150 Jahre Theologische Fakultät Berlin: Eine Darstellung ihrer Geschichte von 1810 bis 1960 als Beitrag zu ihrem Jubiläum [Reprint 2018 ed.] 9783110846386, 9783110050301

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150 Jahre Theologische Fakultät Berlin: Eine Darstellung ihrer Geschichte von 1810 bis 1960 als Beitrag zu ihrem Jubiläum [Reprint 2018 ed.]
 9783110846386, 9783110050301

Table of contents :
VORWORT
150 JAHRE THEOLOGISCHE FAKULTÄT BERLIN. Teil I
150 JAHRE THEOLOGISCHE FAKULTÄT BERLIN. Teil II
PERSONENREGISTER

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ELLIGER 150 J A H R E T H E O L O G I S C H E

FAKULTÄT

BERLIN

150 J A H R E THEOLOGISCHE

FAKULTÄT

EINE DARSTELLUNG IHRER V O N 1810 BIS

BERLIN

GESCHICHTE

i960

ALS B E I T R A G Z U I H R E M

JUBILÄUM

VON

WALTER

ELLIGER

1960 WALTER

DE

G R U Y T E R

& CO.

/

B E R L I N

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung ist es auch nicht gestattet, dieses Buch auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © I960 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Berlin W 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germany) Ardiiv-Nr. 3t 03 60 Satz und Drude: Thormann & Goetich, Berlin

VORWORT Der vorliegende Beitrag zur Geschichte der Berliner Theologischen Fakultät war als Teil eines Sammelwerkes gedacht, in dem ähnliche Arbeiten über die Entstehung und Entwicklung der einzelnen Fakultäten vereinigt und diese gesonderten Darstellungen durch einen Überblick über die Gesamtgeschichte der Berliner Universität zusammengefaßt werden sollten. Da das Ganze nicht zur Ausführung gekommen ist, wage ich die Veröffentlichimg des Separatums, obwohl mir nur allzu sehr bewußt ist, daß ihm der Charakter einer selbständigen Monographie im Grunde fehlt und ihm die inneren wie äußeren Mängel solcher Isolierung offenkundig anhaften, die abzustellen aber nur durch eine völlige Veränderung der ursprünglichen räum- und zeitbedingten Anlage und Durchführung möglich gewesen wäre. Zudem war von vornherein nicht mehr als eben ein „Beitrag" zur Geschichte der Berliner Theologischen Fakultät beabsichtigt, dessen Aufgabe sich darauf beschränken sollte, einen Überblick über die personelle Zusammensetzimg des Lehrkörpers der Fakultät in der Folge der Generationen zu geben und in diese Übersicht die hauptsächlichsten Linien der inneren Entwicklung des Kollegiums als eines die geistige Potenz der Berliner Universität wesentlich mit repräsentierenden Gremiums einzuzeichnen, wie es im Ganzen der Wissenschaftsgeschichte jeweils seine Funktion als verantwortlicher Träger der theologisch-wissenschaftlichen Arbeit verstanden und wahrgenommen hat. Wie der Ausschnitt aus einem Gemälde nur die Besonderheit eines Details hervorheben kann und soll und darum dessen Beziehung zum Ganzen notwendig mehr oder minder stark gelöst erscheint, so daß nur der, der die Gesamtkomposition kennt, das Detail aus seiner Einordnimg in das Ganze in seiner Bedeutsamkeit voll zu würdigen vermag, so hat ähnlich auch diese Darstellung infolge ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung gleichsam solchen „Ausschnittcharakter", obschon nach Möglichkeit versucht wurde, der selbstverständlichen Forderung gerecht zu werden, an einigen entwicklungsgeschichtlich beachtenswerten Stellen den Zusammenhang mit der deutschen Theologiegeschichte und darüber hinaus mit der Geistes- und Kulturgeschichte Deutschlands wie dem kirchenpolitischen Geschehen in Preußen, also die Einordnung des V

„Details" in das Ganze in seiner doppelseitigen Wechselwirkung wenigstens anzudeuten. Solcher Einordnung waren freilich andererseits insofern gewisse Grenzen gesetzt, als es hier ja gerade darauf ankommen sollte, das „Detail" herauszuheben, d. h. die besondere Gestalt dieser Berliner Fakultät und ihre Eigenbewegung in bewußter Konzentration auf den „Ausschnitt" zu betrachten. Die Entfaltung des Eigenlebens der Fakultät war naturgemäß in der sich fortlaufend erneuernden Gestaltung des Lehrkörpers am unmittelbarsten zu erfassen, daher das Bestreben, alle ihm je zugehörenden Mitglieder zumindest zu erwähnen, nicht lediglich auf eine äußere Vollständigkeit der Aufzählung aller Namen gerichtet; vielmehr sollte die Vollzähligkeit mit dazu dienen, zugleich die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit dieses Lebens in etwa zu veranschaulichen, bis hin zu den nirgendwo fehlenden Erscheinungen, die nicht hielten, was sie zu versprechen schienen, und die so mitunter in fataler Weise in Erinnerung bringen, daß auch ein Professorenkollegium sich irren und verirren kann. Der gerade in Berlin im Verhältnis zum Gremium der Ordinarien sehr variable Kreis der NichtOrdinarien spiegelt — gewiß nicht vorbehaltlos — zu einem guten Teile die Kräfteverschiebung und den gleitenden Wechsel der Mentalität und Vitalität des Kollegiums wider, mußte daher in mehr oder minder großer Ausführlichkeit in die Darstellung mit einbezogen werden, wenngleich es sich aus dem Sachverhalt von selbst ergab, daß die Inhaber der Lehrstühle als die eigentlichen Repräsentanten der wissenschaftlichen Leistungskraft der Fakultät durch die Höhen und Tiefen ihrer Entwicklung hindurch vorgestellt werden. Auf eine eingehendere und umfassendere Würdigung der theologischen Intention und der wissenschaftlichen Produktivität der einzelnen Gelehrten mußte dabei verzichtet werden, und die zumeist recht knappen Angaben mußten sich auf die Hervorhebung einiger wesentlicher Merkmale beschränken, die vor allem für das geistige Potential des Ganzen je und je bedeutsam waren und seine geistige Ausrichtung bestimmten. Das barg mancherlei Nöte und Schwierigkeiten für eine bei aller Kürze doch noch einigermaßen verständliche Kennzeichnung in sich, manche harte Beschränkung und manchen Verzicht, nicht nur bei denen, die sich in Berlin während einer längeren Lehrtätigkeit zu voller Wirksamkeit entfalten konnten, sondern mehr noch bei denen, die nur kurze Zeit zur Fakultät gehörten und zumeist erst nach ihrem Ausscheiden anderwärts wissenschaftliches Profil gewannen. Denn die Begrenzung auf die „Berliner Wirksamkeit" sollte möglichst streng eingehalten und dennoch nicht schematisch gehandhabt werden, zudem nicht lediglich eine lose sich aufreihende Folge durch äußere biographische Daten mehr oder minder ausgeführter Einzelbilder geboten, sondern das Einzelne immer nur in seinem TeilVI

haben am Ganzen charakterisiert und so ein ungefährer Eindruck von der sich wandelnden Gestalt des Ganzen vermittelt werden. Nur unter diesem Aspekt darf auch der gewagte Versuch gewertet werden, über die noch Lebenden mehr als nur formale Personalangaben zu machen. Die von den meisten in mancherlei Weise geübte spezielle Mitarbeit auf kirchlichem, kulturellem, politischem und sonstigem Gebiete konnte verständlicherweise nur gelegentlich Berücksichtigung finden, wie ich auch nur wenige Randbemerkungen über das institutionelle Gefüge der Fakultät, über die Studierenden der Theologie und anderes mehr einflechten konnte: sunt certi denique fines! Eine Geschichte der Fakultät hätte in der Tat noch eine andere Aufgabe als ich sie mir hier gestellt sah. Der Plan einer Literatur-Übersicht zur Geschichte des Lehrkörpers der Fakultät, die zumal auch die biographischen Würdigungen der Dozenten mit enthalten sollte, war Dank der Ungunst äußerer Verhältnisse in der Kürze der Zeit nicht zu verwirklichen. Sie soll in Ergänzung und Fortführung der von Johannes Asen, in dem von ihm herausgegebenen „Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin I." (1955) gemachten Angaben, später vorgelegt und mit einer historisch-kritischen Betrachtung verbunden werden, auf die hier zunächst noch verzichtet werden mußte. Die Anmerkungen beschränken sich daher auf den Zitatennachweis. Die Sammlung und Auswertung dieser Literatur scheint mir um so mehr geboten, als die Personalakten der Fakultät zum größten Teil durch Kriegseinwirkung verloren gegangen sind, darum das sekundäre Quellenmaterial stärker mit herangezogen werden muß. Ich möchte dem Verlag meinen Dank für die Bereitwilligkeit aussprechen, diesen Beitrag zur Geschichte der Berliner Theologischen Fakultät noch wirklich als eine Jubiläumsgabe erscheinen zu lassen und damit den Dank verbinden an meinen Assistenten Herrn Dr. Alfred Raddatz für seine Unterstützung bei der technischen Vorbereitung und Durchführung der Arbeit und an meinen Sohn cand. theol. Arnfried Elliger für seine Hilfe bei der Anfertigung der Tabelle und des Registers wie beim Lesen der Korrekturen.

VII

A i s man nadi der schweren Katastrophe Preußens im Zuge des Aufbaues und der inneren Festigimg des von Napoleon belassenen Rumpfstaates daran ging, auch die durch den Verlust zahlreicher Hochschulen entstandene Lüdce im Bildimgswesen des Lande so schnell wie nur möglich auszugleichen und man es an verantwortlicher Stelle „als eine Sache der ersten Notwendigkeit" ansah, „in Berlin ein neues allgemeines Lehr-Institut zu errichten",1 geschah es im Zeichen einer grundsätzlichen Besinnung auf das Wesen der Universität und ihrer sinnvollen Gestaltung als einer möglichst sachentsprechenden organisatorischen Form des wissenschaftlichen Lebens in Forschung und Lehre im Rahmen der neuen staatlich-politischen Gegebenheiten. Die schwerwiegenden Bedenken gegen die vcftn Nützlichkeitsstandpunkt der Aufklärung stark vorwärts getriebene Zersplitterung der universitas in eine an der Praxis orientierte, schematisch geordnete und geplante Organisation von Fachschulen wurden mit wacher Bewußtheit ausgesprochen, und die mit jenen Tendenzen akut gewordene Gefahr einer fortschreitenden Auflösung der strukturellen Ganzheit der Wissenschaft erfuhr eben in diesen Jahren von den hervorragendsten Geistern der Nation eine scharfe Kritik, zutiefst begründet und überhöht durch eine neue Konzeption von der Freiheit und Einheit des wissenschaftlichen Geistes, der sich bei allem leidenschaftlichen Drange nach unbehinderter Entfaltung doch nicht selbstherrlich von der inneren wie äußeren Gebundenheit in das staatlich-gesellschaftliche Dasein ganz und gar emanzipieren wollte. Nicht als wäre die Diskussion durch den Berliner Plan erst ausgelöst worden oder bei seiner Verwirklichung bereits durch ein klares Ergebnis abgeschlossen gewesen. Vielmehr war sie als Ausdrude einer sich neu orientierenden Geistigkeit schon und noch in lebendiger Bewegung, als man die Gründimg der Berliner Universität zu realisieren begann, und gerade diese Situation hat den Charakter des neuen Bildungsinstitutes entscheidend mit geprägt. Denn die Männer, die sein Entstehen und frühes Werden maßgeblich beeinflußt haben, waren bei aller bis zur Gegensätzlichkeit gesteigerten Differenziertheit in ihrem 1 K. F. Beyme an F. A. Wolf am 5. 9. 1807; in: Rudolf Köpke, Die Gründung der königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1860) S. 165.

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Denken, Wollen und Wirken Vertreter der idealistischen Geisteshaltung, aus der heraus ihr allgemeines Bildungsideal wie insbesondere ihr Begriff der Wissenschaft auch ihre Gedanken von Wesen und Aufgabe der Universität geformt haben. Die Ideen eines Fichte, Sdielling, Steffens bilden mit das geistige Fundament der für die deutsche Universitätsgeschichte so bedeutsamen Anstalt, deren Gestaltung das Werk Wilhelm von Humboldts als des Leiters der ministeriellen Sektion für Kultus und Unterricht wurde, dessen Name hier wiederum im engsten Zusammenhang mit dem des Theologen Schleiermacher genannt werden muß.2 Schleiermachers tätige Anteilnahme hat weit über den Rahmen der Theologischen Fakultät hinaus auf die gesamte Struktur der neuen Hochschule in hohem Maße mit eingewirkt. Schon bei den ersten Planungen nach dem königlichen Erlaß vom 4. 9.1807 als Mitglied für den Lehrkörper ausersehen, war er zwar von Beyme nicht wie manch anderer um ein Votum angegangen worden; doch hat er alsbald seine „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende" niedergeschrieben und sie 1808 der Öffentlichkeit übergeben.3 Dieses Gutachten, das der Verfasser selbst nidit als „eine wissenschaftliche erschöpfende Behandlung des Gegenstandes"4 verstanden wissen wollte, ist neben dem Fichtes wohl die bedeutendste Äußerung zu dem Berliner Vorhaben gewesen und faktisch dadurch besonders wirkungskräftig geworden, daß es den Gedanken Humboldts relativ nahe kam und Sdhleiermadier sich als Mitglied der von Humboldt im Juni 1810 gebildeten kleinen Kommission zur Einrichtung der Universität unmittelbar für die Verwirklichung seiner Ideen einsetzen konnte. Das bedeutete nicht zuletzt gegenüber mannigfachen von der Tradition sich weitgehend lösenden Reformvorschlägen die maßvoll abgewogene und dennoch das Alte nicht einfach konservierende Weiterentwicklung des deutschen Universitätswesens, die die gegenseitigen Rechte und Pflichten im problematisch gewordenen Verhältnis von Staat und Wissenschaft in Einklang zu bringen und dabei zugleich der Universität die ihrer eigentlichen Funktion gemäße Stellung in einem allgemeinen Bildungssystem zu sichern suchte, das seine Dienste den unmittelbaren Interessen des Staates nicht versagte, aber darüber hinaus sich sonderlich der Nation wurzelhaft verbunden und verpflichtet weiß, 2 Vgl. dazu Eduard Spranger: Fichte, Sdüeiermadier, Steffens über das Wesen der Universität mit einer Einleitung herausgeg. (1910). 3 Abgedruckt bei E. Spranger: Fidite, Schleiermacher .. . S. 105—203; nach diesem Abdruck wird im Folgenden zitiert 4 Spranger: Fidite, Sdüeiermadier, Steffens . . . S. 107, 5 f.

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um letztlich auch das Ziel einer menschheitlichen Kultur in den Blick zu bekommen. Schleiermacher war nüchtern genug zu erkennen, daß es eine reale Existenzmöglichkeit für den „Wissenschaftlichen Verein" nur im Schutz- und Machtbereich des Staates geben kann und von ihm kein uneigennütziges Interesse an der Wissenschaft zu erwarten steht. „Der Staat ist . . . nur von dem unmittelbaren Nutzen der Kenntnisse überzeugt und ergriffen. Ausgebreitete Bekanntschaft mit Tatsachen, Erscheinungen und Erfolgen aller Art sucht er zu begünstigen, und wenn er sich der wissenschaftlichen Anstalten annimmt, sie vorzüglich hierauf zu lenken".5 Alle und jede wissenschaftliche Arbeit ist dagegen genugsam bestimmt durch das „Bewußtsein von der notwendigen Einheit alles Wissens, von den Gesetzen und Bedingungen seines Entstehens, von der Form und dem Gepräge, wodurch eigentlich jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, ein eigentliches Wissen ist. Und eben dieses Bewußtsein suchen sie (d. h. diejenigen, welche sich zum Behuf der Wissenschaft freiwillig vereinen) vornehmlich' zu erwecken und zu verbreiten, durch welches allein auch in allen Kenntnissen und in jeder Erweiterung derselben die Wahrheit und die Sicherheit kann erhalten werden".6 „Der Staat . . . verkennt nur zu leicht den Wert dieses Bestrebens, und je lauter sich die Spekulation — so wollen wir immer nennen, was sich von wissenschaftlichen Beschäftigungen überwiegend nur auf die Einheit und die gemeinschaftliche Form alles Wissens bezieht — je lauter sich dieses gebärdet, desto mehr sucht der Staat sie zu beschränken, und allen seinen Einfluß, den aufmunternden und den einengenden, dazu zu gebrauchen, daß die realen Kenntnisse, die Massen des wirklich Ausgemittelten, auch ohne Hinsicht darauf, ob jenes Gepräge der Wissenschaft ihnen aufgedrückt ist oder nicht, allein gefördert werden, und als die einzig echten Früchte alles auf Erkenntnis gehenden Bestrebens erscheinen. Dieser Richtung nun muß der wissenschaftliche Verein notwendig entgegenstreben, und die edleren Mitglieder desselben werden daher immer darnach trachten, sich möglichst zur Unabhängigkeit vom Staat heraufzuarbeiten, indem sie teils ihre Vereinigung der Gewalt und Anordnung des Staates zu entziehen, teils ihren eigenen Einfluß auf denselben zu erhöhen suchen."7 Hier wird also der Gedanke der Freiheit und Selbständigkeit der Wissenschaft von dem neuen Verständnis ihrer Idee her nachdrücklich hervorgehoben, und es kennzeichnet die tiefe Uberzeugung von ihrer wesensnotwendigen Unabhängigkeit, wenn Sthleiermacher selbst eine Förderung der Wissenschaft lediglich um der 5 8 7

Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 118, 6 ff. Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 118, 15 ff. Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 118, 40—119, 18

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Omnipotenz oder auch nur der Gloriole des Staates willen ablehnt. Denn „der Wissenschaft kann es leicht gefährlich werden, wenn das bloße Geld den Gelehrten zur Lockspeise gemacht wird"; 8 und aus dem gleichen Grunde wendet er sich entschieden gegen „die wissenschaftliche Sperre, wenn nämlich die Regierungen das wissenschaftliche Verkehr mit dem Auslande beschränken oder aufheben, und ihre Bürger hindern, auf jede Art, wie sie es wünschen, an den wissenschaftlichen Bemühungen benachbarter Staaten teilzunehmen".9 Man würde solche Äußerungen völlig mißverstehen, wollte man aus ihnen irgendwelche „staatsfeindliche" Haltung ablesen. Ging es ihm doch wie kaum einem anderen gerade auch bei diesen Forderungen darum, dem preußischen Staate in seiner äußerst bedrängten Lage wieder aufzuhelfen, durch geistige Kraft zu ersetzen, was ihm an physischer verlorengegangen war. Aber eben das schien ihm nur möglich, wenn die ungehemmte Entfaltung des wissenschaftlichen Geistes in absoluter Freiheit gewährleistet war, dessen schöpferische Potenz den staatlichen und gesellschaftlichen Organismus um so reicher befruchten würde, je weniger er in einer sein wahres Wesen vergewaltigenden Weise genötigt wäre, sich primär auf die Lösung vom Staate diktierter praktischer Aufgaben zu konzentrieren. Das bedeutet wiederum keineswegs die freie, aller praktischen Zwecksetzung entnommene Hingabe an eine reine „Spekulation", unbekümmert um die konkreten Bedürfnisse des Staates. In Schleiermachers Bemühen um echte Kontinuität des Universitätswesens ist beispielsweise der Gedanke der Berufsvorbildung sonderlich der Staatsbeamten als einer bedeutsamen Aufgabe der neuen Bildungsanstalt sehr bewußt mit einbezogen und seine Auslassungen über die funktionelle Zuordnung „von Schulen, Universitäten und Akademien", mehr noch seine „nähere Betrachtung der Universität im allgemeinen"10 bekunden das mit hinreichender Klarheit. Allerdings wird ihm der praktische Zweck niemals zu einem so vordergründigen Anliegen, daß er ihm bestimmenden Einfluß auf die innere Struktur des Wissenschaftsbetriebes einzuräumen geneigt wäre. Vielmehr bleibt das unaufgebbare Fundament und das wesensbestimmende Element der Universität in ihrer eigenwilligen Stellung zwischen Schule und Akademie das Prinzip der Freiheit und Einheit der Wissenschaft: „Die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 116, 7 ff. Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 116, 12 ff. 10 Abschnitt 2 und 3 der „Gelegentlichen Gedanken". 8

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so daß es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles Einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzusehen, und in einen großen Zusammenhang einzutragen in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntnis, daß sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewußt zu werden und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herauszuarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität."11 Eben in der die Freiheit selbstverständlich inkludierenden Einheit des wissenschaftlichen Geistes liegt die eigentliche Sinnhaftigkeit und die Notwendigkeit der Universität begründet, die nicht einfach in ein Institut zur Vermitdung staatlicherseits gewünschten Wissensstoffes verwandelt oder gar in ein staatlich dirigiertes System von Privatschulen aufgelöst werden darf, wenn sie überhaupt den Charakter einer wissenschaftlichen Bildungsstätte behalten soll: „Wenn aber hie und da die Regierungen anfangen, den politischen Teil dieser Anstalten für die Hauptsache anzusehen, hinter welcher das eigentlich Wissenschaftliche in jedem streitigen Falle zurückstehen müsse: so ist das schon ein sehr verderblicher Mißverstand; und wenn sie gar wünschen, der Form der Universität ganz überhoben zu sein, und an die allgemeinen gelehrten gleich die Spezialschulen für die verschiedenen Fächer des Staatsdienstes anknüpfen zu können, so ist dies ein trauriges Zeichen davon, daß man den Wert der höchsten Bildung für den Staat verkennt, und daß man den bloßen Mechanismus dem Leben vorzieht. Ja, wo ein Staat die Universitäten, den Mittelpunkt, die Pflanzschule aller Erkenntnis zerstörte, und alle dann nur noch gleichsam wissenschaftliche Bestrebungen zu vereinzeln und aus ihrem lebendigen Zusammenhang herauszureißen suchte: da darf man nicht zweifeln: die Absicht oder wenigstens die unbewußte Wirkung eines solchen Verfahrens ist Unterdrückung der höchsten freien Bildung und alles wissenschaftlichen Geistes, und die unfehlbare Folge das Uberhandnehmen eines handwerksmäßigen Wesens und einer kläglichen Beschränktheit in allen Fächern."12 Es stand in einem immittelbaren Zusammenhange mit solchen Überlegungen, daß Schleiermacher sich der verbreiteten Kritik der traditionellen Gliederung der Universität in Fakultäten nicht verschließen konnte: „Offenbar nämlich ist die eigentliche Universität, wie sie der wissenschaftliche Verein bilden würde, lediglich in der philosophischen Fakultät enthalten, und die drei anderen dagegen sind die Spezial11 12

Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 126, 17ff. Spranger: Fichte, Schleiermacher, Steffens . . . S. 138, 26 ff.

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schulen, welche der Staat entweder gestiftet, oder wenigstens, weil sie sidi unmittelbar auf seine wesentlichen Bedürfnisse beziehen, früher und vorzüglicher in seinen Schutz genommen hat." 13 Jedoch hat er nun nicht wie etwa Fichte der Herrschaft des reinen Prinzips das Wort geredet, sondern das historische wie praktische Recht der Fakultäten respektiert; nur weist er mit Nachdruck alle Isolierungstendenzen zurück; die Existenzberechtigung der Fakultäten gilt gleichsam nur unter der Voraussetzung ihres bleibenden Kontaktes mit der philosophischen „Zentrale" und ihrer im lebendigen Austausch sich vollziehenden Verbindung miteinander: „warum sollte auch ein Lehrer gehindert werden, einmal das Gebiet einer anderen Fakultät zu betreten? Grenzen doch alle aneinander und berühren sich in mehreren Punkten, so daß es an Veranlassungen nicht fehlt, aus einer in die andern hinüberzuschweifen." 14 Der Freizügigkeit des wissenschaftlichen Geistes darf auch in dieser Beziehung keine einengende Schranke gezogen werden. Erst recht fordert es dann „der wahre Geist der Universität . . . , auch innerhalb jeder Fakultät die größte Freiheit herrschen zu lassen". 15 Von daher beansprucht er nicht nur das Recht der weitgehenden Selbstverwaltung in allem, „was zum innern häuslichen Leben der Anstalt selbst gehört",16 eben um „den Charakter des wissenschaftlichen Vereins in diesen ihm zunächst angehörigen Anstalten hervortreten zu lassen"; 17 „der Staat kann sich dabei keine Leitung anmaßen, sondern nur Mitwissenschaft fordern und Aufsicht führen, damit dieses Gebiet nicht überschritten werde".18 Wichtiger noch ist ihm, und das setzt eben die freizügige Selbständigkeit in der Ordnung des äußeren Geschäftsganges wesentlich mit voraus, daß im eigentlichen Bereich der wissenschaftlichen Tätigkeit dem freien Wettbewerb und ehrlichen Ringen der Geister Raum gegeben werde, das weder durch die Intriguen Einzelner oder die Parteisucht von Gruppen noch durch die Bevormundung des Staates unterbunden werden darf. Diesen Grundsätzen entspricht denn auch sein Gutachten über die Einrichtung der Theologischen Fakultät vom 25.5. 1810,19 das ebenso gewissen Gefahren einer unzweckmäßigen Organisation des institutionellen Apparates zu begegnen sucht wie es positive Richtlinien für eine wirklich gedeihliche Arbeit der Universitätstheologie 18 14 15 16 17 18 19

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Spranger: Fichte, Sdileiermadier, Steffens . . . S. 147, Spranger: Fidite, Sdileiermadier, Steffens . . . S. 152, Spranger: Fidite, Sdileiermadier, Steffens . . . S. 153, Spranger: Fichte, Sdileiermadier, Steffens . . . S. 164, Spranger: Fichte, Sdileiermadier, Steffens . . . S. 164, Spranger: Fichte, Sdileiermadier, Steffens . . . S. 164, Vgl. Köpke: Die Gründung der . . . S. 211—214.

24 ff. 37 ff. 16 ff. 18 ff. 12 ff. 24 ff.

enthält, bei der Lehrende und Lernende vom Geiste echter Wissenschaftlichkeit erfaßt sind. Dahin gehört etwa der Satz: „ . . . je mehr entgegengesetzte Ansichten und Behandlungsarten in der Theologie herrschen, je größer auch die Anzahl der jungen Leute ist, bei denen das Studium gar leicht etwas handwerksmäßiges annimmt, um desto notwendiger ist es, sie durch verschiedene Arten des Vortrages dieser Disziplinen mannigfach zu reizen, und auch unter den Lehrenden selbst durch Concurrenz einen ermunternden Wetteifer zu unterhalten."20 In diesem Zusammenhange muß weiter auch seine Erklärung zu der aus der damaligen geistesund kirchengeschichtlichen Situation erwachsende spezifisch theologische Frage gesehen werden, „zu welcher von den beiden protestantischen Confessionen sich denn die Fakultät bekennen soll, und ob nicht wenn junge Leute von beiden die Universität frequentiren sollen, auch Lehrer von beiden da sein müßten?"21 Er ist der Meinung, „die Frage (würde) schwerlich jetzt noch im Ernst aufgeworfen werden, sondern nur um durch eine ungegründete Opposition Hindernisse in den Weg zu legen. Katholiken könnten freilich über Gewissenszwang klagen, wenn sie gezwungen würden, ihre theologischen Studien ganz unter protestantischen Lehrern zu vollenden. Bei Protestanten unter sich wäre es lächerlich. Schriftauslegung und Kirchengeschichte dürfen auf diesen geringfügigen Unterschied keine Rücksicht nehmen, und was die Dogmatik betrift, so weichen ja einzelne Lehrer derselben Kirchenparthei viel weiter von einander ab, als die Partheien selbst in ihrem Symbol sich unterscheiden . . . Für unsere Universitäten stand auch schon in den letzten Jahren fest, daß auf den Unterschied der Confession in den theolog. Facultäten nicht mehr sollte gesehen werden . . .". 22 Darin spiegelt sich gewiß in charakteristischer Weise auch das Ergebnis der die konfessionellen Unterschiede nivellierenden und bagatellisierenden Aufklärungstheologie; aber mehr noch der Durchbruch zu einer neuen Konzeption der theologischen Disziplin im Rahmen der universitas litterarum, welche die akute Auflösung der theologischen Arbeit durch das vorwiegende Interesse am historischen Detail und der praktisch-moralischen Lebensgestaltung nicht durch die normative Bindung an die komplexe Ordnung eines konfessionellen Lehrsystems überwinden, sondern in der unumschränkten Freiheit des wissenschaftlichen Geistes in beweglicher Auseinandersetzung mit den geistig-religiösen Mächten der Vergangenheit und Gegenwart zur organischen Ganzheit des einheitlichen Wesens der christlichen Religion hinführen wollte. Zur Lösung der konkreten Aufgaben hielt er „die 20 21 22

Köpke: Die Gründung der . . . S. 211. Köpke: Die Gründung der . . . S. 212. Köpke: Die Gründung der . . . S. 212.

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bekannte Eintheilung der Theologie in die exegetische historische dogmatische und praktische"23 zunächst fest: „Wer sich diesem Studium widmet, muß Gelegenheit haben, während seines akademischen Aufenthalts einen gewissen Bedarf von allen diesen Disciplinen sich durch den mündlichen Unterricht anzueignen, und den Weg zum weiteren Studiren kennen zu lernen". 24 Jedoch die Absicht soll nicht die routinemäßige Vermittlung eines Mindestmaßes von selbstverständlich notwendigem Wissensstoff sein; von vornherein war es ihm um möglichste Vertiefung und Ausweitung des Studiums zu tun; denn „von diesem Anfang aus muß man nun trachten, dahin zu gelangen, daß der Unterricht je länger je weniger nur auf den unentbehrlichen Bedarf der Hauptdisciplinen sich beschränken dürfe, daß er sich vielmehr immer reicher und vollständiger verzweigen, und auf genauere gelehrte Behandlung einzelner Theile sich einlassen könne, endlich daß auch dasjenige vorhanden sei, was nur den interessiren kann, der irgend einen einzelnen Theil bis in sein kleinstes Detail und seine entferntesten Quellen verfolgen will." 25 Darum legt er auch gesteigerten Wert auf „ein Seminarium für gelehrte Theologie . . . , (mit welchem) man die theologische Fakultät nicht zeitig genug beschenken kann", 26 und zwar ist ihm „das wesentliche daran . . . eine nähere Verbindung zwischen den bessern unter den Studirenden und einem oder mehreren Lehrern, um erstere in das genauere Studium der theologischen Wissenschaften durch specielle Anordnung und Leitung ihrer Arbeiten einzuführen".27 Gerade dieses Institut darf dann natürlich nicht durch die Privilegierung einzelner um seinen Wert als einer spezifisch wissenschaftlichen Ausbildungsstätte gebracht werden, in der Lehrer wie Schüler sich qualifizieren können, wie es überhaupt Schleiermachers vornehmstes Anliegen mit war, ein wohlgeordnetes Gefüge des wissenschaftlichen Unterrichtsbetriebes zu schaffen, „ohne die Lehrfreiheit der Einzelnen auch nur scheinbar zu beschränken".28 Schleiermacher war zu sehr von dem Willen zur Gestaltung der Berliner Universität als zentraler Bildungsstätte des neuen wissenschaftlichen Geistes durchdrungen, als daß er sich nicht mit der ihm eigenen Lebendigkeit um die Verwirklichung gerade auch der Grundsätze bemüht hätte, die er in besonderer Verantwortlichkeit für die Theologische Fakultät aufgestellt hatte. Diese Prinzipien galt es vorab bei der Beru23 24 25 26 27 28

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Köpke: Köpke: Köpke: Köpke: Köpke: Köpke:

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Gründung Gründung Gründung Gründung Gründung Gründung

der der der der der der

... ... ... ... ... ...

S. 211. S. 211. S. 212. S. 213. S. 213. S. 213.

fung der ersten Lehrkräfte zu bewähren, auf deren Auswahl er kraft seiner einflußreichen Stellung maßgeblich einwirken konnte. Freilich mußte er sich vorerst bescheiden, eine möglichst vielseitige Vertretung der wissenschaftlichen Arbeit der Theologie bis in spezielle „Randgebiete" hinein als das erstrebenswerte Ziel herauszustellen. Selbst die im Interesse eines vollgültigen wissenschaftlichen Unterrichtes erforderliche Besetzimg der Hauptdisziplinen durch Doppelprofessuren ließ sich nur dadurch vorläufig realisieren, daß die Inhaber der Lehrstühle noch je zwei Fächer übernehmen mußten, nämlich nach dem damaligen Schema der Facheinteilung: Dogmatik und Kirchengeschichte, Kirchengeschichte und Exegese sowie Exegese und Dogmatik, während für die praktische Theologie, als am ehesten noch entbehrlich, zunächst gar kein selbständiger Lehrstuhl eingerichtet werden sollte. Um so mehr kam es darauf an, die richtigen Männer zu finden, zumal die Zahl der wirklich „Kompetenten" keine allzu große Auswahl zu bieten schien. Die Liste derer, bei denen man anfragte, läßt erkennen, daß in der Tat wissenschaftliche Qualifikation und Lehrbefähigung die bestimmenden Gesichtspunkte bei der Berufung sein sollten, nicht aber die theologische Richtung, obschon die Erwägung einer Berufung des gemäßigten Rationalisten Wilhelm Münscher doch wohl als äußerste Konzession an den theologischen Rationalismus zu werten ist. Und als die ältere Generation sich versagte, hatte man den Mut, auf jüngere aufstrebende Kräfte zurückzugreifen, so daß die neue Fakultät in ihrer geistig-theologischen Struktur einen wesentlich anderen Charakter erhielt als es ursprünglich wohl gedacht war; d. h. daß neben dem einen Schleiermacher statt eines Schmidt oder Schleusner schließlich Marheineke, statt Planck nun de Wette und statt Ammon oder Münscher dann Neander standen.29 Daß in diesem Kollegium der planmäßig vorgesehene eigentliche „Dogmatiker" noch fehlte, hat vielleicht mit dazu beigetragen, daß Schleiermacher wie Marheineke durch die äußere Nötigung zu dogmatischen Vorlesungen stärker als sie es selbst wohl anfänglich wollten, auf dieses Gebiet hingeführt wurden. Nur einer von allen traditionellen Bindungen so völlig freien Fakultät junger Gelehrter — die im geistigen Umbruch ihrer Zeit auch die Notwendigkeit einer neuen Orientierung der Theologie empfanden — war es möglich, ungehemmt von den Gegenwirkungen irgendwelcher Repräsentanten der Mentalität des vergangenen Jahrhunderts in den eigenen Reihen, sidi so mit gesammelter Kraft einer fundamentalen Erneuerung der Theologie und der religiösen Verlebendigung der Kirche hinzu29 Vgl. Max Lenz: Geschichte der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin I. (1910) S. 221 ff.

2 Elliger

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geben, wie es nun in Berlin geschah. Auch anderwärts öffnete sich die theologische Jugend mit großer Bereitwilligkeit den reichen vielgestaltigen Anregungen der Romantik und des Idealismus — de Wette, Marheineke und Neander z. B. kamen alle drei von Heidelberg aus nach der preußischen Hauptstadt —; doch sammelten sich eben in der Berliner Fakultät im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens die wesentlichsten neuen theologischen Strebungen durch markante Vertreter in einzigartiger Reinheit und Konzentration. Sie war gerade darum alles andere eher als eine innerlich geschlossene Einheit; als solche trat sie im Grunde nur in dem gemeinsamen Willen zur prinzipiellen Überwindung des Geistes der Aufklärung in die Erscheinung. Der dort erkennbare grundsätzliche Mangel tieferen Eingehens auf die Eigenlebendigkeit und inkommensurable Eigenständigkeit der Religion, die Erschöpfung der Theologie in dem Aufweis einer allgemeinen Vernunftgemäßheit des Christentums als Inbegriff eines Systems natürlicher Wahrheiten, der sachentfremdete Indifferentismus einer in kaltem Rationalismus und relativierendem Historismus wurzelnden negationsseligen Kritik an der Kirche, die Pervertierung der Frömmigkeit in sentimentale Gemütswallungen und verständige Moral, überhaupt alles das, was im überheblichen Vemunftstolz die Alleinherrschaft der ratio, ihre zureichende Erkenntniskraft und normative Geltung proklamierte, band sie in scharfem Widerstand zusammen. Richtiger noch: in Reaktion auf die subjektivistische Ablehnimg oder hilflose Ignorierung überempirischer Zusammenhänge und objektiver Gegebenheiten jenseits der Grenzen rationaler Erkenntnis, in Reaktion auf die diktatorische Vergewaltigung der geistig-seelischen Potenz des ganzen Menschen, auf die Verständnislosigkeit für die Tiefe und den vielgestaltigen Reichtum des persönlichen und geschichtlichen Lebens verband sie das drängende Streben, die Religion und innerhalb ihrer insbesondere das Christentum als einen Bereich sui generis aufzuweisen, der auf seine spezifische Weise erschlossen werden will und nur so legitim erschlossen werden kann, und dazu eine ihrer aus rein menschlichen Bezügen unableitbaren Selbständigkeit sich bewußte christliche Theologie zu gestalten, die zu sachgemäßen Aussagen über Gestalt und Gehalt des christlichen Glaubens findet, ohne in einfache Repristination alter Theologumena zu verfallen. Die positive Uberwindimg des geistigen Habitus der Aufklärung war also das gemeinsame Ziel, daß der Mensch seines Gehalten- und Gebundenseins in einer göttlichen Ordnung wieder unmittelbar innewerde, daß er die Gottbezogenheit der Welt und des Menschen als die Natur und Geschichte bestimmende Wirklichkeit mit der ganzen Innenseite seines Wesens erfasse und aus solchem Erfassen auch den rechten Zugang zum Leben der Kirche in Vergangenheit und Gegenwart finde. 10

Gewiß reicht die Übereinstimmung zwischen den vier Männern weiter als wir in diesen allgemeinen Formulierungen wenigstens riditungsmäßig anzudeuten suchten; aber keine noch so betonte Hervorhebimg des Gemeinsamen kann darüber hinwegtäuschen, daß jeder seinen durchaus eigenen Weg, sogar in bewußter Absetzung von den anderen, gegangen ist. Selbst die überragende Gestalt eines Schleiermacher, der in jeder Hinsicht seine exceptionelle Stellung im Kollegium behauptete, hat auf die Dauer mehr zu wachsender Selbständigkeit der anderen ihm gegenüber als zu einer Abhängigkeit von ihm geführt, ohne daß die überlegene Geistesmächtigkeit und anregende Gedankenfülle des Älteren einfach spurlos an den Jüngeren vorübergegangen wäre. Weniger die mehr oder minder nachhaltige Wirkung der Begegnung mit den differenten Formen der Aufklärungstheologie als die offene Empfänglichkeit für das so gänzlich Eigenwertig-Andersartige oder auch das suchende Eingehen auf besondere Prägungen der so vielgestaltigen romantischen und idealistischen Geistesströmungen haben das religiöse Verständnis wie das theologische Denken derart mit bestimmt, daß die Berliner Fakultät hervorragende Vertreter der bedeutsamsten theologischen Neubildungen in sich vereinigte und in ihrer Zusammensetzung wie keine andere sonst die grundsätzliche Neuorientierung der evangelischen Theologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts dokumentierte. Ihr geistig-theologischer Exponent war und blieb freilich Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1810), dessen entscheidende Bedeutung für einen zukunftsträchtigen Neuansatz der theologischen Arbeit schon Neander klar erkannte und rückhaltlos anerkannte, wenn er den Tod des großen Lehrers seinen Studenten mit dem wohlbedachten Satze bekannt gab: „es sey der Mann dahingeschieden, von dem man künftig eine neue Epoche in der Theologie datieren werde."30 Diese Worte haben sich in einem tieferen Sinne noch erfüllt als Neander ahnen mochte; denn Schleiermacher hat wie kein anderer neben ihm und nach ihm in seinem Jahrhundert die Geschichte der Kirche, der Theologie, der Frömmigkeit in Deutschland bestimmt. Inmitten einer Welt, die die religiöse Bindung emstlich zu verlieren drohte, und sich statt dessen in philosophischer Spekulation, in Moral und Ästhetik einen ihr Bedürfen befriedigenden Ersatz zu schaffen im Begriffe stand, hat er zumal den „Gebildeten unter ihren Verächtern", aber nicht nur ihnen, Sinn und Wesen der Religion neu zu erschließen versucht und sie als die unaufgebbare Mitte menschlichen Daseins bewußt gemacht, die als letzte Wirklichkeit das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft trägt. Im eigenen Durchleben der 30 Friedrich Lücke: Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermadier; in: Theolog. Studien und Kritiken (1834) S. 750.

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Spannungen des Uberganges in eine neue Epoche der deutschen Kultur und ihr mit willentlicher Aufgeschlossenheit zugewandt, empfand er zu sehr das Ungenügen einstmalig gültiger Denk- und Anschauungsformen, als daß er sie aufs neue für seine Zeit hätte beschwören können, war er zu sehr „moderner Mensch" und mit seiner empfänglichen Seele den aufbrechenden Kräften eines vorwärts drängenden Geistes hingegeben, als daß er nicht das strebende Bemühen seiner Zeit um eine sinnhaft gestaltende Ordnung des Einzelnen im Ganzen klärend, vertiefend, wegweisend zu dem ihm selber immer deutlicher hervortretenden Ziele hätte führen müssen. Und das heißt, daß er aus einer tieferen Besinnung auf das Wesen der Religion zum Erfassen des Christentums als der höchsten, reinsten Form der Religion hinleiten wollte, die weder das Vorrecht weniger Esoteriker noch das armselige Privileg verkümmerten Geistes ist, die weder in Vernunft noch Moral je nach Wahl und Maßgabe des herrschenden Geschmackes aufgeht, sondern in ihrer ureigensten Wesensmächtigkeit jeden und den ganzen Menschen angeht. Eben um die Substanz dieser christlichen Religion ist es ihm je länger desto mehr zu tun, und indem er diese Substanz mit der eindringenden Intensität historischen Verstehens und dem ganz und gar sachbezogenen Erkenntniswillen systematischen Denkens zu entfalten unternimmt, sucht er sowohl der Christenheit den ihre Christlichkeit und damit ihre Einheit konstituierenden Glauben in seiner Zeit neu zu vergegenwärtigen, als auch der Allgemeinheit die wissenschaftliche Qualifikation und die Selbständigkeit der Theologie gerade in ihrer vielfältigen Verbundenheit mit den formalen wie inhaltlichen Bildungselementen des geistigen und wissenschaftlichen Lebens zu erweisen. Er nutzt das Eingehen auf die in der historischen Theologie gestellten Fragen nicht als eine Fluchtmöglichkeit, um sich der Nötigung einer unmißverständlichen persönlichen Entscheidung und eigenen Bekennens sich selbst und der Öffentlichkeit gegenüber zu entziehen; er entflieht ihr genau so wenig mit einem kühnen Aufschwung spekulativen Denkens in die Sphäre abstrakter Konstruktionen, die sich in unverbindlichen Aussagen über Gott und Welt gefallen und wegen ihrer Unverbindlichkeit aller frommen oder unfrommen Selbstberuhigung so leicht genügen. Zumindest will er doch mit entschiedenem Ernst mehr als ein christlich orientierter Religionsphilosoph, will er christlicher Dogmatiker sein, der seine theologische Hauptaufgabe darin erkennt, „den Objektgehalt der christlichen Glaubensüberzeugung nach Maßgabe der ihr selbst wesensmäßigen Objektbeziehung darzulegen".31 Die exegetische Arbeit am Neuen Testament und 31 G. Wobbermin in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart V. (19312) Sp. 176.

