk Bruckners charakterisierte“,17 und auch in der Zeitung „Das Vaterland“ findet „Bruckner’s gigantischer 150. Psalm“ (mit Ausnahme der extrem hohen SopranStelle) uneingeschränktes Lob: 15 Neue Freie Presse Nr. 10142, 17. November 1892, S. 2. 16 Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung. 1892. Nr. 264, 18. November, S. 5. 17 Zit. nach Göllerich-Auer (Anm. 7). Band IV, 3. Teil, Regensburg 1936, S. 277.

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„Das hervorragendste Interesse nahm begreiflicherweise Bruckner’s Psalm für Chor und großes Orchester in Anspruch. Ursprünglich in knapper Form für die Eröffnung der Weltausstellung gedacht, nahm das Werk unter der Feder Bruckner’s Dimensionen an, welche seine rechtzeitige Vollendung hinderten. Ohne das berühmte Te Deum Bruckner’s dem Umfange und künstlerischen Werthe nach zu erreichen, steht der Psalm doch als ein mächtiger Tonbau von ergreifender Großartigkeit vor uns. Es ist bezeichnend, daß selbst kritische Stimmen, welche sonst an Bruckner’s Werken nicht genug zu tadeln fanden, dieses neue Opus in entscheiden günstigem Sinne beurtheilen; darin liegt ein deutlicher Beweis für das sieghafte Vordringen des Bruckner’schen Genius, dessen Flügelschlag nun immer freier und freudiger sich entfalten kann.“18

Zu Lebzeiten Bruckners erklangen in Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde noch am 4. November 1894 die „Große Messe in F=moll“ (Dirigent: Wilhelm Gericke) sowie am 12. Jänner 1896 das „Te Deum“ (Dirigent: Richard v. Perger). Nach Bruckners Tod (11. Oktober 1896) brachte Perger dann am 17. Jänner 1897 dessen „Messe in D=moll (erste Konzertaufführung)“ zu Gehör.19

18 Das Vaterland XXXIII (1892), Nr. 339, 7. December, S. 1. 19 Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1. Abteilung: 1812–1870[,] verfasst von Richard von Perger, 2. Abteilung: 1870–1912[,] verfasst von Dr. Robert Hirschfeld, Wien 1912, S. 313.

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Uraufführungen und frühe Aufführungen von Werken von Johannes Brah

Otto Biba (Wien) Uraufführungen und frühe Aufführungen von Werken von Johannes Brahms in den Konzerten der Gesellschaft der Musik­ freunde in Wien Sind Umfang und Bedeutung der von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien veranlaßten und durchgeführten Uraufführungen – zumindest im 19. Jahrhundert – schon nicht ehrfurchtgebietend eindrucksvoll, so sind sie bei Johannes Brahms geradezu enttäuschend. Kein anderer Komponist des 19. Jahrhunderts – auch nicht der in Umfang, Intensität und Dauer seines Naheverhältnisses statistisch nach Brahms rangierende Franz Schuberts – hatte ein so enges Naheverhältnis zur Gesellschaft wie Johannes Brahms. Ich darf an Brahms’ zahlreiche Auftritte in den Häusern der Gesellschaft erinnern, an seine freundschaftlichen Bindungen an Funktionäre der Gesellschaft und an seine Tätigkeit als Konzertdirektor, aber auch daran, daß er durch sechzehn Jahre Direktions- und schließlich Ehrenmitglied war. – Und kein einziges seiner Orchester- bzw. Chor- und Orchesterwerke wurde in einem Konzert der Gesellschaft uraufgeführt. Wenn Sie wollen, korrigiere ich mich auch: Ein Teil eines Chor- und Orchesterwerkes wurde in einem Gesellschaftskonzert uraufgeführt, nämlich 1867 drei Sätze des damals viersätzig vorliegenden Deutschen Requiems. Es fällt schwer, von einer Uraufführung dieses Werkes in der ersten Fassung zu sprechen, weil Brahms für diese von ihm selbst geleitete Aufführung nur drei Sätze aus vier Sätzen ausgewählt hatte. Was an Werken in endgültiger Gestalt uraufgeführt wurde, waren Chorwerke: 1873 die Volksliedbearbeitung „Dort unter den Weiden“, WoO 35/8. Bemerkenswert genug, daß die erste Uraufführung eines Werkes in endgültiger Gestalt 1873, elf Jahre nach dem Beginn der sofort sehr engen Beziehungen zwischen Brahms und der Gesellschaft, stattgefunden hat und einem Werk bzw. einer Werkgattung galt, das bzw. die in Brahms Schaffen sehr peripher steht. Am 8. November 1874 folgten, wie die Volksliedbearbeitung im Jahr davor unter Brahms’ Leitung, die Uraufführungen der im September 1874 im Druck erschienenen Lieder für gemischten Chor op. 62/2, 3, 4 (Abbildung 1). Am 8. Dezember 1878 hörte man in einem Gesellschaftskonzert unter der Leitung Eduard Kremsers die Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“, op. 74/1. 125

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Abbildung 1: Programmzettel, Gesellschaftskonzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 8. November 1874: Uraufführung der Lieder für gemischten Chor, op. 62/2, 3, 4, von Johannes Brahms (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien). Die Aufführung ist nicht ausdrücklich als Uraufführung deklariert. 126

Uraufführungen und frühe Aufführungen von Werken von Johannes Brah

Damit bin ich mit der Aufzählung der Uraufführungen Brahms’scher Werke in den Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde schon am Ende: 5 Werke für gemischten Chor a cappella und ein Teil eines Werkes, das sind insgesamt 6 Uraufführungen. Zu diesem überraschenden Ergebnis muß man sich Gedanken machen. Vorerst muß man in nüchterner Erkenntnis freilich konstatieren, daß weder Brahms noch die Gesellschaft ein Interesse hatten, mit der Uraufführung eines auch nur halbwegs repräsentativen Werks die Gesellschaft zu bedienen oder von Brahms bedient zu werden. Eine „Uraufführungseitelkeit“, das sei festgehalten, hat es ganz offensichtlich nicht gegeben, ebenso wenig ein Bedürfnis von Brahms, sich hier mit zuvor noch nie aufgeführten Werken zu präsentieren, auch nicht in den Konzerten, die er selbst als Konzertdirektor leitete. Die uraufgeführten A-cappella-Chorwerke machen in der Wahl und Plazierung im Programm einen zufälligen Eindruck. Der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde war traditionellerweise in den Gesellschaftskonzerten nicht nur in Chor- und Orchesterwerken, sondern auch mit A-cappella-Werken präsent. Dafür konnte auch schon von Brahms das eine oder andere eben erschienene Werk (wie die Chorlieder aus Opus 62) gewählt werden, ein eben erst komponiertes Werk (wie die Motette op. 74/1), oder ein Werk, das schon lange in Brahms’ Schublade schlummerte (wie die Volksliedbearbeitung WoO 35/8). Und die Aufführung von drei Sätzen aus dem damals viersätzig vorliegenden „Deutschen Requiem“ (Abbildung 2) war ein Experiment, wenn man so will eine Probeaufführung eines Teiles eines Werkes, um dessen endgültige Aussage und Gestalt Brahms damals noch rang. Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bediente ihr Publikum in den Gesellschaftskonzerten in reichem Maße mit neuer Musik. Uraufführungen mußten (oder sollten?) es nicht sein. Ihr ging es darum, alte wie neue Werke „klassischen“ Niveaus dem Publikum zu präsentieren, also neue Werke auf ihre Qualität zu überprüfen und repertoirefähig zu machen, also in einen klassischen RepertoireKanon einzuführen. Diese „Überprüfung“ konnte zuerst einmal nach der Partitur, nach erstmaligem Hören anderswo oder nach vertrauenswürdigen Berichten von Aufführungen anderswo erfolgen und schließlich durch die Produktion in den eigenen Konzerten. Ob dies Uraufführungen waren oder nicht, war völlig belanglos.

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Abbildung 2: Programmzettel, Gesellschaftskonzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 12. Jänner 1867: Uraufführung der ersten drei Sätze des „Deutschen Requiems“ von Jo­ hannes Brahms (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien). Es war damals unüblich, Uraufführungen als solche zu deklarieren. Es zählte zu den Ausnahmen, wenn es einmal – wie auf diesem Programmzettel – geschah.

Eine „Uraufführungseitelkeit“ hat es auch bei den Wiener Philharmonikern, die ihre Konzerte im Großen Musikvereinssaal veranstalteten, zu dieser Zeit nicht gegeben. Bei ihnen hat man fast den Eindruck, daß sie das grundsätzlich an Neuem interessierte Wiener Publikum ohne eigene Vorgaben mit diesem Neuen bedienten. Sie veranstalteten sogenannten Novitätenproben, für die jeder Komponist ein Werk einreichen konnte. Dieses wurde durchgespielt und danach im 128

Uraufführungen und frühe Aufführungen von Werken von Johannes Brah

Orchester abgestimmt. Die Werke, die die meiste Zustimmung der Orchestermitglieder – nach einem einmaligen Durchspielen! – erhielten, wurden auf die Programme der Abonnementkonzerte gesetzt. Das sieht natürlich nach künstlerischen Kriterien für die Auswahl der Werke aus, tatsächlich war aber eine Portion Zufall dabei. Daneben gab es – selten genug – auch Vorschläge des Vorstandes der Wiener Philharmoniker, dieses oder jenes neue Werk auf das Programm zu setzen, oder – noch seltener – der respektierte Wunsch eines Dirigenten. Letzteres war 1869 bei Brahms’ D-Dur-Serenade, op. 11, der Fall, was prompt dazu führte, daß sich die Orchestermitglieder nach der ersten Probe weigerten, dieses Werk zu spielen, und der Dirigent, der sich für die Aufführung dieses bereits 1860 in Hannover uraufgeführten Werkes in einem der von ihm dirigierten Philharmonischen Abonnementkonzerte eingesetzt hat, Otto Dessoff, mit dem Rücktritt drohen mußte, um das Werk auf dem Programm zu halten. Brahms hat sich danach gerichtet, ja es offenbar für gut befunden, daß die eigentlichen Uraufführungskonzerte jene der Wiener Philharmoniker waren, während die Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde jene waren, die der Etablierung eines bereits weitgehend außer Diskussion stehenden Werkes galten. Für ihn war aber jede Uraufführung immer noch Anlaß, sein eigenes Werk zu prüfen, also sozusagen mit sich selbst zu diskutieren. Erst nach etlichen Aufführungen hat er es als „fertig“ angesehen und in definitiver Gestalt einem Verleger übergeben. Dazu ein paar Beispiele für seine erste Symphonie. Vor der für den 4. November vorgesehenen Uraufführung in Karlsruhe schrieb er im Oktober 1876 zwei Briefe an Johann Herbeck, seinen Nachfolger als Konzertdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien1. Im ersten heißt es: „Für eine eigentliche erste Auff[ührung] sind mir natürlich d[ie] kleineren Verhältnisse durchaus angenehmer.“ Also Karlsruhe war Brahms als Uraufführungsort lieber als Wien. Und was Wien betraf, meinte er zu Herbeck, der um eine Aufführung in den Gesellschaftskonzerten gebeten hatte: „Es ist möglich daß ich diesen Winter eine Symphonie hören lasse – aber auf dem Anschlagzettel möchte ich sie noch nicht lesen u[nd] so bitte ich einstweilen um Diskretion für folgendes. […] Orchester-Werke gehören zwar eigentlich den Philharmonikern doch kommt ja nun zu der Sympathie für Ihr (unser) schönes Institut noch Ihre freundliche Aufforderung.“

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Otto Biba, Johannes Brahms in Wien, Wien 1983, S. 51. Die hier zitierten Briefe befinden sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.

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Im zweiten Brief lesen wir: „Also riskieren wir’s am 17ten Dec[ember], ob ich zwar das Ding noch nicht gehört habe.“ Nach der Uraufführung am 4. November in Karlsruhe folgten Aufführungen in Mannheim (am 7. November) und München (am 15. November) und zwei Tage später die Wiener Erstaufführung in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde. Damals noch mit einem anderen zweiten Satz, denn nach einer ganzen Reihe solcher Aufführungen ersetzte Brahms den zweiten Satz durch einen neuen, ehe er am 31. Mai 1877 die Partitur an seinen Verleger zur Drucklegung sandte. Es war also – nach der Probeaufführung der ersten drei Sätze aus dem „Deutschen Requiem“ – die zweite große Ausnahme, daß er ein von ihm selbst noch nicht als definitiv angesehenes Werk in einem Gesellschaftskonzert zur Aufführung bringen ließ: Denn die Gesellschaftskonzerte waren für ihn kein Experimentierfeld. Sie haben ihm viel zur Etablierung neuer Werke (in definitiver Gestalt) bedeutet. Tatsächlich hat dafür die Gesellschaft unendlich viel geleistet, vor allem auf dem schwierigen Gebiet der chorsymphonischen Werke, während die Symphonien offensichtlich tatsächlich den Philharmonikern gehörten, also dort besser plaziert waren. Von den vier Brahms-Symphonien wurde zu seinen Lebzeiten überhaupt nur die erste – wie erwähnt – in einem Konzert der Gesellschaft aufgeführt. Warum die Symphonien den Philharmonikern „gehörten“, war keine Qualitätsfrage, sondern ist leicht zu erklären. Die Abonnementkonzerte der Wiener Philharmoniker waren reine Orchesterkonzerte mit dem einen oder anderen Solisten. Symphonien waren also ihre prädestinierten Programmpunkte. Jedes der Abonnementkonzerte der Gesellschaft der Musikfreunde beschäftigte aber Chor und Orchester, dazu nach Bedarf freilich auch Solisten. Daher gab es in jedem Gesellschaftskonzert ein oder mehrere Chorwerke mit oder ohne Begleitung. Sprechen wir also im weiteren von Brahms’ chorsymphonischen Werken. Zu Brahms’ Lebzeiten wurden das „Deutsche Requiem“ viermal, das „Schicksalslied“ fünfmal, das Triumphlied und die „Altrhapsodie“ je zweimal gegeben, natürlich, möchte ich sagen, auch der „Gesang der Parzen“ und die „Nänie“, wenn auch beide nur einmal. Vergleicht man die erwähnten mehr- und oftmaligen Wiederholungen mit Wiederholungen anderer Werke anderer lebender oder verstorbener Komponisten in dieser für Brahms wichtigen Zeitspanne von zweieinhalb Jahrzehnten, so waren dies ungewöhnlich hohe bis sehr hohe Wiederholungen. Für Werke anderer damals lebender Komponisten waren solche (mehrmaligen) Wiederholungen überhaupt undenkbar. Ähnliches ist bei den unbegleiteten Chorwerken zu beobachten. Die 1874 uraufgeführten Nummern aus op. 62 wurden schon im darauf folgenden Jahr und dann nochmals 1888 130

Uraufführungen und frühe Aufführungen von Werken von Johannes Brah

und 1896 wiederholt. Ausgewählte Stücke aus op. 17 hörte man zweimal. In dieser Gattungsspezies sind Wiederholungen von Werken anderer alter oder lebender Komponisten überhaupt nicht zu finden. Ich habe die Absenz der Symphonien erwähnt, kann ergänzen, daß die Erste Serenade nach ihrer Aufführung am 7. Dezember 1862, als es geradezu BrahmsFestspiele für den nach Wien gekommenen Komponisten bei der Gesellschaft der Musikfreunde gab, auch nicht mehr in das Programm der Gesellschaftskonzerte gekommen ist. Auch die Serenaden waren eine Orchestermusikgattung, die eher zu den Philharmonikern gehörte. Aber zwischen 1879 und 1891 sind das Violinkonzert und das 1. Klavierkonzert dreimal in den Programmen der Gesellschaftskonzerte aufgeschienen. Es war genau die Zeit, in der die Konzerte nach ersten Aufführungserfolgen, die mit dem Uraufführungs-Solisten bzw. mit Brahms als Solist zusammenhingen, sich mit sozusagen einer zweiten Solistengeneration bleibend im Repertoire behaupten mußten. Ich will Sie nicht länger mit statistischen Ziffern strapazieren. Denn es steht außer Frage: Die frühe Brahms-Rezeption, d. h. Brahms’ Etablierung im Repertoire wurde wesentlich von der Gesellschaft der Musikfreunde getragen, natürlich auch über Wien hinaus, denn die Wiener Aufführungen haben ausgestrahlt. Dieses Annehmen um anderswo uraufgeführte, und von der Gesellschaft als bedeutend erkannte Werke oder Komponisten war tatsächlich – man kann es nicht oft genug betonen – das Charakteristikum, ja, die Bedeutung der Konzerttätigkeit der Gesellschaft der Musikfreunde. Schweifen wir mit ein paar Beispielen vom Thema ab. Mendelssohns „Paulus“ wurde zwischen 1839 und 1846 dreimal, der „Elias“ 1847 und 1849 zweimal gegeben. Zwischen 1839 und 1870 hat man mit der Aufführung von 39 kompletten Werken Mendelssohns sowie etlicher Ausschnitte aus größeren Kompositionen ungeheuer viel für die Etablierung Mendelssohns im Repertoire gemacht. 1846 wollte man Louis Spohr, der seit 1815 immer wieder in den Programmen der Abonnementkonzerte vertreten war, bei einem Musikfest in Wien groß herausstellen. Sein Oratorium „Der Fall Babylons“ sollte unter seiner Leitung aufgeführt werden; daraus wurde nichts, weil Spohr keinen Urlaub vom Kasseler Theater erhielt. Sprechen wir nicht detailliert von Schubert, der bis 1870 in den Gesellschaftskonzerten nach Beethoven und Mozart überhaupt der meistaufgeführte Komponist war. Die posthumen Aufführungsehren, die er hier gefunden hat, waren noch wichtiger als die zu Lebzeiten, denn sie haben ihm einen bleibenden Platz 131

Otto Biba (Wien)

im Repertoire gegeben. Lassen wir bei diesem Vergleiche suchenden Exkurs auch alle „kleineren“ Namen beiseite und wenden wir uns nur noch einem „großen“ zu. Besonders beeindruckend ist der Einsatz für Robert Schumann nach seinem Tod, als Clara Schumann wirklich große Probleme hatte, seine Werke ins Repertoire zu bringen. In der Saison 1857 wurden sogar zwei Symphonien – die Zweite und die Vierte – von ihm gegeben, „Paradies und die Peri“ stand 1858 und 1862 auf dem Programm, „Manfred“ (um eine weiteres in der Akzeptanz schwieriges Werk zu nennen) 1859, 1860 und 1863. Was insgesamt für ihn und für die Fixierung seines Œuvres im Repertoire geleistet wurde, muß jedem, der einen Blick auf die ersten Aufführungsnachweise in McCorkles Schumann-Werkverzeichnis wirft, bewußt werden. Bei Schumann und bei Brahms zeigt sich das über Generationen gültige Konzept in der Programmgestaltung der Gesellschaft am deutlichsten: Nicht mit Neuem überraschen, experimentieren oder Versuche starten, sondern Repertoirefähiges suchen und dieses dann wirklich im Repertoire etablieren. Oder anders gesagt: zu einem „klassischen“ Werk machen. Dieses Etablieren von Brahms erfolgte im übrigen nicht nur in den Gesellschaftskonzerten – also in den Chor-OrchesterKonzerten –, sondern überraschend deutlich auch in den so genannten Künstlerabenden, die hauptsächlich Liedern, mehrstimmigen Gesängen, kleineren Chorstücken und Klaviermusik gewidmet waren und nach diesen Musikdarbietungen in einen geselligen Teil übergingen. Auch in dieser Transferierung der Salon-Atmosphäre in den Konzertsaal hat man daran gearbeitet, an sich neue Werke zu Standardwerken zu machen. Ich bin vom Thema abgeschweift. Denn ich sollte über die Brahms-Uraufführungen durch die Gesellschaft der Musikfreunde sprechen. Hätte ich tatsächlich nur das gemacht, wäre mein Referat kurz und schon längst zu Ende gewesen. Aber es schien mir doch wichtig, am Beispiel von Brahms deutlich festzuhalten, daß Uraufführungen in der Geschichte der Gesellschaft nie ihr primäres Anliegen waren. Nicht aus einer Phobie vor neuer Musik, sondern, ganz im Gegenteil, aus einer Verantwortlichkeit für die neue Musik: In ihr Werke zu suchen, die „klassisch“ sind oder werden können, Komponisten, denen man das zutraute, zu Klassikern zu machen, darin hat sie durch Generationen ihre eigentliche Aufgabe gesehen.

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Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Antony Beaumont (Bremen) Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien A. Im Conservatorium Im Herbst 1887 wurde Alexander Zemlinsky in die Klavierklasse von Anton Door am Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde aufgenommen. Für seine Ausbildung in Harmonielehre, Kontrapunkt und Musiktheorie sorgten daneben Robert Fuchs und Ernst Krenn. Nachdem Zemlinsky im Jahre 1890 sein Klavierdiplom erworben hatte, verbrachte er weitere vier Semester am Conservatorium als Kompositionsschüler. Er schrieb sich in die Klasse von Johann Nepomuk Fuchs ein, um Formenlehre und praktische Komposition, später auch Instrumentationslehre, Vokalkomposition und Partiturlesen zu studieren. Im Rahmen dieses Studiums entstand nun das gering dokumentierte Frühwerk, Gehversuche, Eintagsfliegen, die zu Lebzeiten des Komponisten nur einmal zu Gehör gebracht worden waren, allerdings bereits verheißungsvolle Vorblicke auf spätere Reife. Eine der ersten Früchte des Studiengangs bei Johann Nepomuk Fuchs war ein Klavierlied, „Des Mädchens Klage“, nach einem Text des krainischen Dichters Vinzenz Zusner.1 Mit dieser Komposition gewann Zemlinsky im Jahre 1891 den in Conservatoriums-Kreisen heißbegehrten Zusner-Preis, was mehrere Wiener Tageszeitungen berichteten: „Um die Vincenz Zusner’schen Liederpreise zu zwanzig Ducaten und zehn Ducaten, welche auf Grund einer Stiftung durch das hiesige Conservatorium alljährlich zur Verleihung gelangen, sind 27 Bewerbungen eingelaufen. Die Preisrichter […] haben den ersten Preis dem Compositionsschüler Herrn Alexander Zemlinsky, den zweiten Preis den [!] Compositionsschüler Ignaz Weiß zuerkannt. Diese Preise wurden denselben gestern […] feierlich übergeben, nachdem der Vortrag beider Preislieder durch eine Gesangsschülerin vorangegangen war.“2

Im Folgejahr 1892 versuchte Zemlinsky noch einmal sein Glück beim ZusnerPreis, diesmal mit einem Gedicht „Der Morgenstern“.3 Erneut wurde er zum 1 Erstveröffentlichung in: Alexander Zemlinsky, Lieder aus dem Nachlaß, hrsg. von Antony Beaumont, München 1995. Ebenfalls im Jahre 1891 vertonte Zemlinsky Zusners Gedicht „Das liebliche Vergißmeinnicht“ (Manuskript verschollen). 2 Pressemitteilung der Conservatoriums-Direktion, veröffentlicht am 10. Juni 1891 in: Deutsches Volksblatt, „Theater, Kunst und Literatur“, S. 8; Die Presse, „Theater- und Kunstnachrichten“, S. 11; Neue Freie Presse, „Theater- und Kunstnachrichten“, S. 7; Wiener Zeitung, „Kunst, Wissenschaft, Literatur und Theater“, S. 5. Ein im Wortlaut geringfügig veränderter Nachdruck erfolgte am 13. Juni 1891 in: Neuigkeits=Welt=Blatt, „Theater, Kunst, Musik und Literatur“, S. 12. 3 Erstveröffentlichung in: Lieder aus dem Nachlaß (Anm. 1).

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Antony Beaumont (Bremen)

Sieger erkoren, diesmal allerdings nur mit einem zweiten Preis. Wie im Vorjahr erschien die obligatorische, teils gleichlautende Pressemeldung: „Um die Vincenz Zusner’schen Liederpreise zu 20 und 10 Ducaten, welche auf Grund einer Stiftung durch das hiesige Conservatorium alljährlich zur Verleihung gelangen, sind 18 Bewerbungen eingelaufen. Die Preisrichter, die Herren Director Hellmesberger, Professor und k. k. Hofopern=Capellmeister J. N. Fuchs und Professor Dr. Josef Gänsbacher [,] haben den zweiten Preis dem Compositionsschüler Alexander Zemlinsky zuerkannt. Für den ersten Preis wurde keine der eingebrachten Compositionen würdig erkannt. Der Preis von zehn Ducaten wurde Herrn Zemlinsky gestern im Beisein von Mitgliedern der Gesellschafts=Direction, des Lehrkörpers und der Studiengenossen des Prämianten durch den Ersten Vice=Präsidenten, Herrn Dr. v. Billing, und dem [!] Obmann des Preisgerichtes, Herrn Director Hellmesberger, feierlich übergeben, nachdem der Vortrag des Preisliedes durch eine Gesangschülerin vorangegangen war.“4

Zeit seines Lebens hielt Zemlinsky zur Gattung Klavierlied die Treue; auch im Jahr 1892 folgten mehrere neue Lieder für Gesang und Klavier, darunter zwei Heine-Vertonungen, „Frühlingslied“ und „Wandl’ ich im Wald des Abends“.5 Nach dem Ermessen seines Kompositionslehrers hatte Zemlinsky schon genügend technisches Knowhow gesammelt, um sich an einem Orchesterwerk zu versuchen, und er griff dann auch gleich zum Anspruchsvollsten: Im Frühjahr 1892 entstanden die drei ersten Sätze einer Symphonie. Am 11. Juli 1892, gerade neun Tage nach der Verleihung des zweiten Zusner-Preises, trat der jetzt bald 21-jährige Zemlinsky nun vor seinen Kommilitonen im Conservatoriums-Orchester (darunter der 12-jährige Geiger Georges Enescu) als Dirigent auf und leitete im Rahmen eines Semester-Abschluß-Konzertes im Großen Saal des Musikvereins die Erstaufführung seiner noch unvollendeten Symphonie in d-Moll. Sobald die Arbeit am Finalsatz abgeschlossen war, im Winter des folgenden Jahres, brachte Johann Nepomuk Fuchs das nunmehr viersätzige Werk höchstpersönlich erfolgreich zur Uraufführung (siehe unten).

B. Im Musikverein Die zwei zukunftsträchtigsten Zemlinsky-Premieren im Großen Saal des Wiener Musikvereins – die der „Seejungfrau“ sowie von vier Gesängen nach Maurice 4 Pressemitteilung der Conservatoriums-Direktion, veröffentlicht am 3. Juli 1892 in: Deutsches Volksblatt, „Theater, Kunst und Literatur“, S. 7; Die Presse, „Theater- und Kunstnachrichten“, S. 9; Wiener Zeitung, „Kunst, Literatur und Theater“, S. 4; außerdem (geringfügig abweichend) am 5. Juli 1892 in: Neuigkeits=Welt=Blatt, „Theater, Musik, Kunst und Literatur“, S. 8. Ein im Wortlaut unveränderter Nachdruck erfolgte am 10. Juni 1892 in: Neue Freie Presse, „Theater- und Kunstnachrichten“, S. 7. 5 Erstveröffentlichungen in: Lieder aus dem Nachlaß (Anm. 1).

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Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Maeterlinck – kommen für unser Thema nicht in Betracht. Denn die in den Jahren 1902/03 geschaffene symphonische Dichtung „Die Seejungfrau“ gelangte am 25. Jänner 1905 – gemeinsam mit Schönbergs symphonischer Dichtung „Pelleas und Melisande“ – in einem Konzert der von Zemlinsky und Schönberg gegründeten „Vereinigung schaffender Tonkünstler“ (unter der Leitung des Komponisten) zur Uraufführung, und die vier zuerst komponierten Stücke (die Nummern 1, 2, 3 und 5) der „Sechs Gesänge“ nach Gedichten von Maurice Maeterlinck, op. 13, erklangen erstmals in erweiterten Fassungen mit Orchesterbegleitung im Rahmen jenes von Arnold Schönberg geleiteten, vom „Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien“ veranstalteten „Skandalkonzertes“ vom 31. März 1913, jenes Abends, der nach Alban Bergs „Liedern nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg“ abgebrochen werden mußte und zunächst eine Schlägerei, später noch eine – bestens dokumentierte – Gerichtsverhandlung nach sich zog.

Symphonie d-Moll (1892/93) Bis zur Pause des Conservatoriums-Konzertes im Großen Saal des Musikvereins am 10. Februar 1893 (Abbildung 1) stand reine Absolventenkost auf dem Programm: einzelne Konzertsätze von Anton Rubinstein, Bernard Molique und Camille Saint-Saëns, ein Stück für Soloharfe von Félix Godefroid, eine Arie aus „Stradella“ von Flotow sowie Klavierlieder von Schubert, Schumann, Mascagni und Goldmark. Dafür folgte im zweiten Teil eine Novität: Unter der Leitung von Conservatoriums-Director und „k. k. Hof-Opernkapellmeister“ Johann Nepomuk Fuchs spielte das Zöglings-Orchester „zum ersten Male“ eine ganze Symphonie, und zwar die „Symphonie in D-moll“ von „Alexander Zemlinski [!] (Abiturient 1892)“. Zemlinskys erster Lehrer, Robert Fuchs, legte großen Wert auf variative Entwicklung, eine Technik, mit welcher der Tonsetzer musikalische Großformen aus wenigen, mitunter trivial anmutenden Bestandteilen aufbauen kann. In diesem Sinne hat Zemlinsky sämtliche Themen seiner Symphonie direkt oder indirekt von den ersten fünf Noten des ersten Satzes abgeleitet. Dieses Verfahren stellt er niemals auffallend „zur Schau“, die Themenverwandtschaften fallen kaum auf. Geht es um symphonische Formen, bereitet das Verfahren allerdings Schwierigkeiten, denn eine variantenreiche Exposition läßt für ausgiebigere thematische Arbeit im Durchführungsteil nur wenig Raum. In seiner Not behilft sich der noch unerfahrene Zemlinsky mitunter mit einem Griff in die „theatralische Spannungskiste“. 135

Antony Beaumont (Bremen)

Abbildung 1: Zweites Concert (mit Orchester) des Conservatoriums vom 10. Februar 1893. Programmzettel (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 136

Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Mit leichtfüßigem Humor und Schubertschem Lyrismus im Trio trifft das Scherzo einen behaglicheren Ton. Und selbst wenn es dem jungen Komponisten nicht immer gelingt, das Potential seiner Ideen voll auszuschöpfen, vermittelt das darauffolgende Adagio eine tiefempfundene, geradezu Brucknersche Erhabenheit. Das melodienreiche Finale würde sich vielleicht eher für eine Serenade als für eine Symphonie eignen, hier scheint die an die leichte Muse ausgerichtete Seite des von Brahms als „Serenaden-Fuchs“ verspotteten Lehrers durch. Dafür offenbart sich Zemlinskys Naturtalent für Orchesterfarben. In diesem bunten Kleid wirkt selbst die bescheidenste Idee frisch und anregend. Die jubelnde Coda macht alle frühere Zurückhaltung wett, indem die Blechbläser endlich ihre volle Kraft entfesseln dürfen. So schließt das Werk fröhlich schmetternd und herzlich unbekümmert. Alles in allem eine beachtenswerte Leistung. „Zemlinski […] hat etwas gelernt“, bemerkte Eduard Hanslick in der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Februar. „Das ist heute leider schon ein Lob; früher war es selbstverständlich.“ Und ein anderer, anonymer Rezensent meinte: „[Die Symphonie] verräth entschiedene melodische Begabung, ziemlich reife Technik und vielen Sinn für Wohlklang. Namentlich ist uns ein gewisses Trachten nach knappem, zutreffendem Ausdruck aufgefallen. Die Themen haben meist ein bestimmtes Gesicht, etwas Natürliches, Ungezwungenes, Vernünftiges, Sinnfälliges.“6

Orchester-Suite (1895) Für Zemlinsky war das Komponieren ein Vorgang des Inneren. Erst nachdem der musikalische Gedanke sich in seiner Fantasie ausgestaltet hatte, erfolgte die Niederschrift. Wohl aus Sorge, daß feinere Nuancen dabei verloren gehen könnten, führte er diesen Arbeitsgang so rasch wie möglich durch; auch unterbrach er selten ein Projekt, um sich einem anderen zu widmen. Doch Hast führt bekanntlich zu Ungenauigkeit, und die Originalpartitur der Orchester-Suite weist ungewöhnlich viele Fehler und Auslassungen auf: ein Hinweis darauf, daß der Komponist diesmal besonders eilig arbeiten mußte. Konkreteres über die Entstehung der Orchester-Suite ist nicht überliefert, denn im Autograph sucht man vergebens nach Datierungen oder sonstigen Indizien. Vermutlich handelte es sich um ein Auftragswerk, das in kürzester Zeit zwischen anderen ebenso dringenden Aufgaben aus dem Boden gestampft werden mußte. Zur Rezeptionsgeschichte gibt es ebenso wenig zu erzählen, denn sie beschränkt sich auf eine 6

Aus Zemlinskys persönlicher Pressemappe in „The Moldenhauer Archives at Harvard University“, Series V, pf (2011), dort fälschlicherweise als Rezension des „Neues Wiener Tagblatt“ mit Datum „16./2.93“ angeführt. Die eigentliche Quelle und Autorschaft konnten nicht ermittelt werden.

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Antony Beaumont (Bremen)

einzige Aufführung, und zwar im Rahmen eines festlichen ConservatoriumsConcerts am 18. März 1895 anläßlich des 25. Eröffnungsjubiläums des Wiener Musikvereins.7 Wie üblich streifte das Programm durch alle Gattungen und Stilrichtungen, diesmal allerdings stammten viele der dargebotenen Werke aus der Feder ehemaliger Absolventen. Außerdem übernahm zum Schluß Johannes Brahms höchstpersönlich die Leitung des Zöglings-Orchesters. Alle anderen Mitwirkenden waren Professoren, Absolventen oder Studierende des Conservatoriums. Die Programmgestaltung besorgte wieder einmal Conservatoriums-Director Johann Nepomuk Fuchs, auch die musikalische Leitung lag in seinen erfahrenen Händen. Zum Auftakt spielten drei Klavierprofessoren ein nicht näher bezeichnetes Tripelkonzert von Johann Sebastian Bach. Es folgten Cherubinos zweite Arie aus Mozarts „Figaro“ sowie zwei Sätze aus Mendelssohns Oktett. Darauf zwei Novitäten: Zemlinskys neue Orchester-Suite sowie ein Melodram von Robert Gound, „Der Ilsenstein“, nach einem Text von Carl von Lemcke mit der Burg-Schauspielerin Hedwig Bleibtreu als Diseuse. Auf zwei Sätze aus Ludwig Thuilles Sextett für Klavier und Bläser sowie Klavierlieder von Felix Mottl, Hugo Reinhold und Hugo Wolf (mit einem Brahms-Lied als Zugabe) folgte als krönender Abschluß Brahms’ „Akademische Festouvertüre“, op. 80. Letztere war natürlich bei Publikum und Presse die Hauptattraktion, aber auch Zemlinsky und Gound ernteten Lob und Anerkennung. Während der Rezensent des „Neuigkeits=Welt=Blatt“ „nicht recht klug“ wurde, wieviel von Zemlinskys Werk „auf des Komponisten eigene Erfindungsgabe entfällt“,8 konstatierte die „Wiener Abendpost“, der Komponist habe „sein schönes und gediegenes Talent auf das vortheilhafteste gezeigt“.9 Die „Neue Freie Presse“ meinte, das Werk zeige „freilich noch die Unklarheit einer in Entwicklung befindlichen Conception“, lobte jedoch Zemlinskys „treffliche Behandlung des Orchesters“.10 Die „Oesterreichische Rundschau“ erkannte Zemlinskys „hervorragende Begabung“ und meinte: „[Die Orchesterstücke] bieten reiche Abwechslung in Melodie und Rhythmus und fesseln den Zuhörer durch jugendliche Frische und

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Partitur und Aufführungsmaterial beim Verlag G. Ricordi, Berlin (Erstausgabe 2017). Neuigkeits=Welt=Blatt Nr. 66, 20. März 1895, S. 5. dr. h. p., Musik. Concerte, in: Wiener Abendpost Nr. 69, 23. März 1895, S. 6. a. hr., Das Jubiläum der Musikvereinssäle, in: Neue Freie Presse Nr. 11009, 19. April 1895, S. 2.

Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Feuer.“11 Ähnlich die „Reichspost“, die die Suite als „sehr interessant und feurig“12 bezeichnete. Gustav Schoenaich von der Zeitschrift „Neue musikalische Presse“ berichtete ausführlicher: „Von produktiven Talenten, welche das Conservatorium der Zeitigung zugeführt hat, lässt sich nur Alexander Zemlinsky als unverkennbares und starkes Talent bezeichnen. Seine dreisätzige Orchestersuite (Legende, Reigen und Humoreske) ist ein durchaus erfreuliches Werk. Dass Zemlinsky augenscheinlich sehr viel gelernt hat, dass er mit dem Handwerkszeug seiner Kunst mit voller Sicherheit hantirt, gäbe ihm nur den Anspruch auf das Lob seiner Lehrer und allenfalls auf einen zu vertheilenden Preis. Aber seine Stücke athmen warme Poesie, liebenswürdige Empfindung und lassen die ersten Laute einer eigenen Sprache hören. Er springt glücklicherweise noch zeitweilig über den Strang und in seinem ‚Reigen‘ setzen sich höhere Gestalten als sterzgesättigte Bäuerinnen oder anaemische Capitalisten-Kinder in Bewegung. Phantasie und Leidenschaft spricht aus diesen Tönen.“13

Trotz seines Erfolgs betrachtete Zemlinsky die Suite lediglich als Etappensieg. Daher bemühte er sich weder um Folgeaufführungen noch um ihre Veröffentlichung. Drei Jahre nach dem Jubiläumskonzert nahm er sich dennoch den 2. Satz („Reigen“) wieder vor und arbeitete ihn zu einer Chorszene um. In neuer Gestalt diente der Satz als Auftakt zum 3. Aufzug der Oper „Es war einmal …“, die am 22. Jänner 1900 unter Leitung von Gustav Mahler an der Wiener Hofoper eine glanzvolle Premiere erlebte.

Heiterer Exkurs: Brahms als Indianer Zu den Ehrengästen am 18. März 1895 zählte u. a. der Kritiker und Publizist Max Kalbeck. Geradezu schwärmerisch berichtet er in seiner vierbändigen Brahms-Biographie vom letzten Wiener Dirigat des Meisters: „Er war mit ganzer Seele bei der Sache, und das Feuer seines Pathos riß die begeisterte Jugend vollends hin. Trotzdem machte er den Eindruck, als ob er unter den Dämonen, die sein Taktstock heraufbeschwor, zu leiden habe, als ob er erst mit ihnen ringen müsse, ehe er sie beherrschte. Immer wieder drückte er die geballte Linke aufs Herz, als ob es ihn schmerze, und gebrauchte sie dann wieder, um anzutreiben oder zu kalmieren. […] Seine Augen bekamen einen eigenen, fremdartigen, starren Glanz, als sähe eine manchmal bis zum Entsetzen gesteigerte Angst aus ihnen heraus. Jeder Forteschlag erschütterte seinen stämmigen Körper, und die grauen

11 Oesterreichische Rundschau, 1. April 1895, Ausschnitt aus Zemlinskys persönlicher Pressemappe, Harvard University (s. o.). 12 „G. v. B.“ in: Reichspost Nr. 66, 20. März 1895, S. 5. 13 Gustav Schoenaich in: Neue musikalische Presse Nr. 12 (März) 1895, S. 4.

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Antony Beaumont (Bremen)

Haarsträhnen flogen um sein Haupt. […] Wer hätte damals gedacht, daß Brahms bei dieser Gelegenheit zum letztenmal in Wien dirigierte !“14

Über die Ursache dieser Angst und tiefen „Erschütterung“ – bei einer Komposition, die überwiegend heitere und joviale Töne anstimmt – hat Kalbeck sich offenbar keine Gedanken gemacht. Was eigentlich dahinterstand, erfahren wir aus dem Tagebuch Richard Heubergers, der dem Konzert ebenfalls beigewohnt hatte: „18. März. Mit Brahms und Goldmark im Gasthaus diniert. Brahms hatte vorher im Jubiläumskonzert des Konservatoriums der ‚Gesellschaft der Musikfreunde‘ die ‚Akademische Festouvertüre‘ dirigiert. Er war sehr übermütig und erzählte, daß er den jungen Orchesterzöglingen des Konservatoriums nach den üblichen Ovationen noch eine große Rede gehalten habe und zwar aus folgendem Anlaß: Der Klarinettist hatte in der Hauptprobe gepatzt. Er lachte aber darüber und einige seiner Kollegen taten dasselbe. Brahms klopfte ab: ‚Ich war recht wild und wäre wohl sehr grob geworden, schluckte es aber hinunter und ließ weiter spielen. Abends patzte der Unglücksmensch – als der Einzige – an derselben Stelle wieder. Ich schaute ihn fürchterlich an. So ! (Und Brahms machte ein urkomisches, indianermäßiges Gesicht.) Und jetzt, nachdem der Rummel aus war, sagte ich zu den jungen Leuten (der Klarinettist war schon fortgeschlichen): Nun, da ihr noch beisammen seid, will ich nur sagen, daß ich gewiß ein guter Kamerad bin und gerne lustig mit jungen Leuten bin. Aber bei der Arbeit heißt’s: Ernst, Ernst !‘ (Er machte dabei wieder das Indianergesicht).“15

Symphonie B-Dur (1897) Zunächst eine kleine Chronik. Pressemitteilung am 1. Jänner 1897: „Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien hat für das Jahr 1897 einen Compositionspreis im Betrage von 1000 fl. ö. W. ausgeschrieben für die beste Composition einer Oper, eines Oratoriums, einer Cantate, Symphonie, Sonate oder eines Concertes, welche bis zum 15./9. 1897 an die Direction der Gesellschaft eingesendet wird. Bewerbungsberechtigt sind alle Tonsetzer, die dem Conservatorium in Wien angehören, oder seit zehn Jahren angehört haben. Die näheren Bestimmungen bei der Gesellschaftsdirection.“16

Die „Reichspost“ ersetzte den letzten Satz durch folgende Mitteilungen: „Jeder Concurrent kann sich nur mit einem [gesperrt] Werke in Bewerbung setzen. Die Einsendung der Compositionen hat in der bei Preisausschreibungen üblichen Form der Anonymität zu geschehen. Die näheren Bestimmungen enthält das Statut

14 Max Kalbeck, Johannes Brahms, 4. Band, 2. Halbband, Berlin 1915 (Nachdruck Tutzing 1976), S. 400f. 15 Richard Heuberger, Erinnerungen an Johannes Brahms. Tagebuchnotizen aus den Jahren 1875 bis 1897, hrsg. von Kurt Hofmann, Tutzing 1976, S. 78. 16 Die Lyra, 1. Jänner 1897, S. 6.

