150 Jahre Universitätspsychiatrie in Göttingen: Beiträge zum Jubiläumssymposium [1 ed.] 9783737009010, 9783847109013

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150 Jahre Universitätspsychiatrie in Göttingen: Beiträge zum Jubiläumssymposium [1 ed.]
 9783737009010, 9783847109013

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Dirk Wedekind / Carsten Spitzer / Jens Wiltfang (Hg.)

150 Jahre Universitätspsychiatrie in Göttingen Beiträge zum Jubiläumssymposium

Mit 72 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0901-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Manfred Koller Die Geschichte der Psychiatrie in Göttingen – Schwerpunkt LKH . . . . .

9

Eckart Rüther 50 JAHRE Psychobiologische Wissenschaft an der Klinik für Psychiatrie der Universität Göttingen (1954–2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Iris Hauth Aktueller Stand der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinz Häfner So konnte es nicht weitergehen – ein Kapitel Geschichte der Psychiatrie und ihrer Kranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Lauter Erinnerungen an Ludwig Meyer (1837–1900) und seinen Enkel Joachim-Ernst Meyer (1917–1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Spengler / Siegfried Neuenhausen Julius Klingebiels Zelle – solitäre Kunst, Patientenschicksal und Psychiatriegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter Falkai / Alkomiet Hasan / Andrea Schmitt Verbesserung der Gehirnplastizität bei der Schizophrenie: Möglichkeit therapeutischer Verbesserungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

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Inhalt

Beiträge und Grußworte zum Symposium 150 Jahre Universitätspsychiatrie Göttingen vom 26.–27. Mai 2016

. . . . . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Fotographische Eindrücke vom Symposium

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Vorwort

Als Ludwig Mayer im Jahr 1866 sein Ordinariat in Göttingen übernahm und die ersten Patienten in der neu gebauten Klinik am heutigen Rosdorfer Weg behandelte, repräsentierte er zwar nach der Charit8 in Berlin und der Ludwig Maximilians Universität in München lediglich die dritte universitäre Psychiatrie in Deutschland, jedoch die erste, die tatsächlich Patienten behandeln konnte. An der Nußbaumstrasse und am Charit8platz wurde noch gebaut. Es sollte zwar noch knapp 30 Jahre dauern, bis die Psychiatrie in Göttingen in das Prüfungscurriculum der Medizinstudenten integriert wurde aber Sie war damit wichtiger Bestandteil der Fakultät, in der Mayer mehrfach Dekan werden sollte. Manfred Koller beschreibt in seinem Beitrag anschaulich die Anfänge der Psychiatrie in Göttingen mit den Standorten Rosdorfer Weg und später auch in der Geiststrasse und in Tiefenbrunn. Die klinischen und auch wissenschaftlichen Entwicklungen unter den folgenden Direktoraten geben Einblicke in den Kontexten der Zeit und insbesondere während des Nationalsozialismus. Während Manfred Koller die Entwicklung in der 1955 von der Universität abgetrennten Landesklinik weiterverfolgt gibt Eckart Rüther, Direktor der Universitätspsychiatrie zwischen 1987 und 2006 in seinem Beitrag einen Eindruck von den neurobiologische wissenschaftlichen Bestrebungen am Standort von-Siebold Strasse ausgehend von den Überlegungen Ewalds bis hin zur Vernetzung mit Kooperationspartner unter seinem Direktorat. Iris Hauth war 2014–2016 Präsidentin der DGPPN. Ihr Bericht führt die Inhalte ihres Festvortrags vom Auftaktabend des Symposiums aus und schildert den aktuellen Zustand der Versorgungssituation und Strukturen psychisch Kranker in Deutschland, die Verbesserungen der Zeit seit der EnquHte und die zukünftigen Herausforderungen. Mit Heinz Häfner referierte einer den einflussreichsten Psychiater der letzten Jahrzehnte zum Thema der Psychiatrie-EnquHte , der selbst wesentlich gestaltend hieran beteiligt war. Sein beeindruckender Beitrag ist ein Erfahrungsbericht mit anschaulichen Fakten zur Situation der Deutschen Psychiatrie um diese Zeit.

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Vorwort

Joachim-Ernst Mayer war fast ein Vierteljahrhundert Ordinarius und unter seiner Leitung ergaben sich weitreichende Veränderungen der Klinik in der vonSiebold-Strasse, neben der Abtrennung der Neurologie auch die Etablierung der Kinder-und Jugendpsychiatrie wie auch der Psychosomatik und Psychotherapie. Hans Lauter stellt als Weggefährte Mayers, selbst Enkel des ersten Ordinarius Ludwig Mayer, dessen Schaffen und die sichtbaren Parallelen zum Werk des Großvaters dar. Mit Andreas Spengler und Siegfried Neuenhausen hörten die Besucher des zweiten Symposiumstag einen beeindruckenden Vortrag, der erste Referent Psychiater und ehemaliger Direktor der Landesklinik in Wunstorf und kulturell vielseitig interessiert und begabt, der andere angesehener Experte für Kunsthistorie. Die Lebensgeschichte und das Schaffen von Julius Klingebiel, der in seiner Zeit im »festen Haus« der Göttinger Landesklinik mit der »Klingebielzelle« ein vielbeachtetes und wichtiges Kunstwerk schuf, wurde aus psychiatrischer und künstlerischer Perspektive erläutert und im vorliegenden Manuskript durch ausgewählte Bilder des Vortrags ergänzt. Die Schizophrenieforschung ist ein Schwerpunkt des wissenschaftlichen Werks von Peter Falkai, Direktor der Universitätspsychiatrie zwischen 2006 und 2012 vor seinem Ruf an die Ludwig Maximilians Universität München. In seinem Beitrag gibt er, unter Beteiligung seiner engen Mitarbeiter Alkomiet Hasan und Andrea Schmitt eine anschauliche Übersicht über pathogenetische Mechanismen bei den Schizophrenien unter besonderer Berücksichtigung neuroplastischer Vorgänge als therapeutische Perspektive. Zum Ende des vorliegenden Bandes finden sich Abdrucke der Grußworte des Festaktes vom 26. Mai 2016 und einige fotographische Impressionen der Tagung. Die Liste der Grußredner spricht für sich und ist ein bemerkenswerter Marker für den Stellenwert der Psychiatrie in Göttingen, seiner Universität und darüber hinaus. Göttingen im August 2018 Prof. Dr. med. Dirk Wedekind Prof. Dr. med. Carsten Spitzer Prof. Dr. med. Jens Wiltfang

Manfred Koller

Die Geschichte der Psychiatrie in Göttingen – Schwerpunkt LKH

Der griechische Dichter Georgios Vizyinos kam 1875 nach Göttingen und notierte1: »In der Psychiatrie-Vorlesung war ich wegen der großen Entfernung nie anwesend, obwohl ich ungeduldig war, die für ihre Organisation und Vorbildlichkeit berühmte psychiatrische Anstalt von Preußen kennenzulernen. […] Diese sehr geräumige und architektonisch bestens gebaute wohltätige Anstalt der preußischen Regierung liegt ungefähr zehn Minuten südlich von Göttingen entfernt auf einem graziösen Hügel inmitten von grünen Gärten und schattigen Wiesen, so dass es dem Betrachter, mehr als jede andere Landschaft um die Stadt, ein malerisches Bild bietet.«

In Preußen beispielsweise gab es zu jener Zeit keine direkten Beziehungen zwischen den Universitäten und den an ihrem Sitze befindlichen Irrenanstalten. Zwar hätten ihre dirigierenden Ärzte die Befugnis, psychiatrischen Unterricht zu erteilen, doch blieb eine entsprechende Beteiligung aus. In Berlin sei im Wintersemester 1855/56 vor 3–4 Zuhörern einmal psychiatrische Klinik in der Charit8 gehalten worden (Ideler): »… Aus Bayern, in welchem die Psychiatrie bereits zu jener Zeit zur Staats-Schlussprüfung gehörte, lauteten die Berichte ungleich günstiger.«2 Im Königreich Hannover, zu dem Göttingen gehörte, bot 1855 der Direktor der Hildesheimer Anstalt Bergmann3 an, Lehrkurse für Ärzte nach vollendetem Staatsexamen abzuhalten. Das Ministerium billigte zwar einen solchen Kursus im Allgemeinen, hielt

1 Georgios Vizyinos (1875) in seiner Harzreisenparaphrase »Die Folgen der alten Geschichte«. Vizyinos ist ein in Griechenland berühmter Schriftsteller und hat auf diese Weise Göttingen in Griechenland bekannt gemacht. Er starb 1896 im Alter von nur 46 Jahren in Athen in einer psychiatrischen Anstalt. 2 Meier. L. (1891), S. 13/14. 3 Gottlob Heinrich Bergmann, 1781–1861. Studium in Göttingen, Tätigkeit u. a. im Zucht- und Tollhaus Celle. Studienreisen durch Deutschland und nach Italien und Frankreich, um die Einrichtung einer Irrenanstalt in Hildesheim vorzubereiten, deren Leiter er 1827 wurde.

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Manfred Koller

jedoch den Zeitpunkt für verfrüht. Sein Nachfolger in der ärztlichen Leitung, Dr. Snell4, wiederholte 1856 das Angebot. Am 23. Mai 1857 wurden zweimonatige Lehrkurse genehmigt. Schließlich wurde dann Dr. Wachsmuth5 mit der Abhaltung psychiatrischer Vorlesungen beauftragt. Ludwig Meyer berichtet für das Sommersemester 1887 in Göttingen von einer Zuhörerzahl von zwanzig.

Der Bau der neuen Irrenanstalt in Göttingen 1827 war in Hildesheim im Michaeliskloster eine Psychiatrische Klinik errichtet worden, die rasch überfüllt war. Bergmann und Snell wurden deshalb mit der Planung einer neuen Anstalt beauftragt. Im Königreich Hannover wurde zunächst eine »Irrenzählung« durchgeführt, um den Bedarf an Plätzen zu ermitteln. 1857 wurde bei einer Gesamtbevölkerung von 1.700.000 eine Ziffer von rund 3100 Geisteskranken erhoben. Brandes präsentierte die folgende graphische Darstellung6. Als sich die Behörden für den Standort des Baus einer neuen Irrenanstalt zu entscheiden hatten, erklärten sie sich in einer Mehrheit für Göttingen. Ein Grund dafür war die Universität. Hier wurde »besonders die, bei den Gerichtsverhandlungen hervortretende beschämende Unwissenheit der Sachverständigen in den Geisteskrankheiten« als Argument für die Notwendigkeit psychiatrischen Unterrichts hervorgehoben. Graf von Borries7 habe 1860 dagegen abgeraten. Die Errichtung einer Irrenanstalt sei gerade auch wegen der Universität nicht zu billigen. »Der Lehrzweck widerspreche dem Heilzweck, die Rücksichten auf Familienehre, Pietät verböten eine derartige Verwendung der Geisteskranken; Geisteskrankheiten entständen aus Liebe, Ausschweifungen, Verbrechen etc.«8 Gleichzeitig wurde in diesem Kontext der Standort Osnabrück in die Diskussion gebracht.

4 Ludwig Daniel Christian Snell, 1817–1892. Studium in Gießen, Heidelberg und Würzburg, dort auch Promotion. 1856 Berufung zum Direktor der Irrenanstalt Hildesheim. 5 Wachsmuth wurde 1827 geboren, hatte 1846–1849 in Göttingen studiert, sich dort 1852 habilitiert, wurde 1860 nach Dorpat berufen, wo er 1865 starb. 6 Grafik aus Brandes, Gustav, Der Idiotismus und die Idiotenanstalten mit besonderer Rücksicht auf die Verhältnisse im Königreiche Hannover, Hannover 1862. 7 Graf von Borries (1802–1883), Politiker im Königreich Hannover Sophus Ruge (1831–1903) gemeint. 8 Er rekurriert damit noch auf die Lehren der romantischen Psychiatrie, der sog. Psychiker, deren Hauptvertreter Heinroth und Ideler waren. Griesinger, Mitbegründer der wissenschaftlichen Nervenheilkunde und Gallionsfigur der ›Somatiker‹ hatte sein berühmtes

Die Geschichte der Psychiatrie in Göttingen – Schwerpunkt LKH

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Abb. 1

Bergmann und vor allem Snell waren an der Planung der neuen Anstalten für das Königreich Hannover als Ratgeber beteiligt. Snell erreichte am 16. März 1861 in einem kleinen Kreis in Anwesenheit König Georgs V. von Hannover, dass in Göttingen und Osnabrück jeweils eine Anstalt erbaut werden sollte. Die »Karte über die Verbreitung des Idiotismus im Königreich Hannover« von Brandes zeigt, dass dieses verschiedene Landesteile aufwies, die nicht unmittelbar miteinander verbunden waren. Die spätere Lösung, als Standorte für psychiatrische Kliniken, Hildesheim, Osnabrück und Göttingen zu wählen, wird hieraus plausibel. Mit der Ausarbeitung der Pläne wurden der Oberbaurat Funk und der Königliche Bauinspektor RASCH beauftragt. Ludwig Meyer beschreibt das Gebäude später so: »Der gotische Stil und die eigentümliche Gliederung der Anstalt erinnert lebhaft an ein Kloster. … Die gewählte Bauform hat selbstverständlich nichts mit den Zwecken der Anstalt zu thun, es reicht aber, meiner Ansicht nach, auch nicht aus, sie durch die zur Lehrbuch bereits 1845 herausgebracht. Er erreichte mindestens mit der 2. umgearbeiteten und sehr vermehrten Auflage 1861 ein größeres Publikum.

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Zeit des Baues in vielen Orten Hannovers hervortretende Geschmacksrichtung erklären zu wollen.«9 Sie müsse vielmehr geschichtlich erklärbar sein. »Die Irrenanstalten sind aus den Gefängnissen und Klöstern hervorgegangen, in welchen die Geisteskranken vor der Errichtung besonderer Anstalten aufbewahrt wurden.«

1864 bis 1866 wurde in Göttingen gebaut. 1866 wurde die Anstalt in Betrieb genommen. Wenig später wurde Hannover preußisch. Als Direktor eingesetzt wurde Ludwig Meyer. Er übernahm hier auch die neu eingerichtete Professur für Psychiatrie.

Ludwig MEYER (1866–1900)

Abb. 2: Ludwig Meyer; Asklepios Fachklinikum Göttingen

Meyer wurde am 28. 12. 1827 in Bielefeld geboren. Er studierte zunächst Feldmesskunst, weil er Baumeister werden wollte, nahm dann 1848 das Studium der Medizin in Bonn auf, wurde als Teilnehmer an den politischen Ereignissen 1848 nach fünfmonatiger Untersuchungshaft freigesprochen. Er musste Bonn nichtsdestotrotz verlassen und studierte in Würzburg und Berlin weiter, war Assistent bei Ideler in Berlin, zwischenzeitig auch mal in Schwetz bei (Struwwelpeter-)Hoffmann. 1858 hielt er in Berlin erste Vorlesungen. 1861 machte er eine Studienreise nach England, wo er mit den Vorstellungen von CONOLLY vertraut wurde. 1864 war er Leiter der neu erbauten Anstalt Friedrichsberg in Hamburg. 1888 berichtet er an den Königlichen Kurator der Universität, Herrn Geheimen Regierungsrath von Meier : »Die psychiatrische Klinik Göttingens ist eine der ältesten in Deutschland überhaupt und, wenn ich nicht irre, überhaupt die erste unseres Staates innerhalb einer Provinzialirrenanstalt eröffnete.«

9 Meyer, L. (1891) S. 18.

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Abb. 3 und 4: Anstalten Friedrichsberg, Hamburg, (links) und Göttingen (rechts); Abbildungen aus dem Museum des Asklepios Fachklinikums Göttingen

1888 beklagt Meyer den Mangel an »frischeren Erkrankungen«, die er eigentlich für seinen Unterricht benötige und beantragt deshalb die Einrichtung einer »psychiatrischen Klinik« innerhalb der Anstalt oder doch 1890 wenigstens die Einrichtung einer Aufnahmestation. Man unterscheidet damals die Begriffe »Psychiatrische Klinik«, »Irrenanstalt« und »Pflegeanstalten«; zu letzteren wurden damals etwa Liebenburg und Ilten gerechnet. Meyer war Vertreter einer freiheitlichen Psychiatrie. So führt er aus: »Man wird allgemein der Ansicht sein müssen, dass es nicht wohl angeht, viele hunderte Geisteskranker, hinter vergitterten Fenstern wohnen und in ummauerten Höfen sich bewegen zu lassen, weil einige von ihnen die Neigung zum Entweichen haben und sich bei einem solchen Versuche möglicherweise beschädigen könnten. Diese Einrichtungen, welche die Geisteskranken stets daran erinnern, dass sie ›hinter Schloss und Riegel sitzen‹ stehen in geradem Widerspruch mit den wesentlichsten Zielen der Behandlung und Pflege Geisteskranker. … Ich muss immer wieder darauf zurückkommen, dass die Aufmerksamkeit und Umsicht aller mit der Behandlung und Pflege der Geisteskranken betrauten Personen der beste, wenn nicht der einzige wirkliche Schutz ist. Dieser lebendige Schutz wird aber, wie die Menschen nun einmal sind, durch die mechanischen Schutzmittel geschwächt.«10 Meyer hatte bereits in Hamburg alle Zwangsjacken auf dem »Dom« versteigern lassen11; in Göttingen wurden keine angeschafft. Als Behandlungsverfahren mit weit besseren prognostischen Aussichten nennt Meyer12 stattdessen Bettruhe und Bäder, die aber in Göttingen nicht die Bedeutung hätten wie anderswo: »Ein stärkeres Widerstreben der Badenden gilt als Contraindikation. Auch von den narkotischen Mitteln, zur Herbeiführung von Schlaf oder Bekämpfung von Erregungszuständen, wird nur ein bescheidener Gebrauch gemacht. Bei Schwäche des Circulationsapparates, anämischen 10 Meyer, L. (1891) S. 36,37,39). 11 Seine wohl letzte Veröffentlichung vom 1. April 1897 in dem Band Die Irrenpflege behandelte »Die Verbannung der Zwangsjacken aus der Irrenabteilung des alten Allgemeinen Krankenhauses in Hamburg«. 12 Meyer, L. (handschriftlicher Bericht aus dem Jahre 1888, Archiv des NLKH).

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Zuständen u. dgl. M. geben wir gerne stärkere Weine, auch Rum in Form von Grogg, am Abend als bewährtes Hypnoticum. Die neueren Hypnotica (von Chloral bis zum neuesten Sulfonal) haben das Opium, in Substanz oder Extract verordnet, nicht in den Hintergrund zu drängen vermocht. Wo die Diagnose auf einen wesentlichen corticalen Reizzustand gestattet erscheint, wird Bromkalium in der Dosis von 2–5 gr. kurz vor der Schlafenszeit zu nehmen, verordnet, in der Regel mit sehr günstigem Erfolge.«13 Ludwig Meyer starb am 8. Februar 1900 in Göttingen. An ihn erinnert eine Gedenktafel im Bereich des alten Haupteinganges, dem heutigen Eingang der Krankenpflegeschule.

Abb. 5: Gedenktafel, Ludwig Meyer ; Foto: Manfred Koller

13 Eine kurze Fallvignette mag die heute ungewöhnlich erscheinende Behandlungsstrategie illustrieren: »Der 42 Jahre alte Kaufmann H., potator, seit dem Frühjahr an melancholischen Verstimmungen leidend, schoß sich, wahrscheinlich in einem Anfalle von Delirium Tremens, mit einem Revolver eine Kugel hinter das rechte Ohr. Am 1ten Juli, einen Tag nach dem Selbstmordversuche aufgenommen, zeigte er characterystische alcoholistische Delirien. Hinter dem rechten Ohr eine rundliche ca. 1 cm große rundliche Oeffnung mit geschwellter Umgebung.Verordnung: Bettruhe, welche trotz der großen Erregung des Kranken durchgeführt wird, gute flüssige Ernährung, 3 Glas Marsala p.d. bis zum 4ten Juli mäßiges Fieber (38–38,4 8C), am 5ten größere Ruhe und Besinnlichkeit. Seit dem 6ten keine psychische Störung mehr wahrnehmbar, ist im Stande, in der psychiatrischen Klinik eine klare und, da er früher Medizin studirt, sachgemäße Darstellung seiner Krankheit zu geben. Unter dem aseptischen Verbande ist die äußere Verletzung geheilt. Da sich irgendeine merkliche Beschwerde nicht mehr einstellt, wird der Kranke am 18ten Juli geheilt entlassen; die heftige psychische alcoholistische Manie bestand etwa eine Woche, und erschien durch die schwere Verletzung nicht beeinflusst; auch letztere zeigte keinerlei beunruhigenden Erscheinungen.«

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August CRAMER (1900–1912)

Abb. 6: August Cramer ; Asklepios Fachklinikum Göttingen

Meyers Nachfolger wurde August Cramer (geboren 1860), welcher seit 1895 dessen Vertreter gewesen war.14 Cramer war ein auch wissenschaftlich sehr aktiver Mann. Unter anderem betreute er – von deren Erscheinen im Jahre 1898 bis zu seinem Tode – die Rubriken »Infections- und Intoxicationspsychosen« und »Forensische Psychiatrie« im Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Neurologie und Psychiatrie.15 1901 richtete Cramer eine Poliklinik in der Göttinger Geiststraße (in unmittelbarer Bahnhofsnähe also) ein, um von auswärts anreisenden Patienten den längeren Weg zur Anstalt zu ersparen. Hieraus entwickelten sich später die Universitätsklinik und Poliklinik. Am 1. Juli 1904 kamen zehn klinische Betten hinzu. 1906 zog man in die inzwischen umgebaute frühere Augenklinik in derselben Straße um. Man unterschied nun auch in Göttingen die »Anstalt« und die »Klinik«.16 Chronisch kranke Patienten wurden nach Möglichkeit außerhalb, im Rahmen der Familienpflege, betreut. Diese Patienten wurden sowohl in den betreuenden Familien besucht als auch zu genaueren Untersuchungen bzw. zum Baden in die Klinik geholt. Das Institut der Familienpflege wurde teilweise erst in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts aufgegeben. Cramer lehnte Rufe nach Bonn 14 Sein Vater Heinrich Cramer war später ord. Professor der Psychiatrie in Marburg. August Cramer studierte in München, Freiburg und Marburg, wo er auch promovierte. Nach Assistentenzeit in Freiburg und Oberarzttätigkeit in Eberswalde kam er 1895 nach Göttingen. 15 In diesen »Jahresberichten« hatte übrigens kein geringerer als Priv. Doc. Dr. S. Freud, Wien, die Rubrik »Cerebrale Kinderlähmung« zu besprechen (für die Jahre 1897–1899, Ausgaben also 1898–1900). 16 In einem Berichtsentwurf aus dem Jahre 1910 nennt CRAMER Patientenzahlen für Göttingen: die Zahl der stationär behandelten Geisteskranken sei von 1906–1909 von 39 auf 82 angestiegen, die der Nervenkranken von 109 auf 430. Bei den ambulanten Patienten sei im gleichen Zeitraum ein Anstieg von 139 auf 162 bei den Geisteskranken und von 694 auf 866 bei den Nervenkranken zu verzeichnen gewesen. 1901 habe deren Zahl noch lediglich 227 betragen. Cramer, maschinenschriftlicher Bericht aus dem Archiv der NLKH.

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Abb. 7

und Berlin ab, kümmerte sich stattdessen weiter um den Ausbau der Klinik wie der Anstalt und gründete das Nervensanatorium Rasemühle, das heutige Niedersächsische Landeskrankenhaus Tiefenbrunn sowie 1912 die Heil- und Erziehungsanstalt für psychopathische Fürsorgezöglinge in Göttingen, aus der der heutige offene Jugendstrafvollzug hervorging. In zahlreichen Publikationen beschäftigte er sich mit Themen wie Zur Theorie der Affekte, zu organischpsychiatrischen und neurologischen Themen und zur forensischen Psychiatrie. Cramer starb nach kurzer Krankheit am 5. September 1912. Ein Gedenkstein seitlich des alten Haupteinganges der Klinik am Rosdorfer Weg erinnert an ihn.

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Abb. 8: Gedenkstein; Foto: Manfred Koller

Ernst SCHULTZE (1912–1934)

Abb. 9: Ernst Schultze; Asklepios Fachklinikum Göttingen

Als sein Nachfolger wurde 1912 Ernst Schultze17 berufen und gleichzeitig als Direktor der Anstalt eingesetzt. Unter seiner Ägide wurde ein Werkstattgebäude für die Arbeitstherapie (1913), ein »Mutterhaus« für Schwestern, 1926 eine Station für Enzephalitiskranke eingerichtet. Wissenschaftlich befasste er sich auch mit originellen Themen wie Der Alkohol in den französischen Kolonien(1916), Die Prostitution bei den gelben Völkern (1918), wichtigen und immer noch hochaktuellen Fragen wie »Ist der beamtete Arzt verpflichtet, den Versorgungsbehörden Krankengeschichten ohne Zustimmung des Betroffenen auszuhändigen?« (1926), vor allem aber forensisch-psychiatrischen Themen. Er ist als Gutachter des Massenmörders Haar-

17 Ernst Schultze wurde 1865 in Moers geboren. Studium in Bonn und Berlin. Er war Assistent von Pelmann in Bonn und 1904 Extraordinarius, 1906 Ordinarius in Greifswald.

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mann zu einiger Berühmtheit gelangt und in dem preisgekrönten Film Der Totmacher wohl recht treffend dargestellt. Schultze starb fünf Jahre nach seiner Emeritierung am 3. September 1938. Nach ihm wurde eine Straße im so genannten »Pflegerdorf« benannt.

Abb. 10: Büste; Museum des Asklepios Fachklinikums Göttingen, Foto: Manfred Koller

Gottfried EWALD18 (1934–1954)

Abb. 11: Gottfried Ewald; Asklepios Fachklinikum Göttingen

Hatte die Anstaltspsychiatrie – wohl aus Geldmangel nach dem ersten Weltkrieg – die fortschrittlichen Entwicklungen der Kaiserzeit nicht fortsetzen können, begann etwa mit dem Zeitpunkt der Emeritierung Schultzes die bisher fürchterlichste Episode deutscher Psychiatriegeschichte, die auch an Göttingen nicht vorbeiging. Gottfried Ewald, 1888 in Leipzig geboren, hatte die Leitung 18 Ewald wurde am 15. Juli 1888 in Leipzig geboren und starb am 17. Juli 1963 in Göttingen. Nach dem Studium in Erlangen und Heidelberg und einer Tätigkeit am physiologischen Institut in Halle erfuhr er seine psychiatrische Ausbildung in Rostock und Berlin, ging 1920 nach Erlangen, wo er habilitierte und 1923 außerordentlicher Professor wurde. 1933 wurde er zum ordentlichen Professor und Direktor der Nervenklinik in Greifswald berufen, von wo er bereits 1934 nach Göttingen wechselte. Ewald hatte im ersten Weltkrieg den linken Arm verloren und war deshalb von seinem ursprünglichen Plan, Internist zu werden, abgerückt, da er befürchtete, mit einer zur Verfügung stehenden Hand nicht alle erforderlichen Untersuchungen leisten zu können. Er wich dann auf die Psychiatrie aus.