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seine intensive Predigttätigkeit, das heißt die bewußte Ausrichtung an der biblisdien Norm und das Eingehen auf die Geschichte der Kirche wie der zwingende Drang, vor der Gemeinde aus Glauben vom Glauben konkret zu reden, haben wesentlich mit dazu beigetragen, ebenso das Verständnis vom aktuellen und existentiellen Charakter des Glaubens zu vertiefen wie den Sachgehalt der fides quae creditur klarer zu erfassen und den in der geschichtlichen Offenbarung Gottes gegebenen Inhalt des Glaubens herauszustellen. Freilich läßt sich nicht übersehen, daß Schleiermachers prinzipieller Ausgang vom frommen Selbstbewußtsein und die bleibende Bindung an die bewußtseinstheologische Methode es kaum zu einer echten Konfrontation des Menschen mit Gott kommen ließen, Gottes Gegenüber immer wieder aufzuheben drohten, und es war damit die stets akute Gefahr heraufbeschworen, daß auf diese Weise Gott als der in seinem Offenbarungshandeln sidi von sich aus dem Menschen Zuwendende, in seinem Worte von sich aus zum Menschen Redende schließlich doch um seinen „Ansprach" gebracht werden könnte. Es handelt sich nicht eigentlich um die Gefahr der Psychologisierung des christlichens Glaubens; jedenfalls hat Schleiermacher selbst ihr emstlich zu begegnen gesucht und sein Rückgriff auf Bibel und Bekenntnis, auf die Geschichte der Kirche hat nicht den Sinn einer sübjektivistischen Assimilation zur komparativen Erbauung der frommen Seele. Man muß sich stets seine apologetisch-polemische Frontstellung gegen die wahrlich in hohem Schwange gehende intellektualistische und moralistische Verkehrung des christlichen Glaubens vergegenwärtigen, um die ungeteilte Konzentration auf die persönliche Glaubenserfahrung richtig zu würdigen; man muß zugleich die Tendenz helfenden Eingehens auf den modernen Menschen, der er selber doch auch war, mit seiner anthropozentrischen Geisteshaltung im Auge behalten, um die bewußte wie unbewußte Bindung an einen gleichsam vorgegebenen modus procedendi wohl zu berücksichtigen. Es würde der Intention und faktischen Leistung Schleiermachers nicht gerecht, wollte man durch diesen Sachverhalt nun erst recht den Vorwurf bestätigt finden, er habe durch eine anthropozentrische Ausrichtung die Theologie dem säkularen Zeitgeist ausgeliefert. So zutreffend die Feststellung ist, daß er die in dem doppelseitigen Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Mensch notwendig gegebene Spannung nicht wirklich durchgehalten und sie dadurch weitgehend neutralisiert habe, daß er das Verhältnis wesentlich als ein Sich-in-Beziehung-Setzen vom Tun des Menschen her einsichtig zu machen suchte, damit aber allenthalben Einbruchsmöglichkeiten für alle Variationen einer anthropozentrischen Verkürzung des christlichen Glaubens schuf, so unverkennbar ist doch andererseits, daß er diese Spannung weder übersah noch irgendwie ignorieren oder gar auflösen wollte, daß er viel13

mehr Gott im Gegenüber als die das Beziehungsverhältnis von sich aus erst begründende und in jedem Augenblick entscheidend bestimmende Größe, daß er im Grunde die actio dei als das die „schlechthinnige Abhängigkeit" konkret erweisende, in Christus voll offenbar gewordene Heilshandeln Gottes darzustellen anstrebte. Daß sein Bemühen um eine denkerische Bewältigung der theologischen Sachfragen im Ganzen wie in den einzelnen zentralen Punkten seiner „Glaubenslehre" ohne prägnante Herausstellung des Gegenüber dann doch bei der reactio des Menschen einsetzte und diese reactio sich ihm unter der Hand in eine recht eigenmächtige actio verwandelte, hatte zur Folge, daß er den entscheidenden Ansatz bei der Situation des Menschen vor Gott in Gericht und Gnade in seinem völligen Ausgeliefertsein an Gott in Gnade und Gericht nicht recht erfaßte und von da aus seine Darstellung Gottes und Christi, von Sünde und Gnade, Erlösung, Rechtfertigung, Glauben usf. notwendig in eine falsche Perspektive geriet. Die Anlehnung an den Gedanken einer engeren Korrelation von natürlicher Religion und christlichem Glauben gefährdete den Offenbarungscharakter des Christentums und wirkte zumindest irritierend auf das Verständnis des Verhältnisses von Geschichte und Glauben ein. Aus den scharfen Konturen des spezifisch Christlichen wurden weithin fließende Übergänge zu einem allgemein Religiösen und weiterhin zur idealistischen Geistigkeit überhaupt, so daß der spannungsvolle Widerstreit zur Welt und ihrer sich unabhängig dünkenden Selbstherrlichkeit kaum noch als kritische Distanzierung in die Erscheinung trat und sich dem Verdacht aussetzte, nur Ausdruck einer weltanschaulichen Rivalität zu sein. Gleichwohl hat Schleiermacher im ständigen Wachsen an seiner Aufgabe eine Darstellung der christlichen Glaubenserkenntnis gegeben, die im Suchen nach dem genuinen Wesen der Religion aus der Überzeugtheit seiner christlichen Glaubenserfahrung erwachsen war und zugleich in der lebendigen Auseinandersetzung mit dem geistigen Ringen seiner Zeit eine eigenwertige gedankliche Konzeption von großer systematischer Geschlossenheit und starker Intensität bedeutete. Er begründete inmitten einer mit sich selbst zerfallenden und sich überfremdenden Einflüssen willenlos ausliefernden Theologie in Forschung und Lehre wieder eine christliche Theologie, die sich ihrer selbständigen Funktion als Wissenschaft gegenüber anderen Wissenschaftszweigen bewußt war und ihr Daseinsrecht in der eigenständigen Bewältigung eigenständiger Aufgaben gerade auch in der mannigfaltigen wechselseitigen Berührung mit anderen Disziplinen im modernen Wissenschaftsbetrieb behauptete. Er isolierte diese Theologie nicht in einer abstrakten Wissenschaftlichkeit, die sich in weltabgeschiedener Selbstgenügsamkeit ihrem Eros hingab; sondern in der Tiefe und Sachlichkeit persönlichen Glaubens wurzelnd 14

sollte sie der Verlebendigung wahrer christlicher Frömmigkeit dienen, die ihre Kräfte in alle Beziehungen des menschlich-gesellschaftlichen Daseins ausstrahlte, sollte sie Wissenschaft und Leben in gegenseitig befruchtender Einheit verbinden. Von daher verstand er das akademischtheologische Lehramt insbesondere auch als „ungebundenes Element" des Kirchenregiments, das mitverantwortlich an der Leitung der Kirche beteiligt ist und das er als „freie Geistesmacht in der evangelischen Kirche" bezeichnete, die „als auf das ganze gerichtete Thätigkeit einzelner eine möglichst unbeschränkte Öffentlichkeit, in welcher sich der einzelne äußern kann, voraussetzt".32 Schleiermacher hat sich nicht damit begnügt, diese Mitverantwortung nur auf der Kanzel und dem Katheder wahrzunehmen; er griff bestimmend auch in die bewegte Auseinandersetzung über die Einführung der Union in Preußen ein, für die er sich wider einen restaurativen Konfessionalismus einsetzte, ohne jedoch damit eine konfessionelle Nivellierung zu befürworten, wie sein energischer Widerstand gegen die vom König dekretierte neue Agende beweist, der ihn als den Führer der Berliner Opposition aufs äußerte gefährdete. In alledem wuchs Schleiermacher freilich nicht über die Grenzen eines großen Reformers und lebendigen Erneuerers, eines fruchtbaren Anregers und tätigen Initiators hinaus. Was seine Größe ausmacht, war zugleich seine Schranke: die individuelle Prägung seines Wesens und das feinfühlige, hilfreich entgegenkommende Eingehen auf das Zeitbewußtsein hemmten ihn, abgesehen von anderen historischen Bedingtheiten, bis zur biblisch-reformatorischen Grundlage des evangelischen Christentums ernsthaft vorzustoßen und sie als einzig mögliches, tragfähiges Fundament „legitimer Christlichkeit" seiner Zeit klar vor Augen zu stellen. So blieb sein großes Programm, den christlichen Glauben von seiner biblischen Begründung her im steten Blick auf seine reiche Entfaltung in der geschichtlichen Entwicklung der Kirche nach seiner Unmittelbarkeit und Selbstgewißheit neu zu erfassen und die Theologie als eine methodisch wie inhaltlich eigenbestimmte Form wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens von jeder unzulässigen Einmischung der Philosophie zu befreien, tatsächlich unerfüllt. Es war auf Grund der historischen Voraussetzungen von vornherein nicht zu erwarten, daß er das am weitesten gesteckte Ziel, die fortschreitende Emanzipation der modernen Kultur von Christentum und Kirche aufzuhalten, auch nur annäherungsweise erreichen könnte. Sein Versuch, einen engeren Kontakt zwischen dem geistig-kulturellen Leben und der erneuerten Christlichkeit herzustellen, 32

F. Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1810) §328. 15

führte die durch die Aufklärung der Kirche innerlich Entfremdeten zumeist über eine christlich verbrämte natürliche Religion nicht wesentlich hinaus; und wo im Umbruch des Geistes Klassik, Romantik und Idealismus zu beherrschenden Mächten geworden waren, ließ man sich oft genug wohl von seinen religionsphilosophischen Gedanken infizieren, folgte ihm aber seltener nur auf seinem Wege zur Besinnung auf die Substanz der christlichen Religion und das Wesen des christlichen Glaubens. Man darf also die Breitenwirkung Schleiermachers in seiner Zeit nicht überschätzen; dennoch gilt, daß zumal die junge Generation auf die Verbindung einer bewußten, neu erfahrenen und ernsthaft durchdachten Christlichkeit mit einer dem neuen Zeitempfinden aufgeschlossenen Weite mit großer Bereitschaft eingegangen ist, daß überhaupt Schleiermachers Werk und Wirken grundlegend zur Selbstbehauptung des Christentums im Zeitalter des Idealismus beigetragen hat. Vor allem hat er jedoch als wissenschaftlicher Theologe der Theologie als Wissenschaft ihre Freiheit und Selbständigkeit prinzipiell wiedergegeben, hat sie aus ihrer verhängnisvollen Abhängigkeit von der jeweiligen Modephilosophie befreit, bzw. aus der Lethargie stagnierender Unproduktivität herausgeführt; hat sie in offener Auseinandersetzung mit den stärksten Geistesmächten der Moderne als eine eigenwüchsige Wissenschaft erwiesen, die eben in ihrer genuinen Besonderheit im Ganzen der universitas der Wissenschaften unentbehrlich ist und deren Funktionen auf den einzelnen Arbeitsgebieten auch nicht von den verwandten Disziplinen anderer Fakultäten etwa wahrgenommen werden können. Er selber hat auf neutestamentlidiem, praktisch-theologischem und zumal systematischem Gebiete die Arbeit der wissenschaftlichen Theologie in ihrer strukturellen Besonderheit auch durch spezielle wie prinzipielle Monographien zu fördern unternommen, vor allem durch seine „Glaubenslehre" seiner Zeit „die Möglichkeit der Theologie als Wissenschaft zu erweisen versucht."33 Es mindert, wenigstens in dieser Hinsicht, Schleiermachers Bedeutung nicht, daß seine Theologie nicht zur zentralen Erkenntnis christlichen Glaubens vorstieß und infolgedessen seinen vollen Gehalt nicht auszuschöpfen vermochte; aber es bleibt theologiegeschichtlich gesehen seine außerordentliche Leistung, die damals kaum noch gesehene, noch weniger emsthaft angefaßte Aufgabe der Theologie unausweichlich herausgestellt zu haben und der große Anreger und Mahner geworden zu sein, der bis in die Gegenwart hinein zur Auseinandersetzung mit ihm zwingt und eben in der Auseinandersetzung mit ihm zur Lösung der Sachfragen selber drängt. Das hat ihn zum Genius seiner Zeit und zum Theologen seines Jahrhunderts werden lassen. 33

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K. Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1947) S. 384.

Innerhalb der Berliner Fakultät fand er allerdings als theologischer Lehrer einen starken Rivalen an Konrad Philipp Marheineke (1810), der zwar durch die „Reden" einen tiefen Eindruck von der unmittelbaren Lebendigkeit der Religion erhalten hatte und wohl auch aus diesem Grunde mit dem Rufe in die Nähe Schleiermadiers gefolgt war, der aber doch als Theologe einen völlig anderen Weg ging und sich durch seinen immer engeren Anschluß an die spekulative Philosophie Hegels zum Antipoden Schleiermachers entwickelte. Bis in seine menschliche, ja äußerliche Haltung hinein neigte er zu einer eigenwilligen Starrheit, die der Harmonie der Fakultät nicht zuträglich war, namentlich Schleiermacher viel Kummer bereitete und ihm bei den Studenten den Spitznamen „der Kardinal" eintrug. Seine wissenschaftliche Arbeit zeigte sich an der Fachexegese Alten und Neuen Testaments weniger interessiert; um so breiteren Raum nahm dafür die Beschäftigimg mit der Kirchengeschichte, zumal der Reformationszeit, ein, und vornehmlich als Kirchenhistoriker wandte er seine Aufmerksamkeit auch der eben damals sich zu größerer Selbständigkeit entwickelnden Disziplin der Konfessionskunde zu. Er hat in der Fortsetzung der historisch-kritischen Ansätze und der systematischen Umbildung der alten „christlichen Symbolik" in maßgeblicher Weise mit dazu beigetragen, daß sie sich aus ihrer engen Bindung an die Dogmatik befreite, ihren konfessionalistisch-polemischen Charakter mehr und mehr abstreifte und durch eine umfassende Betrachtung nicht nur der Lehre, sondern der gesamten Lebensäußerungen der Kirchen sich zur möglichst objektiven Darstellung der geschichdichen Erscheinung einer „Kirche" erhob. Aufgeschlossen für die nach wesentlicher Vertiefung strebende romantisch-idealistische Geistigkeit, wie sie ihm in den Jahren seiner Heidelberger Tätigkeit so eindrucksvoll begegnet war, suchte er zu einem besseren Verständnis des geschichdichen Lebens der Kirche vorzudringen als es die subjektivistische Pragmatik der Aufklärung zu bieten imstande war. Die Auflösung der Geschichte in ein buntes Spiel von Geschehnissen, deren Zufälligkeitscharakter weder durch den jeweiligen Aufweis irgendwelcher einen immanenten Zusammenhang konstituierenden Motive und Zwecke noch durch den allgemeinen Hinweis auf die über allem waltende Vorsehung ernsthaft gemindert wird, will er im Rückgriff auf das Objektive, auf das alles Werden bestimmende Sein, auf die unmittelbare Gottbezogenheit allen Geschehens überwinden. Denn nur so läßt sich begreifen, daß „wahre Geschichte" etwas wesenhaft anderes ist als ein „bloßes Münzkabinett von Ereignissen . . . in welchem die einzelnen Schaumünzen nach einer willkürlichen oder zufälligen Verbindung aus- und nebeneinandergelegt, durch welche nur Neugierige zur oberflächlichen Betrachtung der Aus17

Stellung angezogen werden". 34 Es gelang ihm wohl auch, den Blick für den ganzheitlichen Zusammenhang der Geschichte wieder zu schärfen und auf ihren Sinngehalt zu richten und von daher das Einzelgeschehen in eine ganz andere Perspektive zu rücken als der Pragmatismus; aber er sieht nun allzu leicht über die dramatische Bewegtheit und spannungsvolle Gegensätzlichkeit der in der Geschichte wirksamen Kräfte hinweg und vermag weder in seiner Darstellung der Reformation noch in seiner „Symbolik" der eigentlichen Dynamik der von ihm behandelten geschichtlichen Phänomene gerecht zu werden. Das war vornehmlich mit in der Überlagerung seines Denkens durch die philosophischen Prinzipien erst eines Schelling, dann Hegels begründet, die sich ganz unverhohlen auch auf dem Gebiete seiner dogmatischen Lehre zu erkennen gibt, wo er als konsequenter Vertreter einer spekulativen Theologie einen weitreichenden Einfluß auf die junge Generation ausgeübt hat. Der früh schon gegen ihn erhobene Vorwurf, daß er die Theologie an die Philosophie ausgeliefert habe, trifft ihn gewiß nicht zu Unrecht, darf jedoch für das ernste theologische Anliegen, das ihn bewegte, nicht einfach blind machen. Selbst die mitunter recht boshaft an ihm geübte Kritik — „alles von oben herunter aus metaphysischer Höhe, nirgends der Stoff durchdrungen, ein kolbiger, gestiefelter Formalismus, eine klappernde Begriffsmühle, bei der einem Hören und Sehen vergeht" 35 — zeigt, daß man an ihm nicht ohne Aufmerken vorüberkam, so wie umgekehrt seine eigene Kritik an allem, was sich ihm an theologischen Strömungen in seiner Zeit darbot, darauf hinweist, daß er das ihn recht eigentlich bewegende Anliegen außerhalb der von ihm vertretenen Theologie nirgendwo auch nur erkannt sah. Sein Anliegen aber war es, die Objektivität und die Absolutheit der christlichen Wahrheit, die Wirklichkeit dieser Wahrheit und deren rechte Erkenntnis in ihrer Selbstdarbietung herauszustellen. Alle emotionalen Subjektivismen verfehlen den Erkenntnischarakter der Wahrheit, alles rationale Erkenntnisstreben begreift nicht ihre wesenhafte Wirklichkeit, alles Fühlen und Anschauen, alles rationale Denken und intellektualistische Fürwahrhalten hat keinen Zugang zum Absoluten und Objektiven. Christliche Religion will in der Totalität ihres Erkenntnisgehaltes und ihrer geschichtlichen Lebensfülle als Offenbarung Gottes erfaßt werden, und dieses definitive Ausgehen von Gott als dem Sich-Kundgebenden bestimmt entscheidend sein ganzes Theologisieren, nicht als formal-methodischer Ansatzpunkt nur für die Abfolge dogmatischer Loci, sondern als die einzig mögliche we34

Ph. Marheineke: Umversalkirdienhistorie des Christentums (1806) S. 8. Nach G. Frank, in: Realencyplopädie für protestantische Theologie und Kirche = RE (19033) XII. S. 307, 42 ff. 35

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sensgemäße Ausdrucksform der christlichen Religion überhaupt. Und das bedeutet, daß Offenbarung nicht „Aussage" schlechthin, vielmehr als Offenbarung in der Aufnahme verständlich gewordene Aussage ist, im Nachdenken der Gedanken Gottes gleichsam ein höchst affinierendes Hineingenommensein in das göttliche Denken in sich schließt. Ohne das Gegenüber von Gott und Mensch dabei aufzuheben, vollzieht sich im Offenbarwerden Gottes eine unendliche Annäherung des Menschen und gestaltet sich in solcher Nähe des Menschengeistes zum Gottesgeiste die Pistis zur Gnosis, die als unmittelbare Erkenntnis und als Wissen der ewigen Wahrheit Gottes in ihrer Absolutheit gewiß ist und sie zugleich in der Geschichte der Kirche wie in sich selbst als stets gegenwärtige Wirklichkeit in ihrer konkreten Wesensmächtigkeit lebendig begreift. Marheineke konzipiert so auf der Grundlage des Systems der hegelschen Philosophie und dessen Begrifflichkeit eine rein spekulative Theologie, die ihn bis in das Bemühen um den Erweis moderner Wissenschaftlichkeit der christlichen Theologie über fast anderthalb Jahrtausende hinweg zum Geistesverwandten der großen Alexandriner werden läßt, von denen ihn freilich u. a. vornehmlich auch das ernsthafte Eingehen auf das Problem der Geschichte unterscheidet, obschon es ihm trotz seinen historischen Arbeiten nicht gelungen ist, Geschichte in ihrer Tatsächlichkeit wirklich gültig sein zu lassen. Im übrigen wollte er genau wie jene als Theologe in Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis ein durchaus kirchlich orthodoxer Lehrer sein, gerade gegenüber aller modischen Erweichung und Verdünnung des einem aufgeklärten Geiste nicht mehr wohl anstehenden „dogmatischen" Christentums, um auf der anderen Seite nicht minder die Freiheit der Theologie zu selbständiger denkerischer Bewältigung der ihr gestellten Aufgaben gegen alle Versuche frömmelnder Einengung der Vernunft und engstirniger Behinderung ihres Wahrheitsstrebens mit Nachdruck zu vertreten. Wieder einen anderen bedeutsamen Versuch zur Neuorientierung der Theologie unternahm Wilhelm. Martin Leberecht de Wette (1810), dem in der Berliner Fakultät vornehmlich die Vertretung der biblischen Exegese zufiel, der sehr bald aber auch auf systematischem Gebiete mit einer originalen Konzeption neben Schleiermacher und Marheineke hervorgetreten ist. Als Schüler in Weimar durch Herder beeindruckt, als Student in Jena durch die historisch-kritische Schule der Aufklärung hindurchgegangen und zugleich mit der idealistischen Philosophie in enge Berührung gekommen, strebte er aus dem Widerstreit der auf ihn eindringenden Anregungen zur Klarheit über das eigentümliche Wesen der Religion zu kommen und fand schließlich in Anlehnung an die Religionsphilosophie von Fries einen ihm gangbar erscheinenden Weg, entgegen den vielfältigen Relativierungstendenzen der Zeit die Selbständigkeit 19

der christlichen Religion zu wahren und die Theologie vor aller illegitimen Unterwanderung durch irgendwelche Philosophie zu sichern. Dabei hat ein sehr bewußtes kritisch-rationales Element seine geistige Haltung durch alle Perioden seines Schaffens hindurch in einem Maße geprägt, daß er in der historischen Bibelforschung die radikalen Ergebnisse der neologischen Moderne womöglich noch zu überbieten vermochte; doch überbot, ja überwand er den rationalistischen Kritizismus der Aufklärung mehr noch durch sein psychologisch-ästhetisches Einfühlungsvermögen in den Ausdrucksgehalt der Sprache geschichtlich religiöser Urkunden, das ihn die ursprüngliche Lebendigkeit der Welt des Alten und Neuen Testamentes wieder unmittelbarer erfassen ließ, als es der orthodoxen, pietistischen und rationalistischen Bibelwissenschaft gegeben war. Er suchte mit scharfsichtiger Aufgeschlossenheit in die historische Bedingtheit der biblischen Uberlieferung und des in ihr dargestellten Geschehens einzudringen und wollte dennoch die historisch analysierten Fakta in ihrer metahistorischen Begründung als die in sich zusammenhängende Einheit der besonderen Geschichte Gottes verstehen lehren. „Wo ihr nicht den eigenen Geist bereichert und den Blick zur lebendigen Anschauung zu erheben wisset, so werdet ihr immer im Vorhofe des Heiligtums stehen bleiben und die Weihe nicht empfangen". 36 Das dem Vordergründigen zugewandte Vermögen wissenden Verstandes hat seine ihm gesetzten Grenzen; aber indem es an diese Grenzen stößt, wird es darüber hinausgewiesen auf eine hintergründige Wirklichkeit, die sich als wesentlicher Kern der Dinge jedoch nur dem Glauben zu erkennen gibt. Hier aber muß die kritisch-anthropologische Philosophie von Fries ihr Votum geben, daß von den drei Überzeugungsweisen der menschlichen Vernunft die „Ahnung" den Durchblick eröffnet in das „ewige Sein der Dinge der Erscheinungswelt".37 Nicht daß sie von sich aus die Grenzen überschreiten könnte, die allem menschlichen Erkenntnisstreben gezogen sind; aber sie ist das Vermögen der Wahrnehmung dessen, was uns als ewige Wahrheit und Wirklichkeit in und hinter den Erscheinungen entgegentritt, ist innere Anschauung der Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte. Wenn de Wette gleichsam als das Organ der „Ahnung" das Gefühl vorstellt, so bedeutet das für ihn kein Ausweichen in ein subjektivistisches Schwelgen im Unbestimmten, Beziehungslosen; vielmehr meint er damit eine eigene Weise inhaltlich gebundener Sachbezogenheit von höchster Unmittelbarkeit, eine Erkenntnisform besonderer Art von nicht minder starker Gewißheit des Habhaftseins ihres Objektes als sie in seiner Art in bezug auf seinen 36 37

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Nach G. Frank, in RE. XXI. S. 195, 19 ff. H. Stephan: Geschichte der evangelischen Theologie (1938) S. 80.

Gegenstand dem Wissen eignet. Mit der Zuweisung der spezifisch religiösen, bzw. christlichen Erkenntnis an ein besonderes Vernunftvermögen ordnet er sie der Totalität des Menschen als eines vernunftbegabten Wesens organisch ein, das die universale Ganzheit der Welt in ihrer lebendigen Mannigfaltigkeit, zuhöchst die unmittelbare Gegenwärtigkeit Gottes in ihr in sich aufzunehmen vermag. Und demgemäß findet die Theologie nicht nur ihre spezielle Aufgabe, ihren speziellen Gegenstand und ihre spezielle Methode, sondern auch ihren eigenständigen, ihr zustehenden Platz im System der Wissenschaften. Sie muß und kann als christliche Theologie mit dem ganzen Ernst historisch-kritischer Arbeit den weltimmanenten Zusammenhängen des biblischen und kirchlichen Geschehens nachgehen, überhaupt auf dem Wege der „natürlichen Betrachtungsweise" das Endliche in seiner räum- und zeitbegrenzten Bedingtheit einsichtig machen. Zugleich muß sie jedoch in der „ideal-ästhetischen Betrachtungsweise" über alle gemeine Historie und allen Positivismus einer begrifflich-intellektualistischen Dogmatik hinaus die Wahrheit und Wirklichkeit der ewigen Idee der geistigen Anschauung vorführen: „Die höchste Wahrheit hat da ihren Sitz, wo die Vernunft ihrer selbst unbewußt sich in dem ewigen Leben des Geistes verliert, wo die Begeisterung, die Selbst-Verleugnung, die Andacht waltet und alle Reflexion und Klügelei aufhört." 38 Stärker als dieser Satz vermuten läßt, will er dem Offenbarungscharakter der christlichen Religion gerecht werden, ist es ihm ernst damit, daß es sich um den Einbruch eines Neuen, Besonderen von anderswoher in diese Menschenwelt handelt, das sich als ein die Situation des Menschen und der Welt bestimmendes Ereignis aus dem Sein und Wollen dieser Welt und dieses Menschen weder ableiten noch einsichtig machen läßt, sondern Selbstkundgebung Gottes ist. Und dennoch ist ihm Offenbarung letzten Endes nicht die rein in Gottes willkürlichem Entschluß gründende Kundmachung des prinzipiell Verborgenen, ganz anderen und damit zugleich ein Offenbarmachen unserer gottwidrigen Verkehrtheit und Gottentfremdung. Er respektiert im Effekt die Grenzen seiner kritischen Anthropologie nicht und findet allzu leicht einen Übergang, insofern die Offenbarung Gottes nahezu angelegt erscheint auf Ahnung und Glauben des Menschen, diese durch jene eine überhöhende Bestätigung erfahren. Damit bleibt er im Bannkreis der Fragestellung der natürlichen Religion, obwohl er deren Problematik wohl erkannte und über sie hinauszukommen suchte; die vorne abgewehrte Philosophie schlich sich durch eine Hintertür wieder ein, und die Frage nach der Wahrheit und Absolutheit der christlichen Religion kam durch das bevorzugte Interesse an der psychologisch-ästhe38

Nadi K. Barth: Die protestantische Theologie S. 436.

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tischen Existenzerhellung des humanistischen Menschentums um ihre Ernsthaftigkeit. Trotzdem hat auch sein Versuch theologischer Neubesinnung mehr als ephemere Bedeutung; „De Wette wußte wieder von dem unmittelbaren Erlebnis Gottes in Natur und Geschichte, von geistiger Schöpfung, von dem Ineinander der Einheit und Mannigfaltigkeit auf den verschiedenen Gebieten des Lebens, von Individualität und Totalität. Er besaß kraft liebevoller Hingabe an die Geschichte wirklich historischen Sinn. Er konnte daher Leben aufgraben und aus vergangenem neues Leben anregen helfen, wo die Aufklärungskritik durch empirisch-rationale Betrachtung nur toten Stoff zu türmen vermochte. Er gab den Motiven der Legende, des Mythos, des Symbols fruchtbarere, positivere Anwendung und suchte bei allem Einblick in die subjektiven Begründungen des geschichtlichen Handelns doch einen objektiven teleologischen Zusammenhang aufzuweisen, d. h. das Wehen des von Christus ausgegangenen Geistes, den Gang Gottes durch die Geschichte."39 Der Berliner Universität gehörte er freilich nur ein knappes Jahrzehnt an. In den Zirkeln des Berliner Pietismus erregte sein theologischer Freisinn gründliches Mißfallen, mit dem sich ein argwöhnisches Mißtrauen gegen seinen politischen Freisinn verband, so daß sein Trostbrief an die Mutter des an Kotzebue zum Mörder gewordenen jungen K. L. Sand schließlich zu seiner Entlassung führte. Der akademische Senat, die Theologische Fakultät und die Studenten ließen es sich trotzdem nicht nehmen, ihm demonstrativ ihre Achtung und Verehrung zu bezeugen. Auch der vierte. Ordinarius endlich, der im Jahre 1813 in die Fakultät berufen wurde, Johann August Wilhelm Neander, hat sich in der Geschichte der Theologie einen ausgezeichneten Platz gesichert; denn über die menschlich eindrucksvolle Wirkung seiner christlichen Persönlichkeit hinaus ist er ein namhafter Repräsentant der sogenannten Erweckungstheologie gewesen. „Erwedcung" ist nun freilich nicht das Kennzeichen einer theologischen Schule im spezifischen Sinne und charakterisiert nicht in so prägnanter Weise eine in sich geschlossene eigentümliche Konzeption wissenschaftlicher Methodik und Systematik der theologischen Arbeit wie wir sie bei Schleiermacher, Marheineke und de Wette vorfanden. Sie ist primär eine Frömmigkeitsbewegung und steht mit ihren mannigfachen individuell geprägten Typen genetisch im engsten Zusammenhange mit der umfassenden Reaktionsbewegung gegen den Geist der Aufklärung um die Wende des Jahrhunderts. Sie wendet sich in ihrer Weise mit nachdrücklichem Ernst gegen den vernunftstolzen Optimismus der rationalistischen Welt- und Menschheits39

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H. Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 79 f.

betraditung und will die weithin offenbare Erschütterung der selbstgewissen Zufriedenheit des homo sapiens zu einem tieferen Erfassen menschlichen Daseins im erregenden Erleben von Sünde und Gnade als der bestimmenden Wirklichkeiten des Lebens vor Gott hinführen. Sie will das oberflächlich geruhsame Genügen an einer aufgeklärten Verständigkeit vernünftigen Christentums und die flache Geistlosigkeit eudämonistisch-moralistischer Religiosität von innen her überwinden und in der Erregung des christlichen Herzens das unmittelbare Ergriffensein zum eigentlichen Zentrum der Existenz des frommen Individuums wie der kirchlichen Gemeinschaft werden lassen. Sie hat in der Tat auf weite Kreise „erweckend" eingewirkt, und auch die theologische Arbeit verdankt ihr doch mancherlei Impulse, die in der allgemeinen Richtung eindringenden Bemühens um den bleibenden Gehalt wie die jeweilige Gestalt wahrhaft christlichen Lebens wirksam wurden. In dieser Atmosphäre einer kultivierten Herzensfrömmigkeit wurde Neander nach einer kurzen Periode romantisch-idealistischen Sturmes und Dranges als Christ und Theologe heimisch und unter ihrem Einfluß hat sich sein Verständnis für Wesen und Aufgabe der Kirchengeschichte als einer theologischen Disziplin entwickelt. Denn seit der ersten Vorlesimg bei Schleiermacher in Halle und dem Studium bei Planck in Göttingen zog es ihn zu intensiver Beschäftigung mit der Geschichte der Kirche und eben auf dem Gebiete ihrer Erforschung und Darstellung entfaltete er seine große Begabung, so daß daneben seine systematisch-theologischen Vorlesungen kein erhebliches Interesse beanspruchen können. Er hat nie verleugnen können und wollen, daß er durch die Schule des gelehrten Planck, des Vertreters eines lutherisch geprägten rationalen Supranaturalismus, gegangen ist; von ihm ist er zu einem kritischen Quellenstudium angeleitet worden, von ihm hat er gelernt, nach den Motiven und Zusammenhängen zu fragen, in denen sich die Dynamik und eigentliche Lebendigkeit des Geschehens erst enthüllt. Aber er empfand sehr früh die Unzulänglichkeit der pragmatischen Methode seines Lehrers; er suchte über ein zuschauerhafte Distanziertheit und innerlich unbeteiligte Fremdheit gegenüber einem allenfalls interessant aufgemachten Schauspiel des Vergangenen hinauszufinden, suchte in einfühlendem Nacherleben der die Geschichte formenden Kraft des Glaubens der Väter ihrem geschichtsmächtig gewordenen Zeugnis in seiner Vielfalt wie jeweiligen Besonderheit nahezukommen und es über Raum und Zeit hinweg gegenwärtig werden zu lassen. Seine die pragmatische Historiographie prinzipiell überwindenden Biographien und Monographien sind nach Form und Inhalt der beredte Ausdruck eines intensiven Bemühens um die ihrem Wesen adäquate Kennzeichnung geschichtlicher Individualitäten, sind es insbesondere auch dadurch, daß sie in einem einheitlichen

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Gesamtverständnis der Kirdiengesdiichte als eines von einem alles bestimmenden Prinzip beherrschten Entwiddungsprozesses wurzeln. In Anlehnung an das Gleichnis vom Sauerteig versteht er die Geschichte des Christentums als den großen „Gährungsprozeß", als den „götdichen Entwicklungsgang und Säuberungsprozeß", in dem „das Christenthum in dem Leben des Einzelnen, der Völker, der Menschheit im ganzen (wirkt)", und zwar bezogen „nicht allein auf den Umfang der äußerlichen Verbreitung; sondern auch auf das Wesen der inneren Durchdringung".40 Freilich durchsetzt eine erbauliche Betrachtung die nüchterne Sachlichkeit historischer Feststellung, frommes Anempfinden die methodisch-kritische Quellenforschung; die „lyrische Monotonie"41 christlicher Verklärung verdeckt die harte Problematik der erregenden Dramatik des Geschehens und das Vermögen anschmiegenden Einfühlens schwächt die Schärfe des Blickes für das Andersartige, so daß sich allzu leicht die Mentalität Neanders in den Gestalten und Ereignissen der Kirche widerspiegelt. Nicht zuletzt überforderte er den Historiker in der grundsätzlichen Aufgabenstellung, mutet er sich selber in verhängnisvoller Ignorierung der aller Intuition und Erkenntniskraft des Menschen gesetzten Schranken Unmögliches zu, wenn er „eine Geschichte des Reiches Christi in der Kirchengeschichte"42 darzustellen unternimmt. Und wiederum: so sehr ihm dank der Befangenheit in der Mentalität der Erweckungsbewegung grundsätzlich ein kritisch klar durchdachtes, allen Möglichkeiten denkender Bewältigung offenes Verständnis der Geschichte und der Geschehnisse versagt blieb, so sehr ferner die Enge und Weite zugleich seiner Pektoraltheologie die individuelle Prägimg geschichtlicher Fakten vornehmlich in einer gewissen Isolierung des frommen Lebens nur zu erfassen vermochte und die objektive Feststellung eines widersprüchlichen oder gegensätzlichen Sachverhaltes hinter der einer Entscheidung ausweichenden Tendenz zu vermittelndem Ausgleich zurücktreten ließ, es war dennoch wegweisend und blieb bedeutsam, daß er Geschichte nicht als lockeres Gefüge einer bunten Vielheit von Einzelfakten nur ansah, sondern wieder, von einer neuen Warte aus, als eine teleologisch ausgerichtete, von einer einheitlichen Idee bestimmte Ganzheit verstehen lehrte. Es war und blieb auch eine demonstrative Forderung, daß weder dogmatische Bekenntnisformeln noch philosophische Doktrinen der Forschung und Lehre Fesseln anlegen dürfen. Kurz, es war trotz allen offenbaren Schwächen und Mängeln, ja trotz allen Gefahren ein zukunftsträchtiger Neuansatz, der die Kirchengeschichte als 40 41 42

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A. Neander: Kleine Gelegenheitsschriften (18293) S. 124. A. v. Hamack: August Neander, in: Reden und Aufsätze I (19062) S. 212. Nach Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 104; vgl. S. 48.

historische Disziplin neu fundieren, bereichern und vertiefen konnte, der sie zugleich sich wieder als eine genuin theologische Disziplin zu verstehen anleitete. Hat Neander somit auch kein selbständiges System einer umfassenden Neubegründung der Theologie entwickelt, sich vielmehr im wesentlichen auf eine methodische wie inhaltliche Neuorientierung, Intensivierung und Qualifizierung der kirchenhistorischen Arbeit mit dem Ziele einer lebendigen Vergegenwärtigung des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der christlichen Kirche beschränkt, so hat er doch gerade in dieser Beschränkung auf seine Zeit und über sie hinaus einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt, der über den Bereich einer fachwissenschaftlichen Bildung weit hinausreichte. Das Kollegium dieser vier Männer bedeutete ohne Zweifel einen glanzvollen Auftakt der Geschichte der Berliner Theologischen Fakultät und rückte die preußische Neugründung in kurzer Frist in die vorderste Reihe der Theologischen Fakultäten Deutschlands. Die Aufklärungstheologie war in ihr überhaupt nicht mehr vertreten; statt dessen kamen die vier bedeutendsten theologischen Neubildungen durch maßgebliche Repräsentanten in ihr zu Wort, die im bewußten Eingehen auf die modernen geistigen und religiösen Strömungen die Wende auch der wissenschaftlichen Theologie heraufführen halfen. Keiner von ihnen hat zwar im spezifischen Sinne „Schule" gemacht. Und dennoch haben sie durch ihre Lehrtätigkeit wie ihre literarische Produktion, durch menschlichen Kontakt wie wissenschaftlichen Austausch, nicht zuletzt durch tätige Anteilnahme am kirchlichen und auch am politischen Geschehen in die Nähe und Ferne einen Einfluß ausgeübt, dessen Spuren in Theologie und Kirche nicht so bald ausgelöscht werden sollten. Infolge ihrer langjährigen Wirksamkeit in Berlin — abgesehen von de Wette — haben sie durch ihre Geistesmächtigkeit und wissenschaftliche Leistungskraft der Fakultät fast eine Generation lang das Gepräge gegeben, das durch ein ernsthaftes Ringen um eine eigenständige, glaubensgewisse und durchdachte Theologie, durch eine bewußte in persönlicher Frömmigkeit wurzelnde Kirchlichkeit und durch eine ungezwungene Weltzugewandtheit gekennzeichnet war, und haben sie das kleine Kollegium bei aller spannungsreichen sachlichen wie persönlichen Differenziertheit in jeder Hinsicht zu einem integrierenden Element der neuen Universität gemacht. Allerdings barg solche personelle Konstanz, wie sie auch künftighin in der Berliner Fakultät öfter begegnet, immer die Gefahr mangelnder Elastizität gegenüber neuen wissenschaftlichen Strömungen in sich, die sich um so verhängnisvoller auf die Funktion der Fakultät als einer relativ unabhängigen Institution freien Forschens und Lehrens auswirken konnte, je mehr die ministeriellen Verwaltungsinstanzen selbstherrlich, bzw. fremden Einflüssen nachgebend unter besonderen kultur- und kir3 Elliger

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chenpolitischen Gesichtspunkten über Personalfragen entschieden, ohne zuvor die Meinung der Fakultät zu hören. Die weitere Entwicklung des Fakultätsstatutes führte zwar zu einem gewichtigen kollegialen Mitwirkungsrecht bei der Gestaltung des Lehrkörpers, und die Herausbildung des Prinzips der „Nominalprofessuren", das im Zuge der fortschreitenden Spezialisierung des Wissenschaftsbetriebes auch von den Theologen allmählich übernommen wurde, mochte die bürokratische Willkür allenfalls in engeren Grenzen halten; doch verfügte zunächst der Wille des Ministers und der ihn bestimmenden Kreise ziemlich eigenmächtig über den weiteren Aufbau, wahrlich nicht ohne erhebliches Verschulden der durch fortgesetzten Hader in ihrer Initiative gelähmten Fakultät. So schon bei der ersten neuen Berufung, wenn statt der anfänglich freilich versuchten Wiederbesetzung der vakanten Professur des verjagten de Wette ein Lehrstuhl für praktische Theologie, in Koppelung mit einer Dompredigerstelle, errichtet und als erstem Inhaber Gerhard Friedrich Abraham Strauß (1821) übertragen wurde. Ihm war sein Predigtamt wichtiger als alle wissenschaftliche Theologie, zu der er kein rechtes inneres Verhältnis zu gewinnen vermochte und die von ihm auch keine nennenswerte Förderung in irgendeiner Richtung erfahren hat. Aber er war ein guter Seelsorger und sehr geschätzter Homilet, der, selber früh schon von der Erweckung erfaßt, durch seine nicht immer gedankentiefen, aber immer von persönlicher Frömmigkeit erfüllten und durch glänzende Beredtsamkeit faszinierenden Predigten zu einem nicht unbedeutenden Träger der Erweckungsbewegung in Berlin geworden ist. Die Studenten haben ihn vom Katheder wie von der Kanzel gern gehört, die Kollegen seinen stets auf Vermittlung und Ausgleich bedachten Sinn hoch geachtet; und er ist in der Tat nicht müde geworden, in der zwieträchtigen Fakultät Frieden zu stiften und die Wogen der Erregung zu glätten. Seine Berufung wurde, vielleicht stärker als beabsichtigt, ein beredter Ausdruck für die in Staat und Kirche sich vordrängende Tendenz auf praktisch-erziehliche Ausrichtung des Studienbetriebes, die das ursprüngliche Programm der Gründungsjahre wesentlich verändern sollte. Noch offenkundiger trat das bei der endlichen Besetzung der Professur de Wettes durch Ernst Wilhelm Hengstenberg (1826) in die Erscheinung. Sie zeugte nicht nur in drastischer Weise, wie selbst ein so souverän schaltender Minister wie Altenstein bei seiner Berufungspraxis sich dem zielstrebigen Zusammenspiel eines klug und beharrlich vorgehenden Petenten mit dem einflußreichen Kreise seiner sachlich-persönlich interessierten Gönner schließlich ergeben mußte; sie offenbarte ebenso auch einen Wandel in der Haltung der Fakultät, der durch das Ausscheiden de Wettes und die resignierte Zurückhaltung Schleiermachers 26

einerseits, die Entwicklung Neanders und den Eintritt von Strauß andererseits hervorgerufen war, wenn für deren eigene Stellungnahme nicht so sehr der Gesichtspunkt wissenschaftlicher Qualifikation als die Würdigung des Eifers für eine biblizistische Frömmigkeit und eine in ihrem Dienste stehende kirchlich-restaurative Theologie maßgebliche Bedeutung gewann. Ein gewiß schon zuvor im Ganzen der geistigen Struktur der Zeit enthaltenes und in der Gesamtbewegung erst allmählich sich schärfer besonderndes Element machte sich nimmehr auch in dem kleinen Gremium der theologischen Lehrer stärker geltend. Man hielt an der grundsätzlichen Ablehnung des Rationalismus als einer geradezu selbstverständlichen Voraussetzung fest und wollte gewiß das wertvolle Erbe des deutschen Idealismus nicht ohne weiteres preisgeben, konnte und wollte sich vor allem auch der geistesmächtigen Überlegenheit Schleiermachers nicht leichthin entziehen; aber aus der bewußten Wendung gegen eine Überfremdung der Theologie durch die Philosophie, wie man sie in dem immer engeren Anschluß Marheinekes an Hegel so eindeutig vor Augen hatte, machte man keinen Hehl und begünstigte mit vollem Bedacht die Elemente biblischer Bindving und erbaulicher Gläubigkeit der Erweckung, von der man eine „christliche Vertiefung" der theologischen Wissenschaft erwartete. Man war jedoch in der Fakultät bis hin zu Strauß unangenehm überrascht, als sich das neue Mitglied des Lehrkörpers sehr schnell zu einem der rigorosesten Vertreter einer engen theologischen Repristination entwickelte und als Herausgeber der „Evangelischen Kirchenzeitung" weit über den norddeutschen Raum hinaus eine zentrale Stellung in der geistig-politischen Reaktionsbewegung gewann, in der sich im zweiten Drittel des Jahrhunderts kirchliche Orthodoxie und politischer Konservatismus zu einem unrühmlichen Kampfe gegen jede freiere Regung der modernen Wissenschaft und Geistesbildung, national-liberaler Politik und sozialen Bestrebens zusammenfanden. Hengstenberg hat die optimistische Erwartung enttäuscht, daß er den Mangel einer gründlichen theologischen Erudition in der Entfaltung seiner zweifellosen wissenschaftlichen Begabung ausgleichen würde. Derselbe Mann, der anfänglich eine so erstaunliche Wandlungsfähigkeit zeigte, daß er bei seiner Bonner Doktorpromotion noch bereitwillig die These verteidigte, „die theologische Erklärung des Alten Testaments ist ohne Wert" 4 3 und zwei Jahre später schon bei seiner Promotion zum Licentiaten der Theologie in Berlin den Satz verfocht: „Zum Verständnis des Alten Testaments reicht die Philosophie nicht aus; es ist ein Gemüt erforderlich, dem Christi Herrlichkeit aufgegangen ist" 4 4 usf., 43 44

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Nach Lenz: Gesdi. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. II. 1. S. 328. Nadi Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. II. 1. S. 333.