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Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

der Compositions=Stiftung, welches jedem Bewerbungsberechtigten über Verlangen seitens der Gesellschaftsdirection zugesendet wird.“17

3. April 1897: Tod von Johannes Brahms. Juni 1897: Zemlinsky komponiert ein neues Klavierlied „Der Tag wird kühl“ nach einem Gedicht von Paul Heyse. Das allgegenwärtige Dreitonmotiv dieses Liedes, Fis-cis-H, bzw. dessen Intervallstruktur 1–5–4, spielt im thematischen Aufbau der B-Dur-Symphonie eine übergeordnete Rolle (siehe Notenbeispiel). Juli–August 1897: Zemlinsky verbringt die Sommermonate in Payerbach, wo er intensiv an seiner neuen Symphonie arbeitet. Bevor er nach Wien zurückkehrt, fertigt er eine Reinschrift von „Der Tag wird kühl“ an und versieht dessen Titelseite mit einer Widmung an seine Verlobte, die Sopranistin Melanie Gutmann („meiner Mela zum Abschied“). 9. September 1897: Er vollendet die Partitur in Wien und reicht sie umgehend für den Kompositionspreis ein. Als Pseudonym („Motto“) wählt er ein Zitat aus „Die Meistersinger von Nüremberg“, 3. Aufzug: „Wer Preise erkennt und Preise stellt, der will am End auch, daß man ihm gefällt.“ Indem er das Hauptmotiv der Symphonie aus den Buchstaben der Namen „Alexander“ und „Melanie“ hergeleitet hat (siehe Notenbeispiel), verstößt er heimlich gegen die Anonymitätsregel der Preisausschreibung. Außerdem dürfte das beigefügte Wagner-Zitat als sanfte Stichelei verstanden werden, denn die Juroren zählten allesamt zum inneren Kreis um Johannes Brahms.

17 Die Reichspost, 6. Jänner 1897, S. 7.

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Antony Beaumont (Bremen)

15. September 1897: Einsendeschluß. Insgesamt zehn Manuskripte werden in Empfang genommen: drei Symphonien, eine Orchester-Suite, eine Oper nach Ibsens „Fest auf Solhaug“, eine Tondichtung, ein Klavierkonzert, ein Harfenkonzert und eine Ouvertüre. 9. Dezember 1897: Preisrichterversammlung. Anwesend sind Ignaz Brüll, Johann Nepomuk Fuchs, Robert Fuchs, Eduard Kremser, Eusebius Mandyczewski, Richard von Perger und Rudolf Weinwurm. Den Vorsitz hat Hoftheaterintendant Baron Josef von Bezecny. Pressemitteilung am 16. Dezember 1897: „Der für 1897 ausgeschriebene Compositions=Preis (1000 fl.) wurde den Herren A. Zemplinsky [!] für eine Symphonie in B-dur und R. Gound für eine Symphonie in G-moll (je 500 fl.) zuerkannt. An der Preisbewerbung hatten sich zehn Componisten betheiligt. Dieselben wollen ihre Werke unter Bezeichnung der Gattung und Motti im Gesellschafts=Archiv gefälligst abholen lassen, oder die Zusendung unter Angabe eines Bestimmungsortes beim Secretariate veranlassen.“18

Aufführungen der preisgekrönten Werke waren vom Musikverein nicht vorgesehen. Dafür sprang ein anderes Institut in die Bresche: Um die beiden Symphonien zu Gehör zu bringen, veranstaltete der Tonkünstlerverein im Frühjahr 1899 ein Sonderkonzert. – Pressebericht vom 28. Februar 1899: „Der Wiener Tonkünstlerverein bringt in seinem am 5. März, halb 1 Uhr Mittags, im großem Musikvereinssaale stattfindenden Orchesterconcerte zwei Symphonien von Robert Gound und Alexander v. Zemlinszky [!] unter Mitwirkung eines größtentheils aus Mitgliedern des Hofopernorchesters bestehenden Orchesters unter Leitung der Componisten zur Aufführung. Beide Werke wurden mit dem Compositionspreise der Gesellschaft der Musikfreunde (früher Beethoven=Preis), dem höchsten Musikpreise Oesterreichs, ausgezeichnet, und gelangten trotzdem bisher zu keiner öffentlichen Aufführung. Die Eintrittspreise sind niedrig.“19

Nach der Uraufführung lobten die Kritiker Zemlinskys Symphonie in großer Übereinstimmung: So schrieb etwa Max Graf in der „Morgenpost“: 18 Reichspost, 17. Dezember 1897, S. 6. Die Mitteilung erschien – ebenfalls mit „Zemplinsky“ – in der „Wiener Zeitung“ vom 16. Dezember 1897, S. 4. In Anlehnung an die Tradition des Beethovenpreises gaben die Preisrichter ihr Urteil zwar an Beethovens Geburtstag, dem 16. Dezember, bekannt, doch trug der Wettbewerb nicht mehr die Bezeichnung „Beethovenpreis“, da das Preisgeld aus anderen Quellen stammte als in früheren Jahren, u. a. aus dem Nachlaß von Brahms. In seinem handgeschriebenen Lebenslauf (undatiertes Schreiben an die Universal-Edition, Wien [um 1910)], behauptete Zemlinsky: „Bald darauf erhilt [!] eine Symphonie den Beethovenpreis u. wurde durch die Phylharmoniker [!] in einem Concert aufgeführt.“ Diese Angaben sind nicht ganz zutreffend, denn es handelte sich, wie oben erläutert, nicht um den Beethovenpreis, auch wirkten nicht die „Phylharmoniker“ bei der Uraufführung mit, sondern ein ad-hoc-Orchester (vgl. Ankündigung in „Das Vaterland“ vom 28. Februar 1899). 19 Das Vaterland. Abendblatt, 28. Februar 1897, S. 3.

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Zemlinsky und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

„Auch bei Zemlinszky [!] treffen wir Brahms an, in der schönen Gesangsgruppe des ersten Satzes, vor allem in der Schluß=Passačaglia [!] seiner Symphonie. Aber wie ist diese junge Künstler, beiweitem das stärkste, blendendste, kosmopolitischste musikalische Talent der jungen Wiener Musiker, über seinen Meister Herr geworden. Wie hat er alle modernen Musikelemente verdaut und aus ihnen seine Nahrung gezogen ! Er ist eine der glücklichsten musikalischen Naturen, die ich kenne. Durchaus nobel, frei in der Herrschaft über das Orchester, welches er prachtvoll zum Klingen bringt. Von neueren Compositionen hat mich keine in ein solches Erstaunen gesetzt, wie der Schlußsatz seiner Symphonie. Eine freie, gradtaktige Passačaglia, welche über ein sehr energisches, kräftiges Baßthema eine Reihe von prachtvollen Variationen bringt und am Schlusse noch Themen des ersten Satzes hineinwirft: ein Beweis mühelose Fruchtbarkeit an musikalischen Einfällen und größter Meisterschaft im rhythmischen Zusammenfalten.“20

Josef Reitler meinte zu den beiden Symphonien: „Unseres Erachtens sind die zwei Symphonien mit einander gar nicht zu vergleichen. Jene von Gound – wol aus früherer Zeit stammend – ist eine Schularbeit, die allenfalls ein ,Prämium‘, aber keinen Preis verdient, Zemlinsky’s Werk schlägt vom ersten Accord ab ganz andere Töne an und gipfelt in einem Schlußsatze (in Form einer Passacaglia), der an Keckheit und Reichthum der Erfindung, an Flottheit der Mache gar manche moderne Symphoniesätze überragt. Zemlinsky zeigt sich übrigens mit der Leitung seiner Symphonie auch als temperamentvoller, umsichtiger Dirigent.“21

Und auch Robert Hirschfeld fand lobende Worte für Zemlinskys Symphonie, wobei er sie vor allem gegenüber dem Werk von Robert Gound hervorhob, dem er jedwedes „symphonische Empfinden“ absprach: „Zemlinsky ist ein Volltalent. Ob ein symphonisches ? Jedenfalls stark genug, um sich an der Symphonie zu erproben. Seine Gedanken sind sprunghaft, quellen nicht immer aus dem gleichen Grunde und streben nicht immer nach dem gleichen hohen Ziel. Seine Technik, auch die der Orchestration, ist weit gediehen und bereits so frei geworden, daß er mit Klangwirkungen gern verblüfft. In seiner Symphonie vermisse ich irgend Transcendentes und geschlossene Einheit. Die Chaconne als Finale ist technisch sehr bemerkenswerth, aber als Schlußsatz einer Symphonie auch nicht genügend concentrirt; es ist mehr Abwechslung als Entwicklung darin. Die Aufführung der von Zemlinsky auch vortrefflich dirigirten Symphonie war von Interesse, selbst wenn sie nur die kaum zweifelhafte Begabung des jungen Componisten für die feinere komische Oper dargethan haben sollte.“22

20 M. G. [Max Graf], Theater, Kunst und Literatur. Concert., in: Extrapost. Montags-Zeitung, 6. März 1899, S. 5. 21 R. [Josef Reitler], Concerte, in: Neue Freie Presse Nr. 12416, Abendblatt, 16. März 1899, S. 3. 22 Robert Hirschfeld, Feuilleton. Concerte. II“, in: Wiener Abendpost Nr. 68, 23. März 1899, S. 1.

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Frühlingsbegräbnis (1900) Zemlinskys im April 1896 entstandene Vertonung von Heyses „Frühlingsbegräbnis“ war als Huldigung an Johannes Brahms gedacht. Da das Werk jedoch erst zweieinhalb Jahre nach dessen Tod zur Aufführung gelangte, kam es nunmehr als Grabgesang auf die Welt. In anderen Kompositionen hatte Zemlinsky seine Ehrfurcht vor Brahms eher durch eine stilistische Annäherung zum Ausdruck gebracht. Mit diesem Werk huldigte er dem Meister auf direktere Weise, indem er ein Thema von Brahms zur eigenen Hauptidee umformte: Das aus stufenweise absteigenden Dreiklängen und aufsteigenden Quartsprüngen zusammengesetzte Doppelmotiv der ersten Takte entnahm Zemlinsky nämlich dem zweiten Satz, „Denn alles Fleisch es ist wie Gras“, aus dem „Deutschen Requiem“. Auch die Wahl des Gedichts bezeugt Zemlinskys Solidarität mit seinem Mentor, der Paul Heyses Dichtkunst ebenfalls außerordentlich hoch schätzte. Heyses „Frühlingsbegräbnis“ kann aber bestenfalls als Flickwerk bezeichnet werden, nahm der Autor das Gedicht doch in die endgültige, 1902–1912 erschienene Ausgabe seiner Gesammelten Werke nicht auf. Dennoch eignet sich der Text zur Vertonung, läßt er sich doch ohne weiteres als vierteilige Sonatenstruktur einteilen: Trauermarsch, Scherzo, Andante, Finale. Die Uraufführung fand am 11. Februar 1900 im Rahmen eines Konzertes der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt (Abbildung 2). Auf dem Programm standen außerdem Bruckners Messe d-Moll und Mozarts „Posthorn-Serenade“ D-Dur, KV 320, beide Werke unter der Leitung des Konzert-Direktors der Gesellschaft, Richard von Perger. Zemlinskys Novität wurde vom Wiener Singverein und dem Gesellschaftsorchester unter der Leitung des Komponisten aufgeführt; die Solisten waren Mathilde von Hochmeister und Joseph Meyer. – Einen Augenzeugenbericht des Ereignisses hinterließ die 21jährige Alma Schindler in ihrem Tagebuch: „Das Ganze hat etwas unfertiges – instrumentiert ist es grandios. Der Mensch selbst ist das komischste, was es gibt, […] mit einem zu verrückten Dirigat. Es wirkt immer komisch, wenn der Componist selbst dirigiert, denn er will immer zu viel vom Orchester, mehr als gut sei.“23

23 Antony Beaumont / Susanne Rode-Breymann (Hg.), Alma Mahler-Werfel, Tagebuch-Suiten 1898– 1902, Frankfurt/M. 1997, Eintrag für den 11. Februar 1900.

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Abbildung 2: Drittes ordentliches Gesellschafts-Concert der Gesellschaft der Musikfreun­ de in Wien vom 11. Februar 1900. Programmzettel, Ausschnitt (Archiv der Gesellschaft der ­Musikfreunde in Wien)

Für Heyses „wunderschönes“ Gedicht fand der Kritiker des „Neuen Wiener Journals“ lobende Worte. In Zemlinskys Vertonung von „Frühlingsbegräbniß“ für Soli, Chor und Orchester vermißte er jedoch „Melodie und Einheit des Ganzen“. Allerdings sah er es als „ein mit souveräner Beherrschung aller technischen Mittel geschriebenes Werk dieses genialen Componisten“ und räumte ein, „wie Zemlinsky Orchester und Chor behandelt, das ist genial und manchmal wirklich verblüffend“.24 Im Gegensatz dazu würdigte der Rezensent der „Neuen Musikalischen Presse“, H. Geisler, das Werk als ein „herzzerbrechendes Trauerspiel“ und bemängelte lediglich die Qualität des Gedichts: 24 Neues Wiener Journal, 12. Februar 1900, S. 4.

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„Wenn seine ebenso schöne als geistvolle Musik nicht voll zur Geltung kam, so liegt das daran, dass sie an ein unglaubwürdiges dichterisches Hirngespinst gebunden war, dass sich in aller Bewunderung ein Gefühl des Komischen mengte über solch sinnlose Verschwendung. […] Der Aufbau des Ganzen ist vortrefflich, alles ist sinngemäss und deutlich gegliedert, dabei wohlverbunden und in einem Zuge hinströmend.“

Auch den Dirigenten Zemlinsky lobte Geisler als „einen richtigen Musiker […] mit hörenden Ohren, mit rhythmischem Gefühle, einer, der Auffassung hat und sie mitzutheilen versteht, ein wirklicher Leiter.“25 Diese Aufführung, erst drei Wochen nach der umjubelten Premiere der Oper „Es war einmal…“ an der Wiener Hofoper, bildet den Höhepunkt von Zemlinskys kometenhaftem Aufstieg. Mit 29 Jahren war er für solche Erfolge noch zu jung. Bald drehte sich das Glücksrad – wie konnte es anders kommen ? – zu seinen Ungunsten.

Psalm 23, op. 12 (1910) Am 14. Oktober 1910 feierte Zemlinsky seinen 39. Geburtstag. In Wien stand sein Stern nicht mehr hoch, er hatte mittlerweile mehrere Rückschläge erleben müssen. Deshalb hatte er beschlossen, sein Glück woanders zu suchen, nämlich als [Erster] Kapellmeister des Neuen Deutschen Theaters in Prag. An diesem vielleicht kritischsten Wendepunkt in seinem Leben fand er Trost im beliebtesten aller Psalmen-Texte, „Der Herr ist mein Hirte“. Vom Mai bis August 1910 hielt er sich in Bad Ischl auf. Das Korrekturlesen des Orchestermaterials zu seiner Oper „Kleider machen Leute“ nahm die meiste Zeit in Anspruch. Nebenbei arbeitete er an einem neuen Werk für Franz Schreker und dessen Philharmonischen Chor, den Psalm 23, sowie an drei Gesängen nach Texten von Maurice Maeterlinck. Ende August, kurz vor seiner Rückkehr nach Wien, lagen beide Werke in Reinschrift vor. Zemlinskys Vorhaben, ein neues Chorwerk zu komponieren, ging auf das Jahr 1907 zurück. Zu dieser Zeit trat Franz Schreker von seinem Posten als Chorleiter an der Volksoper zurück, um die Leitung des Philharmonischen Chores zu übernehmen: einen Verein mit 240 aktiven Mitgliedern, den Schreker durch die Fusionierung zweier kleinerer Chöre, die „Chorakademie“ und den „Neuen Singverein“, zusammengestellt hatte. Auf der Suche nach neuem Repertoire hatte er sich an Freunde und Kollegen gewandt. Zu diesem Zweck vertonte

25 Neue musikalische Presse Nr. 7, 18. Februar 1900, S. 57f.

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Abbildung 3: Sitzpläne der Säle des Musikvereins-Gebäudes am Beginn des 20. Jahrhunderts, hier im Abendprogramm vom 29. Oktober 1913 (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien); siehe S. 36f. 147

Antony Beaumont (Bremen)

Schönberg 1907 das Gedicht „Friede Auf Erden“ von Conrad Ferdinand Meyer, und damals mußte Zemlinsky um Aufschub bitten, da er gerade mit der Arbeit an „Kleider machen Leute“ begonnen hatte. Die Früchte der Sommerarbeit wurden gegen Jahresende geerntet. Schreker dirigierte den „Psalm 23“ am 10. Dezember 1910 im Musikverein. Am Abend darauf, im Rahmen eines von der Musikzeitschrift „Der Merker“ veranstalteten Galakonzertes, erklangen erstmals die Vier Maeterlinck-Gesänge. Zemlinsky hatte eine Reihe von beträchtlichen Leistungen erbracht, erhielt dafür jedoch keine Lorbeeren. Im Konzert des Philharmonischen Chores (Mitveranstalter war der „Verein Wiener Tonkünstler-Orchester“) stand sein Psalm im Schatten des Mammutwerks „Gloria !“ von Jean Louis Nicodé;26 und im Rampenlicht des „Merker“-Konzertes stand nicht er, sondern sein Schüler Erich Wolfgang Korngold, dessen Klaviertrio op. 1 ebenfalls an diesem Abend zur Uraufführung gelangte. In den Folgejahren errang Zemlinskys Psalmvertonung etwas mehr Aufmerksamkeit. Schreker führte das Werk am 22. April 1912 erneut im großen Musikvereinssaal auf, diesmal zusammen mit Mahlers „Das klagende Lied“, und es wurde von dem zahlreich erschienenen „Publikum mit großer Wärme aufgenommen“.27 Weitere Aufführungen folgten in Mannheim, Prag und Berlin. Da keine Abschrift der Partitur vorhanden war, mußte das Originalmanuskript immer wieder als Dirigierpartitur dienen. Zum Glück blieb das Unikat unversehrt, es wurde weder beschädigt, verunstaltet noch verschmiert. Endlich, im Jahre 1921, wendete sich Zemlinsky an Emil Hertzka, den Geschäftsführer der Universal-Edition, mit der Bitte, die Partitur kopieren und drucken zu lassen. Hertzka zögerte: Die Kosten für Papier und Druck lägen sehr hoch, der mögliche Gewinn sei eher gering. „Sehr geehrter Herr Direktor“, schrieb Zemlinsky, „dass mein Psalm schwer zu singen ist, wusste ich, dass er aber auch schwer zu drucken, das konnte ich mir nun gar nicht vorstellen.“28

26 Jean Louis Nicodé, „Gloria! Ein Sturm- und Sonnenlied, Sinfonie für großes Orchester, Orgel und (Schluß-)Chor“ (entstanden 1902/03). 27 Neues Wiener Tagblatt Nr. 123, 6. Mai 1912, S. 11. Übrigens wurden damals in zahlreichen Abendprogrammen die Sitzpläne der beiden Säle des Musikvereinsgebäudes abgebildet (Abbildung 3). 28 Unveröffentlichter Brief an die Universal-Edition, o. D. (um 1921).

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„Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe …“ Franz Schmidt

Carmen Ottner (Wien) „Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe, wird mir, solange ich lebe, gegenwärtig sein.“ Franz Schmidt (1874–1939) Franz Schmidt verfaßte zum Jahresende 1924/25 an die „Hochverehrte Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde Wien!“ folgendes Schreiben: „Ihr liebenswürdiges und herzliches Glückwunschschreiben macht mich stolz und glücklich. Indem ich dafür meinen ergebensten Dank zum Ausdruck bringe, erlaube ich mir gleichzeitig zu versichern, dass die unvergesslichen Jahre, in denen ich als ganz grüner Schüler in Ihrem Hause aus und eingehen durfte, zu den schönsten meines Lebens gehören und dass ich ferner ganz besonders stolz darauf bin, ein Schüler des weltberühmten Wiener Conservatoriums gewesen zu sein. Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe, wird mir, solange ich lebe, gegenwärtig sein. Ich erlaube mir die ergebene Bitte auszusprechen, dass die Gesellschaft der Musikfreunde mir ihre unschätzbare Gewogenheit auch fernerhin erhalte und verbleibe mit dem Ausdrucke meiner unwandelbaren Verehrung Ihr ergebener Franz Schmidt“1

Damit bedankte sich Schmidt für die Glückwünsche anläßlich seines 50. Geburtstags und skizzierte zugleich auch seine Berufsausbildung bzw. Berufslaufbahn: Ab 1890 studierte er am „Conservatorium“ Violoncello, Musiktheorie, Komposition, schloß 1896 das Studium mit Auszeichnung ab und trat kurz danach als Cellist in das Orchester der Wiener Hofoper und der Wiener Philharmoniker ein. Eine Aufstellung informiert über den genauen Ablauf von Schmidts Tätigkeit als Lehrender am „Conservatorium“, später auch als Fachgruppenvorstand, bzw. Direktor und Rektor der Musikakademie, zeitweise Fachhochschule für Musik und darstellende Kunst.2 – Das genannte Schreiben ist eines von sieben erhaltenen Briefen, die Franz Schmidt im Zeitraum von 1913 bis 1938 an die Gesellschaft der Musikfreunde richtete, in deren Archiv sie sich befinden.3 Schmidts jahrzehntelange Verbundenheit mit der Gesellschaft der Musikfreun1

2

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Walter Obermaier, Franz Schmidt. Ausgewählte Briefe (= Studien zu Franz Schmidt II) [Studien], Wien 1984, S. 30. Siehe auch Carmen Ottner, Quellen I zu Franz Schmidt (= Studien IV), Wien 1985, S. 3. Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde (in einer Mappe mit 12 Briefen Schmidts): „Schmidt: Fasz. 1924/25, Nr. 83. Antwort auf ein Glückwunschschreiben vom 22. 12. 24 (50. Gebtg.).“ Ab 1897 unterrichtete Schmidt Violoncello, ab 1908 als Professor; ab 1914 leitete er eine Klavierklasse, 1923 erhielt er eine Klasse für Musiktheorie sowie musikalische Komposition und wurde Fachgruppenvorstand. 1925 Leiter der Musikakademie, wurde er nach einer Umwandlung der Ausbildungsstätte in eine Fachhochschule 1927 zum Rektor gewählt. In dieser Funktion bestätigte man Schmidt bis 1935, als er – bereits sehr krank – um zeitweise Vertretung durch verschiedene Kollegen ansuchte. Am 22. Jänner 1937 erfolgte die „Versetzung i. d. dauernden Ruhestand“. Vgl. Anm. 1. (Obermaier, S. 19 und 30; Ottner, S. 2ff.).

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de, bzw. dem Wiener Musikverein, zeigt sich aber vor allem in zahlreichen Urund Erstaufführungen seiner Werke. Nur einzelne Werke erklangen erstmals im Wiener Konzerthaus: die „Concertanten Variationen über ein Thema von Beethoven“ für Klavier („für die linke Hand allein“) und Orchester (für Paul Wittgenstein, sein „1. Klavierkonzert“) am 2. Februar 1924 mit dem Widmungsträger und dem Wiener Sinfonie-Orchester unter Julius Prüwer. Weiters das 2. Streichquartett G-Dur durch das Rosé-Quartett am 22. März 1930 sowie das 2. (Klavier-)Quintett B-Dur, ebenfalls für Paul Wittgenstein „für die linke Hand allein“ geschaffen; der kriegsversehrte Pianist konzertierte mit dem philharmonischen „Sedlak-Winkler-Quartett“ (16. März 1933). – Die „Vier kleinen Präludien und Fugen“ wurden dem deutschen Organisten Fritz Heitmann gewidmet, der drei Stücke am 6. Juni 1929 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Gehör brachte. Die in der Literatur angegebenen Uraufführungen der Orgelwerke „Choralvorspiel zu Joseph Haydns ,Gott erhalte‘“ (28. Mai 1933) und „Präludium und Fuge A-Dur“ (24. Dezember 1934) im Großen Saal des Musikvereins konnten nicht bestätigt werden. Diese Interpretationen fanden offenbar im damaligen „Funkhaus“ in der Johannesgasse statt, der gegenwärtigen Heimstätte der „Musik und Kunst Privatuniversität [vormals Konservatorium] der Stadt Wien“.4 Das Choralvorspiel „Der Heiland ist erstanden“ dürfte erstmals am 11. Mai 1934 durch Franz Schütz erklungen sein und nicht am 31. März 1934. Die übrigen Instrumentalwerke bzw. oratorischen Kompositionen wurden zwar alle im Musikvereinsgebäude von sehr prominenten Künstlern uraufgeführt, aber nur ein Teil fand im Rahmen tatsächlicher „Gesellschaftskonzerte“ statt. Daher sind folgende „Premieren“ nicht dem speziellen Thema dieses Symposions zuzurechnen: Die erste nachvollziehbare Aufführung eines Werks von Franz Schmidt galt der 1. Symphonie, für die ihm der begehrte (zunächst primär Absolventen bzw. Studenten des Konservatorium zugedachte) „Beethoven-Preis“ der Gesellschaft der Musikfreunde zuerkannt wurde: Der junge Komponist leitete in einem „Novitätenkonzert“ vom 25. Jänner 1902 selbst den „Konzertverein“ (einen VorläuferOrchester der Wiener Symphoniker) im Großen Saal, wodurch das Konzert aber

4

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Am 30. September 1924 wurde die „RAVAG“ gegründet, die Österreichische Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft, die am 1. Oktober 1924 den Sendebetrieb aufnahm. Mündliche Auskunft durch das Archiv des ORF, Prof. Roman Summereder. Siehe dazu auch im Internet „aeiou Österreich Lexikon“: RAVAG.

„Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe …“ Franz Schmidt

doch im weitesten Sinne eine Veranstaltung der Gesellschaft der Musikfreunde war.5 Später begleiteten seine Kollegen, die Wiener Philharmoniker, regelmäßig Schmidts Komponistenlaufbahn und führten in ihren Abonnementkonzerten bereits 1903 „Zwischenspiel und Karnevalsmusik aus ,Notre Dame‘“ auf (6. Dezember; 3. Abonnement-Konzert), bevor Schmidt seine 1. Oper vollendet hatte. Die beiden Orchesterwerke „Variationen über ein Husarenlied“ und die Orchesterfassung der „Chaconne“ wurden unter Clemens Krauss 1931 (15. März, 8. Abonnement-Konzert) und 1933 (29. Jänner, 5 Abonnement-Konzert) vorgestellt. Und unter dem Dirigat ihres ehemaligen Kollegen Franz Schmidt interpretierten die Wiener Philharmoniker die Uraufführung des 2. Klavierkonzerts Es-Dur – mit dem Auftraggeber und Widmungsträger Paul Wittgenstein (10. Februar 1935, 6. Abonnement-Konzert). Zudem erwarben sich verschiedene Kammermusikvereinigungen der Wiener Philharmoniker große Verdienste um die Interpretation von Schmidts entsprechendem Œuvre im Musikverein, allerdings ‒ mit einer Ausnahme ‒ im Rahmen von Erstaufführungen. Auch Franz Schütz (1892‒1962 Wien) war ein wichtiger Schmidt-Interpret. Er studierte u. a. bei Franz Schmidt Klavier und war bereits in den 1920er Jahren als Pädagoge an der Wiener Musikakademie tätig (1929 a. o. Professor) bzw. als Organist künstlerisch unumstritten und sehr angesehen.6 Seine spätere Entwicklung, sein politisches Bekenntnis zur Ideologie der Nationalsozialisten, trat 1938 deutlich zutage und wirft bedauerlicherweise auch einen Schatten auf die Persönlichkeit Franz Schmidts. Unabhängig davon ist festzustellen, daß die Kritiker aller bedeutenden Wiener Tageszeitungen bereits in den 1920er Jahren die Musikalität und das technische Können von Schütz uneingeschränkt bewunderten. So ist es verständlich, daß Schmidt seine Werke gerade diesem Organisten gerne anvertraute, der offenbar den „Großen Saal“ selbst mietete, um einen erheblichen Teil der Orgelkompositionen Schmidts uraufzuführen: So spielte Schütz am 10. Februar 1924, in einem „Franz Schmidt-Konzert“ anläßlich des 50. Geburtstags des Komponisten, erstmals „Phantasie und Fuge D-Dur“, um hier nur ein Beispiel zu nennen.7 5 Carmen Ottner, „Wenn die Zeichen nicht trügen, so ist in Franz Schmidt ein Symphoniker nicht gewöhnlichen Schlages aufgestanden.“ Zu Franz Schmidts „Erster Symphonie“, in: Festschrift Otto Biba zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ingrid Fuchs, Tutzing 2006. S. 477–498. 6 Rudolf Flotzinger (Hg.), Österreichisches Musiklexikon 4, Wien 2005, S. 2162. 7 Zu allen solistischen Orgelwerken siehe Michael Gailit, Das Orgelsoloschaffen von Franz Schmidt (1874–1939), in: Publikationen des Österreichischen Orgelforums (hrsg. von Günther Lade), Heft 2,

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Dazu ist zu bemerken, daß man 1907 bei der Firma Rieger (aus Jägerndorf) eine neue Orgel für den „Großen Saal“ bestellte, die im November dieses Jahres anläßlich einer Aufführung von Johann Sebastian Bachs „Hoher Messe“ eingeweiht wurde. Den Spieltisch stellte man auf die Orgelgalerie, „die alten Prospektpfeifen wurden beibehalten, jedoch nur zur Dekoration“. Damit war für die technisch ungeheuer schwierigen und anspruchsvollen Anforderungen der Orgelwerke Schmidts ein entsprechendes Instrument vorhanden,8 das Schmidt, ein vehementer Kritiker der modernen Orgeln, die er als „kraftlos brüllende Ungeheuer“ bezeichnete, offenbar goutierte. Fachleute nehmen an, daß sich seine Antipathien u. a. vor allem auf die damalige Orgel im Wiener Konzerthaus bezogen.9

Uraufführungen von Kompositionen Franz Schmidts bis 1936 Es sind dies die 2., 3. und 4. Symphonie, das 1. Streichquartett A-Dur sowie die Orgelwerke „Toccata und Fuge As-Dur“ und „Präludium und Fuge G-Dur“ (aus den „Vier kleinen Präludien und Fugen“). Nach dem März 1938, als die „Gesellschaft der Musikfreunde“ keine selbständige Institution mehr war, erklang am 15. Juni Schmidts gegenwärtig wahrscheinlich bekanntestes Werk, das Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“. Für die Zeit nach seinem Tod am 11. Februar 1939 sind folgende Uraufführungen zu nennen: Das Orgelwerk (mit Bläsern und Pauken) „Fuga solemnis“, das 3. Klavierquintett A-Dur für Paul Wittgenstein sowie das ebenfalls für den einarmigen Pianisten geschaffene Klaviersolostück „Toccata“. Das von Schmidt als Fragment hinterlassene Vokalwerk „Deutsche Auferstehung“ vollendete bzw. adaptierte bedauerlicherweise einer seiner Kompositionsschüler für eine – einmalige ‒ Aufführung, womit man dem Kompo-

Wien 1990. Hundert Jahre Goldener Saal. Das Haus der Gesellschaft der Musikfreunde am Karlsplatz, hrsg. von der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien o. J. [1970], o. p., Kapitel „Die Orgel“. 9 Schmidt formulierte in seiner Vorrede zum Druck von „Phantasie und Fuge D-Dur“, Wien (Edition Kern) 1924, in der „Anmerkung des Komponisten“ seine Ablehnung der „Modernen Orgel“, „die sich in den heutigen Konzertsälen breit macht“. Zugleich gibt er auch Anweisungen zur Interpretation seiner Werke. Siehe Roman Summereder, Aufbruch der Klänge. Materialien, Bilder, Dokumente zu Orgelreform und Orgelkultur im 20. Jahrhundert, Innsbruck 1995. Im Kapitel „Franz Schmidt und die Kritik der modernen Orgel“, S. 290–293, erklärt der Autor dessen Orgelideal. Siehe auch Summereder, „Franz Schmidt umkreist – österreichische Orgelmusik zwischen den Weltkriegen“, in: Carmen Ottner (Hg.), Franz Schmidt und die österreichische Orgelmusik seiner Zeit. Symposion 1991 (= Studien X), Wien 1992. S. 29–69. 8

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„Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe …“ Franz Schmidt

nisten, Musiker und Pädagogen einen schlechten Dienst erwiesen hat, dessen Auswirkungen bis in unsere Tage zu verfolgen sind.10 2. Symphonie, Es-Dur Uraufführung: 3. Dezember 1913, Großer Musikvereinssaal, „II. ordentliches Gesellschaftskonzert“. Orchester des Wiener Konzertvereins, Dirigent: Franz Schalk, Der Singverein der k. u. k. Gesellschaft der Musikfreunde. Mitwirkend: Lilli Claus-Neuroth (Sopran), Hans Zimmermann (Tenor), Ludwig Drapal (Baß), Silvio Floresco (Violine). Vor der Pause wurden zwei Werke von Hermann Grädener11 gegeben: „Der Spielmann“, Rhapsodie für Soli, Chor und Orchester (Geibel), sowie das 1. Violinkonzert D-Dur. Unmittelbar nach dem Konzert bedankte sich Schmidt brieflich: „Hochverehrte Direktion der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Es sei mir gestattet, für die Aufnahme meines Werkes in das Programm des zweiten Gesellschaftsconzertes [sic!], sowie für die demselben zuteil gewordene vorzügliche Aufführung meinen tiefgefühlten, innigsten Dank auszusprechen.“

Die „Zweite“ erfreute sich großer Anerkennung des Publikums und der damals renommiertesten Kritiker. So überlieferten Max Kalbeck und Max Graf die Stimmung im Konzertsaal. Kalbeck: „Die Novität wirkte sensationell wie eine neue Offenbarung des zielsicheren Fortschreitens in der Kunst, und das Auditorium erhob sich von den Sitzen, um den immer wieder hervorgerufenen Wundertäter, einen schlichten, bescheidenen Mann, zu begrüßen.“12. Graf: „Mit dem ganzen Publikum anerkenne ich freudig die reiche Schöpferkraft, die sich in dieser Musik so überraschend offenbart.“13 Und in seinen Erinnerungen vermerkte Graf: „Nichts hat mir in meiner kritischen Laufbahn mehr Freude gemacht als das Interesse, mit welchem Victor Adler einen Aufsatz von mir las, in dem ich Franz Schmidts

10 Die Programme wurden den handschriftlichen Aufzeichnungen bzw. Mikrofilmen im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde sowie folgenden Publikationen entnommen: Hundert Jahre Goldener Saal (Anm. 8) und Otto Biba (Hg.) / Teresa Hrdlicka (Bearb.), Die Programm-Sammlung im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1937–1987, Tutzing 2001. 11 Hermann Grädener (1844 Kiel – 1929 Wien), Sohn und Schüler des Musikers und Komponisten Carl Grädener, studierte am Wiener „Conservatorium“ der Gesellschaft der Musikfreunde, war Geiger im Hofopernorchester, Dirigent, Komponist, Organist sowie Pädagoge am „Conservatorium“ sowie an der Universität. 12 Neues Wiener Tagblatt, 6. Dezember 1913, S. 4. 13 Die Zeit, 7. Dezember 1913.

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Zweite Symphonie als das größte symphonische Werk bezeichnete, das in Österreich in jener Zeit komponiert worden war.“14

Adler ersuchte daraufhin David Joseph Bach, einen entsprechenden Artikel in der „Arbeiter-Zeitung“ über den „großen Komponisten“ Schmidt zu schreiben, was dieser „mit Wärme“ ausführte. Schmidts bester Freund, der Oboist Alexander Wunderer, Vorstand der Wiener Philharmoniker und Pädagoge an der Musikakademie, berichtetet in seinen handschriftlichen Erinnerungen,15 Schmidt hätte ihm 1912 „einige Partiturseiten“ gezeigt und ihm erzählt, diese 2. Symphonie hätte ursprünglich eigentlich „eine Klaviersonate“ werden sollen. (Als er von 1911 bis 1913 an seiner „Zweiten“ arbeitete, litt er bereits an schwerwiegenden Herzproblemen.) Besonders begeistert zeigte sich Wunderer über den „farbigen Klangrausch“ und die „Wechselnotenharmonie“, die Schmidt, „ein kühner Neuerer“, nun „bis zur fast unerträglichen Härte“ ausgereizt hätte. Im Frühjahr 1914 korrespondierte der Komponist mit der „Universal-Edition“ hinsichtlich der Korrekturen für die Drucklegung der Partitur und bemerkte, „dass Sie Herrn Wunderer mit der Herstellung des Clavierauszuges betraut haben, freut mich sehr“. Später ersuchte der Komponist, „[…] auf dem Titelblatt die Dedikation ,Franz Schalk gewidmet‘ nicht auszulassen“, und teilte dem Verlagsleiter Emil Hertzka mit, daß man die neue Symphonie anläßlich des Essener Musikfestes im Mai 1914 aufführen werde. Nach diesem Konzert erschien Richard Spechts Pamphlet „Der Fall Schmidt“, eine der wenigen negativen Kritiken zu Lebzeiten des Komponisten, ‒ sieht man von der mißglückten Uraufführung und Erstaufführung der 2. Oper „Fredigundis“ in Berlin bzw. Wien (1922 und 1924) ab. Der begeisterte Verehrer von Gustav Mahler und Richard Strauss (Specht hatte bekanntlich zukunftsweisende Studien zu Werk und Leben der beiden Komponisten verfaßt) gab in seinem ausufernden Artikel jenen recht, die Schmidts „Zweite“ als „Schöpfung [sahen], der alle Attribute des tüchtigen Mittelmaßes, des Gekonnten und Klangreichen, des Festgefügten und einer sehr sinnlichen Musizierfreude zuzu-

14 Max Graf, Jede Stunde war erfüllt, Wien o. J., S, 134f. Graf (1873 Wien – 1958 Wien), Dr. iur. und Dr. phil. (Musikwissenschaft, studierte bei Hanslick und Bruckner), Pädagoge, Musikkritiker, Manager, emigrierte 1938 in die U. S. A. und kehrte 1947 nach Wien zurück. Siehe Walter Pass / Gerhard Scheit / Wilhelm Svoboda (Hg.), Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945, Wien 1995, S. 272. 15 Wunderer überließ seine handschriftlichen Aufzeichnungen der (mittlerweile aufgelösten) FranzSchmidt-Gesellschaft, die diese dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde übergab (hier: Blatt 32f.).

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„Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe …“ Franz Schmidt

sprechen sind, aber ebenso auch die des Begrenzten, im eigentlichen Sinn Ideenlosen und Ungeistigen. […] Schon des Substantiellen des Werks halber, das einer Prüfung auf Meisterwerte nicht standhält: die Thematik ist insignifikant und wenig plastisch und der hinreißende Wohllaut, der das Ganze von Anfang zum Ende rauschend, lodernd, jauchzend durchweht, verhüllt eine Verschwommenheit der Architektur, die nicht allein aus der mangelnden Profilierung der Themen zu erklären ist.“16

Diese Sätze sind von besonderem Interesse, da dieses Werk bis in die Gegenwart vor allem dank seiner originellen Form und Themenverarbeitung Zustimmung erfährt: Schmidt konzipierte rein äußerlich nur drei Sätze. Eine elfteilige Variationsreihe, aus einem pastoralen Thema gewonnen, präsentiert jedoch den 2. und 3. Satz. Kalbeck hatte gerade diese Idee, eine Variationenreihe als Mittelsätze einzusetzen, besonders goutiert: Diese lasse „die sangesfrohen und tanzlustigen Völker der vereinigten Monarchie defilieren. […] Ein Meister des Tonsatzes ist hier wie überall am Werke.“ Specht informierte auch, daß „die Deutschen die Köpfe geschüttelt“ hätten, da die österreichische Kritik den Komponisten „zu einem Gesundheitbringer unserer Musik ausgerufen“ hätten, und monierte, daß Schmidt bis 1914 nur wenige Kompositionen vorgelegt hatte. Dieses „Manko“ erfuhr danach bald eine Änderung: Nach der Vollendung seiner zweiten Oper „Fredigundis“ waren die Zwanziger- bis Dreißigerjahre der produktivste Zeitabschnitt in Schmidts Komponistenlaufbahn. (Das Autograph der Oper befindet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.) 3. Symphonie A-Dur Uraufführung: 2. Dezember 1928, „Außerordentliches Konzert, 1/2 1 Uhr mittags“; Wiener Philharmoniker, Franz Schalk. Vor der Pause stand Kurt Atterbergs Symphonie C-Dur, op. 31, auf dem Programm. „Zur Aufführung gelangen: Die mit dem internationalen Preis* des amerikanischen Komponisten=Wettbewerbes ausgezeichnete Symphonie in C=Dur von Kurt Atterberg (Schweden)17 und die mit dem ersten Preis* der österreichischen Zone ausgezeichnete Symphonie III in A=Dur […] von Franz Schmidt (Wien)“ (Abbildung 1). Der Asterisk (*) ist folgendermaßen erklärt: Gestiftet vom Komitee der amerikani16 Richard Specht, Der Fall Schmidt, in: Die Musik 14 (1914/15), 1. Februar-Heft, S. 123–125, hier S. 123. Richard Specht (1870 Wien – 1932 Wien) war Lyriker, Dramatiker, Musikschriftsteller und Musikkritiker. Zu Schmidts „Zweiter“ siehe auch Gottfried Scholz, Franz Schmidt. 2. Symphonie, in: Studien III, Wien 1985. 17 Kurt Atterberg (1887 Göteborg – 1974 Stockholm), schwedischer Komponist, Dirigent und Musikkritiker (beruflich als Ingenieur am Patentamt angestellt) sowie 1924–1947 Präsident der Vereinigung der schwedischen Komponisten.