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der Anstalt in dieser Zeit (1934–1954) inne, und noch bis 1956 war er als Ordinarius der Psychiatrie in Göttingen tätig. Ewald galt zunächst als Befürworter der Erbgesundheitsgesetzgebung.19 Schon früh hatte er sich als Anstaltsleiter einer massiven Kostendiskussion zu stellen. Ewald antwortet 1935 auf das Begehren der Behörden, die Verpflegungskosten für unheilbar Kranke zu senken, u. a. mit folgenden Sätzen: »Ich schicke voraus, dass ich es sehr wohl verstehe, wenn man bestrebt ist, der Kritik eines verständigen Publikums Rechnung zu tragen, vorausgesetzt, dass diese Kritik berechtigt ist. Ich muss aber dem Publikum die Sachkenntnis absprechen, wenn es meint, eine gesunde Landarbeiterfamilie irgendwie zum Vergleich heranziehen zu können. Krankenhauspflege ist noch überall auf der Welt kostspieliger gewesen als ein Privathaushalt. … Wenn man einmal annimmt, dass diese Art von Kranken (die sog. Unheilbaren) vielleicht durch geringere Kostgabe etwas billiger verpflegt werden können, so wird man dem entgegenhalten müssen, dass der bisherige Kostsatz von 46 Rpf. Nur deshalb so ungemein niedrig gehalten werden konnte (vor drei Jahren war er noch 52 Rpf.), weil der bessere und arbeitende Teil der Kranken mit jenen Ruinen untermischt ist und gleichsam von diesen etwas profitiert. … Das sachunkundige Publikum, das niemals an die notwendige ärztliche und pflegerische Betreuung denkt und das so gern Sauberkeit und Ordnung mit Komfort verwechselt, darf hier nicht ausschlaggebend sein.« Im August 1940 nahm Ewald auf Einladung der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten« an einer Veranstaltung zu den geplanten »Euthanasiemaßnahmen« unter Leitung Heydes teil. Nach Aussage des Konferenzteilnehmers, Prof. Mauz aus Münster, »reagierte [Ewald] schon in den ersten 5 Minuten etwa sehr scharf und brachte m. E. vorwiegend aus religiösen Gründen einen ablehnenden Standpunkt vor. … Prof. Ewald ging bereits während des ersten Teils der Sitzung, nachdem er selbst gesprochen hatte, weg.« Am 21. August 1940 verfasste er eine »Denkschrift« gegen die »Euthanasie«-bestrebungen, wobei er u. a. auf die Konsequenzen und das Leid für die betroffenen Familien sowie auf die fehlende gesetzliche Grundlage verwies, zum Schluss allerdings einräumte, dass er sich bei Vorliegen einer solchen nicht weiter widersetzen werde.20 Diese Denkschrift war m. W. immerhin die erste, mit der ein

19 Die Katastrophe der Ermordung psychisch Kranker hatte ihre Wurzeln in der Diskussion um »lebensunwertes Leben« einerseits und in einer falschverstanden Genetik-Euphorie andererseits, die meinte, durch eine entsprechende Gesetzgebung zur Sterilisierung, dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933, Erbkrankheiten – wie zuvor einige Infektionskrankheiten – ausrotten zu können. 20 Diese Denkschrift sandte er an Prof. Heyde, »Reichsärzteführer« Conti, Landeshauptmann

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Psychiater die »Euthanasie«-Pläne in der Zeit des Nationalsozialismus schriftlich und offen kritisierte. Er berichtete später, dass sich kein weiterer psychiatrischer Ordinarius zur Mitunterzeichnung habe bewegen lassen. Im September 1940 wurden zwölf jüdische Patienten und Patientinnen aus Göttingen nach Wunstorf verlegt, von wo aus sie in Vernichtungslager weitertransportiert wurden. Ende Februar 1941 wurden anlässlich einer Direktorenkonferenz in Hannover den Direktoren der Anstalten Verlegungslisten mit Namen von Patienten vorgelegt. Für Göttingen umfasste die Liste 205 Namen, von denen von der Anstalt 85 zur Zurückhaltung vorgeschlagen werden durften. Man entschied sich zur Bearbeitung dieser Listen. Diese Listen liegen vor. Bleistiftanmerkungen führen zu einzelnen Namen Bemerkungen an wie: »fleißiger Arbeiter«, »nette Angehörige« oder »hilft bei Oberpfleger X im Haushalt«. Am 11. März wurden 120 Patienten aus Göttingen »abgeholt«. Bis zum 16. Mai 1941 erhält das Krankenhaus Nachricht von 100 verstorbenen Patienten aus dieser Verlegungsaktion. 74 vorliegende Sterbeurkunden besagen, dass die Kranken in Hadamar und Sonnenstein ermordet wurden. Bereits am 25. März erhält die Klinik weitere Transportlisten mit 91 Männern und 62 Frauen. Davon schlägt die Anstalt der Provinzialverwaltung 29 Männer und 28 Frauen zur Zurückhaltung vor, erhält aber am 10. April die Nachricht, dass der Landeshauptmann wegen der großen Zahl von Zurückstellungsanträgen eine nochmalige »eingehende Besprechung« angeordnet habe. Schließlich werden nur 23 Männer und 21 Frauen zurückgehalten. 59 Männer und 32 Frauen werden aber am 29. April 1941 nach Weilmünster verlegt. Von diesen 91 Menschen sterben mindestens 83. In der Zeit von März bis Mai 1941 wurden etliche Patienten teils auf Anregung der Ärzte, teils auf Wunsch der Angehörigen vorzeitig aus der Anstalt entlassen. Es wurden auch Patienten lumbalpunktiert, um bei Vorliegen geringster Veränderungen die Diagnose von Schizophrenie etwa in Organisches Psychosyndrom umwandeln und sie damit retten zu können. Am 22. August 1941 wurden noch einmal 15 Patienten aus dem »Landesverwahrungshaus« nach Alt-Scherbitz, dann nach Waldheim in Sachsen weiterverlegt. Zwei dieser Patienten starben im September 1941. 13 lebten 1943 noch.21 Gessner, den Dekan der medizinischen Fakultät Göttingen Prof. Stich sowie an den Professor der Psychologie in Berlin Göring, einen Vetter Hermann Görings. 21 1941 wurde die sog. T4-Aktion vor allem nach einer Predigt des Bischofs von Münster, Graf von Galen am 3. August 1941 beendet. Am 6. Oktober 1943 erreicht Ewald ein Schreiben des Gaugesundheitsführers Dr. Bruns, in dem es heißt: »Ich beabsichtige, die Universitätsklinik Göttingen für die Durchführung einer aktiven Behandlung der Geisteskranken vorzuschlagen.« Bruns verweist dabei auf ein Schreiben Contis, der unter Bezugnahme auf einen Artikel Prof. Carl Schneiders über die moderne Behandlung von Geisteskrankheiten for-

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Abb. 12: Transportliste; Museum Asklepios Fachklinikum Göttingen muliert hatte: »Es lässt sich unter den heutigen Umständen auch bei der Verlegung von Pflegeinsassen nicht verantworten, dass diese Möglichkeit, Geisteskranke wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern, die die Wissenschaft uns bietet, nicht ausgeschöpft wird.« Ewald antwortet am 11. Oktober 1943: »Ich danke für Ihre Mitteilung, dass Sie beabsich-

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Manfred Koller

Abb. 13: Museum Asklepios Fachklinikum Göttingen

Nach dem Ende des Dritten Reiches erfolgt auch bei Ewald eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung. Er wurde entlastet. Wie auch immer wir aus heutiger Sicht zum Verhalten EWALDs und seiner Kollegen damals stehen mögen, so sollten wir uns jedenfalls immer wieder intensiv mit den Ereignissen dieser Zeit auseinandersetzen, um daraus zu lernen und hoffentlich dazu beizutragen, dass das, was den psychisch Kranken damals angetan wurde, niemals wieder geschehen kann. Im Rahmen seiner Rede zur Eröffnung der neuen Univ. Nervenklinik Göttingen am 16. Mai 195522 stellt er noch einmal den Stand der damaligen Behandlungsmöglichkeiten zusammen: »Waren wir früher machtlos gegenüber den ernsteren Geisteskrankheiten, so können wir jetzt mancherlei Hilfe bringen. So ist es bekannt, dass die Paralyse … tigen, die Göttinger Heil- und Pflegeanstalt bzw. Psychiatrische Universitätsklinik für die Durchführung einer aktiven Behandlung der Geisteskranken in Vorschlag zu bringen. Ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass die Göttinger Anstalt bereits im Einverständnis mit der Provinzialverwaltung seit langem aktive Behandlung der Geisteskranken mit Insulinschocks, Cardiazol- bezw. jetzt Elektrokrampfmethode betreibt, sogar eine derjenigen Anstalten sein dürfte, bei der diese Behandlungsmethode am aktivsten geübt wird.« 22 Ewald, G. Rede zur Neueröffnung der Univ. Nervenklinik Göttingen. 1955 (Archiv des NLKH).

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inzwischen als sogenanntes metaluisches Leiden durch die Malaria-Therapie von Wagner von Jauregg geheilt werden kann; heute werden die Erreger schon vor Eintritt in Gehirn oder Rückenmark durch Penicillinbehandlung abgefangen, aber auch gegen die endogenen Geistesstörungen, insbesondere gegen Depressionszustände ernster Art und gegen die Schizophrenien haben wir in der Elektrokrampf- und Insulinbehandlung geeignete Mittel in die Hand bekommen. Freilich sind uns deshalb die körperlichen Unterlegungen der zirkulären und schizophrenen Erkrankungen noch nicht bekannt geworden, und über mehr oder weniger begründete Hypothesen und Theorien kommt man noch nicht hinaus.« Er spricht dann auch über die »… Neurosen, die aus Liebes- und Lebenskonflikten bald bewusster, bald unbewusster Art, ihren Ursprung nehmen, aus Ehekonflikten oder Berufsnöten, die oft schwer zu beheben sind und auch bei bestem Wollen der Kranken nur schwer überwunden werden können.« Nach Venzlaff23 war für Ewald die Psychotherapie ein integraler Bestandteil der psychiatrischen Behandlung. Sein bereits 1932 erschienenes Buch Biologische Psychiatrie und reine Psychologie im Persönlichkeitsaufbau war nach Venzlaff ein Bekenntnis zur Psychoanalyse im Sinne Adlers, wurde von den Nationalsozialisten verboten und erschien erst 1969 als Neudruck. War die ›Klinik‹ zunächst in der Geiststraße in Göttingen – unter teilweise beengten Verhältnissen – untergebracht, wurde 1950 mit den Planungen für einen Klinikneubau begonnen. Der Neubau war eigentlich schon 1934 mit der Berufungszusage für Ewald verbunden gewesen. Die Landesregierung hatte Ewald dann zunächst angeboten, in den freistehenden Weender Kasernen, in denen sich heute das Evangelische Krankenhaus Göttingen-Weende befindet, eine Nervenklinik einzurichten. Ewald hielt das Gebäude jedoch für ungeeignet. Es kam dann aber doch zu dem Bau der Klinik in der Von-Siebold-Straße, wobei die Oberärzte Duensing und Trosdorf den Bau wesentlich begleiteten. 1955 konnte er bezogen werden. Das heutige Askepios-Fachklinikum Tiefenbrunn, das während des 2. Weltkrieges geschlossen worden war, wurde wiedereröffnet. Damit gab es in Göttingen nunmehr drei eigenständige stationäre psychiatrische Einrichtungen. In der ›Anstalt‹, dem späteren Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen, wurde Prof. Dr. Gerhard Kloos ärztlicher Leiter.

23 Venzlaff, U. Geschichte der Göttinger Nervenklinik 1948–1955, undatiertes Manuskript in Besitz M. Koller.

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Abb. 14: Grafik der psychiatrischen Einrichtungen

Gerhard KLOOS (1954–1967)

Abb. 15: Gerhard Kloos; Asklepios Fachklinikum Göttingen

1954 wird Prof. Dr. Dr. Gerhard Kloos Direktor der Anstalt. Kloos übernimmt eine Klinik, die bei einer Belegung von über 800 Patienten mit 11 Ärzten und 120 Pflegemitarbeitern ein schweres Pensum zu erfüllen hatte. Im Manuskript eines Begrüßungsschreibens von Ewald an Kloos 24 heißt es: »Am gestrigen Tage ist mir mitgeteilt worden, dass der Herr Sozialminister Sie aus dem Versorgungskrankenhaus Bad Pyrmont mit Wirkung vom 01.04.54 ab nach Göttingen versetzt hat, um die Leitung des Landeskrankenhauses hauptamtlich zu übernehmen. 24 Manuskript im Besitz von M. Koller, überlassen von U. Venzlaff.

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Es fällt mir als dem bisherigen Leiter dieser Anstalt, dem dieselbe als psychiatrische Universitätsklinik in Verbindung mit der offenen Univ. Nervenklinik in Form von Personalunion, einer fast 100jährigen Tradition entsprechend unterstellt war, die Aufgabe zu, Sie herzlich zu begrüßen, und Sie in Ihr neues Amt einzuführen. Ich selbst habe dieses oft dornenvolle Amt seit fast 20 Jahren bekleidet, und weiß, welche Aufgaben Ihnen als hauptamtlicher Leiter anvertraut werden, und darf Ihnen sagen, mit welchen Hoffnungen und Erwartungen man Sie hier begrüßt. Über die speziellen Aufgaben eines Leiters einer Anstalt brauche ich Ihnen nichts zu sagen, Sie haben selbst von 1939 bis 1945 schon einmal eine Heilanstalt geführt.«

Damit spielt Ewald auf Kloos’ problematische Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus an. 25 Über das Wirken von Kloos in Göttingen ist nicht sehr viel mehr zu erfahren. Ältere, frühere Mitarbeiter, die ihn noch in seiner Funktion erlebt haben, schildern ihn als korrekten, immer nur Gutachten erstellenden und ansonsten sehr zurückgezogen lebenden Mann. In einem m.W. von ihm angestrengten Verfahren gegen eine vermutete Verunglimpfung soll er sich in hohem Alter noch einmal im Geiste der nationalsozialistischen Euthanasieauffassungen geäußert haben. Ich selbst habe ihn als hochaltrigen Mann in klinischem Kontext kennengelernt. Unter seiner Ägide wird 1960 im Tonkuhlenweg ein Klinikneubau mit vier Stationen in Betrieb genommen. Weiterhin beschwert er sich bei jeder Gelegenheit über die schlechte bauliche Ausstattung der Klinik. Ackerflächen, die früher der Arbeitstherapie dienten, werden an die Stadt Göttingen abgegeben. Die Wohnsiedlung Leineberg entsteht. 1964–1975 war der Klinik die Tuberkulosefachklinik Oldershausen für 85 psychisch Kranke mit der zusätzlichen Diagnose Tuberkulose angegliedert.

25 Vgl. auch MASUHR, K.F. und ALY, G.: Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos in Reform und Gewissen – »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts, Rotbuch-Verlag Berlin 1985. Danach wurde Kloos 1906 in Siebenbürgen geboren. Sein Lehrbuch Grundriss der Psychiatrie und Neurologie mit besonderer Berücksichtigung der Untersuchungstechnik ist seit 1944 in neun Auflagen erschienen. Er studierte in Hamburg. Er wurde nach 1931 Assistent bei Oswald Bumke in München und arbeitete unter Beringer. Am 1. Mai 1933 trat er der NSDAP bei. Von 1939 bis 1945 war Kloos Direktor der Landesheilanstalt Stadtroda in Thüringen. 1940 wurde er Lehrstuhlvertreter des Euthanasie-Gutachters Kihn und gleichzeitig Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht. In seiner Klinik in Stadtroda fanden Kindertötungen statt. Nach dem Krieg war ihm die Habilitation aberkannt worden. Kloos habilitierte sich in Kiel neu und wurde dort 1952 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Mit seiner Ernennung zum Direktor des seit 1952 so benannten Niedersächsischen Landeskrankenhauses Göttingen soll Ewald nicht einverstanden gewesen sein. Gerhard Kloos starb 1988 in Göttingen.

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Ulrich VENZLAFF (1968–1986)

Abb. 16: Ulrich Venzlaff; Asklepios Fachklinikum Göttingen

Nachfolger von Kloos wird am 1. Januar 1969 Prof. Dr. Ulrich Venzlaff, der sein Amt bis 1986 ausübte und Herausgeber, später Mitherausgeber des Standardwerks Psychiatrische Begutachtung war. Venzlaff wurde 1921 geboren, war Schüler Ewalds, später außerplanmäßiger Professor und Oberarzt der Göttinger Universitäts-Nervenklinik und ebenso mein Lehrer, dem ich viel zu verdanken habe. Das Klima des Krankenhauses wurde lange noch durch seinen offenen und freundlichen Stil geprägt. Nach mehreren Gastprofessuren in den USA in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre übernahm er die Leitung des Landeskrankenhauses. Während seiner Leitung wurde 1977 bis 1982 ein Kliniksneubau mit zehn Stationen erbaut und in Betrieb genommen, die Generalsanierung der historischen Gebäude von 1866 wurde begonnen, die forensische Psychiatrie wurde entscheidend weiterentwickelt, u. a. wurde die erste offene forensisch-psychiatrische Station eröffnet. Venzlaff war der Doyen der Forensischen Psychiatrie schlechthin. In die Zeit seines Direktorats fiel auch die Psychiatrieenquete, an deren Entstehung auch Joachim-Ernst Meyer, Prof. Rüthers Vorgänger und Enkel Ludwig Meyers, beteiligt war. Sie erst brachte der Anstaltspsychiatrie die Aufmerksamkeit der Gesellschaft und Politik, die den Umbau zu einer modernen klinischen Psychiatrie ermöglichte. Unter dem damaligen Sozialminister Hermann Schnipkoweit wurden umfangreiche bauliche Sanierungsprogramme begonnen, die sich bis in die jüngste Zeit erstreckten und zu einer erheblichen Verbesserung der Unterbringungsbedingungen der Patienten führten.

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Gunter HEINZ (1987–1994)

Abb. 17: Gunter Heinz (links) mit Ulrich Venzlaff; Foto: Manfred Koller

War die Anstalt in Göttingen im vorigen Jahrhundert u. a. wegen der »beschämenden Unwissenheit« der Ärzte in forensisch-psychiatrischen Fragen erbaut und in die Lehre einbezogen worden, hatte auch Cramer seine ständige Rubrik in den »Jahresberichten« über forensische Psychiatrie. Schultze war als gerichtlicher Sachverständiger nicht nur im Fall Haarmann gefragt. Kloos erstellte zahlreiche forensische Gutachten. Erst seinem Nachfolger jedoch, Prof. Dr. Gunter Heinz, der 1987 das Direktoriat übernahm, wurde es 1994 ermöglicht, durch die Übernahme des C4Lehrstuhls für Forensische Psychiatrie in Göttingen ein forensisch-psychiatrisches Institut, das Ludwig-Meyer-Institut, einzurichten. Mit seiner Berufung gab er das Direktorat 1994 an mich weiter.

Manfred KOLLER (1994–2015)

Abb. 18: Manfred Koller; Foto: Privat

Ich war der letzte Direktor des staatlichen Krankenhauses, das 2007 privatisiert und vom Asklepios-Konzern übernommen wurde. Dort führte ich im soge-

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Manfred Koller

nannten Dienstleistungsüberlassungsverhältnis das Amt des Ärztlichen Direktors bis 2015 weiter, um dann mit dem Jahreswechsel 2015/2016 in das Psychiatriereferat beim Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung zu wechseln. Prof. Dr. Ulrich Sachsse baute in diesen Jahren die Abteilung für Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Traumatherapie auf.

Abb. 19: Ulrich Sachsse

Die Forensik wird seit 2006 von Prof. Dr. Jürgen Leo Müller geleitet, der gleichzeitig das Fach Forensische Psychiatrie an der Universitätsmedizin Göttingen vertritt.

Abb. 20: Jürgen Leo Müller

In Göttingen gibt es nach der Privatisierung der Landeskrankenhäuser zwei stationäre Einrichtungen der Forensischen Psychiatrie: die Abteilung Forensische Psychiatrie am Asklepios Fachklinikum Göttingen unter der Leitung von Prof. Dr. Müller und die Außenstelle des weiter in Landesbesitz befindlichen Maßregelvollzugszentrums Niedersachsen MRVZN in Göttingen, zunächst im ehemaligen ›Verwahrhaus‹ bzw. ›Festem Haus‹, seit 2016 in einem Neubau in der Ulrich-Venzlaff-Straße 2.

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Kleiner Exkurs: Das Landesverwahrungshaus

Abb. 21: Das »Verwahrungshaus«, später »Festes Haus«, wurde 1909 der Bestimmung übergeben. Nach der Privatisierung des Landeskrankenhauses 2007 blieb das Land Niedersachsen Träger. Der 2016 in Betrieb genommene Neubau gehört zum MRVZN und steht unter der ärztlichen Leitung von Dirk Hesse. Einige forensisch-psychiatrische Patienten sind über ihr künstlerisches Schaffen der Nachwelt in Erinnerung geblieben: Paul Goesch, Gustav Sievers und auch Julius Klingebiel.

Trennung von ›Anstalt‹ und ›Klinik‹ – Neubau der Universitätspsychiatrie in Göttingen26 Nachdem die klinische Versorgung zunächst unter ausgesprochen beengten Verhältnissen in der Geiststraße erfolgte, wurde zum Mai 1955 die neu errichtete Universitätsnervenklinik in der Von-Siebold-Straße 5 bezogen. Gottfried Ewald gab 1954 das Amt des Leiters der Anstalt am Rosdorfer Weg ab, blieb aber Lehrstuhlinhaber in Göttingen. 1955 konnte er den Neubau in der Von-Siebold-Straße beziehen. 1958 wurde Klaus Conrad (1905–1961) sein Nachfolger noch als Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie27. 26 Die folgenden Fußnoten zu den Ordinarien der Psychiatrischen Universitätsklinik stammen zu wesentlichen Teilen aus einer Zusammenstellung von Dirk Wedekind. 27 Klaus Conrad (1905–1961) verbrachte Jugend und Studium im Wien. Durch seine genaue Aufzeichnung von Hirnverletzten während seiner Tätigkeit als Leiter eines Sonderlazaretts für Hirnverletzte entstand sein erstes wesentliches Werk zur hirnpathologischen Strukturanalyse. Nach zehn Jahren der Leitung und des Ordinariats für Psychiatrie und Neurologie in Homburg wurde er 1958 Ewalds Nachfolger in Göttingen. Im gleichen Jahr entstand sein prägendes Hauptwerk über die beginnende Schizophrenie. 1961 sollte er Leiter des MPI in München werden, verstarb aber zuvor nach kurzer Erkrankungsdauer an einem Hirntumor. Conrad begann den Aufbau der Neurophysiologie, die auch von seinem kommissarischen Nachfolger, Oberarzt DUENSING weitergeführt wurde. Friedrich Duensing leitete die Klinik nur für kurze Zeit (1961–1963). Er war bereits Assistent unter Conrad gewesen. Duensing hatte seine Wohnung nah bei der Klinik und lebte für seine Forschung und den Aufbau der klinischen Neurophysiologie in der Klinik, die er auch unter Meyer trotz mehrerer Rufe nach auswärts weiter voranbrachte.

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Abb. 22: Klaus Conrad

Nach seinem frühen Tod und einem kommissarischen Interregnum durch Friedrich Duensing wurden die beiden Fächer getrennt.

Der Ausbau der Universitätspsychiatrie Joachim-Ernst Meyer (1917–1998), Enkel Ludwig Meyers, wurde nun Ordinarius für Psychiatrie.28 28 Joachim Ernst Meyer (1917–1998). Mit der Ernennung von Joachim Ernst Meyers, geboren in Königsberg und Enkel des ersten Ordinarius der Klinik, der die Klinik für die nächsten 22 Jahre leiten sollte, ergab sich eine wesentliche Änderung der Klinikstruktur. Meyer war zuvor Oberarzt bei Kurt Kolle in München gewesen. Nach der rasanten Entwicklungen in der Psychiatrie (vor allem die fundamentalen Fortschritten in den Behandlungsmöglichkeiten durch Pharmako- und Psychotherapie der vorangegangenen Jahre) und Neurologie beschloss die medizinische Fakultät, nach Gießener Vorbild Neurologie und Psychiatrie zu trennen. Zeitgleich mit Meyer wurde Helmut Bauer erster Ordinarius für Neurologie der Universität Göttingen. Beide Kliniken blieben aber noch für weitere 15 Jahre in der Klinik in der Von-Siebold-Straße 5 vereint, bis die Neurologie mit dem Neubau des Klinikums in der Robert-Koch-Straße umzog. Die Poliklinik für Psychiatrie wurde ebenso in das Klinikum integriert. Die psychiatrische Klinik verfügte nun über 96 Betten. Joachim Ernst Meyer führte entschieden die Psychotherapie ein und verdiente sich sehr um die Strukturierung eines tiefenpsychologisch-psychotherapeutischen Ausbildungszentrums. Mit Meyer wurden aber auch die Psychopathologie und die Verlaufs- und Therapieforschung affektiver Störungen zum Forschungsschwerpunkt. Eine neurobiologische Forschungsstelle wurde geschaffen. Auch der Aufbau einer Ernährungspsychologischen Forschungsstelle wurde umgesetzt. Ebenso unterstützte er die in seiner Amtszeit erfolgte Verselbständigung der Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychosomatik und Psychotherapie. Mit dem Niedersächsischen Hochschulgesetz von 1980 erfolgte eine Umorganisierung der Fakultät in Medizinische Zentren. Das nun geschaffene ›Zentrum für Psychologische Medizin‹ wurde unter Meyer in sieben Abteilungen strukturiert, zu der neben den oben genannten die Abteilung noch die Klinische Gruppenpsychotherapie, Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie und die Forensische Psychiatrie gehörte. Bereits in der Berufungsphase von Meyer wurden wesentliche Umbaumaßnahmen geplant, die aber erst ab 1989, im dritten Jahr der Amtszeit seines Nachfolgers Eckard Rüther begonnen wurden.

Die Geschichte der Psychiatrie in Göttingen – Schwerpunkt LKH

Abb. 23: Joachim-Ernst Meyer

Unter seiner Leitung entstanden Eigenständige Bereiche: Kinder- und Jugendpsychiatrie – Friedrich Specht (1955–1994)

Abb. 24: Friedrich Specht

Psychosomatik und Psychotherapie – Hanscarl Leuner (1959–1985)

Abb. 25: Hanscarl Leuner

Weitere Forschungsbereiche – z. B. K.-P. Schäfer, Hermann Pohlmeier

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Die Gegenwart in der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ist geprägt von den Ordinarien Lehrstuhlinhaber Psychiatrie – Eckart Rüther (1987–2006) – Peter Falkai (2006–2012) – und heute Jens Wiltfang.

Abb. 26: Eckart Rüther29

Abb. 27: Peter Falkai30

Abb: 28: Jens Wiltfang

29 Eckart Rüther (*1940) Als Eckart Rüther, geboren in Ludwigsburg, nach Oberarzttätigkeit unter Hanns Hippius in München 1987 die Leitung der Klinik und des Ordinariats übernahm, wurde die universitäre Psychiatrie in Göttingen wesentlich wissenschaftlich-biologischer orientiert. Unter Rüther, der sich neben einer fundierten psychotherapeutischen Ausbildung unter anderem intensiv mit der Funktion monoaminerger Systeme bei psychischen Störungen befasste, wurde die Arbeit des neurobiologisches Forschungslabors erweitert, eine Abteilung für Schlafmedizin aufgebaut, sowie Schwerpunkte für Neuropsychologie und Psychopathologie, Sucht- und Schizophrenieforschung sowie Angsterkrankungen etabliert. Der fundierte Beginn der Erforschung und Behandlung von Erkrankungen des höheren Lebensalters (Gerontopsychiatrie) fand unter Rüther statt, der in seiner Amtszeit von 1993–1995 das Dekanat der Fakultät innehatte. Unter dem Ordinariat Rüthers wurde das ›Zentrum Psychologische Medizin‹ zum ›Zentrum Psychosoziale Medizin‹ umstrukturiert. Während der neunziger Jahre, der ›decade of the brain‹ wird unter seiner Leitung mit einer Verknüpfung der Klinik an externe Netzwerke begonnen, die sein Nachfolger Peter Falkai weiter erfolgreich ausbauen wird. 1998 wird das Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften (GZMB) gebildet, 2001 folgt das European Neuroscience Institut (ENI-G), 2002 das Forschungszentrum für Molekularphysiologie des Gehirns (CMPB) und das Zentrum für Neurobiologie des Verhaltens (ZNV). 2003 wird die Universität zur Stiftungsuniversität, die Klinik profitiert durch die verbesserte Selbstorganisation und Autonomie. Rüther begann enge Kooperationen mit dem Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin. Ein besonderes Anliegen war Rüther immer die Psychopharmakologie, die Initiative zur Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP) bleibt auch über seine Amtszeit hinweg bestehen. Wesentliche Umbaumaßnahmen in der Klinik und Anbauten wurden unter Eckard Rüther umgesetzt. Unter Führung seines damals leitenden Oberarztes Lothar Adler wurde die Klinik umfassend renoviert. 30 Peter G. Falkai (*1961) übernimmt im August 2006 die Leitung der Klinik und das Ordinariat von Eckard Rüther. Peter Falkai war zuvor bereits für einige Zeit Leiter der Uni-

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Fachgebiet Psychosomatik und Psychotherapie – Ulrich Rüger (1986–2007) – Christoph Hermann-Lingen (seit 2007) Fachgebiet Kinder- und Jugendpsychiatrie – Aribert Rothenberger (seit 1994)

Abb. 29: Ulrich Rüger

Abb. 30: Christoph Hermann-Lingen

Abb. 31: Aribert Rothenberger

Fachklinik Tiefenbrunn In der Fachklinik Tiefenbrunn waren diese Personen maßgeblich an der Weiterentwicklung des psychotherapeutischen Angebots in Göttingen beteiligt:

versitätspsychiatrie des Saarlandes in Homburg und zuvor als leitender Oberarzt bei Wolfgang Meier in Bonn. Der gebürtige Rheinländer, dessen wissenschaftliche Schwerpunkte bislang vorrangig im Bereich der Molekularbiologie, Morphologie und Früherkennung der schizophrenen Erkrankungen zu sehen sind, führt die begonnen Spezialisierung der universitären Psychiatrie in Göttingen konsequent weiter voran. In den ersten Amtsjahren etabliert sich ein Schwerpunkt für Systemische Neurowissenschaften, Aspekte der Epigenetik von schizophrenen und Demenzerkrankungen werden durch Schwerpunktprofessuren forciert. Die Vernetzung mit externen Institutionen gelingt Falkai, selbst im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) mit viel Erfolg, 2009 wird die Klinik Kopfzentrum des neu zu schaffenden Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). 2008 wird eine Tagesklinik mit zunächst 25 Plätzen in die Klinik integriert. Die Modernisierung und der Umbau der Klinik mit Beginn 2009 stellen ein weiteres Projekt dar, das rasch und konsequent geplant sowie begonnen werden konnte. Im Sommer 2009 besteht die Klinik mit einer Bettenkapazität von 96 zuzüglich 25 tagesklinischen Plätzen. Im Rahmen der Institutsambulanz, die zum großen Teil die Poliklinik in den vorangegangenen Jahren abgelöst hat, bestehen Spezialambulanzen für Gerontopsychiatrie, schizophrene Psychosen, Suchterkrankungen inklusive Substitutionsambulanz, affektive Störungen, sowie Angsterkrankungen. Perspektivisch wird im Oktober 2009 eine interdisziplinäre Station für psychiatrische Erkrankungen des höheren Lebensalters unter Supervision eines psychiatrischen und neurologischen Oberarztes initiiert. Mittelfristig soll diese Station – die zunächst eine geschützte sein wird – als offene Station geführt werden und damit die Gesamtzahl an geschützten Betten der Abteilung auf 16 von insgesamt 96 reduziert werden.

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Rudolf Redepenning wurde im Nationalsozialismus degradiert und nach Lüneburg versetzt. Vorübergehende Schließung der Klinik. Unter der Leitung von Gottfried Kühnel (1954–1965) und Werner Schwidder (1965 bis 1970) entstand nach dem Krieg aus dem früheren Landeskrankenhaus Rasemühle das Landeskrankenhaus Tiefenbrunn.