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der vom „philosophischen Fieber" geheilt durch den Pietismus hindurch zu einer handfesten kirchlichen Orthodoxie geführt wurde, hat seiner inneren Labilität durch eine selbstgewollte Bindung an eine normative Kirchlichkeit entgegengewirkt und seine wissenschaftlichen Fähigkeiten einem bewußten Dokrinarismus unterworfen, der ihn mit fast willentlicher Fremdheit und ketzerrichterlichem Eifer andersartigen Denkweisen gegenübertreten ließ. Die theologische Arbeit ist mit den Möglichkeiten ihrer Entfaltung für ihn gleichsam in die durch den altprotestantischen Lehrbegriff abgesteckten Grenzen gewiesen und sie ist in ihrer Intention auf die inneren wie äußeren Zwecke der Kirche unmittelbar ausgerichtet, wobei sich eben jener Lehrbegriff und diese Kirche ihre verbindliche Gültigkeit gegenseitig bestätigen. Das aber lief praktisch auf den Versuch hinaus, die moderne historisch-kritische Forschung nach ihrer Mentalität, ihrer Methodik und ihren Ergebnissen von der Theologie möglichst fernzuhalten; das bedeutete zugleich, das Bemühen Um geistige Durchdringung, systematische Bewältigung und begriffliche Klärung der immer wieder neu sich stellenden religiös-theologischen Grundfragen vor aller Infektion durch die „Zeitphilosophie" zu schützen und jedes Übersteigen des Kirchenzaunes zu verhüten. So hat er wohl auf seinem Fachgebiet mit dazu beigetragen, die alttestamentliche Bibelwissenschaft wieder ernsthafter als eine theologische Disziplin zu betreiben, ist aber trotz gelegentlicher Anerkennung einzelner Ergebnisse ein scharfer Gegner der text- und literarkritischen wie religionsgeschichtlichen Forschung geblieben. So spürt man wohl ein berechtigtes Anliegen hinter seiner Orientierung aller Theologie an der Kirche; aber „Kirche" wird ihm zu einem Frömmigkeit und Theologie, Wissenschaft und Politik beherrschenden Selbstzweck, wobei die dogmatistisch-konfessionalistische Verengung seines Verständnisses von Kirche ihn gegen jede Abweichving von der gesetzten Norm mit leidenschaftlichem Eifer ankämpfen ließ, mochte sie nun im Rationalismus oder Pietismus verwurzelt sein, von der hegelschen oder schleiermacherschen Richtimg herkommen, in der Erwedcungsbewegung gründen oder in irgendeiner Form auf Vermittlung bedacht sein. Hengstenberg war mit einem gewissen Vorbehalt ein gelehrter Mann, doch weder ein forschender noch schöpferischer, noch im echten Sinne kritischer Geist. Er kannte nicht den andringenden Ernst der rückhaltlosen, keine Konsequenzen scheuenden Frage; er distanzierte sich bewußt von allen liberalen Strömungen im kulturellen Leben seiner Zeit, fühlte zumindest kein Bedürfnis nach einer positiven Auseinandersetzung mit dem, was sie unter welchem Vorzeichen auch immer zu Wesen und Gestalt von Christentum und Kirche zu bedenken gaben, sondern wähnte sich in einer breiten Front zur Abwehr herausgefordert, ohne zu empfinden, wie sehr er selber durch seine nicht selten maßlose 28

Polemik der Herausfordernde war. In alledem gibt er zu erkennen, daß er innerhalb der neu sich herausbildenden Gruppe restaurativer Theologen nicht eigentlich zu den Köpfen zählt, die sich bei aller gewollten Bindung an die nach Form und Inhalt von der Orthodoxie vorgenommene Prägung des reformatorischen Erbes doch eine gewisse Selbständigkeit in der wissenschaftlichen Verarbeitung des historischen und systematischen Details bewahrt hatten, die über eine rein formalistische Repristination hinausführte und theologische Relevanz gewann. Auch Hengstenberg vermag den kirchlich-orthodoxen Lehrbegriff hier und da vorsichtig zu variieren; aber kennzeichnend bleibt für ihn der wie gebannt nach rückwärts gewandte Blick, und seine Bedeutung liegt viel mehr in der Funktion als Rufer im Streite für den absoluten Geltungsanspruch der kirchlich-theologischen Restauration. Dank dieser mit großer Vehemenz wahrgenommenen Funktion trägt er ein gut Teil der Verantwortung mit für die großen nun anhebenden Spannungen zwischen der Kirche und der wissenschaftlichen Theologie, für das kirchliche Ressentiment gegenüber der freien Forschung, nicht zuletzt infolge der Verquickung kirchlicher und politischer Reaktion — auch für die Tendenzen politischer Diskriminierung einer sich der kirchlichen Direktive entziehenden selbständigen Wissenschaft. Der Nachfolger de Wettes war wohl in jeder Hinsicht ein anderer als der erste Inhaber dieses Lehrstuhles. Immerhin hat es Hengstenberg trotz seinen weitreichenden Beziehungen und seiner engen Verbindung mit dem bei Hofe einflußreichen christlichgermanischen Kreis der Gebrüder Gerlach nicht vermocht, die Berliner Fakultät nach seinen Wünschen zu gestalten. Gegen seine Initiative und das ihr entsprechende Votum der Fakultät gelang es im Jahre 1834 sogar dem beharrlichen Eifer Neanders, daß auf den Lehrstuhl Schleiermachers dessen alter Freund und Schüler August Detlef Christian Twesten berufen wurde. Das war unter den gegebenen Umständen mehr als nur ein Akt pietätvoller Reverenz gegenüber dem Gründer der Fakultät; das schloß in dieser geistesgeschichtlich und kulturpolitisch spannungsreichen Situation in gewisser Weise ein mahnendes Erinnern an die umfassende Weite und zugleich lebendige Intensität seines wissenschaftlichen Geistes in sich; das bedeutete nicht zuletzt den wohlbedachten taktischen Versuch, zwischen dem Hegelianismus eines Marheineke und dem orthodoxen Konfessionalismus eines Hengstenberg eine theologisch wie kirchlich qualifizierte Mitte in der Fakultät zu schaffen.45 Unstreitig hatte man in Twesten den neben AlexG. Heinrici, in: RE. XX. S. 175, 43 ff.: „Die Regierung erwartet in ihm einen Theologen, der ,eine wahrhaft evangelische Frömmigkeit wie eine treue und aufrichtige Anhänglichkeit für das Prinzip der evangelischen Kirche mit 45

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ander Schweizer namhaftesten Sdiüler Schleiermachers für Berlin gewonnen. Er besaß zwar nidit die geistige Spannweite des Meisters noch dessen Kraft der Intuition, und er vermochte die komplexe Fülle des Neuen noch weniger zu bändigen als dieser selbst; aber er hat die Erkenntnis der Unmittelbarkeit und Eigenständigkeit des Religiösen und das Verständnis der Theologie als einer selbständigen Wissenschaft als entscheidende Wegweisung aufgegriffen und, ohne sich in bloßer Negation des als heterogen Empfundenen zu gefallen, in seiner eigenen Forschung und Lehre zur Geltung zu bringen gesucht. Freilich stand er schon zu sehr im Übergange zu einer anderen Generation als daß er den Wandel der geistigen Gesamthaltung hätte verleugnen können. So blieb wohl der mächtige Impuls in ihm wirksam, durch den ihn Schleiermacher von der Philosophie zum Offenbarungsglauben und zur Kirchenlehre geführt und zu einem innerlichen, zentralen Erfassen der Substanz christlicher Religion angeleitet hatte. Der seinem eigentlichen Auftrage zugewandte Theologe, ehedem von der Philosophischen Fakultät als Nachfolger Fichtes mit vorgeschlagen, wies nun die philosophische Infiltration der Theologie zurück, das hieß in Berlin konkret zumal das Unternehmen Marheinekes, den Inhalt des christlichen Glaubens in das Schema hegelscher Spekulation und Begrifflichkeit zu transponieren. Und in seiner theologischen Arbeit selber hielt er an der grundlegenden Erkenntnis fest, „daß es nicht gewisse Formeln der Lehre, nicht gewisse Normen des Handelns sind, welche das Wesen des Christentums ausmachen, sondern das vom Heiligen Geist in unserm Gemüt erweckte innere Leben, aus welchem Glaube und Gesinnung sich mit Notwendigkeit entwickeln." 48 Doch beschreitet er bewußt einen anderen Weg, wenn er methodisch wie sachlich von der Bibel und der Kirchenlehre ausgeht, um von da aus zum objektiven Gehalt der christlichen Wahrheit hinzuführen und den Glauben in seiner Gebundenheit an Gottes Wort wie in seiner Freiheit „ungebunden durch Menschenwahn und Menschensatzungen" 41 darzutun. Denn so wenig sich der kritische Geist der neuen Zeit einer Autorität von gestern oder heute blind unterwerfen kann und will, so wenig kann und darf er sich irgendeinem Subjektivismus einfach ausliefern. So bedeutet der grundsätzliche Rückgriff auf die Schrift und den kirchlichen Lehrbegriff für ihn immer zugleich die unerläßliche krieiner gründlichen theologischen Gelehrsamkeit und einem freien, von jeder einseitigen Parteistellung entfremdeten wissenschaftlichen Geiste verbindet'." 4 6 A. D. Chr. Twesten: Vorlesungen über die Dogmatik der EvangelischLutherischen Kirche II. 1. (1837) S. XVII. 47 A. D. Chr. Twesten: Vorlesungen über die Dogmatik . . . Widmung an Neander S. VIII.

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tische Prüfung des geschichtlich Gewordenen und die systematische Durchdringung des in kritischer Prüfung Geklärten, um zur Erkenntnis des Wesentlichen vorzudringen, das von sich aus seine Gültigkeit bezeugt und Geltung beansprucht. So gewiß ihn seine irenische Natur befähigte, bei aller kritischen Distanz auch fremden Meinungen gerecht zu werden und auf sie einzugehen, war es ihm doch nicht nur darum zu tun, Gegensätze auszugleichen und einen Mittelweg zwischen Extremen zu suchen; er strebte nach einer eigenen, das Subjektive und Objektive in ihrer übergreifenden Einheit zusammenfassenden Anschauung des christlichen Glaubens. Aber da es ihm nicht gelang, sich wirklich aus der Abhängigkeit der eingegangenen theologisch-kirchlichen Bindungen zu lösen und in einer selbständigen Konzeption die gestellte Aufgabe zu meistern, kam sein Bemühen letzten Endes über den Versuch einer Vermittlung nicht hinaus und zwar der Vermittlung innerhalb der Theologie selber wie zwischen Theologie und Kirche, Wissenschaft und Glauben usf. Twestens Berufung nach Berlin bedeutete in der Tendenz wie faktisch den Ansatzpunkt einer die nächsten Jahrzehnte bestimmenden Entwicklung, in der solche in großer Variationsbreite sich entfaltende Vermittlungstheologie das Gesicht der Fakultät bestimmen sollte. Und es gehört mit zu den kennzeichnenden Merkmalen ihrer Berliner Vertreter, die mit ihrem Lehramt oft eine bedeutsame Funktion im Kirchenregiment verbanden, daß sie sich theologisch wie kirchenpolitisch für den Gedanken der kirchlichen Union einsetzten, wobei Twesten ein Nivellieren oder gar Aufgeben der Bekenntnisse ebenso ablehnte wie eine konfessionelle Versteifung und für ihn entscheidend war: „Die Union fordert von Niemand, daß er seine confessionelle Überzeugung aufgebe; worauf es bei derselben ankommt, ist allein die Einsicht, daß die Verschiedenheit der konfessionellen Uberzeugungen fortan keine Trennung der Kirchengemeinschaft begründen solle."48 Man konnte die damit eingeschlagene Richtung der — ähnlich übrigens auch an den anderen altpreußischen theologischen Fakultäten geübten — Fakultätspolitik kaum eindeutiger betonen als dadurch, daß man bei der nächsten Vakanz mit Karl Immanuel Nitzsch als Nachfolger Marheinekes im Jahre 1847 wiederum einen in unmittelbarer geistiger Nähe zu Schleiermacher stehenden Theologen der Vermittlung berief. Das war nicht nur eine manifeste Absage an den Geist und Gehalt des philosophisch-theologischen Systems eines Marheineke, die in dem allgemeinen Zusammenhang der Abkehr vom Hegelianismus an der Berliner Universität überhaupt gesehen werden müßte; vielmehr ging es um die Sicherung gegen den Einbruch extremer Tendenzen schlechthin, 48

Verhandlungen der evangelischen Generalsynode zu Berlin (1846) S. 187. 31

wie sie namentlich auch von linkshegelianisdier Seite her drohten. Man legte Wert auf eine wohltemperierte Theologie, die sich gewiß der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht verschloß, jedoch von verstiegenen Theoremen und kritischen Exzessen fernhielt. Nimmt man noch hinzu, daß Nitzsch sich mit größtem Eifer für die theoretische Fundierung und praktische Verwirklichimg der altpreußischen Union einsetzte, so wird verständlich, daß man ihn als einen der im zweiten Viertel des Jahrhunderts wirksamsten und geistig bedeutenden Repräsentanten „rechter Vermittlung" nach Berlin zog. Man begab sich damit freilich der Möglichkeit, die innere Spannweite der grundsätzlichen theologischen Gruppenbildung in etwa wenigstens anzudeuten, die sich, nicht zuletzt auch im Zeichen kirchlicher und weltanschaulicher Gegensätze, um so stärker abzuzeichnen begann, je weniger die Überwindung des Rationalismus noch als eine allen Differenzen vorgeordnete gemeinsame und einende Aufgabe empfunden wurde. Nitzsch stand im Verständnis der theologischen Situation seiner Zeit Twesten zu nahe, war auch nach der Originalität und Tiefe seiner Gedanken, der Schärfe und Konsequenz seines Denkens als Systematiker ungeachtet einer gewissen Profiliertheit zu wenig eigenständig, als daß es zwischen beiden zu einer fruchtbaren oder anregenden Diskussion auch nur über die Möglichkeit und Grenzen der Vermittlungstheologie hätte kommen können. Jedenfalls trägt sein Theologisieren in besonderer Weise die Merkmale des Epigonenhaften, wenn er in dem Bemühen um eine Bewältigung der Problematik von Glauben, Wissen und Handeln versucht, die „Gefühlslehre" Schleiermachers mit dem Erkentnisstreben spekulativer Theologie und Elementen des ethischen Religionsverständnisses der Kantianer zu vereinen, gewiß nicht in einer bloßen Kombination ausgewählter Gedanken, sondern, durch die eigene Entwicklung zur Erkenntnis ihrer jeweiligen Ergänzungsbedürftigkeit und -fähigkeit geführt, in der umformenden und einordnenden Zusammenfassung wesentlicher Prinzipien, aber ohne wirklich ein Neues hinzuzutun oder dem Widereinander der „Richtungen" wirksam zu begegnen. Das im Streit der Meinungen bis zur scharfen Gegensätzlichkeit aufgespaltene Verhältnis von Offenbarung und Philosophie, von Glauben und Geschichte, von Religion und Wissenschaft usf. wird, ohne der tatsächlichen Problematik gerecht zu werden, harmonisiert. Die proklamierte Einheit des zuvor methodisch klar geschiedenen „subjektiven und objektiven Prinzips" in der christlichen Religion behält den Charakter einer fragwürdigen Lösung. Die Frage nach der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit gegenwärtigen Glaubens in seiner Bezogenheit auf Bibel und geschichtliches Bekenntnis (Dogma) büßt viel von ihrem Ernste dadurch ein, daß über Frömmigkeit und Theologie von vornherein gleichsam innerhalb der relativ geschützten 32

Grenzen einer normierten, obsdion nicht konfessionalistisdi verengten Kirchlichkeit verhandelt wird. Man kann es als ein folgerichtiges Ergebnis seiner theologischen Arbeit verstehen, daß die bedeutendste wissenschaftliche Leistung in der Berliner Zeit die Veröffentlichung der „Praktischen Theologie" war, die ihn „nach Schleiermacher als ersten Systematiker der praktischen Theologie im modernen Sinne des Wortes" 49 qualifizierte. Denn hier wird nach einer grundlegenden Besinnung auf die Idee des kirchlichen Lebens und seiner die kulturellen Zusammenhänge berücksichtigenden Geschichte eine Darstellung des kirchlichen Handelns gegeben, welche die Kirche als Objekt wie als Subjekt des Dienstes begreift, sie wirklich vollgültig in die Mitte des in ihr und durch sie sich vollziehenden Handelns rückt, in dem sich die wechselseitig befruchtende und empfangende Lebenseinheit der Glieder mit dem Ganzen aktualisiert. Die Funktion der Kirche nach ihrem überzeitlichen Gehalt wie ihrer zeitbedingten Gestalt aufzuzeigen, ist für ihn die der praktischen Theologie als theologischer Wissenschaft gestellte Aufgabe, und er greift gerade darin auch ein Erbe Schleiermachers auf, daß er die Verantwortung der Kirche für die Welt in verstehendem Eingehen auf deren Suchen und Fragen hervorhebt. So drängt alles bei Nitzsch zur rechten praktikabeln Mitte bis hin zu seinem über Twesten etwa hinausgehenden Gedanken einer Lehrunion in der altpreußischen Kirche, der zumal in dem Versuch einer historischen wie systematischen Begründung mit am sinnenfälligsten wohl den weiten Spielraum zu erkennen gibt, in dem er sich von seinem besonderen vermittlungstheologischen Standpunkt aus legitim bewegen zu können meinte. Daß er darum kein flacher Kompromißler nur war, hat er in den mancherlei kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit zur Genüge bewiesen. Im Blick auf die Ordinariate zeigt die Berliner Theologische Fakultät in ihren ersten vier Dezennien also zwar eine sich deutlich abhebende, aber doch keineswegs sonderlich bewegte Entwicklung. Sie erfuhr freilich mit der Entsetzung de Wettes den gewalttätigen Eingriff der politischen Restauration, die selbst einem Schleiermacher in seinem Amte gefährlich zu werden drohte; sie geriet durch die Person Hengstenbergs sogar in eine von ihr gar nicht gewollte, ja abgelehnte nahe Berührung mit der kirchlichen und politischen Reaktionsbewegung, sie war sehr aktiv, wenn auch nicht einhellig an der Verwirklichung der preußischen Union beteiligt, ohne sich doch, wie im Agendenstreit, dem Willen von oben einfach zu fügen. Das alles brachte, ganz abgesehen von persönlichen Spannungen und persönlichen Differenzen untereinander und harten Konflikten mit dem Ministerium mancherlei Unruhe in die Fakultät. Aber 49

Friedrich Nitzsch: K. I. Nitzsch, in: RE. XIV. S. 134, 14 f.

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die Veränderung ihrer geistig-wissenschaftlichen Struktur vollzog sich — hier und da gewiß gegen den Widerstand einzelner — in einem allmählichen, selbst dem Widerpart in seiner Tragweite nicht immer voll bewußten Ubergange bei der sukzessiven Besetzung der freigewordenen Lehrstühle mit Männern, die den Intentionen des Staates und der Kirche möglichst entsprachen. Die glanzvolle Höhe des Anfanges war dabei nicht zu halten; die geistig-religiöse Lebendigkeit des theologischen Denkens und der Mut zum Wagnis neuer, auch einseitiger Konzeptionen verebbte, wo nicht gar in einer bloßen Repristination, in einem vorsichtigen Abwägen, das mit der ausgesprochenen Tendenz zur Vermittlung immer in der Gefahr stand, durch die mehr oder minder ähnlichen Variationen des gleichen Themas zu ermüden. Hatte hinter Humboldts Plan wesentlich noch der Gedanke gestanden, durdi die Berliner Universität über die Grenzen Preußens hinaus auf das geistige und sittliche Leben ganz Deutschlands maßgeblich einwirken zu können und damit dem politisch geknechteten Staate die Möglichkeit entscheidender Hilfe zur geistig-moralischen Erneuerung des alten deutschen Reiches zu geben, schien man um die Mitte des Jahrhunderts schon zufrieden, der Berliner Hochschule den Rang der vornehmsten preußischen Landesuniversität zu sichern. Und war dem Gründer der Theologischen Fakultät noch daran gelegen, die freie Entfaltung wissenschaftlichen Geistes als den unaufgebbaren Grundsatz zu proklamieren, so war man zwar auch jetzt der Meinung, daß es nicht „zuviel gefordert" sei, „den Parteygeist anderen Interessen wenigstens soweit unterzuordnen, daß zwischen wissenschaftlichen Männern ein wissenschaftlicher Verkehr möglich bleibt" 5 0 , wehrte aber doch dem Aufkommen sich von traditionellen Lehrmeinungen stärker lösenden oder gar extrem werdenden Anschauungen. Auf den Kathedern der vier als Bahnbrecher einer neuen wissenschaftlichen Theologie hervorragenden Erstberufenen standen nunmehr Männer, von denen zwar zwei als religiös und wissenschaftlich eindrucksvolle Wortführer einer die Fragen und Antworten ihrer Vorgänger aufgreifenden, fortführenden und ausgleichenden Diskussion noch immerhin einen anerkannten Namen hatten, es nur an Originalität und Energie nicht mit jenen aufnehmen konnten, Hengstenberg als Wissenschaftler nicht das hielt, was er anfangs verheißungsvoll zu versprechen schien und der 1851 als Nachfolger Neanders berufene Lehnerdt 51 das 7 Jahre später übernommene Amt eines Generalsuperintendanten von Magdeburg erheblich besser versah, als zuvor das Ordinariat für die Kirchengeschichte.

50 51

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A. D. Chr. Twesten: Vorlesungen über die Dogmatik . . . I . S . VI. Vgl. S. 55.

Sehr viel lebhafter war in jeder Hinsicht die Bewegung unter den Nichtordinarien des Kollegiums, die wohl im ganzen und großen das gleiche Gefälle aufweist, jedoch manche aufschlußreiche Nuancierungen bietet. Nur wenige von ihnen haben dauernd (Vatke, Piper) oder für längere Zeit (Erbkam, Reuter, Theremin) an der Berliner Fakultät gewirkt. Die meisten sind nach mehr oder minder kurzer Tätigkeit an andere Universitäten berufen worden oder aus dem akademischen Betrieb wieder ausgeschieden. Obwohl die rasch anwachsende Studentenzahl (Winter 1810/1811: 29; Winter 1825/1826: 441)52 dem „Nachwuchs" günstige Aussichten eröffnete, blieb ein stärkeres Angebot von Theologen im Unterschiede zu den anderen Fakultäten allerdings anfänglich aus, und man ließ es sich sogar angelegen sein, geeignet erscheinende Anwärter durch finanzielle Hilfen zum Eintritt in die „akademische Laufbahn" zu animieren und sie zu fördern. Freilich gab bei solcher „staatlichen Förderung" nicht immer das von der Fakultät über die wissenschaftliche Qualifikation abgegebene Votum den Ausschlag. Lückes Beförderung zum Extraordinarius scheiterte z. B. nicht nur daran, daß Marheineke das Gewicht seiner theologischen Gegner in der Fakultät nicht verstärkt sehen wollte, sondern letztlich daran, daß der Schatten des Mißtrauens, das man im Ministerium gegen seine eifrigsten Gönner Schleiermacher und de Wette hegte, auch auf ihn fiel. Die offizielle Begründung der Ablehnung machte zwar den sachlich richtigen Grundsatz geltend, daß nicht „der Eintritt in eine Fakultät als Privatdozent den Anspruch auf eine außerordentliche Professur gewissermaßen begründe";53 aber sie enthielt zumindest nicht die volle Wahrheit, wie das Verhalten in den Fällen Tholudc und Hengstenberg erkennen läßt, wobei es in dieser Hinsicht keinen grundlegenden Unterschied bedeutete, ob der die Entscheidung fällende Minister Schuckmann oder Altenstein hieß. Es gab zudem über der mitunter recht selbstherrlichen Meinung des Ministers Menschen und Mächte, die ihn gelegentlich auch nicht rein wissenschaftliche Gesichtspunkte mit zu berücksichtigen nötigten, zumal wenn es um die Berliner Universität ging. Doch es blieb in allem das hohe Ziel vornehmlich eines Mannes wie Altenstein, echter Wissenschaft und Bildung an der Universität einen freien Raum zu schaffen, in dem sich auch die jungen Kräfte heranbilden und ungehemmt ihre Leistungskraft entfalten konnten. Es war verständlich, daß die Männer, die im ersten Jahrzehnt als Repetenten, Privatdozenten und Extraordinarien den theologischen Lehrkörper ergänzten, sich von dem neuen Geiste dieser Fakultät maßgeb52 53

Vgl. Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. III. S. 493 ff. Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. I. S. 631.

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lieh bestimmen ließen. Johann Joachim Bellermann (1810), den man „zum Beitritt als Privatdozent . . . in der theologischen Facultät für orientalische Philologie"64 aufgefordert hatte, war allerdings schon zu sehr durch seine Generation geprägt, als daß er den inneren Anschluß ganz hätte finden können und verharrte bei aller eifrigen Wahrnehmung seines Lehrauftrages für „Hebräisch, Archäologie und Exegese des Alten Testaments" immer etwas am Rande des eigentlichen Fakultätslebens. Lücke, Sadc, Olshausen und Bleek dagegen waren aus innerer Leidenschaft Theologen, die sich nicht nur im Uberschwange des Gefühls leicht begeisterten oder instinktiv die fundamentale Wende erkannten, vielmehr bewußt die nun der Theologie gestellte neue Aufgabe erfaßten und in selbständiger Arbeit an ihrer Lösung mitzuhelfen willens waren. Mochten sie vielleicht auch nicht gleich ganz übersehen, wie verschieden von vornherein schon im methodischen wie inhaltlichen Ansatz die Anschauungen ihrer Lehrer über die Prinzipien der Neuorientierung der Theologie waren, so stand im Vordergrunde für sie zunächst doch das allen gemeinsame Anliegen, aus einer ganz anderen geistig-seelischen Dimension heraus im eindringenden Bemühen um ein sachgemäßes Erfassen und eine begriffliche Klärung des Wesentlichen das rationalistische und supranaturalistische Verständnis der Religion und des Christentums zu überwinden. Es wuchs in solchem Sinne über das bloß Menschliche hinaus, wenn etwa Lücke auf Grand seiner persönlichen Verbindung zu beiden ein engeres Verhältnis zwischen Schleiermacher und de Wette herstellte und auch mit Neander einen freundschaftlichen Verkehr unterhielt; hier spricht sich symbolhaft das Bewußtsein einer trotz allen Divergenzen lebhaft empfundenen tieferen Einheit der theologischen Neubildungen aus.®5 Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß sich das Emotionale feist übermächtig hervordrängt, daß daneben die scharfe Sicht kritischen Denkens über Gebühr zurücktritt und damit die eigentlich theologische Problematik weitgehend verdeckt wird, deren tiefere Erkenntnis zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung hätte führen können. Natürlich will auch bedacht sein, daß die vier Ordinarien nicht von vornherein schon ihre erst im Laufe der gemeinsamen Berliner Wirksamkeit 5 4 Köpke: Die Gründung der kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. S. 81. B. war Direktor am Grauen Kloster und hatte nach M. Lenz (Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.Univ. I. S. 269) selber den Wunsch geäußert, „ihn der theologischen Fakultät zuschreiben zu wollen, da er jene Disziplin in Erfurt als Mitglied der theologischen Fakultät 14 Jahre hindurch vertreten habe". 5 5 Man beachte z. B. auch die mancherlei Zueignungen wissenschaftlicher Veröffentlichungen untereinander, die doch wohl etwas mehr darstellen wollen als lediglich eine „modische Gepflogenheit".

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stärker hervortretende theologische Profilierung zu erkennen gaben. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist es aufschlußreich zu sehen, daß die vier genannten Nichtordinarien sich vornehmlich durch Schleiermacher haben anregen lassen und neben ihm der Einfluß Neanders sich besonders geltend machte; und zwar in der Weise, daß ihnen der kräftige Impuls zur Besinnung auf die fundamentale Bedeutung des „frommen Selbstbewußtseins" das eigentlich Entscheidende war, von dem nicht minder eine radikale Neuausrichtung der Theologie als eine Verlebendigung des religiösen Lebens der Kirche auszugehen habe. Der ebenso mächtige Anreiz dagegen zur intensiven Gestaltung christlicher Erkenntnis, sowohl zur begrifflich-methodischen Erfassung wie zur systematischen Durchdringung von Religion und christlichen Glauben, hat sie nicht so innerlich bewegt, daß ihnen die denkerische Bewältigung der theologischen Prinzipienfragen oder das kritische Eingehen auf die sachliche Darstellung des Erkenntnisgehaltes der christlichen Frömmigkeit unter den Aspekten der neuen Theologie ein besonderes Anliegen gewesen wäre. Gewiß darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß keinem von ihnen ein „spezifisch systematisches" Ingenium eigen gewesen ist und ihre wissenschaftlichen Interessen sich dem Erkennen, dem Verstehen und der sachgemäßen Darstellung eines gegebenen Sachverhaltes auf historisch-exegetischem Gebiete zuwandten, wobei es ihnen um die „Verbindung des freien wissenschaftlichen Geistes mit der Kraft des eigentümlich christlichen"56 zu tun war. Aber darüber hinaus — wenn man nicht sagen muß: eben daheraus — ging es ihnen bei ihrer theologischen Arbeit nicht um eine abstrakte Begrifflichkeit, um eine theologisch-philosophische Konzeption, um eine spekulative oder sonstweiche Systematik, sondern um die konkrete Gegenständlichkeit des biblischen und geschichtlichen Christentums, bzw. um die biblische Offenbarung, ihre fort und fort wirkende Macht in der Geschichte der Kirche und ihre erweckende Kraft in der gegenwärtigen Christenheit. So greift Karl Heinrich Sack (1818) Schleiermachers Gedanken einer „Philosophischen Theologie" auf und folgt auch weitgehend dessen Anregungen; aber gleich der wohl noch in Berlin konzipierte Entwurf zu einer „Christlichen Apologetik" verrät, daß er die schleiermachersche Idee einer auf das Formale konzentrierten wissenschaftlichen Darlegung einer theologischen Prinzipienlehre nicht festzuhalten vermag, sondern seine Apologetik vom Biblisch-Dogmatischen her inhaltlich recht konkret werden 5 8 Nadi „einer bei Lücke beliebten, auch von Schleiermacher gelegentlich approbierten kurzen Formel"; im Zusammenhang der Begründung der „Theolog. Studien und Kritiken" erwähnt bei: Sender: G. Chr. Fr. Lücke, in RE. XI. S. 676, 41 f.

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läßt u n d sie als „die theologische Disziplin von dem Grunde der christlichen Religion als einer göttlichen Tatsache" 57 versteht. Noch deutlicher bekunden die Vertreter der biblischen Wissenschaften, Gottfried Christian Friedrich Lücke (1816) und Friedrich Bleek (1821), in ihrer Stellung zu den hermeneutischen Grundfragen wie in ihrer Exegese ein Verlassen, bzw. ein Verändern der schleiermacherschen Linie in der Richtung vermittlungstheologischer Bestrebungen, die sichtlich mit unter dem Einfluß der Erweckungsbewegung stehen. Diese W e n d u n g erfolgt nicht vordergründig unter dem negativen Vorzeichen einer Flucht vor der Problematik systematischer Konstruktionsversuche u n d deren abstrakter Begrifflichkeit; wohl aber in einer gewissen Besorgnis vor einem gedanklichen Überspielen der christlichen Botschaft oder zutreffender: aus dem positiven Verlangen heraus, auch u n d gerade in der wissenschaftlichen Schriftauslegung durch die Konzentration auf das ReligiösInhaltliche die Erbauung des Gläubigen als das vornehmste Ziel des Interpreten sicherzustellen. Man ging trotz einem mehr oder minder starken Unbehagen der kritischen Methode philologisch-historischer Erforschung der Schrift nicht einfach aus dem Wege; man verzichtete nicht auf den Kontakt mit der Umwelt des vielgestaltigen geistigen Lebens der modernen Welt und wollte sich nicht etwa in die Enge des Kreises um den Baron von Kottwitz drängen lassen. Doch suchte man den besonderen, allem Profanen inkommensurablen Charakter der Schriftaussagen in seiner vermeintlichen unmittelbaren Korrespondenz zum gläubigen Empfinden des Frommen zu erheben, sah hier die eigentliche hermeneutische Aufgabe u n d vermied es dennoch, die nun unausweichliche Frage nach der Zuordnung von Offenbarung, Geschichte und Glauben ernsthaft anzugehen. Stärker noch als bei Lücke und Bleek, bewußter und zielstrebiger tritt dieser durch Schleiermacher ausgelöste, aber bald an ihm vorüberführende Versuch einer Neuorientierung der biblischen Disziplinen bei Hermann Olshausen (1820) in die Erscheinung, freilich auch mit der ganzen Unzulänglichkeit des Bemühens, von der Pektoraltheologie aus die theologische Diskussion zu intensivieren und Wesentliches zur Klärung beizutragen. Im ganzen haben die vier Männer, schon infolge ihrer zum Teil nur sehr kurzen Wirksamkeit in Berlin, die theologische Athmosphäre der Fakultät nicht sonderlich bestimmt u n d haben sie erst außerhalb der preußischen Metropole ihre Anschauungen in Wort und Schrift voll entwickelt, hier allerdings eben auch in etwa je nach ihrem Vermögen als willentliche Vermittler der in Berlin empfangenen Anregungen wirksam.

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K. H. Sack: Christliche Apologetik (18412) S. 1.

Sehr viel tiefer und erregender im wörtlichsten Sinne wirkte in der ersten Hälfte des nächsten Jahrzehntes der junge Friedrich August Gottreu Tholuck (1821) auf das innere Leben der Fakultät ein. Als vielversprechendes wissenschaftliches Talent vom Minister unterstützt und nach anfänglichen Schwierigkeiten auch von der Fakultät in seiner akademischen Laufbahn gefördert, übte er bald als Exponent der „Erweckung" einen großen Einfluß auf die Studenten wie seine jüngeren Kollegen Olshausen, Bleek, Hengstenberg usf. aus, fand aber unter den Ordinarien nur zu Neander ein näheres Verhältnis, um desto mehr in den frommen Zirkeln Berlins Anschluß zu suchen. War noch bei seiner Promotionsarbeit ernstlich die Frage gewesen, ob sie den Voraussetzungen zur Habilitation in einer theologischen Fakultät genüge,58 so entwickelte der junge Dozent in seinen Vorlesungen alsbald Anschauungen, die gerade durch die praktische Anwendung des Satzes pectus facit theologum die Hörer faszinierten. Es blieb ihm von einer gewissen sprachlich-philologischen Begabung aus und von seinen orientalistischen Studien her die Erkenntnis der Notwendigkeit ernster grammatisch-historischer Beschäftigung mit dem Texte erhalten; doch wichtiger noch als das war ihm herauszustellen, „was das religiös und sittlich Mustergiltige"56 zur Erbauung der Seelen sei, wobei die eigene geistliche Erfahrung und die der frommen Väter die biblischen Aussagen selbst oft genug nicht zu ihrem Rechte kommen ließen. Kein Zweifel, daß Tholuck die Entfremdung vom Alten Testament mit überwinden half und seiner Zeit auch zum Inhalt des Neuen Testamentes eine größere Nähe vermittelte. Nur hat er sich nicht zu einem prinzipiellen Durchdenken der neu aufgeworfenen Probleme biblischer Hermeneutik anregen lassen, wie überhaupt sein besonderes Charisma — auch in seinen Beiträgen zur systematischen Theologie — nicht die methodisch-begriffliche noch sachlich-inhaltliche Klärung theologischer Prinzipienfragen gewesen ist und er auch sonst nicht den Beruf zu dem Versuche in sich verspürte, von der erweckten Frömmigkeit her das Ganze der Theologie neu zu begründen, es unter neuen Gesichtspunkten allseitig zu durchdenken und programmatisch darzustellen. Der starke Einfluß auf die studentische Jugend und auf andere Kreise beruht trotz seiner großen Gelehrsamkeit in erster Linie nicht auf dem Eindruck, in ihm der überlegenen Kraft wissenschaftlichen Geistes und der zwingenden Gewalt eindringenden Erkenntnisstrebens zu begegnen. Er wirkte viel mehr durch den erweckenden Ruf seiner erweckten Frömmigkeit, die die erregte Unruhe des menschlichen Herzens durch das Pathos religiöser Leidenschaft in der Unmittelbarkeit 58 59

Vgl. Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. II. 1. S. 323 f. M. Kähler: F. A. G. Tholudc, in: RE. XIX. S. 700, 52.

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persönlicher Anrede mächtig in Schwingungen versetzte und ihr doch auch wieder zur Ruhe des getrösteten Gewissens zu helfen vermochte. Seine in Berlin entstandene Schrift „Die Lehre von der Sünde und vom Erlöser, oder die wahre Weihe des Zweiflers" — ein enormer publizistischer Erfolg — charakterisiert nicht nur die Uberschwenglichkeit einer durch alle Höhen und Tiefen der Gefühligkeit mitreißenden Sprache, sondern nidit minder die unbewußt-bewußte Konzentration auf wenige ihm durch seine persönliche religiöse Erfahrung wesentlich gewordene Punkte. Es ist trotz allem mitunter geradezu Dithyrambischen kein formloses Verströmen ins allgemein Erweckliche, so wenig es ein formenstrenges Theologisieren um dogmatische Loci ist; es ist aus dem Uberwältigtsein durch das subjektive Erleben der verlorenen und dennoch geretteten Situation des Menschen vor Gott der Vorstoß in die zentralen Fragen christlicher Existenz. Hier tat sich die Möglichkeit eines Einstieges in die Tiefen fruchtbarer, wirklich weiterführender theologischer Besinnung auf, die einen selbständigen Rang neben der theologischen Leistung eines Schleiermacher hätte beanspruchen können. Aber es blieb Tholuck versagt, die ganz andere Dimension der biblisch-reformatorischen Theologie klar zu erkennen und, obschon er einzelne Elemente daraus in der Tat stärker hervorhob, ihren substantiellen Gehalt voll zu erfassen. Er hat statt dessen das subjektive Exerzitium der Erweckung an und mit dem sündigen oder frommen Ich mit hingebendem Eifer kultiviert und damit nur in eigener Weise die grundsätzlich anthropologische Fragestellung der Theologie seiner Zeit variiert, wobei die schon früh hervortretende Distanzierung von Schleiermacher etwa den Eindruck einer hintergründigen Affinität nicht verwischen kann. Gerade seine Berliner Wirksamkeit steht ganz im Zeichen des Sturmes und Dranges seines erweckenden Geistes, der mit der immerhin zum Aufhorchen zwingenden Akzentuierung so einprägsam seit langem nidit gehörter biblischer Wahrheiten vielen seiner Hörer als echter Anstoß zu einer neuen theologischen Ausrichtung erscheinen mochte, der jedenfalls den jungen Dozenten in das Blickfeld der akademischen Öffentlichkeit rückte und ihn schließlich dem Minister als den geeigneten Mann erscheinen ließ, als Sturmbock gegen die scheinbar noch immer unerschütterte Hochburg des Rationalismus, die Theologische Fakultät in Halle, eingesetzt zu werden. So gewiß nun Tholucks Vorstoß die wahrlich nidit geringe geistigreligiöse Lebendigkeit der Fakultät zugunsten des emotionalen Elementes noch gesteigert hat, ein nachhaltiger Erfolg im Sinne einer stärkeren Durchsetzung der von ihm vertretenen Anschauungen gerade in der Berliner Fakultät war ihm nicht beschieden. Sein stärkster Parteigänger hier, Hengstenberg, bog, wie wir sahen, in das konfessionelle 40

Lager ab; Neanders gemäßigte Haltung und Schleiermachers Einfluß erwiesen sidi doch als stärker und Marheinekes Gegnerschaft wehrte mit wachsender Entschiedenheit der ihm unerträglichen Mischung von pietistischem Subjektivismus mit der „supranaturalistischen Scheinobjektivität".60 Was an jüngeren Kräften aber in diesem Jahrzehnt noch in den Lehrkörper eintrat, bot im ganzen gesehen das Bild einer hier und da durch selbständige Ansätze leicht modifizierten Abhängigkeit von den drei großen Lehrern, ließ in etwa auch die hengstenbergische Verwandlung des tholuckschen Geistes schon spürbar werden, präsentierte in Friedrich Gottlob Uhlemann (1824) umgekehrt jedoch auch noch das in der Berliner Fakultät jener Zeit seltene Exemplar eines Vertreters der rationalistischen Richtung. Im übrigen machten die Habilitationen dieses Dezenniums offenbar, wie ernst das Problem eines zureichenden wissenschaftlichen Nachwuchses für die Theologen war; denn die endgültige Bilanz ist in qualitativer wie quantitativer Hinsicht recht bedenklich. Von den 9 Anwärtern, die nach Tholuck bis 1829 in die Fakultät aufgenommen wurden, erhielten außer Hengstenberg nur drei nach relativ kurzer Zeit ein auswärtiges Ordinariat. Von ihnen wieder blieb lediglich der Supranaturalist Georg Rudolf Wilhelm Böhmer (1824) (für Exegese des Neuen Testaments und Kirchengeschichte) in diesem Amt, ohne sich durch seine literarischen Arbeiten in irgendeiner Weise besonders zu qualifizieren. Anton Friedrich Ludwig Pelt (1827) dagegen, der in seiner lebendigen Aufgeschlossenheit für die idealistisch-romantische Geistigkeit seiner Zeit Hegels Philosophie mit Schleiermachers Theologie in eine höhere Einheit überführen wollte, gab als Nachfolger Twestens in Kiel lieber seine Professur auf als sich den dänischen Ansprüchen zu beugen. Georg Friedrich Heinrich Rheinwald (1827) endlich, den vielseitig interessierten und reich begabten Schüler Neanders, zwang seine moralische Unzulänglichkeit zum Verzicht auf seine akademische Tätigkeit. Karl Heinrich Bresler (1822) (Neues Testament und christliche Archäologie), Georg Böhl (1825) (Exegese des Neuen Testaments und Dogmatik) und Karl Heinrich Eduard Lommatzsch (1829) (Neues Testament), der Mitheraus; geber der Werke Schleiermachers, traten bald in den Schul- und Kirchendienst über, wozu sich nach einigem Zögern auch Karl Friedrich Otto von Gerlach (1828) (Kirchenrecht und Kirchengeschichte) entschloß, um allerdings seit 1849 als Honorarprofessor wieder über Pastoraltheologie zu lesen, während Uhlemann hauptberuflich stets Lehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium geblieben ist. Die Erwartungen, die man in die wissenschaftliche Leistungskraft dieser Männer gesetzt hatte, hatten sich offenkundig nicht in dem er60

Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 75.