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schen Schubert=Zentenarfeier der Columbia Grammophone Company Ltd. in New=York.“

Abbildung 1: Uraufführung der 3. Symphonie von Franz Schmidt am 2. Dezember 1928. Abendprogramm, Ausschnitt (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

Ursprünglich dachte man daran, einen Preis für die beste Vollendung von Schuberts „Unvollendeter“, DV 759, zu stiften, änderte aber dieses merkwürdige Ansinnen zugunsten einer Komposition, die Schuberts musikalischer Ausdruckssphäre am nächsten käme. – Die Kritiker Max Graf, sein Kontrahent Julius Korngold sowie Balduin Bricht formulierten am prägnantesten die Situation; Max Graf etwa folgendermaßen: „Der Geist Schuberts ist etwas Herrliches und Unvergleichliches, aber aus dem Geist Schuberts heraus kann und soll unsere Zeit nicht schaffen. Sie hat ihr eigenes Gesicht, ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Zukunftsaufgaben. [Schmidt ist] gewiß der einzige Musiker von heute, in dem das klassische Formen nicht epigonales Gestalten, sondern etwas Lebendiges, flüssiger Geist ist. Schmidt ist der einzige 156

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Schubertsche Musiker, der heute lebt, nicht, weil er Schubertisch komponieren will, sondern weil […] die österreichische Musikfreude, etwas Naives und Reines mit meisterlichem Können verbunden [ist].“18

Und er ergänzte, daß Schalk das Werk „mit dem Herzen geleitet“ hätte. – Balduin Bricht wies darauf hin, daß das Jurymitglied Max von Schillings „aus ,politischen‘ Gründen“ Schmidt den Hauptpreis verweigert hätte ‒ zugunsten seines Schülers (!) Atterberg ! Schalk hätte dann erbost öffentlich bekannt, „er habe Atterberg seine Stimme nicht gegeben […]. Kaum nötig, es zu erwähnen, daß Schmidt dem Mißklang‒Fanatismus der ,Neutöner‘ eine Modernität entgegenstellt, die, wohlgegliedert in der Form, […] eine Anschauung der Welt und der Menschen durchklingen läßt.“19 Auch Korngold beanstandete das Procedere des Wettbewerbs, zeigte sich jedoch mit den beiden ausgezeichneten Symphonien versöhnt: „Aber die Fehlerquellen beginnen oft schon bei der Zusammensetzung der Preisrichterkollegien mit überlasteten Funktionären, die nicht genug Zeit haben […]. Atterbergs Symphonie hat ihre Qualitäten. Wir sprechen ihr insbesondere Plastik des Satzbaues wie der sonst gewiß nicht sonderlich originellen oder tiefen Gedanken zu, auch sinnliche Frische. Franz Schmidts Symphonie hat ihr gegenüber den größeren Ernst, kunstreichen Satz, symphonisches Gewicht überhaupt für sich. Außerdeutschem Geschmack mag Atterbergs Symphonie näher stehen; die Schmidts deutschem Fühlen, Wiener symphonischem insbesondere. […] Aller Beifall, kühl der Atterbergschen Symphonie gegenüber, konzentrierte sich auf Schmidts Werk.“20

Alfred Kalmus, Mitbesitzer der „Universal-Edition“, gab dem „Musical Opinion“ im Februar 1929 u. a. folgende Auskunft: „It is the serious work of a master“, Schmidts Symphonie sei „not so easily grasped as the Atterberg, it has many beauties […].“21 Heinrich Damisch monierte, Atterbergs Symphonie sei „wohl weniger im Sinne Schuberts komponiert“. Franz Schmidts Symphonie jedoch wäre „eine tiefernste, fast möchte man sagen unerbittliche kunstvolle Schöpfung, welche in jedem Takt die Eigenart, die orchestrale Besessenheit des Meisters zeigt. […] Wien ist stolz auf Franz Schmidt und hat ihm dies […] jubelnd 18 19 20 21

Der Tag, 4. Dezember 1928. Volkszeitung, 4. Dezember 1928. Neue Freie Presse, 6. Dezember 1928. Abschrift aus einem Nachlaß, Archiv der Franz-Schmidt-Gesellschaft. Balduin Brichts (1852–1937) Sohn Walter (1904 Wien – 1970 Bloomington) zählte zu den Lieblingsschülern Franz Schmidts und konnte nach seiner Emigration 1938 eine Karriere u. a. in New York und Bloomington – gemeinsam mit Schmidts unehelichem Sohn Ludwig Zirner – aufbauen. Siehe Elisabeth Th. Hilscher, Bricht, Familie, in: Oesterreichisches Musiklexikon, hrsg. von Rudolf Flotzinger, Bd. 1, Wien 2001, S. 207. Walter war mit der Verlegerstochter und Pianistin Natasha Kugel verheiratet.

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gezeigt.“ Franz Schalk, Schmidts „wahrer Entdecker, […] hat, vom Orchester mit begeisterter Hingebung und Meisterschaft unterstützt, die Symphonie […] zum Sieg geführt.“22 Vor allem mit einer bewußten Reduktion der Orchesterbesetzung (z. B. mit nur 4 Hörnern) näherte sich Schmidt dem großen Vorbild Schubert, dessen solistische Klavier- und Kammermusikwerke er meisterhaft interpretierte. Diese Partitur, 1927/28 entstanden, unterscheidet sich grundlegend von der monumentalen 2. Symphonie, die z. B. 5 Klarinetten, 8 Hörner und 4 Trompeten vorschreibt. In einem dreiseitigen, undatierten Brief an Franz Schalk (am Briefkopf „Der Rektor der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien“) bedauerte Schmidt, daß er „durch die entsetzlichste dienstliche Überbürdung ausserstande“ war, „das Material zu korrigieren“. Glücklicherweise gewährten ihm die philharmonischen Kollegen „eine Extraprobe“, und so könne er „verhältnismäßig mühelos“ Korrekturen vornehmen. Außerdem ersuchte Schmidt seinen Förderer, „bei Ihren Proben zuhören“ zu dürfen.23 Freund Wunderer meinte: „Bei den Sitzungen […] soll es ziemlich heiss hergegangen sein.“ Der Vertreter Österreichs in der Jury, Schalk, „hätte sich tapfer für Schmidts Werk“ eingesetzt. „[…] nicht nur ich, sondern auch andere konnten sich überzeugen, dass Schmidts Symphonie die bessere war.“24 In einem späteren Schreiben vom 4. Juni 1929 informierte der Komponist Emil Hertzka, daß „einer meiner Schüler […] einen guten zweihändigen Klavierauszug meiner dritten Symphonie gemacht“ hätte. (Er erschien erst 1952 im Katalog der „UniversalEdition“.) Der „Schüler“ war Karl Frotzler, er unterrichtete auch an der Musikakademie. Die autographe Partitur ist in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt. 4. Symphonie C-Dur Uraufführung: 10. Jänner 1934, 3. Orchesterkonzert, „Gesellschaft der Musikfreunde – Ravag (Radio Wien)“. Wiener Symphoniker, Dirigent Oswald Kabasta, Frédéric Lamond, Klavier. Robert Schumann: Klavierkonzert a-Moll, op. 54, Richard Strauss: „Also sprach Zarathustra“.

22 Deutschösterreichische Tageszeitung, 4. Dezember 1928. 23 Kopie des handschriftlichen Originalbriefes im Archiv der Franz-Schmidt-Gesellschaft, Brief Nr. 3 / Mappe 2. 24 Wunderer, Aufzeichnungen, Blatt 65f.

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Schmidts letztes symphonische Werk, 1932/33 konzipiert, zählt zu seinen gegenwärtig bekanntesten Kompositionen und wird nicht nur in Europa, sondern auch in Übersee regelmäßig aufgeführt. Skizzen findet man in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, ein Particell, bzw. die Partitur, im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde. Nach der Aufführung meinte Robert Konta25, es mußte „ein Werk kommen, das dieses so bedeutenden Komponisten eigentliche Können in absoluter Vollkommenheit bringt. […] Leid als musikalische Substanz, aber auch als Aura des Werkes […]. Dieser Symphonie […] kommt historische Bedeutung zu; die Kunstgattung Symphonie liegt im Sterben; […] und da zeigt einer von der älteren Garde der echten Symphoniker noch einmal, was eine Symphonie ist, die weder vor dem ernsten thematischen Durcharbeiten des musikalisch Stofflichen, noch vor den Mitteln der zeitgenössischen Harmonik und Satztechnik zurückschreckt. […] Oswald Kabasta hat mit den Wiener Symphonikern (unter diesen der vorzügliche Solocellist Krotschak) die ihm gewidmete Symphonie vornehm, besonnen und doch großzügig musiziert.“26

Ähnlich fiel das Urteil von Ernst Decsey aus: „[…] Nachdem Kabasta als Dirigent […] wiederholt gedankt und nachdem der Komponist selbst immer wieder auf dem Podium erschienen war, […] ein Komponist, der in seinem Können ebenso einsam dasteht wie in seiner erschütternden Konfession. [Die ,Vierte‘ …] zeigt, wie viel Neues ein geistvoller Musiker aus der alten vier-SatzForm nach Bruckner, nach Brahms, noch gestalten kann [… und] stellt Schmidts Bedeutung in der Musikgeschichte endgültig fest.“27

Max Graf schwärmte vollends: „Franz Schmidt ist als Symphoniker eine Welt für sich. Er ist der einzige große Musiker von heute, der die klassische Tradition repräsentiert, und doch kein erstarrter Konservativer, nicht versteinert und nicht eine mit Spinnweben überzogene historische Rumpelkammer ist. [Die ,Vierte‘ ist] nicht mehr heiter, anmutig wie die Dritte, sonder düster, ernst schwer […]. Diese C-Dur-Musik ist durchaus trüb, bis zur Verzweiflung in Düsterheit getaucht. Kabastas [Dirigieren] war nicht nur als Gedächtnisleistung bewundernswürdig (er dirigierte auswendig), […] sondern auch durch Übersicht, Wärme und mitreißende Begeisterung ungewöhnlich. Das Symphonieorchester hatte einen großen Tag.“28

25 Robert Konta (1880 Wien – 1953 Zürich), Dirigent, Komponist und Musikkritiker, lehrte 1911–1938 Musiktheorie am Konservatorium der Stadt Wien. 1938 Emigration in die Schweiz. Siehe Pass / Scheit / Svoboda (Hg.), Orpheus im Exil (Anm. 14), S. 302. 26 Wiener Allgemeine Zeitung, 12. Jänner 1934. 27 Neues Wiener Tagblatt, 12. Jänner 1934. 28 Der Wiener Tag, 12. Jänner 1934.

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In der „Neuen Freien Presse“ attestierte Korngold dem Komponisten bewundernd, selten hätte „eine symphonische Novität von solcher Tiefe und von solcher Dimension eine so einmütige enthusiastische Aufnahme gefunden. […] Es wird heute nicht viele Komponisten geben, die den Einfall und Atem für ein solches Adagio haben.“ Die Stimmung des Werks erinnerte den Rezensenten auch an Mahlers „Lied von der Erde“. Schmidts Kollege Joseph Marx stimmte in das allgemeine Lob ein: „Künstler, deren Kompositionstechnik hohe Kultur und jene Eigenart des Gestaltens zeigt, die in jedem Takt an die Glanzzeit österreichischer Meister erinnert, in denen noch etwas vom Geiste jener Großen lebt, die unsere Heimat als das klassische Land der Musik unsterblich machten – mit einem Wort Künstler mit edler österreichischer Tradition –, haben stets unsere ganze Sympathie. Franz Schmidt schuf in seiner ,Vierten‘ die ,Tragische‘, während ich die ,Dritte‘ seine ,Pastorale‘ nennen möchte. Dieses letzte Werk ist tiefernst; der Abglanz der scheidenden Sonne liegt auf ihm. Entsagung, Leiden, Schmerz klingen in einer ,Parsifal‘-Geste seiner Musik, ein Brucknersches Abschiednehmen von Seligkeiten der Jugend und glücklichen Erinnerungen […].“29

Die Bemerkungen von Joseph Marx zielen auf den schrecklichsten Schicksalsschlag in Schmidts Leben, das von zahlreichen traurigen und einschneidenden Erlebnissen geprägt war: Im März 1932 starb seine Tochter aus erster Ehe, Emma, fünf Wochen nach der Geburt ihres ersten Kindes, Marianne. Der verzweifelte Komponist, damals schon schwer krank, konzipierte nun sein letztes symphonisches Werk als „Requiem für meine Tochter“: in einem Satz, vier Abschnitte umfassend, in der Mitte ein Trauermarsch. Man denkt sofort an Liszts h-Moll-Sonate oder an Schönbergs Kammersymphonie für 15 Soloinstrumente, op. 9, von 1906, die er selbst 1935 als Opus 9b für großes Orchester bearbeitete. Robert Pascall erinnerte diese Form an ein „Palindrom“: Trompetensolo ‒ Exposition ‒ Durchführung ‒ A–B–A´ [Trauermarsch] ‒ Durchführung ‒ Reprise ‒ Trompetensolo.30 Als persönlicher, letzter Gruß an die verstorbene Tochter ist auch das Seitenthema in ungarischem Duktus sowie das Violoncello-Solo (A–A‘) zu Beginn und am Ende des Trauermarsches zu werten. Der Dirigent Oswald Kabasta31 zählte – bis zu seinem Selbstmord 1946 ‒ zu den Künstlern, die sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bis zum Kriegsende

29 Neues Wiener Journal, 14. Jänner 1934. 30 Robert Pascall, Symphonien und Symphonisches, in: Walter Obermaier (Hg.), Franz Schmidt und seine Zeit (= Studien VI), Wien 1988, S. 35. 31 Oswald Kabasta (1896 Mistelbach – 1946 Kufstein) studierte u. a. bei Franz Schalk an der Musikakademie in Wien, war 1926–1931 Generalmusikdirektor in Graz, übernahm 1931 die musikalische Leitung

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regelmäßig für das Œuvre Schmidts einsetzten. Er bekleidete in Wien bereits ab 1931 wichtige Positionen, die er dann unter den Nationalsozialisten auch in München ausbauen konnte. In einem Brief vom 16. November 1933 informierte ihn Schmidt: „Lieber Freund ! Sei davon benachrichtigt, dass die vierte Symphonie fertig ist. […] Ich weiß nicht, ob sie mein stärkstes Werk ist, […] aber das wahrste und innerlichste ist es auf jeden Fall. Ich habe es vom ersten bis zum letzten Takt unter der Vorstellung geschrieben, dass es mein letztes Werk ist, dass es mein Vermächtnis darstellt.“32

Nach der Uraufführung dankte der Komponist Kabasta am 12. Jänner 1934: „Es war an unserem großen Abend in dem Trancezustand, in dem ich mich befand, für mich ganz unmöglich, Dir etwas vernüftiges [sic!] zu sagen. […] Die Aufführung war so über alle Beschreibung wunderbar und vollkommen […]. Und damit ist dieser Tag zu einem Höhepunkt des Lebens für uns Beide geworden.“33

1. Streichquartett A‒Dur Uraufführung: 27. September 1925, Kammersaal (jetzt „Gottfried-von-EinemSaal“). Diese „Interne Vorführung“ ist als „Sonderfall“ zu werten: Sie fand vor geladenen Gästen statt, firmierte aber nicht unter „Konzertbüro Gesellschaft der Musikfreunde“ (das den Saal vermietete) und nannte als Veranstalter auch keine der damals bekannten Wiener Institutionen. Franz Schmidt musizierte regelmäßig in privatem Kreis und verfügte bis in seine letzten Lebensjahre über mehrere „Hausquartette“ bzw. Kammermusikensembles in verschiedener Besetzung, darunter eine Quartettformation mit Dr. Oskar Adler.34 Die Uraufführung des A-Dur-Quartetts interpretierte der Komponist selbst am Violoncello, zusammen mit dem bekannten Geiger Rudolf Fitzner (1868‒1934, Gründer des „Fitzner-Quartetts“, das 1894–1927 konzertierte), weiters mit Christa Richter

des Wiener Rundfunks und die Dirigentenklasse an der Wiener Musikakademie. Oft Gastdirigent im Musikverein, war er 1938–1944 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. 32 Schmidts Briefwechsel anläßlich des Todes seiner Tochter. Siehe Carmen Ottner, Quellen I (Anm. 1), S. 4f., sowie Carmen Ottner, Franz Schmidt. Vierte Symphonie. „Ein Requiem für meine Tochter“, in: Österreichische Musikzeitschrift 51 (1996), S. 531–538. 33 Carmen Ottner, Briefe und Kompositionen Franz Schmidts im Privatbesitz, in: Othmar Wessely (Hg.), Studien zur Musikwissenschaft 38, Tutzing 1987, S. 224–226. 34 Dr. Oskar Adler sandte der Witwe Franz Schmidts nach 1945 seine Erinnerungen, die im Archiv der Franz-Schmidt-Gesellschaft verwahrt waren und sich jetzt im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde befinden. Siehe dazu: Carmen Ottner, Quellen zu Leben und Werk der letzten Lebensjahre Franz Schmidts, in: Musik in Wien 1938–1945 (= Studien XV), Wien 2006, S. 99f.

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(1899‒1963) an der 2. Violine und seinem philharmonischen Freund Erwin Dengler, Bratsche.35 Der Komponist schrieb am 9. September 1925 zwei Briefe aus Hartberg (seinem in den 1920er Jahren bevorzugten steirischen Urlaubsort). Einer war an „Fräulein Richter“ gerichtet: Er habe „in diesem Sommer u. a. ein Streichquartett componiert, […] welches ich mir erlaubt habe, meinen lieben Quartettgenossen […] zu widmen“, und er hoffe, „dass Sie mir Ihre bisher bewährte Quartetttreue halten werden und mir beistehen, das Werk an einem noch näher zu bezeichnenden Tag vor geladenen Zuhörern aus der Taufe zu heben.“ Ein ähnliches Schreiben sandte er an Erwin Dengler und bezeichnete das neue Werk als „Liebesgabe meiner Dankbarkeit für die herrlichen Quartettstunden“.36 Vergleichen wir nun die Daten der beiden Briefe und der Uraufführung, kann man staunend feststellen, wie rasch es damals möglich war, eine derartige Veranstaltung im Musikverein zu plazieren ! Der treue Verehrer Franz Schmidts, Max Graf, überlieferte, daß „alle bedeutenden Musiker- und Gelehrtenköpfe Wiens zu sehen waren, etwa fünfhundert Menschen“. Sie „warteten mit jener Spannung auf das neue Streichquartett, mit der man in Wien früher fremde Potentaten erwartet hatte. […] In solchen Momenten ist Wien noch immer die alte Musikstadt.“ Der Rezensent skizzierte die von ihm bewunderte Musikerpersönlichkeit bzw. Schmidts speziellen Personalstil und schilderte den musikalischen Ablauf des Quartetts. Das „Adagio“ fand seine besondere Zustimmung: Es führe „in romantische Dämmerung, in der sich wunderbar zärtlicher Gesang entfaltet und schwebende Pizzicati zu einem Seitensatz überleiten, der zigeunerisch klingt“.37 Alexander Wunderers Kommentar: „Er hatte mir oft gesagt: ein Streichquartett darf man erst schreiben, wenn man alt genug ist, […] und wies dabei auf Brahms und Reger hin. Sein Streichquartett war demnach die Frucht eines reifen Künstlers, der es sich lange überlegt hatte in dieser höchsten und schwersten Gattung […] zu schreiben.“38

35 Christa Richter, einer (alt)österreichischen Musikerfamilie entstammend, studierte in Wien u. a. bei Arnold Rosé, heiratete den (1944 verstorbenen) Geiger Georg Steiner, der in den 1930er Jahren an der Akademie unterrichtete, und erhielt selbst eine Professur am Salzburger „Mozarteum“, wo sie mit ihrem Mann Mitglied des „Mozarteum-Quartetts“ sowie Konzertmeisterin der „Camerata academica“ war. Der „Christa-Richter-Steiner-Preis“ des „Mozarteums“ ist bis heute eine begehrte Auszeichnung. 36 Abschriften kamen aus einem Nachlaß in das Archiv der Franz-Schmidt-Gesellschaft. 37 Der Tag, 2. Oktober 1925. 38 Wunderer, Aufzeichnungen, Blatt 65.

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Die öffentliche Erstaufführung des Quartetts fand nicht – wie man in der Literatur lesen kann – am 14. April 1926 mit dem „Fitzner-Quartett“ im „Kleinen Musikvereinssaal“ (heute Brahmssaal), sondern bereits am 11. März 1926 im Großen Musikvereinssaal durch das „Gottesmann-Quartett“ statt. Das renommierte Ensemble interpretierte auch Erich W. Korngolds Streichquartett A‒Dur, op. 16, und Schuberts „Forellenquintett“. Die autographe Reinschrift Franz Schmidts ist im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde zu finden. Nr. 3 aus „Vier kleine Präludien und Fugen“ Der Komponist widmete diese vier Ende August 1928 vollendeten Werke dem deutschen Organisten Fritz Heitmann, der u. a. bei Max Reger und Karl Straube studierte. Bevor dieser drei Stücke in Berlin uraufführte (siehe oben), stellte Franz Schütz das 1. Stück (Es-Dur) bereits am 25. Mai 1929 im Wiener Konzerthaus vor. Das 3. Stück (G-Dur) wurde durch eine Studentin von Schmidt und Schütz, Susi Hock, am 8. Dezember 1931 im Großen Musikvereinssaal uraufgeführt.39 Es wirkten auch „Kammersängerin Isolde Riehl, Prof. Alexander Wunderer (Oboe)“ mit, die mit Susi Hock Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Hermann Schroeder und Max Reger interpretierten. – Das G-Dur-Werk weist Melodieabschnitte aus Schmidts „Buch mit sieben Siegeln“ auf: „Ein Weib, umkleidet mit der Sonne“. (Das 4. und letzte Stück in D-Dur antizipiert die fulminante „Hallelujah“‒Vertonung vom Ende des Oratoriums.) Die Autographe der vier Werke befinden sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Toccata und Fuge As-Dur Das am 8. August 1935 vollendete Orgelwerk ‒ die letzte solistische Komposition dieser Gattung ‒ entstand während der Vorarbeiten zu „Das Buch mit sieben Siegeln“ und zählt zu den schwierigsten Werken in Schmidts Oeuvre. Ob die „autographe“ Reinschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek wirklich von Schmidts Hand stammt, ist zweifelhaft.40 Am 4. März 1936 erfolg-

39 Susi Hock, „Lady Jeans“, studierte 1925–1931 in Wien, später bei Charles-Marie Widor und Karl Straube. Anläßlich einer Konzertreise nach Großbritannien lernte sie ihren späteren Ehemann, den englischen Astronomen und Mathematiker Sir James Hopwood Jeans kennen, den sie 1935 heiratete. Sie lebte bis zu ihrem Tod (1993) als angesehene Künstlerin, die sich stets für das Oeuvre Schmidts einsetzte, in Großbritannien. Siehe u. a. Carl Nemeth, Franz Schmidt. Ein Meister nach Brahms und Bruckner, Wien. 1957, S. 182f. 40 Siehe Carmen Ottner, Quellen I (Anm. 1), S. 66, sowie Michael Gailit (Anm. 7), S. 78–86.

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te die Uraufführung durch Franz Schütz im Rahmen eines Orchesterkonzerts im Großen Musikvereinssaal. Die Wiener Symphoniker interpretierten danach unter dem Dirigat von Oswald Kabasta die 8. Symphonie Anton Bruckners. Franz Schmidt, der 1890 den Unterricht in der Kompositionsklasse Bruckners inskribiert hatte und dann enttäuscht feststellen mußte, daß der verehrte Meister aus Krankheitsgründen seine Unterrichtstätigkeit beendet hatte, wird wohl über diese Kombination sehr erfreut gewesen sein. Die „Reichspost“, die der Interpretation der „Achten“ nur wenige Zeilen widmete, überschrieb ihre Rezension „Ein neues Werk Franz Schmidts“ und brachte eine sehr ausführliche Darstellung der Komposition: „Die neue ,Tokkata und Fuge für Orgel, As-Dur‘ reiht sich dem bisherigen Schaffen Schmidts auf diesem Gebiete als neuer, ganz hochragender Gipfel des Höhenzuges an, den sein Lebenswerk in der zeitgenössischen Musik Oesterreichs darstellt. […] das neue Orgelwerk Schmidts, das durch Prof. Schütz eine vollendete Wiedergabe erfuhr, [verlangt] von dem Hörer, der über den Reiz der Klangeindrücke hinaus den Aufbau des Stückes verfolgt, starke Konzentration. Denn sein Aufbau ist sehr kompliziert schon dadurch, daß der Komponist Tokkata und Fuge nicht, wie es in der traditionellen Form üblich ist, als zwei für sich bestehende Stücke aneinander reiht, sondern sie ineinander verflicht und zu einem einzigen großen Massiv auftürmt. Damit werden tokkatenmäßige Partien zu wichtigen Episoden im Rahmen der Fuge oder umgekehrt: die Tokkata wird durch die einzelnen Abschnitte der Fuge durchbrochen. Das alles vollzieht sich in kunstvollsten kontrapunktischen Verwebungen, Gegeneinanderstellungen, Kreuzungen, Ueberschneidungen und Umkehrungen der Themen, die zu überblicken intensive Aufmerksamkeit des Hörers verlangen. Reicher Beifall lohnte Werk und Ausführung und er kam von Herzen.“41

Und im „Neuen Wiener Journal“ liest man unter dem Titel „Kabasta, der Bruckner‒Dirigent“, und dem Untertitel „Schmidts Erstaufführung im Gesellschaftskonzert“: „Der Platz [vor Bruckners 8. Symphonie] blieb einem Orgelstück Franz Schmidts vorbehalten, das Franz Schütz, der getreue Schüler und Adept des Komponisten, in einer wohl authentischen Auffassung zur erfolgreichen Uraufführung brachte (wobei es selbstverständlich ist, daß sich der Sinn des Erfolges bei einer Orgelfuge anders manifestiert als nach dem hohen F der viergestrichenen Oktave, gesungen von einer Koloraturdiva). Das neue Werk Schmidts zeigt wieder alle Merkmale seines Personalstils, vor allem: seiner charakteristischen, zu leidenschaftlichem Ausdruck geführten Chromatik.“42

41 Reichspost, 6. März 1936 (A. W.). 42 Neues Wiener Journal, 7. März 1936 (F. D.).

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Uraufführungen von Kompositionen Franz Schmidts ab 1938 Das Buch mit sieben Siegeln Uraufführung: 15. Juni 1938 im Rahmen des „Dritten Gesellschaftskonzerts“. Wiener Symphoniker, Dirigent: Oswald Kabasta, Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, Rudolf Gerlach (Johannes), Josef Manowarda (Stimme des Herrn und Baß-Partie im Quartett) [gegenwärtig wird meist ein anderer Bassist im Quartett eingesetzt], Erika Rokyta (Sopran), Enid Szantho (Alt), Anton Dermota (Tenor), Franz Schütz (Orgel). Der Komponist bezeichnete das Werk, das für die „Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zur Feier des 125jährigen Bestandes“ geschaffen wurde, nicht explizit als „Oratorium“; in der Partitur steht nach dem Titel: „(Aus der Offenbarung des Johannes) für Soli, Chor, Orgel und Orchester.“ Die autographe Partitur ist im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde zu finden. Die Entstehungsgeschichte dokumentiert ein Briefwechsel mit Oswald Kabasta, der uns auch informiert, warum Schmidt länger als geplant, 1935‒1937, an der Partitur gearbeitet hatte: Seine schon früh aufgetretenen Herzprobleme verschlechterten sich zusehends, dazu kamen Probleme mit der Niere, der Leber u. a. m., und er mußte seine Arbeit auch dank einiger Krankenhausaufenthalte immer wieder unterbrechen. Am 25. Februar 1937 konnte Kabasta erleichtert an den Komponistenfreund schreiben: „Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr mich Deine Nachricht von der Vollendung Deines großen Werkes ergriffen hat.“43 Franz Schmidt konnte nicht ahnen, daß die Uraufführung bereits unter dem Regime der Nationalsozialisten stattfinden würde. So gab es eine Voraufführung am 14. Juni, ein „Jugendkonzert“, unter der Schirmherrschaft des „Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten“. Die positive bis hymnische Aussage der Kritiken unterschied sich von denjenigen der Zwanziger- bis Dreißigerjahre nur durch einzelne Bemerkungen, die das gewandelte politische Klima widerspiegeln, bzw. durch ihren manchmal weniger geschliffenen und geistreichen Stil. Für Schmidt bedeutete dies jedoch keine Veränderung in der Zustimmung bzw. dem Erfolg seines Œuvres und der Wertschätzung seiner Persönlichkeit. Einige Rezensenten wurden eben erst engagiert, da bedeutende Kritiker wie z. B. Max Graf, Julius Korngold oder Robert Konta die Heimat verlassen mußten. Das Oratorium wurde einhellig als Meisterwerk anerkannt, die Ausführenden

43 Carmen Ottner, Briefe und Kompositionen (Anm. 33), S. 228–235.

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überschwenglich gelobt. Da „Das Buch“ bis dato regelmäßig vor allem im Musikverein aufgeführt wird und wohl einem großen Publikumskreis gut bekannt ist, soll hier keine Werkbeschreibung erfolgen, sondern mit Hilfe einiger Zitate und Bemerkungen die Stimmung der Uraufführung, bzw. der politische Wandel, angedeutet werden. – Friedrich Matzenauer etwa betonte: „[…] der religiöse Ton, die Innerlichkeit feiern einen edlen Sieg. In zarten pastoralen Partien, in Klage und Furcht, in Schrecken und Vernichtungsschauern, allüberall klingt ein Ton innerlicher Religiosität mit und durch, sanft ergreifend vor allem in seiner ruhigen Heilsgewißheit. […] Eines Meisters Werk und ein Meisterwerk ! […] des Neuen voll, in manchem Zug wahrhaft kühn; weitläufig und doch formvoll, in seinem Bau tief durchdacht, und doch im tiefsten Grunde einfach, gesund – von wie vielen Werken unserer neueren Musik läßt sich das ehrlich behaupten ? Als der hymnische Gesang des Johannes, den Beginn des Werkes […] wiederaufnehmend, erklang und verscholl, wußten es wohl alle in ihrem Herzen, daß sie ein bedeutendes Ereignis der Musik miterlebt haben.“44

Im „Neuen Wiener Journal“ bewunderte man „Schmidts Genie“ hinsichtlich der „einheitlich und eigentümlich wirkenden Tonsprache“, die er aus „stilgeschichtlich verschiedenen Idiomen der Melodik und Harmonik“ vereinte, „eben im Gegensatz zu den vielen konstruktivistischen Traditionsbrechern der jüngsten Vergangenheit“. Der Komponist „dankte still, solcher Begeisterung aus seiner Einsamkeit ausgeliefert, weltabgewandt.“45 – Max von Millenkovich-Morold äußerte sich in der Zeitschrift „Die deutsche Ostmark“ prinzipiell positiv, die folgenden Äußerungen weisen jedoch auf die neuen politischen Verhältnisse: „Die Götterdämmerung aber ist uns vertrauter als die Apokalypse“, deren „biblische Sprache […] uns fremdartig anmutet.“ Da Schmidt die Hörer nach dem strahlenden Hallelujah mit Hilfe eines A-cappella-Männerchores gleichsam in eine Klostergemeinschaft führt, meinte der Rezensent: „Das letzte Wort“ hätte „der Pessimismus“.46 – Und der nationalsozialistische Musikfunktionär und Komponist Friedrich Bayer schrieb: „Wir kannten Franz Schmidt als Vertreter religiöser Kunst (allerdings nur im übertragenen Sinn) bisher bloß in seinen Orgelwerken. [In dem ,Buch‘ hätte er nun] ungeahnte Möglichkeiten des modernen Vokalsatzes, die Schmidt reichlich ausgenützt hat [vorgefunden und wäre] von der überkomplizierten Schreibweise der letzten Schaffensjahre zurückgekehrt zu eingängigerer Art des Musizierens. Fast möchte man von einer der irdischen Atmosphäre entrückten, abgeklärten Musik eines alle Sturm- und Drangzeit überwundenen Meisters sprechen […]. Der anwesende 44 Wiener Neueste Nachrichten, 16. Juni 1938. 45 Neues Wiener Journal, 16. Juni 1938 (Dr. - mid.). 46 Die deutsche Ostmark, Wien 1938, Heft 5, S. 53f.

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Komponist konnte das erhebende Gefühl […] mit sich tragen, die an sich würdige Feier der Gesellschaft durch seine herrliche Musik ganz besonders festlich gestaltet zu haben.“47

Abbildung 2: „Gedächtnis=Konzert für Franz Schmidt“ vom 19. März 1939 mit der Urauffüh­ rung der „Fuga solemnis für Orgel, 6 Trompeten, 6 Hörner, 3 Posaunen, Baßtuba und Pauken“ im großen Saal des Musikvereins. Abendprogramm, Ausschnitte (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

47 Der Völkische Beobachter, 16. Juni 1938.

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Posthume Uraufführungen Fuga solemnis für Orgel, 6 Trompeten, 6 Hörner, 3 Posaunen, Baßtuba und Pauken Uraufführung: 19. März 1939, „Gedächtnis=Konzert für Franz Schmidt[,] Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien[,] Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker“. „Gesellschaft der Musikfreunde in Wien | Wiener Philharmoniker | Staatsakademie für Musik u. darstellende Kunst in Wien“, Dirigent: Oswald Kabasta, Franz Schütz (Orgel). Außerdem am Programm: „Variationen über ein Husarenlied“, 4. Symphonie (Abbildung 2). Schmidt schuf sein letztes Orgelwerk, das er im September 1937 vollendete, ursprünglich für die Einweihung der Rundfunkorgel im Wiener Funkhaus, die aber dank der Ereignisse im März 1938 verschoben wurde. Der damals bereits todkranke Komponist wunderte sich in einem Brief an Franz Schütz: „Davon wusste ich gar nichts, dass das Orgelwerk zur Eröffnung des Funkhauses doch noch steigen soll […]; ich glaubte vielmehr, das neue Funkhaus wäre schon teilweise in Betrieb. [Er ersuchte, eine Kopie anfertigen zu lassen, denn] es ist ja wirklich unheimlich, dass von einem solchen Werk nur ein einziges Exemplar existiert. [Er habe bereits] Gedächtnislücken [und könnte] es nicht noch einmal aufschreiben.“48

Eine feierliche Eröffnung kam jedoch nicht zustande, und so erfolgte die Uraufführung posthum im Rahmen des Gesellschaftskonzerts. Das Autograph befindet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 3. Klavierquintett A-Dur für Paul Wittgenstein „für die linke Hand allein“ Uraufführung: 13. Dezember 1939, erstes Konzert der vier Abonnementkonzerte 1939/40. Die Bläservereinigung der Wiener Philharmoniker im Großen Musikvereinssaal. An diesem Abend wurde allerdings nicht die originale Fassung „für die linke Hand allein“, sondern die zweihändige Bearbeitung von und mit dem Pianisten Friedrich Wührer uraufgeführt. Vollendet hatte Schmidt dieses 3. und letzte Quintett am 30. Juni 1938, daher konnte er es Paul Wittgenstein noch vor dessen Emigration vorspielen bzw. überreichen. Die autographe Partitur befindet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Die drei Quintette erschienen erst jüngst in der originalen Konzeption, sie wurden – so wie die beiden Klavierkonzerte ‒ zuerst in Wührers zweihändiger Fassung gedruckt. Friedrich Wührer studierte in Schmidts Klavierklasse von 1915 bis 1920 und leitete u. a. von 1948‒1952 eine Meisterklasse am Salzburger 48 Ohne Datum; ehemals Archiv der Franz-Schmidt-Gesellschaft, Brief 21, Mappe 2.

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„Mozarteum“. Seine Partner bei der Uraufführung des G-Dur-Quintetts waren philharmonische Kollegen: Leopold Wlach (Klarinette), Fritz Sedlak (Violine), Ernst Moravec (Viola), Richard Krotschak, Violoncello. Weiters standen Werke von Carl Philipp Emanuel Bach, W. A. Mozart und Leoš Janáček („Mladi“) auf dem Programm. In der „Zeitschrift für Musik“ schwärmte Victor Junk: „Von geradezu überirdischer Schönheit und Verklärtheit sind die langsamen Teile: der dem Soloklavier anvertraute 2. Satz (,Intermezzo‘) und das durch Ursprünglichkeit fesselnde Trio des Scherzosatzes, dann vor allem der 4. Satz: das Adagio. Man ist geneigt, diese Schöpfung des verewigten ostmärkischen Komponisten für seine seelisch tiefste zu erklären. Auch das Finale ist von besonderem Reiz, es ist dies ein Variationensatz, auf einem entzückenden Thema von Josef Labor aufgebaut, das in seinem langsamen Teil wieder, wie so oft bei Schmidt, ungarische Rhythmisierung annimmt. Friedrich Wührer war ein idealer Partner auf dem Klavier, sein diskretes Spiel ordnet sich dem Zusammenspiel ein und zeigt doch seine ganze Brillanz und höchst geschmackvollen Vortrag.“49

Paul Wittgenstein interpretierte das 3. Quintett – so wie auch die anderen für ihn konzipierten Werke Schmidts – regelmäßig in der Emigration in den U. S. A., erstmals wahrscheinlich am 18. Juni 1941. Er führte einen erregten Briefwechsel mit der Witwe Margarethe Schmidt hinsichtlich der zweihändigen Fassungen, erreichte aber in der Nachkriegszeit nur, daß in den Konzertprogrammen, Rundfunksendungen u. a. auf die ursprüngliche Konzeption „für die linke Hand allein“ hingewiesen wurde.50 Toccata für Paul Wittgenstein „für die linke Hand allein“ Das Autograph dieses Soloklavierstücks und letzten vollendeten Werkes von Franz Schmidt ist in der Musiksammlung der Wiener Stadtbibliothek verwahrt („Comp. Okt. 1938“) und dem Pianistenfreund in die erste Station des Exils, in die Schweiz, nachgesandt. Die Uraufführung erfolgte am 5. Februar 1940 in einem Franz-Schmidt-Gedächtniskonzert der Gesellschaft, interpretiert in der zweihändigen Fassung durch den Bearbeiter Friedrich Wührer. Er spielte mit den Münchner Philharmonikern unter Oswald Kabasta auch das Es-DurKlavierkonzert (in der zweihändigen Fassung), danach folgte die 2. Symphonie. Franz Schütz komplettierte das Programm mit der „Chaconne“ in der originalen

49 Zeitschrift für Musik 107 (1940), Februar, S. 91. 50 Siehe Georg Predota, „Der größte Komponist der letzten 20 Jahre …“. Franz Schmidt im Spiegel Paul Wittgensteins, in: Carmen Ottner, (Hg.), Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945 (= Studien XVI), Wien 2009, S. 149.

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Carmen Ottner (Wien)

Orgelfassung, und Wührer brachte am Ende des Konzerts als „Draufgabe“ die „Toccata“ zu Gehör. Deutsche Auferstehung Als letzte Uraufführung im „Goldenen Saal“ ist die unvollendet nachgelassene Kantate „Deutsche Auferstehung, ein festliches Lied für Soli, Chor, Orgel und Orchester“ zu nennen, die am 24. April 1940 erfolgte. Oswald Kabasta musizierte mit den Wiener Symphonikern, dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, Franz Schütz an der Orgel und den Sängerinnen und Sängern Margarete Teschenmacher (Sopran), Gertrude Pitzinger (Alt), Dr. Josef Hoffmann (Tenor), Hermann Hans Nissen und Hans Songström (Baß). Der Text stammt von einem ehemaligen Studenten des Komponisten, Dr. Oskar Dietrich, der – so wie Kabasta und Schütz ‒ den neuen Machthabern nur allzu genehm war. Zwei Bände der „Studien zu Franz Schmidt“ bieten Informationen zu diesem unseligen Werk. 2004 veranstaltetet die Franz-Schmidt-Gesellschaft ein Symposion „Musik in Wien 1938‒45“, um u. a. die historischen Fakten der Entstehung dieses Auftragswerks darzustellen, bzw. um durch Analysen zu zeigen, daß es sich absolut um kein „Meisterwerk“ handelt. Hier daher nur einige grundlegende Angaben: Von Schmidts Hand liegen ein Particell von 40 nur recto beschriebenen Seiten, ein unvollständiger Klavierauszug (bis S. 46) sowie eine Reinschrift der Partitur von 67 Seiten vor.51 Schmidts Schüler Robert Wagner52 vollendete die Komposition bis Seite 225. 1938 teilte Schmidt in zwei Briefen an Schütz mit, daß er die „Fuga solemnis“ als Zwischenspiel verwenden werde, da „ein souveräner Orgelpart wie im ,Buch mit sieben Siegeln‘ nicht zu motivieren“ wäre; und er müsse sich „selbstverständlich vorbehalten, bei Nichtausreichen des Kapitals (in meinem Falle Kraft und Gesundheit) den Bau abzubrechen und aufzugeben“.