Abb. 32: Rudolf Redepenning

Abb. 33: Gottfried Kühnel

Abb. 34: Werner Schwidder

Danach ging es so weiter : – Franz S. Heigl (1971 bis 1985) – Nachfolger : – Ulrich Streeck – Carsten Spitzer – Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie: – Johann Zauner – Anette Streeck-Fischer – Arthur Ballin – Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie: – Christian Fricke-Neef

Abb. 35: Franz Heigl

Abb. 36: Ulrich Streeck

Abb. 37: Anette Streeck-Fischer

Die Geschichte der Psychiatrie in Göttingen – Schwerpunkt LKH

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Aus der Geschichte lernen Was können wir nun aus diesen historischen Aspekten zur Entwicklung der Psychiatrie in Göttingen lernen? Seit 1866 war die Psychiatrie mit vielfältigen gesellschaftlichen Erwartungen und auch unethischen Ansinnen konfrontiert. Daraus müssen wir lernen, dass es sich lohnt und das wir verpflichtet sind, uns unermüdlich dafür einzusetzen, – dass unsere Patienten nach bestem medizinischen Wissen behandelt werden, – dass sie am gesellschaftlichen Leben – im wohlverstandenen Sinne des Inklusionsgedankens – teilhaben können, – dass sie nie wieder ausgegrenzt werden und – dass sie stets die Wertschätzung unserer Gesellschaft erfahren. Das setzt voraus, dass wir unsere Patientinnen und Patienten stets in ihrer Individualität im Blick behalten, nicht als Randgruppe und nicht als Kostenfaktoren. Das setzt auch voraus, dass wir stets bereit sind, auch unbequeme Thesen zu vertreten, wo es im Interesse der Patientinnen und Patienten notwendig erscheint. Georg-Christoph Lichtenberg hat das in einem Aphorismus so ausgedrückt: »Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.«

Hiernach zu handeln wird uns als in der Psychiatrie Tätige langfristig auch dabei unterstützen, selbst die Wertschätzung der Gesellschaft erfahren zu dürfen.

Eckart Rüther

50 JAHRE Psychobiologische Wissenschaft an der Klinik für Psychiatrie der Universität Göttingen (1954–2006)

Im Folgenden wird versucht, einen Überblick über die Inhalte und Prinzipien der psychobiologischen Forschung an der Klinik für Psychiatrie der Universität Göttingen zu geben: vom Start der Klinik im Jahre 1954 an der Von-Sieboldstraße 5, dem Neubau der Klinik unter der Leitung von Gottfried Ewald bis zum Ende des Direktorats von Eckart Rüther 2006. Die psychobiologischen Forschungen in dieser von Ewald gegründeten Universitätsklinik für Psychiatrie basierten auf den vorangegangenen langjährigen wissenschaftlichen Arbeiten an verschiedenen Orten der Tätigkeiten von Ewald (R. Stobäus, Dissertation Göttingen 1995: Gottfried Ewald ein biografischer Versuch). Wichtig ist, sich klarzumachen, wie Ewald begonnen hat. Er wollte ursprünglich Internist werden und arbeitete in einem physiologischen Institut, bei dem es um ernährungsphysiologische Fragen ging, damit letztendlich um Inhalte, die man mithilfe des Verständnisses von Physiologie und Biochemie des Körpers erfassen kann. Danach war bei Ewald grundsätzlich ein naturwissenschaftliches Denken mit einem psychologischen Denken gekoppelt. Er hatte immer den Versuch gemacht, für psychische Phänomene eine biologische Grundlage zu finden und die Zusammenhänge darzustellen. Für Ewald war die Psychiatrie ein Teilgebiet der Medizin und ein naturwissenschaftliches Fach. Nach seiner Überzeugung war das Herangehen mit psychologisch geschultem Auge an biologische Probleme und umgekehrt das Anlegen biologischer Maßstäbe an Ergebnisse der Psychologie nicht nur berechtigt sondern eine Pflicht der Wissenschaft. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte er seine Forschung auf dem Gebiet des Charakters und der Temperamente. Aus dem angeborenen Charakter entsteht unter dem Einfluss von Milieu und Erlebnis ein erworbener Charakter. Hier lag auch der tiefere Grund, weswegen er sich gegen die damals herrschende Naziideologie wandte. Die vier Jahre, die Ewald noch in der neugegründeten Klinik an der Von- Sieboldstraße 5 arbeitete, waren geprägt von seinen Mitarbeitern, die sich mit Psychotherapie und psychischen Symptomen bei neurologischen Erkrankungen beschäftigten, mit dem Elektroschock und Insulinschock. Forensische Psychiatrie und Sozialpsychiatrie gehörten zu sei-

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Eckart Rüther

nen Bemühungen. Ewald beherrschte noch die beiden Fachgebiete Neurologie und Psychiatrie. Sein Lehrbuch ist ein Meilenstein der damaligen psychiatrischneurologischen Wissenschaft. Von 1958–1961 war Klaus Conrad Direktor der Klinik für Psychiatrie der Politik Göttingen. Seine Überzeugung war, dass nur auf dem Boden der NeuroPathologie die psychischen Phänomene erklärt werden können. Seine Hauptwerke, die Beginnende Schizophrenie und Die symptomatischen Psychosen haben die Einstellung von Ewald fortgesetzt, dass psychische Phänomene eine biologische Grundlage haben. In diesem Sinne war diese kurze Zeit in Göttingen auch von Conrad konzipiert worden. Der Nachfolger war Joachim E. Meyer (1963–1985), dessen wissenschaftliche Tätigkeit und Grundüberzeugungen in dem Artikel von Lauter in diesem Buch ausführlich dargestellt werden. Große ethische Verantwortung war die Basis seiner Psychiatrie. Seine Forschung zeigte deutlich eine Verbindung von biologischer Sicht mit verstehender Menschlichkeit gegenüber den psychiatrischen Patienten. Unter seiner Leitung wurde in der Klinik nicht nur Psychopathologie und Philosophie der Psychiatrie bearbeitet, sondern auch die moderne Psychopharmakologie, Abhängigkeit von psychotropen Substanzen bis hin zu neurophysiologischen Untersuchungen der neurophysiologischen Zusammenhänge von Bewegungen durch Freiland Experimente an Kaninchen. Aus dieser Zeit stammt die erste Ableitung einer Penisplethysmographie in der Nacht mit dem Nachweis der Erektion im REM–Schlaf. Die langjährigen Forschungen auf dem Gebiet der Essstörung und Ernährung fanden hier großartige Unterstützung und Anregung. Der Nachfolger Eckart Rüther (1987–2006) implementierte in die Versorgung der Patienten und die psychiatrische Forschung der Klinik die Idee, dass ein Wechselspiel zwischen biologischen Bedingungen und seelischen Ereignissen der Gegenstand des Interesses sein muss. Von ihm wurde nicht akzeptiert, was in der sogenannten biologischen Psychiatrie immer wieder zu erheblichen Missverständnissen führte, dass nämlich die Biologie mit Ätiologie gleichgesetzt werden sollte, und sogar einziger ätiologischer Faktor von psychischen Störungen sein könnte. An verschiedenen Störungsbildern und Methoden wurde dies dann in der psychobiologischen Forschung der Klinik beispielhaft bearbeitet. Der Umbau der Klinik zeigt die methodische Herangehensweise an diese Fragestellung. Auf der einen Seite im Norden lag das neurobiologische Zentrum mit Labor und im Süden die neuropsychologische Abteilung. In der Mitte die Klinik, in der sich translational die Grundlagenforschung bewähren musste. Eine Fülle von Abteilungen und Themen wurde je nach Interesse der Mitarbeiter aufgebaut. Die vorhandenen Abteilungen der Ernährungspsychologie, der Suchtforschung, der Schizophrenie Forschung bekamen einen neuen Impetus. Die Neurobiologie

50 JAHRE Psychobiologische Wissenschaft

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und die Neuropsychologie wurden sowohl selbstständig in der Grundlagenforschung als auch in der Bereitschaft, jeweils methodisch zu helfen, eingesetzt. Eine zentrale Stelle nahm die Schlafforschung ein. Hier wurde die psychophysiologische Insomnie als Beispiel genommen, die psychophysiologische Interaktion wissenschaftlich zu erforschen. Es zeigte sich, dass die psychische Störung des Schlafes zu Fehlverarbeitung von Träumen wird. Nach mehreren Jahren dieser pathologischen Bedingungen scheint sich ein biologischer Mechanismus zu entwickeln, der zu weiteren Schlafstörungen und zu organisch festgefügten Fehlsteuerungen der Schlaforganisation führen kann. Daraus entwickelte sich die Affekt-Hypothese des Traums, die zu einer neuen Form der Psychotherapie gestaltet wurde. Eine neue Methode der kontinuierlichen Blutfluss-Messung wurde zur Darstellung der energetischen Muster im Schlafverlauf entwickelt, um wieder ein Beispiel der psychophysischen Interaktion aufzuzeigen. Andererseits wurde auf der Ebene der Neurobiologie versucht, die biologische Basis der Demenzen im Einzelnen zu erforschen. Tiefgehende neurobiologische Mechanismen wurden entdeckt. Daraus wurden neue biologische Prinzipien der Therapie entwickelt. Die Beeinflussung dieser Mechanismen durch entsprechende psychotherapeutische und neuropsychologische Verfahren harrt der methodischen Verwirklichung. Hier war die Angst Forschung schon weiter gediehen. Die neurobiologische Hypothese der Angststörung führte zu einer verhaltenstherapeutischen interventionellen Therapie, die gute Ergebnisse zeigte. Im Bereich der Suchtforschung ergaben sich zunehmend biologisch orientierte Studien wie beispielsweise zur Rolle des Homocysteins. HomocysteinPlasmaspiegel sind bei Alkoholabhängigen Patienten, die intoxikiert zur Entgiftung kommen, evident erhöht. Plasmawerte oberhalb eines cut-offs von 40umol/L können Alkoholentzugsanfälle prädizieren. Weiterhin korrelieren erhöhte Homocysteinwerte positiv mit dem Ausmaß der Hirnatrophie bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit, was in Studien mit struktureller, volumetrischer Bildgebung gezeigt werden konnte. Die große Anzahl von wissenschaftlichen Arbeiten ist nur möglich gewesen, da verschiedene Bedingungen optimal ausgeschöpft werden konnten: Auf der einen Seite war die finanzielle Unterstützung der Fakultät und der DFG sowie der pharmazeutischen Industrie unabdingbar Voraussetzung für derartige groß angelegte und komplexe Studien. Andererseits wurden die Möglichkeiten der Vernetzung mit den umliegenden Göttinger Instituten wie Max-Planck-Institut und Primatenzentrum benutzt, um die methodische Vielfalt zu erweitern. Dies führte dann zu einer ganz neuen Art der interdisziplinären Forschung auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie. Nicht unerwähnt sei der Einfluss der internationalen Zusammenarbeit mit

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verschiedenen Ländern. Besonders hervorzuheben ist der Beginn eines fruchtbaren Austausches mit asiatischen Ländern wie China und Vietnam. Eine derartige Forschung sollte nicht ohne mediale Präsenz bleiben. Sowohl Populär wissenschaftliche Publikationen als auch Auftreten im Fernsehen und Rundfunk haben auf die eigene Forschung im Hause eine außerordentlich positive Rückwirkung gehabt. Einen herausragenden Stellenwert hat in diesem Kontext die Fernsehserie Forschungsreisen in die Psychiatrie bekommen, die noch nach fast 20 Jahren im deutschen Fernsehen gesendet wird. In der Psychiatrie haben psychobiologische Konzepte eine wissenschaftliche Basis für translationale Therapieformen erhalten. Die etwa fünfzig Jahre Forschung an der Klinik für Psychiatrie der Universität Göttingen waren in jeder Hinsicht ein Vorreiter und Wegbereiter für eine moderne Psychiatrie. Die nachfolgenden Direktoren haben dieses Konzept weiterentwickelt.

Iris Hauth

Aktueller Stand der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen

Vortrag anlässlich des Symposiums 150 Jahre Universitätspsychiatrie Göttingen am 26. Mai 2016 in Göttingen (Dr. med. Iris Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, 2014–2016; Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee) Seit den neunzehnhundert-neunziger Jahren hat die Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland eine umfassende Veränderung erfahren. Der Bericht über die Lage der Psychiatrie in Deutschland wurde vor 41 Jahren dem Bundestag übergeben und hat zu weitreichenden Konsequenzen sowie seinerzeit zu einer umfassenden Medienaufmerksamkeit geführt. So wurde über psychiatrische Anstalten geschrieben, in denen sich 70 Patienten eine Badewanne teilen mussten, der überwiegende Anteil an Patienten in Schlafsälen mit zehn oder mehr Betten untergebracht war und die elementarsten Bedürfnisse in großen Krankenhäusern mit zum Teil über tausend Betten nicht annähernd erfüllt werden konnten. Die zentralen Forderungen der Psychiatrie-EnquÞte bestanden in einer Enthospitalisierung der Langzeitpatienten, in einem Ausbau ambulanter Behandlungen und psychiatrischer Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern, Tageskliniken und Institutsambulanzen sowie einer Etablierung gemeindenaher ambulanter und teilstationärer Versorgung. Kooperation und Koordination aller Leistungsanbieter sollte dringend verbessert werden, um eine bedarfsgerechte Versorgung aller psychisch Kranken zu gewährleisten und insbesondere auch eine Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken zu erwirken. Die Kontinuität von Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen sollte zentrales Anliegen der Behandlung sein. In der Folge dieser Reformen ist es zu einem wesentlichen Rückgang der Verweildauer psychisch Kranker in psychiatrischen Kliniken und Anstalten gekommen, die in den siebziger Jahren noch zwischen drei und acht Monaten lagen, auf eine mittlere Verweildauer von 22,5 Tagen im Jahr 2014. Noch zu Beginn der neunziger Jahre verbrachten Patienten im Mittel über sechzig Tage in stationärer psychiatrischer Behandlung, so dass die Veränderung der letzten

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fünfundzwanzig Jahre eine weitere Enthospitalisierung psychisch Kranker ermöglichte. Betrug die Bettenzahl in psychiatrischen Krankenhäusern in den siebziger Jahren vor der Psychiatrie-EnquÞte noch über 100.000, so hat sich deren Anzahl bis ins Jahr 2014 annähernd halbiert auf mittlerweile etwa 55.000. Anfang der neunziger Jahre betrug die Anzahl der Betten in der psychiatrischen Versorgung noch deutlich über 70.000. Psychische Erkrankungen gehören zu den wesentlichen gesundheitsökonomisch relevanten Erkrankungen in Deutschland. Sie sind ein wesentlicher Grund für Erwerbsunfähigkeit, Frühberentung und Krankschreibung. In der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland im Zusatzmodul psychische Gesundheit1zeigte sich, dass jährlich 27,8 % der Bevölkerung von mindestens einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Vorrangig handelt es sich hierbei um Angststörungen, die mit 15,4 % die häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland darstellen, gefolgt von unipolaren Depressionen (8,2 %) und Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (5,7 %). Die Prävalenz psychischer Erkrankungen hat hierbei jedoch nicht zugenommen. Im Vergleich zum BGS 982 liegt die Jahresprävalenz im Verlauf der zurückliegenden fünfzehn Jahre bei etwa um 30 %, wobei Angststörungen tendenziell leicht abnehmend und affektive Störungen leicht zunehmend beschrieben wurden. Jedoch ist die Behandlungsrate von psychischen Erkrankungen seit 1998 von 20 auf 24,5 % und damit um über ein Viertel gestiegen3. Unter der Voraussetzung der reduzierten Bettenzahl und der verminderten Verweildauern stellt sich konsequenterweise die Frage, wie sich die steigende Inanspruchnahme bewältigen lässt. Hierzu vorliegende Daten zeigen an, dass die Leistungsverdichtung inzwischen annähernd an ihre Grenzen gekommen ist. Die Entwicklung der Leistungsdaten psychiatrischer Kliniken von 1990–2014 zeigen einen etwa 2,5-fachen Anstieg der Fallzahlen bei kontinuierlich kompletter Bettenauslastung und um mehr als ein Drittel dezimierter Bettenzahl im Beobachtungszeitraum. Die Verweildauer in den Kliniken ist noch in deutlicherem Maße in den zurückliegenden 25 Jahren abgefallen (Statistisches Bundesamt, Grunddaten der Krankenhäuser). Ein besonderes Problem stellen hierbei die Kliniken selbst dar, die natürlich versuchen, Struktur und Personaldichte aufrechtzuerhalten, jedoch insgesamt nur eine Erfüllung der PsychPV von 90 % und weniger erreichen. Fraglich ist, inwiefern inzwischen existierende wissenschaftliche Leitlinien umgesetzt werden können und die Ergebnisse des medizinischen Fortschrittes der letzten fünfundzwanzig Jahre finanzierbar sind, insbesondere für psychosoziale Interventionen und Psychotherapien. Zudem stellt sich die Frage, ob das Leistungsangebot der 1 DEGS1-MH, Jacobi et al. 2014 und 2015. 2 Jacobi et al 2014. 3 Degs, Mack et al. 2014.

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Kliniken nach PsychPV und Bundespflegesatzverordnung als leistungsrecht bezeichnet werden kann und eine patientenorientierte Qualität der Behandlung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ›Quality of Life‹ erreichbar gemacht werden kann. Das pauschalisierte Entgeltsystem in der Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) gefährdet kurz- und mittelfristig die nationale Versorgung. Ein positiver Schritt ist ein neues Konzept eines Budget-basierten Entgeltsystems, das durch achtzehn Fachgesellschaften und Verbände der Plattform Entgelt entworfen worden ist und den Koalitionsparteien am 18. Februar 2016 vorgelegt werden konnte zu einem neuen Referentenentwurf vom 19. Mai 2016 führte. Ein solches Budget-basiertes Entgeltsystem baut im Wesentlichen auf ordnungspolitische Rahmenbedingungen und regionalen Versorgungsbedarf auf, führt zu einem krankenhausindividualisierten Budget mit assoziierten Abrechnungsgrößen, Abschlagszahlungen auf das Budget und Ausgleichen bei Mehr- bzw. Mindererlösen und legt durch einen bundesweiten Vergleich und Vorgaben über entsprechende Expertenkommissionen merkmalsbezogene Module, qualitative und quantitative Personalbedarfsplanungen und krankenhausindividualisierte Strukturkomponenten fest, die auch zu einem krankenhausindividualisierten Budget führen. Positive Aspekte dieses Referentenentwurfes Psych-VVG wären eine Aufgabe des herkömmlichen Preissystems und ein hausindividuell zu verhandelndes Budgetsystem, der Verzicht auf eine bundeseinheitliche Konvergenz mit individueller Konvergenz der hausindividuellen Budgets auf Grundlage eine Landesentgeltwertes; verbindliche Personalmindeststandards sollten konsequenterweise durch den G-BA festgelegt werden und hierbei insbesondere stationsäquivalente Behandlungen ohne Krankenhausbett (Hometreatment), diese muss verbindliche Mindeststandards durch die Krankenkassen finanziert sehen und Budgetverhandlungen mit weiterhin prospektiver Leistungsplanung auf Grundlage des PEPP-Katalogs. Die Frage bleibt, wie Bürokratie vermindert werden kann bei weiterer OPS-Dokumentation und PEPP-Kalkulation sowie MDK-Prüfungen. Die Anzahl ambulant tätiger Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie hat sich in Deutschland seit 1994 mehr als verfünffacht, sie beträgt aktuell etwa 3.900 Ärzte. Vergleichbar ist die Anzahl der ambulant tätigen Ärzte für Psychosomatik und Psychotherapie mit aktuell 3.058. Die Zunahme psychotherapeutischer Praxen (aktuell 27.778) sorgt für einen weiteren Ausbau ambulanter Versorgungsangebote4. Insbesondere hat sich aber auch das Versorgungsangebot weitgehend differenziert. Die ambulanten Versorgungsangebote werden durch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für Psychosomatik und Psychotherapie, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten, psychiatri4 GBE-bund, Finanzen 2014.

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sche Pflegedienste, Sozialarbeiter, Soziotherapeuten, Krisendienste, sozialpsychiatrische Dienste und weitere geleistet. Insbesondere der Aufbau ambulanter Dienste zum assistierten Wohnen und zu assistierter Arbeit (Eingliederungshilfen) hat sich in den zurückliegenden Jahren enorm entwickelt, ebenso wie Angebote zur ambulanten psychiatrischen Pflege und ambulanten Soziotherapie. Dennoch ist die ambulante Versorgung einer eklatanten Problemlage unterworfen: Ein Psychiater in Niederlassung behandelt durchschnittlich 400 Fälle pro Quartal, wobei die Spannweite von zweihundert bis über achthundert Fälle reicht und ein Entgelt von etwa 50 Euro pro Quartal erwirtschaftet werden kann. In psychotherapeutischen Praxen von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten liegt die Fallzahl bei etwa fünfzig Fällen pro Quartal und liegt damit auch deutlich unter quartalsweisen Fallzahlen niedergelassener Kinderund Jugendpsychiater und -psychotherapeuten mit 285 Fällen pro Quartal5. Die aktuelle Nervenarztdichte unterliegt in Deutschland einer regional sehr unterschiedlichen Verteilung. Betrachtet man die aktuelle Nervenarztdichte gegenüber dem relativen Bedarf, bei dem bedarfsrelevante Faktoren wie die Alters- und Einkommensstruktur der Bevölkerung, der Anteil von Arbeitslosen und Pflegebedürftigen sowie die Sterblichkeit berücksichtigt wird, zeigen sich doch deutliche Abweichungen der Plankreise mit z. B. deutlich niedrigerer Nervenarztdichte in den neuen Bundesländern (besonders Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern), z. T. höherer und deutlich höherer Nervenarztdichte im Vergleich zum relativen Bedarf in West- und Südwestdeutschland. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Unterversorgung in den neuen Bundesländern und in ländlichen Regionen (Faktencheck Gesundheit. Regionale Verteilung von Arztsitzen, Bertelsmann Stiftung 2015). Ein ähnliches Schema ergibt sich bei Betrachtung der aktuellen Psychotherapeutendichte gegenüber dem relativen Bedarf mit deutlich niedriger Therapeutendichte in den neuen Bundesländern, insbesondere im Nordosten Deutschlands und höherer Therapeutendichte im Südwesten und den Großstädten. Die Problemlage der ambulanten Versorgung äußert sich nicht nur in überlangen Wartezeiten von mehreren Wochen in Arztpraxen, Wochen bis Monate für Richtlinienpsychotherapie, sondern auch an großen Angebotslücken, z. B. für Menschen mit Demenzen und Suchterkrankungen, schizophrenen und bipolaren Psychosen, die kaum Psychotherapien erhalten. Ebenso ist für ambulante Psychiater eine Honorierung von 50 Euro pro Fall pro Quartal insgesamt als schlecht zu bezeichnen. Die Bedarfsplanung ist mangelhaft und zeigt eine deutliche Unterversorgung in ländlichen Regionen. 5 Abrechnungsdaten der KBV-Leistungen des Quartal 1/2010 der GKV-Abrechnungen im gesamten Bundesgebiet. In Studie zur Versorgungsforschung: Spezifische Rolle der Ärztlichen Psychotherapie (2011).

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Bereits die Psychiatrie-EnquÞte hatte vor über vierzig Jahren darauf hingewiesen, »ein Hauptmangel des derzeit bestehenden Versorgungssystems und einer der Gründe, weshalb eine durchgreifende Reform bisher nicht vollzogen wurde, ist das Fehlen einer wirksamen Koordination im System der beratenden, betreuenden und therapeutischen Angebote für psychisch Kranke und Behinderte« (Drucksache 7/1124 EnquÞte über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland). Das Versorgungs- und Finanzierungssystem in Deutschland ist als ausgesprochen zersplittert zu bezeichnen. Die Koordination der beteiligten Behandler (SGB V), Rehabilitationsangebote (SGB VI), der beruflichen Rehabilitation (SGB IX), der Eingliederungshilfe (SGB XII) und anderer Behandlungs- und Betreuungsangebote wie sozialpsychiatrischen Diensten, Beratungsstellen, betreuten Wohnformen oder Tagesstätten ist nach wie sehr schwierig, kompliziert, z. T. schwer lösbar. Bereits eine Empfehlung der Expertenkommission der Bundesregierung von 1988 hat sich dafür ausgesprochen, »in jeder Versorgungsregion den Aufbau eines gemeindepsychiatrischen Verbundes in Angriff zu nehmen«. Eine durchgreifend verbesserte Koordination, Kooperation, ein patientendienliches Case-Management mit dem Patienten im Zentrum der institutionalisierten und niedergelassenen Behandlung, Rehabilitationsbehandlungen und anderen wesentlichen Angebotsdiensten ist eine zentrale Aufgabe geworden. Insbesondere die Situation an den Schnittstellen der Behandlung vereitelt eine Behandlungsplanung, die leitliniengerecht ist, womit eine strukturierte Kooperation bislang in keiner Weise umgesetzt werden konnte6, so dass eine zielgerichtete Therapieplanung über Hausärzte, Fachärzte, psychologische Psychotherapeuten, andere Psychotherapieerbringer, Fachkrankenhäuser und Fachabteilungen, Institutsambulanzen und Rehabilitationseinrichtungen momentan noch deutlichen Hemmnissen unterworfen ist. Abgestimmte modulare Leistungen und Behandlungspfade nach SGB V, die von ambulanten Leistungen und gemeindepsychiatrischen Leistungen mit eher geringerem Bedarf eingestuft werden, über Leistungen des höheren Bedarfs bis hin zu hochkomplexen Bedarfsplanungen, in deren Behandlungen Kriseninterventionen, Institutsambulanzen und Tageskliniken inzwischen umgesetzt werden, können patientenzentriert die Fortschritte in Diagnostik und Therapie im Fachgebiet berücksichtigen. Somit dürften auch integrierte Psychotherapie in der Psychiatrie verbessert werden, um störungsspezifische Psychotherapieangebote machen zu können. Ebenso würde das Training sozialer Fähigkeiten, Psychoedukation, Bezugspflege, Ergo-, Kunst- und Musiktherapie, Empowerment, Rehabilitation kognitiver Defizite, integrierte gemeindenahe Versor-

6 Z. B. S3-Leitlinie Depression 2009.

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gungsdienste und moderne Psychopharmakotherapie im Sinne einer patientenzentrierten Behandlung abzustimmen sein. Denn betrachtet man in der Praxis, wo Menschen mit einer psychischen Erkrankung tatsächlich behandelt werden, so zeigt sich7, dass 50 % der Betroffenen nicht fachspezifisch behandelt werden, sondern vielmehr nur durch Hausärzte und andere medizinische Dienste. Weniger als ein Drittel befindet sich in nervenärztlicher Behandlung, der Anteil an stationär und ambulant behandelten Patienten liegt bei etwa 20 %. Der Anteil an Patienten, die sich in ärztlicher und psychologisch-psychotherapeutischer Behandlung befinden, ist als geringer als 3 % einzuschätzen. Betrachtet man die Inanspruchnahme niedergelassener Ärzte in den zurückliegenden zwölf Monaten, bevölkerungsanteilig im Vergleich BGS98 und DEGS1 zeigt sich gerade bei den Patienten im Alter über fünfzig Jahren eine doch recht hohe Inanspruchnahme von etwa 10 %, insbesondere der DEGS1 weist auf eine konstant hohe Nutzung bis ins höchste Lebensalter hin. Im Gegensatz hierzu ist die Inanspruchnahme niedergelassener Psychotherapeuten deutlich niedriger und fokussiert sich vorrangig auf die Altersgruppe der unter 40-jährigen, wobei BGS98 und DEGS1 ungefähr parallele Kurven zeigen mit Inanspruchnahmen gerade bei den Höherältrigen deutlich unter 5 %.8 Schaut man sich am Beispiel der schweren Depression den therapeutischen Behandlungsbedarf im Detail an (Faktencheck Depression 2014), so lässt sich erkennen, dass lediglich 14 der Patienten mit einer diagnostizierten schweren Depression eine leitliniengerechte Behandlung erfahren. Annähernd 1/3 der Patienten mit einer schweren Depression erhält eine alleinige antidepressive Monotherapie ohne Psychotherapie oder stationäre oder Komplexangebote. Annähernd 1/5 der Patienten bleibt ohne Behandlung. Die Versorgungsrealität im Bereich der niedergelassenen Psychotherapeuten spricht für eine eindeutige Unilinearität. Nach TK-Modellvorhaben »Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie« (2011) sind mehr als 9 von 10 Patienten, die eine ambulante Psychotherapie erhalten, Patienten mit einer affektiven Störung (Depression) oder einer Angst- oder somatoformen Störung. Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung machen hierbei weniger als 3 % aus. Der Anteil von Patienten mit einer Suchterkrankung oder schizophrenen Erkrankungen oder einem adulten ADS liegt insgesamt bei geringer als 1 %, so dass insbesondere in diesem Bereich ein wesentlicher Nachholbedarf zu liegen scheint. Weiterhin sind Patienten mit bestimmten psychiatrischen Diagnosen einer eklatanten Stigmatisierung in der Bevölkerung unterworfen. Im Vergleich von 1990 zu 20119 zeigt sich für Patienten mit einer typischen Depression eine 7 Bundesgesundheitssurvey 1998, Wittchen & Jacobi 2001. 8 Bundesgesundheitsblatt 2013. 9 Angermeyer et al. 2013.