4 Elliger

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hofften Maße erfüllt. Das war einem Manne wie Marheineke mit seiner unverhohlenen Kritik an dem modisch gewordenen „frommen Mystizismus" vielleicht eher bewußt geworden als den übrigen Mitgliedern der Fakultät; jedenfalls ließ ihn der intellektuelle Grundzug seines Geistes andere Maßstäbe an die wissenschaftliche Befähigimg der Bewerber stellen als das hier und da zu geschehen schien, wo nach seinem Urteil theologische oder gar kirchliche Parteizugehörigkeit einer bloßen Durchschnittsbegabung in unverantwortlicher Weise den Zugang zur akademischen Laufbahn eröffnet hatte. Er reagierte schließlich um so empfindlicher, als er selbst noch keinen Habilitanden seiner Schule aufweisen konnte, und als die Fakultät ihm in der negativen Beurteilung einer von ihm sehr günstig bewerteten Preisarbeit unumwunden zu verstehen gab, daß sie gegen seine philosophische Behandlung der Theologie die stärksten Bedenken hege, ja daß sie, wie sie dem Minister schrieb, „jede bloß spekulative, über die Heilige Schrift sich erheben wollende Dogmatik bekämpfe". 61 Altensteins Entscheidimg zugunsten Marheinekes und berechtigte Rüdegabe des Vorwurfes, der Minister beschränke die Lehrfreiheit der Fakultät, an diese selbst mögen ihn dann sogar veranlaßt haben, gegen die von der Mehrheit begünstigte Habilitation Otto von Gerlachs mit der Begründung Einspruch zu erheben, daß der Kandidat wohl seine Befähigung zum geistlichen Amt, nicht aber die zum Dozenten der Theologie nachgewiesen habe. Er hatte die Genugtuung, daß der Minister zwar die Habilitation Gerlachs nicht inhibierte, jedoch davor warnte, die Schar der mittelmäßigen Privatdozenten zu vermehren und einen Aufstieg Gerlachs ausdrücklich von dem überzeugenden Nachweis seiner wissenschaftlichen Qualifikation abhängig machte. In dem erbitterten Streit, in dem selbst der friedfertige Neander „aus einem Lamm ein Löwe"62 geworden war, ging es zugegebenermaßen letztlich um den Gegensatz theologischer Richtungen, der am Verständnis dessen, was wissenschaftliche Theologie eigentlich sei, offen ausbrach: Neanders Befürchtung vor einer philosophischen, das hieß für ihn intellektualistisch-spekulativen Entleerung oder Überfremdung des substantiellen Gehaltes der christlichen Religion stand gegen Marheinekes Ablehnung einer Uberwucherung und Ausschaltung vermeintlich objektiven Denkens und philosophischer Begrifflichkeit durch einen gefühligen religiösen Subjektivismus oder einer die Kraft der Vernunft willkürlich beschränkenden Bibel- und Dogmen81

Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. II. 1. S.349f. Eine Äußerung von Nicolovius, von Schleiermacher an Lücke mitgeteilt; in: Sdileiermadiers Leben. In Briefen. Herausgeg. von Willi. Dilthey IV (1863) S. 388. 62

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gläubigkeit. Schleiermacher stand in der Prinzipienfrage gleichsam zwischen den Fronten, sofem einerseits auch ihm eine gründliche philosophische Durchbildung als präzise Denkschulung für den Theologen unerläßlich erschien, andererseits der einseitige Hegelianismus Marheinekes seinen entschiedenen Widerspruch herausforderte; doch stellte er sich faktisch in dem akuten Konflikt gegen Marheineke.63 Dieser mußte zu Beginn des Jahres 1830 also konstatieren, daß erstens im engeren Kollegium durch die Ernennung von Strauß und Hengstenberg eine spürbare Verschiebung des Schwergewichtes erfolgt war, daß zweitens abgesehen von den beiden Randsiedlern Bellermann und Uhlemann die drei damals noch vorhandenen Nichtordinarien Rheinwald, Gerlach und Lommatzsch in der Front seiner Gegner standen. Bald konnte er freilich in Wilhelm. Vatke (1830) obschon keinen Schüler im engeren Sinne, so doch einen philosophischen Gesinnungsverwandten in die Fakultät einziehen sehen, der Theologe aus Uberzeugung und Wissenschaftier aus innerer Berufung war. Im Unterschiede zu dem berufenen Fachvertreter und seinem geschworenen Gegner Hengstenberg hat der junge Dozent in einem „genialen Abriß des alttestamentlichen Schrifttums"64 einen wesentlichen Beitrag zur kritischen Erforschung des Alten Testaments geleistet, hat er zur Einsicht in dessen religionsgeschichtlichen Entwicklungsgang mit verholfen und in der Erörterung quellenkritischer Fragen wichtige Erkenntnisse vorweggenommen, deren Bedeutung erst eine spätere Zeit voll erfaßte; nur hat der spekulative Denker Vatke den historisch-kritischen Forscher um die unmittelbare Wirkung seiner gelehrten Arbeit gebracht. Im Zusammenhange seines Bemühens um spekulative Durchdringung seiner historischen Arbeit hat ihn sein starkes philosophisch-theologisches Interesse auch zu selbständigen Leistungen auf sytematischem Gebiete geführt, die den Freund von D. Fr. Strauß in große Nähe, ja, in eine gewisse geistige Verwandtschaft zu der freier gerichteten Theologie der Zeit brachten; aber er hat in dem regen Austausch der Gedanken nicht nur seine geistige Selbständigkeit in der bleibenden Distanz gegenüber dem linken Flügel der Hegelianer gewahrt; ihn hat sein gleicherweise in tieferer religiöser Erfahrung wie in einer stärkeren kritischen Begabung wurzelndes Erkenntnisstreben auch zunehmend aus der Abhängigkeit von Hegel gelöst, um sich philosophisch von Schelling und Kant befruchten zu lassen, theologisch einem praktisch-sittlichen Verständnis der Religion zuzuwenden. Zweifellos war Vatke ein Dozent, der sich durch geistige Vgl. die Darstellung des Konfliktes bei Lenz: Gesdi. d. kgl. Friedr.-Wilh.Univ. II. 1. S. 348 ff. 64 A. Bertholet: Bibelwissensdiaft, in: RGG. I 2 Sp. 1070. 83

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Selbständigkeit und gründliche Gelehrsamkeit auszeichnete; doch ist es kein positiv zu wertendes Verdienst der Fakultät, daß er ihr bis zum Ende seines Lebens angehörte. Denn über die Stellung eines schlecht bezahlten Extraordinarius hat sie ihn trotz aller im persönlichen Verkehr gewahrten Freundlichkeit nicht hinauskommen lassen, und als die Protektion des Ministers wie die Gunst Marheinekes mit dem Tode der beiden Männer ihr Ende fand, hat die kirchliche Restauration die Möglichkeit einer breiteren Wirksamkeit des theologischen Außenseiters erst redit unterbunden, ohne ihn dadurch etwa in die philosophische Fakultät abdrängen zu können. Ein halbes Jahr später beglückte Altenstein die Fakultät mit einem weiteren Hegelianer, als er Ferdinand Benary (1831) zum Extraordinarius für alttestamentliche Exegese ernannte, obwohl Benary mehr Philologe als Theologe und sein Arbeitsgebiet mehr die Indologie als die Semitologie war. Mag sein, daß er dadurch den nach Petersburg berufenen jungen Gelehrten für die Berliner Universität erhalten und zugleich ein Gegengewicht gegen den von ihm wenig goutierten Hengstenberg schaffen wollte. Die Stärkung der Partei Marheinekes war ihm gewiß nicht unerwünscht; nur hat er Benary selbst damit keinen Gefallen getan, da dieser sich weder in der alttestamentlichen Disziplin einen besonderen Ruf erwarb, noch in der Fakultät irgendwelchen Einfluß gewann. Doch hat Altenstein den seit dem Konflikt um Gerlach erregten Argwohn, daß man das Eindringen von Anhängern der hegelschen Philosophie in das theologische Lehramt von oben herab begünstigen möchte, durch solche Ernennung natürlich wach gehalten, und das Mißtrauen eines Neanders wuchs, als sich im Jahre 1834 noch zwei „Hegelianer" habilitierten, so daß das Zahlenverhältnis unter den Nichtordinarien — wieder abgesehen von Bellermann und Uhlemann — vier zu vier stand, wobei es noch zu berücksichtigen gilt, daß seit diesem Jahre auch der Hegelschüler Leopold George als Mitglied der Philosophischen Fakultät alttestamentliche und später ins Systematisch-Theologische übergreifende Vorlesungen hielt. Am radikalsten entwickelte sich Bruno Bauer (1834), der unter seinen theologischen Lehrern vornehmlich Vatke und Marheineke verpflichtet war, die den lebhaften jungen Geist zunächst noch ganz auf der Linie der hegelschen Rechten hielten. Auf dem Katheder wie in seinen literarischen Veröffentlichungen zeigte er sich durchaus überzeugt von der Wahrheit der christlichen Religion, verteidigte er z. B. Strauß gegenüber das Wunder im Leben Jesu und den Charakter Christi als Menschwerdung der göttlichen Wahrheit. Aber schon gegen das Ende seiner Berliner Dozententätigkeit setzte die Krisis ein, die ihn schließlich im Zuge des allenthalben das geistig-religiöse Leben beherrschenden Anthropozentrismus im Anschluß an die hegelsche 44

Linke die Wirklichkeit der christlichen Religion in ein Konglomerat subjektivistischer religiöser Vorstellungen auflösen ließ, wobei er zumal der restaurativen Theologie die Berufung auf die historischen Fakten der Bibel dadurch unmöglich zu machen suchte, daß er über eine kritische Revision traditioneller Anschauungen weit hinausgehend dem Drange spekulativer Konstruktion der Geschichte allzu leichtfertig nachgab und, ungeachtet wertvoller, wirklich weiterführender Erkenntnisse, dank einer schier hemmungslosen Vergewaltigung der Quellen den historischen Wert der neutestamentlichen, insbesondere der evangelischen Berichte mehr als nur in Frage stellte. Der Umschwung in Bauers geistiger Haltung offenbarte sich jedoch mit aller Deutlichkeit erst in Bonn. Noch bevor er sich hier uneingeschränkt zur reinen Immanenzphilosophie und zum Atheismus bekannte und die Überzeugung von einer geschichtsbildenden Kraft des subjektiven Bewußtseins ihn zur Hyperkritik an der Bibel als geschichtlicher Urkunde fortriß, erließ Altensteins Nachfolger, Eichhorn, die Anfrage an die preußischen Fakultäten, ob Bauer „nach der Bestimmung unserer Universitäten, besonders aber der theologischen Fakultäten die licentia docendi verstattet werden kann". 8 5 Von den Berliner Theologen votierte lediglich Marheineke für sein Verbleiben im akademischen Lehramt, jedoch auch er nur unter der Voraussetzung eines Ubergangs in die Philosophische Fakultät. 66 6 5 Gutachten der Evangelisch-theologischen Fakultäten der Kgl. Preußischen Universitäten über den Lizentiaten Bruno Bauer . . . (1842) S. IV. 6 6 Im übrigen heißt es im Votum der Berliner Fakultät: „Wir erkennen die unveräußerlichen Rechte freier wissenschaftlicher Forschung in der Theologie, worauf das Dasein des Protestantismus ruht. Wir erkennen die Gefahr, den davon zu unterscheidenden Rechten der theologischen Lehrfreiheit auf Universitäten zu enge Gränzen zu setzen, welche dem Wesen des Protestantismus zuwider laufen, und zumal in einer Zeit der Krisis und des Uberganges, wie die unsrige, in der erst durch freie Entwicklung von innen heraus aus dem Kampfe der Gegensätze eine höhere Einigung in dem wissenschaftlichen Verständnisse des Glaubens sich bilden kann. Wir erkennen, daß die Lehrenden in dem Vortrag Dessen, was sich ihnen aus freier gewissenhafter Erforschung des göttlichen Wortes als Wahrheit ergeben hat, in keiner Hinsicht beschränkt werden dürfen. Die jungen Theologen müssen, indem sich ihnen verschiedene wissenschaftliche Standpunkte innerhalb dieser Gränzen lebendig darstellen, verschiedene Ergebnisse mit ihren Gründen ihnen vorgetragen werden, zur freien eigenthümlichen Prüfung angeregt, zur selbständigen Mündigkeit des Geistes gebildet werden. Es muß den jungen Docenten von verschiedener theologischer Richtung innerhalb dieser Gränzen, wenn wir auch mit deren theologischem Standpunkt und Charakter noch nicht ganz zufrieden sein können, Raum gegeben werden, sidi zu derjenigen Reife zu entwickeln, welche von den

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Neben solchen ausgeprägten Vertretern hegelsdier Observanz trat der für das Fach der Kirchengeschichte habilitierte Friedrich Rudolf Hasse (1834) mit seinem unter Marheinekes Einfluß vollzogenen loseren Anschluß an Hegel gewiß nicht so sehr hervor; immerhin ließ seine Kritik an den Darstellungen der Kirchengeschichte von Engelhardt, Guerike und Hase keinen Zweifel, in welchem Lager er stand, auch wenn er sich, ähnlich wie Bruno Bauer damals noch, von der Position eines F. C. Baur bewußt distanzierte. Es war offenkundig, daß in dieser Gruppe junger Gelehrter, die, mit Ausnahme von Benary, philosophischtheologisch Marheineke besonders nahestanden, Tendenzen auf eine freier gerichtete Theologie lebendig waren, die geistesgeschichtlich im Zusammenhange mit dem aufbrechenden Liberalismus als der übersteigerten Fortbildung von Rationalismus und Idealismus zugleich gesehen werden wollen. Waren es selbst bei Bruno Bauer in den Berliner Anfängen auch noch maßvolle Ansätze nur, über die Hasse nie hinausgegangen ist, so regte sich hier doch unverkennbar im Wechsel der Generationen ein neuer wissenschaftlicher Geist, dessen strukturelle Andersartigkeit zumal in seiner Neigung zu revolutionärer Kritik auch einem Marheineke bald unheimlich wurde. Freilich, das Geschick Vatkes zeigt, daß das Klima in der Berliner Fakultät einer gedeihlichen Entwicklung solcher Ansätze wenig günstig war und die sich versteifende preußische Kulturpolitik hätte dem radikalen Bruno Bauer eine akademische Tätigkeit in der Hauptstadt nicht minder unmöglich gemacht als in Bonn. Dennoch verdient dieser kleine Dozentenkreis wohl Beachtung, der sich durch seine, obschon noch verhaltene kritisch-intellektuelle Denkart der in der Fakultät herrschenden Geistigkeit nicht ohne weiteres einfügte, aber vielleicht gerade durch seine Andersartigkeit eine nicht ganz imbedeutende Wirkung ausübte, um so mehr, als die neben ihm tätigen Nachwuchskräfte nicht durch besonders hervorstechende Leistungen die Aufmerksamkeit auf sich zogen. So mochte wohl Karl August Traugott Vogt (1831) etwas von der geistigen Atmosphäre Schleiermachers spürbar werden lassen, so Ernst Theodor Mayerhoff (1831) als philosophisch versierter Theologe eine auch philologisch gut fundierte Exegese des Neuen Testaments vortragen, bei der er sich ebenso wie Karl Paul Ludwig Neumann (1834) grundsätzlich in den vorgegebenen Bahnen vermittlungstheologischer Bibelwissenschaft bewegte: irgendwie erregend, weiterführend, vorwärtsweisend waren ihre Konzeptionen nicht. Sie schieden zudem alle drei im Jahre 1837, wie zwei Jahre zuvor schon Gerlach, aus der Fakultät aus. Mitgliedern einer theologischen Fakultät gefordert werden muß." — In: Gutachten der Evang.-theol. Fak. . . . S. 5. 46

Es scheint nun, als habe sich der leidenschaftliche Widersacher Marheinekes, Hengstenberg, seinerseits bereits bemüht, eine „orthodoxe" Gegenfront in der Dozentenschaft zu formieren. Der mehr journalistischpraktisch als wissenschaftlich begabte Friedrich. Anton Loewe (1837) blieb zwar nur ein halbes Jahr, Friedrich. Adolf Philippi (1837) dagegen ein halbes Jahrzehnt, und er gab sich in diesem Zeitraum schon, in Anlehnung an Hengstenberg, Stahl und deren Gesinnungsverwandte als Vertreter einer repristinatorischen Theologie zu erkennen, die vom Standpunkt eines exklusiven orthodoxen Luthertums aus jeden Gedanken an eine „Fortbildung" der Kirchenlehre strikte verwarf. Hier stießen wirklich unvereinbare Welten aufeinander und reizten sich in scharfem Widerspruch zu einer forcierten Gegensätzlichkeit. Doch blieb es der Berliner Fakultät erspart, ein offener Schauplatz der eigentlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Extremen zu werden; man verzichtete nicht nur auf Bauer, sondern ließ auch Philippi außer Landes gehen. Man könnte es fast symbolhaft verstehen, daß der letzte Habilitand des dritten Jahrzehnts, Wilhelm Heinrich Erbkam (1838), den Typus der bekenntnistreuen, unionsfreundlichen Vermittlungstheologie gleichsam in Reinkultur vertrat und sein Spezialgebiet die historische Untersuchung der religiös wie theologisch nach rechts und links ins Sektenhafte abgleitenden Abweichungen von der Kirche der Reformation war. Sieht man von der Ernennung des sechzigjährigen Franz Theremin (1839) zum ersten Honorarprofessor der Fakultät (mit einem Lehrauftrag für Homiletik) ab, die lediglich als eine persönliche Ehrung des hochgeschätzten Kanzelredners und als Belohnung für seine Tätigkeit in der Unterrichtsabteilung des Kultusministeriums gewertet werden kann, aber kaum irgendwelche Nebenabsichten im Blick auf die innere Situation der Fakultät verfolgt haben dürfte, muß man die immerhin auffällige Tatsache registrieren, daß sich seit Erbkam fast ein Jahrzehnt lang nur Kirchenhistoriker habilitiert haben. Gewiß bestand in Forschung und Lehre keine exakte Scheidung der Disziplinen; zumal zum Neuen Testament und zur systematischen Theologie blieben die Grenzen von der Kirchengeschichte her sehr fließend. Doch trat eine gewisse Konzentration und Spezialisierung bei den einzelnen Dozenten immer stärker hervor, so daß die eben angeführte Feststellung einen besonderen Aspekt bekommt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sich die religionsphilosophischen Spekulationen der Theologen vornehmlich mit der Bibelwissenschaft, unter Bevorzugung des Alten Testaments verbunden hatten. Die weitgehende Abwertung des Alten Testaments als einer christlichen Religionsurkunde durch die Aufklärung hatte es zu einem willkommenen Substrat allgemein religionsgeschichtlicher und religions47

philosophischer Erwägungen werden lassen, zumal da, wo die vom Prinzip der Lehre beherrschte „offenbarungs- und heilsgeschichtliche" Betrachtung durch die am frommen Bewußtsein orientierte Anschauung einer Entwicklung der religiösen Vorstellungs- und Ausdruckswelt verdrängt wurde. Die historisch-literarische Kritik verband sich in philosophisch vorbelasteten Geistern mit einer konstruktiven Ideologie zu einer scheinbaren Entmythologisierung des Alten Testaments, die aber in der Übersteigerung des dialektischen Denkens und in der spekulativen Vergewaltigung der Geschichte das Historische schließlich wieder in einen Mythus verwandelte. Es erschien dann nur konsequent, die auf das Alte Testament angewandte Methode auch auf das Neue zu übertragen, und von da aus mit der geschichtlichen Erscheinung Jesu die historische Grundlage der christlichen Religion überhaupt in Frage zu stellen. Es war keineswegs nur ein parteiisches Urteil, wenn man den Einbruch der hegelschen Philosophie in die Theologie gerade auch für diese extremen, das Christentum in seiner Substanz auflösenden Konsequenzen verantwortlich machte und speziell in Berlin Marheineke noch mehr als bisher schon in Verdikt geriet, so sehr er selber sich von den Linkshegelianern und ihren Anschauungen distanzierte. Es wäre bei der fundamentalen Bedeutung des Geschichtsverständnisses für die Gesamtheit der aufgeworfenen Probleme auch durchaus verständlich gewesen, wenn die erwähnte Häufung von Kirchenhistorikern eben darin ihren Grund gehabt hätte, der Frage nach dem Wesen und dem Sinn der Geschichte klärend nachzugehen. Aber gerade das geschah hier eigentlich nicht; vielmehr zog man sich in mehr oder minder starker Abhängigkeit auf Neanders idealistisch modifizierte supranaturalistische Auffassung zurück, nach der die Kirchengeschichte als der „Entwicklungsgang der Kirche . . . als des Reiches Gottes in der Menschheit"67 zu verstehen sei und begnügte sich, auf dieser Basis in die Höhen und Tiefen des geschichtlichen Lebens der Kirche mit nachgehendem Verständnis einzuführen. Man wird auch das in gewisser Weise als eine bewußte Entscheidung zu würdigen haben: für Neander gegen Marheineke, d. h. gegen eine Überfremdung der Theologie durch die Philosophie für eine aus der biblischen Grundlage im Blick auf die Geschichte der Kirche zu erhebende „Glaubenswissenschaft", wobei das grundlegende Verständnis der Geschichte eben nicht durch das abstrakte Prinzip der dialektischen Entfaltung der Idee im Ganzen der schöpferischen Selbstbewegung des Geistes bestimmt ist, sondern durch die gläubige Erkenntnis, daß sich in der konkreten Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens die Begegnung des persönlichen Menschen mit dem persönlichen Gott vollzieht, daß Kir67

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A. Neander: Kleine Gelegenheitssdiriften S. 108.

chengeschichte den großen „Gährungsprozeß" darstellt, in dem die Macht göttlichen Lebens durch das Christentum die menschliche Natur von ihrem innersten Grunde aus umwandelt, um sie sich anzubilden. Dennoch bekundet sich hier ein Verzicht auf eine eindringende systemätisch-theologische Fragestellung unter neuen wesentlichen Gesichtspunkten, das Nachlassen zielstrebigen Willens u n d schöpferischer Kraft zu gedanklicher Bewältigung der veränderten geistigen Situation, die der Liberalismus f ü r die Theologie u n d die Kirche heraufgeführt hatte. Die geistig-religiöse Spannkraft des ersten Jahrzehntes löst sich einerseits in der alten Generation in den sterilen Gegensatz Neander gegen Marheineke auf, andererseits verliert sie sich in der jungen Generation in eine leidenschaftslose Parteinahme, die mit der mehr oder minder entschiedenen Behauptung einer mittleren Linie und mit der Hinneigung zur historischen Detailuntersuchung fast den Eindruck einer Flucht in eine „neutrale Sphäre" erweckt. Man kann in formaler Hinsidit eine gewisse Annäherung an die kulturpolitische Linie des neuen Kultusministers Eichhorn nicht übersehen, ohne darum den jungen Berliner Dozenten etwa bewußte Anpassung unterstellen zu dürfen. Wir wiesen ja schon darauf hin, daß die wissenschaftliche Theologie an Preußens Universitäten, nicht zuletzt gerade auch in Berlin, sich bereits seit einigen Jahren mit vollem Bedacht u n d ernster Sachlichkeit in den Bahnen einer maßvollen Kirchlichkeit bewegte, also von sich aus bereits den entsprechenden Intentionen des Ministeriums weitgehend entgegenkam, auch wenn sich aus der besonderen Stellung der Fakultät gegenüber der Kirche wie aus ihrem separaten Status als Glied der Universität, d. h. eines privilegierten staatlichen Organismus nach wie vor mancherlei kirchenpolitische Differenzen ergaben. Es steht hiermit in unmittelbarem Zusammenhange, daß der Lehrbetrieb der Fakultät sehr viel stärker und vordergründiger den künftigen Amtsträger der Kirche im Staate berücksichtigen sollte und wollte u n d dem Studium eine praktisch-kirchliche Ausrichtung gab, die so mit den Ideen Schleiermachers vom Wesen des Universitätsstudiums nur schwer vereinbar war. Trotzdem ist es eine unzulässige Überspitzung, über die Berliner Universitätstheologen des vierten Jahrzehntes das summarische Urteil zu fällen, „sie waren alle mehr oder minder Praktiker, die Erhaltung der Kirchenlehre u n d der Aufbau ihrer Verfassung standen ihnen höher als die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis". 6 8 Ein solches Urteil wird nicht nur durch das vom Minister verlangte Votum der Fakultät zum Falle Bauer in Frage gestellt, in dem das Recht der freien wissenschaftlichen Forschung u n d des ungehinderten Strebens nach der Erkenntnis der Wahrheit mit 68

Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. II. 2. S. 112. 49

klaren Worten als unaufgebbar für einen protestantischen Theologen gefordert wird — Bauer erschien allerdings dennoch nicht als Lehrer der akademischen Jugend tragbar! —; es ist nicht minder verfehlt, die wissenschaftliche Leistungkraft gering zu achten, weil die herausragende Höhe und weitreichende Wirkung geistigen Schaffens der Gründungszeit nicht mehr erreicht wurde. Die theologische Wissenschaft wurde durch' qualifizierte Spezialuntersuchungen vielfach befruchtet und erhielt durch die prinzipielle Heranziehung der monumentalen Quellen als frömmigkeitsgeschichtlicher Urkunden sogar ein neues Forschungsgebiet zugewiesen, dessen Bedeutsamkeit für die Kenntnis und das Verständnis kirchengeschichtlicher Entwicklungsprozesse freilich nur langsam erkannt und nur unvollkommen gewürdigt worden ist. Es ist ein unstreitiges Verdienst von Ferdinand Piper (1840), die protestantische Kirchenhistorie auf ein Dokumentenmaterial aufmerksam gemacht zu haben, dessen reiche Schätze bisher so gut wie ungenutzt geblieben waren und die doch in besonderer Weise den Zugang zum kirchlich frommen Leben der Christenheit zu erschließen vermochten. Mögen die leitenden Prinzipien der kirchengeschichtlichen Arbeit Neanders seinem überzeugten Schüler in positiver wie negativer Hinsicht die Maßstäbe zur Lösung der neu erkannten Aufgabe an die Hand gegeben haben, und mag es ihm infolge dieser Abhängigkeit auch nicht sogleich gelungen sein, eine zureichende Methode der Bearbeitung und Auswertung der christlichen Denkmälerwelt zu entwickeln, so hat er doch in seiner „Monumentalen Theologie" wesentliche Gesichtspunkte für die Erschließung der christlichen Archäologie und der kirchlichen Kunst als einer kirchengeschichtlichen Hilfsdisziplin herausgestellt. Zudem muß es als ein anerkennenswertes Verdienst gewürdigt werden, daß er im Jahr 1849 als erster an einer deutschen Universität ein „christlich-archäologisches Museum" begründete, das den Anstoß zur Entstehung weiterer ähnlicher Institute gab, die dem neuen Wissenschaftszweig im Rahmen der Theologischen Fakultät eine feste Stätte für Lehre und Forschung gaben. Hatte Piper fast 50 Jahre lang als Extraordinarius in der Berliner Fakultät gewirkt und sich durch intensive Arbeit auf seinem Spezialgebiet schließlich die Anerkennung erworben, die man ihm als Kirchenhistoriker durch Ubergehung bei Berufungen, nicht ohne eine gewisse Berechtigung, beharrlich verweigert hat, so folgte Philipp Schaff (1842) schon nach einundeinhalb Jahren einem Rufe nach Amerika, wo der ursprünglich von der Beschäftigung mit dem Neuen Testament ausgegangene junge Gelehrte sich nicht zuletzt als Kirchenhistoriker einen hohen Ruf erworben hat. Und gerade als solcher hat dieser innerlich bewegte Geist, dessen Entwicklungsgang mancherlei Einflüssen von Baur in Tübingen bis hin zu Tholudc in Halle ausgesetzt war, die nachhaltige 50

Einwirkung Neanders nicht verleugnen können und wollen. Der fast gleichzeitig mit ihm habilitierte Karl Friedrich August Kahnis (1842) dagegen hatte sich nach seinem Hallenser Universitätsstudium in Berlin stärker an Hengstenberg angeschlossen und mochte es seiner offenbaren Hinwendung zu einer erwecklich vertieften, aber vom lutherischen Bekenntnis bestimmten Theologie wie dem engeren Verkehr mit den orthodox-konservativen Kreisen der Hauptstadt zu danken haben, daß er schon im Herbst 1844 nach Breslau berufen wurde, „um innerhalb der rationalistischen Fakultät die positive Richtung zu vertreten". 89 Allerdings war er alles andere eher als ein höriger Schüler und ließ er sich auch durch Hengstenbergs apodiktisches Votum nicht einfach dirigieren. Hatte er sich früher von der hegelschen Philosophie abgewandt, weil sie „das Recht des unmittelbaren Lebens, der Persönlichkeit, der geschichtlichen Mächte, des christlichen Glaubens verkümmere", 70 so lehnte es nun sein lebendiger Sinn für das Historisch-Genetische ab, sich der starren Doktrin einer repristinatorisdi-konfessionalistischen Theologie einfach zu unterwerfen, ohne daß darum das lutherische Bekenntnis als solches seine zentrale Bedeutung für ihn verloren hätte; 708 wurde er doch in Breslau sogar zum erklärten Gegner der altpreußischen Union, weil nach seiner Meinung nicht das Bekenntnis, sondern lediglich die Verfassung, bzw. die landeskirchliche Organisation f ü r sie konstitutiv sei. Berlins Einflüsse, in Sonderheit sein vornehmster Mentor hier haben also Kahnis nicht so intensiv geprägt und innerlich gebunden, daß er 69

J. Kunze: K. F. A. Kahnis, in: RE. IX. S. 693. K. F. A. Kahnis: Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus gegen Dr. Hengstenberg (1862) S. 10. 70a „So lange ich noch Glauben habe an die Gerechtigkeit des Zeitalters, darf ich muthig die Frage aufwerfen, wer eigentlich geschichtlich und positiv ist: Derjenige, welcher sagt: Entweder Schrift und Bekenntniß bis auf den letzten Buchstaben oder Unglaube und Abfall — oder Derjenige, welcher bei klarem Blick in alle Schwierigkeiten sagt: Dennoch — dennoch bekenne ich mich zur Schrift als zur gottgegebenen Urkunde des alten und neuen Bundes und zum Wesensinhalt des lutherischen Bekenntnisses. Der erste Standpunkt ist in der That ungeschichtlich, weil er vergißt, daß die Richtung, in der er sich mit einem Strich durch die Entwidcelung von zwei Jahrhunderten zurückschraubt, einst Fortschritt war, unwissenschaftlich, weil er sich nur mit Künsten behaupten kann, unevangelisch, weil er vergißt, daß es im Reiche Gottes ein Wachsthum giebt zu immer völligerer Erkenntniß, gefährlich, weil er das Christentum auf Punkte setzt die gar nicht gedeckt werden können, lieblos, weil er seine Kraft in's Richten und Verdammen setzt, und kraft- und leblos, weil er vergißt, daß das innerste Wesen des Christenthums nicht Begriff und Buchstabe, sondern Geist und Leben ist." In: Zeugniß S. 132. 70

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im eigentlichen Verstände als ein Schüler Hengstenbergs bezeichnet werden könnte. Das gilt in höherem Maße noch für das Verhältnis von Ferdinand Hermann Reuter (1843) zu Neander, obwohl der Jüngere dem Älteren zeit seines Lebens eine dankbare Verehrung als seinem Lehrer bewahrt hat. Reuter hatte mit Kahnis ein starkes systematisches Interesse gemein; aber während dieser sich schließlich zu einem bewußt dogmengeschichtlich orientierten und in der Historie versierten Dogmatiker entwickelte, ließ sich Reuter mit durch seine Beschäftigung mit systematischen Fragen zu einem neuen Verständnis der Kirchengeschichte leiten, das deren scharfe Trennung von der Profangeschichte zu überwinden trachtete. Er erfaßte nicht nur die eigentlich theologische Funktion der Kirchenhistorie echter und tiefer als Neander, um zugleich den politischen Historikern einsichtig zu machen, „daß die dogmatische Bildung allein die rechten Kriterien an die Hand giebt, an denen die kirchenhistorischen Facta richtig zu schätzen sind"; 71 er ging zugleich darauf aus, das kirchengeschichtliche Geschehen von der isolierenden Betrachtung unter rein kirchlichen Gesichtspunkten zu befreien und es dem integrierenden Zusammenhange des Weltgeschehens allseitig einzuordnen. Es ist der entschlossene Schritt, den Anschluß an den Fortschritt der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu finden in der Uberzeugung, gerade von theologischer Seite her einen maßgeblichen Beitrag zu ihrer vollen Entfaltung liefern zu können. Erst von hier aus rückt unser Hinweis auf die „qualifizierten Spezialuntersuchungen" in das rechte Licht; denn der spezifische Ausdruck dieser Neuausrichtung kirchengeschichtlicher Arbeit wurde die nun unter wesentlich verändertem Aspekt und mit ganz anderen Methoden arbeitende monographische Behandlung begrenzter Themen, wie sie Reuter ansatzweise schon während seiner neunjährigen Berliner Tätigkeit begann, um sie späterhin, trotz manchen kritischen Einwänden, meisterhaft fortzuführen. Es gehört nicht zu den rühmlichen Zeugnissen des wissenschaftlichen Eros der Fakultät in jener Zeit, daß sie Reuter anfangs in der Stellung eines fast mittellosen Privatdozenten H. Reuter: Geschichte Alexanders des Dritten und der Kirche seiner Zeit (18602) S. VII; allerdings geht dem Zitat der Satz voraus: „Es ist ein beschämendes Gefühl, das midi ergreift, indem ich erkläre, die politischen Historiker haben in dieser Zeit — abgesehen von dem, was für die Erforschung der ersten christlichen Jahrhunderte geschehen ist — mehr für die Kirchengeschichte geleistet als die Theologen. Oder sollte dieselbe von uns etwa in die Grenzen eingeschlossen werden, die Neander inne gehalten? Das hieße nichts Anderes als die Betrachtung der großartigen welthistorischen Bewegung der Kirche jener mitstrebenden Genossenschaft der politischen Historiker überlassen." 71

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ließ und auch später die Möglichkeit ihn zu berufen ausschlug, als er bereits zu den namhaftesten und einflußreichsten Kirchenhistorikern seiner Generation zählte. Hinter ihm blieb Justus Ludwig Jacobi (1841) an geistiger Originalität und an produktiver Aufgeschlossenheit für den zukunftsträchtigen Wandel der geschichtlichen Erkenntnis sowohl als ihrer methodischen Fundierung um einiges zurück. Zum engeren Freundeskreis um Neander gehörig blieb er in allem dessen Schüler, übernahm er getreu die prinzipielle Anschauung des Meisters vom Wesen der Kirchengeschichte, hielt er sich methodisch an die von ihm gelernten Regeln der Quellenverwertung und wich auch in der Darstellungsweise kaum von ihm ab. Sein noch in Berlin verfaßtes „Lehrbuch der Kirchengeschichte" ist in rechtem Sinne eine „Werkstattarbeit" zu nennen, die einen instruktiven Eindruck von der in Neanders Geist betriebenen Kirchengeschichtsschreibung mit ihren Vorzügen und Nachteilen vermittelt, aber eben auch nicht mehr als das.72 Jacobi wuchs so wenig wie der früh verstorbene Johann Wilhelm Rudolph Chlebus (1844) über eine von idealistischromantischen Elementen durchsetzte, im Grunde von der Mentalität der Erweckung geprägte kirchliche Vermittlungstheologie hinaus, fand ebensowenig wie dieser den rechten Anschluß an die neuen geistigen Strömungen und die aus ihnen erwachsenden Strebungen der modernen Historie und zog damit von vornherein seiner wissenschaftlichen Arbeit Grenzen, innerhalb deren für eine weiterführende historische Selbstbesinnung des Christentums kaum eine echte Möglichkeit bestand. Man wird nicht in Abrede stellen können, daß der kirchengeschichtliche Nachwuchs dieses Dezenniums literarisch recht produktiv gewesen ist und zu einem guten Teile wissenschaftlich durchaus achtbare Leistungen hervorgebracht hat, daß er aber an „geistiger Inzucht" zu verkümmern drohte. Man hat sich in Berlin von den einer neuen Geistigkeit zugewandten, theologisch neue Wege suchenden und neue Perspektiven eröffnenden, methodisch fortschreitenden Versuchen einer kritischen Revision wie eines Neuansatzes der kirchengeschichtlichen Forschung nicht wirklich befruchten lassen. Das Schwergewicht des je länger desto mehr in der Fakultät eine Potenz darstellenden Neander machte sich nachdrücklich geltend, aber nun nicht mehr wie ehedem im Sinne einer der fortschrei72 Neander billigt ihm in seinem Geleitwort gewiß „selbstthätige Forschung" und „eigenthümlidie Verarbeitung" zu und erklärt: „Wie es aus dem Verhältnisse des Verfassers, des mit mir im Geist innig verbundenen hervorgeht, ist dieses Werk dem meinigen nur durch die Grundrichtung und die gemeinsamen Grundanschauungen verwandt"; in: J. L. Jacobi: Lehrbuch der KirchenGeschichte I (1850) S. VIII.

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tenden geistigen Bewegung weithin offenen, den vorwärts drängenden Kräften irgendwie verbundenen Tendenz, vielmehr unter den veränderten Verhältnissen stärker als je zuvor als ein retardierendes Moment, das die Bereitschaft zu unvoreingenommenem Eingehen auf den unverkennbaren Wandel des wissenschaftlichen Geistes lähmte; und zwar um so nachhaltiger als die kirchen- und kulturpolitische Entwicklung in Preußen ein unverhohlenes Mißtrauen gegenüber allen Erscheinungen gerade auch in der Theologischen Fakultät erkennen ließ, hinter denen man mit der Empfindsamkeit reaktionären Spürsinns „liberale" kirchenauflösende und damit staatszersetzende Tendenzen witterte. Die Auswirkungen solcher Mentalität waren natürlich auch in den anderen Disziplinen zu spüren, so bei dem besonders von Neander geprägten Alttestamentier Constantin Schlottmann (1847), einem großen Sprachentalent und vielseitig gelehrten Manne, dem es „ein herrlicher Beruf" war, „immer mit der Blüte der Jugend zu verkehren und sie durch die Wissenschaft für das Evangelium zu gewinnen",13 der sidi aber mit der modernen kritischen Behandlung des Alten Testamentes in keiner Weise befreunden konnte. Und nichts als radikale Ablehnung jeglichen weiterführenden Neuansatzes stand von einem so überspannten Schüler Hengstenbergs wie Wilhelm Neumann (1849) zu erwarten, dem selbst die höchst bescheidenen Konzessionen seines Lehrers schon zu weit gingen und der seine blühende Phantasie für wertvoller hielt als ein ernstes kritisdies Bemühen, so daß er wohl recht daran tat, das Katheder in Breslau schließlich mit einer Lehrerstelle an einem Schweizer Mädchenpensionat zu vertauschen. Audi das Ausscheiden des Neutestamentlers Sigismund Rauh (1849) nach nur drei Semestern akademischer Tätigkeit bedeutete keinen Verlust. Von den beiden neuen Dozenten für Praktische Theologie endlich hat Friedrich Adolf Strauß (1847) in den zwei Jahrzehnten seiner Zugehörigkeit zur Fakultät ebenfalls keinen nennenswerten Beitrag zur wissenschaftlichen Förderung seiner Disziplin geleistet, auch nicht im Rahmen der Spezialgebiete seines Lehrauftrages, der biblischen Archäologie und Hymnologie. Franz Ludwig Steinmeyer (1848) hingegen hat sich schon als Privatdozent, vornehmlich aber nach seiner Rückberufung nach Berlin (1858) in eine Professur einen ausgezeichneten Platz in der Geschichte der Predigt gesichert und durch seine literarischen Arbeiten zur praktischen Exegese wie zu einzelnen Fragen der praktischen Theologie mit gewichtigem Ernst in die Diskussion eingeschaltet, immer zum sachlichen Kern vorstoßend und reich an originalen Gedanken, obschon nicht immer methodisch exakt und kritisch geklärt, mit scharfer Absage an einen formalen Dogmatismus 73

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Nach Kühn: K. Sdilottmann, in: RE. XVII. S. 620,14 ff.

und jeden Rationalismus, aber durchaus konsequent in seiner betont lutherischen Grundhaltung, die es ihm faktisch unmöglich machte, selbst den maßvollen Tendenzen einer freieren Theologie auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Nimmt man hinzu, daß im Februar 1849 Otto von Gerlach als ordentlicher Honorarprofessor wieder in die Fakultät einzog, damit also die seitdem in den Lehrkörper eingetretenen fünf Dozenten sämtlich mehr oder minder ausgeprägte Parteigänger Hengstenbergs waren, dann läßt sich an diesem äußeren Datum schon die Verlagerung des Schwergewichtes auf die orthodox-konservative Gruppe ablesen: Hengstenberg löst offensichtlich Neander in der parteimäßigen Führung der Fakultät ab, und er hat seine Position im nächsten Jahrzehnt mit der ihm eigenen Entschiedenheit auszubauen und zu nutzen gewußt. Hatte er sich, wie übrigens die gesamte Fakultät, bei der Berufung von Nitzsch noch zurückgehalten und keinen ernstlichen Versuch unternommen, dem vom Minister selbst nominierten und stark protegierten Kandidaten durch einen eigenen Vorschlag zu begegnen, so war es nun so gut wie ausschließlich seiner Initiative zu verdanken, daß die durch Neanders Tod freigewordene Professur für Kirchengeschichte durch Johann Karl Lehnerdt (1851) besetzt wurde, wahrlich nicht unter dem Gesichtspunkte, eine wissenschaftliche Kapazität oder auch nur einen durch gründliche Gelehrsamkeit ausgezeichneten Mann zu gewinnen. Da mit Ausnahme des sich auf die Archäologie spezialisierenden Piper auch die Neanderschüler Berlin verließen, war die kirchengeschichtliche Disziplin binnen kurzem in jeder Hinsicht nur unzureichend im Lehrbetrieb der Fakultät vertreten. Aber Hengstenberg war es in erster Linie um eine konsequente Ausrichtung der Fakultät zu tun, die seinen eigenen Intentionen ebenso entsprach wie der allgemeinen politischen Reaktionsbewegung in Preußen, deren extreme Durchführung sich der Minister von Raumer auf kirchlichem Gebiete nicht minder angelegen sein ließ als auf dem der Wissenschaft, für das Stahls berüchtigtes Wort „die Wissenschaft muß umkehren"74 zur Parole werden sollte. Zur Fundierung und Sicherung des neuen politischen Systems suchte man nach einer ihm gemäßen Weitanschauimg das geistige Leben in eine zweckbestimmte Schablone zu pressen, wobei der Kirche und der Theologie nur insofern eine besondere Stellung zugedacht war, als sie zumal durch eine strenge Reglementierung von den „unheilvollen" Einflüssen des liberalen Zeitgeistes hermeWie Stahl es freilidi meinte, erhellt im Ansatz schon das letzte Kapitel seines noch in München entstandenen Werkes: Die Philosophie des Redites nach geschichtlicher Ansicht (1830) S. 353—362. 74