51 Siehe Reiner Schuhenn, Franz Schmidts oratorische Werke (= Studien VIII), Wien 1990, weiters Carmen Ottner, Quellen I (Anm. 1), S. 45ff., sowie Carmen Ottner (Hg.), Musik in Wien 1938–45 (= Studien XV), Wien 2006. Hier vor allem die Aufsätze von Carmen Ottner, Gerhard J. Winkler und Hartmut Krones. 52 Robert Wagner (1915 Wien – 2008 Münster) studierte an der Wiener Musikakademie Klavier bei Franz Schmidt, Komposition bei Joseph Marx und Dirigieren bei Felix Weingartner sowie an der Universität Musikwissenschaft (1938 Promotion mit der Dissertation „Das musikalische Schaffen von Franz Schmidt“). 1938–1944 war er an den Grazer Städtischen Bühnen tätig, ab 1945 am Salzburger Landestheater sowie am „Mozarteum“ (Leitung der Dirigentenklasse, Opernschule), danach in Münster (GMD 1951–1961), Innsbruck (1961–1965, Tiroler Symphonieorchester) sowie wieder am „Mozarteum“, dessen Präsident er bis 1971 war. 1995 erhielt er die Ehrenmedaille des „Mozarteums“.

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„Was ich der Gesellschaft der Musikfreunde zu danken habe …“ Franz Schmidt

Offenbar hatte man schon ein Aufführungsdatum geplant: „Gegen das Datum habe ich schwerste Bedenken“, er sei doch erst mit den Skizzen fertig, weder ein Klavierauszug noch eine Partitur seien vorhanden.53 Einzelne, charakteristische Sätze aus Rezensionen, die akribisch den musikalischen Verlauf verfolgten, sollen hier im Hinblick auf die damalige Atmosphäre bzw. die Vereinnahmung durch das Regime zitiert werden: Hermann v. Schmeidel: „Todkrank, von den politischen Ereignissen des Umbruchs in der Ostmark fast nur durch den Rundfunk erreicht, fühlte sich der von den Ärzten längst aufgegebene Meister doch noch von dem gewaltigen Geschehen zu einer künstlerischen Tat aufgerufen.“54 – Im „Völkischen Beobachter“ informierte Friedrich Bayer, daß dem „bedeutendsten ostmärkischen Symphoniker […] fünf Wochen nach Vollendung der Skizze […] der Tod die Feder aus der Hand nahm.“ – Roland Tenschert wies darauf hin, daß die Thematik der 1937 vollendeten „Fuga solemnis“„wesentlich bestimmend auf die ganze Komposition […] wie ein roter Faden“ eingesetzt wurde: „Viel Beifall wurde den großartigen Leistungen aller Ausführenden gezollt“. Die Wertschätzung für diese Komposition dürfte sich dennoch in Grenzen gehalten haben, da sie nur einmal aufgeführt wurde. Die Parte von „Hofrat Dr. h. c. Franz Schmidt“ (Abbildung 3) überliefert, daß sein Sarg ‒ vor der Einsegnung in der Pfarrkirche „St. Karl Borr.[omäus]“ und der Überführung in ein Ehrengrab der Stadt Wien am Zentralfriedhof ‒ am „17. Februar 1939 um 15 Uhr im großen Saale der Gesellschaft der Musikfreunde […] aufgebahrt“ wurde. Damit schloß sich der Kreis: die Institution der „Gesellschaft der Musikfreunde“ begleitete Franz Schmidt von den ersten Erfolgen als Musiker und Komponist bis zum Ende seines Lebens.

53 Siehe Carmen Ottner, Quellen I (Anm. 1), S. 19, sowie Carmen Ottner, Dieselbe, Quellen zu Leben und Werk der letzten Lebensjahre (Anm. 34), S. 86–90. 54 Grazer Tagespost, 26. April 1940.

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Carmen Ottner (Wien)

Abbildung 3: Parte von Franz Schmidt (Privatbesitz der Autorin)

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Háry auf der Reise nach Wien

Anna Dalos (Budapest) Háry auf der Reise nach Wien. Die Uraufführung von Kodálys Theater-Ouvertüre in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Der Titel meiner Studie* beruft sich bewußt auf Eduard Mörikes Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“. Die Handlung der Novelle, die auf halbem Weg zwischen Wien und Prag spielt und in der der Komponist und seine Frau einige angenehme Stunden bei einer böhmischen Adelsfamilie verbringen, ist eine Fiktion. Zoltán Kodálys Held, János Háry, macht eine ähnlich fiktive Reise nach Wien, wo er die Hochachtung des Kaisers gewinnt und wo sich sogar die KaiserTochter Marie Luise in ihn verliebt. Die zeitgenössischen Kritiker des Singspiels waren sich darin einig, daß Háry ein Doppelgänger Kodálys ist.1 Trotzdem veranlaßt mich dieser Umstand nicht dazu, zu behaupten, daß die Uraufführung der Theater-Ouvertüre am 29. März 1932 (Abbildung) auch als eine Fiktion angesehen werden kann. In meiner Studie versuche ich hingegen, einerseits die Fragen der Umstände der Uraufführung zu beantworten und andererseits klarzulegen, warum die Rezeption dieses Werkes sowohl in Wien als auch weltweit auf Hindernisse stieß und warum die Ouvertüre nicht Teil des Kodály-Kanons wurde. Zoltán Kodály nahm an der Uraufführung im großen Musikvereinssaal nicht teil. Die Konzert-Version der Ouvertüre wurde zum ersten Mal von den Wiener Symphonikern unter der Leitung von Robert Heger aufgeführt, weil Kodály mit der Ouvertüre, die ursprünglich für das Singspiel „Háry János“ geschrieben wurde, zum Zeitpunkt von dessen Premiere (am 16. Oktober 1926) nicht fertig geworden war; als Vorspiel wurde sie dann gemeinsam mit drei anderen Nummern erst am 10. Jänner 1928 im Budapester Königlichen Opernhaus uraufgeführt.2 Außerdem erklang die Ouvertüre auch bei der „Háry“-Aufführung des *

Ich möchte meinen Dank an Frau Sarolta Kodály aussprechen, die ermöglichte, daß ich die Dokumente der Theater-Ouvertüre im Budapester Kodály-Archiv einsehe. Die Vorbereitung dieser Studie wurde von dem „Lendület“-Programm der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gefördert. 1 Bence Szabolcsi, Háry János, in: Ferenc Bonis (Hg.), Kodályról és Bartókról. Szabolcsi Bence müvei 5 [Über Kodály und Bartók. Schriften von Bence Szabolcsi 5], Budapest 1987, S. 64–70; Sándor [Alexander] Jemnitz, Rendkívüli Filharmóniai hangverseny ‒ Kodály és Honegger zsoltára [Sonderkonzert der Philharmonie ‒ die Psalmen Kodálys und Honeggers], in: Vera Lampert (Hg.), Jemnitz Sándor válogatott zenekritikái [Ausgewählte Musikkritiken von Sándor Jemnitz], Budapest 1973, S. 142–145, hier S. 142. Die Kritik erschien am 5. Februar 1928. 2 Siehe den Bericht von Bence Szabolcsi aus dem Jahre 1928: A Háry János új számai [Die neuesten Nummern von Háry János], in: Bonis (Hg.), Kodályról és Bartókról (Anm. 1), S. 83–85.

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Anna Dalos (Budapest)

Uraufführung der „Singspiel=Ouverture“ von Zoltán Kodály am 29. März 1932. Abendpro­ gramm, Ausschnitte (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 174

Háry auf der Reise nach Wien

Stadttheaters von Köln am 26. September 1931, wurde allerdings – wie aus den Kritiken zu erfahren ist – wesentlich gekürzt.3 Die Ouvertüre schließt mit dem Volkslied „Sej, Nagyabonyban“, das später, am Ende des Singspiels, als Apotheose funktioniert. Kodály schrieb aber für die Konzert-Uraufführung ein neues Ende, das thematisch mit der Ouvertüre in Verbindung steht und gleichzeitig – nach Weglassen des Volksliedes – als eindeutiger Abschluß dient. Diese Version – die Kodály nach Daten des Haushaltungsbuches seiner Frau Emma am 4. Dezember 1931 beendete4 – wurde 1932 bei Universal-Edition veröffentlicht.5 Aus einem Brief Kodálys an den Verlag, datiert mit dem 29. Februar 1932, wissen wir, daß er das druckfertige Manuskript Anfang Dezember 1931 an den Verlag schickte; die Redaktion reagierte aber auf diese Sendung nicht.6 Trotzdem baten sie Kodály in einem Brief vom 21. März um Erlaubnis, die Partitur an einigen Stellen verkürzen zu dürfen.7 Die ungarischen Kodály-Forscher waren unsicher, ob die Wiener Uraufführung überhaupt stattfand,8 da Kodály diesen Brief erst am 25. April, also fast einen Monat nach dem Zeitpunkt des Konzertes, beantwortete. Immerhin gab er seine Einwilligung, die Partitur zu kürzen: Bezügl.[ich] der Háry-Ouvertüre macht mir erst die zufällige Ankunft Prof.[essor] Hegers hier die Antwort auf Ihre w.[erten] Zeilen vom 21sten möglich. Ich entnehme seinen Worten dass er nur eine ad. lib.[itum]-Kürzung die mit vi = = de angezeigt werden soll, vorschlägt. Da willige ich natürl.[ich] ohne weiteres ein, und das hat ja auf die Herstellungsarbeiten keinen weiteren Einfluss.9

Der Brief macht deutlich, daß es Robert Heger war, der den Komponisten über den Vorschlag des Verlages informierte. Die zwei Musiker konnten die Sache persönlich besprochen haben, als Heger an der Budapester Musikakademie am 23. April 1932 Händels „Messias“ dirigierte.10 Die scheinbar verspätete Antwort

3 4 5 6

János Breuer, Kodály-kalauz [Kodály-Handbuch], Budapest 1982, S. 152. Referenznummer im Kodály-Archiv: H.N. 0931.240. Zoltán Kodály, Theater-Ouvertüre, Wien 1932. Dezső Legánÿ / Dénes Legánÿ (Hg.), Zoltán Kodály Letters in English, French, German, Italian, Latin, Budapest (Argumentum‒Kodály Archívum) 2002, S. 191. 7 Ebenda, S. 194. 8 János Breuer (Anm. 3) sah das Konzert als unsicher an (S. 153), da László Eősze das Konzert gar nicht erwähnt: Kodály Zoltán életének krónikája [Die Chronik des Lebens von Zoltán Kodály], Budapest 1977. 9 Legánÿ / Legánÿ (Anm. 6), S. 194. 10 Siehe dazu die Datenbank „Konzertkatalog der Konzerte in Budapest“: http://db.zti.hu/koncert/koncert_Kereses.asp (Archiv für ungarische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Institut für Musikwissenschaft, Zentrum für Geisteswissenschaften, Ungarische Akademie der Wissenschaften).

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Kodálys macht klar, daß der Kürzungsvorschlag nicht nur die stattgefundene Aufführung betraf: Möglicherweise brachten gerade Hegers Erfahrungen mit dem Werk den Verlag dazu, den Vorschlag mit der ad-libitum-Kürzung der Ouvertüre zu machen. Die erste Ausgabe von 1932 sowie die zweite Ausgabe aus dem Jahre 195211 bewahren jedoch keine Spuren dieses Vorschlags. Wie János Breuer bewies, neigte Kodály selbst dazu, seine Werke nach den ersten Hörerfahrungen, manchmal sogar nach der Uraufführung, zu modifizieren.12 Er dürfte aber die neue Version der Theater-Ouvertüre erst am 11. Dezember 1932 in Budapest gehört haben.13 Der Verlag bat durch Vermittlung Hegers den Komponisten auch darum, seinem Werk einen neuen Titel zu geben. Der Vorschlag „Singspiel-Ouvertüre“ gefiel selbst dem Dirigenten nicht, da man dadurch – wie Kodály formulierte – „etwas Bestimmtes erwartet, was sich mit dem Inhalt des vorl.[iegenden] Werkes nicht deckt.“14 Schließlich entschied sich Kodály für den Titel „Theater-Ouvertüre“, da er, wie er meinte, ein „internationales Wort“ ist. Das Werk wurde im großen Musikvereinsaal noch mit dem Titel „Ouvertüre zum János Háry“ uraufgeführt.15 Robert Heger machte sich auch Sorgen, daß das Publikum meinen könnte, die Ouvertüre sei zur „Háry-János-Suite“ geschrieben worden.16 Vermutlich hatte der durchschnittliche Konzertbesucher keine Kenntnis davon, daß die populäre Suite von 1927 aus einem Singspiel zusammengestellt wurde. Zweifelsohne gehörte die Suite neben den 1929 orchestrierten „­Marosszéker Tänzen“ zu den weltweit bekanntesten Werken Kodálys. Nach Angaben in der Zeitschrift „Anbruch“ wurden die „Marosszéker Tänze“ 1932 in den Großstädten der Welt zehnmal gespielt, die „Háry-Suite“ sechsmal.17 Selbst die Wiener Symphoniker, die die Uraufführung der Theater-Ouvertüre absolvierten, spielten die „­Marosszéker Tänze“ zweimal in jenem Jahr: zum ersten Mal unter der Leitung von Hermann Abendroth, zum zweiten Mal von Herbert Winkler dirigiert.18

11 Zoltán Kodály, Theater-Ouvertüre, Wien (Universal-Edition) 1952. 12 János Breuer, Kodály korrekciói kiadott műveiben [Kodálys Korrekturen in seinen veröffentlichten Werken], in: ders., Kodály és kora [Kodály und seine Zeit], Kecskemét (Kodály Intézet) 2002, S. 30–45. 13 Siehe dazu die Datenbank (Anm. 10). 14 Legánÿ / Legánÿ (Anm. 6), S. 194. 15 Siehe die Datenbank der Wiener Symphoniker: http://www.wienersymphoniker.at/archiv/konzert/ pid/000000e9h58h00011d50. 16 Legánÿ / Legánÿ (Anm. 6), S. 194. 17 Anbruch. Monatsschrift für moderne Musik XIV. Jg., Heft IX/X (Dezember 1932), S. 222. 18 Datenbank der Wiener Symphoniker (Anm. 15).

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Háry auf der Reise nach Wien

Die Aufführung und die Propagierung der Theater-Ouvertüre als selbständiges Werk soll jedoch auch andere Hintergründe gehabt haben. Kodály feierte 1932 seinen 50. Geburtstag. Die Universal-Edition, mit der Kodály zwölf Jahre früher durch Béla Bartóks Vermittlung einen Vertrag eingegangen war,19 setzte sich vor dem Ereignis für die Popularisierung von Kodálys Werken und Persönlichkeit ein. Kodálys Jugendfreund, der Musiktheoretiker und Pianist Rudolf Réti, würdigte ihn im „Anbruch“.20 Es scheint, daß die Universal-Edition die internationale Reputation Kodálys beträchtlich fördern wollte, was dadurch ermöglicht wurde, daß dem Verlag genug repräsentative Orchesterwerke von Kodály zur Verfügung standen. Als Kodály am 26. August 1920 den Vertrag mit der Universal-Edition unterzeichnete, einigten sich die beiden Parteien darin, daß zehn Kompositionen veröffentlicht werden, die der Ernte der ersten Schaffensperiode Kodálys entsprechen und alle Kammer- und Klavierwerke sowie Lieder auf Gedichte von ungarischen Dichtern umfassen.21 Das heißt, der Verlag konnte im Hinblick auf Kodálys Œuvre nur mit einem relativ beschränkten Markt rechnen. Der große Erfolg des 1923 geschriebenen „Psalmus Hungaricus“ änderte dann die Situation. Dessen internationaler Ruhm erfolgte als Ergebnis der Zürcher Aufführung im Rahmen des IGNM-Festivals im Jahre 1926,22 nach der viele Dirigenten, darunter Toscanini, Mengelberg und Abendroth das Werk in ihr Repertoire aufnahmen.23 Die erste Aufführung des „Psalmus Hungaricus“ im Wiener Musikvereinsaal am 6. November 1927 wurde in einem Arbeiter-Sinfonie-Konzert von Anton Webern dirigiert.24 Zu Recht erwarteten die Dirigenten neue Orchesterwerke von Kodály. Damals hatte er aber noch keine Kompositionen dieser Art verfaßt. Nur der internationale Erfolg sowie der vermeintliche Druck der Universal-Edition bewegten ihn dazu, Werke für Orchester zu schreiben. Das erklärt, warum alle seine ersten Orchesterwerke Bearbeitungen sind. Zwischen 1927 und 1933 stellte er sechs 19 Rudolf Klein, Kodály és az Universal Edition [Kodály und die Universal-Edition], in: Ferenc Bónis (Hg.), Magyar zenetörténeti tanulmányok Kodály Zoltán emlékére [Studien zur ungarischen Musikgeschichte in Erinnerung an Zoltán Kodály], Budapest 1977, S. 136–150, hier S. 137. 20 Rudolf Réti, Gruß an Kodály, in: Anbruch, Dezember 1932 (Anm. 17), S. 189f. Nach Rétis Gruß folgt hier Aladár Tóths Artikel „Zoltán Kodály“ (S. 191–194).  21 Rudolf Klein (Anm. 19), S. 137. 22 László Eősze (Anm. 8), S. 110f. 23 János Breuer, Kodály-kalauz (Anm. 3), S. 123. 24 Über Kodálys Beziehung zu Wien siehe János Breuer, Zoltán Kodály und Wien, in: Österreichische Musikzeitschrift 27/11 (November 1972), S. 581–587.

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Orchesterwerke zusammen, drei davon waren dem Singspiel „Háry János“ entnommen: Neben der „Háry-Suite“, die ihrer Gattung nach ursprünglich aus Promotionsgründen erstellt wurde – wie Bartóks Suite aus dem „Wunderbaren Mandarin“ oder dem „Holzgeschnitzten Prinzen“ sowie Alban Bergs „Lulu-Suite“ –, hob Kodály aus dem Singspiel den Drachentanz als „Ballettmusik“ und die Ouvertüre heraus.25 Die Reihe „Marosszéker Tänze“ wurde ursprünglich als Klavierwerk konzipiert; Kodály war erst 1929 bereit, seine Komposition zu orchestrieren. Damals bearbeitete er auf die Bitte Arturo Toscaninis hin seine 1906 geschriebene Diplomarbeit, das Orchesterwerk „Sommernacht“.26 Die 1933 geschriebenen „Tänze aus Galanta“ stellten das erste selbständige Orchesterwerk Kodálys dar. Die Universal-Edition hatte lange mit den Uraufführungsdaten manipuliert, weil der Verlag Kodálys internationalen Erfolg bedeutender erscheinen lassen wollte. Die „Háry-Suite“ wurde zum Beispiel von dem „Pau [Pablo] Casals Orchester“ unter der Leitung von Antal Fleischer am 24. März 1927 in Barcelona erstaufgeführt, der Verlag propagierte jedoch die Aufführung der New Yorker Philharmoniker unter der Leitung von Willem Mengelberg als Uraufführung (15. Dezember 1927).27 Dasselbe geschah mit den von Fritz Busch und der Staatskapelle Dresden am 28. November 1930 uraufgeführten „Marosszéker Tänzen“. Die Universal Edition inserierte die Erstaufführung, als ob sie mit den New Yorker Philharmonikern unter Arturo Toscanini stattgefunden hätte.28 Hermann Scherchen meinte, er habe die Erstaufführung der Theater-Ouvertüre in Winterthur dirigiert.29 Es ist evident, daß Kodály seinen eigenen Orchesterstil erst nach dem Erfolg des „Psalmus Hungaricus“ herausbilden wollte. Die Theater-Ouvertüre, die Bence Szabolcsi 1928 als „das bedeutendste symphonische Werk Kodálys“ und das „größte der monumentalen Hauptwerke der neuen ungarischen Musik“ apostrophierte und in der er die „Verkörperung von Kodálys grandioser nationaler Erneuerung“ sah,30 war eigentlich ein Experiment. Die experimentale Attitüde

25 Die Ballettmusik wurde aus dem Drachentanz entwickelt. Breuer, Kodály-kalauz (Anm. 3), S. 150f. 26 Siehe dazu das Vorwort der Partitur: Zoltán Kodály, Nyári este [Sommernacht], in: ders., Visszatekintés. Összegyűjtött írások, beszédek, nyilatkozatok II [Rückblick. Gesammelte Schriften, Reden, Aussagen II], hrsg. von Ferenc Bónis, Budapest 1974, S. 486. 27 Breuer, Kodály-kalauz (Anm. 3), S. 145. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 153. 30 Bence Szabolcsi, A Háry János új számai (Anm. 2), S. 84.

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dürfte der Grund dafür sein, warum die meisten Rezensenten des Werkes weniger begeistert waren als Szabolcsi. Der zum Kreis von Arnold Schönberg gehörende Alexander Jemnitz schrieb in seiner Kritik: „Ich berichte nicht gern über diese Ouvertüre […]. Diese Ouvertüre ist tatsächlich eine schwache Komposition. […] Das Werk, das zu ausgedehnt ist, setzt sich aus ganz und gar fremden Ideen zusammen, die aneinandergereiht sind, und obgleich die Reprise das Ganze als Sonatenform abrundet, gleicht der Satz einem Potpourri. Auch die klassizisierend strenge Wiederholung wirkt nicht überzeugend, sondern eher oberflächlich.“31

Selbst Hermann Scherchen beklagte sich wegen Kodálys Ouvertüre in einem Brief an seine spätere Frau: „Dabei ist mir auch noch das Pech gekommen, dass Kodálys neues Stück, das ich uraufführe, schlecht ist. Wenigstens ist es in keiner Weise der Háry-János-Suite selbst, zu der sie eine später hinzukomponierte Ouvertüre darstellt, ebenwertig.“32

Die Umqualifizierung des Háry-Vorspiels zur Theater-Ouvertüre war dadurch möglich, daß zwischen der Ouvertüre und dem Singspiel nur eine geringe thematische Verbindung besteht. Die Ouvertüre faßt nur die poetische Botschaft des Singspiels zusammen. Wie Jemnitz darauf hinwies, ist die Ouvertüre in Sonatenform geschrieben, nur die Themen stehen – im Gegensatz zu Jemnitzs Behauptung – in enger Beziehung zueinander (Tabelle 1). Haupt- und Seitenthema vertreten zwei verschiedene Formen desselben ungarischen, auf einer Quinte aufgebauten Themas. Das Hauptthema ist männlich-heroisch, das Seitenthema dagegen weiblich-lyrisch. Den Heroismus des Hauptthemas beweist eine von Kodály sonst nicht verwendete Vortragsanweisung: „eroico ma cantabile“.33 Das Verbunkos-Motiv der Schlußgruppe entfaltet sich aus den Skalen des Seitenthemas. Die Ouvertüre steht keineswegs in strenger Sonatenform, wie Alexander Jemnitz meinte: Es fehlt in ihr das sogenannte „double return“, das heißt: nur das Hauptthema kehrt in der Reprise zurück, die Tonart nicht. Kodály arbeitet mit einem bestimmten Tonart-Plan: Er beginnt das Werk in a-Moll, der Grundtonalität des „Psalmus Hungaricus“. Die Thematik weist hier außerdem auf den tragischen ungarischen Ton der orchestralen Einleitung des Psalmus hin. Kodály bleibt dennoch nicht bei diesem Ton: Das lyrische Seitenthema steht in fis-Moll, was später auch die Tonart der Durchführung wird, weil die Schlußgruppe nach 31 Sándor Jemnitz: Operaház [Opernhaus.], in: Lampert (Anm. 1), S. 123f. 32 Hermann Scherchen, …alles hörbar machen. Briefe eines Dirigenten. 1920–1939, hrsg. von Eberhardt Klemm, Berlin 1976, S. 172. 33 Zwei nach Ziffer 12 (Takt 249).

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G-Dur ausweicht. Die Reprise läßt den Modulationsvorgang genau umgekehrt erklingen: Nach dem e-Moll-Beginn des Hauptthemas ertönt das Seitenthema in des-Moll, später in cis-Moll, die Schlußgruppe steht in B-Dur. Die Schlußkadenz wird – dem Modell der Exposition entsprechend – um eine kleine Sekunde tiefer nach A-Dur verlegt. Die Tonart kehrt nicht in das tragische ungarische a-Moll des Anfangs zurück. Exposition

Durchführung

Reprise

Coda

1–101 Hauptsatz

102–239 Thema/1 Takt 114 Thema/2 Takt 182

240–341 Hauptsatz

341–420 Thema/1 Takt 341 A-Dur Thema/2 Takt 369 cis-Moll Hauptsatz 385–420 A-Dur

1–32 a-Moll

240–272 Tonalität ­unbestimmt

Seitensatz Seitensatz 33–86 fis-Moll Schlußgruppe 87–101 G-Dur → Fis-Dur

275–318 Des-Dur, ­cis-Moll Schlußgruppe 319–341 B-Dur → A-Dur

Tabelle 1: Die Form der Theater-Ouvertüre

Eine weitere Eigentümlichkeit der Kodályschen Sonatenform ist die lange Coda, die nach Beethovenschen Modellen die Durchführung zitiert. Beide Formteile sind auf der Wechselfolge von zwei Verbunkos-Themen aufgebaut. Das erste Thema ist mit einem Thema der „Tänze aus Galanta“ verwandt,34 das zweite ruft Erinnerungen an Militärmusik wach. Kodály verwendet hier Schlaginstrumente, Klavier und Flöten, Piccolos. Zu einer ähnlichen Lösung findet Kodály im Finale der „Marosszéker Tänze“, in dem eine Jahrmarktszene mit Militärkapelle 34 Theater-Ouvertüre: ab Takt 114; Tänze aus Galanta: ab Takt 303.

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stattfindet; die Hörner spielen ein volkstümliches Kunstlied. In der Ouvertüre übernehmen die Trompeten die Rolle der Hörner.35 Kodály arbeitet hier mit einem Kunstgriff, der ihm ermöglicht, durch das Aneinanderfügen musikalischer Schichten eine Collage zustandezubringen. Er wandte dieses Verfahren auch später mit Vorliebe an; Beispiele hiefür finden wir in den „Pfau-Variationen“, im Concerto und in der Symphonie. Den Ausgangspunkt der Collage-Technik bildet selbstverständlich das kontrapunktische Denken, das vor allem in der Durchführung vorhanden ist. Die kontrapunktischen Bewegungen schließen sich hier – wie auch später im Concerto und in der Symphonie36 – zum Orgelpunkt zusammen. Die Durchführung führt zum Höhepunkt der Komposition: Der gebundene Kontrapunkt mündet in eine Flöten-Improvisation. Kodály verband mit diesem improvisatorischen Ton seit dem 1905 geschriebenen Adagio das Bild des betrübten Magyars. Überdies ist diese Flöten-Improvisation das einzige Zitat aus dem Singspiel: Die Improvisation erklingt am Ende des Liedes „Tiszán innen, Dunán túl“, was später zum dritten Satz der „János-HárySuite“ wurde. Der Verbunkos-Ton, der zum ersten Mal in der Schlußgruppe erscheint und in der Durchführung dann dominant wird, stellt später in den zwei Tanzreihen sowie im berühmten Intermezzo des Háry-Singspiels eine markante Eigentümlichkeit dar. Deutlich sichtbar benutzt die Theater-Ouvertüre nur ungarische Themen, obwohl in ihr keine authentische Volksmusik vorhanden ist. Die punktierten Noten, die typischen Instrumentalformeln, die zu Pentatonik neigenden Melodien weisen auf einen modernen ungarischen Stil hin. Bence Szabolcsi übertrieb zwar, wenn er die geheime Botschaft der Ouvertüre mit dem Ungartum verknüpfte, er irrte sich jedoch nicht. Die in der Ouvertüre erscheinenden charakteristischen Ideen – die zentralen Begriffe des Kodályschen Œuvres, die auch seine späteren Orchesterwerke kennzeichnen – treten hier in einer ersten Formulierung auf: das Mann-Frau-Verhältnis in der Form von thematisch verwandten Haupt- und Seitenthemen, das Vaterland mit Hilfe von betont ungarischer Thematik, die Tragödie des ersten Weltkrieges in der Form von Militärmusik sowie das nationale Leid, charakterisiert durch instrumentale Improvisation, treten als Hauptgedanken in allen seinen späteren, reiferen Orchesterkompositionen auf.

35 Theater-Ouvertüre: ab Takt 18, Marosszéker Tänze: Takte 319–327. 36 Theater-Ouvertüre: Takte 132–185 ‒ Orgelpunkt F, Takte 185–210 – Orgelpunkt B; Concerto: Takte 347–350 ‒ Orgelpunkt G, Takte 351–361 ‒ Orgelpunkt Fis; Symphonie, 3. Satz: Takte 411–425 ‒ Orgelpunkt A, Takte 426–435 ‒ Orgelpunkt G.

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Zweifellos fassen die späteren Werke – wie die zwei Tanzreihen, die Pfau-Variationen und das Concerto – die Kodályschen Gedanken wirksamer zusammen als die Ouvertüre, die im Vergleich zu ihnen nur ein Experiment ist. Noch dazu war die Wiener Uraufführung verspätet, da die reifen Werke von 1932 bereits bekannt und erfolgreich geworden waren. Das kann der Grund dafür sein, warum das Werk in Konzerten fast nie ertönt und auch in den János-HáryAufführungen weggelassen wird. Trotzdem kann die Theater-Ouvertüre als ein Schlüsselwerk von Kodálys Œuvre angesehen werden, in der Kodály zum ersten Mal versuchte, einige Gedanken über sein Leben und sein Land in der Sprache des Orchesters zu erzählen. Abschließend sei die im Abendprogramm der Uraufführung (S. 174) abgedruckte, leider ungezeichnete Charakterisierung des Werkes mitgeteilt: Zoltán Kodály: Singspiel=Ouverture Das Märchenspiel: „Háry János“ schildert die Abenteuer dieses ungarischen Münchhausen auf seiner Reise von Groß=Abony bis zur Wiener Hofburg. Dieses Singspiel, welches durch ein kurzes Stück mit der Überschrift: „Das Märchen beginnt“ eingeleitet wird, fand seine erfolgreiche Erstaufführung in Köln am 26. September 1931. Nunmehr hat Kodály in allerletzter Zeit eine Ouverture gleichen Namens geschrieben, welche wohl, wenn man nach ihrer breiteren Ausführung Schlüsse ziehen darf, nicht als Einleitung zum Bühnenwerk gedacht ist, sondern als selbständige Konzertouverture angesehen werden muß, die ihr thematisches Material dem größeren Werke entlehnt. Unter flimmernder Tremolobegleitung der hohen Streicher setzen im dritten Takte des Allegro molto Fagotte, Hörner, Celli und Bässe mit einem rassigen, marcatissimo vorgetragenen und langatmigen, synkopierten Thema ein, das die Ouverture beherrscht. Andere Instrumente gesellen sich hinzu. Absteigende Figuren führen ins Pianissimo, aus welchem sich wiederholt das Thema solistisch, hauptsächlich in den Blasinstrumenten, hervorhebt. Plötzlich eine Halt gebietende Generalpause. Dieser folgen, von einer zweiten solchen abgeschlossen, vier Takte, die das zweite Thema der Ouverture bringen. Es entstammt dem 21. Stück des Bühnenwerkes, dem Liede: „Mich ärgert der Raufbold so“. Man könnte fast von einer fugenartigen Durchführung dieses zweiten Themas sprechen, da sich nacheinander viele Stimmen an seiner Verarbeitung beteiligen. Auch die Dazwischenkunft eines markigen, vom zweiten Takte an punktierten Motives, welches ebenfalls dem oben erwähnten Liede entnommen ist, unterbricht nur zeitweise diese Durchführung.; bald erklingt es wieder, dieses Mal in Engführung, bis es dem Wiedereintritte des Hauptthemas weichen muß. Hiemit beginnt die stark modifizierte Reprise; von einer solchen kann man insoferne sprechen, als von hier ab kein neues Thema mehr auftritt, sondern nur bereits Bekanntes verarbeitet wird. Instrumentation, Harmonik und Koloristik sind aber ganz unabhängig vom ersten Teile geschaffen. Gegen Schluß des Werkes läßt der Komponist das zweite Thema als Kontrapunkt zum ersten, synkopierten, treten und vereinigt so die beiden wichtigsten, am Aufbau der Ouverture beteiligten Faktoren zu intensiver, wirksamer Schlußsteigerung. 182

Egon Wellesz und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Hannes Heher (Wien) „[…] in Würdigung seines Schaffens […] zum Ehrenmitglied zu ernennen […]“ Egon Wellesz und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Spontaner Szenenapplaus bei einer Uraufführung einer zeitgenössischen Komposition kommt bekanntlich selten vor, bei der späten Premiere der 3. Symphonie von Egon Wellesz am 29. April des Jahres 2000 hatte sich das Publikum jedoch zu einem solchen hinreißen lassen. Die Begeisterung entzündete sich konkret am äußerst virtuosen Scherzo-Satz des Werkes, und der Dirigent Marcello Viotti beugte sich diesem Bedürfnis gerne; die Wiener Symphoniker begannen daher den letzten Satz des Werkes ein wenig verspätet. Auch die Presse zeigte sich einheitlich voll des Lobes über dieses so lange vergessene Werk – das Konzert, das einen Tag später wiederholt und zusätzlich noch im Rundfunk ausgestrahlt wurde, kann daher unzweifelhaft als ein Höhepunkt in der Beziehung zwischen dem Komponisten Egon Wellesz und der Gesellschaft der Musikfreunde gesehen werden. Zwei bestimmende Faktoren müssen in diesem Zusammenhang besonders erwähnt werden: zum einen die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft an Egon Wellesz im Jahre 1973, also noch zu seinen Lebzeiten, zum andern die ziemlich genau 25 Jahre später erfolgte Gründung des durch Charles Kessler, den Schwiegersohn des Komponisten, initiierten „Egon-Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde“. Letzterer war es auch, der die eben erwähnte Uraufführung erst ermöglichte, getreu seinen Intentionen, „die Förderung der Verbreitung und des Verständnisses der Werke Egon Wellesz’ sowie der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Leben und Schaffen dieses Komponisten“, aber auch die „Aufbereitung des wissenschaftlichen Schaffens“1 zu propagieren. Durch das Engagement des Fonds, dem Vertreter der Gesellschaft der Musikfreunde, Leiter nationaler und internationaler wissenschaftlicher Institutionen, Persönlichkeiten aus Österreichs Medien, Politik, Kirche und Wissenschaft sowie Delegierte der beiden Wiener Verlage von Wellesz angehören, konnten in weiterer Folge sogar ein Großteil der mehr als 20 Kompositionen, die nach dem Tode des Komponisten noch unaufgeführt waren, erfolgreich zum Erklingen

1 Statuten des Egon-Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde, zit. nach: http://egonwellesz. at/verein_information.htm (25. 7. 2017).

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gebracht werden. Ein Teil dieser durchwegs bemerkenswerten Uraufführungen fand dann auch im Musikverein statt, wofür der Gesellschaft der Musikfreunde besonders zu danken ist. Vor den entsprechenden Details dazu soll jedoch der Lebensweg von Egon Wellesz im Überblick vorgestellt werden, wobei nur der Komponist Erwähnung findet, denn er selbst sah sich in erster Linie als Künstler, die Wissenschaft war für ihn immer zweitrangig.2 „Eulen nach Athen tragen“ bedeutet ein solches Vorgehen keineswegs, im Gegenteil, zählt Wellesz trotz der vielen Erfolge der letzten Jahre doch noch immer zu den „vergessensten“ bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts. Am 21. Oktober des Jahres 1885 wurde Egon Wellesz in Wien als einziges Kind einer aus dem ungarischen Teil der Donaumonarchie zugezogenen und in Wien zu Wohlstand gekommenen Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater Samuel (Samú, 1850–1926) war im Bereich der Schuherzeugung tätig, die Mutter Helene (Ilona, 1857–1925), geb. Lövenyi (Löwensohn), entstammte einer musikalischen Familie und war wie damals üblich allein für die Führung des großbürgerlichen Haushaltes zuständig. Bereits früh erhielt der Sohn Klavierunterricht von der Mutter, seit 1892 auch von deren Klavierlehrer, dem Pianisten und Komponisten Carl Frühling, der den Jungen zusätzlich noch in Musiktheorie unterwies. Zwei Auftritte Gustav Mahlers als Dirigent in Hofoper und Musikverein beeindruckten den 14jährigen so sehr, daß er ab diesem Zeitpunkt beschloß, Komponist zu werden !3 Nach der Reifeprüfung und einem einsemestrigen Intermezzo als Hörer an der juridischen Fakultät der Universität Wien wechselte er folgerichtig zur Musikwissenschaft (bei Guido Adler) und wurde daneben ab Oktober 1905 einer der ersten Privatschüler Arnold Schönbergs. Bei ihm blieb Wellesz aber nicht viel mehr als ein Jahr, die Gründe dafür sind heute schwer nachzuvollziehen, Wellesz selbst äußerte sich außer in einem einzigen erhaltenen, mehr als sechs Jahre später verfaßten Brief an Schönberg (zu ihm siehe weiter unten) nicht explizit, und Robert Schollum, der erste Biograph des Komponisten, widmete diesem Thema bloß folgende lapidare Zeilen: „In diesem Zwiespalt ging Wellesz zu Bruno Walter und zeigte ihm den Anfang einer kleinen Oper, ,Der Musenkrieg‘, nach Otto Julius Bierbaum. Walter fand dramati-

2 Diesen Hinweis verdanke ich Egon Wellesz’ jüngerer Tochter Elisabeth Kessler-Wellesz (1912–1995). 3 Egon und Emmy Wellesz, Egon Wellesz. Leben und Werk, hrsg. von Franz Endler, Wien–Hamburg 1981, S. 21 und 31, sowie Robert Schollum, egon wellesz (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts, Band 2), Wien 1963, S. 8–10.

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sches Talent und empfahl Wellesz, zunächst allein weiterzuarbeiten, um sich selbst zu finden. Dabei blieb es für immer […].“4

Aufschlußreich ist, daß für diese wegweisende Entscheidung Bruno Walter also zumindest mitverantwortlich war, der enge Mahler-Freund, neben seinen immer wichtiger werdenden Dirigierverpflichtungen damals auch noch als Komponist tätig. Inwiefern Walter für Wellesz als Lehrer weitergehende Bedeutung hatte, kann nur vermutet werden; erstaunlich ist jedoch, daß er noch 1936, also Jahrzehnte später, im Programmheft zur englischen Erstaufführung von Wellesz’ Klavierkonzert, op. 49, neben Schönberg und Guido Adler definitiv als ein solcher genannt wurde: „Egon Wellesz, composer and musicologist, studied under Schönberg, Bruno Walter [!], and also under the famous musical scholar and historian Guido Adler.“5 Den Kontakt zu Walter stellte wohl der von Wellesz besonders verehrte Gustav Mahler her, zu dem sogar ein engeres freundschaftliches Verhältnis bestanden haben muß, wie neben anderer privater Korrespondenz das im Fonds Wellesz erhaltene Glückwunschtelegramm Mahlers zur Hochzeit des jungen Kollegen zeigt.6 Wellesz galt nichtsdestotrotz auch nach seiner vorzeitigen Beendigung des Unterrichts als Schönberg-Schüler. Das belegt beispielsweise die Einladung, einen Beitrag in der bekannten, 1912 erschienenen Schönberg-Festschrift zu verfassen: Im Abschnitt „Der Lehrer (Sämtliche Beiträge von seinen Schülern)“ steht er nach Karl Linke an zweiter Stelle, noch vor Robert Neumann, Erwin Stein, Heinrich Jalowetz, Karl Horwitz, Anton von Webern, Paul Königer und Alban Berg. Und der schon kurz angesprochene Brief an den ehemaligen Lehrer, zwar undatiert, aber durch den Inhalt eindeutig im Jahr 1913 einzuordnen, beweist schlüssig, daß Wellesz in gleicher Weise dachte: „Sie wissen ja, daß ich mich früher immer abseits gehalten habe, weil ich eben um diese Zeit in großen inneren Konflikten war, die sich erst ausarbeiten mussten. Dann fühlte ich um diese Zeit die Gefahr für mich in meiner Komposition in eine zu große Abhängigkeit von Ihnen zu geraten [sic!]. So musste ich mir selbst von Anfang an aufs Neue meinen Weg suchen und hoffe jetzt[,] denjenigen Ausdruck im Schreiben gefunden zu haben[,] der mir adaequat ist. Wenn ich aber nur ein Jahr bei Ihnen

4 5 6

Schollum, egon wellesz (Anm. 3), S. 12. The BBC Orchestra [programme notes, 25. May 1936, national, 10.15 pm], Radio Times, 51 (22. May 1936), S. 26, zit. nach: Jennifer Doctor, The BBC and Ultra-Modern Music, 1922–1936. Shaping a Nation’s Tastes, Cambridge 1999, S. 26. ÖNB/Musiksammlung, F13 Wellesz 2216.