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deutliche Zunahme der Ablehnung, Betroffene für eine Arbeitsstelle zu empfehlen (45 % im Vergleich zu 40 % 1990). Bei den schizophrenen Erkrankungen sind die Vorbehalte z. T. noch deutlicher spürbar. Annähernd ein Drittel der Allgemeinbevölkerung möchte ungern einen schizophrenen Patienten in der Nachbarschaft haben oder mit ihm zusammenarbeiten. Entsprechend zeigen sich auch Steigerungszahlen von um die 10 % über die letzten zwei Jahrzehnte. Dennoch erweist sich gerade bei den Rentenzugängen wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit, dass über die zurückliegenden zwanzig Jahre die psychischen Erkrankungen mit 43 % deutlich an erster Stelle rangieren und hier inzwischen die Erkrankungen des Bewegungsapparates und des Herz-Kreislauf-Systems deutlich hinter sich gelassen haben. Entsprechend zeigt sich nach DAK Gesundheitsreport 2015, dass psychische Erkrankungen mit einem Anteil von 17 % national nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 23 % die meisten Tage mit Arbeitsunfähigkeit verursachen und entsprechend auch lange Krankschreibungen mit durchschnittlich 35 Tagen bedingen. So liegen die psychischen Erkrankungen in der Statistik deutlich von den Erkrankungen des Atemsystems und unfallbedingten Verletzungen, was zukünftig deutliche Reformforderungen für die Teilnahme am Arbeitsleben nach sich zieht. Die DGPPN-Expertise zur Arbeitssituation für schwer psychisch Kranke10 gibt an, dass bis zu 2 % der 18bis 65-jährigen schwer psychisch erkrankt sind, was für Deutschland eine Anzahl von Betroffenen von etwa 12 bis 1 Millionen Menschen ausmacht. 50 % der Menschen mit einer chronischen psychischen Störung gehen keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach, die meisten schwer psychisch Kranken befinden sich vielmehr in einer geschützten Werkstatt für behinderte Menschen und stehen langfristig im ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Somit stellen sich viele Fragen bezüglich der Erfüllung der zentralen Forderung der Psychiatrie-EnquÞte der 70er Jahre auch noch heute. Obgleich eine Enthospitalisierung der Langzeitpatienten durchaus erfolgt ist, ist doch keine Reintegration gesellschaftlicher Art bislang gut umgesetzt worden, auch der Ausbau ambulanter Behandler, psychiatrischer Abteilung an allgemeinen Krankenhäusern, Tageskliniken und Institutsambulanzen zeigt sich nur teilweise erfüllt. Versuche, gemeindenahe ambulante und teilstationäre Versorgung zu etablieren, befinden sich noch in den Anfängen. Noch unklarer bleibt, inwiefern sich zukünftig eine Verbesserung der Kooperation und Koordination aller Leistungsanbieter für die Versorgung psychisch Kranker etablieren lassen wird und ob hieraus überhaupt eine bedarfsgerechte Versorgung erfolgen kann. Die Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker zeigt sich bei weitem noch nicht erfüllt weitgehende Stigmatisierungen, Vorurteilsbildungen sind noch hoch prävalent. Versuche einer verbesserten Kontinuität von Behandlungs- und 10 BMAS 2013, Riedel-Heller und Gühne: Expertise Arbeitssituation.

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Rehabilitationsmaßnahmen befinden sich im Entwurf, sind aber bei weitem noch nicht bedarfsgerecht umgesetzt worden. Wo ist die Reform der nationalen psychiatrischen Versorgung steckengeblieben? Zum einen ist über die zurückliegenden Jahre ein zunehmender Ökonomisierungsdruck in der Psychiatrie aufgekommen (PEPP), wobei von Seiten der Gesundheitspolitik weitgehend die Vorstellung besteht, dass viele Psychiatriepatienten aus finanziellen Gründen im Krankenhaus gehalten und hiermit harte Fallpauschalen gerechtfertigt werden. Weiterhin zeigt sich, dass z. B. nur jeder vierte Patient mit einer typischen Depression eine angemessene Therapie erhält. Die Wartezeiten für Psychotherapieplätze sind weiterhin als katastrophal zu bezeichnen. Dennoch werden psychische Erkrankungen zum Massenphänomen, die nicht nur zunehmend in ihrer Prävalenz sondern auch in den gesundheitspolitischen Auswirkungen erscheinen. Gerade diese steigende Inanspruchnahme gilt es zu bewältigen – aber wie? Essentiell wäre eine zeitnahe diagnostische Einschätzung und Beratung bezüglich der verschiedenen Versorgungsangebote (idealerweise innerhalb von 2 Wochen), wobei zu klären ist, ob ggf. Kriseninterventionsmaßnahmen im individuellen Fall ausreichend erscheinen könnten. Im Bedarfsfall sollte jedoch das Angebot für strukturiert-verbindliche Versorgung erfolgen und die Koordination der Leistungserbringer (incl. Hausärzte) im Sinne von Stepped-CareModellen bzw. Versorgungspfaden laufen, was letztendlich möglicherweise mit Akutsprechstunden, integrierten Versorgungen nach §140 SGB V DMP Depression und anderen Modellprojekten und Innovationsfonds angegangen werden könnte. Eine entsprechende Akutsprechstunde für psychisch Erkrankte sollte somit eine Bedarfsklärung innerhalb von zwei Wochen ermöglichen, die vorrangig durch Fachärzte, ärztliche Psychotherapeuten und medizinische Versorgungszentren sowie psychiatrische Institutsambulanzen abgedeckt werden könnte, jedoch auch durch psychologische Psychotherapeuten, die über die notwendigen strukturellen Voraussetzungen verfügen. Diese sollte eine orientierende Diagnostik mit Abklärung des individuellen Bedarfs und gezielte ergebnisoffene Beratung zu Angeboten und Zugangswegen mit sich bringen und ggf. die Zuleitung in entsprechende Angebote koordinieren, falls notwendig, in Kriseninterventionsmaßnahmen. Sollte hierbei kein weiterer therapeutischer oder diagnostischer Handlungsbedarf entstehen, könnte über Information und Beratung eine gewisse Anleitung zur Selbsthilfe folgen. Bei therapeutischem und diagnostischem Behandlungsbedarf wäre zu klären, ob fachärztliche oder multimodale Diagnostik mit eventuell somatischer Versorgung zwingend ist, somit integrative Konzepte psychiatrisch psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Interventionen mit gruppen- und soziotherapeutischen Angeboten und Richtlinienpsychotherapie angeboten werden müssen sowie teilstationäre oder stationäre Angebote. Sollte weiterführende Diagnostik durch

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Fachärzte nicht nötig sein, würde eine Weiterversorgung durch ärztliche und psychologische Psychotherapeuten im Sinne von Gruppentherapiemaßnahmen und Kurzintervention nach Richtlinie einsetzen. Der Vorschlag der DGPPN z. B. DMP Depression fordert einen Hausarzt als Lotse oder »Gatekeeper«, der den Behandlungsverlauf steuert, den Zugang zur Sekundärversorgung initiiert, kontrolliert und in die fachärztliche und psychotherapeutische Diagnostik und Therapie weiterleitet, ggf. in die stationäre Akutversorgung und nachfolgende Rehabilitationsbehandlung. Hierfür ist eine strukturierte Kooperation der Versorgungsebenen wesentlich, insbesondere incl. eines Monitorings und Kontakthaltens mit Patienten zur Früherkennung von Rückfällen und Vermeidung von Drehtüreffekten und Rehospitalisierung. Ein solches Zukunftskonzept sollte populationsorientiert und sektorenübergreifend präventive und versorgende Maßnahmen der Primär-, Sekundär- und stationären sowie teilstationären Versorgung integrieren und die anbieter- und sektorenorientierte Stückelung des traditionellen Systems hinter sich lassen. Hinzu gehört zudem eine bessere Zusammenarbeit mit Betroffenen und Angehörigen mit Stärkung von Patientenautonomie, Berücksichtigung der Aspekte von Lebensqualität, Empowerment, Recovery-Konzepte bei allen angestrebten Aktivitäten. Höchst wünschenswert wären durch moderne Kommunikationsmedien gestützte Therapie-, Aufklärungs- und Antistigmakampagnen sowie eine verbesserte Förderung der Umsetzung der UN-BRK (Aktionsplan DGPPN). Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist auch die Umsetzung von Menschenrechten im Bereich der Versorgung psychisch Kranker, was im Zeitverlauf zu einer zunehmenden Entstigmatisierung führen sollte. Hierzu gehört auch die Achtung der Selbstbestimmung der Betroffenen und Regelung ethischer Aspekte (Vorsorgevollmachten, Patientenbestimmung, etc.). Zusammenfassend zeigt sich, dass im Bereich der nationalen Versorgung psychischer Erkrankungen ein steigender Behandlungsbedarf evident ist, jedoch wirksame Koordination im System der ambulanten und stationären Behandlungsangebote noch weitgehend fehlt. Eine mangelnde flächendeckende Bedarfsplanung ist nach wie vor vorhanden, die Vertragsärzte sind deutlich unterfinanziert. Ebenso zeigen sich die Kliniken unzureichend finanziert bei zunehmender Leistungsverdichtung, zunehmender Inanspruchnahme und steigendem ökonomischen Druck. Die Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland muss neu durchdacht werden. Es bedarf eines umfassenden integrativen, individualisierten sowie sektoren- und settingübergreifenden Versorgungssystems, das regional orientiert den wechselnden Bedarf des Pat. berücksichtigt. Es bedarf einer stringenten Weiterentwicklung des fraktionierten Versorgungssystems durch IV–Vertrage, Modellprojekte nach §64 SGB V, DMP sowie Innovationsfonds. Klar definierte Versorgungspfade mit modularem Aufbau je nach individuellem Patientenbedarf sind zu fordern und eine besser

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und klarer definierte Kooperation der Leistungsanbieter einer Region muss zeitnah umgesetzt werden. Insgesamt bedarf es weiterhin einer umgreifenden Reform der ambulanten und stationären Versorgungssysteme auf der Basis normativer Vorgaben im ordnungspolitischen Raum.

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So konnte es nicht weitergehen – ein Kapitel Geschichte der Psychiatrie und ihrer Kranken

Der scheinbar nichtssagende Titel »So konnte es nicht weitergehen – ein Kapitel Geschichte der Psychiatrie und ihrer Kranken« ist wohl nirgends besser und häufiger anwendbar als auf die Geschichte der Psychiatrie und ihrer Kranken. Deshalb werde ich Ihnen angesichts der Göttinger Psychiatriegeschichte über die fatalen Irrwege und ihr Scheitern berichten. Die Zeit, die wir überschauen umfasst 150 Jahre Klinik und Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Göttingen und 150 Jahre Geschichte eines progressiven Zeitraums der deutschen Psychiatrie in einer radikal veränderlichen Umwelt. Als erster Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie in Göttingen war Ludwig Meyer (1827–1900) 1866 berufen worden. Er machte die Klinik zu einer Reformanstalt, deren wechselvolle Baugeschichte vom Ernst-August-Hospital über die Vereinigten Kliniken bis zur Einweihung der Universitätsnervenklinik und zum Neubau in der Von-Siebold-Straße 1956 sich nicht in Kürze beschreiben lässt. Der Klinikchef Ludwig Meyer war kein Durchschnittsbürger. Ausgebildet als Architekt und Feldmesser entschloss er sich, an der damaligen Preußischen Universität Bonn Medizin zu studieren. Von revolutionären Ideen bewegt schloss sich der Student Meyer der republikanischen Bewegung an, deren Wortführer Prof. Gottfried Kinkel war. 1848, nachdem die Kunde revolutionärer Unruhen von Berlin auch nach Bonn gedrungen war, gründete die Stadt eine Bürgerwehr. Der Senat der Universität rief zur Bildung von Kompanien mit 40–60 Studenten unter dem Kommando eines Professors auf. Über die Kampfstärken solcher akademischer Truppenkontingente wissen wir nicht viel, Weniges lässt sich jedenfalls erschließen. Das revolutionäre Ziel jedenfalls war ehrenwert: Pressefreiheit und eine (republikanische) Verfassung. Am 12. April 1848 wurde auch in Bonn die Revolution ausgerufen. Am nächsten Tag marschierte ein preußisches Bataillon mit klingender Musik in Bonn ein – die erste Revolution war beendet! Nachdem König Friedrich Wilhelm IV von Preußen die ihm am 3. April von

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der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone abgelehnt hatte, gab es neue Unruhen, auch in der benachbarten Pfalz und in Baden. Gottfried Kinkel beschloss mit der Bonner Bürgerwehr und Sympathisanten das jenseits des Rheins gelegene Zeughaus in Siegburg zu stürmen, in dem 1.400 Gewehre, 80 Pistolen und viele Säbel und Lanzen lagen. Der Student Ludwig Meyer zog mit der aufgebrachten Meute gen Siegburg. Schon auf der Rheinbrücke lichtete sich die Zahl der Kämpfer. Am Ziel angekommen hatten die Revolutionäre ihre Anhängerschaft schon so weitgehend eingebüßt, dass sie darauf verzichten mussten, das Zeughaus zu stürmen. So endete die zweite Bonner Revolution. Die Revolutionäre wurden verhaftet und Kinkel im Kommunistenprozess 1852 zu lebenslanger Festungshaft verurteilt. Carl Schurz, der in den USA noch zu großem Ansehen gelangte, half ihm nach England zu fliehen. Der Revolutionär Ludwig Meyer wurde zu fünf Monaten Festungshaft verurteilt und von der Universität Bonn relegiert. Durch die Fürsprache von Rudolf Virchow konnte er das Medizinstudium in Würzburg und Berlin fortsetzen. 1852 promovierte er als Assistent und habilitierte sich 1857 als Oberarzt bei dem Psychiater Karl Wilhelm Ideler an der Charit8. Er reiste nach England und lernte bei John Conolly die No-Restraint-Methode1 kennen. Von seinem Freund Wilhelm Griesinger unterstützt, versuchte er, diese Methode auch im deutschen Irrenwesen einzuführen. Meyer gründete mit Wilhelm Griesinger und Karl Westphal das Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Die konservativen Anstaltspsychiater Damerow, Fleming und Roller gründeten die Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. Das waren damals Gegenwelten. Vom Revolutionär zum Gründer geworden schuf Ludwig Meyer eine psychiatrische Mehrgenerationen-Dynastie: Sein Sohn Ernst wurde Lehrstuhlinhaber in Königsberg, seine Enkel Hans Hermann Meyer und Joachim Ernst Meyer Lehrstuhlinhaber in Saarbrücken und Göttingen. Darüber und besonders über den Göttinger Joachim Ernst Meyer wird Ihnen Prof. Lauter (im folgenden Kapitel) berichten. 1858 ging Ludwig Meyer als leitender Oberarzt nach St. Georg in Hamburg und wirkte an der Planung der Irrenanstalt Friedrichsberg mit, die nach Wilhelm Griesingers Modell stadtnah in Hamburg-Eilbek errichtet und mit einer Poliklinik verbunden das No-restraint-Prinzip einführte. Der Revolutionär hatte sich zum Reformer gewandelt. Meyer vertrat eine radikale Gegenposition zu einem anderen Psychiatriereformer, dem konservativen Anstaltspsychiater Christian Roller aus Heidelberg, über den Sie gleich noch hören werden. 1 John Conolly. The Treatment of the Insane without Mechanical Restraints. Smith, Elder & Co, London, 1856.

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Nachdem Wilhelm Griesinger den neu geschaffenen Lehrstuhl für Psychiatrie in Göttingen abgelehnt hatte und an die Charit8 gegangen war, wurde Meyer 1866 als erster Ordinarius für Psychiatrie an die Universität Göttingen berufen. Damit begannen 34 Jahre aktiver Amtszeit – ein Jahr davon als Rektor – während er an Ihrer Klinik eine für damalige Zeiten vorbildliche Reformpsychiatrie betrieb.

Allgemeine Psychiatrie Die Geschichte der Psychiatrie hat zwei sehr unterschiedliche Traditionen. Einmal: Die akademische Tradition. Beispiele sind: – das zweibändige Werk (1922 und 1924) von Theodor Kirchhoff Deutsche Irrenärzte, Einzelbilder des Lebens und Wirkens2, – die nachfolgenden drei Bände Kurt Kolles unter dem glorifizierenden Titel Grosse Nervenärzte (1956–1970)3 und zuletzt – die zur Bescheidenheit im Titel zurückgekehrten zwei Bände Nervenärzte – Biographien von Schliack & Hippius (1998)4 und von Hippius, Holdorff und Schliack (2004)5. Sie dienen dem Ansehen bedeutender Psychiater und würdigen deren Verdienste. Die zweite Tradition ist: Die Geschichte der psychisch Kranken. Sie beginnt mit dem Übergang der Irrenfürsorge vom sozialen in das medizinische Modell. Seelisches Leid und abnormes Verhalten wurden nun als Krankheit verstanden und ihre Behandlung hoffnungsvoll an die Medizin übertragen. Aber der Aufbruch von Hoffnung erwies sich als Ouvertüre eines Trauerspiels, denn es gab weder Wissen über die Ursachen der psychischen Krankheiten noch eine wirksame Therapie der großen Psychosen. Die Psychiatrie musste sich auf den Betrieb von Irrenanstalten beschränken. Sowohl der Mangel an Therapie als auch die Überzeugung, dass alle Irren gefährlich seien, führten zur dauerhaften geschlossenen Unterbringung der Kranken. 2 Kirchhoff T (Hrsg.) Deutsche Irrenärzte: Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. 2 Bände. Hrsg. mit Unterstützung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München. Springer, Berlin, 1921, 1924. 3 Kolle K (Hrsg.) Große Nervenärzte. 3 Bände. Thieme, Stuttgart, 1956–1970. 4 Schliack H & Hippius H (Hrsg) Nervenärzte. Biographien. Bd. 1. Thieme, Stuttgart, New York, 1998. 5 Hippius, Holdorff & Schliack (Hrsg.) Nervenärzte. Biographien. Bd. 2. Thieme, Stuttgart, 2004.

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Der Direktor der ersten psychiatrischen Anstalt Heidelberg, Dr. Friedrich Groos (1768–1852), hat dies klar zum Ausdruck gebracht: »Die Irrenanstalt ist eigentlich als eine polizeiliche Anstalt, als ein Gefängnis aufzufassen. Bei den meisten Insassen besteht ohnehin keine Hoffnung auf Heilung. Durch die Internierung werden sie wenigstens der Öffentlichkeit entzogen.« (zit. nach Ammerer 20116, S. 52) Leitender Grundsatz der Irrenpflege war »der Schutz der öffentlichen Ordnung«, was sich auch im panoptischen Baustil, bspw. bei der 1844 bezogenen Anstalt Erlangen auswirkte. Langfristige, oft lebenslange geschlossene Unterbringung erforderte neben konsequenter Überwachung eine kollektive Disziplinierung der Kranken. In solchen autoritären Systemen gab es mitunter skurrile Züchtigungen der Kranken, die sich beispielsweise noch im Tagesplan 1928/29 der westfälischen Anstalt Marsberg finden. Die individuelle Therapie bediente sich meist qualvoller Plazebotechniken. Überwachung und Disziplinierung oblagen dem Pflegepersonal, das meist ein hartes militärisches Regime praktizierte, was die beiden Abbildungen männlicher und weiblicher Pflegemannschaften aus dem Westfälischen Krankenhaus für Psychiatrie in Münster und der Heilanstalt Ettelbruck in Luxemburg sichtbar machen. Das gesamte Personal war dem Direktor in beruflichen und persönlichen Angelegenheiten unterstellt. Das Selbstbewusstsein eines solchen psychiatrischen Herrschers brachte der Direktor der Münchner Kreisirrenanstalt Prof. K.A. v. Solbrig 1841 zum Ausdruck: »Der Arzt ist der Gott des Kranken, allgegenwärtig … mit dem Schatz seines materiellen Wissens und Erfahrenseins, … mit der Macht seiner Phantasie, mit der Schärfe des historischen Weltverstandes, mit dem Seherblick des religiösen Glaubens«.(zitiert nach Eberstadt 19467) In dieser extremen Dissonanz zwischen Größenphantasien der Ärzte und hilflosem Leid der Kranken konnte es nicht weitergehen. Die notwendige Reform unternahm Ludwig Meyers radikaler Gegenspieler, der Sohn des Pforzheimer Zuchthausdirektors C.W.F. Roller. Er hatte eine kurze psychiatrische Ausbildung bei Dr. Groos in Heidelberg erfahren. Roller vertrat die Theorie Imanuel Kants, Geisteskrankheit beruhe auf Entordnung der Vernunft. Er nahm an, dass die Ursachen in belastenden Umweltbedingungen und ungeordneter ausschweifender Lebensführung bestünden. Die Möglichkeit der Heilung sah er in der Rückführung der Kranken zur bürgerlichen Moral und zum religiösen Glauben. Dazu wollte er die Kranken von pa6 Ammerer H. Am Anfang war die Perversion. Richard von Krafft-Ebing. Styria, Wien, 2011. 7 Eberstadt EKA (1946) Von Solbrigs Liebe zu den Irren. In: Leibbrand W (Hrsg) Um die Menschenrechte der Geisteskranken. Die Egge, Nürnberg, S 31–49.

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thogenen Einflüssen isolieren: »Jeder Seelengestörte muß von den Personen getrennt werden, mit welchen er früher Umgang pflog; er muß an einen andern, ihm unbekannten Ort gebracht werden; die, welche ihn verpflegen, müssen ihm fremd seyn. Er muß, mit einem Wort gesagt, ISOLIRT werden.«(Roller 18318). Nicht nur individuell sondern auch kollektiv sollten die Kranken isoliert werden: »Eine Irrenanstalt liegt am besten entfernt von einer Stadt. Das Leben in ihr muß ein neues und fremdes und abgeschieden von dem in Städten und Dörfern seyn.«(Roller 18319). 1842 wurde die von Roller geplante Anstalt Illenau in ländlicher Umgebung eröffnet und in streng religiösem Geist hierarchisch geführt. Die Musteranstalt Illenau und die Isolierungstheorie Rollers waren die international erfolgreichste Reformbewegung der deutschen Psychiatrie. Psychiater, Architekten und Ministerialbeamte aus vielen Ländern pilgerten zur Illenau und errichteten dann vergleichbar konstruierte Anstalten fern von den Ballungszentren der Bevölkerung. Die Isolierung hatte jedoch Folgen. Schon 1883 erklärte Kraepelin: »Längere Isolirung wirkt fast immer sehr schädlich und begünstigt die Verblödung der Kranken sowie das Einwurzeln von üblen Angewohnheiten … Sie ist es in erster Linie, welche die »Anstaltsartefacte« erzeugt, jene Kranken, welche wegen ihrer Verwilderung nach den verschiedensten Richtungen hin den Schrecken der Anstalten bilden.«(Kraepelin 188310, S. 214). Mit der Einsicht in die fatalen Folgen der Isolierungstheorie war die Reform beendet. Aber der Bedarf einer echten Reform stieg, denn mit der zunehmenden Industrialisierung, der Landflucht der Industriearbeiter und dem Verlust bäuerlicher Großfamilien nahmen die Möglichkeiten häuslicher Pflege rapide ab. Der Bedarf an Anstaltsunterbringung unversorgter Geisteskranker stieg gewaltig an. Zwischen 1880 und 1910 wurden 140 neue staatliche Irrenanstalten im Deutschen Reich in Betrieb genommen und die Zahl der Insassen wuchs um etwa das Fünffache an. Es blieb aber bei den miserablen Verhältnissen in den Anstalten. Ich zitiere nochmals unseren Zeitzeugen, Emil Kraepelin. Er war 1910 von der k.u.k Gesundheitsbehörde beauftragt worden, die psychiatrische Klinik der Universität Wien zu begutachten. Sein Urteil lautete: »Ich fand sie insgesamt in einem furchtbaren Zustand. Die Patienten waren wie Sardinen an den Wänden extrem uncomfortabler überbelegter Räume untergebracht, einige davon in

8 Roller CFW. Die Irrenanstalt nach all ihren Beziehungen. Chr. Fr. Müller’sche Hofbuchhandlung, Karlsruhe, 1831. 9 Roller CFW. Die Irrenanstalt nach all ihren Beziehungen. Chr. Fr. Müller’sche Hofbuchhandlung, Karlsruhe, 1831. 10 Kraepelin E. Compendium der Psychiatrie zum Gebrauche für Studirende und Aerzte. Abel Verlag, Leipzig, 1883 [1. Auflage des späteren Lehrbuchs].

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geschlossenen Gitterbetten.«(Hippius H, Peters G, Ploog D, (Hrsg.)(1983), Kraepelin-Lebenserinnerungen11, S. 125). Ich habe selbst noch 1956 bei Gelegenheit einer Vortragseinladung die psychiatrisch-neurologische Universitätsklinik in Graz besichtigt. Die Krankensäle entsprachen etwa dem Bericht Kraepelins aus Wien. In wenigen Gitterbetten wurden auch Patienten noch wie wilde Tiere im Käfig gehalten. Weil es so wirklich nicht weitergehen konnte, empfahl der Göttinger Ordinarius Ludwig Meyer in den sechziger Jahren die Bettbehandlung und Clemens Neisser (1861–1940) führte sie 1890 landesweit ein. Die Absicht war ein Beruhigungseffekt und zu zeigen, dass auch psychiatrische Patienten kranke Menschen und die Psychiater Ärzte seien. Auch diese bescheidene Reform hatte einen Pferdefuß. Der Pionier der Arbeitstherapie Hermann Simon in Gütersloh bezeichnete sie 1920 als einen großen Rückschritt, denn sie habe die Inaktivierung der Kranken noch verschlimmert. Hermann Simon empfahl dagegen die Beschäftigung aller arbeitsfähigen Kranken in anstaltseigenen Betrieben und in der Landwirtschaft. Die weniger leistungsfähigen Kranken wurden im Hause mit Tütenkleben, Bastflechten und Ähnlichem beschäftigt. Dazu kamen Freizeitaktivitäten wie Tanzveranstaltungen, Theateraufführungen, Spiel- und Sportgruppen. Das trug zur Besserung der Anstaltsatmosphäre bei. Für die deutsche und die österreichische Psychiatrie kam die Katastrophe näher. Im Weltkrieg, besonders im Hungerjahr 1916 und danach, starben, wie Faulstich12 ermittelte, 10–40 % der Insassen psychiatrischer Anstalten in Deutschland. Auch in der Wirtschaftskrise 1929/30 trafen die Sparmaßnahmen die psychisch Kranken besonders hart. Der Reichssparkommissar urteilte beispielsweise über die hessischen psychiatrischen Anstalten 1930: »… Eine Behandlung von Geisteskranken gibt es nicht. Deshalb kann von einer ärztlichen Tätigkeit in den Anstalten kaum die Rede sein. Die Tätigkeit des Pflegepersonals ist rein überwachend und dazu bedarf es keiner besonderen Ausbildung. Sie muß deshalb beendet werden.« (Barkey 198313) Damit wurde der Psychiatrie die Fähigkeit zur Behandlung psychisch Kranker offiziell abgesprochen und die Anstalten wurden als Gefängnisse verstanden. 11 Kraepelin E. Lebenserinnerungen. Hrsg: Hippius H, Peters G, Ploog D. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1983. 12 Faulstich H. Von der Irrenfürsorge zur »Euthanasie«. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945. Lambertus, Freiburg, 1993. 13 Barkey B (1983) Die Entwicklung der Psychiatrischen Krankenhäuser Haina, Merxhausen/ Emstal und Hofheim/Goddelau (»Philippshospital«) unter der Trägerschaft des Landeswohlfahrstsverbandes Hessen und seiner Rechtsvorgänger (1866–1982). In: Heinemeyer W, Pünder T (Hrsg) 450 Jahre Psychiatrie in Hessen. Elwert, Marburg, S 349ff.

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Das kommende Unheil wurde durch die, von der europäischen Intelligenz begeistert aufgenommene, eugenische Bewegung vorbereitet. 1905 wurde in London von Francis Galton die Eugenics Education Society gegründet. Mit der zeitgleichen Entwicklung des Sozialdarwinismus breitete sich die Überzeugung aus, Hygiene, Medizin und Behindertenpflege seien mit der Erhaltung schlechten Erbguts der natürlichen Evolution des Menschen in den Arm gefallen. Dem sollte durch Verhinderung der Fortpflanzung erblich Belasteter begegnet werden. Eine Bereitschaft zur freiwilligen Sterilisation war kaum zu erwarten. So haben nicht nur der NS-Staat mit den Erbgesundheitsgesetzen 1933 sondern auch 33 Staaten der USA, 1927 genehmigt vom höchsten Gericht, Dänemark, Norwegen, Schweden, Irland, Finnland, Lettland und einige Kantone der Schweiz die Zwangssterilisation erblich Kranker und Behinderter eingeführt und teilweise bis in die achtziger Jahre weiter praktiziert. Das von Ernst Rüdin an der Münchner Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie beratene und vom Reichstag verabschiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Die Erbkrankheiten definierte das Gesetz.14 Aus Rassenwahn wurden auch ›Zigeuner‹ zwangssterilisiert. Die Zahl der Zwangssterilisierten ist nicht exakt bekannt. Die Schätzungen variieren zwischen 200.000 und 400.000 Opfern. Die nächste Stufe nach der Zwangssterilisation war die ›Tötung lebensunwerten Lebens‹. Sie wurde von einer erstaunlich großen Zahl europäischer Politiker, Juristen und Ärzte vom Ende des 19. Jh. an vorgeschlagen. Das bekannteste Beispiel ist die Schrift des Leipziger Staatsrechtlers Karl Binding und des Freiburger Psychiaters Alfred Hoche15) »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form«. Die Autoren lieferten nicht nur die Ideologie der Tötung leerer Menschenhülsen, wie sie die Kranken nannten, sondern auch die administrative Planung und die rechtliche Begründung. Diese fatale Ideologie hat Adolf Hitler übernommen und in ein kollektives Programm von Massentötungen umgesetzt. Der Geist der Zeit war ein fruchtbarer Boden für diese grauenhafte Missachtung des Grundrechts auf Leben. So hatte der Leiter der Behindertenanstalt Katharinenhof in Sachsen, Dr. Meltzer, die etwa 200 vorwiegend geistig behinderte Kinder beherbergte, deren Eltern 1925 gefragt, ob sie mit einer

14 Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses. Berlin, den 14. Juli 1933. Unterzeichnet von: Der Reichskanzler Adolf Hitler, Der Reichsminister des Innern Frick, Der Reichsminister der Justiz Dr. Gürtner. 15 Binding K, Hoche A. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form. Felix Meiner, Leipzig, 1920.

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schmerzlosen Tötung ihrer Kinder einverstanden wären. 73 % der Befragten hatten bejaht. Auf dem Reichsparteitag in Nürnberg 1938 erklärte Adolf Hitler das Ziel des Programms: »Die größte Revolution hat aber Deutschland erlebt durch die in diesem Lande zum ersten Male planmäßig in Angriff genommene Volks- und Rassenhygiene. Denn sie schaffen einen neuen Menschen«(Hitler 1938).