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tisch abgeschlossen werden sollte. Faktisch bedeutete das die Privilegierung, ja die Monopolisierung eines eindeutigen kirchlichen Positivismus orthodoxer Observanz, und Hengstenberg war der gegebene Mann, der aus innerster Uberzeugung die Personalpolitik der Fakultät diktatorisch in diesem Sinn und Geist zu bestimmen wußte. Er war von 1848—1858 nicht weniger als sechsmal Dekan! An sich wäre auch unter diesen Umständen innerhalb gewisser Grenzen eine ernsthafte historische wie systematische Arbeit nicht undenkbar gewesen, wenngleich sie natürlich immer Gefahr laufen mußte, dem normierten Lehrtyp nicht in rechter Weise zu entsprechen. Doch was sich unmittelbar unter den Augen Hengstenbergs als akademischer Nachwuchs in den fünfziger Jahren in der Berliner Fakultät habilitierte, ließ zumeist die echte Leidenschaft wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens vermissen, geriet auf ein totes Geleise oder gab praktisch-kirchliche Tendenzen über Gebühr Raum. Wenn einige von ihnen trotzdem relativ früh einen Ruf an andere Universitäten erhielten, dann war das weniger auf ihre wissenschaftlichen Qualitäten als auf die Empfehlungen des einflußreichen Hengstenberg zurückzuführen. So waren etwa die Leistungen von Friedrich Wilhelm Schultz (1853) auf alttestamentlichem Gebiete, gemessen an den Forderungen seiner Zeit, überaus bescheiden; und Johannes Franz Julius Bachmann (1856) offenbarte in seinen wenigen fachwissenschaftlichen Beiträgen in prinzipieller wie methodischer Hinsicht eine reichlich schülerhafte Unselbständigkeit, durch die er seinen Lehrer weniger zu ehren vermochte als durch die umfangreiche Biographie Hengstenbergs, die ihn neben seinen homiletisch-liturgischen Arbeiten späterhin vornehmlich beschäftigte. Auch Neander fand aus dieser Generation von Dozenten einen Biographen in Karl Friedrich Theodor Schneider (1854), der aber weder als Kirchenhistoriker noch als neutestamentlicher Exeget eine bevorzugte Befähigung zum akademischen Lehramt darzutun vermochte und, nachdem von dem Nachfolger von Raumers ein Extraordinariat für ihn abgelehnt worden war, die Leitung eines Predigerseminars übernahm. Etwas stärker hob sich David Erdmann (1853) hervor, der aus Neanders Schule hervorgegangen nicht ohne eine gewisse Selbständigkeit gegenüber seinem Meister war, sich jedoch bewußt auch dem Einfluß Hengstenbergs öffnete. Seine Schriften kennzeichnen ihn demgemäß nicht eigentlich als ein auf kritische Forschung gerichtetes, theologisch tiefer schürfendes Ingenium, zeigen ihn vielmehr der unmittelbaren Ausrichtung der kirchenpolitischen Situation durch quellenmäßig erarbeitete geschichtliche Reminiszenzen zugewandt. Es war daher wohl eine richtige Entscheidung, wenn er sich, seit 1856 schon Ordinarius in Königsberg, dazu bestimmen ließ, die Funktion des schlesischen Generalsuperintendenten als Hauptamt zu übernehmen, mit dem für ihn eine Hono56

rarprofessur in Breslau verbimden wurde. Uberaus dürftig war endlich die systematische Disziplin vertreten, für die man an Stelle des zunächst gänzlich fehlenden Nachwuchses aus den eigenen Hörerkreisen Adolf Wuttke (1854) als Extraordinarius aus Breslau holte, der nicht so sehr durch ein selbständiges Angehen theologischer Probleme oder durch die Intensität geistiger Auseinandersetzung berechtigte Hoffnungen erweckte, als daß er durch seine entschiedene Wahrung des lutherischen Bekenntnisses innerhalb der Union die Gewähr dafür bot, die „reine Lehre" ohne Konzessionen an die freie Theologie den Studenten zu Vermitteln. Und er hat die so in ihn gesetzten Erwartungen weder durch seine Lehrtätigkeit noch durch seine Schriftstellerei, weder in Berlin noch später in Halle enttäuscht. Tiefer bohrte der ihm in manchem nahestehende Ludwig Theodor Schulze (1859), der über seine speziellen neutestamentlichen Interessen hinaus über ein gelehrtes Wissen auf vielen Gebieten der Theologie verfügte, nur genau so wenig wie jener innerhalb der restaurativen Gesamtbewegung eine nachhaltig wirkende geistige Potenz darstellte. Die Fakultät hat in diesem Jahrzehnt der schier unbeschränkten Herrschaft Hengstenbergs trotz einigen namhaften Gelehrten den absoluten Tiefstand ihrer geistigen Produktivität und schöpferischen Energie erlebt. Man suchte sie vor den Impulsen der neueren Theologie, sei es der historischen oder der systematischen, sorgsam abzuschirmen, und die in der Gründungszeit so enge Verbindung mit den nach neuem Gehalt drängenden Tendenzen des allgemeinen Geisteslebens war nahezu aufgegeben. Eine dogmenstrenge Gläubigkeit und reglementierende institutionelle Kirchlichkeit ließen auf der Grundlage einer autoritär-konservativen Denkungsart die lutherische Orthodoxie in eine bedenkliche Parallelität zum Katholizismus in theologischer, kirchen-, kultur- und staatspolitischer Hinsicht geraten und es ist gleichsam symptomatisch für die Ubersteigerung der sich hier unter negativem wie positivem Vorzeichen entfaltenden Mentalität, daß zwei der Habilitanden dieser Periode zum Katholizismus übertraten: der Kirchenhistoriker Hugo Laemmer (1851) bereits ein Jahr nach seiner Habilitation und der Alttestamentier Friedrich Eduard Preuß (1854), der nach zehnjähriger Wirksamkeit in Berlin noch drei Jahre als lutherischer Theologieprofessor in Amerika tätig war, bevor er konvertierte. Die „Neue Ära" bedeutete auch für die Theologische Fakultät das Ende einer verhängnisvollen Verkrampfung und der akuten Gefahr, einem wissenschaftlich sterilen Doktrinarismus oder einer timiden Gelehrsamkeit zu verfallen. So kurz die Amtszeit des neuen Kultusministers Bethmann-Holweg war, sie genügte doch, eine größere Gelöstheit zu be57 5 Elliger

wirken und eine hoffnungsvollere Perspektive zu eröffnen, wenngleich ein radikaler Kurswechsel mit dem Ziele freier Entfaltung der Wissenschaft auch nicht zu erwarten stand und wohl auch kaum ein einziges Mitglied der damaligen Fakultät etwa die Berufung eines konsequent liberalen Theologen gut geheißen haben würde. Das erste Zeichen der Wandlung war die Ernennung von Christian Friedrich Niedner (1859) zum Inhaber des durch Lehnerdts Abgang wieder frei gewordenen kirchengeschichtlichen Lehrstuhls; sogar Hengstenberg erhob jetzt keinen Einspruch mehr gegen den von ihm ehedem so energisch abgelehnten Kandidaten, der allerdings dem Rufe der Fakultät nicht sofort folgte und nach neuen zwiespältigen Vorschlägen der Fakultät erst durch das unmittelbare Eingreifen Bethmann-Hollwegs sich zur Annahme bewegen ließ. In ihm erhielt Neander wieder einen würdigen Nachfolger, der ihm an gründlicher Quellenforschung nicht nachstand und eine eindringende Detailuntersuchung mit einer wohldurchdachten Gesamtanschauung zu verbinden wußte. Aber sowohl der kritische wie der philosophische Geist waren bei ihm stärker ausgebildet; ein sachliches Streben nach Objektivität führte über die subjektive Einfühlung Neanders hinaus und fand seine tiefere Begründung in dem Bemühen, das supranaturalistische Verständnis der Kirchengeschichte als Ganzes zu überwinden, ohne jedoch schon bis zu Reuters Tendenzen vorzustoßen, aus der verengenden isolierten Betrachtung des kirchlichen Geschehens herauszukommen. In seiner offenen Bereitschaft, auf die geistige Auseinandersetzung seiner Zeit einzugehen und seiner dennoch klaren Entschlossenheit, die positiven Grundlagen der christlichen Religion in engster Bindung an Schrift und Bekenntnis festzuhalten, war er ein überzeugter Vertreter der Vermittlungstheologie, der den spekulativen wie hyperkritischen Liberalismus ebenso ablehnte wie den orthodox-repristinierenden Konfessionalismus. Kurz nach der Berufung Niedners begann mit der Habilitation des jungen Friedrich August Berthold Nitzsch (1859) auch wieder der Zustrom junger Gelehrter, die nicht in irgendeiner Weise der geistigen Obödienz Hengstenbergs unterstanden. Nitzsch war als Theologe vornehmlich von dem geistigen Erbe seines Vaters geprägt und hat die vielgestaltigen geistig-geistlichen Anregungen seiner akademischen Lehrer, u. a. Julius Müllers, Rothes, Ritschis, in seinen dogmengeschichtlichen Studien zu nutzen und weiterzubilden verstanden. Auf dem systematischen Gebiete zwar wohl informiert über den Stand und den Gang der Diskussion, aber ohne produktive Originalität, dankt er es einer lebendigen Aufgeschlossenheit für das geistige Ringen seiner Zeit, daß er auf Grund der religions- und entwiddungsgeschichtlichen Erkenntnisse eine tiefere Einsicht in den Prozeß der dogmengeschichtlichen Lehrbildung gewann und auf diesem Gebiete die Forschung durch seine monographischen Arbeiten 58

und zumal seinen „Grundriß der Dogmengesdiidite" einen beachtlichen Schritt weitergeführt hat. Stärker in Neanders Bahnen ging noch einmal, ohne engere Tuchfühlung nach rechts zu suchen, Hermann Meßner (1860), dessen Ernennung zum Extraordinarius für das Neue Testament das sichtbare Zeichen war, daß Hengstenberg die Führung in der Fakultät verloren hatte. Seine wenigen Beiträge zur neutestamentlichen Forschung waren gediegene, obschon nicht übermäßige Leistungen, und auch als akademischer Lehrer ist er nicht sonderlich hervorgetreten. Aber als Leiter der 1859 begründeten „Neuen Evangelischen Kirchenzeitung", die als Organ der „Evangelischen Allianz" in klarer, zum Teil scharfer Opposition gegen den engen totalitär-autoritären Geist des streitbaren Konfessionalismus der „Evangelischen Kirchenzeitung" stand, war er Hengstenberg ein Dom im Auge, und es mußte in der Tat für ihn und seinesgleichen ein alarmierendes Signal sein, daß in die Berliner Fakultät der verantwortliche Mann einer „Kirchenzeitung" einzog, unter deren Programm die Namen Hoffmann, Nitzsch, Tholuck, Julius Müller, Dorner, Beyschlag, Schenkel u. a. zu lesen waren. Daß der 71jährige Sack"'" (1861) nach seinem Ausscheiden in Bonn vom Minister im Einverständnis mit der Fakultät mit einer Honorarprofessur bedacht wurde, war ebenfalls zumindest eine Bestätigung der Tendenzen, dem theologischen Lehrbetrieb in der Berliner Universität wieder eine größere Weite und Freiheit zu geben. Vornehmlich bekundete sie sich jedoch in dem noch von Bethmann-Hollweg realisierten, die Struktur der Fakultät maßgeblich bestimmenden Entschluß, für den von seinen Lehrverpflichtungen entbundenen K. I. Nitzsch einen der eigenständigsten und nahmhaftesten Vermittlungstheologen seiner Generation, nämlich Isaak August Dornet (1862) zu berufen. Man gewann in ihm einen wahrhaft wissenschaftlichen Geist, der über eine vieles wissende Gelehrsamkeit und eine praktikable Kirchlichkeit weit hinaus auf eine ernsthaft geistige Durchdringung der theologischen Problematik gerichtet war und in einem neuen Ansatz zu einer einsichtigen Aussage über Form und Gehalt des christlichen Glaubens zu kommen suchte. Schon durch seine Tübinger Lernund Lehrjahre in eine geistige Weiträumigkeit hineingestellt, hat ihm sein weiter Weg über Kiel, Königsberg, Bonn und Göttingen den Blick dafür geschärft, daß sich das versteifende Gegenüber der extremen theologischen Fronten nicht durch ein resignierendes Ausweichen noch durch illusionistische Uberbrückungsversuche überwinden lasse. Und so liegt ihm daran, im prägnanten Sinne „die Mitte" aufzuweisen, um deren Erfassen es allem so unterschiedlichen theologischen Bemühen geht. Wenn 75

Vgl. S. 37.

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er die „subjektive Spekulation" Schleiennadlers mit der „objektiven" Hegels zu verbinden und darüber hinaus zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Pistis und Gnosis zu kommen trachtet, wenn er das spekulative Denken wiederum nicht von dem absoluten Ernstnehmen der historischen Tatsachen und der geschichtlichen Entwicklung entbindet, wenn er die Philosophie der Theologie in einer sich nicht in formalen Beziehungen erschöpfenden sachlichen Relation zugeordnet wissen will, wenn er — nicht zuletzt — das „religiöse Selbstbewußtsein" mit dem in der Schrift, den Sakramenten, der Kirche objektiv gegebenen Worte Gottes kontrastierend beide in einem tieferen Bezüge einander zugehörig behauptet, dann eben ist ohne vordergründig tendenziöse Absichtlichkeit das treibende Motiv, der neue Impuls dazu das Drängen zur Mitte als dem „Kern der Sache". Um der möglichst adäquaten Erfassimg des Sachverhaltes willen mühte er sich im freien Rückgriff auf die geistigen Strebungen seiner Zeit um eine allseitige Klärung der für das sachgemäße Erfassen konstitutiven Erkenntnisprinzipien; und es war über eine formale Methodik hinaus für ihn im Sachverhalt selbst begründet, daß er seine Arbeit „mit systematisch abgezweckter Dogmengeschichte" begann und mit „dogmengeschichtlich erfüllter Systematik" endete.78 Es war die Frucht solcher Schritt um Schritt vordringenden Auseinandersetzung, daß er sozusagen jenseits des schon in den Anfängen konzipierten Grundsatzes, „daß das Christentum als die Einheit von Idee und Geschichte verstanden sein wolle",77 der Theologie insgemein die Möglichkeit neuer Orientierung bot, insofern als er durch eine stärkere Wendung zu einer theozentrisdien Theologie die Unmittelbarkeit und Totalität der actio dei im Hinblick auf jede Äußerung christlicher Existenz als der von der actio dei ausgelösten reactio geltend zu machen sudite. Freilich, so sehr dieser Ansatz auch seine Christologie verdichtete, seine „Pistologie", d. h. „die Lehre vom Glauben als der Vorbedingung der Erkenntnis vom Christentum als der Wahrheit",78 trägt ihm doch nicht im vollen Maße Rechnung. Aber unabhängig von jeder Einzelanalyse bedeutete die geistige Energie, mit der Dorner sich vorbehaltlos der theologischen Problematik zuwandte, für die Berliner Fakultät eine reiche Befruchtung, ja man darf wohl sagen, die faktische Überwindung der durch die Fakultätspolitik zumal des letzten Dezenniums heraufbeschworenen Gefahr eines Stillstandes genuin wissenschaftlicher Arbeit. 76 77 78

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Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 175. O. Kim: I. A. Domer, in: RE. IV. S. 802, 37 f. Nach Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 176.

Natürlich, so wohlüberlegt und absichtsvoll die neue Berufung war, sie trug doch nicht eigentlich den Charakter eines demonstrativen Aktes, hat auch trotz der offensichtlichen Zurückdrängung Hengstenbergs keine etwa sofort und ostentativ in die Erscheinung tretende Umgestaltung der inneren Verhältnisse der Fakultät zur Folge gehabt. Immerhin war nicht zu verkennen, daß in der nach der kurzen Spanne der „Neuen Ära" einsetzenden rückläufigen Bewegung Mitglieder der Theologischen Fakultät mit in vorderster Front standen als es galt, dem freiheitlich akademischen Geiste an der Universität gegenüber den Bevormundungsversuchen des neuen Kultusministers den eben erst gewonnenen» sowieso noch recht kärglich nur bemessenen Spielraum zu wahren. Und ebenso zeichnete sich in Forschung und Lehre im Zusammenhange des emsthaft erhobenen Anspruches auf eine größere geistige Bewegungsfreiheit ein Richtungswandel deutlich ab, wenngleich es naturgemäß noch mancherlei Schwierigkeiten zumal in Personalfragen gab, sowohl im Blick auf die Besetzung der Ordinariate wie hinsichtlich der Heranbildung eines qualifizierten Nachwuchses. Habilitationen wie die von Wilhelm Rudolf Kranichfeld (1862) für Altes Testament und Hermann Martin Theodor Gerlach (1864) für Kirchengeschichte, die mehr in Erwartung künftiger Entwicklung wohl vorhandener Anlagen als auf Grund gediegener Leistungen vollzogen wurden, bereiteten mit ihrem schließlich doch negativen Ergebnis allerdings eine selbstverschuldete Enttäuschung. In Hermann Weingarten (1862) und Paul Kleinert (1864) dagegen wuchsen Kräfte heran, die sich durch ihre literarischen Veröffentlichungen wie ihre Lehrtätigkeit einen namhaften Ruf als gründliche Gelehrte und treffliche Lehrer erworben haben. Weingartens bedeutsamste wissenschaftliche Arbeiten, die ihn als einen sich mit ganzer Leidenschaft seiner Forschung hingebenden Kirchenhistoriker aus der Schule Hases kennzeichnen, sind in seiner elfjährigen Berliner Periode entstanden. Sie haben sich überall da, wo er mit seinen eindringenden Spezialuntersuchungen einsetzte, durch ihre Sachkunde wie durch ihr tiefgründiges Verständnis der Personen und Ereignisse wie durch die sinnvolle Einordnung des einzelnen in die großen Zusammenhänge als grundlegende, zumindest wirklich weiterführende Beiträge erwiesen, an denen nicht nur die Kirchenhistorie ein bleibendes Interesse bekundet hat. Seine Gabe intuitiven Erfassens und geistvoller Kombination war wohl größer als sein Vermögen kritischer Analyse, und die Geistigkeit eines übersteigerten Intellektualismus war nicht die Atmosphäre, in der sein außergewöhnlicher Scharfsinn zu leben vermochte. Doch wie er sich in aller religiösen Gebundenheit die innere Freiheit gegenüber dogmatischer Enge und konfessionalistischer Kirchlichkeit wahrte, so wurde er als Wissenschaftler keiner Schule oder Partei hörig und ging er in großer 61

Selbständigkeit seine eigenen Wege, die ihn in seinen späteren Arbeiten zur Geschichte der alten Kirche zu sehr eigenwilligen Ergebnissen führten, die aber trotz ihrer Anfechtbarkeit durch ihren programmatischen Charakter methodisch wie inhaltlich auch hier die Diskussion nicht unerheblich gefördert haben. Während Weingarten zwar nach dem Erscheinen seines großen Werkes über „die Revolutionskirchen Englands" 1868 mit einem Extraordinariat bedacht, eine ordentliche Professur ihm aber erst weitere fünf Jahre später in Marburg übertragen wurde, war Kleinert einer der wenigen, die seit ihrer Habilitation ununterbrochen dem Lehrkörper der Berliner Fakultät, als Ordinarius allerdings erst seit 1877, angehört haben. Ihn erfüllte der wissenschaftliche Eros nicht mit der Leidenschaft eines Weingarten, dem er auch an Intensität des Forschungsdranges oder an scharfsinniger Erkenntnis wie intuitiver Urteilskraft nicht gleichkam. Aber auch er war schon als junger Dozent für alle Fragen des geistigen Lebens seiner Zeit weit aufgeschlossen und frei von jeder Neigung zu doktrinärer Starrheit gewillt, die theologische Wissenschaft im Geben und Nehmen wieder als integrierenden Teil des Wissenschaftsbetriebes der universitas zur Geltung zu bringen. Zunächst noch der alttestamentlichen Disziplin in stärkerem Maße zugewandt, wählte er als sein eigentliches Arbeitsgebiet die praktische Theologie, wo er gestützt auf geschichtliche Studien, eine systematische Durchdringung der Probleme und eine reiche praktische Erfahrung den Weg von Schleiermacher über Nitzsch in seine Zeit weiterzugehen versuchte. Daß es ein unzureichender Versuch nur war, war Kleinert selber wohl bewußt; man wird ihn trotzdem seiner Intention nach legitimer Weise, wenn auch in gebührendem Abstand, so einordnen dürfen, um damit anzudeuten, in welcher geistesgeschichtlichen Tradition Kleinert als Theologieprofessor zu wirken gesonnen war. Und selbstverständlich gehörte es für ihn zu eben dieser Tradition, daß er seine Verantwortung für die Kirche in tätiger Mitarbeit an der Gestaltung ihrer Ordnungen wahrnahm (Preußische Agende von 1894). Wenig glücklich waren die Maßnahmen, mit denen der Minister von Mühler unmittelbar in die Personalverhältnisse der Fakultät eingriff. Daß er ihr nahelegte, Karl Frommann (1865) als Honorarprofessor für praktische Theologie zu übernehmen, wog freilich nicht schwer, zumal dieser nach drei Jahren wieder ausschied, um als Generalsuperintendent nach Petersburg zurückzugehen. Dagegen war es ein bedauerlicher Mißgriff, daß er die durch Niedners Tod 1865 wieder einmal freigewordene Professur für Kirchengeschichte dem von der Fakultät in ihrem Dreiervorschlag gar nicht berücksichtigten Karl Gottlob Semisch (1865) übertrug und den weit befähigteren, wissenschaftlich sehr viel besser ausge62

wiesenen, im Votum nach Henke und Uhlhorn nominierten Reuter einfach überging. Wohl war Semischs Monographie über Justin, die ihm 1844 die Professur in Greifswald eingebracht hatte, eine anerkennenswerte Leistung gewesen; aber er hatte sich seitdem eigener Forschung so gut wie ganz entschlagen und verlor je länger desto mehr den lebendigen Kontakt mit der gerade der Frühzeit der Kirche sich energisch zuwendenden kritischen Arbeit, so daß die Kirchengeschichte am Lehrbetrieb der Fakultät schon wieder, und dieses Mal für 23 Jahre, durch den Ordinarius höchst unzureichend nur beteiligt war. Glücklicherweise hat v. Mühler vier Jahre später den Willen der Fakultät mehr respektiert, als er August Dillmann (1869) als Nachfolger Hengstenbergs berief und damit der Stagnation der alttestamentlichen Wissenschaft in Berlin ein Ende bereitete, die Vatke dem übermächtigen Einfluß Hengstenbergs gegenüber nicht wirksam zu durchbrechen vermocht hatte. Zunächst vor allem mit äthiopischen Studien beschäftigt und durch sie in der gelehrten Welt schon bekannt geworden — deretwegen als erster Theologe seit Neanders Tode auch zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften ernannt — hat er sich in seinem Berliner Ordinariat vornehmlich exegetischen Arbeiten über das Alte Testament gewidmet, und hier ist es nun sein Verdienst gewesen, „daß er am gründlichsten und am nüchternsten die Ergebnisse Ewaldscher Art der historischen Kritik vorgetragen hat". 79 Er lebte gewiß nicht in der ganzen Weite und Fülle der aufstrebenden Forschung seiner Disziplin, er blieb skeptisch etwa gegenüber einer religionsgeschichtlichen Betrachtimg oder den Versuchen der konstruktiven Gestaltung eines theologiegeschichtlichen Entwicklungsganges im Alten Testament und lehnte jedwedes Experimentieren am Texte und mit dem Texte ab. Der konservative Zug seines Wesens und eine bleibende religiöse Gebundenheit ließen ihn innerlich sichernde Grenzen ziehen, deren Innehaltung er nach außen ganz bewußt betonte. Aber eben diese Sicherung gab ihm die volle Sicherheit, um umgekehrt auch gegen die unbelehrbaren Verfechter einer rein traditionalistischen Orthodoxie entschieden Front zu machen und das Recht einer fortschreitenden kritischen Wissenschaft zu betonen. „Die Theologie", erklärte er in seiner Rektoratsrede 1875, „muß als Wissenschaft auch ihre Pflicht tun. Sie muß sich im Kreise ihrer Schwestern sehen lassen können, ohne erröten zu müssen über Nichtgebrauch oder Mißbrauch des einzigen Organs, das der Schöpfer dem Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gegeben hat, der Vernunft."80 Durch seine Persönlichkeit, seine Vorlesungen, seine literarischen Arbeiten hat er sehr wesentlich mit dazu bei79 80

W. v. Baudissin: A. Dillmann, in: RE. IV. S. 667, 44 f. Nach Lenz: Gesch. d. kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. II. 2. S. 354.

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getragen, daß sich bis in die konservativen Kreise hinein die Einsicht Bahn brach, daß die Anwendung „der selben scharfen methodischen Wissenschaftlichkeit, die jetzt in allen anderen Zweigen des Wissens arbeitet und schon ungeheure Resultate erzielt hat", 81 durchaus mit einem tiefen Ernstnehmen der religiösen Wahrheit des Alten Testaments vereinbar sei, und daß so eine exakte geschichtliche Auffassung des alttestamentlichen Geschehens Gemeingut der heranwachsenden Theologengeneration wurde. Kurz bevor Dillmann sein Amt in Berlin antrat, war es sogar möglich gewesen, daß sich Paul Wilhelm Schmidt (1869) für Neues Testament und Religionsphilosophie habilitieren konnte, das heißt ein junger Gelehrter, der sich im Laufe seines Studiums der strengen kritischen Forschung erschlossen hatte, sich noch im Jahre seiner Habilitation dem „Protestantenverein" anschloß und kurz darauf die Redaktion der „Protestantischen Kirchenzeitung" übernahm. Zwar stand er während seiner Berliner Dozentur nicht im Lager der linken Extremisten; aber trotz seiner Abwehr einer neutestamentlidien Hyperkritik war seine wissenschaftliche Haltung anders als die Dillmanns von der „freien Theologie" her bestimmt und ließ deren Einflüsse unmittelbar wirksam werden, ohne daß darum die prinzipielle Differenz der Anschauungen sofort allen Hörem hätte erkennbar werden müssen. Man könnte vielleicht geneigt sein zu vermuten, daß der Gedanke einer gewissen Kompensation solcher nun auch im Berliner Lehrbetrieb stärker hervortretenden Tendenzen für den Minister mitbestimmend gewesen sein könnte, mitten in den Verhandlungen über die Habilitation von Schmidt und die Berufung Dillmanns der Fakultät nahezulegen, den Leipziger Professor Benno Bruno Brückner (1869), der als Propst von Nicolai nach Berlin kam, als Honorarprofessor für Neues Testament bei sich aufzunehmen. Doch wäre das schon rein terminmäßig eine höchst fragwürdige Vermutimg; für die Fakultät hat ein solcher Gedanke in der Erörterung der ministeriellen Anfrage jedenfalls keine Rolle gespielt. Im übrigen war Brückner durch seine kirchlichen Amter je länger desto mehr so stark in Anspruch genommen, daß ihm für eine intensive wissenschaftliche Tätigkeit kaum noch Zeit geblieben ist. Ähnliches gilt auch für Karl Heinrich Christian Plath (1869), der sich im gleichen Jahre für Missionswissenschaft habilitierte, um diese Disziplin als einen wesentlichen Bestandteil theologischer Arbeit im Lehrbetrieb der Fakultät zur Geltung zu bringen. Er war jedoch durch die wachsende Fülle praktischer Aufgaben daran gehindert, das neue Sachgebiet wirklich in das Ganze der wissenschaftlichen Theologie einzubauen. Immerhin verdient 81

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W. v. Baudissin: A. Dillmann (1895) S. 27.

sein Unternehmen insofern Beachtung, als man es ebenfalls als ein Symptom dafür werten darf, daß die Berliner Fakultät allmählich wieder einen Blick für neue Aufgaben gewann und sidi an deren Lösung beteiligte. Am Ende der sechziger Jahre scheint die Verkrampfung und Erstarrung gelöst, die trotz tüchtiger Leistungen einzelner anerkannter Gelehrter die freie Entfaltung geistiger Lebendigkeit der Fakultät als ganzer gehemmt hatte und sie auf die Stufe der Zweitrangigkeit herabgedrückt hatte. Daß freilich der volle Kontakt mit der wissenschaftlichen Moderne noch keineswegs gefunden war, offenbarten die Differenzen in den Verhandlungen über die Besetzung der neutestamentlichen Professur. Dillmann hatte, um auch die neutestamentliche Bibelwissenschaft in Berlin zu beleben, an erster Stelle Heinrich Holtzmann, einen ausgesprochenen Vertreter der historisch-kritischen Forschung, vorgeschlagen, der, ohne die Konstruktionen Baurs zu übernehmen, sich doch in den Bahnen der Tübinger Schule bewegte und von ihr angeregt in der Einzelforschung wie in der Gesamtauffassung ein besseres geschichtliches wie theologisches Verständnis des neutestamentlichen Schrifttums zu erarbeiten suchte. Die Mehrheit der Fakultät dagegen mit Einschluß Domers widersetzte sich seiner Berufung, um sich in ihrem Vorschlag schließlich auf den Greifswalder Hermann Cremer zu einigen, dessen biblische Theologie der historischen Kritik, überhaupt den Erkenntnissen und Ergebnissen der profanen Wissenschaft keine maßgebliche Bedeutung für sich beizumessen gesonnen war. Der Minister des Kulturkampfes, Falk, ließ unter diesen Umständen die divergierenden Vorschläge der Fakultät gänzlich unberücksichtigt und berief einen Mann seiner Wahl: Otto Pfieiderer (1875). Das bedeutete zum Leidwesen der Fakultät nun doch den Einzug eines liberalen Theologen in ihr Kollegium. Denn Pfieiderer war durch die Schule Baurs hindurchgegangen und hat den spekulativen Idealismus als das Lebenselement seines Geistes nie verleugnen können oder wollen. Ihn erfüllte noch einmal die Leidenschaft konstruktiver Harmonisierung von Gott, Welt und Mensch, die tiefe Uberzeugung von der Aufhebung der Gegensätze in der Einheit des Geistes derart, daß sich der absolute Geist in einem teleologischen Entwicklungsprozeß den von ihm geschaffenen kreatürlichen Geistern erschließt und sie dadurch von Irrtum und Sünde erlöst. Gewiß bestimmt das Gegenüber des persönlichen Gottes und des persönlichen Menschen diesen im Ablauf der Jahrhunderte sich vollziehenden Prozeß und wehrt aller pantheistischen oder sonstweichen Ineinssetzung; dennoch kein Gegenüber in radikaler Gegensätzlichkeit, sondern in der Fülle wechselseitiger positiver Bezogenheit. Und das bedeutet die Befruchtung und die Inanspruchnahme des 65

ganzen Menschen so, daß die Selbständigkeit des religiösen Gefühls nidit minder anzuerkennen ist als die klärende Funktion der Vernunft, anders gesprochen: die religiöse und die philosophische Erkenntnis sich gegenseitig auf das telos der Entwicklung hin einander unentbehrliche förderliche Dienste leisten. Ein optimistischer Fortschrittsglaube vertieft den Entwicklungsgedanken aus einem formal gehandhabten methodischen Prinzip zur intuitiven Schau einer wesensmäßig sich im denkenden Geist durch die Geschichte hin vollziehenden Gestaltung des Beziehungsverhältnisses zwischen Gott und Mensch und Welt. Der Entwicklungsgedanke blieb auch in methodischer Hinsicht für ihn als Historiker wichtig, wobei ihn freilich der Aufweis der leitenden Ideen in der Religionsgeschichte mehr interessierte als der exakte Nachweis in kritischhistorischer Detailuntersuchung. Es kennzeichnet seine Grundeinstellung, wenn er das Gefüge der Glaubensvorstellungen und Dogmen in Vergangenheit und Gegenwart „nicht als ein Herbarium toter Gebilde, als Aufzählung abstrakter Lehrmeinungen" betrachtet wissen wollte, „sondern als Entwicklungsgeschichte des lebendigen Werdens, Wachsens und Sichumbildens der religiösen Anschauungen als der Erzeugnisse des religiösen Eigenlebens in seiner Wechselwirkung mit der umgebenden Welt". 82 Als Systematiker drängte er jedoch mit der Frage nach der Erkennbarkeit der Offenbarung Gottes im Werden und Sein weiter zur umfassenden Anschauung des zielstrebigen Entwicklungsprozesses der Ganzheit der göttlich-menschlichen Ordnungen in der Einheit von Metaphysik und Religion. Falk hatte in der Tat nicht fehlgegriffen, wenn er einen liberalen Theologen nach Berlin bringen wollte. Nur war Pfleiderer trotz manchen fruchtbaren Anregungen kein so originaler und produktiver Geist, daß er der Theologie grundsätzlich neue Bahnen gewiesen hätte; er war im Grunde vielmehr ein Nachzügler, der zwar im Ausland noch starke Resonanz fand und hier als Repräsentant der deutschen liberalen Theologie angesehen wurde, der aber in Deutschland selbst kein allzu großes Echo mehr weckte, wo Ritsehl seinen Kampf wider die Metaphysik in der Theologie mit wachsendem Erfolge führte und Pfleiderers leidenschaftliche Opposition gegen den Ritschlianismus wirkungslos blieb. Ritschis neuer Vorstoß, dem Glauben einen ihn besondernden Funktionsbereich zu sichern, erschien ihm geradezu als ein Verderben drohendes Verhängnis für Theologie und Kirche. Aber auch sonst stand er den Ansätzen theologischer Neuorientierung in den 70er Jahren fremd gegenüber. Insbesondere das von der intensiven kritischhistorischen Forschung wieder so eindringlich bewußt gemachte, von so verschiedenartigen Geistern wie etwa Overbeck und Kahler aufgewor82

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O. Pfleiderer: Der Paulinismus (1873) S. IV.

fene, bzw. klarer erfaßte Problem der Möglichkeit echten Glaubens an den geschichtlichen Jesus Christus als die Offenbarung Gottes, der Möglichkeit einer allen zeitlich-räumlichen Abstand außer Kraft setzenden gläubigen Vergegenwärtigung des in Jesus Christus offenbaren Gottes als des einzig möglichen Wurzelgrundes christlicher Existenz war von seinen Voraussetzungen aus wenn überhaupt so gänzlich anders anzugehen. Nach dem Tode Twestens übernahm Pfleiderer neben Dorner den zweiten Lehrstuhl für systematische Theologie, und für das Neue Testament wurde Bernhard Weiß (1876) als Ordinarius berufen. In ihm fand endlich auch die neutestamentliche Bibelwissenschaft in der Berliner Fakultät einen namhaften Vertreter. Denn wohl war in den Statuten von 1836 eine der sechs Nominalprofessuren ausdrücklich für das Neue Testament vorgesehen; faktisch war aber diese Disziplin bisher immer zu kurz gekommen, und an dem gewaltigen Aufschwung, den sie auf ihren verschiedenen Arbeitsgebieten, nicht zuletzt durch den Vorstoß der Baursdien Schule und in der Auseinandersetzung mit ihr genommen hatte, waren die Berliner Fachvertreter nicht wirklich aktiv beteiligt gewesen. Nun trat neben die anregenden Gedanken Pfleiderers über die Entwicklungsgeschichte des Urchristentums von seinen jüdischen und hellenistischen Voraussetzungen aus die sorgfältige, philologisch gründliche wie theologisch bedachtsame exegetische Arbeit von Bernhard Weiß, der mit seiner echten Verbindung von pietätvoll vorsichtiger Kritik und kirchlich-konservativer Sachgebundenheit eine führende Gestalt unter den Vermittlungstheologen auf seinem Fachgebiet wurde. Er war kein bahnbrechender Geist im Sinne eines eine ganz neue Ausrichtung der wissenschaftlichen Arbeit am Neuen Testament erzwingenden Revolutionärs, wohl aber eine in ihrer überlegenen Sicherheit wegweisende Gestalt, die mit strenger Bescheidung im Rahmen einer fest umgrenzten Aufgabe die Möglichkeit aufwies, das Recht des Alten wie das Recht des Neuen zur Geltung kommen zu lassen, die mit steter Beharrlichkeit inmitten der sich leidenschaftlich steigernden Richtungsgegensätze die Grundlagen für eine kontinuierlich die neuen Erkenntnisse sorgsam auswertende, weiterführende Bibelforschung schuf. In nüchterner Sachlichkeit hat er die mit allen Mitteln philologischer Akribie betriebene Quellen- und Textkritik zur selbstverständlichen Voraussetzung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament gemacht und durch seine Arbeit namentlich die Evangelienforschung gefördert. Der eigentliche Akzent lag für ihn freilich wie selbstverständlich auf der Exegese, die mit methodischer Gründlichkeit von der exakten Feststellung des Wortsinnes ausging, die Funktion des Wortes im Satze, den Zusammenhang des Satzes mit dem Kontext zu sichern suchte usf., 67

und der es wesentlich darauf ankam, den Sachgehalt einer Textaussage aus ihr selbst zu entnehmen, wobei die religiöse Persönlichkeit des neutestamentlichen Schriftstellers stets mit größtmöglichem Einfühlungsvermögen in ihrer Eigenart erkannt und berücksichtigt werden, auf religionsgeschichliche Beziehungen dagegen kein so übertriebener Wert gelegt werden sollte. Denn so gewiß alle kritisch-historische Arbeit am Neuen Testament der Aufhellung seines historischen Charakters dient und an Stelle eines bloß dogmatischen das geschichtliche Christusbild vor Augen rückt, so gewiß handelt es sich doch um ein Buch sui generis, und keine sachgemäße Auslegung kann an diesem Sachverhalt vorübergehen wollen. Hier finden sein wissenschaftliches Interesse und sein kirchliches Anliegen in einer tieferen Einheit zusammen, die sein echtes Bemühen um die Sache unmittelbar glaubwürdig werden ließ und den Mann des Katheders wie den „Meister des Lehrbuches"83 zum einflußreichen Lehrer weit über die Grenzen der Berliner Fakultät hinaus gemacht hat. Hat Bernhard Weiß auch nicht durch die Schärfe oder Neuheit seiner Fragestellung die theologische Welt aufhorchen lassen oder gar durch revolutionäre Thesen eine die Gemüter erregende Diskussion ausgelöst, so hat er doch im Verein mit Männern wie Beyschlag und Holtzmann die wissenschaftliche Arbeit der neutestamentlichen Disziplin maßgeblich bestimmt und repräsentativ vertreten. Daß er fast zwei Jahrzehnte als vortragender Rat im Kultvisministerium mit dem besonderen Dezernat für die Personalien der theologischen Fakultäten tätig war, hat ihm überdies die wohlgenutzte Möglichkeit geboten, seines Geistes Art, seine Offenheit für neue wissenschaftliche Erkenntnis nicht minder als seine bewußte kirchliche Gebundenheit auf eine legitime und verantwortliche Weise in dem theologischen Sektor der preußischen Hochschulpolitik wirksam werden zu lassen. War er auch nicht der allmächtige Mann, für den man ihn zuweilen hielt, so hat er sich doch mit offenkundigem Erfolge für eine freiere Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie zu einer Zeit eingesetzt, da von der kirchlichen „Rechten" aus sehr ernsthafte Vorstöße unternommen wurden, dem Umsichgreifen der „ungläubigen" Theologie an den Universitäten durch eine wirksame Kontrolle der Berufungen zu wehren. Den gleichen allgemeinen Grundsatz, den Weiß im Kultusministerium vertrat, suchte Hermann von der Goltz (1876) im Evangelischen Oberkirchenrat zur Anerkennung zu bringen, so daß der in jüngster Zeit vollzogene Strukturwandel der Berliner Fakultät eben darin auch einen signifikanten Ausdruck fand, daß zwei ihrer Mitglieder in maßgeblichen 83 A. Deißmann: Ansprache bei der Trauerfeier, in: Zum Gedächtnis von D. Dr. Bernhard Weiß, herausgeg. v. Wilh. Sdieffen (1918) S. 12.

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Positionen bei den leitenden staatlichen und kirchlichen Behörden — im weitgehenden Konsensus mit der Majorität — gegen jegliche Tendenz doktrinärer Einengung der wissenschaftlichen Theologie entschieden angingen. Von der Goltz war ein halbes Jahr vor Weiß in den Lehrkörper der Fakultät als Honorarprofessor übernommen und, nachdem er die Nachfolge Domers abgelehnt hatte, zum Ordinarius ernannt worden. Von den Aufgaben seiner geistlichen Ämter als Propst und Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrates stark in Anspruch genommen, hat er sich dem akademischen Lehramt in Berlin allerdings nie mit ganzer Kraft hingeben können, und als er im Jahre 1892 geistlicher Vizepräsident des EOK geworden war, bald ganz auf dessen Ausübung verzichtet. Er ist infolgedessen als Wissenschaftler nicht sonderlich hervorgetreten, hat im Grunde auch nicht das Vermögen zu einer selbständigen Konzeption gehabt, die in dem Dilemma der Richtungskämpfe irgendwie hätte wegweisend sein können. Es mutet fast wie eine etwas unglückliche Simplifizierung an, wenn er es als seinen Fundamentalsatz gleichsam proklamiert, sich „an die wesentlichen einfachen Heilswahrheiten zu halten", 84 und nicht müde wird zu betonen, daß auf diesem Fundament des wesentlich Christlichen den dogmatischen Einzelfragen keine kirchentrennende Bedeutung mehr zukommen könne. Es erscheint an der theologischen Situation vorbeigeredet und ist ihr dennoch wieder unerwartet nahe, wenn er der Theologie vornehmlich die Aufgabe gestellt sieht, „die christliche Wahrheit aus dem Weltbild der antiken und mittelalterlichen Kultur in das Weltbild der modernen Kultur zu übertragen".86 Aber zu solchen Aussagen führte ihn nicht ein problemscheuer, die sachlichen Schwierigkeiten einfach ignorierender, unreflektierter Biblizismus, sondern ein in der Begegnung mit der Moderne vertiefter, ungebrochener biblischer Realismus, der ihm die innere Freiheit gab, in den theologischen wir kirchlichen Auseinandersetzungen eine erstaunliche Unbefangenheit zu wahren und eine freie Geistesbildung als integrierendes Element einer gedeihlichen wissenschaftlich-theologischen Arbeit anzuerkennen, auch wenn er gewissen Erscheinungen, wie etwa der „religionsgeschichtlichen Schule" gegenüber nicht ganz frei von Mißtrauen war. P. Gennrich und E. v. d. Goltz: Hermann v. d. Goltz (1935) S. 17. Verhandlungen der fünften ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens I (1904) S. 632; der Satz beginnt: „In dem neuen Kampf, der innerhalb der theologischen Wissenschaft um die großen Ideale und Güter geführt wird, handelt es sich nicht allein um den Gegensatz von Glauben und Unglauben, oder, wie es hier charakterisiert worden ist, um den Gegensatz naturalistischer und christlicher Weltanschauung. Es handelt sich auch darum, daß . . . " 81

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Jedenfalls schätzte er selber seine Befähigung zum wissenschaftlichen Theologen richtiger ein als die Fakultät, wenn er es ablehnte, Dorners Nachfolger zu werden und wenn er trotz allem Verlangen nach einer Verbindung praktisch-theologischer und wissenschaftlicher Tätigkeit sich immer ausschließlicher seinen geistlichen Amtsgeschäften widmete. Hier suchte er mit großer Konsequenz seine „aus geschichtlicher Kenntnis und prinzipieller Erwägung gewonnenen Gedanken"86 zu verwirklichen, hier erwarb er sich seine eigentlichen bleibenden Verdienste, nicht zuletzt eben auch durch sein mannhaftes Eintreten für die Lehrfreiheit in Theologie und Kirche. Er redete keineswegs einer subjektivistischen Normlosigkeit in der Kirche das Wort, erstrebte vielmehr einen offiziell formulierten „bündigen Ausdruck für die christlichen Grundwahrheiten",87 der auch die Grenze der Lehrfreiheit bezeichnen sollte, wollte ihn jedoch derart gefaßt wissen, daß die historische und dogmatische Arbeit der wissenschaftlichen Theologie nicht durch die amtliche Kirche in die Schranken gesetzlicher Beeinflussung gezwängt würde. Denn „freie Bewegung ist die Luft, in welcher evangelische Theologie allein leben und gedeihen kann". 88 Und wie sehr es ihm Ernst damit war, hat die Berliner Fakultät zumal in dem Konflikt um die Berufung Harnacks erfahren dürfen. Im Blick auf die sich anbahnenden Möglichkeiten freierer Entfaltung wäre wohl die Annahme gerechtfertigt gewesen, daß sich auch unter den Nichtordinarien ein stärkerer wissenschaftlicher Drang geltend gemacht und dem Lehrbetrieb der Fakultät neue Impulse gegeben hätte. Aber es fand sich unter den Habilitanden auch dieses Jahrzehntes keine überragende Begabung, die in irgendeiner Weise auf dem Gebiete der Forschung oder Lehre einen tiefer greifenden Einfluß ausgeübt hätte. Wird man diesen Sachverhalt auch nicht ohne weiteres in einen ursächlichen Zusammenhang mit der theologischen Gesamtsituation bringen dürfen, die um 1870 noch zu keinem irgendwie klärenden Resultat des vielfältigen theologischen Ringens geführt hatte, oder auch nur mit den eigentümlichen, der Gesamtentwicklung ja nicht einfach konformen Verhältnissen der Berliner Fakultät, so läßt er sich doch nicht gänzlich losgelöst davon betrachten und die Bevorzugung der historisch-exegetischen Disziplinen mag — noch immer unter negativem wie positivem Vorzeichen gesehen — ebensowenig zufällig sein wie die Neigimg, sich praktisch kirchlicher Betätigung hinzugeben. Allerdings vertrat die Fa86

E. Foerster: Propst von der Goltz, in: Christliche Welt 1908 Sp. 878. H. v. d. Goltz: Die Grenzen der Lehifreiheit in Theologie und Kirche (1873) S. 24 f. 88 Nach P. Gennrich und E. v. d. Goltz: Hermann von der Goltz S. 110. 87

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repräsentative Leistungen in maßgeblicher Weise an der Bewältigung der neu sich stellenden Aufgaben beteiligt; zumindest auf dem Gebiete der Bibelwissenschaften hatte man den Anschluß wieder gefunden. Das folgende Jahrzehnt erlebte den mit zielbewußter Energie betrieben weiteren Neuaufbau der Fakultät, der nunmehr die systematische und endlich die kirchengeschichtliche Disziplin mit einbezog und den Einbruch der jüngsten theologischen Strömung, des Ritschlianismus zur Folge hatte. Daß die beiden entscheidenden Berufungen, schon die Kaftans, erst recht dann die Harnacks, zu scharfen Spannungen zwischen der Fakultät und dem Evangelischen Oberkirchenrat führten, ließ es deutlich werden, daß die Fakultät angesichts der wachsenden Diskrepanz zwischen Theologie und Kirche die Freiheit und Selbständigkeit der wissenschaftlichen Forschung zu wahren gewillt war. Sie war sich dessen wohl bewußt, daß Kaftan als Nachfolger Dorners und gegenüber Pfleiderer einen Wechsel der dogmatischen Grundpositionen bedeutete, sah aber keinen triftigen Grund, die kirchlichen Bedenken als berechtigt anzuerkennen, lehnte sie vielmehr als unsachlich, engherzig und befangen ab und ließ sich durch die Ketzerrichterei restaurativ-konservativer Verständnislosigkeit nicht beeindrucken. Die Opposition hatte nicht ganz Unrecht, wenn sie in Julius Kaftan (1882) zumindest einen Geistesverwandten Albrecht Ritschis zu erkennen glaubte. Denn ungeachtet seiner Eigenständigkeit und seines andersartigen theologischen Entwicklungsganges stand er ihm nicht nur in dem allgemeinen Bemühen um eine Überwindung der in allen ihren Variationen als unzureichend erkannten Vermittlungstheologie nahe, sondern suchte er die Lösung des herrschenden Dilemmas auch in einer grundsätzlich ähnlichen Richtung wie jener. Im bewußten Rückgriff auf Kant forderte er die Befreiung der Theologie von aller Metaphysik und Spekulation mit der starken Tendenz auf eine religiös-ethische Ausrichtung, die ihr Zentrum in dem Gedanken hatte, „daß die Religion eine praktische Angelegenheit des Geistes ist" und in ihr Güter, „schließlich ein höchstes Gut"92 erstrebt werde. In universaler Weite hat er „das Wesen der Religion" zu ergründen gesucht und das Christentum als den Gipfelpunkt der doppellinigen Aufwärtsbewegung der Religion herausgestellt: einmal „der Vergeistigung, die erreicht ist, wo Gott — das Leben in ihm — als das höchste Gut erkannt wurde", zum anderen der Ethisierung, deren Höhepunkt das Christentum insofern darstellt, als in ihm „das höchste Gut als innerlich ethisch bedingt und 92 J. Kaftan in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen herausgeg. von E. Stange IV (1928) S. 221 (21).