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gelernt habe, so bin ich doch Ihr Schüler, weil ich doch durch Sie die Methode musikalisch zu denken gelernt habe.“7

Vor 1938 gehörte Egon Wellesz zu den wichtigsten Komponistenpersönlichkeiten der damals Neuen Musik; lebenslange Freundschaften verbanden ihn mit bedeutenden in- und ausländischen Kollegen, wie z. B. Béla Bartók (durch dessen Vermittlung er 1912 seinen ersten Verlagsvertrag bei Rózsavölgyi bekam), Arthur Honegger, Ferruccio Busoni, Paul Hindemith, Darius Milhaud und natürlich mit Alban Berg und Anton Webern; letzterer richtete ihm in seiner Eigenschaft als Präsident der Österreichischen Sektion der IGNM im Oktober 1935 sogar ein Konzert zum 50. Geburtstag aus. Wellesz hatte darüber hinaus zeitlebens seine schon früh sich anbahnenden (nicht nur) internationalen Kontakte immer wieder prinzipiell in den Dienst der Neuen Musik gestellt. So verwundert es nicht, ihn in den Jahren vor 1938 in verantwortungsvollen Positionen im Musikbetrieb zu sehen, sei es 1922 bzw. 1923 als Mitbegründer der eben erwähnten IGNM, der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik,8 oder ab Mitte der 1920er Jahre bis zum „Anschluß“ als Vorstandsmitglied und Vizepräsident des Österreichischen Komponistenbundes. Und selbstverständlich gehörte Wellesz Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ an, wo er „dessen internationale Öffnung beförderte“.9 Frühe Erfolge als Komponist feierte er noch vor dem Ersten Weltkrieg, schlagartig auch international bekannt machte ihn dann die Uraufführung seines ersten Streichquartetts, op. 14, am 31. Oktober 1913 in Berlin im Rahmen der Loevensohn-Konzerte der Königlichen Hochschule für Musik. In den ersten Jahren seines Schaffens entstanden vornehmlich Lieder, Klavierwerke und Kammermusik, jedoch schon bald fand er zu seiner eigentlichen Berufung, zur Musik für die Bühne. Bereits ab der Mitte der 1910er Jahre, also noch vor Bartók, Berg und Webern, erschienen seine Werke im renommierten Wiener Musikverlag Universal-Edition.10 Sein erstes Bühnenwerk, das Ballett „Das Wunder der Diana“ (nach einem Szenario von Béla Balázs) begann Wellesz bereits 1913, es 7 Undatierter Brief von Egon Wellesz an Arnold Schönberg, wohl von Ende 1912 oder Anfang 1913, Original in der Library of Congress in Washington D.C. (Music Division), Kopie im Arnold Schönberg Center Wien, ID 18329. 8 Siehe Hartmut Krones, Rudolf Réti, Egon Wellesz und die Gründung der IGNM, in: Österreichische Musikzeitschrift 37 (1982), S. 606–623. 9 Hartmut Krones, Egon Wellesz, in: Ludwig Finscher (Hg.), MGG. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Auflage, Personenteil 17: Vin–Z, Kassel etc. 2007, Sp. 747–756. 10 Barbara Boisits, Universal Edition (UE), in: Oesterreichisches Musiklexikon online, http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_U/Universal-Edition.xml (25. 7. 2017).

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wurde 1924 in Mannheim uraufgeführt, danach entstanden nicht weniger als vier weitere Ballette bzw. Tanzdramen und vier Opern: „Die Prinzessin Girnara“, op. 27 (1919/20; Libretto: Jakob Wassermann, UA 1921 in Frankfurt/M. und gleichzeitig in Hannover), „Persisches Ballett“, op. 30 (1920/24; Szenario nach Ellen Tels, UA 1924 in Donaueschingen), „Achilles auf Skyros“, op. 33 (1921; Szenario von Hugo von Hofmannsthal, UA 1926 in Stuttgart), „Alkestis“, op. 35 (1922/23; Libretto: Egon Wellesz nach Hofmannsthal, UA 1924 in Mannheim), Tanzsinfonie „Die Nächtlichen“, op. 37 (1923, Szenario: Max Terpis, UA 1924 in Berlin), „Die Opferung des Gefangenen“, op. 40 (1924/25; Szenario bzw. Text Egon Wellesz nach Eduard Stucken, UA 1926 in Köln), „Scherz, Liszt und Rache“, op. 41 (1927; Libretto Egon Wellesz nach Johann Wolfgang von Goethe, UA 1928 in Stuttgart), und schließlich „Die Bakchantinnen“, op. 44 (1929/30; Libretto: Egon Wellesz nach Euripides, UA 1931 an der Wiener Staatsoper). All diese Werke waren bis zur „Machtergreifung“ Hitlers immer wieder auf den Spielplänen der wichtigsten Deutschen Bühnen zu finden, Wellesz’ eigenhändige Aufführungsliste bzw. die Aufführungskarteikarte seines Verlages beispielsweise zu „Alkestis“ belegen dies eindrucksvoll.11 Und auch auf dem Konzertsektor stellten sich rasch Erfolge ein, womit wir nun im Musikverein wären, wenn auch (noch) nicht bei den Gesellschaftskonzerten: Denn Wellesz’ frühes Symphonisches Stimmungsbild „Vorfrühling“, op. 12, erfuhr nach der Uraufführung 1921 in Bochum und der Wiener Erstaufführung am 1. Mai 1930 (in einem Arbeiter-Sinfonie-Konzert durch Anton Webern) am 7. und 8. März 1936 „philharmonische Weihen“ im Goldenen Saal des Musikvereins, es dirigierte Felix von Weingartner. Vor Hitlers Machtergreifung konnte 1932 in Köln noch die große, anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde als Komponist (!) durch die Universität Oxford dieser Institution gewidmete Kantate „Mitte des Lebens“, op. 45, durch den Dirigenten Hermann Abendroth aus der Taufe gehoben werden, und einige weitere Werke für und mit Orchester wurden entweder durch die Wiener RAVAG oder aber an prominenten Aufführungsstätten außerhalb Wiens bzw. Österreichs das erste Mal gespielt, so die Suite für Violine und Kammerorchester 1924 in Salzburg beim Musikfest der IGNM, das Klavierkonzert, op. 49, in Wien (RAVAG) und London (BBC) oder die „Gebete der Mädchen zu Maria“, für Sopran, Frauenchor und Orchester, op.

11 Dörte Schmidt / Brigitta Weber (Hg.), Keine Experimentierkunst. Musikleben an Städtischen Theatern der Weimarer Republik, Stuttgart–Weimar 1995, S. 123–126.

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5, in Wien und Paris.12 Nicht zuletzt erlebte die Komposition „Prosperos Beschwörungen. Fünf Symphonische Stücke nach Shakespeares ,The Tempest‘, op. 53“ am 19. und 20. Februar 1938 im Musikverein ihre Uraufführung. Es spielten die Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter.

Abbildung 1: Konzertprogramm vom 13. März 1938 im Concertgebouw Amsterdam13 12 Egon und Emmy Wellesz (Anm. 3), S. 80. 13 Egon Wellesz. Komponist. Byzantinist. Musikwissenschaftler. Ausstellung [Katalog], Akademie der Wissenschaften, vorgelegt von Johannes Koder. Konzept für „Egon Wellesz als Komponist“: Hannes Heher und Hartmut Krones, Wien 2000, S. 19.

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Walter war von dem Stück so angetan, daß er es auf seine wenige Wochen danach angesetzte Konzerttournee nach Holland mitnahm (Abbildung 1). Der Rest ist bekannt: Wellesz weilte am 13. März, also an dem Tag, an dem das so genannte „Gesetz“ über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich verabschiedet wurde, im Ausland und kehrte wohlweislich nicht mehr zurück. Dieser so genannte „Anschluß“ beendete Wellesz’ bis dahin so erfolgreiche Karriere abrupt: Als Jude, Monarchist und Verfasser von „entarteter Musik“ wurde der 53jährige sofort nach der „Machtübernahme“ aller seiner Ämter enthoben und polizeilich gesucht. Seine langjährigen Kontakte zu England halfen ihm aber, dort nach und nach in seinem Brotberuf als Wissenschaftler wieder Fuß zu fassen, auch gelang es, die Familie bis zum Sommer 1938 nachzuholen. Der Schock des Exils, der Zweite Weltkrieg und damit seine Internierung als „enemy alien“ ließen ihn als Komponist sogar für mehr als fünf Jahre völlig verstummen. Danach schrieb er sich mit seinem 5. Streichquartett all diese furchtbaren Ereignisse von der Seele, einem Werk, das laut Wellesz „in einer düsteren Zeit entstanden, ein Abschied vom früheren Leben und den Freunden meiner Jugend- und Mannesjahre sein [sollte]. Das besagt die Widmung ,In Memoriam‘“.14 Bemerkenswert ist, daß Wellesz, der sich der Dodekaphonie nie uneingeschränkt verschrieb, gerade in diesem Stück mit Tonreihen experimentierte, die immer wieder auch vollständig, also zwölftönig, auftauchen. In einem frei- bzw. atonalen Umfeld klingen diese Reihen jedoch meist nur wie Zitate aus einer anderen, längst untergegangenen Welt. Nach dem Krieg sah es einige Jahre so aus, als bestünde am Komponisten Wellesz, der sich ganz bewußt nun nicht mehr der Bühne, sondern der großen Symphonie zuwandte, und sich damit wohl auch seine verlorene Heimat wieder erkomponieren wollte,15 neuerlich Interesse: Eine unverbindliche, jedoch zu nichts führende Kontaktaufnahme seines alten Verlages lag vor, und seine Musik wurde vereinzelt wieder gespielt – in Österreich vornehmlich durch die dortige Sektion der IGNM, aber auch vom Wiener Konzerthaus, in dessen Musikfesten 1948 und 1949 Wellesz’ neue Symphonien Nr. 1 und 2, dirigiert von Josef Krips und Karl Rankl, in Erst- und Uraufführung erklangen, und von den Salzburger Festspielen, die 1949 sein Oktett aus der Taufe hoben. In England wurde er le14 Egon Wellesz, [Vortrag] Moderne Musik, S. 35. Zit. nach: Knut Eckhardt / Hannes Heher, Egon Wellesz. Kompositionen, S. 32. Vgl. ÖNB/Musiksammlung, F13.Wellesz.661 Mus. 15 Siehe dazu: Hannes Heher, Musik als Heimat-Ersatz. Die Symphonien des Egon Wellesz, in: Hartmut Krones (Hg.), Die österreichische Symphonie im 20. Jahrhundert (Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, Sonderband 5), Wien–Köln–Weimar 2005, S. 101–118.

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diglich von einzelnen Initiativen, die sich um Musik abseits des herkömmlichen Konzertbetriebs kümmerten, und hin und wieder von der BBC beachtet; ins Repertoire bzw. dorthin zurück fanden seine Werke jedoch nicht. Und ab etwa der Mitte des Jahrhunderts war auch diese kurze Aufbruchssituation wieder vorbei, zudem erlitt er mit der ersten und einzigen Aufführungsserie seiner letzten Oper „Incognita“ Schiffbruch, mit der er sich zu sehr an manche von ihm eventuell mißverstandene ästhetische Positionen seiner neuen Heimat angenähert hatte. Zudem galt er in England noch immer als „österreichischer“ Komponist, und in seinem ehemaligen Heimatland wurde bekanntlich keineswegs daran gedacht, ihn wieder in seine vor dem Krieg innegehabten beruflichen Funktionen einzusetzen. Und nicht war Wellesz als Komponist plötzlich nicht mehr zeitgemäß. Anstelle von Aufführungen gab es jedoch Ehrungen: Er erhielt – und hier seien jetzt nur die wichtigsten Auszeichnungen genannt – den Großen Österreichischen Staatspreis für Musik (1961) und das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1971), in England wurde er 1957 von der Queen zum „Commander of the Order of the British Empire“ ernannt, in Frankreich bekam er im gleichen Jahr die Große Silberne Medaille der Stadt Paris, und Papst Johannes XXIII. verlieh ihm im Jahre 1961 den Gregorius-Orden.16 Erst in den letzten 10 Jahren seines Lebens änderte sich die Situation ein wenig, was primär mit dem Engagement des Wiener Verlags Doblinger zu tun hatte, der sich, angeregt durch den Komponisten Robert Schollum, ab 1962 intensiv für Wellesz und seine aktuell entstehenden Kompositionen einsetzte. Erst diese uneingeschränkte verlegerische Unterstützung ermöglichte es ihm, sein symphonisches Œuvre voranzutreiben und mit einer „Neunten“ (vor der er – wie könnte es auch anders sein – großen Respekt hatte17) zu einem krönenden Abschluß zu bringen. Die nun folgende Uraufführungsliste aller neun Symphonien zeigt anschaulich das über die Jahre dann doch wieder erwachende Interesse an Egon Wellesz: 1. Symphonie, op. 62 (1945/46): UA 14. 3. 1948 Berlin (Berliner Philharmoniker, Sergiu Celibidache) 2. Symphonie, op. 65 (1947/48): UA 28. 6. 1949 Wien (Wiener Symphoniker, Karl Rankl) 3. Symphonie, op. 68 (1949-51): UA 29. 4. 2000 Wien (Wiener Symphoniker, ­Marcello Viotti)

16 Egon Wellesz. Komponist. Byzantinist. Musikwissenschaftler (Anm. 13), S. 60–63. 17 Vgl. u. a. den Brief vom 30. März 1971 an Herbert Vogg (Verlag Doblinger), zit. nach: Herbert Vogg, Am Beispiel Egon Wellesz, Wien 1996, S. 152.

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4. Symphonie, op. 70 (1951-53): UA 11. 11. 1956 Wien (Wiener Symphoniker, ­Rudolf Moralt) 5. Symphonie, op. 75 (1955/56): UA 20. 2. 1958 Düsseldorf (Symphonieorchester der Stadt Düsseldorf, Eugen Szenkar) 6. Symphonie, op. 95 (1965): UA 23. 6. 1966 Nürnberg (Bayerisches Rundfunk­ orchester, Michael Gielen) 7. Symphonie, op. 102 (1967/68): UA 21. 11. 1968 Birmingham (Birmingham ­Symphony Orchestra, Hugo Rignold) 8. Symphonie, op. 110 (1970): UA 17. 10. 1971 Wien (Wiener Symphoniker, M ­ iltiades Caridis) 9. Symphonie, op. 111 (1970/71): UA 22. 11. 1972 Wien (Wiener Symphoniker, Carl Melles)18

Die ersten beiden Symphonien wurden demgemäß in prominenten Konzertzyklen und durch wichtige Dirigentenpersönlichkeiten interpretiert, danach jedoch riß der beginnende Erfolg plötzlich ab: die „Dritte“ konnte zu Lebzeiten ihres Urhebers gar nicht und die 4. Symphonie „nur“ in einem Rundfunkkonzert im Großen Sendesaal des Wiener Rundfunks das erste Mal gegeben werden. Erst mit der „Fünften“ und insbesondere ab der „Sechsten“ interessierte sich die Musikwelt wieder vermehrt für den nun bereits 70- bzw. 80-jährigen, wiewohl die Uraufführungen anfänglich gar nicht in Wien über die Bühne gingen. Und entstanden in den 1950er Jahren lediglich 15 Opera, darunter neben den Symphonien Nr. 4 und 5 sowie wenigen größer besetzten Kammermusikwerken eine stattliche Anzahl reine Gebrauchsmusik (Übungsstücke für verschiedenste SoloInstrumente sowie leicht aufführbare Kirchenmusik), so waren es ab dem nächsten Jahrzehnt nicht weniger 30 sehr oft umfangreiche Kompositionen nahezu aller Genres und Besetzungen. Im Zusammenhang mit der Initiative für Wellesz in den 1960er Jahren darf neben dem Verlagshaus Doblinger freilich auch der Österreichische Rundfunk nicht vergessen werden, im besonderen Dr. Artur Schuschnigg, Dr. Hans Sachs und Dr. Otto Sertl, die sich in vielfacher Weise für den Komponisten einsetzten und einen großen Teil seines Spätwerks als Ur- bzw. Erstaufführungen herausbrachten. Die Liste der Symphonien des Meisters zeigt uns vor allem auch den langsamen Weg hin zu den Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde. Schier unglaublich ist es nämlich, daß vor der Uraufführung der „Neunten“ im November 1972 im Musikverein nur eine einzige Uraufführung zustande kam, und die

18 Egon Wellesz. Komponist. Byzantinist. Musikwissenschaftler (Anm. 13), S. 21.

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erfolgte in einer Fremdveranstaltung.19 – Verantwortlich für die Kehrtwendung war dann der Verlag Doblinger, genauer: dessen Verlagsleiter Dr. Herbert Vogg. Er bot anläßlich des 86. Geburtstages des Meisters und der wenige Tage davor stattgefundenen erfolgreichen Uraufführung der „Achten“ im Österreichischen Rundfunk die noch nicht vergebene, aber schon fertiggestellte 9. Symphonie den wichtigsten Wiener Aufführungsstätten und Orchestern an, also dem Musikverein, dem Konzerthaus, den Philharmonikern und den Symphonikern. Als erster reagierte Rudolf Gamsjäger, der langjährige Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde, mit einem Geburtstagstelegramm: „Haben heute an Ihrem Geburtstag mit Dr. Vogg Verlag Doblinger Uraufführung Ihrer 9. Symphonie für Zyklus Große Symphonie 1972/73 vereinbart. Danken für die Überlassung der Uraufführung und schließen uns mit den allerherzlichsten Glückwünschen der großen Gratulantenschar an. Ergebenste Grüße Ihr Rudolf Gamsjäger Musikverein Wien.“20

Damit war nun spät aber doch die erste Uraufführung eines Wellesz-Werkes in den Gesellschaftskonzerten unter Dach und Fach. Zur ersten Aufführung seiner „Neunten“ (Abbildung 2) am 22. November 1972 (mit Wiederholungen am 23., 24. und 25.) durch die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Carl Melles konnte Egon Wellesz jedoch nicht mehr anreisen, ein schwerer Schlaganfall im Jänner 1972 unterband jegliche Aktivität. Der Komponist erholte sich davon nie mehr, die nahezu drei Jahre, die ihm bis zu seinem Ableben am 8. November des Jahres 1974 noch blieben, war er als Pflegefall an den Rollstuhl gefesselt.

19 Es handelte sich dabei um die Uraufführung des Streichtrios, op. 86, am 20. Oktober 1962 im BrahmsSaal durch das Wiener Streichtrio. Siehe dazu: Otto Biba (Hg.), Die Programmsammlung im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Tutzing 2001, S. 302. 20 Vogg, Am Beispiel Egon Wellesz (Anm. 17), S. 155.

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Abbildung 2: „Danke ! Carl Melles“. Handschriftliche Widmung von Carl Melles, dem Diri­ genten der Uraufführung, im Programmheft der Premiere der 9. Symphonie, op. 111, am 22. November 197221 21 Egon Wellesz. Komponist. Byzantinist. Musikwissenschaftler (Anm. 13), S. 23.

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Der große Erfolg dieser Welturaufführung beim Publikum sowie der nationalen und internationalen Presse, und im besonderen die Beharrlichkeit von Hartmut Krones, der bis heute für die Gesellschaft der Musikfreunde tätig ist, brachten es mit sich, daß nur ein Jahr später „die ordentliche Vollversammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien […] über einhelligen Antrag der Direktion beschlossen [hatte], Professor Dr. Egon Wellesz in Würdigung seines Schaffens und seiner Verdienste um die Musik und die Musikwissenschaft zum Ehrenmitglied zu ernennen.“22 Eine bemerkenswerte Entscheidung, war Wellesz doch der erste österreichische Komponist nach 1945, dem diese Ehrung zuteil wurde; ihm folgten in den Jahren danach lediglich vier weitere, nämlich Gottfried von Einem (1976), Marcel Rubin (1986), Ernst Krenek (1988) und schließlich Friedrich Cerha (2007). Hartmut Krones’ Engagement wurde noch ein weiteres Mal in Zusammenhang mit Egon Wellesz und der Gesellschaft der Musikfreunde wichtig, nämlich bei der Gründung des schon zu Beginn dieses Beitrags erwähnten „Egon-WelleszFonds“. Er unterstützte diese Idee von Charles Kessler und mir sofort vorbehaltlos, schaffte es scheinbar mühelos, die wesentlichsten Persönlichkeiten der Gesellschaft der Musikfreunde davon zu überzeugen (in diesem Zusammenhang sei insbesondere dem Intendanten der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Dr. Thomas Angyan, sehr gedankt) und übernahm zu seinen vielen anderen Verpflichtungen die Position des Komitee-Vorsitzenden. Wo, wenn nicht im Rahmen des Symposions „200 Jahre Uraufführungen in Veranstaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ wäre daher der Platz, die Erfolge dieser Initiative hervorzuheben, auch weil von den seit 1998 nicht weniger als 16 uraufgeführten Opera von Egon Wellesz, an deren Realisierung der Fonds federführend beteiligt war, drei gewichtige im Rahmen von Gesellschaftskonzerten das Licht der Musikwelt erblickten: die schon erwähnte 3. Symphonie, op. 68, die Suite für Orchester, op. 16, und die nachgelassene Komposition „Sommernacht“ für Kammerensemble und Gesang, o. op. Zusätzlich wurde ein Großteil dieser bisher ungedruckten Kompositionen bei renommierten Musikverlagen untergebracht, die meisten Werke erschienen beim Wiener Verlagshaus Doblinger, seit neuestem konnte aber auch die Universal Edition wieder eingebunden und damit eine Verbindung zu den Erfolgen von Egon Wellesz vor 1933/38 hergestellt werden.

22 Ebenda S. 61.

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Abbildung 3: Urkunde zur Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Dezember 197323

23 Ebenda S. 61.

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Hannes Heher (Wien)

Des weiteren wurden vom Egon-Wellesz-Fonds mehrere große Ausstellungen zum Leben und Schaffen des Komponisten mit bedeutenden Partnern, wie beispielsweise der Österreichischne Akademie der Wissenschaften, ausgerichtet. 2010 schließlich fand anläßlich der Wiederkehr des 125. Geburtstags des Meisters im Musikverein eine große Konzertserie mit seiner Musik statt, und im Zusammenhang damit wurde auch eine CD mit seinen Werken für Kammerorchester, fast alle in Ersteinspielungen, produziert. Folgende 16 Wellesz-Uraufführungen konnten bis 2011 durch die Initiative und Unterstützung des „Egon-Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ im In- und im Ausland ermöglicht werden, drei davon fanden wie erwähnt in den Gesellschaftskonzerten selbst statt; sie sind kursiv hervorgehoben: 14. März 2000, London: Tänze für Klavier, op. 10 (UA), Studien Nr. 1 + 3 für Klavier, op. 13/1+3 (UA), Sechs Stücke für Klavier, op. 26 (UA der Nr. 5); Eugenie Russo, Klavier 29. April 2000, Wien, Musikverein: 3. Symphonie, op. 68 (UA); Wiener Symphoniker, Marcello Viotti 14. Juli 200, Bad Aussee (im Rahmen der Ausstellungseröffnung „Egon Wellesz – Komponist, Byzantinist, Musikwissenschaftler“): Zwei Geburtstagsstücke für Geige solo („für Lisi“), o. op. (UA); Joanna Madroszkiewicz, Violine 5. November 200, London: Suite für Violine und Klavier, op. 57 (UA der Neufassung); David Frühwirth, Violine, Henri Sigfriedsson, Klavier 22. November 2002, Berlin, „Komponistenporträt Egon Wellesz“: „Lied der Welt“ für Sopran und Orchester, op. 54 (UA), „Leben, Traum und Tod“ für Alt und Orchester, op. 55 (UA); Regina Klepper, Sopran, Sophie Koch, Mezzosopran, Berliner Symphonieorchester, Roger Epple 16. Mai 2003, Wien, Musikverein: Suite für Orchester, op. 16 (UA); RSO Wien, Ulf Schirmer 27. Juli 2003, Salzburger Festspiele: Drei Studien für Klavier, op. 29 (UA der 3. Studie); Florian Krumpöck, Klavier 24. März 2004, Wien: „Heldensang“. Symphonischer Prolog für Orchester, op. 2 (UA); RSO Wien, Gottfried Rabl 15. September 2005, New York: Vier Stücke für Streichtrio, op. 105 (UA der 2. Fassung); Mitglieder des Ensembles „die reihe“ 17. November 2005, Wien, Musikverein: „Der Komponist Egon Wellesz – zur 120. Wiederkehr seines Geburtstages“. Multimedia-Veranstaltung mit Margarete Babinsky (Klavier) und dem Artis Quartett Wien. 4. Streichquartett, op. 28, sowie Klaviermusik des Komponisten (darunter: UA der 2. Studie für Klavier, op. 13/2). Weiters: Egon Wellesz und die Entwicklung der „Neuen Musik“ in Wien (DVDZuspielung von Fernsehinterviews mit Egon und Emmy Wellesz aus dem Archiv des ORF) sowie Buchpräsentation „Die österreichische Symphonie im 20. Jahrhundert“, hrsg. von Hartmut Krones (mit einem Beitrag des Autors über den Symphoniker Egon Wellesz) 6. Dezember 2010, Wien, Musikverein: „Sommernacht“ für Kammerensemble und Gesang, o. op. (1909/13, UA); Adrian Eröd, Gesang, Ensemble Kontrapunkte, Peter Keuschnig 196

Egon Wellesz und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

1. Mai 2011, Mödling: Fanfare für sechs Trompeten und Pauken, o. op. (UA); Mitglieder der Militärmusik Burgenland, Ltg. OLt. Hans Miertl

Wahrlich eine beeindruckende Bilanz, die ohne den unermüdlichen Einsatz des Fonds nicht möglich gewesen wäre – und die zahlreichen Wieder-Aufführungen von Kompositionen von Egon Wellesz im Musikverein sowie darüber hinaus sind nicht einmal erwähnt. Ganz zum Schluß dieses Beitrags ist es notwendig, in Sachen Wellesz-Uraufführungen eine Richtigstellung anzubringen: Es geht um die so angekündigte Uraufführung der „Hymne der Agave“ aus der großen Oper „Die Bakchantinnen“, op. 44a, durch Ildiko Raimondi und die Wiener Symphoniker unter Christian Arming, die am 5., 6. und 7. Oktober 2006 im Goldenen Saal des Musikvereins stattfand. Alle Recherche-Arbeiten deuteten darauf hin, daß dieses Werk vorher nie in seiner Orchesterfassung gespielt wurde, der zuständige Verlag Bote & Bock, Berlin, bestärkte uns ebenfalls in dieser Annahme; das einzig Relevante, was herauszufinden war, war eine Aufführung der Fassung für Singstimme und Klavier durch Fanny Cleve, Sopran, begleitet von niemandem Geringeren als von Ernst Krenek, am 19. Dezember 1937.24 Aktuelle Nachforschungen in einem bisher nur eingeschränkt zugänglichen alten Karteikasten des ORF, in dem teilweise noch RAVAG-Materialien der Jahre vor 1938 lagern, brachten jedoch das überraschende Ergebnis, daß die eigentliche Uraufführung der Orchesterfassung der „Hymne der Agave“ doch schon 1937, konkret zwei Tage nach dem eben erwähnten Termin, also am 21. Dezember, gesungen wieder von Fanny Cleve, nun aber interpretiert von Paul Breisach und den Wiener Symphonikern, über die Bühne ging. Cleve und Krenek dürften sich also lediglich zu Einstudierungszwecken für dieses Orchesterkonzert mit der Klavierfassung beschäftigt haben. Hier die erwähnte Karteikarte (Abbildung 4, umseitig), die noch zusätzlich belegt, daß das Werk sogar nach dem Krieg in der RAVAG wiederaufgeführt wurde – alle dazu gehörigen Bänder bzw. sonstigen Unterlagen haben sich leider nicht erhalten.

24 Caroline Cepin Benser, Egon Wellesz (1885–1974). Chronicle of a Twentieth-Century Musician, New York etc. 1985, S. 363.

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Hannes Heher (Wien)

Abbildung 4: Karteikarte „Hymne der Agave“ aus der Oper „Die Bacchantinnen“, RAVAG/ ORF25

25 Diese Karteikarte befindet sich im RAVAG-Archiv der Musikabteilung von ORF/Ö1.

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Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Hartmut Krones (Wien) „Ein funkelnder Rubin von eigenem Feuer“ Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Marcel Rubin1 ist einer der wenigen österreichischen Komponisten der Jahre nach 1945, die die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien für würdig befand, in die Liste ihrer Ehrenmitglieder aufgenommen zu werden (Abbildung 1). Außer ihm, dem diese Ehre 1986 zuteil wurde, waren dies (neben „Ausländern“ wie Leonard Bernstein, Pierre Boulez, Paul Hindemith, Carl Orff, Krzysztof Penderecki oder Igor Strawinsky) nur mehr Friedrich Cerha (2007), Gottfried von Einem (1976), Ernst Krenek (1988) und Egon Wellesz (1973); die Reihe dokumentiert nachdrücklich, wie sorgfältig die Gesellschaft in dieser Zeitspanne mit der Verleihung ihrer höchsten Auszeichnung verfahren ist. Marcel Rubin ist zudem ein besonderes Beispiel für die Möglichkeit, nach der erzwungenen Emigration in den Jahren 1933, 1934ff. oder insbesondere 1938 nach 1945 wieder in Wien Fuß zu fassen, was bekanntlich vielen Künstlern nicht gelungen ist2 – man denke nur an die oben genannten Komponisten Ernst Krenek und Egon Wellesz oder auch an Hanns Eisler3 sowie Paul Amadeus Pisk, dem schon die Austrofaschisten jedwede Lebensgrundlage entzogen hatten. Rubin wurde am 7. Juli 1905 in Wien geboren, besuchte das humanistische Gymnasium und lernte daneben privat Klavier (u. a. bei Richard Robert) und Musiktheorie. 1921–23 belegte er an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst den von Richard Stöhr gehaltenen Lehrgang für Harmonielehre, den er 1923 ebenso wie die Matura bestand. Danach war er neben seinem JusStudium (an der Universität Wien) zunächst für zwei Jahre Kontrapunkt-Schüler Franz Schmidts an der Wiener Musikakademie, nachdem er es mit Vehemenz abgelehnt hatte, weiter bei Richard Stöhr oder gar bei Joseph Marx zu studieren. Aber auch Schmidts Unterricht empfand er auf die Dauer als künstlerisch eng, und so übersiedelte er – gemäß dem Rat von Egon Wellesz – Herbst 1925 nach

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Näheres zu diesem Komponisten siehe bei Hartmut Krones, marcel rubin (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts, Band 22), Wien 1975 sowie Nachtrag Wien 1989. Zu diesem Themenkreis siehe vor allem Hartmut Krones (Hg.), Geächtet – verboten – vertrieben. Österreichische Musiker 1934 – 1938 – 1945 (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, Band 1), Wien–Köln–Weimar 2013. Siehe u. a. Hartmut Krones (Hg.), Hanns Eisler – Ein Komponist ohne Heimat? (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, Band 6), Wien–Köln–Weimar 2012, passim.

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Hartmut Krones (Wien)

Paris, wo er für sechs Jahre privater Kompositionsschüler von Darius Milhaud wurde und auch erste Erfolge als Komponist feierte. 1931 nach Wien zurückgekehrt, vollendete er 1933 sein Jus-Studium, arbeitete dann in einer Rechtsanwaltskanzlei, machte sich aber gemeinsam mit Friedrich Wildgans auch als Organisator einer Konzertreihe neuer Musik („Musik der Gegenwart“) verdient: Man konfrontierte die Wiener Öffentlichkeit mit den Schöpfungen der damaligen Avantgarde, u. a. mit Werken von Erik Satie, Alban Berg, Josef Matthias Hauer, Darius Milhaud und vielen anderen. Daneben schuf sich Rubin auch als Komponist einen ausgezeichneten Namen (u. a. dirigierte Hermann Scherchen seine 2. Symphonie), bis ihm der „Anschluß“ das Leben in Wien unmöglich machte. Bereits am 13. März 1938 emigrierte er nach Paris, wo inzwischen seine Schwester Olga den Musikwissenschaftler Marcel Beaufils geheiratet hatte und wohin auch seine Eltern bald nachkamen. Im Paris trat er dann der kommunistischen Partei bei, 1939 kam er als „feindlicher Ausländer“ – welch Ironie des Schicksals – in ein französisches Konzentrationslager, wo er u. a. auch Jura Soyfers „Dachaulied“ vertonte, ohne die „originale“ Komposition von Herbert Zipper zu kennen.4 1940 wieder freigelassen, zog er über Paris nach Marseille5 und schließlich 1942 nach Mexiko. Dort gelang es Rubin bald, festen Fuß zu fassen. Er wurde Korrepetitor an der Oper von Mexiko City, war als Liedbegleiter und Dirigent tätig und betreute die Musik-Abteilung einer ständigen Österreich-Sendung im mexikanischen Rundfunk. Daneben gab er Privatstunden, hielt an der Arbeiteruniversität Vorträge über musikhistorische und musiktheoretische Themen und veröffentlichte in diversesten Exil-Zeitschriften einschlägige Artikel; auch als Komponist war er erfolgreich, u. a. dirigierte er im „Palacio de las Bellas Artes“ die Uraufführung seiner 2. Symphonie.6 Auf der Überfahrt hatte er die Deutsche Hilda Maddalena kennengelernt, die Frau des inhaftierten kommunistischen Reichstagsabgeordneten Max Maddalena,

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Vgl. Hartmut Krones, Das „Dachau-Lied“: Jura Soyfer, Herbert Zipper und Marcel Rubin, in: Herbert Arlt (Hg.), Dramatik, „global towns“, Jura Soyfer (= Österreichische und internationale Literaturprozesse 12), St. Ingbert 2000, S. 184–199, sowie ders., Jura Soyfers Dachau-Lied in seinen Vertonungen durch Herbert Zipper und Marcel Rubin, in: Constantin Floros / Friedrich Geiger / Thomas Schäfer (Hg.), Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20. Jahrhunderts (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Band 17), Frankfurt am Main 2000, S. 139–153. Hartmut Krones, Marcel Rubin in der französischen Emigration, in: Michel Cullin / Primavera Driessen Gruber (Hg.), Douce France ? Musik-Exil in Frankreich. Musiciens en exil en France. 1933–1945, Wien–Köln–Weimar 2008, S. 131–145 sowie S. 379–392. Hiezu siehe im Detail Hartmut Krones, Marcel Rubin und das österreichische Exil in México, in: Geächtet – verboten – vertrieben (Anm. 2), S. 521–550.

Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

der dann Oktober 1943 im „Zuchthaus Brandenburg-Görden“ umkam.7 Nach dessen Tod heiratete Rubin die Witwe im Dezember 1945. 1947 kehrte Rubin nach Österreich zurück und widmete sich hier neben der Arbeit als Musikkritiker (der „Volksstimme“) in verstärktem Maße seinem Schaffen. Daneben war er 1948 bis 1965 Sekretär des Österreichischen Komponistenbundes und gründete 1948 zusammen mit einigen anderen Komponistenkollegen die Österreichische Gesellschaft für Zeitgenössische Musik. In der AKM, der staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger, hatte Rubin ab 1957 diverse Funktionen inne, ehe er 1964 in den Vorstand und schließlich 1975 zum Präsidenten der Vereinigung gewählt wurde. Und auch international war er einer der aktivsten Vertreter der Komponistenschaft, unter anderem als Präsident des Internationalen Komponistenrates der CISAC, der Dachorganisation der Verwertungsgesellschaften. 1969, nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR, trat er (mit vielen anderen) aus der KPÖ aus und zog sich gleichzeitig als Kritiker zurück, stand aber als Präsident der AKM, als welcher er von 1975 bis 1984 fungierte, noch einige Zeit im Brennpunkt des Musikgeschehens; 1986 wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde. Nahezu bis zuletzt schaffend, starb er am 12. Mai 1995 in Wien. Zu Rubins wichtigsten Schöpfungen zählen die 1973 in der Wiener Volks­ oper uraufgeführte Oper „Kleider machen Leute“ (nach Gottfried Keller), das Tanzstück „Die Stadt“ (mit Worten von Elias Canetti), vier Oratorien (darunter „Ein Heiligenstädter Psalm“ nach Worten aus Beethovens „Heiligenstädter ­Testament“ und aus der Heiligen Schrift), 10 Symphonien, Konzerte für Kontrabaß, Trompete, Fagott, Flöte und Klarinette, zahlreiche weitere Orchesterwerke (darunter die oft realisierten „Variationen über ein französisches Revolutionslied“), Kammermusik verschiedenster Besetzung, Klaviersonaten und zahlreiche Liederzyklen, und zwar in deutscher sowie in französischer Sprache. – Mit der Gesellschaft der Musikfreunde war Rubin nicht nur durch die Ehrenmitgliedschaft, sondern auch durch zahlreiche Uraufführungen seiner Werke in Gesellschaftskonzerten verbunden. Darüber hinaus gelangten viele weitere Werke in den beiden Sälen des Musikvereins zur Uraufführung, vor allem in Konzerten der Musikalischen Jugend sowie der Österreichischen Gesellschaft für Neue Musik (ÖGZM).

7

Vgl. Demokratische Post, 15. 8. 1944, S. 6, sowie Freies Deutschland 3/11 (September 1944), S. 33f.

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Hartmut Krones (Wien)

Abbildung 1: Urkunde der Ernennung Marcel Rubins zum Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde (Nachlaß Marcel Rubin)8

Die erste, wenn auch nur partielle Uraufführung im Sinne unserer Thematik fand am 13., 14., 15. und 16. November 1969 statt, an welchen vier Tagen in 8

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Der Nachlaß wird im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien aufbewahrt.

Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

einer Konzertserie des Wiener-Symphoniker-Zyklus Wolfgang Sawallisch die leicht überarbeitete Fassung von Rubins 5. Symphonie zu einem triumphalen Erfolg führte. – Bevor das Presse-Echo der Aufführungen gestreift werden soll, sei noch kurz der Vorgeschichte des Ereignisses gedacht. Die 5. Symphonie war zunächst schon am 19. April 1966 durch das Niederösterreichische Tonkünstlerorchester und Kurt Wöss, ebenfalls im Großen Musikvereinssaal, uraufgeführt worden, allerdings in einem jener „Ghetto-Konzerte“ der ÖGZM, in welchen ausnahmslos moderne Werke auf dem Programm standen. Neben Rubins 5. Symphonie wurden noch vier weitere Novitäten gespielt, so daß die vorhandene Probenzeit unmöglich für alle Werke reichen konnte. Noch bei der Generalprobe ging es im Orchester derart „drunter und drüber“, daß Rubin sein neues Opus noch im letzten Moment zurückziehen wollte, was er aber dem Dirigenten zuliebe doch nicht tat. Die Aufführung war dann, wie befürchtet, wirklich äußerst mangelhaft, dennoch hatte das Werk bei Publikum und Presse einen großen und einhelligen Erfolg. Wolfgang Sawallisch, damals Chefdirigent der Wiener Symphoniker, hörte von der neuen Symphonie, ließ sich in der Wohnung des Komponisten einen Mitschnitt des Konzertes vorführen und setzte das Werk, in dem Rubin einige kleinere Retuschen anbrachte, in dieser Letztfassung auf das Programm eines Abonnementkonzertes im Großen Musikvereinssaal. Die Aufführungsserie im November 1969 bedeutete für Rubin einen bis dahin in Wien noch nie erlebten Triumph; bei jedem Konzert konnte er Ovationen des Publikums entgegennehmen. Und die Presse war völlig übereinstimmend der Meinung, eines der bedeutendsten österreichischen symphonischen Werke der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gehört zu haben. So schrieb Norbert Tschulik in der „Wiener Zeitung“ vom 18. November unter der Überschrift „Neue Musik für Jedermann“9: „Es ist gewiß kein Zufall, daß Marcel Rubin in einem der Zyklen der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wort kommt. Der Grund hiefür ist nur in der Qualität zu suchen. Rubin weiß, daß das Experiment nicht die allein selig machende Methode ist, neue Musik zu komponieren. Es fällt ihm genug ein, er ist im Einfall auch originell genug und kann genug, um nicht mit Absonderlichem bluffen zu müssen. Was er schreibt, ist neue Musik für jedermann, also gerade das, was man in den Konzerten mit vorwiegend konservativem Publikum braucht. Hier wird die Kluft überbrückt, die falsche Propheten immer wieder aufreißen.“

9

Die im folgenden zitierten Pressestimmen aus den Tageszeitungen, die jeweils knapp nach den erwähnten Konzerten erschienen sind, befinden sich im Nachlaß Marcel Rubins im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien sowie auch in den gedruckten „Pressespiegeln“, die der Verlag Doblinger jeweils nach den Konzerten auf Werbeblättern zusammengestellt hat.