Das Programm T4 wurde von vierzig führenden deutschen Psychiatern (neun Ordinarien) aktiv mitgetragen. Eine vielfach größere Zahl von Ärzten, Pflegepersonal, Verwaltungs- und Transportpersonal, war zu Mittätern oder Zeugen geworden. Formal beendet wurde die Aktion T4 nach einer Predigt des Bischofs Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 in der Lambertikirche zu Münster. Bis Kriegsende wurde das Tötungsprogramm als wilde Euthanasie fortgesetzt: Durch Hungersterben (Faulstich16, Kersting & Schmuhl17), Giftinjektionen und Massenerschießungen. Es sollen insgesamt 200.000–260.000 psychisch Kranke und Behinderte getötet worden sein. Es war das schlimmste Verbrechen, das jemals einer großen Zahl kranker Menschen widerfuhr. So konnte es nicht weitergehen! Nach dem Kriege und dem Ende des NS-Regimes hatte die Psychiatrie alles Vertrauen in der Bevölkerung verloren. Die verbliebenen Anstalten waren in miserablem Zustand, es herrschte Not an allem. Die Kranken in den Anstalten hungerten weiter. Beim Wiederaufbau wurden sie und ihre Anstalten vergessen, auch von der Politik. Bis zur Psychiatrie-EnquÞte (1971–1975), über die ich am 7. Mai 2014 Ihnen hier berichtet hatte, änderte sich wenig. Die Anstalten blieben verschlossen, die Not der Kranken unverändert. Einige jüngere Psychiater, etwa Asmus Finzen in Tübingen und Manfred Bauer in Offenbach, hatte diese verzweifelte Situation bewogen, zum Teil gemeinsam mit Studenten Reforminitiativen zu entwickeln. Ich habe, zusammen mit meinem Freund Caspar Kulenkampff und meinem Heidelberger Kollegen Peter Kisker, kleine gemeindepsychiatrische Einrichtungen als Modelle für die Reform aber auch für das damals geplante Zentralinstitut für Seelische Gesundheit aufgebaut. Öffentlichkeit und Politik aber blieben taub. Selbst als ich 1965, mit von Baeyer und Kisker mit unterzeichnet, eine Denkschrift18 publizierte, worin die Situation der Psychiatrie in der Bun16 Faulstich H. Von der Irrenfürsorge zur »Euthanasie«. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945. Lambertus, Freiburg, 1993. 17 Kersting FW, Schmuhl HW. Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen. Schöningh, Paderborn, 2004. 18 Häfner H, Baeyer W v., Kisker K P (1965) Sonderdruck. Dringliche Reformen in der psychiatrischen Krankenversorgung der Bundesrepublik. In: helfen und heilen – Diagnose und Therapie in der Rehabilitation. Okt. 1965, Heft 4.

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desrepublik Deutschland analysiert und als nationaler Notstand bezeichnet wurde und eine bundesweite Analyse der Versorgung psychisch Kranker und eine Psychiatriereform gefordert wurden – der Historiker Kersting hat diesen Text als Vorläufer der EnquÞte bezeichnet –, änderte sich nichts. Erst am 17. April 1970 hatte der CDU-Abgeordnete Walter Picard mit einer historischen Rede [17], die er mit Prof. Kulenkampff und mir abgesprochen hatte, im Bundestag den Anstoß zur Psychiatrie-EnquÞte eingebracht und eine einmütige Zustimmung aller Parteien erfahren. Diese Initiative hatte eine tiefgreifende Wende zur Folge. Rund sechs Wochen nach dieser Rede wurde in Mannheim der Mannheimer Kreis, eine Reforminitiative psychiatrisch Tätiger, gegründet. Am 18. Dezember 1970 kam es zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie und 1970 beschloss auch die DGPPN, einen Rahmenplan für die Versorgung psychisch Kranker zu erarbeiten. Nachdem der Deutsche Bundestag eine Psychiatrie-EnquÞte beschlossen hatte, bestellte die Bundesministerin für Gesundheit, Käthe Strobel, die 19 Mitglieder der EnquÞte-Kommission, bei Arbeitsende waren es 24. Berufen wurden Repräsentanten aller in der psychiatrischen Versorgung tätigen Berufe. Allenfalls die niedergelassenen Psychiater, das Pflegepersonal und der sogenannte ›Heimsektor‹ waren nicht ausreichend vertreten. Um Ihnen nicht zweimal dasselbe aufzutischen, berichte ich nur über einige herausragende Details: 1973 publizierte die EnquÞte-Kommission ihre ersten Empfehlungen in Gestalt eines Zwischenberichts über die stationäre Versorgung chronisch Kranker.19 Beanstandet wurden die extrem langen Aufenthaltsdauern und die unerträglich dürftige Unterbringung der Kranken. Gefordert wurden Sofortmaßnahmen zur Sicherstellung der Grundbedürfnisse der Kranken, etwa eine ausreichende sanitäre Ausstattung, genügend Raum für das persönliche Eigentum, persönliche Kleidung und eine Unterbringung, die den heutigen Ansprüchen genügt. Es ist unmöglich, einen Gesamtüberblick über die Empfehlungen der EnquÞte-Kommission zu geben. Ich beschränke mich deshalb auf ein paar Schlaglichter : Die zentrale Einheit der Schlussempfehlungen ist das neue Kernelement des gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems, Standardversorgungsgebiet genannt. Es soll für eine definierte Bevölkerung von 70–150.000 Bürgern eine alle erforderlichen Institutionen psychiatrischer Versorgung – vom sozialpsychiatrischen Dienst über komplementäre Einrichtungen bis zu den niedergelassenen Ärzten und teil- und vollstationären Klinikabteilungen – umfassen. Die Vielfalt der neuen Einrichtungen und Aufgaben erforderte Ausbildungsförderung auf allen Ebenen. Die Psychiatrie-EnquÞte war – wie Heinrich Kunze es ausdrückte – ein 19 Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/1124, Zwischenbericht der EnquÞtekommission 1973.

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Jahrhundertwerk, welches die psychiatrische Versorgung in Deutschland neu nach vier Grundprinzipien ausrichtete: 1.Gemeindenahe Versorgung, 2. Bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten, 3. Bedarfsgerechte Koordination aller Versorgungsdienste, 4. Gleichstellung von psychisch und physisch Kranken. Der entscheidende Erfolg der Psychiatrie-EnquÞte war jedoch ein kaum vorstellbarer Mentalitätswandel gegenüber psychisch Kranken20. Entscheidende Voraussetzung dieser Psychiatriereform war die Entdeckung und Einführung der Antidepressiva, Neuroleptika und Anxiolytika in den späten fünfziger und sechziger Jahren und die Entwicklung praktikabler Psychotherapieverfahren. Sie ermöglichten in zunehmendem Umfang die Entlassung chronisch Kranker und den Übergang auf ambulante und teilstationäre Behandlung. Die mittlere stationäre Aufenthaltsdauer ging beispielsweise von 227 Tagen in 1972 auf etwa 22 Tage in 2011 zurück. Die berufliche Tätigkeit in der psychiatrischen Krankenversorgung wurde wieder attraktiv und die Unterbringung psychisch Kranker entspricht heute weitgehend dem Standard der Allgemeinkrankenhäuser, was uns das Foto einer offenen psychiatrischen Station des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim im Vergleich mit einem Foto aus der Anstalt Münster um 1970 zeigt. Das war die erste Psychiatriereform in Deutschland, die aus guten Gründen Bestand hatte und behalten soll. Es war gelungen, eine umfassende, einstimmig vom Parlament beschlossene und von der Regierung gewollte, auf umfangreiche Analysen gründende landesweite Reform Schritt für Schritt weitgehend zu verwirklichen. Die Reformziele von Prof. Ludwig Meyer, die ›No-RestraintMethode‹, die er in Ihrer Klinik verwirklichen wollte aber großenteils noch nicht konnte, sind vermutlich nun zur Wirklichkeit geworden. Die Geschichte der Kranken und ihrer Psychiatrie sind zu einer einzigen gemeinsamen geworden. So gilt unser Dank all jenen, die diese Reform im Laufe der Zeit mit vorbereitet haben. Wir hoffen auf jene, die ihre Beständigkeit im Wechsel der Zeit absichern werden. Zum Schluss erlauben Sie mir bitte noch ein paar persönliche Worte. Was es für mich nach fast siebziger Jahren psychiatrischer Tätigkeit bedeutet, dass die Änderung der grauenhaften Verhältnisse in den Anstalten gelungen ist, werden Sie wahrscheinlich verstehen. Ich verkenne dabei nicht, dass es auch nach der EnquÞte noch eine Serie alter Baustellen und etliche neu aufgebrochene Gräben gibt. Ich hoffe aber, dass Sie, meine Damen und Herren, nicht wie eine frühere Generation unserer Kollegen resignieren, sondern im Geist Ihres ersten Lehr20 Aktion Psychisch Kranke (Hg) 25 Jahre Psychiatrie-EnquÞte, Bd. I und Bd. II. PsychiatrieVerlag, Bonn, 2001.

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stuhlinhabers Ludwig Meyer weiter für die Kranken und für therapiefreundliche Arbeitsbedingungen in der Psychiatrie eintreten und sich der eingeleiteten Industrialisierng unseres Faches widersetzen.

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Erinnerungen an Ludwig Meyer (1837–1900) und seinen Enkel Joachim-Ernst Meyer (1917–1998)

Eine merkwürdige Schicksalsfügung hat dazu geführt, dass die Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen zweimal jeweils ein Vierteljahrhundert lang von einem Mitglied der gleichen Familie geleitet wurde. Der eine von ihnen, Ludwig Meyer, hat die Klinik im Jahre 1866 gegründet. Der andere sein Enkel JoachimErnst Meyer folgte ihm erst 1963, mehr als 60 Jahre nach dem Tod des Großvaters, den er persönlich nicht mehr kennen gelernt hat. Ich selbst hatte das Glück, lange mit J.E. Meyer zusammenarbeiten zu dürfen, zunächst in meiner Münchner Assistenzzeit und später hier in Göttingen als einer seiner Oberärzte. Obwohl ich mit ihm und seiner Familie eng verbunden war, hat er mir nicht viel von seinen Vorfahren erzählt. Mit der Persönlichkeit und dem beruflichen Lebenswerk seines Großvaters Ludwig Meyer wurde ich erst näher bekannt, als ich später in Hamburg an einem psychiatrischen Krankenhaus tätig war, das aus der Irrenkolonie der von ihm gegründeten Anstalt Friedrichsberg hervorgegangen war. Eine genauere Kenntnis seines Lebens und Werks verdanke ich der ausgezeichneten Monographie von Elisabeth Burkhart, die von ihr 1991 als medizinische Dissertation verfasst wurde.

1. ludwig meyer wurde am 27. Dezember 1827 als einziges Kind einer jüdischen Familie in Bielefeld geboren. Er wuchs in Paderborn auf, besuchte dort das humanistische Gymnasium und studierte einige Semester lang die Bau- und Feldmesskunst. Wegen der schlechten Berufsaussichten auf diesem Gebiet entschloss er sich zur Änderung seines Berufsziels und wandte sich der Medizin zu. Während des Studiums in Würzburg und Berlin wurde sein Interesse für die pathologische Anatomie geweckt. Wahrscheinlich schwebte ihm ursprünglich eine berufliche Laufbahn als Pathologe vor. Die angespannte finanzielle Situation seiner Familie veranlasste ihn aber dazu, im Jahre 1953 als Assistenzarzt in die von Carl Wilhelm Ideler (1795–1860) geleitete Irrenabteilung der Berliner

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Charit8 einzutreten. Mit einer kurzen Unterbrechung, die er an der psychiatrischen Abteilung eines westpreußischen Kreiskrankenhauses zubrachte, blieb er mehrere Jahre in Berlin. Dort hielt er psychiatrische Vorlesungen ab und verfasste zahlreiche grundlegende Schriften zur Klinik und Neuropathologie der Geisteskrankheiten. Kurz nach seiner Habilitation wurde er 1958 zum leitenden Oberarzt an der Irrenabteilung des Hamburger Krankenhauses St. Georg ernannt. Dort gelang es ihm unter schwierigsten äußeren Bedingungen eine zwangfreie Behandlung psychisch Kranker durchzuführen. Er gründete die nach seinen Plänen errichtete Anstalt Friedrichsberg in Hamburg und übernahm deren Leitung, bis er aufgrund seines hohen fachlichen Ansehens 1966 als Direktor der neu errichteten Provinzialirrenanstalt in Göttingen und als erster Inhaber eines Lehrstuhls für Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Georgia Augusta berufen wurde. Der Bau einer neuen Anstalt war dort notwendig geworden, weil bis dahin im Königreich Hannover nur eine einzige Institution für die Behandlung Geisteskranker existierte. Diese konnte den wachsenden Zustrom von Patienten nicht mehr bewältigen. Zudem hatte sich herausgestellt, dass die in der Irrenfürsorge tätigen Mediziner nicht über ausreichende psychiatrische Kenntnisse und Erfahrungen verfügten, um ihre ärztlichen Aufgaben zu erfüllen und ihrer Verpflichtung als Sachverständige in Gerichtsverfahren gerecht zu werden. Aus diesem Grunde erwies es sich als zweckmäßig, die neue Irrenanstalt in unmittelbarer Nähe einer Universitätsstadt zu errichten und ihren künftigen Leiter als Inhaber eines medizinischen Lehrstuhls der dortigen Hochschule mit der psychiatrischen Ausbildung der Studenten zu beauftragen. Der Verwirklichung dieses Vorhabens standen aber zunächst erhebliche Widerstände vonseiten der Provinzialverwaltung gegenüber, weil man befürchtete, das Ansehen der neuen Anstalt und die Würde der dort befindlichen Patienten könne durch den medizinischen Unterricht verletzt werden. Erst durch das eindringliche Plädoyer der medizinischen Fakultät Göttingen für die Notwendigkeit einer psychiatrischen Klinik und durch eine persönliche Intervention des Pathologen Karl Ewald Hasse (1810–1902) bei König Georg V. von Hannover (1819–1878) wurde die entscheidende Weiche für die Genehmigung der Göttinger Irrenanstalt und der mit ihr verbundenen psychiatrischen Universitätsklinik gestellt. Schon wenige Monate nach dem Amtsantritt von Ludwig Meyer in Göttingen wurde das Königreich Hannover von Preußen annektiert; einige Jahre später war die Provinz zu einem Teil des deutschen Kaiserreichs geworden. Das Universitätskollegium war in welfische, preußische und deutsch-nationale Sympathien gespalten. Meyer fühlte sich aufgrund seiner nationalliberalen Gesinnung der Bismarckschen Politik verbunden und hatte sogar als Abgeordneter des Deutschen Reichstages kandidiert. Dies führte zu Animositäten vonseiten mancher Kollegen und dürfte seine Stellung in der Fakultät erschwert haben.

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Trotzdem gelang es ihm, der Psychiatrie als gleichberechtigte medizinische Fachdisziplin fachlich und institutionell zum Durchbruch zu verhelfen. Als wesentliche Voraussetzung hierfür betrachtete er den regelmäßigen klinischen Unterricht. Er hoffte darauf, »die psychiatrische Bildung der praktischen Ärzte würde in den Händen einer sachverständigen Aufsichtsbehörde zur Verbesserung der Lage unserer Geisteskranken und zur Entlastung der Irrenanstalten das wichtigste Mittel werden können« (1870). Im Vordergrund des einmal wöchentlich in der Anstalt abgehaltenen vierstündigen Blockpraktikums standen jeweils klinische Fallvorstellungen. Da die Anstalt relativ weit von den übrigen medizinischen Kliniken entfernt lag und die Psychiatrie noch kein Prüfungsfach war, nahmen nur vier oder fünf Hörer an diesem Unterricht teil; nachdem aber die Universität für den Besuch des psychiatrischen Unterrichts einen Pferdewagen bewilligt hatte, erhöhte sich die Zahl der Medizinstudenten im Laufe der Jahre auf zwanzig bis dreißig. Zugleich wurde auch den Hörern der juristischen Fakultät das psychiatrische Fachgebiet durch Vorlesungen und Krankendemonstrationen nahegebracht. In seinen wissenschaftlichen Untersuchungen zur pathologischen Anatomie und zum klinischen Erscheinungsbild der progressiven Paralyse und anderer psychischer Erkrankungen war Ludwig Meyer zu der Überzeugung gelangt, dass die Geistesstörungen durch körperliche Krankheitsprozesse bedingt seien. Seine erste Göttinger Vorlesung begann daher mit den Worten: »Uns gehen die psychischen Vorgänge nur insoweit an, als sie von körperliche Zuständen beeinflusst werden oder körperliche Zustände setzen können« (1863). Ludwig Meyer gehörte also zur psychiatrischen Gruppe der sogenannten Somatiker. Sie widersprachen den Anschauungen der Psychiker, welche die psychischen Erkrankungen als Folge einer selbstverschuldeten Unmündigkeit ansahen. Im Gegensatz zu ihnen vertraten er und Wilhelm GRIESINGER (1817–1868) in einer von ihnen neu gegründeten Zeitschrift, dem Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten die Auffassung, dass »die sogenannten Geisteskranken hirnund nervenkranke Individuen sind, an denen uns ganz dieselben ärztlichen Aufgaben obliegen wie bei allen übrigen Nervenkrankheiten« (1868a). Die Gleichstellung von psychisch Kranken mit körperlich Kranken hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Humanisierung der Irrenpflege zur Folge. Obwohl die Geisteskranken schon fünfzig Jahre zuvor durch Pinel und andere gleichgesinnte Psychiater von ihren Ketten befreit worden waren, blieb die Atmosphäre der psychiatrischen Anstalten noch lange von dem pädagogischen Eifer des Aufklärungszeitalters bestimmt und von den Disziplinierungsmaßnahmen geprägt, die den Erfahrungen der Gefängnispsychiatrie entstammten. Hierzu stellte Ludwig Meyer fest: »Diesem irrenärztlichen Pädagogenthum gebührt die Ehre, eine Therapie des Schmerzes und des Zwanges geschaffen zu haben. Sie war nicht die Tochter der allerbarmenden Heilkunde, sondern ein

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Erbe des Gefängnisses« (1963). Deshalb verbannte er schon an der Hamburger Irrenabteilung St. Georg und dann später in den Anstalten Friedrichsberg und Göttingen sämtliche Zwangsmittel aus der Behandlung von Geisteskranken. In zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen setzte er sich für eine völlig zwangfreie Behandlung psychisch Kranker ein. »Um den natürlichen Verlauf der Symptome kennen zu lernen, bedurfte es vor allen Dingen der Beseitigung von Zuständen, welche oft ein größeres Übel waren als die Krankheit selbst und jede in den Vordergrund tretende Erscheinung derselben sofort brutal unterdrückten« (1868). Auf einer Englandreise im Jahre 1861 lernte Meyer die eindrucksvollen und dauerhaften Verbesserungen der Irrenpflege kennen, die dort seit vielen Jahren durch die Anwendung des No-restraint-Prinzips von John Connolly (1794–1866) erzielt worden waren. Aus diesem Grund war er auch in Göttingen ständig darum bemüht, die Patienten der Anstalt von sämtlichen unnötigen Einschränkungen zu befreien und ihren Aufenthalt durch vielfältige Arbeitsmöglichkeiten und milieutherapeutische Maßnahmen zu erleichtern. In einer Festschrift aus Anlass des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Göttinger Anstalt stellte er 1891 fest, dass sich der generelle Verzicht auf Unfreiheit und Zwang auch bei sehr unruhigen Kranken bis auf vereinzelte Ausnahmen hatte durchsetzen lassen. Aber trotz dieser positiven Erfahrungen, auf die Meyer in zahlreichen Publikationen und Vorträgen hingewiesen hatte, wurde die zwangfreie Behandlung von Geisteskranken von der Mehrzahl der damaligen Anstaltsärzte nicht in dieser generellen Form akzeptiert. Als die nutzlosen Kontroversen hierüber kein Ende nahmen, stellte Ludwig Meyer fest: »Was in diesem Gebiet sich einmal als berechtigt erwiesen hat, ist Einwendungen nicht mehr zugänglich, wie sie bis zur Stunde von den Gegnern des No-Restraint wiederholt werden« (1868). Er lehnte die weitere Teilnahme an derartigen Diskussionen ostentativ ab, zog sich von diesbezüglichen Fachtagungen zurück und trat aus dem Vorstand des Vereins Deutscher Irrenärzte aus. Aber nicht nur in berufsständischer Hinsicht wich die Auffassung Ludwig Meyers von den Ansichten der damaligen Psychiater ab. Den sozialreformatorischen Ideen seines früh verstorbenen Kollegen Wilhelm Griesinger konnte er kaum etwas abgewinnen. Dieser hatte ja die Einrichtung wohnortnaher Stadtasyle und die Schaffung psychiatrischer Lehrstühle außerhalb der Anstalten gefordert und damit eine Abwertung der bisherigen Irrenfürsorge vorgenommen. Ludwig Meyer befürwortete zwar ebenfalls die Gründung von Irrenkolonien als Alternative der Anstaltsunterbringung. Dem zweckrationalen Optimismus Griesingers setzte er jedoch ein Therapiekonzept entgegen, das die Schutzbedürftigkeit psychisch Kranker und ihr dauerhaftes Angewiesensein auf ärztliche Fürsorge hervorhob.

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Auch in seinem wissenschaftlichen Denken vertrat Meyer eine eigenständige Position. Von nosologischen Krankheitsklassifikationen, die eine pathogenetische Unterscheidung psychischer Erkrankungen aufgrund von psychopathologischen Einzelmerkmalen vorzunehmen versuchten, erwartete er sich keinen wesentlichen Erkenntnisfortschritt. Das Konzept der Kahlbaumschen Katatonie wurde daher von ihm ebenso wenig betrachtet wie die Krankheitskategorien, die sich aus der Lehre Kraepelins abzuzeichnen begannen. Trotz der Verschiedenartigkeit seelischer Einzelfunktionen war er von der Einheitlichkeit des Seelenlebens überzeugt. Er glaubte, dass auch den psychischen Erkrankungen stets eine ganzheitliche Störung zugrunde liege, die sich in ihren frühen Ausprägungen regelmäßig in affektiven Veränderungen bemerkbar mache. Man wird Ludwig Meyer daher wohl zu den Anhängern einer Einheitspsychose rechnen dürfen; in seiner Ganzheitsauffassung psychischer Krankheitserscheinungen ähnelt er einem seiner späteren Amtsnachfolger Klaus Conrad (1905–1961), namentlich in dessen Darstellung der beginnenden Schizophrenie. Leider war die Göttinger Anstalt schon Ende der siebziger Jahre ständig mit chronisch Kranken überfüllt. Außerdem wurde die Zuweisung neuerkrankter und für Unterrichtszwecke geeigneter Fälle durch behördliche Aufnahmebestimmungen erschwert, sodass der medizinische Unterricht nicht mehr in dem erforderlichen Ausmaß an die wissenschaftliche Entwicklung der Psychiatrie angepasst werden konnte. Ludwig Meyer unterbreitete der Provinzialverwaltung und der Universität mehrere Lösungsvorschläge, welche die Einrichtung einer selbständigen, von behördlichen Aufnahmeregelungen unabhängigen Abteilung für akute Psychosen und Neurosen innerhalb oder außerhalb der Anstalt ermöglicht hätten. Aber diese dringlichen Empfehlungen blieben ohne Resonanz und ließen sich erst unter den Amtsnachfolgern Meyers nach und nach realisieren. Offensichtlich hatte die Durchsetzungskraft von Ludwig Meyer in seinen letzten Lebensjahren nachgelassen. Vielleicht hing dies auch mit den antiliberalen Tendenzen und dem zunehmenden Antisemitismus zusammen, die sich seit Beginn der achtziger Jahre im deutschen Kaiserreich bemerkbar machten. Bald nach dem Tod Ludwig Meyers entwickelte sich der Sozialdarwinismus, auf dessen Grundlage schließlich der Rassenwahn und die Ausmerzungsideologie des Nationalsozialismus entstanden. Der verbrecherischen Tötung Geisteskranker und geistig Behinderter fielen mehrere hunderttausend Menschen im Deutschen Reich und den von Deutschland besetzten Gebieten zum Opfer. Trotz des Widerstands von Gottfried Ewald (1888–1963) gegen diese Aktion waren auch zahlreiche Patienten der von ihm geleiteten Göttinger Anstalt hiervon betroffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es noch lange, bis sich die Psychiatrie von der Jahrzehnte andauernden Vernachlässigung psychisch Kranker erholen und an die Reformideen wiederanknüpfen konnte, die im

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19. Jahrhundert von Ludwig Meyer und Wilhelm Griesinger verfochten worden waren.

2. Als Joachim-Ernst Meyer im Sommersemester 1963 nach Göttingen berufen wurde, hatte sich die psychiatrische Universitätsklinik schon seit längerem räumlich und institutionell von der Anstalt gelöst, aus der sie ursprünglich hervorgegangen war. Mit dem Amtsantritt von J. E. Meyer richtete die Fakultät nunmehr aber auch zwei selbständige Lehrstühle für Psychiatrie und für Neurologie ein. Die Göttinger Klinik war somit eine der ersten Universitätskliniken in Deutschland, an der die langjährige Tradition der engen Verzahnung von Neurologie und Psychiatrie zu einem einheitlichen Fachgebiet durchbrochen wurde. J. E. Meyer fand sich nicht nur gezwungenermaßen mit dieser neuen Situation ab, sondern sah hierin eine notwendige Entwicklung, die sich aus der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung beider medizinischer Fachgebiete ergeben hatte. Für ihn war dies eine Chance, den weiten Horizont psychiatrischer Fragestellungen sichtbar zu machen und den Blick für diese vielfältigen Problembereiche zu öffnen. Ein erster Schritt auf diesem Weg bestand darin, eine Wiederannäherung der Psychiatrie an die Psychoanalyse in die Wege zu leiten. Das Verhältnis zwischen beiden Disziplinen war durch jahrzehntelange Vorurteile und Fehden erheblich belastet. Schon bald nach seinem Amtsantritt nahm J. E. Meyer Kontakt mit dem Niedersächsischen Landeskrankenhaus Tiefenbrunn auf, der damals bekanntesten Fachklinik für psychogene Erkrankungen. Aus der engen Zusammenarbeit und persönlichen Freundschaft mit Werner Schwidder, dem Leiter dieser Klinik, ging ein gemeinsames Ausbildungszentrum hervor, an dem auch die Assistenten der psychiatrischen Klinik teilnahmen. Ihnen verhalf diese Begegnung mit der psychoanalytischen Erfahrungswelt nicht nur zur Kenntnis der Behandlungsregeln, die sich bei der Therapie von Neurosen bewährt hatten, sondern auch zu einer genaueren Erfassung biographischer Zusammenhänge und zur Auseinandersetzung mit den Problemen der ärztlichen Selbstwahrnehmung. Es dauerte noch einige Zeit, bis sich dieses erweiterte psychiatrische Berufsbild auch andernorts durchsetzte und in der Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer verankert wurde. Eine wichtige Grundlage psychiatrischen Denkens war für J. E. Meyer die allgemeine Psychopathologie. Während eines längeren Studienaufenthalts bei Willy Mayer-Gross (1889–1961) in Schottland lernte er die Bedeutung der klinischen Psychopathologie für das Verständnis schizophrener Krankheitsprozess kennen; auch die Studien zur psychiatrischen Anthropologie von Erwin

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Straus (1891–1975), Eugen Minkowski (1885–1972) und Victor von Gebsattel (1883–1976) übten eine starken Einfluss auf ihn aus. An der Göttinger Klinik gründete er eine eigenständige Abteilung für Psychopathologie, die anfangs von Hemmo Müller-Suur (1911–2001) und später von Harald Feldmann (geb. 1926) geleitet wurde. Das eigene Forschungsinteresse von J. E. Meyer war vorwiegend auf das damals noch als randständig erachtete Gebiet der Neurosen und Persönlichkeitsstörungen gerichtet. Bereits in seiner Münchner Zeit entstanden die beiden Monographien über Entfremdungserlebnisse und Reifungskrisen der Adoleszenz. In seinen späteren Publikationen wandte er sich den Magersüchtigen und Essgestörten, den Trauernden, Vermissten, Querulanten und Suizidalen zu. Er ging den Erfahrungen von Patienten nach, die von einer lebensbedrohlichen körperlichen Krankheit betroffen waren und beschäftigte sich mit dem Erscheinungswandel seelischer Störungen im Alter sowie mit psychiatrischen Aspekten des Lebensendes. In seiner Schrift über Tod und Neurose beschrieb er die Todesangst als Ursprung bestimmter ›thanatophober‹ Neurosen, vor allem der Herz- und Zwangsneurose aber auch der Hypochondrie; die latent zugrundeliegende existentielle Angst werde bei diesen Erkrankungen durch Umwandlung in eine begrenzte anankastische, phobische oder körperbezogene Symptomatik gewissermaßen entschärft oder verdeckt. Diese spezifischen Forschungsschwerpunkte führten keineswegs zu einer Vernachlässigung biologischer Gesichtspunkte. J. E. Meyer stammte aus einer Psychiaterfamilie; auch sein Vater und älterer Bruder waren Leiter einer psychiatrischen Universitätsklinik. Nach dem Medizinstudium in Berlin begann er seine weitere Berufsausbildung mit einer dreieinhalbjährigen Tätigkeit an der von Willibald Scholz geleiteten neuropathologischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt in München. Die neurowissenschaftliche Orientierung, die er in dieser Zeit gewann, blieb weiterhin für ihn selbst und für die Arbeitsatmosphäre der von ihm geleiteten Klinik bestimmend. In der Einführung der psychiatrischen Pharmakotherapie Ende der fünfziger Jahre sah er eine entscheidende Wende der Psychiatrie. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern führte er eine sorgfältig geplante Studie über die psychopharmakologische Behandlung von Schizophrenen durch. Die Göttinger Klinik war damals auch die erste, welche in enger Zusammenarbeit mit Mogens Schou (1918–2005) die Lithiumtherapie zur Therapie und Prophylaxe manisch-depressiver Erkrankungen in der Bundesrepublik einführte. Der zentrale Impuls in dem beruflichen und akademischen Wirken von J. E. Meyer war sein ausgeprägtes soziales Verantwortungsbewusstsein. Schon in seiner Göttinger Antrittsvorlesung bezog er sich 1963 auf das Bild des Psychiaters als eines Hüters der Schranke zwischen der Gesellschaft und ihren psychisch Kranken. In seiner Rektoratsrede im Mai 1968 stellte er fest: »Die sozialen

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Auswirkungen psychischen Krankseins und dessen Ursachen, soweit sie soziokulturell bedingt oder mitbedingt sind, gehören heute zu den wichtigsten Forschungsaufgaben der Psychiatrie«. Er nannte zahlreiche Beispiele für den negativen Einfluss sozialer Diskriminierung und gesellschaftlicher Vernachlässigung auf das Lebensschicksal psychiatrischer Patienten. Auf vielfältige Weise widmete er sich der Aufgabe, eine tolerantere Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber psychisch Kranken wachzuhalten und die damals noch vorhandenen, teilweise katastrophalen Mängel der psychiatrischen Krankenversorgung zu beseitigen. Als die Kluft zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie infolge des Ärztemangels in den überfüllten psychiatrischen Großkrankenhäusern besonders bemerkbar geworden war, zog sich J. E. Meyer unmittelbar nach seiner Rektoratszeit noch einmal drei Monate aus Göttingen zurück, um als Stationsarzt in der Niedersächsischen Anstalt Wunstorf auszuhelfen. Bald danach wurde er in die Enquetekommission der Bundesregierung berufen, von der Professor Häfner bereits ausführlich berichtet hat. Mit großem Interesse beobachtete er, dass gleichzeitig mit der Psychiatriereform auch eine Reform des bundesdeutschen Strafrechts erarbeitet wurde. Darin sah er eine parallele Wandlung in der Einstellung der Gesellschaft zum Rechtsbrecher und zum psychisch Kranken. Wie schon sein Großvater knüpfte J. E. Meyer zahlreiche Beziehungen zur Psychiatrie des Auslands, die er auf mehreren sorgfältig geplanten Reisen nach England und in die USA kennenlernte. Während eines Zeitraums von dreißig Jahren wirkte er als Herausgeber an der zweiten und dritten Auflage des psychiatrischen Handbuchs Psychiatrie der Gegenwart mit. Dieses Werk, das aus einer engen Zusammenarbeit mit Erik Strömgren, Christian Müller und Hans Peter Kisker hervorging, wurde zu einer vielseitigen, ausgewogenen Darstellung der europäischen Psychiatrie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Während seines gesamten Berufslebens setzte sich J. E. Meyer intensiv mit der Psychiatrie des Nationalsozialismus auseinander. Nach seiner Auffassung war die gewaltsame Ausgrenzung psychisch Kranker bereits durch weit verbreitete gesellschaftspolitische und eugenische Anschauungen vorbereitet, die den allgemeinen Zeitgeist im beginnenden 20. Jahrhundert und in der Weimarer Republik bestimmt hatten. Deshalb warnte er vor den Gefahren der neuerlichen internationalen Euthanasiediskussion und vor den Praktiken der aktiven Sterbehilfe. In seiner Abschiedsvorlesung im Jahre 1986 brachte J. E. Meyer eine deutliche Skepsis gegenüber einer allzu einseitig biologisch ausgerichteten Psychiatrie zum Ausdruck. Er erinnerte daher seine Zuhörer an »die Erfahrungen der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, die nicht nur Anschluss an die Naturwissenschaft finden wollte, sondern sich mit dem gleichen Elan der Sorge für den psychisch Kranken widmete.«

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J. E. Meyer war ein Mann, der anderen Menschen oft mit einer gewissen äußeren Zurückhaltung begegnete. Wer ihn näher kennenlernte, erfuhr allerdings im Laufe der Zeit, wie viel Vertrautheit und verlässliche Hilfsbereitschaft sich aus der Diskretion eines solchen Abstands entwickeln konnte. Wenn man ihn als Arzt erlebte, stellte man immer wieder fest, dass gerade die Aufrechterhaltung äußerer Distanz die Grundlage für das Verständnis und die mitfühlende Nähe bildete, die er seinen Patienten entgegenbrachte.