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Gott als der heilige Gott erkannt wird".83 Die Methode der nicht nur scheinbaren religionsgeschichtlichen Relativierung des Christentums und die nicht zu übersehende anthropologisch-eudämonistische Komponente der ganzen Komposition, durch die er sich der Annäherung an den Illusionismus Feuerbachs verdächtig machte, haben natürlich zu einer vorschnellen Diskreditierung und falschen Etikettierung seiner Theologie erheblidi beigetragen. Sie griff in Wirklichkeit tiefer und zeigt ihre eigentliche Dimension erst an der grundlegenden Frage Kaftans nach dem Erkenntnisprinzip der Theologie auf, das er in der Abwehr aller Spekulation wie auch der Erfahrungstheorie Schleiermachers einzig und allein in der heiligen Schrift gegeben sah. Damit vor die seine Zeit auch sonst so bedrängende Frage gestellt, wie denn „historisches Schriftverständnis und Autorität der Schrift (beides) zu seinem Recht und jedes zu seinem vollen Rechte" kommen könne, fand er die Lösung aus dem evangelischen Verständnis des Glaubens als des notwendigen Korrelates zum Schriftprinzip, d. h. des Glaubens als einer „Erkenntnis ihrer Art", deren Wurzeln „nicht im Intellekt (liegen), sondern im fühlendwollenden Geist, d. h. in der Sphäre unseres geistigen Lebens, in der Norm und Autorität legitimerweise zur Geltung kommen".94 Die Dogmatik hat dann eben die Glaubenserkenntnis als solche, so wie sie im Glauben gegeben ist, darzustellen, und nicht etwa die — unmöglich zu lösende — Aufgabe, vom Glauben zum Wissen zu führen. Sie hat zudem als ihr vornehmstes Anliegen, dem eigenen Bedürfnis der gläubigen Gemeinde zu dienen, und zwar in der ebenso notwendigen wie legitimen Auseinandersetzung mit dem geistigen Leben der Zeit. Diese Selbstbegrenzung jedoch nicht verstanden als eine die absichtsvolle Isolierung betreibende Verselbständigung der Theologie zur Selbstbespiegelung einer esoterischen Religion, sondern als allgemeines Kriterium der Selbstbesinnung des Geistes. So fand er den Anschluß wieder an die universale Schau der das speziell christliche Leben einschließenden Ganzheit des jeweiligen Kulturzusammenhanges, d. h. nicht mehr auf dem ihm selber fragwürdig gewordenen Wege eines Beweises der allgemeinen Wahrheit des Christentums, vielmehr in der Erkenntnis, daß „ein wissenschaftlicher Beweis in den letzten und höchsten Fragen weder in der Philosophie noch in der Theologie zu erreichen"95 ist; daß an die Stelle solchen „Beweises" eben der Nachweis tritt, „daß das Christentum sich der Einheit des Geistes und der Einheit des Erkennens einordnet".96 Theozen03 94 85 96

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J. Kaftan: J. Kaftan: J. Kaftan: J. Kaftan:

Rel. Rel. Rel. Rel.

Wiss. Wiss. Wiss. Wiss.

i. i. i. i.

Selbstdarst. Selbstdarst. Selbstdarst. Selbstdarst.

IV. IV. IV. IV.

S. 221 S. 216 S. 230 S. 230

(21). (16). (30). (30).

trische und anthropologische Tendenzen rangen in seinem Theologisieren miteinander; die sich in Anknüpfung an die theologische Uberlieferung heranbildende Form eines „dogmatischen Christentums" neuer Observanz suchte in einem lebendigen Kontakt mit einem positiv-kritischen Weltverständnis zu bleiben; ein alle unechten Bindungen abweisender Erkenntnisdrang verband sich mit einem universal gerichteten wissenschaftlichen Denken. Eine eigenwillige Erscheinung blieb Georg Runze (1880), der eine beachtliche Reihe literarischer Arbeiten veröffentlichte, in denen er vornehmlich in die einzelnen Gebiete der systematischen Theologie einzuführen bemüht war, nicht ohne manche scharfsinnige und selbständige Einzelbeobachtungen dabei vorzutragen oder, wie etwa in seiner Abhandlung über „die Bedeutung der Sprache für das wissenschaftliche Erkennen" („Glottologik"!), auf besondere Probleme aufmerksam zu machen. Aber auch seinen noch am ehesten originales Gepräge tragenden erkenntnistheoretischen Ansätzen fehlt die Kraft wirklicher geistiger Durchdringung und systematischer Klarheit, so daß er sich nicht durchzusetzen vermochte und die ihm 1918 verliehene Honorarprofessur kaum mehr als eine wohlwollende Ehrung bedeutete. — Noch lebendiger als auf systematischem Gebiete begann sich in den achtziger Jahren die wissenschaftliche Arbeit innerhalb der kirchengeschichtlichen Disziplin zu entfalten, die mit der Berufung Harnacks eine ebenso weiträumige wie tiefgreifende Wirkung ausüben sollte. Den freilich nicht sofort unmittelbar oder doch nur in bescheidenen Grenzen spürbaren Auftakt dazu bildete gleichsam die Habilitation des jungen Schwaben Karl Müller (1880), der sich schon mit seinen Erstlingsarbeiten als ein befähigter Kirchenhistoriker qualifizierte, der exakte Quellenarbeit und solide Gründlichkeit mit einer präzisen Erfassung der Gestalten und Ereignisse und deren klarer Einordnung in den übergreifenden Zusammenhang des Geschehens zu verbinden wußte, ohne sich irgendwelchen konstruktiven philosophischen oder theologischen Ideen auszuliefern und ohne doch bei aller methodischen Angleichung der Kirchengeschichte an die „Profangeschichte" die theologische Relevanz seines Gegenstandes zu übersehen. Es war für die damalige Fakultät ein Verlust, daß er nach viereinhalb Jahren zur Halleschen Fakultät übertrat, und es war keineswegs ein gleichwertiger Ersatz, daß Samuel Martin Deutsch (1885) das kirchengeschichtliche Extraordinariat für mehr als zwei Jahrzehnte übernahm. Deutsch war ein gründlicher und zuverlässiger Lehrer, der sich in der Kirchengeschichte des Mittelalters, zumal in der Scholastik gut auskannte und in seinen monographischen Untersuchungen gediegene, förderliche Beiträge zu den speziellen Themen vorlegte; doch seine wissenschaftliche Wirksamkeit hielt sich in verhältnismäßig beschei6*

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denen Grenzen und hat die theologische oder kirchliche Entwicklung nidit sonderlich beeinflußt. Nur wenige Wochen nach der Ernennung von Deutsch habilitierte sich in der gleichen Disziplin auch Georg Loesche (1885), weder von diesem als seinem ehemaligen Religionslehrer noch von sonst einem der von ihm gehörten akademischen Lehrer zu seinen kirchengeschichtlichen Ambitionen geführt, vielmehr durch die Lektüre Rankes und Hases angeregt und weitgehend bestimmt. Insbesondere hat Hase ihn in seiner theologischen Einstellung, d. h. in seiner Neigung zur kritisch-historischen Forschung bestärkt und ihn in der Problemstellung wie in der Methodik der Quellenarbeit merklich beeinflußt. Sein eigentliches Arbeitsgebiet und seine Lebensaufgabe, die Erforschung des österreichischen Protestantismus, fand er erst durch seine Berufung nach Wien, die angesichts des noch unzureichenden Befähigungsnachweises und seiner nur kurzen wissenschaftlich-literarischen Dozententätigkeit als eine nicht sonderlich befriedigende Verlegenheitslösung durch das Votum des verantwortlichen evangelischen Kultusreferenten charakterisiert wurde: „einen Mißgriff werde man mit Loesche nicht begehen, eine besondere Acquisition an ihm nicht machen".97 In Verbindung mit den Besetzungsvorschlägen für Wien wurde von Steinmeyer auch der Privatdozent Adolf Jülicher (1887) genannt, „ein blendendes Genie", das er aber auf Grund kirchlich-theologischer Bedenken nicht empfehlen könnte, da es „bedenklich weit nach links orientiert"98 sei. War Jülicher auch erst seit Ende April 1887 habilitiert, so war er doch der Fakultät seit langem schon näher bekannt. Durch Dillmann ursprünglich für die alttestamentliche Literarkritik begeistert, dann auf Grund seines durch den Übergang zu Wellhausen bedingten Dissensus mit Dillmann zum Neuen Testament „abgetrieben", für dessen wissenschaftlich-theologisches Verständnis ihm Pfleiderers Vorlesungen mehr bedeuteten als die des „überlieferungsgläubigen" Bernhard Weiß, sah er sich schließlich genötigt, seine akademische Laufbahn als Kirchenhistoriker zu beginnen, da er bei den Verhandlungen über die Habilitation merkte, daß man ihn „als Kollegen im Neuen Testament nicht wünsche".99 Hat er sich seit seiner bald erfolgten Berufimg nach Marburg auch wieder vornehmlich als Neutestamentier hervorgetan, blieb er der Kirchengeschichte doch als Patristiker treu, um darüber hinaus durch die stärkere Einbeziehung des „außerkirchlichen Christentums" für die Ausweitung 97 Nach K. Völker: Georg Lösche, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus im ehemaligen und im neuen Österreich 54. Jg. (1933) S. 15. 98 Nach K. Völker: Georg Lösche S. 15. 99 A. Jülicher: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. IV. S. 177 (19).

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kultät damals den Standpunkt, daß eine Habilitation in systematischer Theologie ohne den Nachweis der Befähigung zum akademischen Lehramt in einer anderen Disziplin nicht zugelassen werden sollte.89 So wurde August Philipp Ernst Mücke (1870) zur „historischen Theologie" abgedrängt und nur auf Grund der Befürchtungen Semischs vor einer Überfüllung seines Faches wurde dem Kandidaten in Aussicht gestellt, über dogmengeschichtliche Themen allmählich zu systematischen Vorlesungen übergehen zu dürfen. Mücke schied jedoch nach drei Jahren wieder aus, ohne Wesentliches geleistet zu haben. Anders löste die Fakultät das gleiche Problem im Falle des wesentlich älteren Siegfried Otto Nathanael Lommatzsch (1870), eines Enkels von Schleiermacher, indem sie ihn als „Privatdozenten für Schleiermacher'sche Theologie und damit zusammenhängende Materien aus dem Gebiet der historischen und systematischen Fächer"90 übernahm. Tatsächlich hat sich Lommatzsch vorwiegend an Schleiermachers Gedankenwelt gebunden, sich in seiner Lehrtätigkeit vor allem auf die Ethik und Religionsphilosophie, daneben auch auf die Erziehungslehre beschränkend; aber tiefere Spuren hat er nicht hinterlassen, obschon er, 1879 zum Extraordinarius ernannt, mehr als zwei Jahrzehnte zum Lehrkörper gehörte und sich im Rahmen seines beschränkten Forschungsgebietes eine gründliche Gelehrsamkeit erwarb. Als genuinen Neutestamentier kann man unter dem Nachwuchs dieses Dezenniums lediglich Carl Friedrich Georg Heinrici (1871) ansprechen. Er verdankte in seiner Berliner Zeit namentlich Twesten bedeutsame theologische Anregungen und öffnete sich im Rahmen der Vermittlungstheologie den Impulsen einer bedachtsam geübten historischen Kritik, gelangte aber noch nicht zu einer nennenswerten Entfaltung, da er bereits nach zwei Jahren auf ein Extraordinariat in Marburg berufen wurde, wo er erst seinen späteren Ruhm begründete. Noch weniger lenkten die beiden jungen Kirchenhistoriker die Aufmerksamkeit auf sich, und Semischs Sorge vor einer Uberfülle von Nachwuchskräften erwies sich bald als unbegründet. Denn der wegen seines kränklichen Zustandes von der Fakultät nur mit schweren Bedenken habilitierte Theodor Christian Ehrhard Frommann (1872) wurde durch einen frühen Tod abberufen, und Franz Wilhelm Dibelius (1873) gab entgegen den auf ihn gesetzten Erwartungen lediglich eine kurze Gastrolle, um nach kaum einem Jahre ganz in den Dienst der Kirche überzutreten. Etwas mehr Beachtung fand, obschon nur im Schatten seines Lehrers Dillmann, der Alttestamentier Wilhelm Gustav Nowack (1875), der als 89

Akten der Kgl. Friedridi-Wilhelms-Universität zu Berlin; Theol. Fakultät H No 1 Vol. II Nr. 122. 90 Akten d. Kgl. Friedr.-Wilh.-Univ.; Theol. Fak. H No 1 Vol. II Nr. 148.

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Berliner Privatdozent noch durchaus im Geist und Sinne seines Meisters die Grundsätze der modernen kritischen Bibelwissenschaft vertrat und mit gutem Gewissen als „gläubiger" Theologe dem Reichsstatthalter von Manteuffel für die Universität Straßburg empfohlen werden konnte. Erst hier hat er sich freier entwickelt und den Ubergang zur Wellhausenschen Schule vollzogen. Wissenschaftliche Originalität im eigentlichen Sinne blieb ihm zwar versagt, und Dillmanns solide Ausbildung macht sich geltend, wenn er der sorgsamen exakten Kleinarbeit und dem vorsichtig abwägenden Urteil den Vorzug vor großzügig konzipierten Theorien gab; aber gerade auf dieser Basis und in diesem Rahmen leistete er hauptsächlich durch seine Kommentare seinen Beitrag zu der imponierenden Entwicklung der alttestamentlichen Wissenschaft in jener Zeit. In eigener, durch absichtsvolle Spezialisierung doch das Ganze befruchtender Weise nahm auch Hermann Leberecht Stradk (1877) daran teil, wenn er sich mit großer Leidenschaft der Erforschung des biblischen und nachbiblischen Judentums hingab. Er war kein „großer genialer Gelehrter, der bahnbrechend neue Gebiete erschließt, sondern der mit dem Stoff innigst vertraute Sammler und Lehrer, dem in hohem Grade die Gabe übersichtlicher und praktischer Darstellung zuteil wurde". 0 1 Dem von ihm im Jahre 1883 gegründeten Institutum Judaicum zum Studium der jüdischen Geschichte und Literatur war zunächst vornehmlich die Aufgabe einer missionarischen Arbeit unter den Juden und der Aufklärung der Christen zugedacht, doch zugleich auch schon die besondere Pflege der rabbinischen Wissenschaft, die dann nach seinem Tode unter Gressmanns Leitung die einzige Zweckbestimmung des Institutes wurde und auch durch die Untersuchung der religionsgeschichtlichen Beziehungen des Neuen Testamentes Bedeutung gewann. E s bedarf keines Hinweises, daß der allein einer besseren Übersicht dienende Schematismus der Dezennien nicht den Rhythmus des inneren Ablaufes der Fakultätsgeschichte wiedergibt; nichtsdestoweniger wird man feststellen müssen, daß sich die geistig-wissenschaftliche Struktur der Fakultät in dem Jahrzehnt nach Dillmanns Berufung gegenüber ihrer Gestalt etwa seit der Mitte des Jahrhunderts nicht unwesentlich verändert hat. Einmal insofern, als sie sich wieder zu einem, wennschon nicht homogenen so doch geschlosseneren wissenschaftlichen Kollegium entwickelte; zum anderen insofern, als sie sehr bewußt in positiver Mitarbeit auf die modernen Forschungstendenzen einging, zwar ohne im strengen Sinne schon richtungweisend zu sein oder prinzipiell neue Ansätze aus ihrer Mitte heraus zu entwickeln, aber zum Teil doch durch W. Windfuhr: H. L. Strade und sein letztes Werk, in: Theologische Blätter 2. Jg. (1923) Sp. 40. 91

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dqr „Kirchen"-gesdiichte zu einer Geschichte des Christentums im möglichst weit gefaßten Sinne Bedeutung zu gewinnen. Hier stand er allerdings, obgleich nicht einfach in einer direkten Abhängigkeit, so doch im Bannkreis der Wirkungen des Mannes, der die Berliner Fakultät nach der bisher alle überragenden Erscheinung Schleiermachers zu einem neuen Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Geltung führen sollte: Adolf von HarnaCk. Harnadc war, als er 1888 dem Rufe nach Berlin folgte, längst ein bewußter Anhänger der Schule Ritschis und hatte sich in scharfer Zuspitzung der antimetaphysischen Tendenzen von der Bindung an ein dogmatisches Christentum innerlich frei gemacht, so daß die Hüter der Orthodoxie im Evangelischen Oberkirchenrat sich wohl für berechtigt halten mochten, gegen die Berufung dieses Exponenten liberaler Theologie zu protestieren. Was Bedenken erregte, war seine sehr bewußte Abwehr aller systematisch-theologischen Problematik, die er im Grunde nur als philosophische Verbrämung der einfachen Wahrheit des Evangeliums zu werten vermochte, war seine kritische Ablehnung allen spekulativen Erkenntnisstrebens und eines die Kräfte der Vernunft überfordernden Bemühens intellektualistischer Entschleierung der Geheimnisse göttlichen Wesens und Wirkens, war seine abweisende Haltung gegenüber dem Versuch, für das Ergebnis solchen Bemühens gar noch die Anerkennung als einer objektiven Wahrheit zu fordern, bzw. es in die Form eines kirchlichen Dogmas zu kleiden und damit in unzulässiger Weise durch kirchliche Autorität als verpflichtende Glaubensnorm zu proklamieren. All das bedeutete eine entschiedene Absage an den Betrieb der derzeitigen kirchlichen Theologie. Jedoch, die ganze Struktur seines Denkens, seiner geistig-seelischen Wesensart würde zumindest einer einseitigen Beurteilung unterworfen, wollte man seine pointierte Stellungnahme lediglich von einem mangelnden Sensorium für die selbständige Funktion der systematischen Theologie und einem dementsprechend übersteigerten Vertrauen in die Reichweite und die Möglichkeiten historischer Erkenntnis her erklären oder wollte man allzu billig von einer Depotenzierung des christlichen Glaubens zu einer ethisch-humanistischen Religiosität sprechen, die mit der Herausbildung der in Tat und Leben sich bewährenden christlichen Persönlichkeit die Durchdringung der Welt mit den Kräften des Christentums perfektionistisch ins Werk setzen will. Zweifellos war es ein aus persönlicher Not erwachsenes ernsthaftes Anliegen Harnacks, der ihm in Geschichte und Gegenwart unaufhörlich begegnenden, verhängnisvollen Verwechslung religiöser Wahrheiten mit irgendwelchen Theologumena und Philosophumena entgegenzuwirken, und war er der Überzeugung, „die geschichtlich 77

zutreffende Darlegung des Evangeliums" 1 0 0 historisch sachgemäß erarbeiten zu können. Aber er war zu sehr Historiker im vollen Sinne des Wortes, als daß er nicht ein klares Bewußtsein davon gehabt hätte, daß der Durchbruch zum historischen Jesus Christus, seiner Person u n d Lehre, nur den geraden W e g frei machen sollte zur Begegnung mit dem in Christus offenbaren Gott. Seine anthropologisch bestimmte Christusauffassung und damit eng verbunden die Ausklammerung des eschatologischen Bezuges gaben ihm dabei die Möglichkeit, über die durch die historischkritische Bibelforschung eben an diesem dogmatischen Locus so mächtig aufgebrochene Problematik mit einer überraschenden Unbefangenheit hinwegzugehen, wie überhaupt die radikale Entmythisierung der christlichen Religion als Ergebnis einer sachlich-kritischen Untersuchung ihrer Entstehung u n d Entwicklung den nach Form u n d Inhalt jetzt überfremdeten Glauben in einer stark verkürzten Perspektive von unten her wieder in seine ursprüngliche Funktion einsetzen sollte. Nicht der Glaube an ein historisches oder auch metahistorisches Faktum, sondern der Glaube als historisches Faktum ist ihm wesentlich, jener einfach schlichte Glaube der durch Christus gewiesenen Gottzugehörigkeit in seiner steten Aktualität, der noch in seinen depravierten Formen das entscheidende Moment der geschichtlichen Entwicklung des Christentums ausmacht, jedoch selber in seiner Substanz nicht der historischen Entwicklung unterliegt oder irgendwie entwicklungsfähig wäre. Es ist der zu allen Zeiten in der Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus lebende Christusglaube, der die Menschen die Wirklichkeit Gottes erfahren läßt, ihn inmitten der Welt hineinnimmt in das ewige Reich Gottes, so daß der Glaubende wahrhaft Bürger zweier Welten ist, in seinem eigentlichen Sein auf die Seite des Ewigen gehörig. Das bedeutet keine pessimistische Negation der Welt, sondern ermöglichte durchaus eine positive Ineinanderschau des Christentums mit der humanen Kultur und bot die Grundlage dar f ü r die Bewährung des Christenstandes in der verantwortlich tätigen Mitarbeit an den Aufgaben weltlicher Ordnung. Das bedeutete aber auch keine vorbehaltlose Bejahung gar unter dem Aspekt eines weltanschaulichen Entwicklungspositivismus, sondern forderte immer zugleich die kritische Haltung gegenüber aller selbstherrlichen Eigenmächtigkeit in Gesellschaft, Staat u n d Kirche, da der Christ unter keiner Bedingung aus dem Gehorsam gegen Gottes Willen 100 A. v. Hamack: Lehrbuch der Dogmengeschichte I (19315) S. 23 Anm. 1. Vgl. dazu noch: „Das Wesen des Christentums", Vorwort zum 70. Tausend vom Nov. 1925: „Das Wesen des Christentums zu bestimmen, ist eine geschichtliche Aufgabe, da es sich in dieser Religion um eine Verkündigung handelt, die sich geschichtlich vollzogen hat."

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entlassen wird und das Evangelium ihn zur Demut im Kampf gegen selbstsüchtige Eigenliebe usf. ruft. Harnadc hat die mannigfachen Spannungen, die in seiner Anschauung vom „Wesen des Christentums" lagen, wohl empfunden, aber er hat nicht das Bedürfnis gehabt, sie irgendwie zu lösen. Sie durchzogen gleichsam das ganze Gefüge seiner universalen Anschauung der Menschen und Dinge, der Kräfte und Bewegungen; sie gaben seiner geistigen Persönlichkeit die große Elastizität; in ihnen lag nicht zuletzt das Geheimnis einer selten starken Wirksamkeit beschlossen, die seinen Namen zu einem Programm für weiteste Kreise von Theologen und Nicäittheologen hat werden lassen, für ebenso viele allerdings auch zum Inbegriff ketzerischen Irrglaubens oder doch einer häretischen Theologie, wobei sich die Fronten mit der Zeit in eigentümlicher Weise verschoben, im Grunde jedoch ein gewisses Ressentiment gegen seinen sogenannten „Liberalismus", von der Dogmen- und Kirdienkritik angefangen bis hin zum „Kulturoptimismus", bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Es lag mit in der der Historie zugewandten Mentalität der Zeit begründet, daß Harnack solche erstaunliche Wirkung ausüben konnte, obwohl er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit in scharfer Konzentration auf sein kirchengeschichtliches Fachgebiet beschränkte, insbesondere auf die Dogmengescliidite und die Geschichte der alten Kirdie, in die er auch seine neutestamentliche Forschungsarbeit mit einbezog. Eine ungemein fruchtbare Produktion bezeugt hier seine enorme Leistungsfähigkeit, den unstillbaren Drang nach Erkenntnis „der Kräfte, der Richtung, der Leistung"101 des Gewordenen, um die vitale Energie des geschichtlichen Lebens herauszustellen. Die mit scharfsinniger Akribie gehandhabte Methode exakter Quellenuntersuchung und die von größter Zurückhaltung beherrschte Sachlichkeit der Interpretation, endlich die künstlerische Gestaltungskraft, die aus den wesentlichen Einzelheiten die übersichtliche Geschlossenheit des Ganzen einprägsam erstehen ließ. Seine überragende Leistung blieb jedoch sein „Lehrbuch der Dogmengeschichte", „im Grunde eine Monographie über das altkirchliche Dogma, seine Entfaltung und seinen dreifachen Ausgang, mit Meisterschaft in einen großen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt".102 Es war nach seiner grundsätzlichen Konzeption ein zentraler Angriff auf das kirchliche Dogma als eine vom Evangelium her nicht legitime, daher der christlichen Religion nicht wesensgemäße, durch die Reformation faktisch auch bereits abgetane Glaubensnorm; es war der kühne Durchbruchsversuch zu einem undogmatischen Christen101

A. v. Harnadc: Uber die Sicherheit und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, in: Erforschtes und Erlebtes (1923) S. 19. 102 Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 224.

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tum in seiner ursprünglichen Reinheit. Kein Wunder, daß das Werk lebhafte Auseinandersetzungen weit über den Rahmen des Spezialfalles und die Grenzen der deutschen Theologie hinaus ausgelöst, auch starke kirchenpolitische Kontroversen mit hervorgerufen hat, daß es natürlich besonders intensiv auf dem wissenschaftlichen Sektor der kirdien- und dogmengesdiidhtlidien Arbeit Auftrieb gab. Blieb es Hamack auch versagt, seine Auffassung von Dogma und Dogmengeschichte allgemein durchzusetzen, so nötigte sie doch, selbst wider Willen, zur Stellungnahme und damit zur Klärung und Vertiefung der durch seine grundsätzlichen Thesen wie deren Begründimg im einzelnen aufgeworfenen Probleme, brachte sie sein Verständnis der Kirchengeschichte — „die Kirchengeschichte ist ein Teil der allgemeinen Geschichte und kann nur im Zusammenhange mit ihr verstanden werden"103 — zur Geltung und mahnte darüber hinaus im Zeitalter des Historismus mit eindrucksvoller Energie, die Reichweite und die Funktion historischer Erkenntnis sorgsam zu beachten, zumal auf „die Sicherstellung des Geistes gegen den Mechanismus der mathematischen Naturwissenschaft"104 bedacht zu sein. Er hat wie kein anderer neben ihm die Stellung der Theologie als Wissenschaft innerhalb der Universität wie im geistigen Leben seiner Zeit fast möchte man sagen neu begründet. Er war als Historiker bewußt Theologe und als Theologe bewußt Historiker, war in seiner Forschung und Lehre ein ebenso präziser Spezialist wie ein universaler Geist und war als Wissenschaftler der Ganzheit des Lebens mit imponierender Aufgeschlossenheit zugewandt: „Zum Handeln ist der Mensch auf der Welt, nicht zum Betrachten".105 „Wozu er auch berufen wurde, sei es in seinem eigentlichen Amt oder im Evangelischen Sozialen Kongreß oder am Hofe, sei es in den Verhandlungen über das Schulwesen oder als Leiter der Staatsbibliothek oder als Organisator wissenschaftlicher Arbeitsgemeinschaften (Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Akademie der Wissenschaften), überall bewährte er die gleiche Führungskraft und Lebensnähe."106 Daß die offizielle Kirche ihm kein Amt anvertraute, lag wahrlich nicht im Mangel seiner Bereitschaft zum kirchlichen Dienst begründet, sondern lediglich in dem unüberwindlichen Mißtrauen dem Manne gegenüber, der zwar das ganze Geistesleben der Zeit stark beeinflußte, insonderheit die Theologie und die Frömmigkeit mehr als einer Generation von 1 0 3 A. v. Hainack: Kirchengeschichte und Universalgeschichte, in: Aus Wissenschaft und Leben II (1911) S. 45. 104 £ Troeltsch: A. v. Hamack und Ferd. Christ. Baur, in: Festgabe zum 70. Geburtstag (1921) S. 285. 1 0 5 A. v. Harnack: Uber die Sicherheit und Grenzen . . . S. 8. 1 0 8 Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 225.

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Theologen in Professur, Pfarramt und Schule mehr oder minder maßgeblidi bestimmte, der aber den als normativ gesetzten Ansprüchen der in der Kirche herrschenden Richtung nicht entsprach. Sieht man von Hamaeks Wirksamkeit auf neutestamentlichem Gebiete und Jülichers vergeblichem Versuche sich für das Neue Testament zu habilitieren ab, so bleiben als neue Vertreter der Bibelwissenschaften im Lehrkörper der Fakultät für dieses Dezennium nur Gräfe und H. von Soden noch zu erwähnen. Der von Weizsäcker in Tübingen schon in eine vorsichtige, wohl abgewogene, aber darum nicht minder entschiedene historisch-kritische Bibelarbeit eingeführte Eduard Gräfe (1884) hat seine Vorbereitung auf das akademische Lehramt in Berlin abgeschlossen und dann hier seit 1884 als Privatdozent für die neutestamentliche Wissenschaft gewirkt, ist jedoch schon nach knapp zwei Jahren einem Rufe nach Halle gefolgt, um sich erst allmählich auf der allgemeinen Linie eines kirchlichen Liberalismus zu größerer Selbständigkeit zu entwickeln. Blieb für ihn bei aller Betonung des grundlegenden Charakters einer intensiven philologisch-historischen Analyse der Texte dennoch von Anfang an ein spezifisch theologisches Interesse bestimmend, das ihn letztlich auch der vordrängenden religionsgeschichtlichen Methode gegenüber skeptisch machte, hat Hermann von Soden (1889) sich vornehmlich durch seinen Versuch, die älteste Textgestalt des Neuen Testamentes zu rekonstruieren, einen Namen gemacht. Zwar ist sein in mühsamer Kleinarbeit durch Kollation des umfangreichen Handschriftenmaterials gewonnenes Ergebnis von der Forschung abgelehnt worden; immerhin hat sein Unternehmen zur Klärung mancher Einzelprobleme beigetragen, hat viel neuen Stoff herzugebracht, und schon die Sichtung des riesigen Minuskelbestandes darf als ein Verdienst und achtbares Zeichen wissenschaftlicher Askese gewürdigt werden. Die neuen Berufungen, zumal die Harnacks, wirkten sich bald zugunsten der von den neuen Männern vertretenen theologischen Richtung aus und mußten die Sorge der Gegenseite um den theologischen Nachwuchs um so mehr erregen, als die Zahl der Theologiestudenten von dem Tiefstand im Sommer 1877 (135) sich bis zu Harnades erstem Semester in Berlin auf 838 gesteigert hatte und sich in kürzester Frist schon zeigte, daß der geistvolle junge Gelehrte weit über die Grenzen seiner Fakultät hinaus die Hörer an sich zog. (Daß die Zahl der Theologen bis zum Sommersemester 1900 wieder bis auf 266 absank, und das nicht nur auf Grund des allgemeinen Rückganges der Theologiestudierenden, sondern zu einem guten Teile dank der „Abwerbung" der orthodoxen Pfarrhäuser, sei nur am Rande vermerkt.) Sein offenes Hervortreten im sogenannten „Apostolikumstreit", das seinen entschiedenen Parteigängern noch zu vorsichtig, den kirchlichen Instanzen und ihrer Gefolgschaft 81

aber als eine brüske Herausforderung erschien, erhöhte die gegnerische Initiative, die der Fakultät die Begründung einer neuen, mit einem Mann der „Positiven Theologie" zu besetzenden Professur einbrachte. Es war allerdings nicht leicht, nachdem der von der Fakultät einstimmig vorgeschlagene Kähler abgelehnt hatte, eine Persönlichkeit zu finden, die in den besonderen Verhältnissen Berlins ein spürbares Gegengewicht dargestellt hätte, bis sich schließlich Adolf Schlatter auf das persönliche Drängen Althoffe hin bereit fand, von Greifswald nach Berlin zu gehen. Adolf Schlatter (1893) hätte in der Tat je länger desto mehr eine maßgebliche Rolle in der Fakultät spielen können, da er als Gelehrter wie als Dozent wohl zu den bedeutendsten Vertretern der Bibeltheologie in seiner Generation heranwuchs, der durch seine die Ganzheit seines Lebens und Lehrens bestimmende feste Gebundenheit an das Wort Gottes in der heiligen Schrift wie durch seine darin wurzelnde innere Freiheit gegenüber den theologischen oder kirchlichen Richtungen und seine Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt eine starke Anziehungskraft auf die theologische Jugend ausübte. Es lag gerade in dem Verzicht auf jeden prinzipiellen Doktrinarismus und alle eingleisige Methodik begründet, daß er zwar keine „Schule" begründet hat, dafür aber seine nach Form und Inhalt so eminent persönlich geprägte „Theologie" ausstrahlte und im Für und Wider der fachlichen Diskussion eine sachliche Arbeitsgemeinschaft ermöglichte, die er selber als „den gesunden christlich geordneten Verkehr zwischen den wissenschaftlichen Arbeitern"107 kennzeichnete. Schlatter war nicht nur seinem akademischen Werdegang nach „ursprünglich" Neutestamentier und hat sich das Recht zu freier Bewegung im neutestamentlichen Gebiet bei keiner Berufung verkürzen lassen. Als einer der besten Kenner des Judentums hat er der Fachwissenschaft wegweisende Erkenntnisse vermittelt; als praktischwissenschaftlicher Ausleger führte er durch seine „Erläuterungen" weiteste Kreise in den Sinngehalt der neutestamentlichen Schriften ein und schließlich lieferte auch er seinen stark von der „Greifswalder Schule" her mitbestimmten Beitrag zum historisch-systematischen Verständnis der biblischen Geschichte Neuen Testamentes. In Berlin war ihm in erster Linie eine Lehrtätigkeit in der systematischen Disziplin zugedacht, so daß die Fakultät über drei systematische Professuren verfügte. Und Schlatter brachte nun neben Pfleiderer und Kaftan seine theozentrische Theologie mit der ihm eigenen Originalität in kraftvoller Selbständigkeit zur Geltung. Nicht um Lehrformeln und Lehrbegriffe, nicht um spekulativen Höhenflug und psychologische Tiefenschau, nicht um 107

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A. Schlatter: Erlebtes (o. J.4) S. 82 f.

scharfsinnige Methodik und konstruktive Systematik war es ihm zu tun, sondern darum, „beide Wirkungen, durch die Gott uns macht und begnadet, in gleicher Weise deutlich zu machen, sowohl die, die durch die Natur und die Geschichte, als die, die durch Christus vermittelt ist";108 und zwar so, „daß wir aus dem Verständnis der Schrift auch das Verständnis für unsere Gegenwart gewinnen, das uns zeigt, wie Gottes Werk jetzt an uns und durch uns geschieht".108 Aus den Worten und Taten der Schrift tritt Gott uns als der lebendige Herr in Natur und Geschichte entgegen und wird, nun nicht in der Erinnerung an Vergangenes, sondern auf Grund der lebendigen Begegnung mit ihm in der Schrift unser Herr in der Ganzheit unseres Lebens. In dem formalen Prinzip scharfer Reduktion aller theologischen Reflektion auf das Elementare kam Schlatter in einer seltsamen Nähe zu Hamack zu einer eindringlichen Schlichtheit des Glaubens und damit verbunden zu einer großen Unbefangenheit und Weite des Blickes für die Gegebenheiten der Welt. Zwar hielt sich seine Offenheit für die historische Kritik an Bibel und Dogma in bestimmten Grenzen, beengte sein kräftiger Biblizismus sein Verständnis anders orientierter, zumal aller irgendwie vom philosophischen Idealismus her befruchteten theologischen Meinungen und hemmte auch eine stärkere Ausweitung seiner Gedanken in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen; aber ganz unverkennbar wuchs er über die Schranken eines engen Konfessionalismus und des doktrinären Schulstreites theologischer Richtungen hinaus, gab es für ihn zwischen der kirchlichen und der wissenschaftlichen Arbeit keine Spannung und hat er durch den inneren Reichtum seines Bibelchristentums in einer freilich ganz anderen Weise als Hamack eine befreiende und anregende Kraft entfaltet. Er selber sagt: „Vielleicht haben aber meine systematischen Darstellungen der Forschung wenig gedient. Sie blieben wohl dem, was die Kollegen bewegt, zu fem; denn ich dachte an das, was unsere Christenheit hemmt und zerreißt, und suchte das, was unsere Not in Gewinn verwandeln kann."110 Als Schlatter im Jahre 1898 nach Tübingen ging, folgte ihm auf dem Berliner Lehrstuhl Reinhold Seeberg, dem reformierten Bibeltheologen der Lutheraner aus der Schule Franks, ohne daß sich der Zweck der Professur, ein Gegengewicht gegen die freie Theologie zu bilden, geändert hätte. Man kann diese Nachfolge, mit allem Vorbehalt, theologiegeschichtlich als Symptom für eine gewisse Annäherung zwischen den Konfessionellen und den Bibeltheologen werten und wird darin zu108 109 110

A. Schlatter: Erlebtes S. 94. A. Schlatter: Erlebtes S. 81. A. Sdilatter: Erlebtes S. 95. 83

gleich die innerhalb der konfessionellen Theologie sich regende Tendenz erkennen dürfen, eine engere Fühlung mit der modernen Entwicklung des Geisteslebens zu gewinnen. Denn eben darauf hatte Seeberg in seiner vielseitigen Arbeit zielstrebig hinzuwirken gesucht. Als Historiker der idealistisch geprägten Anschauung der Geschichte als Entfaltung des geistigen Lebens der Gesamtheit zugewandt, verstand er die Dogmengeschichte als die sich im „Zusammenhange mit den politischen und kulturlichen Elementen der Kirchengeschichte"111 „entwickelnde Erkenntnis der Christenheit von der Heilswahrheit",112 d. h. gab er ihr in dem Gedanken der erlösenden Gottesherrschaft eine ihr allein und genuin eigene zentrale Leitidee und ordnete er sie zugleich in ihrem wissenschaftlich erfaßbaren Werdegang dem Gesamtprozeß der mannigfach verflochtenen Geistes-, Kultur- und Kirchengeschichte ein. Ebenso hat er als Systematiker durch seinen programmatischen Ruf nach einer „modernen positiven Theologie" die schon vor ihm und neben ihm ähnlich erhobene Forderung, den alten Glauben in neuer Weise zu lehren, in den Mittelpunkt einer lebhaften, keineswegs unfruchtbaren Diskussion um die Jahrhundertwende gestellt. Es ging ihm prinzipiell um die Überwindung jedweder versteinerten Orthodoxie in der Erkenntnis der Geltung wie der Bedingtheit aller Dogmen, die als bloß tradierte, nicht jederzeit dem kritischen Durchdenken preisgegebene und dem Verstehen sich jeweils neu erschließende Wahrheiten im Gesamtbereich des wissenschaftlich-geistig-geistlichen Lebens notwendig zur Totenstarre führen müssen. Die Aufgabe der Theologie besteht demzufolge darin, daß sie „den wissenschaftlichen Ausdruck und Beweis für christliche Offenbarungsreligion in einem besonderen Zeitalter herzustellen hat". 113 Modern ist, „wer die Aufgaben empfindet, die die geistige Konstellation der Zeit mit sich bringt". 114 Positiv gerichtet ist, wer zur inneren Überzeugtheit von der Wahrheit der Offenbarung als dem Kern der christlichen Religion gelangt ist. „Probleme, Fragen, Interessen, Methoden machen das .Moderne' aus und Tatsachen, Realitäten des geistlichen Lebens der Christenheit bilden das ,Positive' ". 115 Konkret bezeichnete er als die vom 19. Jahrhundert gestellte und die theologische Situation um die Jahrhundertwende bestimmende Frage die nach dem Verhältnis von Entwicklung und Offenbarung, bzw. von Glauben und Geschichte, wobei er die zwiefältige Tendenz seiner Zeit konstatierte, „die Geschichte 111 112 113 114 115

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R. Seeberg: R. Seeberg: R. Seeberg: R. Seeberg: R. Seeberg:

Lehrbuch der Dogmengeschidite I (19283) S. 5. Lehrbuch der Dogmengeschidite I. S. 7. Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert (19103) S. 335. Die Kirche Deutschlands . . . S. 329. Die Kirche Deutschlands . . . S. 335.

ganz von der Dogmatik zu befreien, sie — sozusagen — entwicklungsgesdiiditlich zu entchristlichen, und andererseits die Dogmatik von allen besonderen geschichtlichen Stützen und Beziehungen los zu machen".11® Zum Verständnis des Christentums ist jedoch immer eine doppelte geistige Bewegimg erforderlich: „einmal will die geschichtliche Überlieferung erkannt und geprüft werden, sodann aber will sie als ewige Wahrheit erlebt und verstanden werden".117 „Ob die Geschichte der Religion eine rein immanente Entwicklung darstellt oder ob und wie sie durch transzendente Faktoren bedingt ist; ob die religiösen Erlebnisse Produkte der allgemeinen — letztlich von Gott kausierten — natürlichen Art des Menschen und der ganzen Weltentwicklung sind, oder ob sie durch ein besonderes Einwirken Gottes in mystischer Gemeinschaft mit dem gegenwärtigen Herrn erlebt werden — das sind die Gebiete, um die es sich handeln wird."118 Ohne Frage hat Seeberg den Versuch weitherzigen Verstehens der die „moderne Theologie" bewegenden Anliegen unternommen, hat er zumindest die Problematik erkannt, die für Theologie und Kirche aus der geistigen Bewegung der Zeit erwuchs, und durch sein Programm einer modern-positiven Theologie einen zukunftsträchtigen Weg zu ihrer Lösung aufweisen wollen: nicht einen Weg billiger Kompromisse, sondern den Weg bewahrenden Erwerbs des „alten Glaubens" in der läuternden Bewährung seiner Echtheit durch die aufgeschlossene Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der jeweils neuen Zeit. Geriet er faktisch auch bedenklich in das Geleise der alten Vermittlungstheologie und lenkte er die spezifisch dogmatische Arbeit auch nicht in eine grundsätzlich andere Richtung, so gingen von seinem Bemühen doch mancherlei wertvolle Impulse aus und zumal auf dem Gebiete der Ethik haben seine Gedanken zur sozialen Aufgabe und zu nationalen Fragen in Zustimmung und Ablehnung weithin Beachtung gefunden. Nicht zuletzt wurde er gerade auch durch die Kritik, die er von der Linken bis zur Rechten herausgefordert hat, zu einem der führenden Theologen der letzten Generation vor dem ersten Weltkrieg; mehr jedoch noch durch seine positive Leistimg als Wissenschaftler wie als Mann der kirchlichen Praxis, der in der freien kirchlichen Tätigkeit, besonders auf sozialem Gebiete einen weitreichenden Einfluß ausgeübt hat, zudem sich nicht scheute, auch zu akuten Fragen des kulturellen Lebens offen Stellung zu nehmen. Die gesteigerte wissenschaftliche Intensität bekundete sich in dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts auch in der Heranbildung eines 116 117 118

R. Seeberg: Die Kirche Deutschlands . . . S. 327 f. R. Seeberg: Die Kirche Deutschlands . . . S. 331. R. Seeberg: Die Kirche Deutschlands . . . S. 341.