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Hartmut Krones (Wien)

Franz Endler sprach am 18. November in der „Presse“ von „Rubin, der mit seiner V. Symphonie das einprägsamste, angenehmste symphonische Werk schrieb, das sich nur vorstellen läßt. […] Da ist Musik, die existiert und nicht wegzuleugnen ist, zwei sehr aggressive Ecksätze, ein skurriler langsamer Satz, ein humorvoller dritter Teil. Man hört es gern, und man bewundert, immer wieder, die ökonomische Verwendung des Orchesters, die sichere Wahl der Klangfarben, das unüberhörbare bodenständige Kolorit. […].“

Fritz Walden überschrieb seine Konzertkritik in der „Arbeiter-Zeitung“ „Ein funkelnder Rubin von eigenem Feuer“ und berichtete von „einem echten Erlebnis […]. Ein Programm mit zwei Werken, die ihrer Wirkung von vornherein sicher sind [gemeint sind Beethovens 4. Klavierkonzert sowie Ravels „La Valse“]. Das dritte wird es in kürzester Zeit sein.“ – Im „Kurier“ attestierte Rudolf Weishappel der Symphonie folgendes: „Hier hat man ein Werk vor sich, das ohne Krampf modern, das ganz und gar Musik ist. […] Rubins V. Symphonie ist ein Werk des Einfalls – der melodischen, der harmonischen und vor allem auch der rhythmischen Ideen – und hält dadurch den Zuhörer in Spannung, zwingt ihn zu dauernder Aufmerksamkeit. Was aber vielleicht das Schönste daran ist: Es ist trotz der Blickrichtung nach Frankreich ein Werk, das aus der österreichischen Musiklandschaft geboren ist, aus einer Landschaft, die etwa auch Mahler beschworen hat.“

Und im „Volksblatt“ charakterisierte Kurt Schmidek die Novität: „Diese Symphonie ist eines jener Werke, die selbst Skeptiker davon überzeugen müssen, daß mit Einfällen, Können und gescheitem Musikantentum auch heute noch in herkömmlicher Notenschrift und ohne Rechenschieber mit Erfolg komponiert werden kann. […] Rubins 5. Symphonie ist Musik unserer Zeit, wobei aber die Betonung auf dem Wort Musik liegt. Da werden in konzentrierter Form klare, musikantisch inspirierte Themen intelligent eingesetzt und mit großem Können verarbeitet, da steht Lyrisches und Dramatisches im rechten Verhältnis zueinander, und die scharf pointierte Groteske atmet immer noch einen Hauch Poesie. […] Die raffinierte Instrumentation tut noch das ihre dazu, das Interesse des Zuhörers in jeder Phase wachzuhalten. […].“

Rudolf Gamsjäger, Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde, schließlich schrieb nach dem großen Erfolg des Werkes an den Komponisten: „Es zählt nicht zu den Alltäglichkeiten eines Musikinstitutes, mit einem neuen Werk eines zeitgenössischen Komponisten einen durchschlagenden Erfolg beim Publikum und der Presse zu erzielen. Mit Ihrer Fünften Symphonie haben Sie, verehrter Herr Doktor, ein Werk geschaffen, das in der symphonischen Literatur für Österreich einen Ehrenplatz bedeutet und das Wien zum Ruhme gereicht.“10

10 Nachlaß Marcel Rubin, aufbewahrt im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.

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Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Abbildung 2: Uraufführung des Konzertes für Kontrabaß und Orchester von Marcel Rubin im Dezember 1971. Abendprogramm, Ausschnitte (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) 205

Hartmut Krones (Wien)

Nicht viel mehr als zwei Jahre später, am 9., 10., 11. und 12. Dezember 1971, gab es den nächsten großen Erfolg für Marcel Rubin, wieder im Wiener-Symphoniker-Zyklus der Gesellschaft (Abbildung 2), und diesmal war es eine „echte“ Uraufführung. Josef Krips nahm sich viermal eines Werkes des Komponisten an, und zwar des Kontrabaßkonzertes, das über Anregung von Ludwig Streicher, dem brillanten Virtuosen auf dem schwierigen Instrument, entstanden war.11 (Für die nicht Eingeweihten einige Worte über den Solisten: Streicher spielte als einer der ganz wenigen Kontrabaß-Solisten auf einem normalen, 2,08 Meter großen Orchester-Kontrabaß. Wegen seiner Virtuosität verlieh ihm die internationale Kritik bald das Prädikat „Oistrach des Kontrabasses“. Als David Oistrach ein Konzert mit Ludwig Streicher gehört hatte, meinte er, er könnte sich glücklich schätzen, wenn er, Oistrach, der „Streicher der Violine“ wäre.) Zurück zu dem Konzert: Wieder waren sich Presse und Publikum einig, ein Werk von besonderer Qualität und höchstem Einfallsreichtum gehört zu haben. So befand Herbert Schneiber, den insbesondere die humoristische Seite des Konzertes angesprochen hatte, im „Kurier“ vom 13. Dezember folgendes: „Rubin, der sich mit seinem symphonischen Oeuvre längst einen Namen gemacht hat, gönnt sich mit diesem Opus den Spaß, Instrument und Solisten auf Herz und Nieren zu prüfen, im verwirrend-virtuosen Spiel natürliche Wirkungen mit verfremdeten Effekten zu kombinieren, mit lebhafter Teilnahme des Orchesters, das mit muß durch das instrumentale und rhythmische Gestrüpp. Ein Schelmenstreich.“

Und Fritz Walden lobte in der „Arbeiter-Zeitung“ vom 14. Dezember unter der Überschrift „Ein Kontrabaß wird zum Ereignis“ neben dem Musikantentum Rubins auch dessen hohe handwerkliche Meisterschaft: „Man muß vermutlich den Einstieg in seine zweite Jugend gefunden haben, um mit dieser jugendlichen Leichtigkeit das gesamte Tonmaterial durch die Luft zu jonglieren wie Marcel Rubin in seinem Konzert für Kontrabaß. […] So souverän bewegte sich wohl seit Hindemith noch niemand im tonalen Gelände; bloß, daß der Österreicher über mehr geschmeidigen Charme verfügt. In jenem vegetativen Treiben, in dem Mozart als Lehrmeister für die gesamte Komponisteninternationale gelten kann, scheinen sich alle drei Sätze eigentlich nur rhythmisch und melodisch gleich aus dem ersten Hauptmotiv zu entfalten; mit der vergnügt in die Höhe hüpfenden Oktave, die uns zum Schluß des ersten Satzes das Soloinstrument im Pizzikato zuraunt, gleich einem Versprechen, man komme wieder. […] Und in einem sprühenden Klangpointenregen geht es schließlich in die Zielgerade des Finales; ständig gehegt von reifer Meisterschaft, die mit nicht mehr überbietbarer Ökonomie in den Noten 11 Das Konzert gelangte dann auch am 7. und 8. November 1985 in Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde zur Aufführung, diesmal durch Ludwig Streicher und das ORF-Symphonieorchester unter der Leitung von Jacek Kasprzyk.

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Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

sichtet und Überflüssiges wegsichelt und das bereits etwas abgebrauchte Wort Transparenz wieder in seinem ursprünglichen, voll gültigen Zauber einsetzt.“

Abbildung 3: Dankesworte Marcel Rubins nach der Uraufführung seines Kontrabaßkonzertes (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)12

Die nächsten Uraufführungen in Gesellschaftskonzerten sollen nun aus Zeitgründen wesentlich kürzer betrachtet oder überhaupt nur kurz erwähnt werden. Am 11., 12., 13., 14. und 15. November 1975 folgte im Zyklus „Die Große Symphonie“ die Uraufführung von Rubins 6. Symphonie durch die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Carl Melles13, und wieder waren Publikums-Erfolg und Kritik hervorragend. So konnte man in der „Wochenpresse“ eine köstliche Rezension lesen, die u. a. dem „modernistischen Trend“ eine klare Absage zuteil werden ließ: „Das jüngste Beispiel für das Weiterleben der Gattung [Symphonie] lieferte nun der Musikverein, just in jenem Zyklus, dem diese Großform den Namen gegeben hat – in der ,Großen Symphonie‘ –, der aber ansonsten seinen Abonnenten eher die Garantie gibt, von neuen Werken verschont zu bleiben. Geschreckt wurden sie freilich auch in diesem seltenen Fall einer Uraufführung nicht. Carl Melles und die Wiener Symphoniker präsentierten im Großen Musikvereinssaal die VI. Symphonie von Marcel Rubin, der im vergangenen Sommer 70 Jahre alt wurde und unter jenen heimischen Komponisten, die man – allzu vereinfachend – dem ,konservativen‘ Lager zuordnet, einen durchaus hervorragenden Rang einnimmt. Als Musiker, der sein Handwerk

12 Konzertbuch der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Nr. X (Saisonen 1970/71 und 1971/72). 13 Carl Melles brachte (mit dem ORF-Symphonieorchester) auch die 7. Symphonie Rubins im Großen Saal des Musikvereins zur Uraufführung, und zwar am 29. Jänner 1979 in einem Konzert der Musikalischen Jugend Österreichs.

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Hartmut Krones (Wien)

versteht (eine Fähigkeit, die heute nicht unbedingt sehr geachtet wird). Als Musiker mit Einfällen, melodischen Einfällen zumal, was bei vielen ,Modernen‘ nachgerade als unanständig gilt. In diesem Sinn ist Rubins neueste 1973/74 entstandene Symphonie durchaus beides: gekonntes Handwerk und unanständig. In jeden der vier Sätze des etwas halbstündigen Werkes investiert Rubin eine Fülle von Einfällen melodischer und motivischer Natur, die nach dem guten alten dialektischen Prinzip der Symphonie geistreich verarbeitet werden, das sich immer dann trotz aller Leichenreden doch als fruchtbar erweist, wenn seinem Benützer einprägsames und vor allem auch für den musikalischen Normalverbraucher nachvollziehbares, durchschaubares Themenmaterial eingefallen ist.“

Nach seiner Ernennung zum Ehrenmitglied der Gesellschaft im April 1986 widmete der Komponist das Autograph der Partitur der „Sechsten“ dann „Dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde als Gegengabe“ (Abbildung 4).

Abbildung 4: Autograph der 6. Symphonie von Marcel Rubin, Titelblatt (Archiv der Gesell­ schaft der Musikfreunde in Wien) 208

Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Nicht ganz so umjubelt war die Uraufführung des für die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker geschriebenen „Concertino für 12 Violoncelli“ am 8. Juni 1976 in einem Konzert der Wiener Festwochen, doch lag dies zum Teil auch an der allgemeinen Reserviertheit einem solchen eindimensionalen Ensemble gegenüber. Hymnische Kritiken erhielt hingegen wieder das Werk „O ihr Menschen. Ein Heiligenstädter Psalm“, das am 26., 27. und 28. März 1981 durch den Wiener Jeunesse-Chor, den ORF-Chor, die Wiener Symphoniker, Robert Holl (Bariton) und Horst Stein in einer gemeinsam von der Wiener Beethoven-Gesellschaft und der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien veranstalteten Konzertreihe zur Aufführung gelangte. Hier hatte die Uraufführung (ebenfalls im Großen Saal) allerdings bereits am 7. März 1978 in einem Konzert der „Musikalischen Jugend Österreichs“ durch den Wiener Jeunesse-Chor, das ORFSymphonieorchester und Robert Holl unter der Leitung von Günther Theuring stattgefunden. Eine ebenfalls äußerst positiv aufgenommene Uraufführung in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde erlebte dann wieder das Oratorium „Auferstehung“, eine Ausdeutung der Fortsetzung des Passionsgeschehens mit inhaltlichen Kommentaren von Angelus Silesius und Matthias Claudius. Das Konzert fand am 28. und 29. Jänner 1988 im ORF-Symphonieorchester-Zyklus der Gesellschaft durch ORF-Chor, Arnold-Schönberg-Chor, ORF-Symphonieorchester und Peter Hirsch statt. Gerhard Rosenthaler lobte das Werk in der „Österreichischen Musikzeitschrift“ u. a. folgendermaßen: „Das Werk eines 82jährigen Meisters, der unablässig eine große Komposition nach der anderen schafft – und nicht einer davon müßte das scheinheilige Mäntelchen des ,Alterswerkes‘ umgehängt werden. Es liegt so vieles Besondere, Kostbare in Marcel Rubins Musik; und wohl auch dieses: Alterslose Weisheit läßt ihn – mühelos und ungebeugt – finden, wonach rundum gekünstelt gestrebt wird. […] Rubin meidet die satte Harmonie des euphorischen Ausdrucks nicht, stellt sie neben ziseliertes Gespinst, stets in klarer Linienführung, die Recht und Unverbrauchtheit einer persönlich gefärbten Tonalität nachweist. Die kunstvolle Orchesterbehandlung – im Grunde genommen Kammermusik für große Besetzung – verleugnet nicht die transparente Schule der französischen ,Gruppe der Sechs‘, wendet dies auf charakteristische Weise an: Jedes Instrument wird zugleich als Farbe und Ausdrucksmittel eingesetzt. Mit ökonomischen Kunstgriffen erzielt Rubins Musik eine behutsame Leuchtkraft, die oft aus einem Funken zündet und sich auszubreiten vermag wie ein Flächenbrand: bis die latent gehortete Energie aus lapidaren Chö-

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Hartmut Krones (Wien)

ren bricht und in einen Schlußjubel mündet, der so überwältigend glückselig eine jugendlich-naive Dreiklangszerlegung zum Ereignis machen kann. Rubin durfte sich für herzlichen, ehrlichen Beifall bedanken […].“14

Und auch Hellmuth Herrmann hob (in der „Wiener Zeitung“ vom 31. Jänner) Rubins „Glauben an den Primat der tonalen Musik“ hervor und setzte dann fort: „Rubins freitonaler Stil erhält in diesem Werk wirksame Unterstützung durch die klangsinnliche, ja vielfache üppige Gestaltung des Orchesterparts und gewiß auch durch die espressive Gestaltung der vokalen Kantilenen, die es jedem musikalischen Zuhörer als evident erscheinen lassen, wie ernst es dem Komponisten mit seiner in der heutigen Zeit eher ungewöhnlichen Aussage ist. Man kann nur hoffen, daß es nicht nur bei dieser Uraufführung bleiben möge. Nicht zuletzt zur Osterzeit sollte man sich in Hinkunft in Wien und anderswo auf dieses ernste und tröstliche Werk besinnen.“

Am 6., 7., 8. und 9. Februar 1990 folgte im Zyklus „Die große Symphonie“ durch die Wiener Symphoniker und Hans Graf Rubins 10. Symphonie, die den Untertitel „Hommage à Chartres“ und folgende Vorrede trägt: „Diese Symphonie danke ich den Eindrücken, welche ich von der Kathedrale von Chartres in entscheidenden Etappen meines Lebens empfangen habe“15, wobei Rubin insbesondere an die grandiosen Lichtwirkungen dachte. „Friede, in Stein gemeißelt“, überschrieb Gerhard Rosenthaler seine Kritik in der „Arbeiter-Zeitung“ vom 9. Februar und fuhr fort: „,Mensch, werde wesentlich‘: Marcel Rubin fand die Worte bei Angelus Silesius. Seine Zehnte Symphonie – mag sie als Summe eines Lebenswerkes gelten? Viel eher als Summe von Lebenserfahrungen; denn für Rubin ist jedes Werk ein Neubeginn in kontinuierlich optimistischer Linie. […] Marcel Rubins ,Zehnte‘. Musik des greisen Meisters, der zeitlebens nur den Blick in die Zukunft gelten läßt, der keine Alterswerke schafft – wie denn auch Verdis ,Falstaff‘ nie und nimmer als Alterswerk zu gelten hat … Eine ,Hommage à Chartres‘; die grandiose Architektur der Kathedrale, wie sie Rubin in entscheidenden Etappen seines Lebens oft beeindrucken mochte. Nicht Nachzeichnung – vielmehr Impressionen, Stimmungsbilder: Musik, die sich unmittelbar in hellgetönter Herzlichkeit erschließt – und die doch zwingt, in sie hineinzuhören. ,Sie schreiben jetzt auch schon große Musik‘ hatte Rubins Lehrer Darius Milhaud einst dem jungen Mann etwas mißbilligend gesagt – und dieser hatte etwas dreist geantwortet: ,Wir werden lernen müssen, das Wort auszusprechen, ohne zu erröten.‘ Rubins Musik ist große Musik, wenngleich in anderem als Milhauds Sinne – und sie hat sich als Triebkraft jene eigentümliche Brechung bewahrt, die in Summe den Meister zu einem kraftvoll-frischen Fortsetzer der Tradition, niemals aber zu deren knöchernem Hüter werden ließ. 14 Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), April, S. 210f. 15 Vorrede auf dem Titelblatt der Partitur (Abbildung 5).

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Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Abbildung 5: Autograph der 10. Symphonie von Marcel Rubin, Titelblatt (Archiv der Gesell­ schaft der Musikfreunde in Wien)

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Rubin schlägt helle, fast ,weiße‘ Themen an, steigert sie zu hymnischer Größe, zu satten Unisono-Wirkungen; blockartig – und in meisterlicher Instrumentation, die das große Orchester in hunderterlei Gestalt solistisch auffächert, zart, intim, schimmernd, ekstatisch. Es ist die unverkennbare Melodieführung, die große Kantilene, die das Kruzifix des Dreiklangs aus jugendlich blitzenden Augen betrachtet, es ist ein spezifischer, gütiger Humor, der auch gern und stets im rechten Moment in Sarkasmus umschlagen kann. Eine Weisheit, die sich an den grotesken, fratzenhaften gotischen Skulpturen aus der Distanz von Jahrhunderten und doch so gegenwärtig wie rückversetzt erfreut, die alle Schönheiten einer unverrückbaren Architektur im wechselvollen Licht stets sich ändernden und doch gleichen Sonnenlichts sieht – und eben diese Architektur in ein ,absolutes‘ musikalisches Gefüge umzuwandeln weiß. Es ist eine Musik, deren Licht von innen strömt, jung, schön und hell –, die nicht abgeklärt sein will, denn sie stellt ihre wachen Fragen. Und doch eine Musik, die ihren Frieden gemacht und ihn in Stein gemeißelt hat.“

Ähnliches lesen wir bei Peter Vujica im „Standard“ vom 9. Februar: „Diese in ihrer hochentwickelten formalen Struktur wohl als summum opus des 85jährigen zu verstehende Symphonie trägt den Titel Hommage à Chartres. Damit ist Rubins zweifache geistige Bindung an und Prägung durch Frankreich programmatisch signalisiert: Es sind dies die fruchtbaren Pariser Lehrjahre bei Darius Milhaud und die anhaltende Faszination durch den Licht- und Raumzauber der Kathedrale von Chartres. Und so erweist sich dieses Werk auch als ein großes Fresko sich in Klänge lösender architektonischer Gestalten und Proportionen. Ein monothematisches Grundkonzept wird zu diversen Schnitten und Rissen variiert, unter deren verschiedenen Winkeln und Perspektiven die Grundelemente bald vergrößert, bald in Pianissimo-Fluchtpunkten verschwindend dargestellt sind. Wie der sensibel eingesetzten, mitunter auch zu wuchtigen Wechseln bereiten Dynamik wohl überhaupt die Funktion von Licht und Schatten zugewiesen wird, während die meisterliche Instrumentierung gleich einem bunten Glasfenster das einfallende Klanglicht in seine Farben fächert. Das Material, mit dem Rubin baut, ist von bewährter Tonalität. Sie hat sich die kantige, auf Chromatik weitgehend verzichtende Harmonik bewahrt, wie sie auch Rubins Lehrer Milhaud forcierte und wie sie wohl auch die klar konturierte Thematik dieser Sinfonie prägt. Trotz allem schrieb Rubin mit dieser Sinfonie kein französisches, sondern ein urösterreichisches Werk. Bei Bedarf dröhnen Choräle nach bester Brucknerart ins Geschehen und bei aller strukturellen Bewußtheit, bei allem Bemühen um präzisierende Knappheit gerät diese Symphonie zum breiten Epos, zu einem besonnen abgeklärten Nachsommer in Tönen.“

Der Komponist widmete das Werk dann dem Intendanten der Gesellschaft der Musikfreunde und übergab ihm das mit der folgenden Inschrift versehene Autograph der Partitur: „Für Dr. Thomas Angyan in Dankbarkeit und großer Sympathie“ (Abbildung 5).

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Marcel Rubin und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Weitere in der Gesellschaft der Musikfreunde uraufgeführte Werke waren dann das Klarinettenquintett, das am 16. Mai 1990 im Rahmen der Wiener Festwochen im Brahmssaal durch Peter Schmidl und das Wiener Streichquartett erklang, sowie vor allem die „Variationen über einen Bach-Choral für Orchester“, die am 17., 18. und 19. Februar 1993 durch die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch zur ersten Realisation geführt wurden. Auch hier gab es positive Rezensionen, so auch in der „Österreichischen Musikzeitschrift“, in der Alexandra Hettergott „die leichte Faßlichkeit der musikalischen Aussage“ ebenso hervorhob wie das Moment des „Kontemplativen“, das sie als „koinzident“ mit der (im gleichen Konzert gespielten) „ReformationsSymphonie“ von Felix Mendelssohn Bartoldy sah.16 Die letzte Uraufführung zu Lebzeiten Marcel Rubins wurde dann der 1. Teil („Januar“ bis „Juni“ sowie „Der dreizehnte Monat“) des Liederzyklus für mittlere Singstimme und 5 Instrumente, „Die 13. Monate. Nach Erich Kästner“, den am 6. Juni 1994 Christine Whittlesey, das Ensemble Kontrapunkte und Peter Keuschnig realisierten. – Schließlich folgte als letztes Werk am 19. Juni 1995 im (in jener Saison unter dem Motto „Krieg und Frieden“ stehenden) ORF-Symphonieorchester-Zyklus das Oratorium „Licht über Damaskus“ nach Texten aus der Bibel, von Paul Gerhardt, Christian Friedrich Daniel Schubart und Rainer Maria Rilke, das vier Solisten, den Wiener Jeunesse-Chor, das ORF-Symphonieorchester und Martin Sieghart vereint sah. Es hätte ein Konzert zum 90. Geburtstag des Komponisten werden sollen, wurde nun aber ein Konzert „Im Gedenken an Marcel Rubin“, der am 12. Mai verstorben war. Dementsprechend stellte Christian Heindl seine Kritik in der Österreichischen Musikzeitschrift unter den Titel „Ein Dur-Schluß für die Nachwelt“. Weiter lesen wir: „Es war Marcel Rubins großer Wunsch, die Uraufführung seines dritten großen Oratoriums, ,Licht über Damaskus‘, im Musikverein erleben zu können. Nicht einmal drei Wochen vor diesem Datum wurde der Komponist zu Grabe getragen. Gilt es nun, ein Urteil über ,Licht über Damaskus‘ zu sprechen, so stellt man mit einigem Vergnügen fest, daß Rubin es uns, der Nachwelt, gar nicht so einfach gemacht hat. Er verblüfft in diesem autobiographisch geprägten Bekenntniswerk mit inspirierter Melodik und vor allem seiner glühenden Instrumentationskunst. Da gibt es immer wieder bestechende Momente, vom Violinsolo der Eröffnung bis zum triumphal aufgehellten C-Dur-Schluß. Man spürt die Energie, mit der der greise Meister Ende der achtziger Jahre dieses Werk erarbeitet hat.“17

16 Österreichische Musikzeitschrift 48 (1993), Mai, S. 292. 17 Österreichische Musikzeitschrift 50 (1995), September-Oktober, S. 598.

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Hartmut Krones (Wien)

Ähnlich positiv äußerte sich Franz Endler im „Kurier“ vom 21. Juni unter der Überschrift „Der Schlußstein heißt ,Licht über Damaskus‘“: „,Licht über Damaskus‘ erzählt von der Bekehrung des Saulus. Texte aus der Bibel kommentiert Rubin mit Arien-Einschüben aus dem Stundenbuch des Rainer Maria Rilke und einem großen Chor von Christian Friedrich Daniel Schubart. Und schreibt an seinem Lebensabend unverwechselbar und schlicht, wenn man die Summe seiner Lehrer und Freunde grüßen hört, dann heißen die Franz Schmidt, aber auch Paul Hindemith, sogar Richard Strauss. Und selbstverständlich Johann Sebastian Bach, ein Oratorium, das nicht wenigstens in der Haltung diesen Vater unserer Musik ins Spiel bringt, ist undenkbar. Die besondere Erkenntnis aber, die unsereins gewinnen mußte, ist: Ein wacher Musiker, der unser Jahrhundert miterlebt und mitgelitten hat, dem Fortschritt ein künstlerischer wie ein politischer Begriff war, hat in seinem letzten Lebensabschnitt eine eigene, einfache, einprägsame Sprache gefunden und sich nicht geschämt, ein Glaubensbekenntnis an die erweiterte Tonalität abzugeben.“

Am 9. Oktober 1995 spielte das „Ensemble Kontrapunkte“ unter Peter Keuschnig noch einmal Rubins Erfolgsstück „Variationen über ein französisches Revolutionslied“18, danach war in keinem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde mehr ein Werk von Marcel Rubin zu hören. Tot und vergessen.

18 Das Werk entstand 1976 über Auftrag der „Musikalischen Jugend Österreichs“ für deren Zyklus „Musik um Napoleon“ und gelangte am 1. Februar 1977 im Großen Saal des Musikvereins durch das „Neue Wiener Oktett“ zur Uraufführung. Das „Ensemble Kontrapunkte“ spielte es dann am 16. Februar 1987 sowie am 16. Oktober 1989 im Brahmssaal in Gesellschaftskonzerten.

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

Ingrid Fuchs (Wien) Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einems in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Lassen wir den Komponisten zunächst selbst sprechen:1 „In der mehr als 175jährigen Geschichte des Musikvereins zähle ich zu jenen Componisten, die dort die meisten Uraufführungen erlebt haben. […] Ich bin mir bewußt, was der Musikverein in der österreichischen und internationalen Musikgeschichte darstellt und mit wem ich dort die Ehrenmitgliedschaft teile: mit Beethoven und Strawinsky – ich wüßte keine besseren. Und das Gefühl, für den Musikverein zu schreiben, gibt mir ein Gefühl des ‚Zuhause‘. Ich fühle mich daheim in der Klangwelt, die diese beiden schönen Säle so gut wiedergeben, und ich fühle mich daheim, weil dort Menschen regieren, die mir etwas sagen und nicht etwas von mir wollen.“

Besser als mit diesen Worten Gottfried von Einems aus dem Jahr 1995 kann man wohl nicht ausdrücken, wie eng das Verhältnis der Gesellschaft der Musikfreunde zu ihm war – nicht ohne Grund hat der Komponist deren Archiv, Bibliothek und Sammlungen seinen Nachlaß überantwortet, der als Vorlaß teilweise schon zu Lebzeiten übergeben wurde. Von besonderer Bedeutung in Einems oben zitiertem Statement ist jedoch der stolze Hinweis auf die zahlreichen Uraufführungen seiner Werke im Musikverein: Auf den Seiten 232 und 233 des vorliegenden Beitrages findet sich eine Zusammenstellung der Auftragskompositionen für die Gesellschaft der Musikfreunde sowie der in einem von der Gesellschaft veranstalteten Konzert uraufgeführten Werke, geordnet nach OpusZahlen, sodaß Detailinformationen zu den in der Folge nicht in chronologischer Abfolge besprochenen Werken leicht zu finden sind. Insgesamt 17 Werke wurden in von der Gesellschaft der Musikfreunde veranstalteten Konzerten uraufgeführt, darunter fünf Auftragskompositionen, nämlich die „Wiener Symphonie“, op. 49, und die Vierte Symphonie, op. 80, das Zweite und das Dritte Streichquartett, op. 51 und op. 56, sowie die Duette „Prinzessin Traurigkeit oder ein Känguruh im Schnee“, op. 100. Unter den 17 uraufgeführten Werken finden sich drei groß besetzte Orchesterwerke, ein Werk für Streichorchester, vier Streichquartette sowie das Fragment eines Streichtrios, vier Liederzyklen, ein Chorwerk, ein Opus für Klavier und zwei Werke für Solo-

1 Gottfried von Einem, Ich hab’ unendlich viel erlebt. Aufgezeichnet von Manfred A. Schmid, Wien 1995, S. 219f. (In der Folge zitiert als: Einem, Erinnerungen).

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Ingrid Fuchs (Wien)

instrumente ohne Begleitung, d. h., hinsichtlich der Besetzung reicht der Bogen vom großen Orchester bis zum Soloinstrument. Diese Bandbreite der im Musikverein uraufgeführten Werke sollte mit dem von mir gewählten Titel „Von der ‚Wiener Symphonie‘“– einem Orchesterwerk – „bis zu ‚Titbits‘“ – einem Werk für unbegleitetes Soloinstrument – zum Ausdruck gebracht werden. Dieser Titel steht aber auch symbolhaft für die Entwicklung Gottfried von Einems vom brillanten Opern- und Orchesterkomponisten zum kammermusikorientierten Schöpfer in seinem Spätwerk, der mit immer kleiner werdenden Besetzungen das Auslangen fand. Und noch ein weiterer Aspekt soll mit dem Titel angesprochen werden: die „Wiener Symphonie“, op. 49, ist das erste offizielle Auftragswerk der Gesellschaft, das nach einer Voraufführung in den USA im Großen Saal gespielt wurde, während die „Titbits“ für Klarinette solo, op. 98, – „Titbits“ sind übrigens „Leckerbissen“ – als letzte der von der Gesellschaft uraufgeführten Kompositionen erklungen sind, und zwar in einem außerordentlichen Gesellschaftskonzert „In memoriam Gottfried von Einem“ anläßlich seines 80. Geburtstages. Beginnen wir mit den drei groß besetzten Orchesterwerken, dem Violinkonzert, op. 33, und den beiden Symphonien, op. 49 und op. 80. Namentlich das Violinkonzert und die „Wiener Symphonie“ hängen eng mit Gottfried von Einems Erfahrungen seiner 1953 unternommenen überaus erfolgreichen Reise sowie einigen weiteren Aufenthalten in den USA zusammen,2 namentlich hinsichtlich seiner Einstellung zu Auftragskompositionen im allgemeinen. Denn aufgrund der 1953 geschlossenen persönlichen Kontakte konnte Gottfried von Einem in den USA Kompositionsaufträge für insgesamt fünf große Orchesterwerke lukrieren. Bereits 1947 hatte er sich in dem Wiener Jahrbuch „Musik. 1947“ in dem kurzen Artikel „Auftrag, ja oder nein?“ emphatisch für die Vergabe von Auftragswerken durch Kulturinstitutionen ausgesprochen,3 und 1953 war er von den diesbezüglichen Möglichkeiten, die sich den amerikanischen Komponisten im Vergleich zu den europäischen boten, begeistert.4

2 Vgl. dazu Ingrid Fuchs, Gottfried von Einems „Eroberung“ Amerikas, oder: Künstlerfreundschaften als Impulsgeber für die Genese von Instrumentalwerken, in: Gottfried von Einem-Kongreß Wien 1998. Kongreßbericht, hrsg. von Ingrid Fuchs, Tutzing 2003, S. 275–292. 3 Gottfried von Einem, Auftrag, ja oder nein?, in: Musik 1947. Ein Wiener Jahrbuch, Wien 1947, S. 65. 4 Arthur Holde, Aus der Neuen Welt. Gottfried von Einem über seine Amerikareise, in: Rheinischer Merkur, 27. November 1953: „Einen großen Vorteil vor den europäischen Komponisten haben die amerikanischen durch die Fülle von Preisen und Aufträgen, die von Stiftungen, Städten, Konzertinstituten, Universitäten oder Privatpersonen ausgesetzt bzw. erteilt werden.“

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

Mit dieser Frage beschäftigte sich Einem aber auch noch 20 Jahre später: In seinem Vortrag „Komponieren in Europa“, der sich als Typoskript im Nachlaß befindet und den er unter dem Titel „The Composer and Society“ anläßlich seiner zweiten großen Amerikareise im Jahr 1972 in zahlreichen amerikanischen Städten hielt, geht er ausführlich auf das Thema Auftragswerke ein: „Der Auftrag bildet die konkrete Verbindung zwischen dem Komponisten und der Gesellschaft, in der er lebt“5, so seine Überzeugung, die sein diesbezügliches Agieren zeit seines Lebens bestimmte. Aber, „in welcher Form tritt nun die Gesellschaft als Auftraggeber an den Komponisten heran? Hier kann ich aus meiner eigenen Erfahrung vielleicht etwas zur Beleuchtung des Unterschiedes der europäischen und der amerikanischen Situation beitragen. Vier amerikanische Orchester haben mir Aufträge erteilt, die ich erfüllen konnte. […] Während ich in den U.S.A. die Orchester als Auftraggeber kennen und schätzen lernte, waren es in Europa vorwiegend andere Institutionen […].“

Schließlich konkretisiert Einem seine Vorstellungen, wie man einen Kompositionsauftrag bekommt und welche Rolle der Auftraggeber dabei spielt: „Ich stelle mir jedoch die Funktion des Auftrages nicht so vor, daß der Komponist zu warten hätte, bis man an ihn herantritt […]. Wer in der Lage ist, Musik zu bestellen, muß darum keineswegs qualifiziert sein, eine solche Bestellung auch sinnvoll zu formulieren. Es ist Aufgabe des Komponisten, Bestellungen anzuregen, Aufträge zu suggerieren. Ich habe es immer so gehalten. Fast keines meiner Werke ist ohne Bestellung entstanden; und fast immer war die Bestellung und deren endgültige Formulierung meiner präzisen Anregung zu verdanken. Nur der Komponist selbst vermag zu beurteilen, welche Aufgabe ihm gemäß ist.“

Und getreu diesem präzise formulierten Credo sind letztendlich auch alle in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien uraufgeführten Werke entstanden, seien es von ihm initiierte Kompositionsaufträge, die die Gesellschaft der Musikfreunde in der Folge erteilte, seien es Werke, die auf Anregung bzw. Bestellung von Freunden oder Künstlern entstanden und diesen gewidmet sind und im Musikverein uraufgeführt wurden. Kehren wir zum ersten in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien uraufgeführten Werk zurück, dem Violinkonzert, op. 33, dessen Entstehung auf Kontakte zu amerikanischen Künstlern zurückgeht.6 Der weltberühmte Geiger Nathan Milstein hatte sich ein bravouröses und umfangreiches Konzert gewünscht, zu dem bereits 1959 die ersten Ideen aufgetaucht waren, schrieb doch Eugene 5 6

Gottfried von Einem, Komponieren in Europa (The Composer and Society). Typoskript 1972 (EinemNachlaß im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, in der Folge zitiert als: E-N/GdM). Vgl. dazu Fuchs, Gottfried von Einems „Eroberung“ Amerikas (Anm. 2), S. 286.

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Ormandy damals an Einem, daß er die Uraufführung „score unseen“ – auf gut wienerisch „ung’schaut“ – übernehmen würde, sollte sich Milstein bereit erklären, ein neues Konzert zu lernen.7 Obwohl sich der Komponist mit dem Geiger sogar persönlich in Paris traf, um die überaus kapriziösen Wünsche Milsteins zu berücksichtigen, teilte dieser Einem schließlich am 16. November 1967 brieflich mit, daß er nicht mehr die Kraft aufbrächte, dieses neue, lange Werk – übrigens die längste Instrumentalkomposition Einems – einzustudieren.8 Nun kam Gottfried von Einem der Zufall zu Hilfe bzw. das 100-Jahr-Jubiläum des Musikvereinsgebäudes im Jahr 1970: Aus diesem Anlaß wollte die Gesellschaft der Musikfreunde im Rahmen der Wiener Festwochen ursprünglich zehn Auftragswerke uraufführen lassen, die jedoch terminlich zu knapp bei verschiedenen Komponisten beauftragt worden waren, sodaß sich dieser ehrgeizige Plan nicht realisieren ließ. Denn, so formulierte es Helmut A. Fiechtner in der „Furche“: „Sämtliche zeitgenössische Komponisten, die einen internationalen Namen haben, sind mit Aufträgen überlastet und für einige Jahre ‚ausgebucht‘. Es gibt bei ihnen keine fertigen, unaufgeführten Werke in der Lade. Die Nachfrage ist größer als das Angebot: für die Komponisten sicher eine erfreuliche Situation […].“9

Da kam nun das Einemsche Violinkonzert – von Ormandy und Milstein initiiert, aber noch unaufgeführt – gerade recht. Und so schreibt Gerhard Brunner in der „Kronenzeitung“: „Gottfried von Einems Violinkonzert dient dem jubilierenden Musikverein als eine Art Feigenblatt: Splitternackt stünde die altehrwürdige Gesellschaft vor uns, wenn sich der Komponist nicht dazu bereit gefunden hätte, dieses längst fertig gestellte Stück im ‚goldenen‘ Saal uraufführen zu lassen.“10

Die Gesellschaft der Musikfreunde gewährte dem Komponisten für die Uraufführung des Violinkonzertes, das von dem international renommierten Geiger Ruggiero Ricci mit den Wiener Philharmonikern unter Seiji Ozawa aus der Taufe gehoben wurde, ein Honorar von 100.000,- Schilling, ein stolzer Preis für ein „Nicht“-Auftragswerk, sondern eine „bezahlte Uraufführung“, wie es Generalse-

7 8

Brief von Eugene Ormandy an Gottfried von Einem, Philadelphia, 17. April 1959 (E-N/GdM). „I personally don’t think that it will be possible for me to work and prepare your Concerto for this Occasion. I am very tired (I wasn’t well this season) and will not have the strength and the energie [sic] needed to study a new and long work.“ Er erklärt sich allerdings gerne dazu bereit, den Violinpart des Adagio zu begutachten. „I am sure you will have someone that is in better condition to undertake this wonderful task.“ (Brief von Nathan Milstein an Gottfried von Einem, o. O., 29. Februar 1964 [E-N/GdM]). 9 Helmut A. Fiechtner, Der Rest vom Schützenfest, in: Die Furche, 6. Juni 1970. 10 Gerhard Brunner, Feigenblatt, in: Kronen Zeitung, 1. Juni 1970.

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

kretär Rudolf Gamsjäger formulierte.11 Die zahlreichen Kritiken der Uraufführung des Violinkonzerts waren übrigens sehr geteilter Meinung über das Werk, von der Interpretation jedoch insgesamt recht angetan.12 Das zweite Werk in großer Besetzung, das zudem chronologisch als nächstes im Musikverein uraufgeführt wurde und wirklich als Auftragswerk der Gesellschaft komponiert wurde, ist die „Wiener Symphonie“, op. 49 (Abbildung 1). Der damalige Generalsekretär der Gesellschaft, Prof. Albert Moser, gab kurz nach der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft an Gottfried von Einem dezidiert eine ‚Symphonie‘ bei ihm in Auftrag,13 für die der Komponist 115.000,- Schilling erhalten und Moser und seiner Frau Hanny Moser-Steffek gewidmet werden sollte. Gottfried von Einem hat lange gebraucht, bis er sich entschloß, ein Orchesterwerk wirklich ‚Symphonie‘ zu nennen, zu schwer lastete die Tradition dieser Gattung auf ihm – ähnlich wie bei Johannes Brahms.14 So hatte er zunächst für seine Orchesterwerke andere Bezeichnungen gewählt, Phantasienamen, die die dahinter liegenden, latent vorhandenen symphonischen Ambitionen verschleiern sollten. Seine von ihm selbst als ‚erste‘ mitgezählte Symphonie hat den englischen Titel „Philadelphia Symphony“, op. 28, erhalten, vermeidet also den traditionsbelasteten Terminus abermals, erst die „Wiener Symphonie“, op. 49, seine zweite Symphonie, läßt Einem von der Bezeichnung her offenbar als Ziel- und Höhepunkt der diesbezüglichen Entwicklung gelten. Umso wichtiger war es dem Komponisten, daß die Uraufführung gut vonstatten ging und der Dirigent entsprechend vorbereitet war. Und hier kamen Einem wohl abermals seine USA-Verbindungen zugute: Der von ihm gewählte Dirigent Stanislaw Skrowaczewski, Leiter des Minnesota Orchestra in Minneapolis,15 11 Brief von Rudolf Gamsjäger an Gottfried von Einem, Wien, 22. Mai 1970 (E-N/GdM). 12 Vgl. die erwähnten Kritiken in Anm. 9 und 10, sowie F[ritz]W[alden], Zuviel Feuer und zuwenig Wasser, in: Arbeiter-Zeitung, 2. Juni 1970; Franz Endler, Dirigent der Nebenstimmen, in: Die Presse, 2. Juni 1970; -t-k, Zwischen Uraufführung und Raritäten, in: Wiener Zeitung, 2. Juni 1970; Prof. Schmidek, Novität und Repertoirewerk, in: Volksblatt, 2. Juni 1970; Franz Tassié, Sterne erster Größe, in: Express, 2. Juni 1970; Herbert Schneiber, Eine brauchbare Novität, in: Kurier, 2. Juni 1970. 13 Brief von Albert Moser an Gottfried von Einem, [Wien], 19. Februar 1976 (E-N/GdM). 14 Vgl. Ingrid Fuchs, Gottfried von Einem als Symphoniker, in: Die österreichische Symphonie im 20. Jahrhundert (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 5), hrsg. von Hartmut Krones, Wien–Köln–Weimar 2005, S. 167–179, insbes. S. 174. 15 Brief von Stanislaw Skrowaczewski an Gottfried von Einem, Minneapolis, 25. März 1977 (E-N/GdM): „It is me who is so happy to receive the proposition from Mr. Moser to conduct your new symphony in Vienna. I am also grateful to everyone concerned for the permission to do the first performance in Minneapolis before the Vienna date, not only for the special honor of conducting the first performance but also for the technical reasons of having performed a new work (on my ground) before exposing it with a foreign orchestra.“

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Abbildung 1: Gottfried von Einem, „Wiener Symphonie“, Titelblatt mit Widmung und Rück­ seite mit Hinweis auf den „Auftrag“ (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

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studierte die „Wiener Symphonie“ mit seinem Orchester ein16 und dirigierte ebenda die Voraufführung des Werkes, um diese dann in Wien – bereits perfekt einstudiert – mit den Wiener Symphonikern im Großen Saal des Musikvereins zur eigentlichen Uraufführung zu bringen – eine bereits von Brahms praktizierte Form der auswärtigen Vorbereitung für die heiklen Wiener Konzerte. In den Rezensionen wurde, wie auch sonst immer wieder bei Einemschen Werken, penibel aufgezählt, welche historischen Vorbilder man in der „Wiener Symphonie“ heraushören könne, die Originalität und Meisterschaft der Komposition jedoch nie in Abrede gestellt.17 Das konservative Publikum des Zyklus „Große Symphonie“ verließ aber trotzdem, wie man den Kritiken entnehmen kann, in der Pause vor dem im zweiten Teil des Konzerts erklingenden Werk teilweise den Saal. Diese zwiespältige Beurteilung – dem einen Teil der Zuhörer, namentlich den Musikexperten, war es zu traditionsverbunden, dem anderen Teil, den durchschnittlichen Musik-Konsumenten, aber zu modern – war geradezu ein Charakteristikum der Einemschen Musik bzw. deren Rezeption.18 Gottfried von Einem wollte zwar seine „Wiener Symphonie“, wie er es selbst formulierte, als „weiteres Glied in der Kette der auf uns überkommenen Symphonien“19 verstanden wissen, es handelt sich bei diesem Werk aber weniger um eine innovative Weiterführung, als um eine Art höchst eigenständigem Kommentar zu der in Wien von der Klassik bis

16 So wie bei etlichen anderen Werken hat sich auch in diesem Fall beim Einstudieren ein enger Kontakt zwischen Dirigent und Komponist ergeben wie ein im Nachlaß erhaltener Brief belegt, in dem ausführlich eventuelle Problemstellen in der Partitur diskutiert werden (Brief Stanislaw Skrowaczewski an Gottfried von Einem, Minneapolis, 8. November 1977 [E-N/GdM]). 17 Vgl. Friedrich Saathen, Einem-Chronik. Dokumentation und Deutung, Wien–Köln–Graz 1982, S. 333. Vgl. u. a. die folgenden Kritiken: F[ritz W[alden], Formgebundene Musiklandschaft, in: ArbeiterZeitung, 6. Dezember 1977; M[einhard] R[üdenauer], in: Kronen Zeitung, 6. Dezember 1977; G.M., Ratespiel nach Noten, in: Wochenpresse, 10. Dezember 1977; Karl Löbl, Nicht nur Artistik, in: Kurier, 6. Dezember 1977; ghjk [Gerhard Kramer], in: Die Presse, 6. Dezember 1977, Hellmuth Herrmann, Virtuosenglanz und Novität, in: Wiener Zeitung, 6. Dezember 1977. 18 Zu diesem Werk gibt es zudem eine aufschlußreiche Charakterisierung durch den Komponisten Gottfried von Einem selbst: „Das Stück ist viersätzig und tonal angelegt. Contrastierende Themen werden auf mannigfaltige Art durchgeführt, miteinander combiniert und dem unterworfen, was Alban Berg ‚die Themen erleben ihr Schicksal‘ nannte. Ich schrieb die Symphonie im Bewußtsein der besonderen Schwierigkeit der viersätzigen Form und hoffe erreicht zu haben, daß sich meine Interpreten und meine Zuhörer, sind sie Musikliebhaber, nicht langweilen.“ Gottfried von Einem, [Notizen zur Aufführung der „Wiener Symphonie“ am 19./20. Oktober 1982 in Dresden]. Eigenhändiges Ms. (E-N/GdM). 19 [Gottfried von Einem zur „Wiener Symphonie“], zitiert in dem von Horst Göbel verfaßten Beitrag für das Booklet der CD SIG X57-00 (Gottfried von Einem: Symphonische Szenen op. 22, Tanz-Rondo op. 27, Wiener Symphonie op. 49. Philharmonisches Orchester Frankfurt/Oder, Dirigent Nikos Athinäos. Signum Musikedition GmbH, Heidelberg 1994).