3. Die folgende Abbildung gibt eine Übersicht über einige wichtige Publikationen von Ludwig und J. E. Meyer aus verschiedenen Schaffensperioden. Ludwig Meyer 1837–1900 Die allgemeine progressive Gehirnlähmung (1854)

Joachim-Ernst Meyer 1917–1998 Über organische Hirnschäden und den Verfall der sittlichen Haltung (1940)

Das No-Restraint und die Deutsche Psychiatrie (1863)

Der Psychiater in seiner Stellung zwischen der Gesellschaft und den psychisch Kranken (1964)

Lage der öffentlichen Irrenpflege in Hannover (1870)

Die Gesellschaft und ihre psychisch Kranken (1964)

Die Behandlung der psychischen Erregungs- und Depressionszustände (1887)

Die Neuroleptika in der Rückfallverhütung schizophrener Psychosen (1979)

Über die Zunahme der Geisteskrank- Psychiatrie im 20. Jahrhundert. Ein Rückblick heiten (1986) (1885) Die Geisteskrankheiten einst und jetzt (1894)

Bei einem Vergleich dieser Veröffentlichungen trifft man auf nahezu identische Themenstellungen, weitgehend übereinstimmende Überlegungen und eine völlig gleichartige ärztliche Gesinnung. Beide Psychiater waren durch ein Jahrhundert und durch zwei Generationen voneinander getrennt. Die Aufgabenstellung der Psychiatrie hatte sich in diesem Zeitraum erheblich verändert. Das berufliche Wirken von Ludwig Meyer und seinem Enkel vollzog sich unter verschiedenartigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, und sie

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mussten gegen unterschiedliche Strömungen des allgemeinen Zeitgeists ankämpfen. Dennoch waren sie beide in gleicher Weise darum bemüht, die psychisch Kranken von allen unnötigen Beschränkungen zu befreien, welche auf ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung oder auf einem unzureichenden wissenschaftlichen Kenntnisstand und auf überholten fachspezifischen Traditionen beruhten. Solche Wandlungsprozesse werden auch weiterhin zu unserem Fachgebiet gehören. Dennoch gibt es offensichtlich zeitüberdauernde und wertbeständige ärztliche und wissenschaftliche Einstellungen, die ihre Gültigkeit für den Psychiater nicht verlieren. Ludwig Meyer und sein Enkel haben uns diese Tugenden vorgelebt. Das medizinische und humanitäre Vermächtnis, das uns von ihnen und vielen anderen hervorragenden Ärzten hinterlassen wurde, ist von den Amtsnachfolgern aufrechterhalten und weitergetragen worden. Eine Klinik, die sich bei ihrem Jubiläum an solchen Vorbildern orientieren kann, darf ihrer weiteren Entwicklung mit großer Zuversicht entgegensehen.

Literatur E. Burkhart (1991): Ludwig Meyer (1827–1900) – Leben und Werk. Ein Vertreter der deutschen Psychiatrie auf ihrem Wege zur medizinischen – naturwissenschaftlichen Fachdisziplin W. Griesinger (1868a): Vorwort zu dem Archiv für Psychiatrie und Nervenheilkunde 1, III–VIII W. Griesinger (1868b): Über Irrenanstalten und deren Weiter-Entwicklung in Deutschland. Arch. Psychiatr. 1, 8–43

Publikationen von Ludwig MEYER (Auswahl) 1858: Die allgemeine progressive Hirnlähmung, eine chronische Meningitis. 1863: Das Non-Restraint und die Deutsche Psychiatrie. Allg. Zschr. Psychiatr. 20, 542–581 1863: Manuskript der ersten an der psychiatrischen Klinik Göttingen gehaltenen Vorlesung (unvollständig). Privatbesitz 1870: Lage der öffentlichen Irrenpflege in Hannover. Arch. Psychiat. 2, 1–28 1870: Die Stellung der Geisteskrankheiten und verwandter Zustände in der Criminalgesetzgebung. Arch. Psychiatr. 2, 425–445 1885: Die Zunahme der Geisteskrankheiten. Retoratsrede. Deutsche Rundschau 49, 78–94 1887: Die Behandlung der psychischen Erregungs- und Depressionszustände. Therapeutische Monatshefte 1, 165–168 1889: Die Geisteskrankheiten einst und jetzt. Deutsche Rundschau 59, 48–58. 1891: Die Provinzial-Irrenanstalt Göttingen. Zur Erinnerung an ihre Eröffnung vor 25 Jahren.

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Publikationen von Joachim-Ernst MEYER (Auswahl) 1964: Der Psychiater in seiner Stellung zwischen Gesellschaft und psychisch Kranken. Mschr. Kriminol 47, 177–186. 1968: Die Gesellschaft und ihre psychisch Kranken. Göttinger Universitätsreden. Vandenhoeck und Rupprecht. 1973: Tod und Neurose. Vandenhoeck und Rupprecht. 1976: Psychiatrische Diagnosen und ihre Bedeutung für die Schuldfähigkeit im Sinne der §§20/21 STGB. Z. f. ges. Strafrechtswissensch. 88, 46–47. 1979: Die Neuroleptika in der Rückfallverhütung schizophrener Psychosen (zus. mit W. Hartmann, J. Kind, P. Müller, H. Steuber) Nervenarzt 50, 734–737. 1986: Psychiatrie im 20. Jahrhundert – ein Rückblick. Abschiedsvorlesung. Verlag Erich Goltze Göttingen. 1992: Die neue Euthanasie-Diskussion aus psychiatrischer Sicht (zus. mit H. Lauter) Fortschritte Neurol. Psychiatr. 60, 441–448.

Würdigungen und Nachrufe A. Cramer (1900): Ludwig Meyer. Deutsche medizinische Wochenschrift 26, 139–140. O. Binswanger (1900): Zum Andenken an Ludwig Meyer. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 7, 261–264. O. Mönkemöller (1924) In: Kirchhoff Irrenärzte Bd. 2, 75–82. H. Kayser (2007): Ludwig Meyer. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 158, 39–42. H. Feldmann (1992): Professor Dr. med. Dr. h. c. Joachim-Ernst Meyer. Deutsches Ärzteblatt 89, A1–2487. H. Lauter (1999): Joachim-Ernst Meyer. Nervenarzt 70, 1034.

Andreas Spengler / Siegfried Neuenhausen

Julius Klingebiels Zelle – solitäre Kunst, Patientenschicksal und Psychiatriegeschichte

Das Leben und das Werk des Künstlers und Patienten Julius Klingebiel führt uns in eine historische Betrachtung, die ebenso Wunstorfer und Göttinger Psychiatriegeschichte aufzeigt wie auch allgemeine Bezüge zur Psychiatrie im Nationalsozialismus herstellt. Vor allem wirft sie ein Licht in die kaum erforschte Nachkriegspsychiatrie. Die Bedeutung der Klingebiel-Zelle erwächst aus der international solitären künstlerischen Aussage. Wir nähern uns dem Thema in einem ›Tandemvortrag‹ von der biografischen und psychiatriehistorischen Betrachtung (AS) und von der Erlebnisdimension in der Reflexion »… eines in Psychiatrien und Gefängnissen erfahrenen Künstlerkollegen« (SN). Julius Klingebiel, geb. am 11. Dezember 1904 in Hannover, Niedersachsen, wuchs bei seiner Familie auf. Sein Vater war Postbeamter, die Mutter Hausfrau. Er hatte eine Schwester. Er lernte 1928 den Beruf des Schlossers und diente bei der Wehrmacht im Proviantamt Hannover. Er war Mitglied der SA. 1935 heiratete er. Seine Frau brachte zwei Stiefsöhne mit in die Ehe. Im Dienst war er stark gefordert und erlitt 1935 zwei Kopfverletzungen. 1939 erkrankte er kurz nach Kriegsausbruch an einer akuten paranoid-halluzinatorischen Psychose. Nachdem er in erregtem und verwirrtem Zustand einen Stiefsohn gewürgt und seine Frau verbal bedroht hatte, wurde er von der Polizei wegen ›Geistesgestörtheit‹ in die Städtische Klinik Langenhagen eingewiesen. Es handelte sich um eine ordnungsrechtliche Unterbringung durch die Polizeibehörden. Ein Strafverfahren wurde nicht eingeleitet. Man diagnostizierte eine Schizophrenie und schrieb zur Kostenklärung ein ausführliches Gutachten. Eine ausführliche, nachvollziehbare Fremdanamnese der Ehefrau ist eingearbeitet. Auch nach heutigen Kriterien wäre vermutlich eine schizophrene Erkrankung zu diagnostizieren. Am 29. Oktober 1939 wurde er als sogenannter ›gefährlicher Geisteskranker‹ in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf verlegt. Die Anstalt übernahm die Diagnose. Die konventionell geführten Krankenakten dokumentieren Medikamentenbehandlungen u. a. mit subkutanen Injektionen von Scopolamin. Die Wunstorfer Ärzte beschrieben Visitengespräche, in denen Klingebiel von

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seinen psychotischen Inhalten bestimmt war und halluzinierte. Offenbar fügte er sich teilweise der Unterbringung, reagierte aber auch ablehnend und aggressiv, so dass man bald über eine Verlegung nachdachte. Am 10. März 1940 suchte er handschriftlich um seine Entlassung nach. Er habe »… lange genug den Komieker gespielt«. Formulare und Gutachten unterwarfen den kranken Menschen einer Logik, die der herrschenden Lehre folgte und in die Unmenschlichkeit der NS-Psychiatrie überging: Am 4. Dezember 1939 machte die Anstalt eine Sammelmeldung nach dem nationalsozialistischen Erbgesundheitsgesetz. Ein Formulargutachten des SSArztes Willi Baumert über Klingebiel ist erhalten. Am 26. Juli 1940 wurde der Patient in Neustadt/Rbg. zwangssterilisiert und dadurch zum Opfer der NSPsychiatrie. Am 9. August 1940 verlegte man ihn aus Kapazitätsgründen, aber auch wegen Auflehnung gegen das Personal in das Landesverwahrungshaus Göttingen. Dort wurden schon damals überwiegend strafrechtliche Unterbringungen vollzogen. Erst am 10. Oktober 1940 wurde er aus Wunstorf als angeblich unheilbarer Schizophrener ohne Beschäftigung für die nationalsozialistische Tötungsaktion T4 nachgemeldet. Das 1909 unter dem Direktoriat von August Cramer für ›unsoziale Geisteskranke‹ errichtete Verwahrungshaus hat seinen gefängnisartigen Charakter bis heute erhalten. Flure und Zellen sind vergittert. Es war im August 1940 mit 72 Patienten belegt. Im Zuge der T4-Aktion gingen drei Transporte aus Göttingen in Übergangsanstalten und anschließend Tötungsanstalten. Bis zum 1. September 1941 war auch das Verwahrungshaus fast vollständig geräumt. Eine Handvoll Patienten wurde unter dem Direktoriat von Gottfried Ewald verschont. Klingebiel tauchte in den Transportlisten nicht auf und wurde auch nach Rückfragen aus der T4-Zentrale in Berlin, die zuletzt 1942 eingingen, nicht deportiert. Die Quellenlage bringt zu der Frage, warum er verschont blieb, keine Klarheit. Schwerlich geschah dies ohne Wissen der Göttinger Verantwortlichen. Er überlebte in der Anstalt den Krieg. Schon bald nach seiner Verlegung war jeder Kontakt zu seinen Angehörigen verloren gegangen. Seine Schwester erkundigte sich 1940 nach seiner neuen Adresse. Seine Frau holte Auskünfte über seine Krankheit ein und ließ sich 1941 von ihm scheiden. Das Verwahrungshaus wurde während des Krieges mit Mädchen und jungen Frauen des Jugendschutzlagers aus dem Konzentrationslager Moringen belegt. Es wurde 1949 wieder in Betrieb genommen und vorrangig mit forensischen Patienten belegt. Klingebiel wurde spätestens 1951 dort wieder geschlossen verwahrt. Sein ursprünglich polizeirechtlicher Unterbringungsstatus aus dem Jahre 1939 galt fort. Bereits am 23. 05. 1950 erlegte ein Niedersächsisches Landesgesetz »über die Anstaltsunterbringung gemeingefährlicher Geisteskranker« den Kommunen auf, Untergebrachte zu erfassen und richterliche Überprüfungen zu veranlassen. Es wurde am 21. März 1994 durch das Nds. Gesetz über

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Sicherheit und Ordnung (SOG) und 1978 durch das Nds. PsychKG abgelöst. Beim zuständigen Amtsgericht Göttingen gab es kein familienrechtliches Verfahren: Klingebiel blieb ohne eine richterlich genehmigte Unterbringung eingeschlossen. Er belegte bis 1963 die Zelle 117. Leider ist die Göttinger Krankenakte um 2005 verschollen. Über seine Verfassung geben Zeitzeugen Auskunft, die wir 2014–2015 befragen konnten. Auch wurden Anfang der neunzehnhundertachtziger Jahre tabellarische Auszüge aus der Akte erstellt, u. a. unter Mitwirkung von Manfred Koller, die zu den Bauakten des Hauses gelangten und in einer Publikation von Wehse (1984) zitiert werden. Danach zog Klingebiel sich als Patient oft zurück, wirkte zeitweilig niedergeschlagen, manchmal hochgradig erregt, fügte sich aber in den Anstaltsalltag ein. Die ärztlichen Notizen deuten auf ausgedehnte Wahnsysteme eines großen Erfinders, aber auch auf Leibhalluzinationen (Strahlen), Vergiftungsinhalte, verwirrte und gequälte Zustände. Er soll oft laut geschrien haben. Nach heutigen Maßstäben lag eine chronisch produktive, paranoid-halluzinatorische schizophrene Erkrankung vor. Schockbehandlungen waren nach der Quellenlage bei Klingebiel nicht durchgeführt worden. Pfleger beschrieben später als Zeitzeugen auch eine selbstbewusste, oft originelle und phantasiereiche Seite. Im späteren Verlauf richtete er sich in ›seiner‹ Zelle ein. Wenn er einmal für Tage die Zelle räumen musste, um anderen Patienten Platz zu machen, wehrte er sich heftig. Im Festen Haus gab es nicht nur bescheidene Arbeit (Korbflechten, dem sich Klingebiel stets verweigerte) sondern, wie alte Fotos zeigen, auch Sport, Hoffeste und soziale Aktivitäten unter Beteiligung von Personal und Direktor. Eine Butze, eine weiß getünchte Gefängniszelle, neun Quadratmeter groß, sechs Schritte lang, vier Schritte breit. Nach oben viel Raum für Träume und Albträume. Auf dem Boden liegt die Matratze, später steht ein Bett an der Wand, ein Anstaltsbett, ein Verwahrhaus-Bett aus weiß lackiertem Stahlrohr, auch ein Tischchen, ein Stuhl, das war’s. Julius Klingebiel, der als gefährlicher Geisteskranke Eingestufte, kann schlafen, sitzen, stehen, ein paar Schritte gehen, sich waschen. Alles ist geregelt im Verwahrhaus: aufstehen, essen, herumsitzen, im Flur auf und ab tigern, Einschluss, Bettruhe. Klingebiel ist vermutlich ganz gerne allein, mit sich, mit den Bildern aus alten Zeiten im Kopf: Frauen, das Militär, Geschichte und Geschichten, Hannover, Festivitäten, Tiere und die biblische Auferstehung, Erlebtes und Gesponnenes, Fotos und Abbildungen, die ihn beeindruckt haben. Er will und muss einen Weg finden, aus der Flut der Kopfbilder Malerei zu machen. Vom Hofgang, so heißt es, bringt er ein bisschen Erde mit, die er mit Zahnpasta als Bindemittel zu bräunlichem Farbbrei mischt. Mit Zahnpasta! Auch kleine Steine soll er zum Zeichnen mit auf Zelle genommen haben. Sicher hat er mit angekokelten Holzstöckchen, seine Wandbilder vorgezeichnet.

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Arte povera im wörtlichen Sinn. Beginn künstlerischer Arbeit am Nullpunkt. Kümmerliches Material und Werkzeug zu Beginn eines obsessiven Werkes und – ganz wichtig – ein Stückchen Selbstbestimmung, ein wenig Zuwachs an Freiheit im Raster der Verwahrhaus-Fremdbestimmung. Malen mit Zahnpasta-Farbe, Anritzen der Wände, Zeichnen mit gekokelten Holzstöckchen auf frisch getünchte Wände macht Dreck. Das kam als Vandalismus rüber. Die anarchische Kreativität dieses Anfangs und die Verwahrhaus-Regeln sind einander spinnefeind. Wie sagte 1982 eine Oberschwester in einem meine Kunstprojekt im psychiatrischen Krankenhaus Wunstorf: » Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder malen würde.« Die Zelle wird also neu getüncht. Als weder Drohen noch gutes Zureden helfen, geben sie schließlich nach – auf Fürsprache des Oberarztes hin, der bemerkt hat oder ahnt, dass hier künstlerisch Bemerkenswertes entsteht. Vor allem aber : Der Mann wird beim Malen ruhiger, entspannter. Nach und nach mutiert die Verwahrhaus-Zelle zum Atelier, mit Bildern auf den Wänden – einem Work-in Progress würden wir heute sagen. 9 Quadratmeter autonome Zone im abgesperrten Verwahrhaus, sozusagen ein exterritorialer Bereich, in dem Klingebiel sich seine künstlerische Freiheit nimmt (Abbildung 1).

Abb. 1: Julius Klingebiel in der Zelle. Historisches Foto, Mitte der neunzehnhundert-fünfziger Jahre. Asklepios Fachklinikum Göttingen.

Klingebiels Projekt spricht sich rum, es wird geknipst dann und wann dürfen Studenten die Zelle sehen, Klingebiel erklärt und gibt gerne Auskunft, und dann

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und wann freuen sich Pfleger über ein Bildchen auf extra beschafftem Papier Lob auf das mit dem eigenen Kopf Ausgedachte und mit den eigenen Händen Hergestellte macht stolz, schafft Selbstbewusstsein. Ich glaube, der war sich ziemlich sicher, dass er mit der Bemalung seiner Zelle künstlerisch etwas Einmaliges schuf: Lob, Stolz, Zuwachs an Selbstbewusstsein: Das alles war auch in allen meinen Kunstprojekten in Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken außerordentlich wichtig. Klingebiel ist Anfang der fünfziger Jahre ein von verrückten Bildern im Kopf Besessener und Getriebener. Da ist Druck im Kessel. Von Anfang an, gleich mit dem Beginn der Wandmalerei verfügt Klingebiel offensichtlich über ein in sich geschlossenes, originelles und von professioneller Ausbildung unberührtes Repertoire an Ausdrucksformen, mit denen er Welt – seine Welt – detailreich darstellen und erklären kann. Nach und nach liegen und stehen auf seinem ArbeitsTischchen ein paar Borsten- und Haarpinsel sowie Näpfchen und Dosen zum Mischen der Binderfarben, die ihm der Malermeister der Anstalt zukommen lässt. Oben kommt er mit dem Pinsel nicht mehr hin- also nimmt er sich die Freiheit, das Bettgestell senkrecht an die Wand zu lehnen: Eine Verwahrhaus-Behelfsleiter. Zwischendurch muss er immer mal Bildteile, die ihm nicht mehr gefallen, abwaschen, manchmal auch übertünchen, dann neu ausmalen. Manchmal zerstört er Bildabschnitte in der Erregung. Als ein junger Pfleger ihn eines Tages deswegen kritisiert, rüffelt er ihn: Er habe ja keine Ahnung. Zwischen vielen Symbolen und Arabesken und in der Nachbarschaft einer Christi Himmelfahrt-Darstellung finden sich Hakenkreuze, manchmal verkehrt herum die Haken. Richtig, Klingebiel war ja SA – Mann, Mitläufer der NaziIdeologie, in deren Namen er 1940 kastriert wurde und die ihn vergast hätte, wenn nicht irgendein lausiger Zufall und/oder die eine oder andere hilfreiche Person das verhindert hätten. Viele seiner Motive und Themen sind geometrisierende, mit Ornamenten durchsetzte Darstellungen. Klingebielsche Landschaften – Wiesen, Bäume, Himmel, Hügel, Tiere, entstehen aus flächigen, von unten nach oben klar gegliederten Farbfeldern. Hirsche mit mächtigen Geweihen sind eines seiner Leitmotive. Er hat sie dutzendfach und in vielen Varianten gemalt. Aber sie sind so gar nicht naturgetreu sondern sie sind übersetzt in seine Bildsprache, klar gebaut im Klingebielschen Formenkanon. Die verschachtelten, ineinander verhakten Geweihe, fast möchte man sagen Geweihverhaue werden in anderen Bildteilen zu undurchdringlichem Wald oder auch zu einer schützenden, sich vor die Hirsche schiebende Barriere, in einem einzelnen Baum auch zu Rispen des ornamentalen Blattwerks. »Meine Dreieinigkeit ist Jesus, Hindenburg und Harry Piel« hat er 1959 einem Studenten gesagt. Dieses skurrile Glaubensbekenntnis erzeugt ähnlich skurrile und überraschende thematische Bildgefüge: Der kaiserliche, mit Orden behängte

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General zwischen merkwürdig posierenden Frauen. In allen seinen Themen, in Landschaft, Figur oder Tier : Es findet immer eine Metamorphose von Naturwahrnehmung zur typisch Klingebielschen künstlerischen Formulierung statt. Das Gestaltungsprinzip der Zelle ist die Reihung der Szenen, das blockartige Aneinanderfügen, manchmal auch das Verzahnen der Bildmotive. Kleine Bilder stehen neben großformatigen, heller gehaltene gegen dunklere. Heraldische Formen und Embleme sind mit realistischeren Teilen gemischt. Erinnerung durch Darstellung, Präsenz der Abwesenheit und der Vergangenheit in Bildern. All das Unterschiedliche, ja Gegensätzliche, vernetzt sich über die Jahre zu einem alle Zellenwände bedeckenden Bildercluster, zu einer grandiosen gemalten Collage, zum Bild-Universum des Julius Klingebiel. 1962 hört Klingebiel auf zu malen. Er kann nicht mehr. Die Behandlung mit neuen Medikamenten scheint seine Kreativität gebrochen zu haben. Ich habe ähnliche Erfahrungen in meinen Bildhauerprojekten in den Kliniken Wunstorf und Hamburg-Ochsenzoll gemacht. Kreative Arbeit und Haldol vertrugen sich schlecht. Klingebiel wurde erstmals 1961 neuroleptisch mit Perphenazin behandelt und soll danach deutlich ruhiger gewirkt haben. Er wurde 1963 auf eine Langzeitstation verlegt und dort, anders als in seiner Zelle, welche er allein für sich hatte, unter Wachsaalbedingungen eingepfercht. Er verstarb am 26. Mai 1965 in der chirurgischen Universitätsklinik Göttingen. Die Raumausmalung wurde, obwohl Anfang der neunzehnhundert-achtziger Jahre Sanitäreinbauten erfolgten, durch die Verantwortlichen geschützt und bis heute weitgehend erhalten. Sie ist teilweise wegen der verwandten Materialien verblichen. Die Sanitäreinbauten führten zu begrenzten Verlusten, aber alte Fotos erlauben einen Blick in die Vergangenheit. An der von der Witterung belasteten Außenwand bröckelt die Farbe seit langem. Die Zelle wurde nur noch zeitweilig belegt und dann als Abstellkammer benutzt. Zum vermeintlichen Schutz der Malerei brachte man vor 1984 einen Lacküberzug auf die Wände auf, der konservatorisch problematisch wirkt und Spiegelungen erzeugt (Abbildung 2). Der anfänglich verwirrende Gesamteindruck beim Betreten der Zelle weicht erst allmählich beim Blick auf zahllose Details. Dabei folgt die Einteilung der Malerei großen Ordnungsprinzipien, etwa durch eine große Radstruktur und Begrenzungen an der linken Wand oder durch die Rahmung der Landschaftsbilder auf der rechten Seite. Die künstlerische Fraglosigkeit und Naivität, die intuitive Sicherheit, die formal schlüssige Setzung im Großen und Ganzen wie im Detail, das überzeugende Zusammenfügen auch heterogenster Bildteile, die Fähigkeit zum geordneten

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Abb. 2: Raumeindruck beim Betreten der Zelle. Foto A. Spengler (2013).

Chaos wie zur chaotischen Ordnung, das alles macht Klingebiels Zelle zu einem einzigartigen Werk der Outsiderkunst. Outsider-Kunst, das ist die Schublade, in die wir Werke vorwiegend von Laien einsortieren, deren Schaffen quer zum Mainstream zeitgenössischer Kunst entsteht. In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts ließen sich einige bedeutende Künstler durch die »Kunst der Geisteskranken« ebenso wie ja auch durch die Kunst afrikanischer Kulturen inspirieren. In Werken beispielsweise von Max Ernst, Picasso, den Expressionisten finden sich Stilelemente, wie wir sie auch aus Klingebiels Werken kennen. Und bis heute gibt es immer wieder Künstler, deren Werke von Outsider-Kunst beeinflusst sind. Die Zelle steht seit 2012 als Kulturdenkmal unter Schutz. 2015 wurde das Fenster von außen verschlossen, um Lichteinfall und Klimaschwankungen zu beeinflussen. Das nach 1994 umbenannte ›Feste Haus‹ wurde bis zum Frühjahr 2016 seiner alten Bestimmung gemäß für die geschlossene Unterbringung psychisch kranker Straftäter genutzt. Es wurde im April 2016 geräumt und steht leer. Es war und ist nicht öffentlich zugänglich. Ein Neubau für den Maßregelvollzug wurde in unmittelbarer Nachbarschaft errichtet und 2016 in Betrieb genommen. Die Malerei entfaltet noch heute ihre große bildnerische Kraft. Aber sie ist bei Leerstand des Hauses substantiell gefährdet. Konzepte für eine umfassende Si-

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cherung und Restaurierung liegen nicht vor. Die Landesregierung muss entscheiden, wie die Raumausmalung zu schützen ist. Ein Konzept der zuständigen Behörden für die Nachnutzung des Grundstücks ist nicht bekannt. Unter Umständen wird eine Translozierung der Zelle an einen geeigneten Ort nötig sein. Diese ist heute technisch durchaus möglich. Dem Land liegt die Bewerbung des Sprengelmuseums Hannover vor, die Raumausmalung im Original zu übernehmen. Das von den beteiligten Kliniken, Behörden und wichtigen Stiftungen unterstützte Forschungs- und Ausstellungsprojekt Julius Klingebiel verfolgt seit 2010 das Ziel, Leben und Werk zu erforschen und den Erhalt der Zelle durch Publikationen, Ausstellungen und öffentliche Präsenz zu unterstützen. Ziel ist es, die Raumausmalung im Original als solitäres Kunstwerk dauerhaft öffentlich zugänglich zu machen und damit im Sinne von Bildung, Gedenkkultur und Inklusion wirken zu lassen (Bentele, 2014). Hierzu wurde eine präzise Fotodokumentation erstellt, auf deren Basis eine fotografische Rauminstallation für Ausstellungszwecke zur Verfügung steht. Aus Anlass des Jubiläums 150 Jahre Universitätspsychiatrie Göttingen wurde die Fotoreplik der Klingebiel-Zelle in der ›Alten Mensa‹ gezeigt und für die Betrachter erfahrbar. Klingebiels Zelle ist, wie Ministerpräsident Stefan Weil 2013 es in Göttingen formulierte, ein Mahnmal und Denkmal. Für Göttingen und die Region erzählt die Zelle Psychiatriegeschichte. Als solitäres Kunstwerk wirkt sie weit über die Landesgrenzen hinaus und hat internationale Bedeutung. Wie geht es nun weiter mit der Zelle Nr. 117? Geht man von dem künstlerischen Rang des Werkes aus, so sollte es auf Dauer als Meisterwerk eingefügt sein in das Ensemble anderer zeitgenössischer Meisterwerke – gerade auch wegen seiner Widerborstigkeit. Das Werk braucht den Dialog. Die Eigenart, das Besondere, würde im Vergleich mit anderen Werken des 20. Jahrhunderts besonders deutlich.