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qualifizierten Nachwuchses, der zum Teil später in Ordinariate nach Berlin zurückgerufen wurde, wie etwa die beiden Dozenten für systematische Theologie Titius und Wobbermin. Sie sind beide nicht eigentlich „bahnbrechend" oder gar „revolutionierend" hervorgetreten, sind aber charakteristische Vertreter der ihre Zeit bestimmenden theologischen Problematik insofern, als sie in positiver wie negativer Auseinandersetzung mit der historisch-systematischen Arbeit des 19. Jahrhunderts der Gefahr einer Selbstisolierung der Theologie ebenso zu begegnen suchten wie der ihrer Auslieferung an einen geistesgeschichtlichen Relativismus und sie insbesondere den durch die Religionsgeschichte, die Religionsphilosophie und Religionspsychologie in den Vordergrund gerückten Fragen nachgingen. Arthur Titius (1891) ist von umfassenden Studien auf dem Gebiete der neutestamentlichen Wissenschaft einerseits, dem der Philosophie andererseits ausgegangen und hat sich in seinen Arbeiten besonders eingehend mit den Schwierigkeiten befaßt, die dem christlichen Glauben von der modernen Naturwissenschaft bereitet zu werden schienen. Als Schüler Kaftans sah er den Kern der christlichen Botschaft in dem ethisch gedachten höchsten Gut des Gottesreiches; doch stärker als bei seinem Lehrer gewinnen für ihn unter dem Einfluß der erneuerten reformatorischen Theologie Sünde und Erlösung ein das Gott-Mensch-Verhältnis bestimmendes Schwergewicht und wurde ihm die Gestalt Jesu Christi in einem tieferen Verstände für den Glauben wesentlich. So sehr er allerdings von Schleiermacher her den emotionalen Charakter der Religion betonte und im Gefolge Ritschis ihre Überfremdung durch Metaphysik ablehnte und so der Religion ihre Selbständigkeit und Eigenart gewahrt sehen wollte, eine radikale Andersartigkeit des christlichen Glaubens zu behaupten konnte er sich von seinen Voraussetzungen aus nicht verstehen. Vielmehr diente ihm die wohlabgewogene Konfrontation mit anderen Religionen und Weltanschauungen eben dazu mit, die innere Verwandtschaft der Geistigkeit des deutschen Idealismus mit der des Christentums in der Ausrichtung auf das Absolute hervorzuheben. Von dieser theologischen Basis aus verfocht er auch seine Anschauung von der grundsätzlichen Vereinbarkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis und religiösen Glaubens, sowohl in der Abwehr eines naturalistischen Monismus wie in dem Erweis der von keinem Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung zu erschütternden Integrität des christlichen Schöpfungsglaubens, auf den er als letzten tragenden Grund auch den christlichen Ewigkeitsglauben gründete. Man kann das apologetische Vorzeichen vor seinem ganzen Theologisieren nicht übersehen; trotzdem erwächst seine Theologie letzten Endes nicht aus der Sorge um die in Frage gestellte Immunität des Christentums, sondern aus der sicheren 86

Uberzeugung seiner ungebrochenen Existenzberechtigung auf Grund seines bleibenden Auftrages in der Welt. Auch Georg Wobbermin (1898) löste sich als Schüler Kaftans früh aus einer engeren Bindung an die philosophisch-theologische Position der Ritschlschen Schule, um angeregt durch die Arbeit der religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Forschung den Beitrag Schleiermachers zur Lösung des hermeneutischen Problems neu zu würdigen, ihn durch das „transzendental-psychologische Verfahren" weiterzuentwickeln und so einen fruchtbaren Ansatz für eine sachgemäße Methodik der systematisch-theologischen Arbeit zu gewinnen. Mit vollem Bedacht suchte er sich gegen übermächtige Pichtungseinflüsse abzuschirmen: er wandte sich gegen die völlige Verbannung der Metaphysik aus der Theologie und wollte sich doch bei aller Offenheit zumal für die neuidealistische Philosophie keinem philosophischen System verschreiben; er wollte den Historismus wie den Psychologismus überwinden und erstrebte in der Abwehr alles einseitigen Subjektivismus wie Objektivismus eine Theologie, die dem existentiellen Charakter des christlichen Glaubens nicht minder gerecht werden sollte als seiner besonderen Bezogenheit auf die Geschichte. Ausgehend von der Frage nach Wesen und Wahrheit der Religion überhaupt stellte er als Prinzip der religionsphilosophischen Arbeit das des „religionspsychologischen Zirkels" auf, „demzufolge in produktiver Einfühlung eine wechselseitige Klärung der geschichtlichen Ausdrucksformen des religiösen Lebens und der eigentlichen religiösen Erfahrung vollzogen werden muß". 119 „Unter grundsätzlicher Berücksichtigung des Wahrheitsinteresses des religiösen Bewußtseins" wollte er so „auf der Basis der transzendentalen Fragestellung nach den Bedingungen der religiösen Objekterfassung"120 aus den überlieferten Vorstellungen und kultischen Ausdrucksformen den spezifisch religiösen Kerngehalt erheben. Bestimmt sich ihm danach das Wesen der Religion als „das Beziehungsverhältnis des Menschen zu einer von ihm geglaubten Überwelt des Unbedingten, von der er sich in seiner ganzen Existenz abhängig und deshalb sich ihr verpflichtet weiß, in deren Schutz er sich geborgen hofft und die ihm als Ziel der Sehnsucht gilt", 121 so wird diese Überwelt des Unbedingten im Christentum durch den „geistig-ethisch-persönlichen Gott . . . wie er sich dem Glauben aus der Offenbarung in Jesus Christus erschließt" präzisiert: „der Welt und Geschichte lebendig durchwaltende absolute Herr aller Wirklichkeit" ist 119 H. Wobbermin: G. Wobbermin, in: Philosophen-Lexikon herausgeg. v. Werner Ziegenfuss und Gertrud Jung II (1950) S. 201. 120 Nadi Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 271. 121 H. Wobbermin: Philosophen-Lexikon II. S. 902.

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„ein geistig-persönlicher Gott, Urgrund und Endziel alles geistig-ethisdien Personlebens".122 Färbte auch der religionsphilosophische Ausgang im ganzen wie im Detail das Verständnis des Christentums, zumal im Blick auf die Betonung des theozentrischen Charakters der christlichen Religion, so kam doch in der besonderen Kennzeichnung des Glaubens mit der Abwehr aller Rationalisierungstendenzen und der Hervorhebimg seines absoluten Wahrheitsanspruches der christliche, speziell evangelische Denker unverkennbar zum Vorschein; der an der reformatorischen Theologie seiner Zeit orientierte Theologe nicht zuletzt auch in der näheren Bestimmimg des Verhältnisses von Religion und Kultur, das nicht einseitig als kulturverneinend oder kulturbejahend gekennzeichnet wurde, sondern auf der Basis einer von dem Überweltlichen als dem Unbedingten her qualifizierten Kulturkritik grundsätzlich im Sinne des „Gottesdienstes" als kulturschöpferisch zu bezeichnen sei.123 Nur wenig später habilitierte sich in der gleichen Disziplin auch Karl Beth (1901), der, in seinen „Interessen von vornherein auf Religonsphilosophie und Weltanschauung eingestellt",124 insbesondere durch seine Berliner Lehrer Harnack, Pfleiderer und Dilthey zu intensiver Beschäftigung mit den Problemen der Religionswissenschaft und Religionspsychologie geführt worden war und sich bereits in seinen ersten selbständigen Untersuchungen über Anfang und Wesen des Christentums von der Einsicht leiten ließ, „daß die wissenschaftliche Aufgabe, das Christentum zu erfassen, nicht anders als durch den Vergleich mit der Welt der Religionen, nicht bloß mit der religiösen Umwelt des entstehenden Christentums, sondern mit allem, was Religion heißt und zu heißen verdient, erledigt werden kann".125 Eine Forschungsreise in die östlichen Mittelmeerländer gab diesen Studien neue starke Impulse und die von ihm unter seinem spezifisch religionsgeschichtlichen Aspekt gesammelten und gesichteten Ergebnisse bedeuteten einen wesentlichen Fortschritt in der Erkenntnis und im Verständnis der eigentümlichen Besonderheit des orthodoxen Christentums der Ostkirche. Es war nur scheinbar ein Überspringen in ein fremdes Interessengebiet, wenn er sich auch an der damals lebhaft aufbrechenden Diskussion über das grundsätzliche Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion beteiligte; denn die Naturwissenschaft hatte es ihm von früh auf angetan, und, zutiefst davon überzeugt, daß es nicht angängig sei, „in einer entwicklungsgeschichtlichen Naturauffassung an sich etwas Widerreligiöses oder den Ruin des Chri122 123 124 125

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H. Wobbermin: Philosophen-Lexikon II. S. 902. Vgl. H. Wobbermin: Philosophen-Lexikon II. S. 902. K. Beth, in: Rel. Wiss. i. Selbstdaist. II (1926) S. 7 (7). K. Beth, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. II S. 10 (10).

stentums zu sehen",126 sah er es als die vordringliche Aufgabe an, „positiv zu zeigen, welche Bereicherung das Christentum durch die Benützung der entwicklungsgeschichtlichen Naturauffassung gewinnen kann".127 Doch trat dieser Fragenkomplex trotz aller weitergehenden Beschäftigung mit ihm späterhin wieder zurück, und das zuerst aufgegriffene Thema behielt in breiter Variation für den 1906 nach Wien Berufenen den Vorrang. Unter dem kirchenhistorisdien Nachwuchs dieses Jahrzehntes ragte als die bedeutendste und wirkungskräftigste Gestalt als Gelehrter Karl Holl (1896) hervor, den Harnack zunächst als wissenschaftlichen Hilfsarbeiter der Akademie, dann als Privatdozent und schließlich als Inhaber eines zweiten kirchengesdiichtlichen Lehrstuhles für Berlin (1906) zu gewinnen vermochte. Seine eigentümliche Fähigkeit lag nidit in der zusammenfassenden Gesamtdarstellung großer Perioden der Kirchen- und Dogmengeschichte; aber seine Begabung erschöpfte sich auch nicht in der philologisch wie theologisch sicher versierten Kunst der Edition und Kommentierung schwierigster altkirchlicher Texte, in der er auf Grund umfassender Kenntnis, kritischer Verarbeitung und sachlich-inhaltlicher Beherrschung des Quellenmaterials als Mitarbeiter an der Berliner Ausgabe der griechischen Kirchenväter seine technisch-wissenschaftliche Meisterschaft bewies. Vielmehr bot die weitausgreifende Beschäftigung mit den Texten seinem in die Tiefe bohrende Geiste mannigfaltige Anregung, einer Fülle kirchen- und dogmengeschichtlicher Einzelprobleme nachzugehen, die er in grundlegenden, stets neue Erkenntnisse vermittelnden Untersuchungen behandelte, so daß sie in weiträumiger Thematik zusammengefaßt ihren monographischen Charakter zu verlieren scheinen, um jeweils das innere Gefüge übergreifender theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Zusammenhänge in wesentlichen Zügen darzustellen. Das gilt vornehmlich von seinen mit besonderer Liebe und Sorgfalt gepflegten Studien zur östlichen Kirche von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein. Das trifft erst recht auf den Lutherband seiner gesammelten Aufsätze zu, den man als „eine an Luther orientierte Geistesgeschichte des Abendlandes vom Mittelalter bis in die Gegenwart"128 bezeichnet hat. Ebenso das Werk des kritischen Historikers wie des systematischen Denkers wie des selbst um die Möglichkeit des Lebens vor Gott ringenden Christenmenschen hat dieses Buch die Lutherforschung überaus reich befruchtet, ja, vom Zentrum des RechtfertigungsK. Beth, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. II S. 12 f. (12 f.). K. Beth, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. II S. 13 (13). 1 2 8 H. Lietzmann: Gedächtnisrede auf K. Holl, in: Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften Jg. 1927 Phil.-Hist. Klasse S. XCIV. 126

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gedankens aus den Weg zu einem neuen Lutherverständnis gewiesen, das nicht nur das von Troeltsdi gezeichnete Bild des Reformators von Grund auf revidierte, sondern den Mann und sein Werk in ihrer ebenso weittragenden wie umfassenden geschichtlichen Bedeutsamkeit in einer einprägsamen Weise einsichtig machte und darüber hinaus in einem ungeahnten Ausmaße wieder gegenwartsmächtig werden ließ. Es war die genuine Leistimg eines in methodischer Quellenarbeit geschulten Historikers, dessen menschlich-persönlidie Eigenart ihm den Blidc für den unruhigen Zwiespalt der Seele wie den tiefen Kontrast des Weltgeschehens schärfte, der selbst die unbegreifliche Paradoxie des christlichen Gottesgedankens als die Wahrheit ernst nahm und von daher gerade diese Quellen wieder zum Reden brachte, wie damals keiner neben ihm. Es wurde eben aus der persönlich-wissenschaftlichen Sachlichkeit heraus der wirkungsvolle Gegenschlag gegen die mancherlei extensiv wie intensiv gerichteten Strömungen in der Theologie, zumal gegen alle einseitig religionsphilosophische Orientierung und wurde der kräftige Impuls zur Entfaltung eines unkonfessionellen Luthertums. Mag das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Arbeit, von seinen Schülern zumal auf dem Gebiete der Lutherforschung und Reformationsgeschichte weitergeführt, in mancher Hinsicht einer tieferen Korrektur bedürfen als es zunächst erscheinen mochte, über alle noch so gewichtige Einzelleistung hinaus „bewährte er in den neuen schweren Kämpfen wiederum die Kirchengeschichte als ein wesentliches Glied im Rüdegrat der Theologie".129 Der christlichen Archäologie war, als das mit der Leitung des „christlichen Museums der Universität" verbundene Extraordinariat nach Pipers Tode neu besetzt wurde, mit Nicolaus Müller (1890) kein so hoch qualifizierter Vertreter beschieden, daß er neben Hamack und später Holl der jungen, noch um ihre Anerkennung ringenden Hilfsdisziplin durch überragende Leistungen die gebührende Beachtung hätte verschaffen können. Als einem die monumentalen Quellen für die Kirchengeschichte auswertenden Arbeitsgebiet war ihr in dem wissenschaftlichen Betrieb der Theologie bisher ein Dasein noch immer nur am Rande konzediert, und es mußte die Arbeit Müllers sehr erschweren, daß insbesondere Harnade die Bedeutung dieses Forschungszweiges nicht ernstlich zu würdigen vermochte. Trotzdem hat sich auch der Nachfolger und Schüler Pipers durch seine Veröffentlichungen wie seine Lehrtätigkeit als einer der Pioniere der christlichen Archäologie an den Theologischen Fakultäten bewährt, und er hat durch den konzentrierten Ausbau des Berliner Institutes die Möglichkeit der Einführung in dieses Spezialstudium nachhaltig gefördert, dessen Berechtigung und Notwendigkeit er ungeachtet 129

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Stephan: Geschichte der ev. Theologie S. 267.

aller Widerstände nicht müde wurde darzutun. Das Schwergewicht seiner Forschung und literarischen Produktion verlagerte sich freilich — nicht ohne den leichten Drude seines Lehrauftrages — mehr und mehr auf die Arbeit über spezielle Fragen der Reformationsgeschichte und auf editorische Aufgaben, die seiner sorgsamen Gründlichkeit ein gutes Zeugnis ausstellen. Sehr viel leichter konnte glücklicherweise Karl Schmidt (1899) sein Spezialistentum als Koptologe an der Fakultät entfalten. Er stieß über der Beschäftigung mit koptischen Texten von der Ägyptologie zur Theologie und wurde als wissenschaftlicher Beamter der Akademie nicht nur auf diesem Sondergebiet eine geradezu unersetzliche Hilfe Harnacks bei der Heravisgabe der griechischen Kirchenväter. Er ist im Grunde auch als Kirchenhistoriker Ägyptologe geblieben; aber in seinen gelehrten Textausgaben ging es ihm doch nicht allein um die Entzifferung und Ubersetzung der Vorlagen, die eine seltene Fähigkeit kluger Kombination erkennen ließen, sondern nicht minder um eine sachliche Kommentierung, die seine eigene Kenntnis der kirchen- und dogmengeschichtlichen Zusammenhänge wie der Details auch auf abseitigen bzw. umstrittenen Gebieten unter Beweis stellte. Daß er dank einem guten Spürsinn viele Papyri selber entdeckte und die deutschen Altertumssammlungen seinem geübten Blick für das Echte und Wertvolle manchen kostbaren Besitz verdanken, sei zumindest vermerkt. Endlich habilitierten sich als Nachwuchskräfte für Kirchengeschichte noch Heinrich Karl Gisbert August Voigt, Paul Johannes Gennrich, und in dem gleichen Jahr, in dem Holl in eine neu errichtete Professur für Kirchengeschichte nach Berlin zurückberufen wurde, Leopold Zscharnack. Voigt (1892) hat sein Interesse vornehmlich der Missions- und Entwicklungsgeschichte des frühmittelalterlichen Christentums im mitteldeutschen Räume zugewandt und in minutiöser Kleinarbeit sorgfältige Einzeluntersuchungen geführt. Schon nach drei Jahren folgte er einem Rufe nach Königsberg. Nicht sehr viel länger gehörte Gennrich (1896) zur Fakultät, trat dann jedoch in den Kirchendienst über und übernahm hier bald leitende Funktionen, nicht ohne damit immer wieder die Lehrtätigkeit an einer Universität als Professor für praktische Theologie zu verbinden. Zscharnadk (1906) dagegen blieb bis 1921, in dieser Zeit zunächst hauptsächlich mit Studien zur Theologiegeschichte der Aufklärung beschäftigt, deren Ergebnisse er weniger in selbständigen Monographien als in teilweise recht eingehenden und umfassenden Einleitungen und Anmerkungen zu Editionen (Tolland, Lessing, Locke) vorlegte, und mit Untersuchungen zur brandenburgischen Kirchengeschichte. Im ganzen war für seine Arbeit aber die starke Beteiligung an organisatorischen

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Aufgaben des Wissenschaftsbetriebes diarakteristisch, die ihn nicht nur als Herausgeber einer Reihe von kirchengeschichtlichen Fachzeitschriften tätig sein, sondern nach dem Ausscheiden von F. M. Schiele als des grundlegenden Organisators die verantwortliche Leitung des Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" übernehmen ließ, das als theologisches Standardwerk die ganze Breite der neuen theologischen Ansätze auf allen Fachgebieten zum Ausdruck brachte. Für das Alte Testament war Hermann Gunkel (1894) in ein Extraordinariat berufen worden, obschon selbst von der Goltz die Besorgnis geäußert hatte, daß „die Neigung Gunkels, sich in kühnen Hypothesen und Kombinationen zu ergehen",130 Verwirrung unter den Studenten anrichten könne, und der Evangelische Oberkirchenrat ausdrücklich erklärte, daß sein Einverständnis jetzt nicht auch schon die Zustimmung zu einer eventuellen Berufimg in ein Ordinariat bedeuten solle. Der Anlaß zu der erneuten Unruhe über die Entwicklung der Fakultät lag darin, daß in Gunkel als einem der Begründer der „religionsgeschichtlichen Schule" ein Vertreter der neuesten theologischen Strömung nach Berlin kam, die sich noch einen Schritt weiter vom kirchlich-positiven Christentum zu entfernen schien. Denn sie forderte die volle Unabhängigkeit der historisch-kritischen Exegese von jeder systematisch-dogmatischen Beeinflussimg, strebte über das auch die jüngere Bibelwissenschaft noch beherrschende Prinzip der Texterklärung hinaus, das nur den nächstliegenden Sinn im Zusammenhange der Zeitgeschichte zu erheben trachtete, und wollte die zeitlich-sachlich den gegebenen Texten vorauf- und zugrunde liegenden Vorstellungen und Gestaltungen der israelitisch-jüdisch-christlichen Religion aufdecken. Nicht zufällig setzte Gunkels Bemühen um ein konsequent historisches undogmatisches Erfassen der Herausbildung im Christentum lebendiger Gedankenkreise bei der Nahtstelle der jüdischen und christlichen Religion, d. h. in den vier Jahrhunderten um Christi Geburt ein und kennzeichneten dann weiterhin die Kommentare zur Genesis und zu den Psalmen das vornehmliche Interessengebiet seines Forschens wie sie Kristallisationspunkte seines literarischen Schaffens wurden. Blieb auch die innertheologische Fragestellung für ihn immer bestimmend und seine Aufmerksamkeit auf die geschichtliche Eigenbewegung der israelitisch-jüdischen Religion im Blick auf das Christentum gerichtet, so nötigte die traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise bei ihrem Vorstoß bis in das Geheimnis der Mythenbildung und der Verwandtschaft von Ur- und Endzeitmythus doch, auch auf die Parallelerscheinungen der religiösen Umwelt zu achten, deren Kenntnis durch die eben damals mit immer neuen Entdeckungen aufwartende 130

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P. Gennrich und E. v. d. Goltz: Hermann v. d. Goltz S. 118.

Erforschung der babylonisch-assyrischen, ägyptischen und hellenistischen Kulturen vermittelt wurde. Folgerichtig traten für ihn wie für die ganze religionsgeschichtliche Schule — durch Herder, die Romantik u. a. angeregt — neben die großen religiösen Gestalten und schriftstellerischen Persönlichkeiten die sie produktiv wie rezeptiv tragenden anonymen Schichten, gewannen als solche auch eine bis in die mündliche Überlieferung zurüdcreichende literarische Funktion, deren Äußerungen man mit der Frage nach dem „Sitz im Leben" durch die Methode der Gattungs- und Formgeschichte näher zu kommen suchte, um schließlich, nach dem Beispiel der Neutestamentler, die bisherige „Einleitung in das Alte Testament" zu einer „Israelitischen Literaturgeschichte" zu erweitern, wie es Gunkel erstmalig unternahm. Er ist mit den Tendenzen und Ergebnissen seiner Arbeit auf viel Mißverständnis und Widerstand von rechts und links gestoßen, da man einerseits sehr wohl empfand, welche Zuspitzung die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte, damit nach dem Absolutheitsanspruch des Christentums hierdurch erfuhr, andererseits sich von der historisch-kritischen Wissenschaft her Bedenken gegen die vermeintliche Gefährdung der exakten Tatsachenforschung durch die auf vage Motiv-Analyse sich stützenden hypothetischen Rekonstruktionen geschichtlicher Zusammenhänge erhoben. Doch durfte er noch erleben, daß seine grundsätzlichen Forderungen und wesentliche Ergebnisse seiner Arbeit weithin Gemeingut der theologischen Wissenschaft zu werden begannen und auch eine breitere geistig interessierte Öffentlichkeit sich ihm erschloß, wenn er ihr zuliebe in manchen Publikationen auf die streng fachwissenschaftliche Form verzichtete. Freilich, obwohl die Zeit seines Wirkens in Berlin zu den fruchtbarsten seines Schaffens gehörte, blieb ihm ein Ordinariat hier versagt. Als Nachfolger Dillmanns war, nachdem Kautzsch abgelehnt hatte und die schon vollzogene Ernennung Baudissins auf dessen Wunsch wieder rückgängig gemacht worden war, Friedrich Wilhelm Adolf Baethgen (1895) berufen worden, dem das Votum der Fakultät außer einer „gründlichen Sicherheit in den verwandten Sprachen" und neben „einer Reihe von Abhandlungen zur philologischen Seite der alttestamentlichen Exegese" und „den verdienstvollen Beiträgen zur semitischen Religionsgeschichte"' zumal seinen Psalmenkommentar als „eine in Form und Inhalt musterhafte Arbeit" nachrühmte, „welche bei aller Gedrängtheit keine wesentliche Frage der historischen wie der Textkritik außer acht läßt, besonnen und doch bestimmt in ihren Entscheidungen ist, genau in der Feststellung des Wortsinnes und feinfühlig in der des Sinnverständnisses".131 Dieses Votum zeigt wie überhaupt die ganze Vorschlagsliste, daß 131

Akten der Kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. Theol. Fak. H No 1 Vol. II Nr. 122. 93

es der Fakultät bei der Besetzung des verwaisten Lehrstuhles darauf ankam, einen gründlichen Gelehrten zu bekommen, der den mächtigen Fortschritten der Wissenschaft vom Alten Testament aufgeschlossen genug gegenüberstand, um über Dillmanns Position hinauszuführen, und der es doch aus einer theologisch nicht so exponierten Haltung heraus vermied, den jeweils neuesten Ideen und Methoden zu huldigen. Nur hat Baethgen infolge seiner Erkrankung keinen sonderlichen Einfluß auf den wissenschaftlichen Betrieb der Berliner Fakultät mehr ausüben können und ist auch bald ganz ausgeschieden. Bei der Erörterung über die Besetzung einer zweiten alttestamentlichen Professur neben der des zunächst nur langfristig beurlaubten Baethgen zog die Fakultät auch die Berufung Gunkels in Erwägung und brachte in einem Proömium ihres Votums seine Qualifikation für ein Ordinariat unumwunden zum Ausdrude. Aber mit Rücksicht auf den in jeder Hinsicht älteren Extraordinarius Strack, dem man diese Befähigving nicht zuerkannte und den man durch die Bevorzugung des Jüngeren nicht vor den Kopf stoßen wollte, sah man davon ab, Gunkels Namen auf die Liste selbst zu setzen. Wieweit diese Form der Empfehlung nur oder auch eine taktische Maßnahme war, seiner etwaigen Einsetzung in Berlin vorzubeugen, ist schwer auszumachen; sicher war der Majorität ein Mann wie Wolf Wilhelm von Baudissin (1899), der dieses Mal dem Rufe folgte, willkommener, da er einerseits dem historisch-kritischen Denken innerlich stärker verhaftet war als Baethgen, andererseits wissenschaftlich konservativer und theologisch positiver eingestellt war als Gunkel. Eigentliches Objekt seiner Forschung waren die Religionen der semitischen Völker, unter ihnen vornehmlich die israelitisch-jüdische Religion, und er besaß eine sonderliche Gabe, sich in die hier lebendige Welt religiöser Vorstellungen wie in den Gehalt ihrer kultischen Ausdrucksformen einzufühlen, dabei immer sorgsam bedacht, der Gefahr subjektivistischer Interpretation zu entgehen. In bewußter Anknüpfung an die bisherigen Leistungen der historischen und literarischen Kritik hat er auf der Grundlage exakter quellenkritischer Untersuchungen, die von den Fragen der Textüberlieferung, der grammatischen und exegetischen Behandlung der literarischen Zeugnisse, der Berücksichtigung des archäologischen Materials bis zu begriffs- und bedeutungsgeschichtlichen Erörterungen reichten, eine rein historische Arbeitsweise der Religionswissenschaft angestrebt. Er wollte Religionshistoriker im prägnanten, bzw. modernen Sinne des Wortes sein, wandte sich daher gegen jede „Vergewaltigung der Geschichte durch spekulative Tendenzen, mögen sie einer theologischen oder philosophischen Systematik entstam94

men", 132 nidit minder auch gegen „die anthropologische Methode, die analoge religiöse Erscheinungen aus allen Völkern und aus allen Zeiten um ihrer selbst willen sammelt".133 Es ging ihm gerade in der Erkenntnis des Zusammenhanges der alttestamentlichen Religion mit den Religionen der anderen semitischen Völker recht eigentlich um die sachliche Erfassung der Religion, „welche Israel im ganzen seiner Geschichte als ein Geschenk erhalten, nicht als eigenes Werk gestaltet hat". 134 Und es lag eben darin mit begründet, wenn er sich insbesondere mit der Gottesvorstellung als dem Zentrum aller Religion beschäftigte und die für sie konstitutiven Elemente zu eruieren trachtete. Daß Baudissin bei seiner Anschauung von Wesen und Aufgabe der Religionsgeschichte der speziell so genannten „religionsgeschichtlichen Schule" zumindest mit kritischer Reserve gegenüberstand, kann nicht Wunder nehmen. Doch war deren wissenschaftliche Leistungskraft auf alttestamentlichem Gebiete durch Gunkel so überzeugend dargetan, daß die Fakultät in das durch Gunkels Fortgang nach Gießen freigewordene Extraordinariat wieder einen jungen Gelehrten zu berufen sich entschloß, der in ähnlicher Weise Baudissins Wirken zu ergänzen fähig war: Hugo Greßmann (1907). Aus der Schule Wellhausens hervorgegangen hatte er sich der neuen Forschungsrichtung angeschlossen und ist er zu einem ihrer vielseitigsten, anregendsten und einflußreichsten Vertreter in der zweiten Generation herangewachsen. Bei aller Akribie und kritischen Verstandesschärfe, die er in der Detailuntersuchung wie bei der Behandlung weitschichtiger Probleme bewies, war er weniger der Typ des um minutiöse Kleinigkeiten ringenden, sorgsam alle Möglichkeiten abwägenden Forschers, der nur mit vorsichtiger Zurückhaltung die gesicherten Einzelheiten zu einem mehr oder minder hypothetischen Ganzen fügt, als daß er zu raschen kühnen Kombinationen neigte, alles Neue ihn zu unmittelbarer Stellungnahme reizte, ihm zur Bestätigung seiner Ideen dienen mußte oder Anlaß zu weiterführenden Thesen wurde. Eine starke Rezeptivität verband sich in ihm mit großer Produktivität und ließ ihn auch da, wo er fremde Anregungen aufgriff, zu eindrucksvollen Leistungen aus eigenem Wissen, Forschen und Erkennen gelangen. Aus der Einsicht in das tief und weit verzweigte Wurzelgeflecht der religiösen Welt des Alten Testaments ergab sich ihm die Unzureichendheit der bloß literarkritischen Betrachtungsweise und die zwingende Notwendigkeit, der historischen Genesis, Fortbildung und Umformung der Gedanken 132 O. Eißfeldt: Vom Lebenswerk eines Religionshistorikers, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländisdien Gesellschaft N. F. V. (1926) S. 108. 133 O. Eißfeldt: Vom Lebenswerk eines Rel.Hist. S. 109. 134 O. Eißfeldt: Vom Lebenswerk eines Rel.Hist. S. 99.

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und Vorstellungen im Zusammenhange der altorientalisdien Umwelt nachzugehen, ohne der israelitisch-jüdischen Religion von vornherein ein Privileg zu konzedieren. Ob er nun die Heils- und Unheilseschatologie bis auf die alte Volksreligion zurückführte oder die Mosesagen auf ihren profan- wie religionsgeschichtlichen Gehalt untersuchte oder die „Altorientalischen Texte und Bilder zum Alten Testament" zusammenstellte, um dessen Nähe und Distanz zu den „Nachbarreligionen" anschaulich zu machen, grundsätzlich war es sein Bestreben, gegen die Isolierung des Alten Testamentes von der übrigen orientalischen Literatur anzugehen. Er wollte das gewiß nicht im Sinne einer Nivellierung verstanden wissen und anerkannte durchaus die durch den sachlichen Bezug von Altem und Neuem Testament gegebene Besonderung der israelitischjüdischen Religion inmitten der semitischen Welt. Aber sein vornehmliches Interesse galt nicht der spezifisch theologischen Fragestellung, die sich auf das Singulare des Offenbarungsgeschehens konzentriert, oder zutreffender, der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit lag in der Untersuchung der Frömmigkeitsgeschichte, wie sie als Entwicklungsgeschichte der religiösen Formen und Inhalte von der religionsgeschichtlichen Schule geübt wurde. Und unter diesem vorwiegend religionsgeschichtlichen Aspekt bemühte er sich auch, dem modernen Menschen die ihm weithin fremd und unverständlich gewordene religiöse Welt des Alten Testamentes wieder nahezubringen, sah er doch in der Vermittlung solcher neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gerade seiner Disziplin eine vordringliche Aufgabe gestellt, der er selber durch mancherlei Veröffentlichungen und eine reiche Vortragstätigkeit auch im Ausland gerecht zu werden suchte. Die vielseitige Aktivität, die geistige Spannkraft und der wissenschaftliche Eros des früh aus seinem Schaffen gerissenen Mannes bekundete sich nicht zuletzt auch darin, daß er dem Institutum Judaicum, dessen Leitung er nach dem Tode Stradks übernahm, alsbald eine neue Richtung wies und neue Aufgaben stellte, obwohl ihm dieses spezielle Gebiet der Wissenschaft vom Judentum bis dahin ziemlich fern gelegen hatte. Angesichts der aktiven Beteiligung der Fachvertreter am Aufschwung und Fortschritt der alttestamentlichen Forschung, auch im Blick auf die Frequenz der Hörer mag die unverhältnismäßig geringe Zahl der Habilitanden seltsam anmuten; denn in den beiden Dezennien um die Jahrhundertwende erfolgte nur je eine Habilitation, nämlich 1898 — nach 23jähriger Pause — die von Immanuel Benzinger und 1906 die von Friedrich Küchler. Benzinger hatte sich bereits als gründlicher Kenner Palästinas ausgewiesen und in seiner „Hebräischen Archäologie" eine die auf diesem Gebiete der alttestamentlichen Wissenschaft neugewonnenen Einsichten zusammenfassende und weiterführende Darstellung 96

gegeben, als er in den Lehrkörper eintrat. Er hatte sich dem weiteren Kreise der Anhänger Wellhausens angeschlossen und ließ das auch in seiner die Berliner Jahre wesentlich füllenden Mitarbeit an dem Martischen Kommentarwerk deutlich werden, bei der freilich das religionsgeschichtliche Element noch stark zurücktrat und auch offenbar wurde, daß die „biblische Theologie" nicht gerade seine starke Seite war. War er auch mehr darauf angelegt, neue Gedanken aufzugreifen und auszuwerten als selber originale Ideen zu entwickeln, so hat er doch damals bei seinen Fachgenossen weithin Anerkennung für seine wissenschaftlichen Beiträge gefunden. — Küchler hingegen kam von der Assyriologie her und man gab sich der Hoffnung hin, daß er seine Kenntnisse auf diesem Gebiete ausweiten und in den Dienst der Erforschung des Alten Testamentes stellen würde; doch blieb ihm, nicht zuletzt unter der Ungunst der Verhältnisse, eine reichere Wirksamkeit versagt, und er ist als Wissenschaftler nicht sonderlich mehr hervorgetreten. Eine ähnliche Zurückhaltung zeigte sich in der neutestamentlichen Disziplin, wo sich — 15 Jahre nach Gräfe — erst Heinrich Weinel wieder im Jahre 1899 habilitierte. Von Pfleiderer, Harnack und Gunkel in die Weite einer dogmatische Bindungen möglichst abstreifenden Theologie und zugleich in die Freiheit und Strenge modemer kritischer Forschung eingeführt, wurde der junge Dozent, ohne seine Selbständigkeit aufzugeben, wohl einer der echtesten Repräsentanten des Geistes, der am Ausgang des Jahrhunderts in der Berliner Fakultät maßgeblichen Einfluß gewann. Auf der Grundlage einer exakten kritisch-philologischen Beschäftigung mit den Texten suchte er sie nicht nur allgemein als religionsgeschichtliche Dokumente einer vergangenen Zeit mit feinem psychologischen Einfühlungsvermögen sich und anderen verständlich zu machen, sondern sie in ihrer Besonderung als Zeugnisse der Frömmigkeit christusgläubiger Menschen inmitten ihrer Welt der Gegenwart nahezubringen, um eben in der wirklichkeitsgetreuen Darstellung ihres Redens und Handelns die actio dei in der Reaktion des Menschen transparent werden zu lassen. In Berlin tat er freilich nur die ersten Schritte zu seinem erfolgreichen Wirken als Forscher und Lehrer, da er nicht lange nach seiner Habilitation schon nach Bonn ging. Gustav Hoennicke, der sich wenige Semester nach Weinel habilitierte (1901), hat geraume Zeit länger auf einen Ruf warten müssen; dodi hat er sich in diesen Dozentenjahren mehr und mehr aus den engeren Bindungen an seinen Lehrer Bernhard Weiß gelöst, und ist er in zunehmendem Maße auf die neuen Ergebnisse und Methoden, die neu gesteckten Ziele und anders orientierten Aufgaben der Forschung eingegangen, obschon er die Wendung zur „urchristlichen Religionsgeschichte" nur mit zurückhaltendem Bedacht vollzog. Ein konservatives Element blieb seiner Arbeit bei aller Bereit 97

schaft zur Anerkennung der veränderten wissenschaftlichen Situation immer eigen und die Abneigung gegen konstruktive oder kritische Hypothesen verengte ihm in der Beschränkung auf die isolierte Lösung begrenzter Detailfragen die volle Sicht der aufgeworfenen Probleme. Ob und inwieweit die geringe Zahl der Habilitationen von den jeweiligen Inhabern der zunächst doch zuständigen Ordinariate abhängig war, muß eine offene Frage bleiben. Die Bemerkung von Bernhard Weiß zu Ernst von Dobschütz, als dieser sich in Berlin für Neues Testament habilitieren wollte, ist vielleicht doch beachtenswert: „Das Neue Testament sei die Gemeindewiese, auf der jeder seinen Hammel weiden lasse, und 13 Hammel weideten schon."135 Auf jeden Fall aber erwies es sich als notwendig, die verantwortliche Vertretung der neutestamentlichen Disziplin, die Bernhard Weiß und neben ihm Pfleiderer über drei Jahrzehnte hindurch wahrgenommen hatten, ungeachtet ihrer verdienstvollen Leistungen endlich einem jüngeren Gelehrten zu übertragen. Weiß selber hatte sich trotz einem ihm wohl bewußten theologischen Dissensus für Adolf Deißmann (1908) als seinen Nachfolger ausgesprochen und damit die Berufving eines Forschers unterstützt, der die an der literarischen Formel und am abstrakten Lehrbegriff orientierte „doktrinäre Methode der neutestamentlichen Wissenschaft"136 zu überwinden trachtete. Schon früh durch ein starkes Interesse für die Umwelt des Neuen Testamentes bestimmt und durch seine ersten selbständigen Studien zur Entdeckung der in den Papyri, Ostraka, Inschriften usf. sich darbietenden „unliterarischen Reste" dieser Umwelt geführt, bemühte Deißmann sich um die „Säkularisation der dogmatischen Philologia sacra",137 das hieß um den unmittelbaren Zugang zu der ursprünglichen Lebendigkeit und sprachlich-sachlichen Eigenwüchsigkeit des „Bibelgriechisch". Und im Zuge solchen Strebens nach einem wirklichkeitsnahen Verstehen der frühen christlichen Dokumente aus den äußeren wie inneren Voraussetzungen ihres Entstehens stellte er dann weiter die — grundsätzliche hermeneutische Probleme aufwerfende — Frage nach dem „Charakter der uns literarisch überlieferten .Briefe' des Neuen Testamentes, besonders des Paulus".138 Seine Erkenntnis, daß Paulus kein schriftstellernder Epistolograph sondern wirklicher Briefschreiber sei und „seine im Neuen Testament nachträglich durch Sammlung und Vervielfältigung zur Literatur und durch Kanonisierung zur heiligen Literatur gewordenen Briefe . . . die unliterarischen ,Überreste' 135 136 137 138

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E. v. Dobschütz, in: Reí. Wiss. i. Selbstdarst. IV. S. 33 (3). A. Deißmann, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. I. (1925) S. 61 (19). A. Deißmann, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. I. S. 62 (20). A. Deißmann, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. I. S. 55 (13).

der ältesten apostolischen Kultpropaganda" 139 seien, bahnte ihm den Weg zur selbständigen Beantwortung mancher Einleitungsfragen, vor allem aber zu einer „psychologisch reproduzierenden Exegese".110 Das um so mehr, als sich damit sein „Verständnis der empirischen Religion als einer zunächst nicht theoretischen, sondern praktischen Angelegenheit" verbinden ließ, sein „Verständnis des Kultischen und des Mystischen, insbesondere der zentralen Bedeutung des Christuskultes und der Christusmystik von der Apostelzeit bis heute". 141 Und zwar im scharfen Protest gegen eine Auffassung, die „die religiösen Seeleninhalte vorwiegend in ihrem zweiten Stadium, in dem Stadium der Reflexion der ,Weltanschauungs'- und Systembildung betrachtet, „aus Propheten Theologen, aus Frömmigkeit ein Lehrbuch von Ismen, aus Mystik Dogmatik"142 macht. Neben die Aufgabe der Verweltlichung „des künstlich sakral gemachten Griechisch der Bibel" trat so für ihn die der „Entweltlichung unserer religionsgeschichtlichen Betrachtimg des Christentums und der Religion überhaupt, 143 wobei er Religionsgeschichte wesentlich als „Kultgeschichte" verstanden und von daher Christusmystik und Christuskult als den Mittelpunkt zumal der paulinischen Frömmigkeit angesehen wissen wollte. War das Ergebnis seiner Arbeit inmitten der von der religionsgeschichtlichen Schule ausgelösten Diskussion auch nicht so epochemachend wie er selber es gewünscht hätte, so brachten seine Untersuchungen doch methodisch wie thematisch eine die Debatte durch neue Gesichtspunkte belebende Ausweitung der neutestamentlichen Wissenschaft und fanden auch im Auslande mancherlei Widerhall. Wenn er sich im übrigen im sonderlichen Maße der ökumenischen Arbeit hingab und sich ernsthaft mit der sozialen Frage beschäftigte, dann hing auch das zutiefst mit seiner wissenschaftlichen Problemstellung zusammen und stand in befruchtender Wechselwirkung mit dem Verständnis seines Amtes als eines kirchlichen Theologen und akademischen Lehrers. Die praktische Theologie hatte im ganzen letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als personelle Veränderung nur die 1890 erfolgte Habilitation von Otto Baumgarten zu verzeichnen gehabt, der zudem noch im gleichen Jahre einem Rufe nach Jena gefolgt war, so daß er als akademischer Lehrer für Berlin kaum etwas bedeutet hat. Die Fakultät nutzte daher die Gelegenheit der Verhandlungen über die Nachfolge Schlatters, darauf hinzuweisen, daß ihr vordringlicher als die Berufimg eines dritten 139 140 141 142 143

A. Deißmann, A. Deißmann, A. Deißmann, A. Deißmann, A. Deißmann,

in: in: in: in: in:

Rel. Rel. Rel. Rel. Rel.