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Gustav Mahler entstandenen Symphonik.20 Es ist die bewußte und originelle Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksmitteln der symphonischen Vergangenheit Wiens, die uns allen im Sinne des Malrauxschen „Musée imaginaire“ geläufig sind, was Einem durch den von ihm gewählten Titel „Wiener Symphonie“ zum Ausdruck bringen wollte.

Abbildung 2: Gottfried von Einem, 4. Symphonie, Titelblatt (Archiv der Gesellschaft der ­Musikfreunde in Wien)

Auch das dritte große Orchesterwerk Einems, das von der Gesellschaft der Musikfreunde uraufgeführt wurde, war ein Kompositionsauftrag. Zum 175jährigen Bestand der Gesellschaft wurden Auftragswerke vergeben, darunter auch die Vierte Symphonie, op. 80, Gottfried von Einems (Abbildung 2), die im Jahr 1986 komponiert und zu den Festwochen 1988 von der Ungarischen Nationalphilharmonie unter Lamberto Gardelli uraufgeführt wurde. Zwischen der „Wie-

20 Vgl. hier vor allem Ingrid Fuchs, Gottfried von Einem als Symphoniker (Anm. 14), insbes. S. 174f.

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ner Symphonie“ und der „Vierten Symphonie“ hatte Einem, ebenfalls als Auftragswerk, seine dritte Symphonie, die sogenannte „Münchener Symphonie“, op. 70, geschrieben, die jedoch bezüglich des musikalischen Inhalts mit München genauso wenig zu tun hat wie die „Philadelphia Symphony“ mit Philadelphia, außer, daß es sich jeweils um Auftragswerke für diese Städte handelte – ganz im Gegensatz zur „Wiener Symphonie“, in der es sehr wohl inhaltliche Bezüge gibt.21 Die Vierte Symphonie hebt sich in ihrer Gestaltung von den übrigen Symphonien deutlich ab. Einem kehrt hier wieder zur dreisätzigen Form zurück, folgt aber nicht dem herkömmlichen Schema Schnell / Langsam / Schnell, sondern dreht vermutlich aus programmatischen Überlegungen die Abfolge um. Der erste Satz, ein Adagio ma non tanto, trägt die Widmung „Per Alberto Imbruglia dolente“ (Abbildung 3), d. h., er ist dem tödlich verunglückten Gründer des Scarlatti-Orchesters Neapel zugeeignet, wobei ein aus seinem Namen gebildetes musikalisches Anagramm thematisch zugrunde gelegt ist, eine verschlüsselte Botschaft im Sinne der Tonsymbolik. Dem symmetrischen Aufbau entsprechend ist auch das Finale ein Adagio-Satz, der dem Andenken der von Einem sehr geschätzten, bedeutenden Kelten-Forscherin Martha Sills-Fuchs zugedacht ist, woraus sich die verwendeten mystischen Klänge erklären. Das etwas spröde Werk wurde von Publikum und Kritik nicht wirklich freundlich aufgenommen, es wurde als „seltsam“, „rätselhaft“ und „geheimnisvoll“ bezeichnet – als „Enigma-Symphonie“.22 Immer wieder wurde in den Rezensionen die starke MahlerNähe der Musik hervorgehoben,23 die „von großer ästhetischer Schönheit und Eigenart“ sei, „durchdrungen von dem, was man sicher Altersweisheit nennen könnte“24.

21 Ebenda, S. 176f. 22 Rudolf Klein, Verschlüsselte Botschaft, in: Salzburger Nachrichten, 25. Mai 1988. 23 Walter Dobner, Neues von Einem und Eröd im Musikverein, in: Die Presse, 30. Mai 1988; Gerhard Rosenthaler, Unverbindliche Nettigkeiten, in: Arbeiter-Zeitung, 25. Mai 1988; E[dwin] Baumgartner, Symphonische Mißgeschicke, in: Wiener Zeitung, 25. Mai 1988. 24 Klein, Verschlüsselte Botschaft (Anm. 22). – Einems letztes großes Orchesterwerk, das mit „Fraktale“ betitelte „Concerto philharmonico“ für großes Orchester, op. 94, wurde zwar im Großen Musikvereinssaal am 17. Oktober 1992 uraufgeführt, ist jedoch ein Auftragswerk der Wiener Philharmoniker zu deren 150. Geburtstag und stand auf dem Programm des ersten Abonnementkonzerts der Saison 1992/93.

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Abbildung 3: Gottfried von Einem, 4. Symphonie, Beginn des 1. Satzes mit der Widmung „Per ­A lberto Imbruglia dolente“ (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)

Die zweite große Gruppe der Uraufführungen Gottfried von Einems in der Gesellschaft der Musikfreunde betreffen seine Streichquartette, eine Gattung, der er in seiner ersten, von Orchesterwerken und dem Opernschaffen dominierten Schaffensperiode noch nichts abgewinnen konnte. Gottfried von Einem war bereits 57 Jahre alt, als er 1975 sein erstes Streichquartett komponierte. Nachdem der Komponist 1953 in einem Interview noch lapidar erklärt hatte: „Streichquartett – mag ich ganz und gar nicht“25, bat er später um Streichung dieses Satzes, da ein Komponist dies ja nicht laut aussprechen dürfe – das Streichquartett galt auch im 20. Jahrhundert noch als Olymp der Kompositionskunst. Für Gottfried von Einem stand, wie bereits erwähnt, der soziale bzw. kommunikative Aspekt der von ihm geschaffenen Werke immer im Vordergrund, seine Absicht war es, den Hörer unmittelbar anzusprechen. Vielleicht war auch das einer der 25 Saathen, Einem-Chronik (Anm. 17), S. 329 (dort zitiert nach dem Typoskript des Interviews).

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

Gründe, warum sich der Komponist erst sehr spät dem Streichquartett zuwandte, jener auf eine mehr als 200jährige Geschichte zurückblickende Gattung, die an Komponisten, Interpreten und Zuhörer ganz besondere Ansprüche stellt, die allerdings mit der leichten Verständlichkeit nicht a priori zu vereinbaren sind. Bemerkenswerterweise gehören die Widmungsträger der Einemschen Streichquartette alle zu seinem engen privaten Freundeskreis, von denen er vermutlich ein besonderes Einfühlungsvermögen in seine Musik erwarten durfte. Das Erste Streichquartett Gottfried von Einems trägt die Opuszahl 45 und entstand gleichzeitig an einem Höhe- und Wendepunkt seines Schaffens, ab dem er sich immer mehr der Kammermusik zuwandte, sodaß auch die Uraufführungen im Musikverein ab dem Ende der 1970er und dem Beginn der 1980er Jahre fast ausschließlich klein besetzte Werkgattungen betreffen (die einzige bereits genannte Ausnahme ist die Vierte Symphonie). Ab dem Zweiten Streichquartett, op. 51, das 1978 erstmals erklungen ist, wurden alle weiteren der insgesamt fünf Streichquartette Gottfried von Einems von der Gesellschaft der Musikfreunde uraufgeführt, wobei das zweite und das dritte als Auftragswerke der Gesellschaft entstanden sind. Das Zweite Streichquartett, op. 51, ist Einems Arzt und Freund Felix Mlczoch gewidmet und wurde am 17. Februar 1978 im Rahmen des Zyklus des Küchl-Quartetts uraufgeführt, was der Rezensent der Wiener Zeitung, Norbert Tschulik, als „mutig“26 bezeichnete, zähle dieser Zyklus doch zu den besonders traditionsverbundenen mit vorwiegend konservativem Publikum. Aber, so fügte Tschulik hinzu, Einem schreibe „neue Musik, die wirklich neu wirkt und dennoch der Tradition verbunden ist“, was zu deren Erfolg beitrage, und er bewunderte, „wie ausgezeichnet Einem die Kunst des Streichquartettsatzes beherrscht“. Auch das Dritte Streichquartett, op. 56, ist als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde entstanden, und zwar anläßlich des 60. Geburtstages des mit Einem eng befreundeten Präsidenten der Gesellschaft, Horst Haschek. Die Komposition ist ihm und seiner Frau Gertraud gewidmet, mit der der Komponist in regem privatem Briefwechsel und Gedankenaustausch stand.27 Vor der öffentlichen Uraufführung wurde das Werk im privatem Kreis der dem Komponisten nahe stehenden beiden Widmungsträger gespielt – auch hier denkt man wieder an Johannes Brahms, dessen Kammermusikwerke beispielsweise vor deren er26 Norbert Tschulik, Mut zu einer Uraufführung, in: Wiener Zeitung, 26. Februar 1978. 27 Davon zeugen zahlreiche im E-N/GdM vorhandene handschriftliche Briefe Gertraud Hascheks an den Komponisten.

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Ingrid Fuchs (Wien)

ster öffentlichen Konzertaufführung bei Theodor Billroth musiziert wurden. Die interne Voraufführung und die Uraufführung am 11. Oktober 1981, die laut Kritik vom Publikum viel Zustimmung erhielt,28 spielte das aus Mitgliedern des Berliner Philharmonischen Orchesters bestehende Brandis-Quartett als offizielle Voraufführung des ersten Konzerts des „Kammermusikzyklus“. Das Vierte Streichquartett, op. 63, ist ebenfalls guten Freunden des Komponisten gewidmet, dem Ehepaar Michaela und Heinz Georg von Kamler, und wurde am 23. November 1982 im Brahms-Saal des Musikvereins das erste Mal in der Öffentlichkeit aufgeführt, nachdem es zuvor im privaten Kreis der befreundeten Widmungsträger als Voraufführung zu Gehör gebracht worden war. Das Franz-Schubert-Quartett spielte diese vom Publikum akklamierte Uraufführung umrahmt von Quartetten Franz Schuberts, eine Zusammenstellung, die von der Kritik durchaus gutgeheißen wurde.29 Die Rezensionen der Uraufführung äußern sich auch diesem Werk gegenüber positiv, ja offenbar hatte man die stilistischen Eigenheiten Einems gerade in der schwierigen Gattung Streichquartett zunehmend verstehen und schätzen gelernt. „Das Stück ist viersätzig und in freitonaler Art gesetzt. Es war mein Bestreben, den Spielern wie den Hörern Anregungen zum Empfinden und Denken zu geben. Die kontrapunktische Faktur soll den vier in den Tempi stark abweichenden Sätzen Halt und Kontur geben. Sollten Phantasie mit Humor gemischt erfreuliche Linien und Klänge ergeben, so wäre meine Absicht erfüllt“,

schreibt Gottfried von Einem in der Partitur-Vorrede zu seinem Vierten Streichquartett.30 Auf diese und die früheren ablehnenden Worte Einems Bezug nehmend meinte Franz Endler in der „Presse“: „Er mag Streichquartette jetzt sehr und schreibt sie immer sicherer und klarer und ganz so, daß sie nicht nur den Zweck erfüllen, den er in einem kurzen Vorwort angibt, sondern auch den, den Streichquartette immer schon zu erfüllen hatten.“31 Und so gliedert sich auch das Fünfte Streichquartett, op. 87, uraufgeführt am 23. April 1992 durch das Artis-Quartett im Brahmssaal des Musikvereins, „wür28 Aj-, Aus der guten alten Zeit, in: Kronen Zeitung, 14. Oktober 1991; Fritz Walden, Mit innerem Bezug zu Mahler, in: Arbeiter-Zeitung, 15. Oktober 1881; H.G., Neues Einem-Quartett, in: Volksstimme, 18. Oktober 1981; Peter Mieg, Gottfried von Einems drittes Streichquartett, in: Badener Tagblatt [Aarau, Schweiz], 14. November 1981. 29 Ludwig Flich, Augenblick der Ruhe, in: Kurier, 25. November 1982; Hellmuth Herrmann, Seinem Stil treu geblieben, in: Wiener Zeitung, 25. November 1982; M[einhard] R[üdenauer] in: Kronen Zeitung, 25. November 1982. 30 Partitur im E-N/GdM. 31 f.e. [Franz Endler], Musik für uns alle, in: Die Presse, 25. November 1982.

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

dig der erstaunlichen Reihe der Alters-Streichquartette an“, wie Rudolf Klein in den „Salzburger Nachrichten“ schreibt.32 Das Fünfte Streichquartett war von der Internationalen Schubert-Stiftung und dem Autographensammler Hans Wertitsch in Auftrag gegeben worden. Gottfried von Einem hat hier ähnlich wie in der Vierten Symphonie einen direkten musikalischen Bezug zum Widmungsträger hineinkomponiert, indem er den Themen des zweiten und fünften Satzes die einzelnen Buchstaben des Namens Hans Wertitsch notationsymbolisch zugrunde legte.33 Im dritten Satz findet sich außerdem das Zitat eines SchubertLiedes („Labetrank der Liebe“, D 302), dessen Autograph sich damals im Besitz von Hans Wertitsch befand – eine weitere Hommage an den Auftraggeber und Widmungsempfänger. Wulf Konold spricht in diesem Zusammenhang ganz allgemein vom „Albumblatt“-Charakter der Kammermusikwerke,34 der nicht nur in den Streichquartett-Widmungen, sondern vor allem auch bei Liedern zum Ausdruck kommt, sind doch oft sogar die einzelnen Lieder eines Zyklus unterschiedlichen Personen dediziert – als Beispiele seien die in einem Gesellschaftskonzert uraufgeführten Lieder des Zyklus „Schatten der Rose“, op. 95, genannt, von denen allerdings nur drei hier erstmals, und zwar am 16. Oktober 1991, erklungen sind,35 sowie die „Himmelreichlieder“, op. 106, nach Texten von Lotte Ingrisch, die erst nach Einems Tod im Gedächtniskonzert anläßlich seines 80. Geburtstags am 26. Jänner 1998 zum ersten Mal am Programm standen. Viel früher, nämlich schon am 24. Oktober 1985, wurde der komplette, sieben Lieder umfassende Zyklus „Leb wohl, Frau Welt“, op. 43, nach Texten von Hermann Hesse und mit Widmung an Einems zweite Gattin Lotte Ingrisch uraufgeführt. Marjana Lipovsek bestritt, begleitet von Erik Werba, in einem Konzert des Zyklus „Liederabende“ der Gesellschaft der Musikfreunde diese erste öffentliche Uraufführung des kompletten Lieder-Zyklus, der jedoch einige Jahre zuvor bereits die Interpretation einzelner Lieder bzw. eine Gesamt-Aufführung in privatem Rahmen in der Schweiz vorausgegangen waren, wie aus den im Nachlaß erhaltenen Papieren

32 Rudolf Klein, In der Tradition bestem Sinn, in: Salzburger Nachrichten, 25. April 1992. 33 Hartmut Krones, [Einführung zum Fünften Streichquartett Gottfried von Einems], in: Programm des Konzertes des Artis-Quartetts im Brahmssaal, 23. April 1992. 34 Wulf Konold, Die Streichquartette Gottfried von Einems – Bemerkungen zu Werkgestalt und Gattungstradtion, in: Gottfried von Einem – Ein Komponist unseres Jahrhunderts, hrsg. von Helmuth Hopf und Brunhilde Sonntag, Münster 1989, S. 102. 35 Die Gesamt-Uraufführung fand am 2. November 1992 in Tokio statt (Ikuo Oshima, Akiko Hoshino).

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zu entnehmen ist36 – auch hier also wieder die Vorwegnahme der eigentlichen öffentlichen Uraufführung als private Voraufführung im kleinen Freundeskreis. Auf der Rückseite des maschinschriftlich vervielfältigten Programms für diese Schweizer Voraufführung des Lieder-Zyklus findet sich eine handschriftliche Nachricht Gottfried von Einems, offenbar an den Veranstalter dieses privaten Musikabends: „Ich schreibe Lieder gern, aber selten. Es ist eine Frage der Texte. Und wie bei Menschen, eine Frage der Liebes Fähigkeit.“37 Und in seinen Erinnerungen 1995 meinte er: „Meine Lieblingsgattung ist und bleibt das Lied, nicht die Oper, ergänzt durch meine späte Liebe zur Kammermusik. […] Ein Lied, das ist meine Erfahrung nach über hundert Liedern, ist überaus schwierig zu schreiben, es kommt auf die Konzentration an. Das Lied verlangt nicht weitschweifende Ausführlichkeit, sondern Dichte.“38

Auch das letzte von der Gesellschaft der Musikfreunde in Auftrag gegebene Werk, das dem Intendanten der Gesellschaft Thomas Angyan und dessen Gattin gewidmet ist, gehört eigentlich zur Liedgattung, obwohl es sich um Duette für Mezzosopran und Baßbariton handelt, eine Besetzung, für die es sonst ganz allgemein nur relativ wenig repräsentative Beispiele gibt. „Prinzessin Traurigkeit oder ein Känguruh im Schnee“, op. 100, von der Kritik auch als „Kammeroper fürs Konzertpodium“ bezeichnet, basiert auf Texten von Einems Gattin Lotte Ingrisch und hat die sarkastisch beleuchteten Stationen einer Ehe, laut Untertitel „in allen Farben“, zum Inhalt – wohl mit autobiographischem Hintergrund. Die erste und die letzte Szene sind mit „Einsamkeit“ betitelt, dazwischen liegen „Begegnung“, „Liebe“, „Honigmond“, „Ehe“ und „Scheidung“. Das am 3. Februar 1996, fünf Monate vor dem Tod des Komponisten, in einem außerordentlichen Gesellschaftskonzert uraufgeführte Werk, hervorragend interpretiert von Gabriele Fontana und Peter Weber, wurde in den ausführlichen Rezensionen durchwegs positiv aufgenommen und vom Publikum lebhaft akklamiert.39 Nur noch ein Opus Einems ist zu seinen Lebzeiten uraufgeführt worden, die „Votivlieder“, op. 93, für Frauenchor a cappella nach Texten von Christine Busta, 36 Diverse Programme in der nach Opus-Zahlen geordneten Programmsammlung im E-N/GdM, unter op. 43. 37 Einem, Erinnerungen (Anm. 1), S. 339f. 38 Vervielfältigter, maschinschriftlicher Programmzettel zum 18. Juni 1979, Salon Musarion, Dietion (Schweiz), Programmsammlung E-N/GdM, unter op. 43. 39 Ljubiša Tosič, Einem im Musikverein: Beziehungsalltag, vertont, in: Der Standard, 5. Februar 1996; Walter Dobner, Die Ehe als sarkastisches Szenario, in: Die Presse, 5. Februar 1996; Edwin Baumgartner, Kammeroper fürs Konzertpodium, in: Wiener Zeitung, 6. Februar 1996; Heinz Rögl, Szenen aus einem Eheleben, in: Salzburger Nachrichten, 6. Februar 1996.

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

mit der der Komponist in regem brieflichem Kontakt stand: aus der an ihn gerichteten Korrespondenz hat Einem teils Gedichte, teils Textpassagen vertont, gleichsam als Denkmal einer Freundschaft. Entstanden ist das Werk in Zusammenhang mit einer in Nagano gezeigten Ausstellung über Geschichte und Gegenwart der Gesellschaft der Musikfreunde, die in dieser Stadt eine Patronanz über das dortige Konzerthaus innehat. In einem die Ausstellung flankierenden Konzertprogramm, das von den renommierten Tokyo Ladies Singers bestritten wurde, kamen historisch mit der Gesellschaft in Verbindung stehende Kompositionen zur Aufführung, die durch ein zeitgenössisches Werk ergänzt werden sollten:40 Und so wurde das Ehrenmitglied Gottfried von Einem um ein Werk gebeten, der sich durch die Besetzung tatsächlich inspirieren ließ. Vier der insgesamt neun Lieder wurden in Nagano am 8. April 1990 uraufgeführt, bevor der ganze Zyklus von den Tokyo Ladies Singers unter Tsugio Maeda in Wien am 6. März 1991 im Rahmen der von der Gesellschaft veranstalteten „Haydn-Tage“ im Palais Schwarzenberg zur vollständigen Uraufführung gebracht wurde. Tsugio Maeda, der Widmungsträger der „Votivlieder“, war es auch, der Gottfried von Einem 1992 den Kompositionsauftrag für ein weiteres Werk erteilte, dessen Besetzung er ihm völlig freistellte. Der Komponist entschloß sich nach langem Überlegen schließlich für eine Komposition für Streichorchester, mit der er seinem leiblichen Vater, Graf Laszlo Hunyady, dessen ehemaliges Schloß heute in der Slowakei liegt, ein Denkmal setzen wollte.41 Einem befaßte sich im Zuge der Entstehung dieses Werkes, der „Slowakischen Suite“, op. 107, intensiv mit slowakischer Volksmusik aus der Heimat seiner Vorfahren, studierte Volksliedsammlungen und übernahm daraus etliche Melodien in seine Komposition. Gottfried von Einem war damals bereits körperlich ziemlich angegriffen, und die intensive Beschäftigung mit diesem für ihn inhaltlich so bedeutungsvollen Kompositionssujet setzte ihm ziemlich zu, sodaß ihn die Fertigstellung schließlich sehr erleichtert hat.42 Mit dem Auftraggeber, Widmungsträger und Dirigenten der Uraufführung Tsugio Maeda stand er bis zu seinem Tod in brieflichem Kontakt, die Uraufführung am 7. Oktober 1996 im Musikverein hat Gottfried von Einem jedoch nicht mehr erlebt. Auch hier ist der offiziellen Uraufführung in Absprache mit dem Intendanten Dr. Thomas Angyan eine Voraufführung,

40 Vgl. O[tto] B[iba], in: Programm der Uraufführung, 6. März 1991. 41 Einem hatte bereits sein Opus 59 seinem leiblichen Vater zugedacht: „Hunyady Laszlo – Drei Gaben für Orchester“ wurde 1982 beim Carinthischen Sommer uraufgeführt. 42 Otto Biba, in: Programm der Uraufführung, 7. Oktober 1996.

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Ingrid Fuchs (Wien)

eine Art Generalprobe vor dem Wiener Konzert, vorausgegangen, und zwar am 6. Oktober 1996 in der Slowakei durch das Kammerorchester Zilina. Bei dem außerordentlichen Gesellschaftskonzert im Brahmssaal einen Tag später wurde schließlich neben der „Slowakischen Suite“ im Gedenken an den drei Monate zuvor verstorbenen Komponisten außer Programm dessen letztes Werk, das Fragment eines Streichtrios, uraufgeführt.43 Am 26. Jänner 1998 veranstaltete die Gesellschaft der Musikfreunde ein außerordentliches Gesellschaftskonzert „In memoriam Gottfried von Einem“ anläßlich seines 80. Geburtstages, im Zuge dessen drei weitere, in den letzten Lebensjahren entstandene Werke öffentlich uraufgeführt wurden. „Titbits“ für Klarinette solo, op. 98, stehen in der Reduktion auf ein solistisches Instrument symptomatisch für das Spätwerk des Komponisten. Die Klarinette war Gottfried von Einems erklärtes Lieblingsinstrument, das für ihn, wie er selbst sagte, „ein wenig ironisierend, aber auch sinnlich“ klinge, vor allem aber „von unglaublicher Zartheit sein“ könne.44 Jedenfalls hat er in diesen „Sieben Studien“ die vielfältigen klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten dieses Instruments voll ausgereizt – und eben „Leckerbissen“ für den Klarinettisten, aber auch den Zuhörer geschaffen. Komponiert wurde das Werk bereits sechs Jahre früher und in kleinem, für Kammermusik prädestinierten Rahmen auch mehrmals aufgeführt, bevor es in dem Gedächtniskonzert zur öffentlichen Uraufführung im Konzertsaal kam.45 Als „à propos“ verlassen wir kurz das Einemsche Gedächtniskonzert und wenden uns einer etwas weiter zurückliegenden Uraufführung einer anderen Komposition für ein unbegleitetes Soloinstrument zu, die in einem außerordentlichen Gesellschaftskonzert am 25. November 1988 stattfand. Die „Sonata enigmatica“ für Kontrabaß solo, op. 81, bestehend aus sechs kurzen Sätzen unterschiedlichen Charakters, hat Einem auf Anregung des und für den berühmten Kontrabassisten Ludwig Streicher geschrieben, wobei dieser dem Komponisten zahlreiche Hinweise bezüglich der technischen bzw. klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten gegeben hat. Das eine Mal wurde Einem durch das Instrument selbst, die Klarinette, das andere Mal durch den Interpreten Ludwig Streicher zur Komposition solistischer Kammermusik inspiriert, zu der Einem 1995 in seinen Erinnerungen meinte: „Die Beschränkung auf das Essentielle, sowohl in der Besetzung als auch im musikalischen Bereich, ist für mich eine Frage der Klarheit und Reinheit und 43 Die Uraufführung des fragmentarischen Streichtrios scheint im Programm nicht auf. 44 Einem, Erinnerungen (Anm. 1), S. 334. 45 Otto Biba, in: Programm des Gedächtniskonzerts, 26. Jänner 1998.

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Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

hat gewiß mit dem menschlichen Reifen zu tun. Die Konzentration auf das Wesentliche, auf das absolut Unentbehrliche, und der Verzicht auf alles Überflüssige werden immer wichtiger.“46 In dem „In memoriam Gottfried von Einem“ veranstalteten Konzert wurde noch ein weiteres Spätwerk zur Uraufführung gebracht, die 1995 komponierten „Sieben Portraits“ für Klavier, op. 109. Auch diese zeichnen sich durch den für seinen Altersstil charakteristischen Minimalismus aus und portraitieren sieben bedeutende Persönlichkeiten, die in Einems Leben von großer Wichtigkeit waren und mit ihm in enger Beziehung standen, darunter Boris Blacher, Caspar Neher, Oskar Fritz Schuh, Fritz Wortruba und Carl Zuckmayer: Einem hat seine Erinnerungen an und seine Empfindungen für diese Menschen in diese charakteristischen musikalischen Portraits einfließen lassen. – Die „Himmelreichlieder“, op. 106, nach Texten von Lotte Ingrisch, die in diesem Gedächtnis-Konzert ebenfalls uraufgeführt wurden, sind bereits erwähnt worden: das letzte Lied des von Einsamkeit und der Auseinandersetzung mit Diesseits und Jenseits bzw. mit Leben und Tod geprägten Liederzyklus mit dem Titel „Windherz“ hat Gottfried von Einem im März 1996 niedergeschrieben, vier Monate vor seinem Tod. Es schließt, unbegleitet vom Klavier, mit den Worten: „Es ist so schön zu leben, die Welt ist wunderbar.“ Das Gedächtniskonzert „In memoriam Gottfried von Einem“ wurde in den Wiener Tageszeitungen entsprechend gewürdigt und mit Titeln wie z. B. „Wehmütig-leuchtender Weltenabschied“ oder „Das Porträt eines Großen“ versehen.47 Gottfried von Einem zählte zu Lebzeiten zu den nicht nur lokal, sondern auch international angesehensten, vor allem aber zu den am meisten aufgeführten Komponisten Österreichs. Er hatte jede Menge Kontakte aufgrund seiner diversen Positionen im Kulturleben, sei es als Professor an der Wiener Musikhochschule oder als Präsident der AKM, sei als Mitglied diverser kulturpolitischer Gremien, aber auch viele gute Freunde, und zwar zum Teil in angesehenen Gesellschafts-, zum Teil in Künstler- bzw. Musiker-Kreisen, die es ihm sicher leichter als manchem anderen zeitgenössischen Komponisten Österreichs gemacht haben, seine Werke öffentlich zur Aufführung zu bringen.

46 Einem, Erinnerungen (Anm. 1), S. 346. 47 Walter Dobner, Wehmütig-leuchtender Weltenabschied, in: Die Presse, 28. Jänner 1998; P[eter] J[arolin], Das Porträt eines Großen, in: Kurier, 28. Jänner 1998. Vgl. auch Ljubiša Tosič, Einems Charakterbilder und Brahms als musikalisches Opfer, in: Der Standard, 28. Jänner 1998, sowie Herbert Müller, Gedächtniskonzert für von Einem, in: Wiener Zeitung, 28. Jänner 1998.

231

232 BS BS BS GS BS

17. Februar 1978 11. Oktober 1981 23. November 1982 23. Mai 1988 25. November 1988

Zweites Streichquartett Auftragswerk der GdM

Drittes Streichquartett Auftragswerk der GdM

Viertes Streichquartett

Vierte Symphonie Auftragswerk zum 175jährigen Bestand der GdM

Sonata enigmatica für Kontrabaß solo

56

63

80

81

51

Zyklus Große Symphonie

GS

1./2. Dezember 1977

Ao. Gesellschaftskonzert

Wiener Festwochen

Norbert Brunner

1.Satz: Alberto Imbruglia dolente 3. Satz: Martha Sills-Fuchs

Ungarische Nationalphilharmonie Lamberto Gardelli Ludwig Streicher

Michaela und Heinz ­Georg von Kamler

Gertraud und Horst ­Haschek

Felix Mlczoch

Hanny Moser-Steffek und Albert Moser

Lotte Ingrisch

Gertrud von Bismarck

Widmungsträger

Franz Schubert-­ Quartett

Brandis-Quartett

Voraufführung des 1. Konzertes des Kammermusik-Zyklus „Schubert-Konzerte“ Kulturamt Wien / GdM

Küchl-Quartett

Quartett-Zyklus

Wiener Symphoniker Stanislav Skrowaczewski

[Minnesota Orchestra Stanislav Skrowa­ czewski]

[Voraufführung: Minnesota /Minneapolis (USA)]

Wiener Philharmoniker, Seji Ozawa, ­Ruggiero Ricci

Interpreten

[16. November 1977]

Wiener Symphonie Auftragswerk der GdM

49

BS

Wiener Festwochen

Art des Konzertes

Marjana Lipovsek Erik Werba

24. Oktober 1985

„Leb wohl, Frau Welt“ Liederzykus für mittlere Singstimme und Klavier. Texte: Hermann Hesse

43

GS

Saal

Zyklus Liederabende A

31. Mai 1970

Datum der Uraufführung

Konzert für Violine und Orchester

Werktitel

33

Opus

Auftragskompositionen und Uraufführungen von Werken Gottfried von Einems in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Ingrid Fuchs (Wien)

BS

BS

BS BS BS

16. Oktober 1991

26. Jänner 1998

3. Februar 1996

26. Jänner 1998 7. Oktober 1996 26. Jänner 1998 7. Oktober 1996

Schatten der Rose. Lieder­z yklus für ­mittlere Singstimme und Klavier. Texte: versch. ­Autoren (Teiluraufführung: Nr. 10, 1, 11)

Titbits für Klarinette solo

Prinzessin Traurigkeit oder ein Kängu­ ruh im Schnee. Duette in allen Farben für Mezzosopran, Baßbariton und Klavier; Texte: Lotte Ingrisch Auftragswerk der GdM

Himmelreichlieder für hohe Stimme und Klavier. Texte: Lotte Ingrisch

Slowakische Suite für Streichorchester

Sieben Portraits für Klavier

Streichtrio (Fragment) [außer Programm in memoriam]

95

98

100

106

107

109

posth.

Zyklus Artis-Quartett

Art des Konzertes

BS

BS

Solisten des Kammerorchesters Zilina

Robert Lehrbaumer

Ao. Gesellschaftskonzert [In memoriam Gottfried von Einem zum 80. Geb.] Ao. Gesellschaftskonzert

Kammerorchester ­Zilina, Tsugio Maeda

Ellen van Lier Edda Andrea Graf

Ao. Gesellschaftskonzert [In memoriam Gottfried von Einem zum 80. Geb.] Ao. Gesellschaftskonzert

Gabriele Fontana Peter Weber David Lutz

Gerald Pachinger

Ao. Gesellschaftskonzert [In memoriam Gottfried von Einem zum 80. ­Geburtstag]

Ao. Gesellschaftskonzert

Miwako Matsumoto, Shoko Takeuchi

Tokyo Ladies Singers Tsugio Maeda

Artis-Quartett

Interpreten

Benefizkonzert für das Archiv der GdM

Palais Schwar­ Haydn-Tage 1991 zen­berg

6. März 1991

Votivlieder für Frauenchor a cappella Texte: Christine Busta

93

BS

Saal

23. April 1992

Datum der Uraufführung

Fünftes Streichquartett

Werktitel

87

Opus

Tsugio Maeda

pro Lied unterschiedlicher Widmungsträger

Evi und Thomas ­A ngyan

Magda Strebl

pro Lied unterschiedlicher Widmungsträger

Tsugio Maeda

Hans Wertitsch

Widmungsträger

Von der „Wiener Symphonie“ bis „Titbits“ – Auftragswerke und Uraufführungen Gottfried von Einem

233

Ingrid Fuchs (Wien)

Die Gesellschaft der Musikfreunde, der der Komponist eng verbunden und mit deren Protagonisten er privat befreundet war, verdankt ihm seinen umfangreichen, wertvollen Nachlaß und ermöglichte neben den Kompositionsaufträgen auch zahlreiche Uraufführungen im Musikverein, die zum Renommee des Komponisten wie des Veranstalters beigetragen haben. Lassen wir zum Schluß den damaligen Generalsekretär Albert Moser zu Wort kommen, der Gottfried von Einem zu Jahresbeginn 1976 über die am 15. Dezember erfolgte Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft informiert hat. Er schreibt in einem offiziellen Brief an Gottfried von Einem: „Sie werden […] in die Reihe der Ehrenmitglieder der Gesellschaft aufgenommen […] in Ansehung Ihrer internationalen Bedeutung als österreichischer Komponist, der weltweiten Anerkennung Ihres Schaffens und damit einer wichtigen Repräsentanz österreichischer Musik.“ 48

48 Brief von Albert Moser an Gottfried von Einem, Wien, 10. Jänner 1976 (E-N/GdM).

234

Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen

Hartmut Krones (Wien)1 „Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen“ 200 Jahre Gesellschaft der Musikfreunde in Wien „Freytags, den 27. May 1808“ erschien in den „Vaterländischen Blättern für den österreichischen Kaiserstaat“ ein aus der Feder des Hofkonzipisten (sowie Hobbymusikers und nicht unbegabten Komponisten) Ignaz Mosel stammender Artikel „Uebersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien“, der folgende bedeutungsschwere Zeilen enthielt: „Daß, ungeachtet die Musik hier eine so außerordentlich große Anzahl von Kennern und Freunden, und unter diesen so viele Große, Mächtige und Reiche zählt, dennoch bisher kein öffentliches, bloß dieser Kunst, ihrer Lehre, Ausübung und Vervollkommnung gewidmetes Institut, keine musikalische Akademie, kein Conservatoire, oder wie man es nennen wollte, zu Stande gekommen ist, […] muß jeder Fremde […] mit Verwunderung wahrnehmen, und jeder Eingeborne herzlich bedauern.“

Damit war, erstmals an prominenter Stelle, ausgesprochen, was viele als schwerwiegenden Mangel empfanden, damit wurde aber auch eine Entwicklung eingeleitet, welche die – relativ schnelle – Behebung dieses Übelstandes zur Folge hatte. Und wieder war es Mosel, der knapp drei Jahre später – am 2. Februar 1811 – in demselben Publikationsorgan den nächsten Schritt setzte: ln seiner „Skizze einer musikalischen Bildungsanstalt für die Haupt- und Residenzstadt des österreichischen Kaiserstaates“ legte er nicht nur einen genauen Organisations- und Finanzplan eines solchen Institutes vor, sondern er versuchte darüber hinaus auch, den „Staat“ bzw. seine Repräsentanten bei ihrer Ehre zu nehmen: „Wenn der Staat in unseren Zeiten es auch unter seiner Würde hält, gleich den, als Legislatoren doch immer merkwürdigen [gemeint: des Merkens würdigen] Griechen und Römern, die Musik in unmittelbaren, öffentlichen Schutz zu nehmen, und ihr durch Gesetze Rang und Wirkungskreis vorzuzeichnen; so dürfte es gleichwohl für nicht unwichtig erachtet werden, diese Kunst von Seite der Regierung zu begünstigen, zu befördern, und auszuzeichnen, indem die Behauptung keineswegs übertrieben ist, daß man den Grad der Bildung eines Volkes nach dem Grade beurtheilen könne, in welchem es für die Musik empfänglich ist, und dieselbe kultiviert.“

1

Diese Übersicht über Entstehung und Geschichte der Gesellschaft der Musikfreunde erschien November und Dezember 2012 in den Programmen der „Jubiläums-Konzerte“ der Gesellschaft. Die Zitate sind hier nicht eigens ausgewiesen, da sie weitgehend aus den im Archiv der Gesellschaft befindlichen Akten stammen und ihre Herkunft zumeist den einschlägigen Artikeln dieses Bandes entnommen werden kann. Anderenfalls ist sie im Text selbst angemerkt.

235

Hartmut Krones (Wien)

Der „Staat“ jedoch, der in jenen Kriegsjahren – wie auch allzu oft in Friedenszeiten – die Bereiche Bildung und Kultur nicht zu seinen vordringlichsten Anliegen zählte, tat nichts. So schritten einige kulturbewußte Frauen und Männer aus Adel und Bürgertum zur Selbsthilfe: Die im Februar 1811 gegründete „Gesellschaft der adeligen Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen“ holte die „allerhöchste [kaiserliche] Bewilligung“ ein, um am 29. November und 3. Dezember 1812 in der „k. k. Reitschule am Josephsplatze“ ein „von einer über fünfhundert Mitglieder[n] zählenden Gesellschaft von Kunstfreunden“ ausgeführtes „Monstre-Konzert“ zu veranstalten, dessen „Einnahme zur Unterstützung der dürftigsten Bewohner des Schlachtfeldes von Aspern, und einiger der dürftigsten Abgebrannten in Baaden bestimmt“ war. (In der Schlacht von Aspern vom 21. und 22. Mai 1809 hatte Erzherzog Karl Napoleon besiegt, doch waren über 20.000 österreichische Soldaten gefallen sowie enorme Sachschäden an Häusern und Feldern zurückgeblieben. Und in Baden bei Wien wütete am 26. Juli 1812 ein verheerender Brand; die Stadt wurde danach nach Plänen von Joseph Kornhäusel im Biedermeierstil neu erbaut.) Auf dem Programm jenes Konzertes stand laut dem gedruckten Plakat „Timotheus, oder die Gewalt der Musik. Eine große Cantate in zwey Abtheilungen; gedichtet von Dryden, übersetzt von Rammler [!], in Musik gesetzt von Händl, mit vermehrter Begleitung der Blasinstrumente von W. A. Mozart“.