Peter Falkai / Alkomiet Hasan / Andrea Schmitt

Verbesserung der Gehirnplastizität bei der Schizophrenie: Möglichkeit therapeutischer Verbesserungen?

Einleitung Dieser Beitrag ist dem 150. Geburtstag der Universitätspsychiatrie in Göttingen gewidmet, deren Direktor ich für sechs Jahre sein durfte. Der Beitrag greift aktuelle Entwicklungen auf, die in ähnlicher oder verbal anders gestalteter Form von meinen Vorgängern, aber auch Nachfolgern, aufgegriffen wurden und werden und somit verdeutlichen, dass Fortschritt immer nur im Zusammenspiel von Personen und Generationen möglich ist.

1.

Gestörte Plastizität und Schizophrenie

Die schizophrenen Psychosen haben seit Beginn der Beschreibung dieser Gruppe von Erkrankungen großes Interesse von neurobiologisch orientierten Forschern auf sich gezogen1. Die Vorstellung, dass dieser Erkrankung strukturelle Veränderungen zugrunde liegen, wurde bereits durch Befunde des späten 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts bei Erkrankungen wie dem Morbus Alzheimer oder dem Morbus Parkinson genährt. Dementsprechend ging man davon aus, dass auch bei der Dementia Praecox, oder später Schizophrenie, Strukturen wie der Thalamus oder neokortikale Areale so verändert sein mussten, dass man dies mit qualitativen und später quantitativen Methoden nachweisen konnte. Aus klinischer Sicht ist ein solcher Gedanke sehr gut nachvollziehbar, da wir bei unseren Patienten mit einer Schizophrenie beobachten können, wie sie im Vorfeld des Ausbruchs der Erkrankung prodromale Symptome entwickeln, darunter auch kognitive Defizite, welche auch nach einer erfolgreichen Behandlung häufig bestehen bleiben und die Patienten ein Leben lang beeinträchtigen. Diese Beobachtung unterstützte die Vorstellung eines Gehirnpro-

1 Bspw. Alzheimer 1893.

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zesses, der neurodegenerativer Natur sein könnte. Was allerdings von Anfang an dagegen sprach und nach wie vor dagegen spricht, sind folgende Argumente:

1.1

Keine Progression kognitiver Defizite mit dem Krankheitsverlauf

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an methodisch hochwertigen Studien, die über einen Zeitraum von fünf oder zehn Jahren kognitive Defizite bei Patienten mit einer Schizophrenie nachuntersucht haben und fanden, dass diese nicht zunahmen sondern domänenspezifisch sogar eine Besserung zeigten.2 Passend dazu gibt es auch keine Hinweise, dass sich die klinische Symptomatik im Verlauf verschlechtert, wobei das sicherlich nicht für eine Subgruppe der Patienten mit schlechtem Verlauf gilt. Diese werden im Amerikanischen gerne als »Kraeplinian Schizophrenics« zusammengefasst,3 und zeigen eine Verschlechterung über den Verlauf. Zudem wissen wir zudem aus kontrollierten Studien, dass ein rezidivierender Verlauf auch unter kontrollierten Bedingungen von Aufnahme zu Aufnahme mit längeren Remissionszeiten und einer verschlechterten Remissionsqualität verbunden ist, was durchaus im Sinne einer klinischen Verschlechterung gewertet werden kann4.

1.2

Fehlende Hinweise auf einen klassisch neurodegenerativen Prozess

Quantitative Post-mortem-Untersuchungen, die optimalerweise auch stereologische Methoden mit eingesetzt haben, konnten in den letzten Jahren weder einen Hinweis auf einen Neuronenverlust noch einen signifikanten Anteil an Astroglia-Zunahme bei Patienten mit einer Schizophrenie nachweisen5. Eine Aktivierung von Mikroglia-Markern6 konnten im Rahmen von quantitativen Untersuchungen bei schizophrenen Patienten nicht repliziert werden, wobei die Erhöhung auf andere Effekte wie z. B. die Suizidalität hinwies.7 Da ein klassisch degenerativer Prozess bei Gehirnerkrankungen wie z. B. dem Morbus Alzheimer oder dem Morbus Parkinson mit Neuronenverlusten und Astroglia-Aktivität verbunden ist, kann für die Schizophrenie ein klassisch neurodegenerativer Prozess ausgeschlossen werden. 2 3 4 5 6 7

Bspw. Hoff et al. 1992 und 1999. Bspw. Bralet et al. 2016. Lieberman et al. 1996. Falkai et al. 1995, Schmitt et al. 2009, Falkai et al. 2016. Bspw. Bayer et al. 1999. Steiner et al. 2008.

Verbesserung der Gehirnplastizität bei der Schizophrenie

1.3

85

Reversibilität hirnstruktureller Veränderungen

Longitudinale Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen bei Patienten mit einer Schizophrenie durchaus eine gewisse Reversibilität von Volumenreduktionen, wie z. B. im Cortex.8 Darüber hinaus konnten aktuelle Untersuchungen eine weitgehende Rückbildung von Volumendefiziten, z. B. im Bereich des Hippocampus, durch beispielsweise Sport belegen.9 Fasst man diese drei Argumentationslinien zusammen, so kann man davon ausgehen, dass der Schizophrenie kein (klassisch) degenerativer Prozess zugrunde liegt, sondern hier vielmehr eine Störung regenerativer Prozesse ursächlich ist.10 Diese regenerativen Prozesse umfassen typischerweise die Neuroneogenese,11 aber auch synaptische Prozesse, die zu einer Volumenveränderung beitragen können.

2.

Die Schizophrenien als Störung regenerativer Prozesse

Folgt man dem Gedanken im letzten Abschnitt und versucht man, diesen auf die Gesamtgruppe der Schizophrenien zu übertragen, könnte man das in Abb. 1 dargestellten Bild zusammenfassen: So finden sich circa 20 % der Patienten mit einer Schizophrenie, bei denen plastische bzw. regenerative Prozesse trotz der Erkrankung gut erhalten bleiben, sich die Symptomatik nach der Erstmanifestation gut zurückbildet und weitere Rezidive ausbleiben. In der nächsten Gruppe schädigt die Erkrankung die plastischen Prozesse insoweit, als dass zwar eine vollständige Remission der Symptomatik nach jedem Schub erfolgt, die Stressresistenz jedoch reduziert ist und es doch in besonderen Situationen zu Rezidiven, aber gefolgt von vollständiger Remission, kommt. Die dritte Gruppe von Patienten entwickelt durch die Erkrankung oder als Grundlage für die Erkrankung einer Schizophrenie ein Defizit an Plastizität, weshalb es zur Ausbildung eines wenn auch stabilen Residuums nach jedem Schub kommt trotz aller Behandlungsoptionen ist dieses stabil und nicht weiter im Langzeitverlauf verbesserbar. Das größte Problem stellt jedoch die vierte Gruppe von Patienten dar, bei denen durch die Erkrankung die plastischen Kapazitäten für eine Regeneration von Schub zu Schub vermindert werden. Die Residualsymptomatik nimmt zu und damit natürlich

8 9 10 11

Bspw. Keshavan 1996) Pajonk et al. 2010. Zur Übersicht siehe Falkai et al. 2015. Bspw. Reif et al. 2007.

86

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Abb. 1: Stratifizierung der Schizophrenie anhand des Langzeit-Outcomes. LZT: Langzeittherapie; NL: Neuroleptika. (Falkai P und Pajonk FG 2004)

auch die Rehabilitationsfähigkeit, und in diesem Zusammenhang auch die Lebensqualität für die Patienten. Überträgt man diese theoretischen Grundannahmen auf unsere aktuellen therapeutischen Möglichkeiten und Ideen zu neuen Therapieansätzen, so würde die erste Gruppe bis auf eine vorübergehende D2- und 5HT2 A-Blockade sicherlich keine weitere therapeutische Intervention brauchen. Ähnliches wird für die relativ kleine zweite Gruppe gelten. Bereits bei der dritten Gruppe muss man selbstverständlich überlegen, ob man neben der unvermeidbaren D2-Blockade parallel sehr früh versuchen sollte, die Plastizität des Gehirns zu stabilisieren und zu verbessern, um das psychotische Geschehen unter Kontrolle zu bekommen. Hier bieten sich drei Ansätze an:

2.1

Pharmakologische Möglichkeiten zur Verbesserung der Plastizität

Wir wissen, dass Neuroleptika, die neben der D2-Blockade auch eine D2-Modulation beinhalten, die Gehirnplastizität günstiger beeinflussen als Antipsychotika mit ausschließlich einer D2-Blockade. Die Effekte sind aber nicht groß und auch nicht allgemein repliziert. Antidepressiva haben im Zellmodell einen positiven Effekt, sowohl auf die Neuroneogenese als auch auf die Synaptogenese.12 Innovative Ansätze wie das N-Acetyl-Cystein, das Erythropoietin oder Fischöl konnten in kleinen, teilweise unkontrollierten Studien durchaus über12 Serafini 2012; Pawelczyk et al. 2016.

Verbesserung der Gehirnplastizität bei der Schizophrenie

87

zeugende positive Effekte auf die Plastizität zeigen.13 Große kontrollierte Studien z. B. für das Fischöl, konnten weder in den späten Phasen einer Schizophrenie noch in den frühen prodromalen Phasen einen signifikanten Effekt zeigen.14 Insofern gibt es aktuell kein klares Bild, ob es in absehbarer Zeit gelingen wird, plastische Vorgänge bei Menschen mit einer schizophrenen Psychose ausschließlich pharmakologisch zu verbessern.

2.2

Nicht-invasive Stimulationsverfahren

Viele kleinere Studien und die darauf aufbauenden Meta-Analysen konnten nachweisen, dass die transkranielle Magnetstimulation (rTMS) einen positiven Effekt auf die Negativsymptomatik bei der Schizophrenie hat, was die Vermutung nahe legt, dass hierüber plastische Vorgänge verbessert werden. In einer großen randomisierten doppelblinden Studie mit insgesamt über 150 Patienten mit einer Schizophrenie konnte dieser Effekt aber nicht nachgewiesen werden.15 Interessanterweise ergab eine Post-Hoc-Analyse, dass die rTMS durchaus bei einem signifikanten Anteil der Patienten zu einer Verbesserung der Negativsymptomatik geführt hatte, falls das Gehirn mittels struktureller Plastizität reagiert hat.16 Dieser Befund weist darauf hin, dass Plastizität keine kontinuierliche Variable darstellt, sondern Subgruppen von Patienten in ganz unterschiedlichem Maße betrifft. Das komplett negative Ergebnis der großen kontrollierten Studie zu rTMS auf Negativsymptomatik (Resis) ist somit als Gesamtgruppe verständlich, zeigt aber wie wichtig es ist, eine große Untersuchungsstichprobe zu haben, bei der Teilstichproben identifiziert und nachuntersucht werden können. Unabhängig von der rTMS, die nun zumindest für eine Teilstichprobe von Patienten mit einer schizophrenen Psychose sinnvoll erscheint, ist die Gleichstromstimulation (tDCS) mit ersten Pilotdaten als ein anderes vielversprechendes Verfahren.17 Hier muss jedoch, genauso wie für die rTMS, in einer großen Multicenter-Studie nachgewiesen werden, dass die Gleichstromstimulation einen positiven Effekt auf die Negativsymptomatik/die kognitiven Defizite bei der Schizophrenie hat und man somit indirekt vermuten kann, dass hier plastische Prozesse positiv moduliert werden. Entsprechende neurobiologische Messmethoden müssen hinzugezogen werden, um diesen Befund dann auch in Bezug auf plastische Prozesse abzusichern. D. h. zusammengenommen bieten 13 14 15 16 17

Wüstenberg et al. 2011; Sommer et al. 2014. Chen et al. 2015. Wobrock et al. 2015. Hasan et al. 2016. Bspw. Palm et al. 2016.

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nicht-invasive Hirnstimulationsverfahren eine gute Möglichkeit, die neuronale Plastizität bei der Schizophrenie zu verbessern und somit hoffentlich insbesondere in den frühen Phasen der Erkrankung die Ausbildung der Residualsymptomatik zu reduzieren oder optimalerweise zu verhindern.

2.3

Aerobes Training

Mittlerweile gibt es mehrere Metaanalysen,18 die einen positiven Effekt von aerobem Training (Fahrradfahren, Yoga und andere Sportarten) auf Symptomatik, Funktion und Kognition bei Patienten mit einer Schizophrenie nachweisen können. Darüber hinaus gibt es auch erste Untersuchungen, die einen Effekt auf die zugrunde liegende Neurobiologie, Strukturvolumina, biochemische Maße oder auch Maße für die strukturelle Konnektivität nachweisen können.19 Zusammengefasst gibt es also mindestens drei Ansätze, nämlich den pharmakologischen, den nicht-invasiver Stimulationsverfahren sowie die körperliche Aktivität, die einen Einfluss auf die neuronale Plastizität bei Patienten mit einer Schizophrenie haben. Leider sind diese Effekte nur vorübergehender Natur. In Malchows [et al.] Studie aus dem Jahr 2016 wurde bei den Patienten nach einem dreimonatigen Ausdauertraining ein Follow-Up nach sechs Monaten ohne Training durchgeführt. Sowohl die Effekte auf die Funktion als auch auf die Strukturvolumina waren nicht mehr signifikant nachweisbar. D. h. neben der Frage, wie man optimalerweise die neuronale Plastizität bei Patienten mit einer Schizophrenie stimuliert, stellt sich die nächste Frage, wie man die teilweise überraschenden Effekte aufrecht erhält, so dass die Patienten langfristig die Möglichkeit einer Funktionsverbesserung haben.

3.

Die Verbesserung der neuronalen Plastizität bei der Schizophrenie: Bei wem, wie und wie lange?

3.1

Prädiktion und Neuroplastizität

Wie weiter oben angedeutet, kann nicht jeder Mensch auf den gleichen Stimulus in einem vorgegebenen Zeitraum mit einer plastischen Antwort reagieren. Mit Hilfe humanphysiologischer Methoden kann am Modellsystem des motorischen Kortex (mittels TMS) oder des frontalen Kortex (mittels EEG, fMRT) das individuelle Responseverhalten auf eine plastische Stimulation untersucht werden. 18 Zuletzt Firth et al. 2016. 19 Pajonk et al. 2010; Malchow et al. 2016; Svatkova et al. 2015.

Verbesserung der Gehirnplastizität bei der Schizophrenie

89

Offen sind aktuell vor allem Fragen nach der Re-Test-Reliabilität dieser Methoden. Ein Ansatz wäre die plastische Antwort individuell zu bestimmen, um dann Personen zu identifizieren, die mit größerer Wahrscheinlichkeit auf nichtinvasive Stimulationsverfahren, neue pharmakologische Ansätze oder auf aerobes Training reagieren. In diesem Zusammenhang spielen prädiktive mathematische Verfahren auf der Basis von ›Machine Learning‹ eine zunehmend große Rolle, da sie erlauben, nicht nur die Übergangswahrscheinlichkeit von einem psychotischen Prodrom in das Vollbild einer Schizophrenie relativ exakt vorauszusagen,20 sondern auch den Verlauf einer Erstmanifestation über vier Wochen, bzw. für ein Jahr vorherzusagen.21 Wenn aber Plastizität ein wichtiger Prädiktor für die Remissionsfähigkeit eines Menschen, seines Gehirns, ist, so werden diese Verfahren auf der Basis einfacher klinischer Maße vielleicht in Kombination mit strukturellen Bildgebungsdaten helfen vorauszusagen, welcher Patient neben einer absolut notwendigen antipsychotischen Therapie in Kombination mit Psycho- und Soziotherapie zusätzlich Maßnahmen zur Verbesserung der neuronalen Plastizität erhalten muss. Gelänge es, auf diese Weise die dritte Gruppe (dritte Reihe in Abb. 1) zielsicher im frühen Behandlungsverlauf zu identifizieren, so müsste es auch gelingen, durch die gezielte Kombination pharmakologischer und nicht-pharmakologischer Verfahren die Plastizität zu verbessern und somit die Remissionsfähigkeit im Langzeitverlauf zu optimieren. So konnten wir zeigen, dass ein dreimonatiges Training auf dem Fahrrad-Ergometer in Kombination mit kognitivem Training eine Verbesserung der globalen Funktion (GAF-Score) um 20 % und eine signifikante Verbesserung im Social Adjustment Score für die Aspekte Freizeit, Haushalt und globales Funktionieren nach sich zog.22

3.2

Zukunft proplastischer Therapieansätze

Die Therapie mit Antipsychotika ist Standard für die Behandlung der akuten Schizophrenie und Erhaltungstherapie zur Verhinderung von Rückfällen.23 Mit ihrer Einführung Anfang der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben Antipsychotika geholfen, sowohl die Prognose dieser Gruppe von Erkrankungen deutlich zu verbessern als auch die Durchführung psychotherapeutischer aber auch soziotherapeutisch-rehabilitativer Verfahren viel besser zu ermöglichen. Die adäquate Therapie schizophrener Psychosen ruht letztendlich auf diesen 20 21 22 23

Bspw. Koutsouleris et al. 2009, 2012, Kambeitz-Ilankovic et al. 2016. Koutsouleris et al. 2016. Malchow et al. 2016. Hasan und Falkai 2016, Hasan et al. 2013.

90

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drei Säulen: der Pharmakotherapie, Psychotherapie und Soziotherapie. D. h. die gezielte Kombination dieser drei Verfahren in unterschiedlicher Intensität zu unterschiedlichen Phasen der Erkrankung ist heute selbstverständlich, was schließlich auch die Prognose dieser Gruppe von Erkrankungen verbessert hat. Psychotherapie wird nicht mehr nur zur Behandlung residualer Negativ- oder Positivsymptomatik angewandt, sondern ist integraler Bestandteil einer aktiven Therapie schizophrener Psychosen.24 Überträgt man diese Prinzipien auf die Frage, wie proplastische Ansätze bei schizophrenen Psychosen aussehen könnten, so ist zu vermuten, dass es einerseits eine Basistherapie mit Antipsychotika begleitet von Psychotherapie geben muss, die dann relativ früh im Verlauf der Erkrankung und auch früh im Rezidiv ergänzt wird durch proplastische Substanzen, Stimulationsverfahren oder aerobes Training. Eine solche Therapie wird sicherlich nicht parallel sondern eher sequenziell aufzubauen sein. In der Akutphase wird mit Antipsychotika begonnen, kurz danach mit Psychoedukation, bzw. kognitiv-behavioralen Interventionen, um spätestens bei der Exploration von signifikanter Negativsymptomatik proplastische Verfahren hinzuzunehmen. Hier konnten wir nachweisen, dass Patienten mit einer Mehrfach-Erkrankung einer Schizophrenie bei stabiler Neurolepsie und Psychotherapie und einer Zugabe von aerobem Ausdauertraining und nach sechs Wochen zusätzlichem kognitiven Training (Cogpack) sehr gut profitiert haben.25 Zukünftige Studien müssen meines Erachtens nach einer oben skizzierten adäquaten Auswahl der Patienten überprüfen, welche potentielle Kombinationstherapie einen optimalen proplastischen Effekt auf die Verbesserung der Funktion und somit die Lebensqualität der Patienten hat.

3.3

Aufrechterhaltung proplastischer Effekte

Nachdem sich erste Verfahren herauskristallisieren, welche die neuronale Plastizität modulieren, stellt sich folglich die Frage, wie man diese Effekte langfristig aufrecht erhält, um die Funktionsverbesserung der Patienten zu erhalten, bzw. eine gute Basis für eine weitere Verbesserung zu schaffen. Da davon auszugehen ist, dass die Mechanismen, welche die neuronale Plastizität aufrechterhalten, bei schizophrenen Psychosen gestört sind, wird eine Unterbrechung eines proplastischen Stimulus immer eine Abnahme des gewonnenen Plastizitätsgewinns bedeuten. So müsste man beispielsweise beim aeroben Training die minimale Trainingsdosis identifizieren, unter welcher der gewonnene proplastische Effekt ggf. in abgeschwächter Form aufrechterhalten werden 24 Zur Übersicht siehe Lincoln 2014, Lincoln 2016. 25 Malchow et al. 2016.

Verbesserung der Gehirnplastizität bei der Schizophrenie

91

kann, um eine Funktionsverbesserung der Patienten langfristig zu garantieren und zu verbessern. Hierzu gibt es letztendlich nur Empfehlungen, die davon ausgehen, dass man pro Woche circa 150 Minuten zusätzliche Bewegung braucht, um den körperlichen Trainingszustand aufrecht zu erhalten.26 150 Minuten erscheint aber schon für gesunde Personen ein ziemlich hoher Zeitaufwand, der selbstverständlich sofort die Frage nach sich zieht, mit welcher Trainingsart diese Zeit gefüllt werden soll. Ein kontinuierliches aerobes Training, wie es z. B. beim Fahrrad-Ergometer erfolgt, ist für viele langweilig, auch wenn es zu einem replikablen Effekt führt. Alternative Therapieformen wie das High Intensity Training (HIT) müssen dahingehend geprüft werden, ob sie nicht geeigneter sind, Patienten länger an körperliches Training zu binden und einen besseren Effekt zu erzielen. Die Fortführung körperlichen Trainings mit einer minimal notwendigen Dosis oder die Fortführung der Gleichstromstimulation über einen längeren Zeitraum erscheinen möglich, aber wahrscheinlich nur in Ausnahmefällen realisierbar. Bei einem chronischen Krankheitsbild stellt sich die Frage, ob es nicht einen medikamentösen Ansatz gibt, diese proplastischen Effekte, nachdem sie induziert sind, aufrechtzuerhalten. Aktuell gibt es hierzu keine Substanz, welche sich hier im Sinne eines Erhaltungstherapeutikums bewährt oder auch nur in Pilotstudien ein wirklich brauchbares Signal gezeigt hätte. Der Ansatz glutamaterger Substanzen gegen Negativsymptomatik einzusetzen, bzw. optimalerweise eine Therapie mit D2-blockierenden Substanzen zu erübrigen, sind bisher nicht erfolgreich gewesen. Erste kleine Studien mit Cannabidiol sind vielversprechend, müssen aber in großen kontrollierten Studien ihre Wirksamkeit erst unter Beweis stellen.27 Hier versuchen wir und andere Arbeitsgruppen, Genpfade (Pathways) bzw. Genfamilien zu identifizieren, welche durch Sport generierte Veränderungen der Hirnstruktur und der Funktion bei Patienten mit einer Schizophrenie induzieren (unveröffentlichte Daten). Auf Basis der sogenannten Polygenetic Riskscores kann dann das Ausmaß der individuellen Belastung mit Risikogenen vielversprechende Kandidatenpfade/pathways identifizieren und somit die Grundlage bilden, bekannte Substanzen die in diesen Pathways wirken als neue Therapieoption zu prüfen. Diese können dann im Sinne des Repurposings zunächst in Pilot- und später in größeren klinischen Studien auf ihre Wirksamkeit getestet werden. Dies wäre ein machbarer und letztendlich auch zeitsparender Weg, um geeignete Pharmaka zu entwickeln, die proplastische Effekte bei schizophrenen Patienten induzieren bzw. diese aufrechterhalten.

26 Garber et al. 2011. 27 Leweke et al. 2016.

92

4.

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Zusammenfassung

Die Einführung antipsychotischer Substanzen in die Therapie schizophrener Psychosen hat ihre Kurz- und Langzeitprognose deutlich verbessert. Heute gehört die Kombination mit einer akuten Psycho- und später dann auch Soziotherapie bereits in sehr frühen Phasen der Erkrankung zum State-of-the-Art. Trotzdem zeigt circa die Hälfte der Patienten auch unter einer adäquaten Therapie eine residuale Positiv- und insbesondere Negativsymptomatik. Neurobiologische Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass diese auf dem Boden einer Störung regenerativer Kapazitäten des Gehirns entstehen. Dementsprechend sollten proplastische Ansätze unter Beibehaltung der oben genannten Therapiestrategien das Plastizitätsdefizit reduzieren und optimalerweise aufheben. Bei den proplastischen Therapieansätzen sind Pharmaka, nicht-invasive Stimulationsverfahren und aerobes Training als potentielle Möglichkeiten zu nennen. Neue Studien müssen entsprechende Kandidaten identifizieren und darüber hinaus klären, welche Subgruppe der Patienten besonders von proplastischen Therapieansätzen profitieren könnten und Ansätze liefern, um die proplastischen Effekte im Langzeitverlauf aufrecht zu erhalten.

Danksagungen Für die Unterstützung danken wir der wissenschaftlichen Arbeit durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Klinische Forschergruppe (KFO-241) und dem Folgeprojekt PsyCourse: FA241/16–1) sowie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (ESPRIT: 01EE1407E).

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Beiträge und Grußworte zum Symposium 150 Jahre Universitätspsychiatrie Göttingen vom 26.–27. Mai 2016

Grußwort von Prof. Dr. Jens Wiltfang Magnifizienz, sehr geehrte Frau Beisiegel (Präsidentin Georg-August-Universität Göttingen) Sehr geehrte Frau Hauth (Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde), sehr geehrter Herr Staatssekretär Röhmann, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler sehr geehrter Herr Schön (stellv. Dekan, Georg-August-Universität) sehr geehrter Herr Spitzer, lieber Carsten (Medizinischer Direktor der Asklepios Fachklinik Tiefenbrunn) liebe Kollegen und psychiatrische Weggefährten, es ist mir eine große Freude die ersten Grußworte anlässlich unserer Festveranstaltung »150 Jahre Universitätspsychiatrie« in Göttingen sprechen zu dürfen: aber keine Sorge, ich fasse mich kurz. Entsprechend werde ich bei 150 Jahren Psychiatrie in Göttingen nur einige Aspekte ansprechen, die mir persönlich wichtig sind. Dabei handelt es sich nicht um wissenschaftliche Errungenschaften, sondern vielmehr um besondere humanistische Leistungen. Beeindruckt hat mich beispielsweise, dass der erste Göttinger Klinikleiter, Ludwig Meyer, als Verfechter einer freiheitlichen Psychiatrie weitgehend auf Zwangsmittel verzichtete und damit Pflege und Therapie in Göttingen vor 150 Jahren revolutionierte. Das große Verdienst von Prof. Gottfried Ewald, Klinikdirektor von 1934–1954 war es dann, als Göttinger Ordinarius für Psychiatrie den Mut aufzubringen, sich gegen das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten zur Ermordung psychisch Kranker zu stellen. Prof. Ewald ist es in der Folge gelungen, durch geschickte Strategien zahlreiche psychiatrisch Erkrankte vor der drohenden Tötung zu retten. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Prof. Ewald – wie die große Mehrheit seiner damaligen psychiatrischen Kollegen – die Zwangssterilisation psychisch Kranker nicht ablehnte. Es

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Beiträge und Grußworte zum Symposium

ist mir eine besondere Freude, den Sohn von Prof. Gottfried Ewald, Herrn Prof. Wolfgang Ewald, als unseren Ehrengast begrüßen zu dürfen. Es ist nicht sicher geklärt, ob auch Julius Klingebiel als forensisch-psychiatrischer Patient der drohenden Euthanasie durch Unterstützung von Prof. Ewald entkommen konnte, oder ob hier andere Gründe ausschlaggebend waren. Aber am Beispiel von Julius Klingebiel kann ein weiteres Mal gezeigt werden, wie in der Göttinger Psychiatrie humanistischer Weitblick Großes geschaffen hat, in diesem Fall ein bedeutendes Raumkunstwerk. Denn nur der Großzügigkeit und der Empathie der damaligen ärztlichen Kollegen und insbesondere des Pflegepersonals ist es zu verdanken, dass Julius Klingebiel seine kleine Zelle über viele Jahre in ein einzigartiges, international anerkanntes Raumkunstwerk verwandeln konnte. Wir freuen uns, dass sie eine Replik dieses Raumkunstwerks im Rahmen unserer Veranstaltung begehen und erleben können. Der hörens- und sehenswerte Tandemvortrag von Prof. Spengler und Prof. Neuenhausen am Freitag wird Julius Klingebiel und sein künstlerisches Schaffen würdigen. Eine besondere Freude ist auch, dass wir mit Prof. Häfner und Prof. Lauter zwei bedeutende Vertreter des Neuaufbruchs der Psychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg als Referenten gewinnen konnten. Wir wissen das ganz besonders zu würdigen, da mit 80+ derartige Zusagen sorgfältig abgewogen werden. Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei meiner Kollegin Iris Hauth herzlich bedanken, die als Präsidentin unserer Fachgesellschaft ihren Terminkalender für Göttingen freigeschaufelt hat und in ihrem Fachvortrag Themen adressiert, die uns Psychiater und Psychotherapeuten aktuell besonders beschäftigen. Der Rückblick meines geschätzten Kollegen Manfred Koller wird gleich historisch geprägt sein und wir werden eine spannende Reise durch 150 Jahre Göttinger Psychiatriegeschichte miterleben. Abschließend erlauben Sie mir noch einige Worte zum musikalischen Rahmenprogramm. Hier spannen wir einen Bogen von der Romantik vor 150 Jahren zur heutigen klassischen sogenannten »Neuen Musik«. Es ist naheliegend, dass den Beginn Schumann macht, der selbst psychiatrisch erkrankte und in einer psychiatrischen Klinik in Bonn-Endenich verstarb. Als Vertreter der Hochromantik werden wir Johannes Brahms hören, ein guter Freund von Clara und Robert Schumann. Den Bogen zur heutigen Klassik schließt Maria Koval, die als Absolventin des berühmten Moskauer Tschaikowski-Konservatoriums, heute als Komponistin in Paris arbeitet und international für große symphonische Werke Neuer Musik steht. Wir sind ihr besonders dankbar, dass sie für unsere Festveranstaltung kleine Klavierwerke und ein Stück für Violoncello und Klavier umgeschrieben hat, und auch bereit war persönlich zu unserer Veranstaltung nach Göttingen zu kommen. Ich glaube sagen zu dürfen, dass die meisten von

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uns bisher wenig Erfahrung mit klassischer »Neuer Musik« haben; umso mehr dürfen wir auf den Kontrast zwischenalter und neuer Klassik gespannt sein. Nun wird auch der beste Komponist nicht gehört, wenn nicht talentierte Solisten ihm Gehör verschaffen. Hier gilt mein besonderer Dank dem international renommierten Pianisten Prof. Gerrit Zitterbart und Schülern seiner Meisterklasse an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Das musikalische Abendprogramm wird dann von Prof. Bandelow und seinen »Soul Surgeons« gestaltet, auch hier mein herzlicher Dank an die Musiker. Nun sind die Protagonisten eines Organisationskomitees hilflos, wenn sie nicht engagiert und professionell von einem großen Mitarbeiterteam unterstützt werden. Carsten Spitzer und ich wurden hier großartig unterstützt, wofür ich mich abschließend ganz herzlich bei meinen Mitarbeitern bedanken möchte. Ich freue mich auf »150 Jahre Psychiatrie in Göttingen«!