Neben der Unterstützung der „Dürftigsten“ sollte das Konzert aber noch einem anderen Zweck dienen; Moriz Graf v. Dietrichstein beschrieb ihn in den „Vaterländischen Blättern“ vom 12. Dezember 1812 folgendermaßen: „Schon lange war es der Wunsch aller echten Verehrer der Tonkunst, die hiesigen ausübenden Musikfreunde beyderley Geschlechtes, deren Zahl so groß ist, daß hierin wohl keine Hauptstadt Europa’s sich mit Wien vergleichen kann, zu einem gemeinschaftlichen musikalischen Unternehmen vereinigt zu sehen, und auf solche Art in einem Concerte, das an Größe und Vollendung alles bisher Gehörte überträfe, einen Beweis sowohl von der Ausdehnung, als von dem hohen Grade der Cultur der Tonkunst allhier zu geben. Die Schwierigkeit schien immer nur bisher darin zu liegen: ob Jemand auch gefunden werden möchte, der hinlänglich Vertrauen, Einfluß und ausgebreitete Bekanntschaft besäße, um eine Vereinigung dieser Art mit einer Wahrscheinlichkeit eines glücklichen Erfolges zu versuchen, und einen Zweck ersänne, der geeignet wäre, das Interesse aller dazu Geladenen in gleichem Maße zu erwecken. Der Gesellschaft adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen, welche diese ihre Benennung bereits durch so viele herrliche Resultate bewährt hat, gelang es, diesen bis jetzt nur für einen frommen Wunsch gehaltenen Plan zur wirklichen Ausführung zu bringen, und es konnte kein zuverlässigeres Mittel geben, die edel236

Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen

müthigen Bewohner Wiens für dieses große Unternehmen zu begeistern, als: Hülfe für die leidende Menschheit zur Absicht desselben aufzustellen […].“

Über Vorschlag „des, als Lehrer des Piano=Forte und Verfertiger dieser Instrumente rühmlich bekannten Hrn. [Andreas] Streicher“ wurde dann beschlossen, „das Händel’sche Oratorium: Die Gewalt der Musik aufzuführen“. Und die Vorbereitungen begannen. Federführend waren hier Fanny Freiin von Arnstein, Tochter des Berliner Bankiers Itzig und Gemahlin des schwedischen Generalkonsuls Nathan Adam von Arnstein, sowie Joseph Ferdinand Sonnleithner, Hoftheatersekretär sowie Mitbegründer und Sekretär der „Gesellschaft adeliger Frauen“, die musikalische Oberleitung der Aufführung wurde Ignaz Mosel übertragen. Und weiter Dietrichstein: „Gedruckte Einladungsschreiben ergiengen an die bekanntesten Musikdilettanten, worin sie zugleich ersucht wurden, die ihnen Bewußten, sowohl für den Gesang, als für die Behandlung der verschiedenen Instrumente, der Gesellschaft anzuzeigen, um sonach die Einladungen auch an diese erlassen zu können. In wenig Wochen, man könnte beynahe sagen, binnen wenig Tagen hatten sich einige hundert Damen und Herren mit der edelsten Bereitwilligkeit zum Beytritt erklärt, und die Zahl dieser eifrigen Musikfreunde vermehrte sich unausgesetzt. Hr. Streicher hatte das Einstudieren der Chöre übernommen, und nach einigen Gesangsproben konnte man schon an Proben mit dem Orchester denken.“

Kaiser Franz, dem „das Unternehmen durch den kunstliebenden k. k. Ersten Oberst=Hofmeister Fürsten zu Trauttmansdorf zur Kenntniß gelangt“ war, hatte „die Umstaltung [!] der k. k. Reitbahn, eines der prächtigsten und geräumigsten Gebäude in Europa, zu einem Concert=Saal“ gestattet. „Diese Umstaltung wurde nach der Angabe und unter der Leitung des talentvollen k. k. Hofarchitekten Hrn. Aman in dem äußerst kurzen Zeitraume von fünf Tagen bewerkstelliget, und der Monarch übernahm aus Höchsteigener Bewegung die beträchtlichen Kosten dieser Veränderung.“

Zunächst hatte man für das Konzert den großen Redoutensaal vorgesehen gehabt; „allein, da das Orchester über alle Erwartung zahlreich geworden war, sah man bald ein, daß es die Hälfte des Saales einnehmen, folglich sowohl zu wenig Raum für die Zuhörer übrig bleiben, als auch der Saal für den Effect bey einer so großen Anzahl von Musikern zu beschränkt seyn würde“.

Der Wunsch „des größten Theils der Mitwirkenden“ war es dann, dieses „Concert von Dilettanten auch durch Dilettanten leiten zu machen“, und so „wurde […] die Direction des Orchesters, als erste Violine, dem Großhändler Hrn. [Johann] v. Tost; die Oberleitung des Ganzen aber dem k. k. Hofconcipisten Hrn. 237

Hartmut Krones (Wien)

v. Mosel, angetragen, welche sich mit all der Bereitwilligkeit und dem Eifer wahrer Kunstfreunde dazu verstanden. Hr. Streicher bestimmte sich zu dem Platze am Clavier. Da der Raum für das Orchester, – dessen Anlage schon angefangen war, bevor erstgenannte zwey Musikfreunde die ihnen angebothenen Stellen übernahmen, – der Tiefe nach etwas zu ausgebreitet war, als daß jene Tonkünstler, welche im Hintergrunde ihren Platz einnahmen, den Anführer hinlänglich hätten im Auge haben können; wurde beschlossen, dahin einen Anführers=Gehülfen zu stellen, dessen Geschäft es war, die Partitur nachzulesen, und in den Momenten, wo die Aufführung bey den ihm zunächst befindlichen Instrumenten etwa wanken sollte, das von dem Anführer angegebene Zeitmaß aufzunehmen und einige Tacte hindurch mit anzugeben. Zu dieser Stelle wurde der geschickte Tonsetzer und Clavierlehrer Hr. [Carl] Steinacker gewählt.“

Ein gedruckter „Plan des Orchesters der grossen Cantate: Timotheus, oder Die Gewalt der Musick, von Hændel“ wies für das Gesamtensemble des Konzerts 590 Personen (bzw. Instrumente) aus; allerdings „belief“ sich dann „die Anzahl aller singenden und spielenden Personen bey der General-Probe ungefähr auf 617 und bei der ersten Aufführung auf 630–640“. In dem „Plan“ genannt sind je ein Director, Cembalist, Violinen-Director und Sub-Director, 3 Solo-Sängerinnen, 4 Solo-Sänger, 280 Sängerinnen und Sänger im Chor, je 60 1. und 2. Violinen, 37 Violen, 33 Violoncelli, 21 Contra-Bässe, je 12 Flöten, „Hoboen“, Clarinetten, Waldhörner und „Fagotts“, 2 „Contra-Fagotts“, 9 Posaunen, 12 „Trompetten“, 4 Pauken und eine „Große Trommel“. Ganz vorne postiert waren die Gesangssolisten und der „Cembalist“, dahinter der „Director des Ganzen“ (Mosel, der den Erstgenannten daher den Rücken zukehrte), seitlich von ihm und weiter hinten der Chor, umrahmt von einigen Violoncelli und Kontrabässen, deren weitere auch noch seitlich hinter dem Chor (sowie in der Mitte zwischen diesem) aufgestellt waren. In der Mitte hinter dem Chor folgten einige Blasinstrumente, dahinter Violinen (samt dem „Violinen Director“) und Violen, und hinter diesen dann die restlichen tiefen Streicher, Bläser und Pauken; ganz hinten in der Mitte: „Gran Tamburo“, die große Trommel. In Dietrichsteins Bericht gibt es weitere Angaben über das Orchester: Es „war aus 299 Personen gebildet, worunter ebenfalls sehr viele vom Adel, der größere Theil aber aus allen Ständen, wie auch 82 bezahlte Künstler für die meisten Blase=Instrumente und Contrabässe, für Pauken, u. s. f. gegenwärtig waren.“

Bei den Violinen, Violen und Violoncelli waren die Ausführenden „sämmtlich Dilettanten“, bei den Kontrabässen gab es „9 Dilett.“, bei den Flöten 8, bei den „Hoboen“ 2, bei den Clarinetten 3, bei den Waldhörnern und Fagotten je 2, und bei den Pauken war „1 Dilett.“. Die zunächst von 26. Oktober bis 1. November täglich, dann mehrmals pro Woche abgehaltenen Proben fanden „im neuen 238

Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen

Saale der k. k. Hofburg Abtheilungsweise“ (nach Stimmen getrennt) statt, dann folgten zwei Hauptproben am Aufführungsort. Händels Oratorium wurde somit „nach nur zwey in der k. k. Reitbahn vollständig vorgenommenen Proben am 29. November, Vormittags nach 12 Uhr, in Gegenwart des allerhöchsten Hofes, welchen bey fünf tausend Anwesende mit dreymahligem Vivat empfingen, aufgeführt“. Und Dietrichstein spendete den Ausführenden ein hohes Lob: „Hier ist der Ort, von dem Verdienste der Ausführung dieser Musik und von der durch sie hervorgebrachten Wirkung zu sprechen. Es gehört wohl unstreitig zu den schwersten Aufgaben, eine – wenn gleich aus talentvollen und großentheils ganz vorzüglichen Künstlern gebildete Maße [!] so zu leiten, daß der hohe musikalische Effect gleichsam nur aus Einer Seele hervorströme. Dieß kann nur die vertrauteste Bekanntschaft mit den Geheimnissen der Tonkunst, umfassende Kenntniß der Harmonie und eine feine, durch Erfahrung geleitete, Empfindung bewirken. Hr. v. Mosel, – der uns bereits als Schriftsteller und Tonsetzer schätzbar geworden, – hat als Anführer dieser großen musikalischen Versammlung, die Aufgabe mit tiefer Einsicht, mit Ruhe, Kraft und Sicherheit gelöst, und sein Verdienst bey dieser so glänzenden Gelegenheit vollständig begründet. Hohes Lob gebührt ebenfalls Hrn. v. Tost, als Director des Orchesters. Ausgedehnte musikalische Reisen, gründliche Kenntnisse und große Erfahrung, so wie der richtigste Vortrag als Violinspieler, hatten schon längst diesem ächten Musikfreunde einen ausgezeichneten Platz unter den ersten Künstlern angewiesen. Die theils aus den lieblichsten, theils erschütterndsten Melodien gebildeten Soloparthien, wurden mit all der einer jeden eigenthümlichen Anmuth oder Kraft, so kunstgemäß und characteristisch vorgetragen, daß in Hinsicht der musikalischen Declamation, wie des Gesanges, den verdienstvollen Sängern und Sängerinnen der lauteste Beyfall zu Theil wurde. Die Chöre nennen und ihrer Ausführung erwähnen, heißt: das Verdienst jeder einzeln mitwirkenden Person und des Hrn. Streicher verkünden. Mit einer seltenen Thätigkeit und Sorgfalt hatte er diese Chöre eingelehrt, welche durch den unermüdeten Fleiß und das richtige Gefühl der Singenden einen Effect erreichten, für dessen vollendete Bezeichnung sich kaum ein Ausdruck finden dürfte. Die Genauigkeit, das Feuer, die Zartheit der Behandlung durch ein aus 590 Personen zusammengesetztes Orchester, wurde der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, so wie die Wirkung an Kraft und Rührung einzig genannt werden kann. Man erinnert sich nicht, daß irgend eine musikalische Production einen so ungetheilten Beyfall erhalten, ein so allgemeines Entzücken erweckt hatte.“

Schließlich fand am 3. Dezember auch die Wiederholung des Konzertes „bey einem sehr zahlreichen Zusammenflusse von Zuhörern statt“, so daß sich durch Kartenerlös und Spenden ein Reingewinn von nahezu 26.000 Gulden ergab, der von der „Gesellschaft adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen“ widmungsgemäß den auf dem Plakat genannten „Bedürftigen“ zugeführt wurde. Und Dietrichstein schloß seinen Bericht mit dem Wunsch: „Möchte 239

Hartmut Krones (Wien)

doch von Zeit zu Zeit ein so herrliches, der Hauptstadt eines großen Reiches, der Gesinnung eines hochherzigen Volkes so würdiges Unternehmen, erneuert werden !“ Auch die erste Nummer der 1813 ins Leben gerufenen „Wiener allgemeinen musikalischen Zeitung“ widmete der „Timotheus“-Aufführung eine ausführliche Besprechung, in der u. a. folgendes zu lesen ist: „Unsere Kaiserstadt behauptet seit lange den schönen, wohlverdienten Ruhm, daß die Musik in ihr mit Geist und Liebe gepflegt werde; daß diese Kunst hier eine Heimath finde, wo Kenner und Freunde, mit ächtem Sinn begabt, über ihr Gedeihen wachen, und ihre Meisterwerke am Leben erhalten. Daß dieser Sinn für Musik bei uns in seiner Ausbildung nie stille stehe, oder zurückgehe, davon gibt die glänzende Aufführung des erhabensten Kunstwerkes unseres unsterblichen Händels durch eine Gesellschaft von mehr als 500 Musik=Liebhabern, und die allgemeine Huldigung, welche das entzückte Publikum dem Schöpfer des Alexander=Festes (dieß ist der ursprüngliche Titel der Cantate) bezeigte, den sprechendsten Beweis. Wiens Musik=Freunde haben sich mit dieser Kunst=Produkzion um den Dank von ganz Deutschland verdient gemacht; sie haben eine schwere Schuld abgetragen, indem sie auf die würdigste Art das Andenken eines Mannes feyerten, dessen Ruhm im Vaterlande verhallte, indeß das Ausland durch das ihm in der Halle der Westmünster Abtey zu London errichtete Denkmahl uns tief beschämte. Der versöhnte Schatten des in seinem Leben stets und auch nach dem Tode gekränkten Großmeisters der Tonkunst bemerkt nun wohl gefällig den sich imer mehr veredelnden Kunstsinn seiner vergeltenden deutschen Brüder, und findet in der Beglückung, welche die leidende Menschheit nach dem wohlthätigen Zwecke der Unternehmer (der Gesellschaft der adelichen Damen zur Beförderung des Guten) seinem Kunstgebilde verdanket, einen schöneren Lohn als in den - wenn selbst kolossalen doch immer vergänglichen Monumenten. Händels Compositionen charakterisiren sich durch die Gründlichkeit des Basses, die Basis der Musik, durch die hohe Einfalt, durch die deutliche Sprache der Töne, die menschliche Empfindungen und Leidenschaften mit Innigkeit und Wahrheit ausspricht, die es verschmäht einzelne Worte, wohl gar gefühllose Gegenstände zu mahlen, sondern das Ganze als Ausdruck des Gefühls behandelt, und dieses Gefühl mahlt. Dieser Geist seiner Compositionen leuchtet aus allen seinen Oratorien, dem Messias, Judas Machabeus u. a. deutlich hervor; er zeigt sich in seiner ganzen liebenswürdigen Größe im Timotheus. Alles ist hier vortrefflich. Welche Innigkeit des Ausdrucks liegt in allen Arien ! Wer wird nicht im Innersten ergriffen von dem Trauerton in der Arie: Töne sanft du lyrisch Brautlied etc. etc. […]. Ein kalter Schauer durchbebt jeden bei dem Ausruf. Ha ! welche bleiche Schaar etc. etc. Seine Chöre sind unübertrefflich, die Kraft, die Ausführung bei dem oft so einfachen Thema unbegreiflich. Mozart, Haydn, Beethofen, Cherubini, alle diese Männer durchdachten seine Werke, und schöpften Kraft und Leben aus ihnen. Ersterer instrumentirte alle hier genannten Werk [sic] Händls, das heißt, er vermehrte die Instrumentirung, in welche nach der Original Partitur nur einige Blas=Instrumente aufgenommen wurden, mit der vollständigen Harmonie. Er bewies in der Vollführung dieses schwierigen Unternehmens, welches eine besondere Vertrautheit mit dem Geiste der Composition voraussetzt, ein eben so seltenes kühnes Genie, als seine eigenen Werke 240

Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen

durchaus verrathen. Sein Satz ist nicht simpler Ripien, zur Verstärkung des Effektes; er verstand es, seine eigenen Ideen mit dem Original so kunstreich zu verbinden, daß die Einheit der Composition nicht einen Augenblick gestört wird. Seiner vortrefflichen Bearbeitung verdankt besonders der erste Chor in der zweiten Abtheilung: Brich die Bande seines Schlummers etc. etc. den erschütternden Eindruck, welchen er auf die Gemüther allgemein bewirkte. Der hohe Grad von Vollendung, welchen jeder Unpartheische der Ausführung dieses Kunstwerkes von einem Vereine von 590 Tonkünstlern (worunter 509 Dilettanten und nur 81 Musiker von Profession gezählt, und wovon letztere meist nur zur vollständigen Besetzung der Blas=Instrumente verwendet wurden) zugesteht, ist beispiellos in der Kunstgeschichte […].“

Das Konzert, das demnach „von einem Vereine von 590 Tonkünstlern“ bzw. von einer „Gesellschaft von mehr als 500 Musik=Liebhabern“ realisiert wurde, war gemäß einer eigens gedruckten „Nachricht über die erste Aufführung des großen Oratoriums Die Gewalt der Musik von Haendl […]“ auch „erste Veranlassung zur Gründung des Vereins“, also der späteren „Gesellschaft der Musikfreunde“. Denn „wenige Tage vor der zweiten Aufführung“, also durch den exorbitanten Erfolg der Premiere ermutigt, „ergriff“ – laut einem rückblickenden Bericht aus dem Jahre 1829 – „Herrn Joseph Sonnleithner der Gedanke, daß die allgemeine Begeisterung, welche das classische Werk Händels erweckt hatte, hoffen lasse, einen lang genährten Wunsch in die Wirklichkeit zu rufen, diese große Zahl von Musikfreunden fest zu halten, und zu einer bleibenden Gesellschaft zu verbinden, welche die Beförderung der Musik in allen Zweigen und die Gründung eines Conservatoriums der Musik zum Zwecke hätte“.

Sonnleithner hatte Mosels Aufsätze sicher gelesen, und zudem ist eine diesbezügliche Unterredung zwischen Organisator und Aufführungsleiter höchstwahrscheinlich. Sehr schnell wurde nun ein – wohl schon vorbereiteter, 45 Paragraphen umfassender – „Vorschlag zur Organisierung des Dilettantenvereines“ gedruckt und am 3. Dezember an alle Mitwirkenden mit der Aufforderung verteilt, sich im Falle ihres Interesses binnen zweier Wochen in eine im Palais Lobkowitz aufliegende Liste einzutragen. So kamen 507 Beitrittserklärungen zustande, worauf man den Verein ins Leben rief und von Kaiser Franz I. von Österreich (der als Franz II. noch bis 1806 auch Kaiser des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation gewesen war) bereits am 22. Jänner 1813 genehmigt erhielt (endgültig rechtskräftig wurde der Verein erst durch die Sanktionierung der Statuten am 30. Juni 1814). Mittels einer zirkulierenden Wahlliste wurden dann fünfzig „Bevollmächtigte“ eingesetzt, die sich am 15. März 1813 zu einer ersten Versamm241

Hartmut Krones (Wien)

lung einfanden. Hier hielt Sonnleithner einen programmatischen, Aufgabe und Zweck der Vereinigung meisterhaft umreißenden Vortrag, der die in zahlreichen weiteren Sitzungen entworfenen Statuten auf das nachdrücklichste prägte. Und hier fiel auch der denkwürdige Satz, der die nächsten Jahre der „Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates“ (welcher Name am 28. März vom 12 Mann umfassenden „engeren Ausschuß“ beschlossen wurde) so nachhaltig bestimmen sollte: „Welcher Kunstfreund würde sich nicht bey jedem dieser einzelnen Zwecke des geschlossenen Bundes freuen, und davon Vortheile für die Kunst erwarten, wenn auch die Errichtung eines Conservatoriums der schönste und wichtigste Zweck von allen seyn sollte.“

Damals lag auch bereits ein erster Statuten-Entwurf eines am 25. März gegründeten Komitees vor, dem unter anderem Antonio Salieri angehörte; in ihm waren die Aufgaben des Vereines folgendermaßen umrissen (welche Sätze dann auch in die 1814 beschlossenen ersten Statuten der Gesellschaft einflossen): „Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen ist der Hauptzweck der Gesellschaft; der Selbstbetrieb und Selbstgenuß derselben sind nur untergeordnete Zwecke. Um den Hauptzweck zu erreichen, wird sie Erstens: Ein Conservatorium errichten, in welchem Zöglinge beyderley Geschlechtes aus den gesammten k. k. österreichischen Staaten im Gesang, in der Declamation, auf Instrumenten, im praktischen Generalbaß, im Tonsatze, in Sprachen, und andern Nebengegenständen gebildet werden sollen. Zweytens: Wird sie die vorhandenen classischen Werke zur Aufführung bringen, theils, um dadurch den musikalischen Geschmack überhaupt zu erheben und zu veredeln, theils um durch die Anhörung derselben aufkeimende Talente zu begeistern, und zu dem Bestreben zu erwecken, sich auch zu classischen Tonsetzern zu bilden, wozu die Gesellschaft durch Aufmunterungen und Belohnungen nach ihren Kräften beytragen wird. Drittens: Wird sie Preisfragen über Gegenstände, welche unmittelbar auf die Musik Bezug haben, aussetzen. Viertens: Wird sie eine belehrende musikalische Zeitschrift, in zwanglosen Heften, unter dem Titel: Annalen der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates, veranstalten […]. Fünftens: Wird die Gesellschaft eine musikalische Bibliothek anlegen, welche in der Folge zum öffentlichen Gebrauche eröffnet werden soll. Sechstens: Will sie auch nach ihren jedesmahligen Kräften, und unbeschadet ihrer übrigen Zwecke ganz besonders ausgezeichnete Kunsttalente unterstützen, und eben so Privatanstalten, welche die Musik wesentlich befördern.“

Diese selbstgestellten Aufgaben wurden nun sukzessive in die Tat umgesetzt. Zunächst brachte man am 11. und 14. November 1813 erneut „Timotheus, oder 242

Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen

die Gewalt der Musik“ zu Gehör, wobei man – laut der „Wiener allgemeinen musikalischen Zeitung“ – „den Ertrag der ersten Darstellung (am 11. November) zur Unterstützung der, in dem gegenwärtigen heiligen Kriege verwundeten tapfern Verteidigern des Vaterlandes, und den der zweiten (am 14. Nov.) zur Vertheilung an die zurückgelassenen Familien der ins Feld gezogenen Landtwehrs=Männer bestimmte“.

Den im Oktober gedruckten Aufruf, „bey einer Wiederhohlung der großen Händel’schen Cantate: Alexanders Fest, […] mitzuwirken“, hatten „Moriz Graf v. Fries“, „Moriz Graf v. Dietrichstein“, „Ignaz Mosel“ und „Joseph Sonnleithner“ unterschrieben. Diesmal waren 704 Ausführende versammelt, die Choreinstudierung hatte Hofkapellmeister Salieri besorgt, und „der k. k. Hofkonzipist v. Mosel leitete das Ganze mit rühmlichst erprobter Einsicht und unermüdetem Eifer. Der Hr. Großhändler Tost dirigirte an der ersten Violine. […] Eine ausgezeichnete Erwähnung verdient das besonders zweckmäßige neue Arrangement des Orchesters, welches das richtige Zusammenwirken den Mitgliedern nicht wenig erleichterte. Der Verein verdankt dieses größtentheils dem erfahrnen Rathe des […] Hofkapellmeisters Salieri, der sein Verdienst um dieses Unternehmen noch dadurch vermehrt hat, daß er dem Vereine eine von ihm komponirte partriotische Cantate übergab, welche, nach der, um einige Gesangstücke verkürzten Cantate Händels, abgesungen wurde.“

Am 16. Oktober 1814 brachte die „Gesellschaft der Musikfreunde“ anläßlich des in Wien tagenden „Fürsten=Congresses“ (der die nach den Napoleonischen Kriegen notwendige Neuordnung Europas vornahm) unter Mosels Leitung Händels Oratorium „Samson“ zur Aufführung. Damals „geruhte“ auch „Se. kais. Hoheit Erzherzog Rudolph“ (der auch zum Förderer Beethovens wurde) „das Protectorat der Gesellschaft“ anzunehmen. Und im selben Jahr bat man öffentlich um Beiträge „zur Anlegung eines Archivs und einer Bibliothek“, zudem schloß man 1815 mit dem deutschen Bibliographen Ernst Ludwig Gerber einen Vertrag ab, „demzufolge derselbe der Gesellschaft nach seinem Ableben seine Bibliothek sicherte“. Weitere Ankäufe folgten ebenso wie Geschenke und Nachlässe, zu deren wichtigsten (neben vielen weiteren) inzwischen die von Erzherzog Rudolph und Johannes Brahms geerbten Bestände zählen. Ein 1824 getätigter Ankauf der Musikinstrumentensammlung des Linzer Domkapellmeisters Franz Glöggl begründete gemeinsam mit Geschenken verschiedener Freunde zudem jenen Zweig der „Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde“, der ebenso wie die Bibliothek regelmäßig Erweiterungen erfuhr und heute weltweit zu den berühmtesten seiner Art zählt. 243

Hartmut Krones (Wien)

Inzwischen war – neben einer Benefizvorstellung des Händelschen „Messias“ im April 1815 – am 3. Dezember 1815 im kleinen Redoutensaal das erste „Gesellschafts=Concert“ abgehalten worden, das, wie damals üblich, eine bunte Folge verschiedenster Kompositionen versammelte: eine Symphonie (von Mozart), eine Arie (Righini), ein Rondo für Klavier und Orchester (Hummel), einen Chor (Händel), eine Ouverture (Cherubini) und ein Opernfinale (Salieri). Vinzenz Hauschka (der am 29. November 1812 die Violoncello-Gruppe angeführt hatte) dirigierte und leitete auch in den nächsten Jahren (bis 1827) viele Konzerte (zumeist im großen Redoutensaal), deren bis 1860/61 vier pro Jahr stattfanden, ehe eine sukzessive Aufstockung erfolgte. Weitere Dirigenten dieser frühen Jahre waren u. a. Leopold Sonnleithner, Eduard von Lannoy, Franz Kirchlehner und Johann Baptist Schmiedel, der dann 1838–1848 als „offizieller“ Dirigent der Gesellschaftskonzerte fungierte. 1843/44 vertrat ihn kurz Georg Hellmesberger, 1850 folgte Josef Hellmesberger, 1859 Johann Herbeck, 1870/71 wieder Josef Hellmesberger, 1871/72 Anton Rubinstein, und 1872–1875 nahm Johannes Brahms diese Position ein, dem sich dann wieder Johann Herbeck (1875–1877) und Hellmesberger (1877/78) anschlossen, ehe Eduard Kremser (1878–1880) die Stelle antrat. Nach ihm wechselten einander Wilhelm Gericke (1880–1884, 1890–1895) und Hans Richter (1884–1890) ab, denen schließlich prominente Pultstars wie Richard von Perger (1895–1900), Ferdinand Löwe (1900–1904), Franz Schalk (1904–1921), Wilhelm Furtwängler und Leopold Reichwein (beide 1921–1927, ab 1925 gemeinsam mit Robert Heger), Robert Heger (bis 1933) und schließlich Herbert von Karajan (1950–1964) folgten, ehe dieses „Amt“ abgeschafft wurde. Als Orchester fungierten in den frühen Jahren neben jenem erwähnten Gemisch aus Berufsmusikern und Dilettanten in den 1850er Jahren die Wiener Philharmoniker, bis Johann Herbeck 1859 ein eigenes Gesellschaftsorchester gründete, dem schließlich 1900 der „Wiener Concert=Verein“ folgte, ein Vorläufer der Wiener Symphoniker. Bereits 1858 war der „Singverein“ der Gesellschaft ins Leben gerufen worden, der bald zur Weltspitze der Amateur-Chöre aufstieg und sich bis heute dort gehalten hat. – Die Konzerte der Vereinigung fanden ab 1831 in dem von der Gesellschaft 1829 erworbenen Haus „Zum rothen Igel“ (Tuchlauben 12) statt (dessen Saal 700 Personen faßte), ab Anfang 1870 waren sie in jenem am 5. Jänner von Kaiser Franz Joseph eröffneten Haus beheimatet, das bis heute die Gesellschaft (und mit ihr den berühmten „Goldenen Saal“) beherbergt. An jenem schon genannten 25. März 1813 wurde auch ein drei Personen umfassendes Gremium eingesetzt, das einen Entwurf zu einem „Conservatorium“ 244

Die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen

erarbeiten sollte, das man als „den schönsten und wichtigsten Zweck“ von allen Vorhaben des „geschlossenen Bundes“ ansah: Ignaz Mosel, Antonio Salieri und der Großhändler Johann Tost legten die Statuten bereits am 22. April vor, die alle „Lehrgegenstände“ aufzählten und dabei sowohl künstlerische Hauptfächer als auch musiktheoretische Disziplinen sowie „Tanzkunst, in so ferne sie zur guten und anständigen Haltung und Bewegung des Körpers nöthig ist“, berücksichtigten. Schließlich sollten die allgemeinbildenden Gegenstände unterrichtet werden, um die Zöglinge „bloß allein“ im Conservatorium auszubilden (was jedoch nicht zustandekam): Religion, Deutsch, Ortographie, Rechnen, Geschichte, Geographie sowie „die lateinische Sprache mit Einschluß der Rhetorik und Poesie“. Und als wichtiges inhaltliches Grund-Prinzip des Ausbildung wurde genannt: „Von der Erlernung des Gesanges kann kein Zögling ausgenommen werden, da der Gesang die Grundlage der Musik ist.“

Daß sich die Gründung des Konservatoriums bis in den Sommer 1817 hinzog, hatte ausschließlich administrative und finanzielle Gründe. Am 4. August 1817 aber begann der Unterricht in der von Raphael Georg Kiesewetter geleiteten „Singschule“, für die Antonio Salieri bereits 1815 seine „Scuola di Canto“ verfaßt hatte (die dann aber nicht primär zum Einsatz kam); die Zöglinge traten regelmäßig bei Schüler-Produktionen, aber fallweise auch in den großen Gesellschaftskonzerten auf. Ab 1819 gab es eine Violin-Klasse (Joseph Böhm), 1820 folgten das Violoncello sowie Klavierbegleitung und Generalbaß, 1821 Klarinette, Horn, Oboe und Fagott, 1826 Kontrabaß und Posaune, 1827 Trompete. Durch die große Erweiterung des Angebotes gab es aber bald finanzielle Probleme, und das Revolutionsjahr 1848 führte sogar zur Schließung, die erst 1851 durch Subventionen von Stadt und Staat rückgängig gemacht werden konnte. Der nun folgende Ausbau führte dann zu Klassen für Klavier (u. a. Julius Epstein), Harfe, Orgel und Tonsatz (Simon Sechter, Anton Bruckner) sowie zu Unterricht in Chor und Musikgeschichte. 1870 wurde die Opernschule etabliert, 1874 die Schauspielschule, ab 1896 gab es Lehrerbildungskurse, und auch die Lehrpläne erfuhren Erweiterungen, bis erneute finanzielle Probleme zur Verstaatlichung der Anstalt führten; sie trat mit 1. Jänner 1909 in Kraft und änderte den Namen der Lehranstalt in „Akademie für Musik und darstellende Kunst“, aus der – nach zwischenzeitlichen Umbenennungen – 1970 die „Hochschule“ sowie 1998 die „Universität für Musik und darstellende Kunst“ erwuchs, die 2012 (zum Teil) ebenfalls ihre 200-Jahr-Feier abhielt, diese aber primär ins Jahr 2017 verlegte, da 245

Hartmut Krones (Wien)

sie weniger den Zeitpunkt des Gründungsvorhabens als Maßstab nahm, sondern die tatsächliche Eröffnung des „Conservatoriums“ im August 1817. Die in den Statuten der Gesellschaft ebenfalls geplante „belehrende musikalische Zeitschrift“ wurde dann 1829 (als „Monatsberichte“ der Gesellschaft) ins Leben gerufen, allerdings nach zwei Jahren wieder eingestellt, da sie auf kein genügendes Interesse stieß. Ab 1988 gibt es aber wieder eine Monatszeitschrift des Hauses („Musikfreunde“), die (als einzige Zeitschrift für das aktuelle Konzertleben) mit einer monatlichen Auflage von 30.000 Exemplaren erscheint; sie wurde sowohl 2005, 2007 und 2009 beim Wettbewerb „Best of Corporate Publishing“ als auch 2010 und 2011 beim „International Corporate Media Award“ mit Preisen („Awards of Excellence“) ausgezeichnet. – Die Unterstützung von „ganz besonders ausgezeichneten Kunsttalenten“ fand jedoch regelmäßig durch zahlreiche Stipendien für Zöglinge des Konservatoriums statt, und auch fallweise ausgeschriebene Wettbewerbe galten der Förderung des Nachwuchses. Zudem beherbergt die Gesellschaft der Musikfreunde – und dies seit etlichen Jahren in vermehrtem Maße – nicht nur arrivierte Stars aus aller Welt in ihren Sälen, sondern gibt nach wie vor „ganz besonders ausgezeichneten Kunsttalenten“ die Möglichkeit zu ersten prominenten Auftritten. – Und als besondere Aktivität hervorgehoben werden muß noch, daß die Gesellschaft der Musikfreunde sowohl den Alexander-Zemlinsky-Fonds (1989) als auch den Egon-Wellesz-Fonds (1998) errichtet hat, welche Vereinigungen der Propagierung und Verbreitung des reichen Schaffens dieser beiden bedeutenden Österreicher gewidmet sind, die 1938 in die Emigration gezwungen wurden. Konzerte mit stilistisch breit gestreuten Programmen, Abende mit speziellen Ausrichtungen („Alte Musik“, „Klassik“, „Moderne“ oder auch alternative bzw. experimentelle Kunstformen), Wettbewerbe, Nachwuchsförderung, Bibliothek, Archiv, Sammlungen, eine Zeitschrift usw. – die Ziele der Gründungsväter wurden weitestgehend erreicht, zum Teil sogar weit übertroffen. Und so hat die selbstgewählte, ebenso universelle wie visionäre Aufgabenstellung, der „Hauptzweck“ der Gesellschaft sei „die Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen“, auch nach 200 Jahren seine Geltung unvermindert bewahrt.

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WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS HERAUSGEGEBEN VON HARTMUT KRONES

EINE AUSWAHL BD. 1 | HARTMUT KRONES (HG.) ALTE MUSIK UND MUSIKPÄDAGOGIK 1997. 328 S. BR. | ZAHLR. ABB. U. NOTENBSP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-98821-2 BD. 3 | RICHARD BÖHM SYMBOLIK UND RHETORIK IM LIEDSCHAFFEN VON FRANZ SCHUBERT 2007. 495 S. GB. | MIT ZAHLR. NOTENBSP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77500-3 BD. 4 | REINHOLD KUBIK (HG.) MUSIKINSTRUMENTE UND MUSIZIERPRAXIS ZUR ZEIT GUSTAV MAHLERS 2007. 356 S. GB. | ZAHLR. NOTENBEISP., 1 CD 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-**0-3 BD. 5 | RUDOLPH ANGERMÜLLER WENZEL MÜLLER UND „SEIN“ LEOPOLDSTÄDTER THEATER 2010. 301 S. GB. | MIT ZAHLR. TABELLEN 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78448-7 BD. 6 | LIANE SPEIDEL FRANZ SCHUBERT – EIN OPERNKOMPONIST ? AM BEISPIEL DES „FIERRABRAS“ 2012. 371 S. GB. | MIT ZAHLR. NOTENBEISP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78696-2 BD. 7 | ELISABETH HAAS EINÜBUNG IN ÄSTHETISCHE RÄUME. ZU WEBERNS KINDERSTÜCK, KURTÁGS JÁTÉKOK UND LACHENMANNS KINDERSPIEL 2011. 228 S. GB. | MIT ZAHLR. NOTENBEISP. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78697-9 SONDERBD. 1 | HARTMUT KRONES (HG.) ALEXANDER ZEMLINSKY ÄSTHETIK, STIL UND UMFELD 1995. 356 S. GB. | ZAHLR. ABB. U. NOTENBSP. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-98380-4

SONDERBD. 2 | HARTMUT KRONES (HG.) ANTON WEBERN – PERSÖNLICHKEIT ZWISCHEN KUNST UND POLITIK 1999. 256 S. GB. | ZAHLREICHE ABB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-99072-7 SONDERBD. 3 | PRIMOŽ KURET MAHLER IN LAIBACH. LJUBLJANA 1881–1882 (ÜBERSETZUNG A. D. SLOWEN.: E. SEITZ) 2001. 111 S. GB. | ZAHLR. ABBILDUNGEN 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-99386-5 SONDERBD. 4 | HARTMUT KRONES (HG.) JEAN SIBELIUS UND WIEN 2003. 176 S. GB. | ZAHLR. NOTENBEISP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77141-8 SONDERBD. 5 | HARTMUT KRONES (HG.) DIE ÖSTERREICHISCHE SYMPHONIE IM 20. JAHRHUNDERT 2005. 224 S. GB. | ZAHLR. NOTENBEISP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77207-1 SONDERBD. 6 | A. TEIBLER-VONDRAK SILVESTRE REVUELTAS – MUSIK FÜR BÜHNE UND FILM 2011. 380 S. GB. | ZAHLR. ABB. U. NOTENBSP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78767-9 SONDERBD. 7 | JIŘI VYSLOUŽIL MUSIKGESCHICHTE MÄHRENS UND MÄHRISCH-SCHLESIENS VOM ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS BIS ZUM JAHR 1945 2013. 296 S. GB. | ZAHLR. ABB. U. NOTENBSP. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-79528-5

Böhlau Verlag, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien, T: + 43 1 330 24 27 [email protected], www.boehlau-verlag.com | Wien Köln Weimar

SCHRIFTEN DES WISSENSCHAFTSZENTRUMS ARNOLD SCHÖNBERG HERAUSGEGEBEN VON HARTMUT KRONES

BD. 1 | HARTMUT KRONES (HG.) GEÄCHTET, VERBOTEN UND VERTRIEBEN ÖSTERR. MUSIKER 1934 – 1938 – 1945 2013. 608 S. GB. | ZAHLREICHE ABBILDUNGEN UND NOTENBEISPIELE 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77419-8 BD. 2 | THOMAS BREZINKA ERWIN STEIN EIN MUSIKER IN WIEN UND LONDON 2005. 260 S. GB. | ZAHLR. ABBILDUNGEN 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77384-9 BD. 3 | HARTMUT KRONES (HG.) ARNOLD SCHÖNBERG IN SEINEN SCHRIFTEN VERZEICHNIS – FRAGEN – EDITORISCHES 2011. 620 S. GB. | ZAHLREICHE ABBILDUNGEN, GRAPHIKEN UND TABELLEN 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78331-2 BD. 4 | HARTMUT KRONES (HG.) AN: KARL STEINER, SHANGHAI BRIEFE INS EXIL AN EINEN PIANISTEN DER WIENER SCHULE 2013. 504 S. GB. | ZAHLR. ABB U. FARBTAFELN 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78361-9 BD. 5 | PETER WESSEL IM SCHATTEN SCHÖNBERGS ZUM PROBLEM DER ORIGINALITÄT UND MODERNITÄT BEI ALEXANDER ZEMLINSKY 2009. 392 S. GB. ZAHLR. NOTENBEISPIELE 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78479-1 BD. 6 | HARTMUT KRONES (HG.) HANNS EISLER – EIN KOMPONIST OHNE HEIMAT ? 2012. 486 S. GB. | ZAHLR. ABBILDUNGEN, TABELLEN UND NOTENBEISPIELE; MIT DVD UND CD 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77503-4

BD. 7 | HARTMUT KRONES / CHRISTIAN MEYER (HG.) MOZART UND SCHÖNBERG WIENER KLASSIK UND WIENER SCHULE 2012. 329 S. GB. | ZAHLREICHE ABBILDUNGEN UND NOTENBEISPIELE 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78695-5 BAND 8 HARTMUT KRONES / THERESE MUXENEDER (HG.) LUIGI DALLAPICCOLA, DIE WIENER SCHULE UND WIEN 2013. 256 S. GB. | ZAHLREICHE NOTENBEISPIELE UND ABBILDUNGEN 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78822-5 BD. 9 | ULRICH WILKER „DAS SCHÖNSTE IST SCHEUSSLICH“ ALEXANDER ZEMLINSKYS OPERNEINAKTER „DER ZWERG“ 2014. 248 S. GB. | ZAHLR. NOTENBEISPIELE 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-79551-3

WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS SONDERBÄNDE „SYMPOSIEN ZU WIEN MODERN“ (HRSG. VON HARTMUT KRONES)

1: STIMME UND WORT IN DER MUSIK DES 20. JAHRHUNDERTS (2001) 2: STRUKTUR UND FREIHEIT IN DER MUSIK DES 20. JAHRHUNDERTS. ZUM WEITERWIRKEN DER WIENER SCHULE (2002) 3: BÜHNE, FILM, RAUM UND ZEIT IN DER MUSIK DES 20. JAHRHUNDERTS (2003) 4: MULTIKULTURELLE UND INTERNATIONALE KONZEPTE IN DER NEUEN MUSIK (2008)

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