Grußwort von Prof. Dr. Carsten Spitzer Sehr geehrter Herr Staatssekretär Röhmann, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler, sehr geehrte Frau Präsidentin Beisiegel, sehr geehrter, lieber Herr Schön, sehr geehrte Frau Hauth, sehr geehrter Herr Wiltfang, lieber Jens, sehr geehrter Herr Huppertz, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Namen der Asklepios Psychiatrie Niedersachsen möchte ich Sie herzlich begrüßen und Sie anlässlich der Feier zum 150-jährigen Bestehen der Psychiatrie in Göttingen willkommen heißen. Wir freuen uns sehr, dass wir diesem ehrwürdigen Jubiläum gemeinsam mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen gedenken und dass Sie unserer Einladung so zahlreich gefolgt sind. Wie Kollege Wiltfang bereits formuliert hat, möchten wir als uns Gastgeber mit unseren Grußworten eher bescheiden. Gestatten Sie mir dennoch einige Bemerkungen und historische Rückblicke, die aus meiner Sicht für uns heute und für zukünftige Entwicklungen von zentraler Bedeutung sind. Dem Bau und der Inbetriebnahme der »Provinzial-Irrenanstalt zu Göttingen«, dem heutigen Asklepios Fachklinikum Göttingen, gingen heftige politische und gesellschaftliche Kontroversen voran, die sich auf die unterschiedlichsten Aspekte eines solchen Vorhabens bezogen. Dabei ging es den Initiatoren nicht nur um eine zeitgemäße und würdige Versorgung psychisch Kranker, sondern auch und insbesondere um eine gute und fundierte Ausbildung angehender und junger Mediziner im Fach Psychiatrie, die damals allenfalls rudi-

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mentär und keineswegs verpflichtend war. Dass sich die Befürworter der »Provinzial-Irrenanstalt zu Göttingen« mit ihrem Anliegen durchsetzen konnten und der erste Direktor der Klinik, der bei seiner Ernennung 39jährige Nervenarzt Ludwig Meyer, gleichzeitig als erster Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Göttingen berufen wurde, zeugt von der zentralen Stellung der Psychiatrie innerhalb der Medizin. Und das gilt bis heute: Psychische Gesundheit – ebenso wie psychische Krankheit – sind grundlegende Dimensionen menschlichen Seins. Sie gehören genauso zu uns wie somatische Erkrankungen. Der gesunde ebenso wie der kranke Mensch kann nur verstanden werden, wenn seine seelische, körperliche und gesellschaftliche Verfasstheit berücksichtigt werden. Damit erweist sich die Psychiatrie nicht nur als eine Spezialdisziplin innerhalb der Medizin, sondern darüber hinaus als wichtige Grundlage für ärztlich-therapeutisches Handeln überhaupt. Dies wussten bereits die Wegbereiter und Gründerväter der »Provinzial-Irrenanstalt zu Göttingen« und diese bis heutige gültige Erkenntnis und Haltung spiegelt sich auch in Ihrem zahlreichen Erscheinen zu der heutigen Feierstunde. Auch wenn Kollege Koller, Psychiatriereferent im niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung und ehemals langjähriger Direktor des Asklepios Fachklinikums Göttingen, später zur Geschichte detailliert und mit intimer Kenntnis referieren wird, möchte ich einige wichtige Entwicklungen hervorheben, die unsere Göttinger ›godfathers‹ angestoßen haben und die bis heute prägend sind. Neben Meyers Engagement für die Lehre, die in einem eigenen Hörsaal in der Klinik und nicht an der Universität stattfand, führte seine Orientierung an dem aus England stammenden »No-restraintPrinzip« zu einer erheblichen Humanisierung und einem weitgehenden Verzicht auf Zwangsmaßnahmen. Sein langjähriger Oberarzt August Cramer, der ihm sowohl auf den Direktoriatsposten als auch auf den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität folgte, förderte sehr stark psychosoziale Therapieansätze wie etwa Familienpflege. Unter Cramer wurde 1901 die Poliklinik für psychische und Nervenkrankheiten in der Geiststraße eröffnet und 1903 das »Provinzialsanatorium für Nervenkranke Rasemühle« gebaut und in Betrieb genommen. Das Haus – das heutige Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn – behandelte »Nervöse aller Stände« und war damit die erste Volksnervenheilstätte. Um 1909 initiierte Cramer die Einrichtung eines Provinzial-Verwahrhauses für verbrecherische Geisteskranke und legte damit die Grundlage für die Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Göttinger Standort. Auch als Wegbereiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie machte er sich einen Namen. Ohne diese vielfältigen Bemühungen wäre die heutige Situation der Psychiatrie und verwandter Fächer im Süden Niedersachsens kaum denkbar : Ein hochdifferenziertes und breites Netzwerk psychiatrischer und psychosozialer Angebote im

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stationären, teilstationären und ambulanten Bereich ermöglicht eine hervorragende Versorgung psychisch Kranker. Aber auch die dunklen, z. T. beschämenden Kapitel der Psychiatriegeschichte, die auch an Göttingen keineswegs spurlos vorbeigegangen sind, müssen erwähnt werden. Dazu werden wir im Verlauf des Symposiums ausführlich hören. Aber – und das scheint mir wesentlich – auch intensive Auseinandersetzungen mit diesen düsteren Seiten fanden hier vor Ort statt. Beispielhaft sei hier auf Ulrich Venzlaff hingewiesen, der sich als Direktor des damaligen Niedersächsischen Landeskrankenhauses von 1969 bis 1986 sehr mit den psychosozialen Folgeschäden der Opfer des Nationalsozialismus befasste und der zu Recht als Nestor der deutschen Psychotraumatologie gilt. Nicht nur auf fachlicher Ebene fanden diese Auseinandersetzungen mit den problematischen Aspekten der Psychiatrie statt, sondern auch und gerade sehr individuell und persönlich, wie das Schicksal von Julius Klingebiel zeigt, über den wir ebenfalls im Verlauf der Gedenkfeier mehr erfahren werden. Dass die traditionell enge Verbindung von Krankenversorgung und universitärer Lehre und Forschung nicht nur erhalten geblieben ist, sondern im praktischen Alltag und kollegialen Austausch bis in die Gegenwart und hoffentlich Zukunft gelebt wird, zeigt auch die heutige gemeinsame Veranstaltung. In diesem Zusammenhang möchte ich Dir, lieber Jens, und Deinem Organisationsteam herzlich für die stets angenehme, reibungslose und unkomplizierte Zusammenarbeit danken – nicht nur bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung dieser Feier! Danken möchte ich auch der Universität und Ihnen, Frau Präsidentin Beisiegel, dass Sie die Feierstunde in diesem ehrwürdigen Rahmen ermöglichen. Besonderer Dank gilt den Referentinnen und Referenten: Ihre vielfältigen Vorträge liefern mit Rückblicken auf 150 Jahre Psychiatriegeschichte eine anregende Matrix, um die Gegenwart unseres Faches zu reflektieren und zukünftige Perspektiven zu thematisieren. Eine humane Psychiatrie im Geiste der Gründerväter der Göttinger Psychiatrie lebt ganz wesentlich von der Hin- und Zuwendung zueinander, kurzum von der zwischenmenschlichen Begegnung. In diesem Sinne hoffen wir sehr, dass dieses Symposium zu 150 Jahren Psychiatrie in Göttingen Ihnen und uns viele Gelegenheiten bietet für interessante, stimulierende und tragende Begegnungen auf fachlicher und persönlicher Ebene. Im Namen der Asklepios Psychiatrie Niedersachsen wünsche ich Ihnen und uns eine gelungene und denkwürdige Veranstaltung!

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Grußworte von Prof. Dr. med. M. Schön Sehr geehrter Herr Professor Wiltfang, lieber Jens, sehr geehrter, lieber Herr Professor Spitzer, sehr geehrter Herr Staatssekretär Röhmann, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler, sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Frau Beisiegel, sehr geehrte Frau Dr. Hauth, liebe Kolleginnen und Kollegen unserer Universität und sehr geehrte angereiste Tagungsteilnehmer und Gäste, das Gehirn entwickelt sich als ein ›Anhangsgebilde‹ der Haut – das wissen wir noch von unseren Embryologie-Vorlesungen während des Medizinstudiums. Wahrscheinlich bin ich als Dermatologe deshalb prädestiniert, Ihnen heute und hier die Glückwünsche unserer Fakultät auszusprechen. Ungeachtet dieser unbestreitbaren ontogenetischen Zusammenhänge bringt es die Psychiatrie in Göttingen bereits auf eine 150-jährige Geschichte, während die Dermatologie im nächsten Jahr erst 100 Jahre alt wird – offenbar hat hier eine gewisse Emanzipation stattgefunden. 150 Jahre Psychiatrie am Standort Göttingen, das ist ein Wort! Denn in diesem stolzen Jubiläum spiegelt sich eine wechselvolle Geschichte wider, mit Höhen, aber durchaus auch Tiefen – wir werden im Laufe der Tagung noch einiges aus berufenem Munde dazu hören. Es ist aber zweifellos so, dass Ihr Fach – mit all seinen inzwischen erfolgten Ramifikationen und selbstständig gewordenen Spezialisierungen – reiche, feste und ausgedehnte Wurzeln hat, natürlich auch und gerade hier am Standort Göttingen. Dass die heutige Festveranstaltung als ein Höhepunkt im akademischen Jahr unserer Fakultät und Universität begangen wird, aber auch der Inhalt des Programmes belegen, dass Sie sich dieser Wurzeln in hohem Maße bewusst sind und im offenen Diskurs aus ihnen lernen. Und eine wichtige Aufgabe, die Sie – die heutigen Akteure – angenommen haben, besteht darin, aus diesen Wurzeln Flügel wachsen zu lassen! »Wir sind die Guten!« – so hat die Gewerkschaft Ver.di um Verständnis für Streiks im öffentlichen Dienst geworben – und wollte damit auch auf wachsende und komplexer werdende Herausforderungen in einem wichtigen Bereich unserer Gesellschaft hinweisen. Dieses Credo mag in besonderer Weise auch für die Psychiatrie im Fächerkanon der Medizin gelten: Fast jeder dritte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung. Deren Anteil an dadurch bedingten Arbeitsunfähigkeiten kletterte von 2 % Ende der siebziger Jahre auf nahezu 15 %

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heute. Psychische Erkrankungen sind außerdem mit 43 % die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Frühberentungen. Die Gründe für all dies sind sicherlich vielfältig, aber die Größe der Aufgabe ist unmittelbar evident. Allein die direkten Kosten psychischer Erkrankungen betragen in Deutschland etwa 16 Milliarden Euro pro Jahr, und sie könnten sich bis 2030 noch verdoppeln. Dabei ist der noch größere Anteil der indirekten Kosten durch reduzierte Produktivität und Frühverrentung noch gar nicht berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund hat natürlich auch die zunehmende Ökonomisierung der Medizin die psychiatrischen Fächer längst erreicht – sie leben nicht mehr auf der Insel der Glückseligen. Es wird auch hier Ihre Aufgabe und Herausforderung sein, bei begrenzten Ressourcen einem wachsenden Versorgungsbedarf und gestiegenen Ansprüchen an die Qualität der individuellen Versorgung gerecht zu werden. In der Medizin gibt es darüber hinaus kaum einen Bereich, der derart im Fokus des öffentlichen Interesses steht, wie die psychiatrischen Fächer. Aber auch kaum einen Bereich, der derart mit Halbwissen und Vorurteilen belastet ist. Mit wohlmeinenden Ratschlägen beispielsweise für Menschen mit Depressionen oder jungen Mädchen mit Essstörungen sind manche Mitmenschen oft schnell bei der Hand – bei Erkrankungen des Herzens, bei Krebs oder bei Autoimmunerkrankungen ist das doch eher seltener der Fall. Es ist fast wie beim Fußball und dem Bildungssystem: Viele meinen, mitreden zu können, aber längst nicht jeder ist dazu auch befähigt! Noch heute werden psychische Erkrankungen vielerorts tabuisiert. In Teilen der Bevölkerung lösen sie Verunsicherung und Ängste aus. Entsprechend empfinden sich Betroffene als stigmatisiert und ausgegrenzt. Ein von Tabuisierung und Halbwissen geprägtes Klima im Umgang mit psychischen Erkrankungen steht natürlich der Nutzung präventiver Potenziale, aber auch der Akzeptanz in der Bevölkerung für notwendige Innovationen und auch Investitionen entgegen. Sie haben also auch in diesem Bereich eine wichtige Aufgabe als Botschafter. Für die effektive und zukunftssichere Gestaltung der komplexen Versorgung bedarf es fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse. Daher sind psychische Erkrankungen auch zunehmend Gegenstand vieler Förderschwerpunkte in Forschungsprogrammen, wissenschaftlichen Einzelinitiativen und vielem mehr – und Sie hier am Standort Göttingen immer vorn mit dabei. Insofern gilt innerhalb der Medizin für Sie ganz besonders das eingangs zitierte Credo »Wir sind die Guten« – Sie sind die Guten in vielerlei Hinsicht, die hier am Standort Göttingen das gesamte Spektrum Ihrer Fächer voranbringen: von der grundlegenden, translationalen und klinischen Forschung auf höchstem Niveau bis hin zu einem sich qualitativ und quantitativ immer mehr ausweitenden Versorgungsauftrag in unserer Gesellschaft.

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Zu diesem – Ihrem – stolzen Jubiläum der Institutionalisierung Ihres Faches am Standort Göttingen darf ich Sie im Namen unserer Fakultät und auch stellvertretend für den Vorstand der UMG auf das herzlichste beglückwünschen! Ich wünsche Ihnen eine schöne und erkenntnisreiche Tagung – möge sie Ihre Motivation für die kommenden Jahre beflügeln – ad multos annos.

Grußworte von Staatssekretär Röhmann zunächst möchte ich Ihnen die herzlichsten Glückwünsche von Frau Ministerin Cornelia Rundt ausrichten. Sie kann leider aus terminlichen Gründen nicht hier sein, was sie sehr bedauert. Ich vertrete sie heute sehr gerne, zumal ein 150jähriges Jubiläum kein alltägliches Ereignis ist. 150 Jahre Psychiatrie in Göttingen bedeuten 150 Jahre Beschäftigung mit Menschen, bei denen Erkrankungen ihrer Psyche oder des Gehirns aufgetreten sind. Vor 150 Jahren gab es nur das Fach Psychiatrie. Heute ist das Gebiet aufgegliedert in die Bereiche Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Suchtbehandlung sowie Forensische Psychiatrie. Und gerade die Forensische Psychiatrie fordert einen steten ethischen Diskurs. Zwischen den Werten des Behandlungsanspruchs der betroffenen Patientinnen und Patienten und dem Bedürfnis nach Sicherung der Bevölkerung vor Folgen eines Fehlverhaltens psychisch Erkrankter ist stets neu abzuwägen. Kaum in ein anderes medizinisches Fach spielen juristische Aspekte heute so stark hinein wie in das Gebiet der Psychiatrie. Psychische Krankheit manifestiert sich nun einmal wesentlich in der Interaktion der Betroffenen mit einem konkreten sozialen Umfeld. Das Gehirn lässt sich von den Umständen, unter denen ein Mensch lebt, aber auch durch körperliche Erkrankungen und zugeführte Substanzen, wie z. B. Suchtmittel, verändern und prägen. Intakte Hirnfunktionen ermöglichen es, dass wir lieben können, dass wir für andere sorgen können, dass wir moralische Grundsätze aufstellen können und dass wir uns an sie halten können, aber auch, dass wir Strategien entwickeln können, uns gegen Angriffe zu Wehr zu setzen. Und wir wissen, dass sich unsere Vorstellungen von dem, was als richtig und was als falsch anzusehen ist, rasch ändern können. Wenn dieses Zusammenspiel von organischer Hirnfunktion, gesunder Erziehung, affektiver Beeinflussung und von der Anpassungsfähigkeit an soziale Normen nicht mehr funktioniert, dann sprechen wir von einer psychischen Erkrankung. Psychiatrie kann Hirnfunktionen beforschen. Sie kann Medikamente entwickeln, die die Hirnfunktionen normalisieren. Sie kann optimale Konditionen für die Entwicklung einer robusten, »resilienten« Psyche identifizieren. Und sie

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kann psychodynamische Erklärungsmuster für die Entwicklung psychischer Störungen erarbeiten. Die Psychiatrie muss sich aber stets auch mit den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten auseinandersetzen, unter denen psychisch Erkrankte gesunden oder wenigstens am sozialen Leben teilhaben können – insbesondere, wenn die psychische Erkrankung chronisch ist. Als Göttingen im Jahr 1866 eine psychiatrische Klinik errichtet und mit Ludwig Meyer ein erster Lehrstuhlinhaber für das Fach Psychiatrie berufen wurde, so stand beides im Blickfeld: die psychiatrische Forschung und Lehre sowie die möglichst optimale Versorgung des psychisch Kranken im damaligen Königreich Hannover. Gab es damals noch einen Mangel an effektiven Therapieverfahren, so sollte doch eine möglichst angenehme, vielleicht klosterähnliche Atmosphäre für Ausgeglichenheit bei den Patientinnen und Patienten sorgen. Später gerieten dann psychodynamische Aspekte in den Fokus der Aufmerksamkeit. Beispielhaft sei hier die Psychoanalyse zu nennen, die untrennbar mit dem Namen Sigmund Freud verbunden ist. Somatische Behandlungsformen wurden weiterentwickelt, von denen viele heute vielleicht martialisch wirken mögen. Weil die Geschichte der Psychiatrie aber immer wieder auch von äußeren Einflüssen abhängig war und heute noch ist, gab es in der Folge auch schlechte Zeiten. Ich erinnere an die Tötung psychisch Erkrankter in der Zeit des Nationalsozialismus. Damals wurden viele psychisch kranke Menschen als wertlos für die Gesellschaft betrachtet. Unglaublicherweise sollten damals in Schulbüchern Dreisatzaufgaben die Kosten für die Versorgung eines psychisch Kranken zu den Aufwendungen für die Versorgung einer gesunden Arbeiterfamilie in Beziehung gesetzt werden. Auch aus Göttingen wurden Patienten in Tötungsanstalten verlegt, selbst wenn der damalige Direktor der Klinik und Ordinarius der Psychiatrie, Gottfried Ewald, schriftlich Einwände gegen die T4-Aktion erhoben hatte. Diese dunkle Zeit gehört ebenso zur Psychiatriegeschichte wie die Episoden, in denen die Psychiatrie sprunghafte Fortschritte zeigte. Zunächst dümpelte nach dem zweiten Weltkrieg die psychiatrische Versorgung in Deutschland und auch in Niedersachsen noch lange Zeit vor sich hin, ließ chronisch kranke Patienten teilweise gepfercht in baulich heruntergekommenen Klinikgebäuden hospitalisieren. 1970 beklagte der damalige Direktor des Landeskrankenhauses Göttingen, Ulrich Venzlaff, in einem Fernsehbericht des NDR, dass die Psychiatrie das »Stiefkind der Gesundheitspolitik« sei. Er diagnostizierte in der Gesellschaft »tief verwurzelte mittelalterliche mystische Vorurteile« und eine »erschreckende Ignoranz gegenüber den Problemen psychisch Kranker«. Ein »Gradmesser der

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Wahrhaftigkeit einer humanistischen Gesinnung eines Volkes« sei »der Standard seiner Fürsorge für psychisch Kranke«. Erst später wurden mit der PsychiatrieEnquete 1975 und später auch mit der Psychiatriepersonalverordnung etwa ab 1990 wesentliche Verbesserungen der Versorgung erzielt. Doch zurück zur heutigen Zeit, wie sieht es heute mit dem der Versorgung psychisch Kranker in Göttingen aus? Ich freue mich, dass wir sagen können: Besonders gut! Gerade hier in Südniedersachsen gibt es ein sehr gutes Angebot an stationären wie auch ambulanten Behandlungsmöglichkeiten. Die Anzahl psychiatrischer Betten liegt hier ebenso deutlich über dem Landesdurchschnitt wie die Anzahl psychotherapeutischer Praxen. Solche Verhältnisse wünschen wir uns für ganz Niedersachsen, hieran arbeiten wir. Dies zeigt auch der Landespsychiatrieplan für Niedersachsen, den Frau Ministerin Rundt am 30. Mai 2016 vorstellen wird. Denn eines der Ziele des Landespsychiatrieplanes ist, allen Bürgerinnen und Bürgern, die dies benötigen, eine angemessene psychiatrische Behandlungsmöglichkeit in erreichbarer Nähe zur Verfügung stellen zu können. Die 150jährige Vergangenheit der Psychiatrie in Göttingen ist aus heutiger Sicht eine Erfolgsgeschichte. Sie zeigt aber bei genauer Betrachtung auch, dass gerade die Psychiatrie immer wieder in Gefahr geraten konnte und kann, von missgünstigen politischen und gesellschaftlichen Strömungen missbraucht oder ins Abseits gedrängt zu werden. Herzlichen Glückwunsch, feiern Sie Ihr Jubiläum ausgiebig und bleiben Sie wachsam. Vielen Dank.

Grußwort von Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler Verehrte Frau Präsidentin, verehrte Frau Prof. Dr. Beisiegel, verehrter Herr Staatssekretär, verehrter Herr Prof. Dr. Wiltfang, verehrter Herr Prof. Dr. Spitzer, verehrter Herr Prof. Dr. Schön, meine sehr geehrten Damen und Herren, das Jubiläum 150-jähriger Universitätspsychiatrie zu feiern, bedeutet, sich mit einem wichtigen Kapitel Göttinger Wissenschafts- und Medizingeschichte zu beschäftigen. Und Ludwig Meyers in Ehren noch einmal zu gedenken, der einerseits als Pionier der Anstaltspsychiatrie, aber auch als bedeutender Reformer des Psychiatriewesens gilt. Meyer war der erste Inhaber eines entsprechenden

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Lehrstuhls in Göttingen zu einer Zeit, in der sonst nur in Berlin und in München begonnen wurde, Psychiatriegeschichte zu schreiben. Auf diese 150 Jahre zurückzublicken und gleichzeitig den Bogen zur Zukunft von Psychiatrie und Psychotherapie zu schlagen – diesem Anliegen dient dieses Jubiläumssymposium, zu dessen Eröffnung ich Ihnen allen, meine sehr geehrten Damen und Herren, die herzlichen Grüße und besten Wünsche im Namen unserer Stadt übermittele. Göttingen ist der Mittelpunkt Südniedersachsens und damit auch das psychiatrische Zentrum unserer Region – und das seit jetzt eineinhalb Jahrhunderten. Wesentlich war es der Georg-August-Universität zu verdanken, dass 1866 in Göttingen eine Provinzial Heil- und Irrenanstalt gebaut wurde. Die Bereitschaft war da und die Suche nach einem geeigneten Standort begann. Nicht zu zentrumsnah, war man der Meinung. Das Grundstück, auf dem heute die Polizeidirektion an der Groner Landstraße steht, sollte in Betracht kommen. Wurde aber letztlich verworfen. Der häufige Nebel in der Leineaue sei zu ungesund, hieß es, und man entschloss sich, die Klinik auf dem Leineberg zu errichten. Wie eine Trutzburg wachte sie im Westen über der Stadt. Und tut das – wenn auch etwas bescheidener – bis heute. Das ist lange her, erinnert aber schon ein wenig an die manchmal schwierige Standortsuche für öffentliche Einrichtungen in heutigen Tagen. Die wechselvolle Geschichte der Psychiatrie in unserer Stadt wurde bereits und wird noch aus kompetentem Mund im Rahmen dieser Veranstaltung gewürdigt werden. Mir ist wichtig, wie die Stadt, wie der Landkreis, wie Südniedersachsen mit psychisch kranken Menschen umgeht. Und welche Hilfen wir ihren Angehörigen zuteilwerden lassen. Das Angebot in Stadt und Region ist groß und umfasst nicht nur Kliniken und nicht nur hochqualifizierte Praxen. Es gibt vielfältige, differenzierte Angebote: Ich denke an die Göttinger Werkstätten, an das Christophorushaus, an das Institut für angewandte Sozialfragen, an die vielen qualifizierten Beratungsstellen und an Heimangebote. In Göttingen gibt es einen leistungsfähigen Sozialpsychiatrischen Verbund, der auch nach der Privatisierung großer psychiatrischer Kliniken effektiv arbeitet. Und wir verfügen in unserem Gesundheitsamt über einen wirklich hochkarätig besetzten Sozialpsychiatrischen Dienst. So reichhaltige sozialpsychiatrische Möglichkeiten ziehen sicherlich auch viele psychisch Erkrankte in die Stadt. Man kann gut leben als psychisch Kranker in Göttingen. Man kann auch gut behandelt werden. Wir wollen, dass diese guten Standards auch in der Region um die Stadt gelten. Mit der Vergrößerung unseres Landkreises durch die Fusion mit Osterode ergeben sich dabei neue Herausforderungen, aber auch die Chancen auf komplementäre Leistungen, die für Göttingen und seine Menschen nutzbringend sein können.

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Mein Eindruck ist: Als Stadt, die Wissen schafft, ist Göttingen viel offener gegenüber speziellem Verhalten von Betroffenen, als das vielleicht in anderen Gemeinden der Fall sein mag. So ist wohl auch das besondere Interesse an der Kunst psychisch Kranker zu erklären. Das künstlerische Vermächtnis Julius Klingebiels ist dafür ein gutes, beispielhaftes Stichwort. Die Klingebiel-Zelle wollen wir nach Möglichkeit in Göttingen behalten. Sie ist ein ganz besonders wertvolles Symbol Göttinger, ich wiederhole: Göttinger Psychiatriegeschichte. Staatssekretär Röhmann darf unseren Wunsch gern noch einmal mit zurück nach Hannover nehmen. Was in und um Göttingen für die Versorgung, Betreuung und Behandlung psychisch kranker Menschen geboten wird – dazu werden wir oft beglückwünscht. Gerade an einem Tag wie heute dürfen wir darauf stolz sein, uns aber auch gleichzeitig vornehmen, dieses Angebot weiterhin gemeinsam zu fördern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche dem Symposium »150 Jahre Universitätspsychiatrie Göttingen« einen guten und erfolgreichen Verlauf. Ich heiße alle Gäste herzlich in Göttingen willkommen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserer Stadt.

Autorinnen und Autoren

Falkai, Prof. Dr. Peter, München. Ordinarius der Klinik für Psiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians Universität München Häfner, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz, Mannheim. Ehem. Ordinarius des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, Universität Heidelberg Hasan, PD Dr. med. Alkomiet, München. Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LudwigMaximilians Universität München Hauth, Dr. med. Iris, Berlin. Alexianer Krankenhaus Berlin-Weissensee. Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2014–2016 Koller, Dr. med. Manfred, Göttingen. Ministerium für Soziales, Familie und Kultur des Landes Niedersachsen. Ehem. Direktor des Asklepios Fachklinikums Göttingen Lauter, Prof. Dr. med. Hans, München. Ehem. Ordinarius der Klinik für Psychosomatische Medizin der Ludwig-Maximilians Universität München Neuenhausen, Prof. Dr. Siegfried, Hannover. Fakultät für Kunstgeschichte der Universität Hannover

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Autorinnen und Autoren

Rüther, Prof. Dr. med. Eckart, Feldafing. Ehem. Ordinarius der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen Schmitt, Prof. Dr. med. Andrea, München. Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians Universität München Spengler, Prof. Dr. med. Andreas, Hannover. Ehem. Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhaus Wunstorf bei Hannover Spitzer, Prof. Dr. med. Carsten, Göttingen. Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn/Göttingen, Ärztlicher Direktor Wedekind, Prof. Dr. med. Dirk, Göttingen. Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen Wiltfang, Prof. Dr. med. Jens, Göttingen. Ordinarius der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen

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