Wiss. Wiss. Wiss. Wiss. Wiss.

i. i. i. i. i.

Selbstdarst. Selbstdarst. Selbstdarst. Selbstdarst. Selbstdarst.

I. I. I. I. I.

S. 56 (14). S. 57 (15). S. 60 (18). S. 61 (19). S. 61 (19). 99

Systematikers die eines praktischen Theologen erschien, bzw. auch eines Ordinarius, der neben einem Lehrauftrag für Kirchengeschichte der Reformation und der neueren Zeit die praktische Theologie mit vertreten könnte. Sie fand mit ihren Wünschen damals kein Gehör; stärker als je, zuvor wuchsen ihr dann gerade für dieses Fachgebiet im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts jüngere Kräfte zu, die, wenn sie auch nicht selber durch grundlegende Forschungsarbeiten oder gar durch eigene Konzeptionen allgemein richtungbestimmend gewirkt haben, immerhin mit mehr oder minder großer Intensität auf die allgemeine Tendenz eingingen, der praktischen Theologie eine größere Lebensnähe zu geben. Denn die wachsende Einsicht in die mit der modernen Kulturentwicklung fortschreitenden kirchlichen und sozialen Nöte und der ernste Wille zu ihrer Behebung hatten fast zwangsläufig zu dem Bestreben geführt, die auf soziologischem, psychologischem, pädagogischem und sonstigen verwandten Gebieten gewonnenen Erkenntnisse der modernen Forschung auch für die grundsätzliche Ausrichtung und konkrete Gestaltung des kirchlichen Handelns an den Menschen der Gegenwart auszuwerten. Nur eine zureichende theologische Klärung der hier aufbrechenden Probleme ließ auf sich warten, wie besonders bei der Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse nach dem ersten Weltkriege zu Tage trat; und im Banne der theologischen Gesamtentwiddung fehlte der trotz allem traditionell gebundenen Disziplin noch die Kraft zu einem eigenständigen Erfassen ihrer Funktion innerhalb des Ganzen der Fakultät. So gesehen können die fünf Männer, die sich jetzt in kurzer Frist nacheinander für die praktische Theologie in der Berliner Fakultät habilitierten, bzw. in sie berufen wurden, ein ungefähres Bild von dem durchschnittlichen Niveau ihrer Disziplin in jener Zeit vermitteln. Friedrich Wilhelm Thümmel (1900) schied allerdings, ähnlich wie zuvor schon Baumgarten, im Jahre nach seiner Habilitation schon wieder aus, um eine Professur in Jena zu übernehmen, und hat in dieser kurzen Spanne kaum einen engeren Kontakt mit Dozenten und Studenten gefunden. In Eduard von der Goltz (1902) hingegen verbanden sich mit dem bleibenden Einfluß der leitenden Ideen seines Vaters die nachhaltigen Einwirkungen Harnacks und Kleinerts, die schon den Studenten und noch den jungen Dozenten in seiner wissenschaftlichen Entwicklung prägten. Was aber speziell die praktische Theologie sei und zu leisten habe, klärte sich ihm in eigener Weise vornehmlich in der positiv-kritischen Auseinandersetzung mit den Anschauungen eines C. J. Nitzsch und Kleinert, wenn er schließlich zu dem Ergebnis kam, daß ihre Arbeit grundsätzlich von dem Verständnis der Kirche als einer „menschlichen den Gesetzen mensch100

liehen Werdens und Wadisens unterworfenen Gemeinschaftsbildung"144 ausgehen müsse, die „ein transzendentes Fundament im geschichtlichen Evangelium und eine theologische Perspektive in der Vollendung des Reiches Gottes" habe und deren Organisation „nur die Verteilimg der in ihr vorhandenen Gaben und Aufgaben im Dienste des Reiches Gottes"145 sei, so daß sich ihm als die Aufgabe der praktischen Theologie ergab, „Grundsätze und Verfahrensweisen" zu lehren, „mit denen wir gestaltend in die erkannte Welt des kirchlichen Lebens eingreifen".146 Mag in diesen Formulierungen der tiefere religiöse wie theologische Gehalt der mit ihnen umschriebenen Anschauungen auch etwas verkürzt zum Ausdruck kommen, sie deuten doch in etwa die geistige Atmosphäre an, in der der oben erwähnte Rückgriff auf Psychologie, Soziologie usf. damals erfolgte. Zudem wird man nicht übersehen dürfen, wie stark auch bei v. d. Goltz die überkommene historische Orientierimg seiner Disziplin noch nachwirkte bis hin zu der Vorstellung, daß in der geschichtlichen Erforschung der kirchlichen Praxis ein vornehmlicher Erweis des wissenschaftlichen Charakters der praktischen Disziplin zu erkennen sei. Das galt im weitaus höheren Maße noch von Eduard Simons (1902), der von Bonn in eine außerordentliche Professur nach Berlin berufen wurde, ein feinsinniger Gelehrter und Praktiker, der mit dem ganzen Ernst sachlichen Beteiligtseins die aus der Geschichte des kirchlichen Lebens gewonnenen Erkenntnisse für die Lösimg der konkreten Aufgaben des praktischen Handelns in der Gegenwart unmittelbar fruchtbar zu machen suchte. Seiner rheinischen Tradition entsprechend stand im Vordergrunde seines theologischen wie kirchlichen Denkens der Gedanke der zentralen Funktion der Gemeinde, deren lebendige Initiative er gesteigert und deren ursprüngliche Selbständigkeit er vor einer katholisierenden Entmündigung durch irgendwelches Kircheninstitut unbedingt bewahrt wissen wollte. Sehr bewußt lag darum das Schwergewicht seiner historischen Studien auf der Erforschung des niederrheinischen Gemeinde- und Synodallebens und sie fanden ihre sachgemäße Ergänzung in den mancherlei Untersuchungen zu Fragen der gottesdienstlidien Ordnung, deren Struktur und Gestaltung, deren Verständnis und Übung echter Ausdruck der inneren Lebendigkeit der Gemeinde sein sollten. Ließ Simons gerade als praktischer Theologe bei aller Ausgeglichenheit etwas von dem besonderen Fluidum des in den westlichen Provinzen vorherrschenden, von reformierter Tradition mit bestimmten religiös144

W. Büldc: Eduard v. d. Goltz, in: Greifswalder Universitätsreden Nr. 51 (1939) S. 10. 145 W. Büldc: Eduard v. d. Goltz S. 10. 146 W. Büldc: Eduard v. d. Goltz S. 7. 101

kirchlichen Denkens und Empfindens in der Berliner Fakultät stärker spürbar werden, so brachte wenige Jahre später Gustav Kawerau (1908) wieder mehr eine vom lutherischen Kirchentum des Ostens geprägte Anschauungsweise zur Geltung, ohne daß freilich eine bewußte Konfrontation beabsichtigt oder erfolgt wäre, zumal Kawerau von seinen kirchlichen Amtern zu sehr in Anspruch genommen war als daß er sich neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten auch der akademischen Lehrtätigkeit noch intensiv hätte hingeben können. Seine Ernennung zum Honorarprofessor in Berlin war gleichsam nur eine verspätete Berücksichtigung des im Jahre 1898 von der Fakultät gemachten Sach- und Personalvorschlages,14' der inzwischen durch die Berufung von Simons für praktische Theologie und von Karl Holl für Kirchengeschichte gegenstandslos geworden, aber auch unabhängig davon angesichts des einsetzenden strukturellen Wandels der praktischen Theologie in dieser Form gar nicht wiederholbar war. Denn wie das umfangreiche literarische Werk Kaweraus unzweideutig zu erkennen gibt, war sein eigentliches Forschungsgebiet, auf dem er durch Monographien wie als Herausgeber Ansehnliches geleistet hat, die Geschichte der lutherischen Reformation, und zwar ohne besondere Bezugnahme etwa auf den spezifischen Problemkreis der praktischen Disziplin. Umgekehrt war er jedoch als praktischer Theologe ein bewußter Vertreter der historischen Schule, der in seiner Lehrtätigkeit gewiß nicht auf die Erörterung grundsätzlicher praktischtheologischer Fragen verzichtete, damit jedoch eine gewisse historische Lähmimg nicht schon überwand, wie sie für sein Fachgebiet noch weithin kennzeichnend war und die auch ihm ein fruchtbares Eingehen auf die längst unabdinglich gewordene Neuorientierung zumindest sehr erschwerte. Wollte die Fakultät für ihren Lehrbetrieb einen engeren Anschluß an die jüngste Entwicklung der praktischen Disziplin gewinnen, mußte sie sich um einen Mann bemühen, der eben auf die aus der Forderung nach größerer Gegenwartsnähe resultierenden Veränderungen in der Fragen- und Aufgabenstellung bewußt einging. Und es war wohl bezeichnend für das in ihr lebendige Interesse an der „sozialen Frage", daß sie Friedrich Mahling (1909) mit auf ihre Vorschlagsliste für den Nachfolger Kleinerts setzte, das heißt einen Theologen, „der als langjähriger Großstadtpfarrer seine Arbeit besonders auf die Mißstände und Gefahren konzentriert hatte, die sich aus der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben hatten" 148 der in gründlicher historischsystematische Beschäftigung mit dem Lebenswerke Wicherns dessen starke Anregungen theoretisch wie praktisch auszuwerten und in Kirche 147 148

102

Vgl. S. 99 f. Nach einem unveröffentlichten Votum.

und Welt zu mobilisieren trachtete, um die innere Bezogenheit von Volk und Kirdie in der „Volkskirche" durch die tätige Gestaltung des persönlichen wie gesellschaftlichen Lebens aus christlicher Verantwortung konkrete Realität werden zu lassen. Sein eigentliches wissenschaftliches Arbeitsgebiet blieb auch für den nach Berlin Berufenen die „Innere Mission", deren Geschichte er in souveräner Weise beherrschte, deren Wesen und Funktion klar herauszustellen er sich im engsten Anschluß an Wichern angelegen sein ließ, deren Berechtigung und Notwendigkeit in der selbständigen Erledigung ihres spezifischen Auftrages er bei aller Respektierung der Kompetenzen von Staat und Kirche mit Nachdruck betonte. Die Vielfalt der gerade von den neunziger Jahren an bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg sich immer weiter ausdehnenden Arbeitsgebiete (soziales Problem, Wohlfahrtspflege, Volksmission, Apologetik usf.) regte ihn immer aufs Neue zu grundsätzlichen Erörterungen an, die selbstverständlich auch den Unterricht des Universitätslehrers sonderlich befruchteten, zumal in der Behandlung der Seelsorge, der Homiletik und Katechetik sich unmittelbar auswirkten und über den Rahmen seiner speziellen Disziplin hinaus ihn an dem neu erwachenden Interesse der Theologie für die Grundlegung und Gestaltung einer christlichen Ethik lebhaften Anteil nehmen ließen. Blieb im Blick auf seine theologische Position auch unverkennbar, daß er unter dem Aspekt des theologischen Richtungsstreites als „Vertrauensmann der kirchlich Konservativen" nach Berlin gekommen war, so hat er doch nicht verleugnet, daß er durch die Schule Wilhelm Herrmanns hindurchgegangen war, und er hat sich stets eine große Offenheit gegenüber Andersdenkenden bewahrt, sie zu verstehen und ihren Anliegen gerecht zu werden.149 Die spannungsvolle Lebendigkeit und selbstbewußte Kraft des wissenschaftlichen Geistes der Berliner Fakultät zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließen ihre den Forschungsdrang weckende, zu selbsttätiger Mitarbeit anspornende Energie nicht zuletzt auch in der relativ großen Zahl der Habilitationen in den drei bis vier Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges wirksam in die Erscheinung treten. Zwar war es „ein Kennzeichen der kirchenpolitischen Lage Preußens um 1909",150 daß der Fakultät Ernst Troeltsch als Nachfolger Pfleiderers nicht zugestanden wurde, aber es war nicht minder kennzeichnend für den ernsten Willen zur Behauptung ihrer wissenschaftlichen Freiheit und Eigenständigkeit gegenüber sehr viel anders gerichteten Strebungen von außerhalb, schon daß die Fakultät, wohl wissend, was sie tat, Troeltsch überhaupt als Lehrer für die systematische Theologie nomi149 150

Die Christliche Welt Jg. 1933 Sp. 571 f. L. Zsdiamack, in RGG. I2. Sp. 919. 103

nierte, und dann, als ihr Vorschlag abgewiesen wurde, die Umwandlung der Professur in einen Lehrstuhl für allgemeine Religionsgeschichte beantragte, um auf diesem Wege wenigstens wieder ohne Beschränkung auf spezielle Interessen der einzelnen Disziplinen der christlichen Theologie in den weiten Raum der allgemeinen Religionswissenschaft vorzustoßen. Wenn man diesem Antrag der Fakultät willfahrte, mochte man sich daran erinnern, daß Harnack noch wenige Jahre zuvor die Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit, ja die Möglichkeit einer Einzelprofessur für allgemeine Religionsgeschichte ernsthaft in Frage gestellt hatte, und zugleich im Blick darauf, daß man Troeltsch mit seiner religionsphilosophischen Einebnung der christlichen Theologie in das allgemeine System der Geisteswissenschaften von der Fakultät ferngehalten hatte, ihr immerhin das Experiment einer solchen religionsgeschichdichen Professur konzedieren. Mehr als ein Experiment war es zunächst tatsächlich nicht. Denn so offensichtlich sich darin auch die offensive Stoßkraft einer sich ausweitenden Tendenz auf religionsgeschichtliche Forschung beleumden mochte und nun bis in den theologischen Forschungs- und Lehrbetrieb hinein Berücksichtigung verlangte, es fehlten in Deutschland vorerst noch die Männer, die den Anforderungen einigermaßen hätten genügen können, und es mußte die erste Professur für allgemeine Religionsgeschichte in einer deutschen theologischen Fakultät mit einem ausländischen Gelehrten Edvard Lehmann (1910) aus Kopenhagen besetzt werden. Schon zuvor in der deutschen wissenschaftlichen Literatur namhaft hervorgetreten und auch späterhin noch durch eigene Veröffentlichungen wie durch größere Gemeinschaftsarbeiten mit deutschen Theologen der deutschen Wissenschaft eng verbunden, blieb er in seinem Berliner akademischen Lehramt doch nur etwa zwei Jahre und ging bereits 1913 nach Lund. Mit seinem Fortgang aber erlosch die kaum begründete Professur für allgemeine Religionsgeschichte wieder und der Lehrstuhl wurde, da für Troeltsch noch immer kein Platz in der theologischen — wohl aber in der philosophischen — Fakultät der Berliner Universität war, durch Titius besetzt. Der soeben angedeutete Zustrom junger Kräfte verteilte sich auf alle Disziplinen. Für das Alte Testament habilitierte sich Otto Eißfeldt (1913), der sich die strenge literarkritisdie Forschungsweise der WellhausenSchule zu eigen machte und sie mit einem lebendigen Interesse für die Religionsgeschichte verband, wie sie ihm durch Baudissin nahegebracht wurde. Er schuf sich hier das solide Fundament, das ihm bei aller Aufgeschlossenheit für die etwa durch die form- oder traditionsgeschichtlichen Untersuchungsmethoden gewonnenen Einsichten die Sachlichkeit nüchternen Urteils ermöglichte, das ihn im wesendichen Mühen um die Gestalt wie den Gehalt des biblischen Textes die weit ausladende Fülle 104

modemer Erforschung der Welt und Umwelt des Alten Testamentes bereitwillig in Dienst nehmen ließ, ihm aber die Auslieferung des Alten Testamentes an eine anthropologische Religionsgeschichte ebenso unmöglich machte wie die Vergewaltigung durch einen theologischen Doktrinarismus dogmatischer, spekulativer oder sonstweicher Observanz. Als Neutestamentier traten kurz nacheinander Martin Dibelius und Otto Schmitz in den Lehrkörper ein. Dibelius (1910) hat recht eigentlich durch Harnack und Gunkel den inneren Kontakt mit der modernen theologischen Wissenschaft gefunden und sich „die historische Arbeit an der Geschichte des Christentums und somit auch am Urchristentum" 151 als seine Aufgabe stellen lassen. Er geriet dadurch in eine doppelte Spannung hinein: „ . . . die Spannung zwischen dem neu erarbeiteten wissenschaftlichen Verständnis des Christentums und dem väterlichen Glaubenserbe und die andere zwischen der historischen Arbeit Harnackscher Prägung und der ,religionsgeschichtlichen Methode"'. 152 Aber sie bildete für seine wissenschaftliche Arbeit ein ebenso konstitutives wie regulatives Element, wirkte maßgebend schon auf die Art seiner Fragestellung ein und formte bestimmend die methodische Ausrichtung seiner Forschung, die schließlich ihr Spezifikum dadurch erfuhr, daß Deißmann die sprachgeschichtlichen Studien des Habilitanden auf „die Frage nach der Schicht, der das urchristliche Schrifttum angehört, und nach seinem Verhältnis zur .großen' Literatur" 153 lenkte. Durch Gunkel schon über die bloße Literaturkritik hinausgeführt entwickelte er die stilgerechte Betrachtungsweise zur sogenannten „Formgeschichte", die insbesondere auch die soziologische Bedingtheit des neutestamentlichen Uberlieferungsgutes in Rechnung zu stellen gewillt war. Die spätere Lebensleistung von Dibelius ist letztlich eine Vertiefung, Entfaltung und Ausweitung der in den Berliner Dozentenjahren gewonnenen Grunderkenntnisse. Einen nach seiner ganzen inneren Struktur anderen Gelehrtentyp repräsentierte Otto Schmitz (1910). In der Atmosphäre der Frömmigkeit des Wuppertales erwachsen, war er in seiner theologischen Entwicklung durch Martin Kähler geprägt worden und dann als einer der ersten Assistenten Deißmanns am Berliner Seminar auf dessen Thematik und Methodik in der Erforschung des Neuen Testamentes eingegangen. Er hat sich von ihm entscheidende Hinweise für eine systematische Durchdringimg der Sprachgestalt zur Erfassung des Sachgehaltes mit allen Mitteln moderner philologischer Akribie geben lassen, ohne sich doch von der pointierten Einseitigkeit einer „Schule" abhängig zu machen und hat gleichsam durch seinen

151 152 163

M. Dibelius, in: Reí. Wiss. i. Selbstdarst. V (1929) S. 10 (10). M. Dibelius, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. V. S. 10 (10). M. Dibelius, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. V. S. 22 (22).

105 8 Elliger

„persönlichen Stil" davon zu überzeugen vermocht, daß es ihm in der kritischen Sachlichkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit einzig und allein um den Verkündigungsauftrag der Kirche zu tun war. In der kirchengeschichtlichen Disziplin erwarb die venia legendi neben Eugen Fischer (1910), der sie jedoch 1913 wieder niederlegte, um ganz aus der akademischen Lehrtätigkeit auszuscheiden, Hans von Soden (1910), der außer seinem Vater Hermann von Soden die stärksten Anregungen Adolf von Harnadc verdankte. Denn unter dessen Einfluß wählte der junge Dozent nicht nur die Geschichte des Urchristentums und der alten Kirche als sein eigentliches Arbeitsgebiet, wo er sich zunächst besonders mit Fragen des frühen Christentums in Nordafrika beschäftigte, sondern die geistesmächtige Bildungskraft des großen Lehrers prägte in hohem Maße auch das innere Verständnis des aufnahmebereiten Schülers für Sinn und Aufgabe der theologisch-wissenschaftlichen Arbeit so intensiv, daß sie auch in der selbständigen Entfaltung des Gelehrten und des Kirchenmannes bis zuletzt ihre deutlichen Spuren hinterließ. Dazu kam eine Veränderung in der Vertretung der christlichen Archäologie, als das durch den Tod von Nicolaus Müller verwaiste Extraordinariat durch Georg Stuhlfauth (1913) neu besetzt wurde, der freilich noch den Methoden und Prinzipien einer zu Ende gehenden Periode der christlichen Archäologie stark verhaftet blieb. Seine monographischen Arbeiten galten vornehmlich ausgewählten Themen der altchristlichen Ikonographie, griffen z. T. aber auch auf die Bildniskunst der Reformations- und Neuzeit über, ohne sich auf die Erörterung ins Grundsätzliche vorstoßender Fragen näher einzulassen oder in der Darstellung größerer Zusammenhänge neue Perspektiven zu eröffnen. Um so intensiver suchte er durch Übungen und Exkursionen eine lebendige Anschauung und ein echtes Verständnis der Denkmäler christlicher Kunst zu vermitteln. Auch Hermann Mulerts Lehrauftrag (1912) umfaßte, als er sich von Halle nach Berlin umhabilitierte, neben der systematischen Theologie die Kirchengeschichte; doch äußerte sich sein geschichtliches Interesse hier weniger in einer unmittelbaren Beteiligung an der Lösimg spezieller Aufgaben dieses Fachgebietes als vielmehr in der historischen Ausrichtung seiner Forschungsbeiträge zur systematischen Theologie. Und bald schon wurden die beiden Bereiche erkennbar, denen sich der selbständige Geist des kritischen Theologen mit besonderer Vorliebe zuwandte: die Theologiegeschichte des vergangenen Jahrhunderts mit starker Konzentration auf die Schleiermacherforschung und die wesentlich mit unter historischem Aspekt angegangene Konfessionskunde. Aber zugleich hielt er sich mit wacher Verantwortlichkeit ständig für die Gegenwartsaufgaben offen und erkannte seinen Beruf als Wissenschaftler nicht zuletzt auch in der klärenden Hilfestellung bei der Lösung der akuten Fragen in Kirche, 106

Staat und Gesellschaft, die ihn immer wieder auch zur publizistischen Tätigkeit innerlich geradezu genötigt haben. Wohl die stärkste Potenz unter den vier Nachwuchskräften für die systematische Theologie stellte Heinrich Scholz (1910) dar, der schon während der Berliner Dozentenzeit in seinen theologie- und philosophiegeschichtlichen Untersuchungen das starke religionsphilosophische Interesse zu erkennen gab, das ihn späterhin als Religionsphilosoph in die Philosophische Fakultät übergehen ließ. In seiner Arbeit verdichteten sich gleichsam jene Tendenzen der Vorkriegstheologie, die in dem Ringen des religiösen Geistes mit der modernen Wissenschaft und Bildung eine aufnahmebereite Offenheit zu wahren bestrebt waren und in lebendigem Kontakt mit dem System der Geisteswissenschaften der Frage nach dem verstehbaren Sinn der religiösen Erscheinungen nachgingen. Aber eben das nicht in selbstgewollter Preisgabe des Eigenrechtes und der Selbständigkeit der Religion, sondern in dem offenbaren Bestreben, ihre Unableitbarkeit vom Begriff der Offenbarung her darzutun und sie gegen alle „Bevormundung von Seiten der Kulturphilosophie" zu verteidigen. Im Vergleich zu Scholz trat Cajus Fabricius (1911) sowohl als Forscher wie als Lehrer wenig in Erscheinung, und er hat als Systematiker auch kein rechtes Profil gewonnen. Denn weder seine historischen Arbeiten zu Albrecht Ritschis Theologie noch seine Beiträge zur praktischen Apologetik des Christentums gegenüber der marxistisch-freidenkerischen Welt- und Lebensanschauung zeugen von eigener Prägung oder produktiver Initiative systematischen Denkens und die bekannteste Leistimg seiner Berliner Wirksamkeit blieben die im Zusammenhange der auflebenden ökumenischen Bewegung entstandenen editorischen Veranstaltungen zur Kirchen- und Konfessionskunde, namentlich das „Corpus Confessionum. Die Bekenntnisse der Christenheit. Sammlung grundlegender Urkunden aus allen Kirchen der Gegenwart". Tiefer bohrte Willy Lüttge (1911), der in seiner theologischen Grundhaltung vornehmlich durch Julius Kaftan bestimmt war, von dem er sich auch den Blick für die elementaren Spannungen schärfen ließ, die die Kultur der Gegenwart zumal in ihrem Verhältnis zum Christentum erfüllten. Nach anfänglichen Studien zu Problemen des französischen Protestantismus empfand er in einem ungemein starken Miterleben der allgemeinen Krisis seiner Zeit und eben von den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Vorkriegstheologie aus die Nötigung zu einer über eine bloß negative Kritik wesentlich hinausgehenden, die positiven Beziehungen aufdeckenden Apologetik der christlichen Religion im modernen Geistesleben und Kulturstreben, und es kennzeichnet in der Tat treffend ein vordringliches Anliegen seiner bisherigen theologischen Arbeit, wenn das Elogium seiner Promotionsurkunde zum Ehrendoktor ihn „als fein8*

107

sinnigen Deuter der Beziehungen von Kunst und Kultur zum religiösen Leben der Gegenwart" 154 würdigte, kurz bevor er Berlin verließ. Endlich erhielt auch die Missionswissenschaft, die Georg Stosch (1902) nach Plaths Ausscheiden etwa ein halbes Dezennium vertreten hatte, in Julius Richter (1913) wieder einen neuen Dozenten und dokumentierte damit ihre notwendige Zugehörigkeit zum Lehrbetrieb einer theologischen Fakultät. Obwohl Richter bereits Ehrendoktor von Berlin und Edinburg war, ersparte man dem 51jährigen das reguläre Habilitationsverfahren nicht, machte ihn dann freilich schon im Jahre darauf zum Extraordinarius und 1920 zum ordentlichen Professor, so daß die Fakultät nunmehr auch über einen Lehrstuhl für Missionswissenschaft verfügte. In einer umfangreichen literarischen Produktion hat Julius Richter sich mit der Weltmission in Geschichte und Gegenwart beschäftigt und in einem weiten Gange von Missionsfeld zu Missionsfeld, von Missionsgesellschaft zu Missionsgesellschaft die Etappen der Arbeit, ihre Schwierigkeiten und Erfolge beschrieben. Aber auch die erstaunliche Vielseitigkeit der Publikationen, der enorme Fleiß in der Sammlung und Sichtung des vielschichtigen Materials, die Einsicht in die jeweils andere Situation der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, das Wissen um die immer wieder anders gearteten Aufgaben, Methoden und Praktiken vermögen das Unzureichende des Bemühens um eine wissenschaftliche Fundierung der jungen Disziplin und um ihre grundsätzliche Einordnung in das Ganze der theologischen Wissenschaft nicht zu verdecken. Die oftmals unkritische Quellenbenutzimg und die pragmatische Form der Darstellung beeinträchtigen den Wert seiner historischen Arbeiten; die weitgehende Ignorierung religionsgeschichtlicher Fragen war in seiner Zeit zumindest verwunderlich; vor allem trat die Erörterung der theologischen Problematik der Mission, ihrer Methoden und Ziele über Gebühr zurück, so daß alles in allem Julius Richter, ungeachtet seiner großen Verdienste, die Missionswissenschaft als solche in Berlin auf einem Niveau hielt, das ihrem Ansehen in der Krisis jener Jahrzehnte außerhalb relativ eng begrenzter kirchlicher Kreise nicht sonderlich dienlich war. Auf das Ganze gesehen äußerte sich so auch in dem gesteigerten Andrang neuer Kräfte die geistige Potenz der Fakultät recht eindrücklich, wirkte sich die anregende Kraft eines wahrhaft wissenschaftlichen Eros offenkundig aus, wenngleich die faktische Leistung durch das bald hereinbrechende Kriegsgeschehen weithin stark beeinträchtigt werden sollte. Zugleich bekundete dieser Nachwuchs deutlicher die allgemeine Richtung der theologischen Gesamtentwicklung, die auf eine engere, sich gegen154

S. 44. 108

W. Lüttge: Religion und Kunst, herausgeg. v. Margarete Lüttge (1929)

seitig befruchtende Zusammenarbeit zwischen der konservativen und der kritischen Theologie tendierte, aber in dem Streben nach Verständigung mehr auf eine Ausweitung und Auswertung der Leistungen und Impulse der voraufgehenden Generation ausging als daß sie die theologische Weiterarbeit durch neue Konzeption in wesentlich andere Bahnen gelenkt hätte. So sehr sich der Reichtum wissenschaftlich-theologischer Forschung und Lehre durch alle Disziplinen hindurch in einer feingliedrigen Variationsbreite und einer hochdifferenzierten Vielseitigkeit entfaltete, von einem wirklich neuen Ansatz war nichts zu spüren. Auch in der Zeit zwischen den beiden Kriegen hat sich kein grundsätzlicher Wandel vollzogen, obgleich sich die personale Zusammensetzung des Lehrkörpers in den zwei Jahrzehnten völlig veränderte. Daß kirchenpolitische Spannungen und theologische Schuldifferenzen oder auch eigenständigere Modifikationen gelegentlich stärker hervortraten, bezeugte im Grunde nur die Variationsfähigkeit der Vorkriegstheologie, die zudem in ihrer fortdauernden wissenschaftlichen Leistungskraft ein höheres Maß innerer Stabilität zu erkennen gab, als es die radikale Kritik der zu Beginn der zwanziger Jahre mit großer Energie vorstoßenden dialektischen Theologie ihr zuzubilligen gewillt war. Es war kennzeichnend, daß eben diese dialektische Theologie mit ihrer scharfen Ablehnung jeglichen als subjektivistisch, psychologistisch, historisch, dogmatisch usf. gebrandmarkten „Neuprotestantismus" keinen namhaften Vertreter in der Berliner Fakultät fand. Man konnte, selbst wenn man gewollt hätte, natürlich an der inmitten der tiefgreifenden Erschütterungen der gesamten geistig-seelischen wie politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten menschlicher Existenz aufbrechenden revolutionären Theologie der Krisis nicht einfach vorübergehen. Man sah sich durch sie mit einer so seit langem nicht erlebten Radikalität vor die Frage gestellt, ob nicht die gesamte theologische Arbeit eben von der Wurzel her auf falschem Wege sei, und konnte die Leidenschaftlichkeit nicht ignorieren, mit der sich zumal auch die studentische Jugend von der neuen Strömung mitreißen ließ. Jedoch, man begegnete der dezidierten Aufforderung zu einer kritischen Uberprüfung des herrschenden Selbstverständnisses der wissenschaftlichen Theologie besonders in den Jahren des gärenden Umbruches mit nüchterner Zurückhaltung, und dem unvermeidlichen Extremismus, der mehr von der enthusiastischen Destruktion des Alten als von einer klaren oder klärenden Einsicht in die Gestalt des Neuen zu leben, jedenfalls einer weiterführenden sachgemäßen Entfaltung der theologischen Arbeit wenig dienlich zu sein schien, setzte man das entschiedene Bemühen entgegen, die Kontinuität der von den letzten Generationen heraufgeführten Entwicklung zu wahren und die für deren Erfolge als so fruchtbar erkannte Verbindung mit der universitas litterarum 109

in ihrer komplexen Mannigfaltigkeit aufrecht zu erhalten. Der in die Tiefe reichende Dissensus ließ sich nicht ignorieren und ließ ein inneres Vermögen eingehenden Verstehens kaum erwachsen, zumal die apodiktische Art summarischen Aburteilens über Gestalt und Gehalt der bisherigen Theologie die Bereitschaft zu einer aufgeschlossenen Auseinandersetzung zumindest stark beeinträchtigen mußte. Immerhin gewann das schon vor dem Kriege lebhafter hervortretende Streben nach stärkerer Konzentration auf theologische Durchdringung theologischer Sachfragen an Intensität, und wenn es sich zunächst auch noch vornehmlich im Rahmen der mehr oder weniger modifizierten Forschung und Lehre der jüngsten Vergangenheit hielt, konnte eine wie auch immer geartete Berührung mit der gerade in dieser Hinsicht engagierten dialektischen Theologie und deren anregende Wirkung nicht schlechthin ausbleiben. Es wäre schwerlich angebracht, nun etwa einzelne Fakten der Fakultätsgeschichte in den nächsten beiden Jahrzehnten überzubewerten; doch mag es, ungeachtet der mancherlei vorder- wie hintergründigen Faktoren, die hierbei mitspielten, beispielhaft erscheinen, daß die erste nach dem Weltkriege erfolgte Besetzung eines Lehrstuhles einen Gelehrten wie Ernst Sellin (1921) nach Berlin führte, der als Nachfolger Baudissins eine konservative und betont theologisch orientierte Richtung innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft vertrat. Das heißt für die Disziplin, in der sich die Prinzipien, Methoden und Ideen moderner Forschung besonders einschneidend ausgewirkt hatten, wurde ein Mann berufen, der bei aller Würdigung der historisch-kritischen Arbeit und weitgehenden Zugeständnissen an die religionsgeschichtliche Betrachtungsweise ihnen gegenüber dennoch eine größere Zurückhaltung übte und für die Beschäftigung des Theologen mit dem Alten Testament als den bestimmenden Gesichtspunkt in den Vordergrund gerückt wissen wollte, daß es sich hier um eine Schriftensammlung handelt, „die für eine Gemeinde Gottes auf Erden eine Urkunde seiner Offenbarung und eine sittlichreligiöse Norm bildet".155 Diese allgemeine Intention lag der Herausgabe eines neuen Kommentarwerkes zum Alten Testament zu Grunde, gab seinen mannigfachen Beiträgen zur Einleitungswissenschaft und Exegese, zur Geschichte und Theologie des Alten Testamentes das Gepräge und wirkte bis in seine aktive Mitarbeit an der Altertumsforschung auf dem Boden Palästinas hinein. Allein, war der Versuch einer stärkeren Akzentuierung des Theologischen auch bemerkenswert, er blieb zu sehr traditionsgebunden und konservativ-konventionell, um wirklich echte Impulse zu einer weiterführenden Erneuerung der theologischen Arbeit am Alten Testament auszulösen und gedieh trotz allem nicht ernstlich 155

110

E. Sellin: Einleitung in das Alte Testament (1910) S. 1.

über den Ansatz einer dogmatisch geprägten Frömmigkeitsgeschichte hinaus, der die fixen Normen einer positivistischen Christlichkeit erfüllen sollte. Neben ihm verfolgte Alfred Bertholet (1928) in der Nachfolge Greßmanns vor allem die Intentionen der durch immer neue Varianten belebten Forschungsrichtung weiter, deren wissenschafdiches Objekt die Religion des Alten Testamentes rein als geschichtliche Erscheinung war. Ihm war zwar nicht die genialische Art konstruktiver Aufhellung ins Weite greifender Zusammenhänge eigen wie seinem Vorgänger, noch besaß er dessen ungemeine Receptivität und neue Anregungen schnell auswertende Reaktionsfähigkeit, wohl aber zeichnete ihn eine scharfe Beobachtungsgabe aus und ein feines Sensorium für die Erscheinungsformen einer Gestaltwerdung der person- und gemeinschaftsbildenden Kraft religiöser Erfahrung. Seine Arbeit konzentrierte sich auf eine phänomenologische Untersuchung des israelitisch-jüdischen Lebensbereiches, suchte in fast allen Sparten des alttestamentlichen Forschungsbetriebes das weitläufige Material möglichst umfassend zu sammeln und zu ordnen und ließ als reifste Frucht seine „Kulturgeschichte Israels" entstehen, in der in zusammenfassender Weise das „wirkliche Leben" bis hin zum Kultus als dem genuinen Ausdruck des religiösen Eigenseins dargestellt wird. Durch seine Beteiligung an verschiedenen Werken zur Geschichte und Theologie des Alten Testamentes gab er gewiß sein unmittelbares Interesse zu erkennen, beide Sachgebiete in einer geschlossenen, wenn auch immer unter religionsgeschichtlichem Vorzeichen stehenden Konzeption zu erfassen. Nur überdeckte der Phänomenologe immer wieder sowohl den Historiker wie den Theologen. So wenig es wohl zufällig ist, daß er sich in der Beschränkung zum Experten für die nachexilische Zeit entwikkelte, so kennzeichnend dürfte für ihn der ihn namentlich seit seiner Berliner Zeit beschäftigende weitausgreifende Plan einer Phänomenologie der Religionen sein, den er beim Eintritt in die Berliner Akademie der Wissenschaften als Ziel seiner religionswissenschaftlichen Arbeit ankündigte, dessen Ausführung ihm als Krönung seines Lebenswerkes freilich versagt geblieben ist. Da Sellin nach seiner Emeritierung eine Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit untersagt und der Fakultät die Wiederbesetzung seines Lehrstuhles verweigert wurde, Bertholet die etwa drei Jahre über seine Entpflichtung hinaus weitergeführte Mitarbeit aus Gesundheitsgründen 1939 aufgeben mußte, Nachwuchskräfte damals der Fakultät aber nicht mehr zur Verfügung standen, fiel dem 1937 in das Ordinariat Bertholets berufenen Johannes Hempel während des Krieges die alleinige Vertretung des Alten Testamentes im Lehrbetriebe zu.156 Er wahrte die 156

In den letzten Kriegsjahren mußte er durch den alle Zeit auch unter noch 111

Weite und Intensität der historisch-kritischen Arbeit in ihrer zunehmenden Differenziertheit als die unaufgebbare Grundlage einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Testament und ließ es sich mit E m s t angelegen sein, durch eigene Beiträge ihre weitere Entfaltung zu fördern. Doch zeigte er sich zugleich auch lebhafter als seine unmittelbaren Vorgänger daran interessiert, dem wachsenden Verlangen nach stärkerer Berücksichtigung der spezifisch theologischen Sachfragen innerhalb seiner Disziplin Rechnung zu tragen und suchte selber der neu sich stellenden alten Aufgabe durch die monographische Behandlung theologisch-systematischer Themen gerecht zu werden. Freilich geschah das nicht auf der Basis einer von der dialektischen Theologie her bestimmten theologischen Interpretation, sondern wesentlich unter dem Aspekt einer religionspsychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung, die den Sachverhalt mit den Kategorien einer modifizierten Frömmigkeitsgeschichte zu präzisieren unternahm. Prinzipielle Abweichungen von der so durch die Ordinarien eingehaltenen Generallinie, sofern man die verschiedenen Richtungstendenzen überhaupt noch unter einer solchen selbst sehr weit ausgelegten Formel subsummieren darf, lassen sich bei den jüngeren Kräften, die sich im dritten Jahrzehnt für das Alte Testament habilitierten, während ihrer Berliner Wirksamkeit nicht erkennen und die jeweils bevorzugte Forschungsrichtung tendierte bei aller Einsicht in die Problematik einer rein historisch-kritischen Betrachtung nicht auf eine grundsätzlich neue Orientierung der gesamten Disziplin. Hans Wilhelm Hertzberg (1921) schied zudem schon nach zwei Jahren wieder aus seiner Lehrtätigkeit hier aus, um an die Erlöserkirche in Jerusalem zu gehen und' die Verwaltung des „deutschen evangelischen Institutes für die Altertumswissenschaft des heiligen Landes" zu übernehmen. Ebenso tauschte Kurt Galling (1925), der von Anfang an die Archäologie als sein spezielles Arbeitsgebiet in den Bereich seiner wissenschaftlichen Forschung einbezog und sich dann hier insbesondere einen hervorragenden Platz innerhalb seiner Disziplin sicherte, bereits nach drei Jahren Berlin mit Halle. Nur Leonhard Rost (1929), der sich von Erlangen nach Berlin umhabilitierte, blieb der Fakultät längere Zeit erhalten, bis er 1938 einem Rufe nach Greifswald folgte. Als Historiker besonders von Albrecht Alt angeregt ging er mit nüchterner Besonnenheit offenen Fragen der alten Geschichte Israels nach und legte er aller Beschäftigung mit den Texten die gründliche Exaktheit kenntnisreicher philologischer Sachlichkeit zu Grunde, die sich phantasievollen Kombinationen und ungesicherten Konstruktionen ebenso verso erschwerten Umständen zur Hilfe bereiten L. Rost von Greifswald aus vertreten werden. 112

sagte wie sie sich tiefer Einsichten und weiterführender Erkenntnisse fähig zeigte. Seine gelehrte Kenntnis der rabbinischen Literatur kam damals insbesondere auch dem Berliner Institutum Judaicum zu gute. Deutlicher waren die Anzeichen einer tiefer reichenden Veränderung der Fragestellung im Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft wahrzunehmen, wenngleich auch hier gilt, daß das retardierende Moment stärker war als die Bereitschaft, auf die entschiedene Wendung zur „theologischen Interpretation" einzugehen. Es war für die Berliner Situation kennzeichnend, daß die intensive Mitarbeit der Kirchenhistoriker an der neutestamentlichen Forschung und Lehre sich vornehmlich dahin auswirkte, daß die historisch-kritische Arbeit am Neuen Testament unbeirrt ihren Fortgang nahm, und zwar nicht nur auf dem Gebiete der Textund Literarkritik. Hatten schon die Tendenzen der sogenannten religionsgeschichtlichen Schule den scharfen Widerspruch eines Harnack und Holl herausgefordert, so nicht minder nun die Forderungen einer „theologischen" (Barth), bzw. „pneumatischen" (Girgensohn) Exegese, weil sie die durch die eine wissenschaftliche Methode anzugehende eine wissenschaftliche Aufgabe, die reine Erkenntnis ihres Objektes, in Frage stellte. Und Hamacks Nachfolger, Hans Lietzmann (1924), hat aus einer nahe verwandten Anschauung von dem, was wissenschaftliche Theologie sei und zu leisten habe, die Linie grundsätzlich fortgesetzt, hat in konsequenter Fortführung der streng philologisch-historisch-kritischen Arbeitsweise die doppelseitige, im Grunde einheitlich verstandene Frontstellung beibehalten, die dem Einbruch unkontrollierbarer „Subjektivismen" jedweder Provenienz in die wissenschaftliche Methodik objektiver Feststellung des quellenmäßigen Sachverhaltes wehren wollte. So trägt alles, was er auf den verschiedenen neutestamentlichen Arbeitsgebieten in mannigfachen Untersuchungen beigesteuert hat, angefangen bei dem mühseligen Unterfangen möglichster Klärung der Textgestalt bis hin zu der vielschichtigen Aufgabe der Exegese, das Gepräge solider Exaktheit, zuchtvoller Bescheidung und nüchterner Sachlichkeit, die die Aussagen geschichtlicher Urkunden in ihrer Zeit durch sich selbst zu Worte kommen lassen wollen, was aber darum nicht irrelevant werden lassen kann, daß diese Aussagen sich als Zeugnisse des Glaubens für den Glauben zu erkennen geben. Lietzmann hat allein schon durch die nicht übersehbaren noch übergehbaren Ergebnisse seiner Forschung die Notwendigkeit und bleibende Bedeutung der von ihm strikte eingehaltenen Normen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament zur Geltung gebracht und damit dem zeitweiligen Taumel eines den Text inspirierenden Theologisierens nachhaltig entgegengewirkt. Aus einer ganz anderen Sicht und in einer ganz anderen Richtung leistete Wilhem Lütgert (1929) der Disziplin Hilfestellung, als ihn die Fa113

kultät aus wohlerwogenen Gründen audi um der Vertretung des Neuen Testamentes willen in ihren Kreis berief. Denn sie nominierte ihn gleichsam als Repräsentanten eines „biblischen Realismus", und es war in der Tat „die Verbindung anschaulicher geschichtlicher Lebendigkeit mit theologischer Tiefe",157 wie sie ihm einst bei Schlatter eindrucksvoll begegnet war, durch die er nun, sie in eigener Weise formend, einen echten Zugang zum Neuen Testament erschließen wollte. So wenig er die „wissenschaftliche Theologie" harnadcscher Observanz je als zureichend erachten konnte, so bedenklich wollte ihm eine Exegese erscheinen, die die geschichtliche Gestaltwerdung des Wortes Gottes in den Schriften des Neuen Testamentes theologisch wähnte ausklammern zu können. Weder auf jenem noch auf diesem noch auf sonst einem Wege sollte die Bibel einer wie auch immer gearteten „Theologie" hörig gemacht werden; sondern darauf kam es ihm an, die im Neuen Testament begegnende Wirklichkeit Gottes eben in der Geschichtlichkeit dieses besonderen Schrifttums unmittelbar erkennbar zu machen. Man könnte versucht sein, es geradezu als eine programmatische Hervorkehrung seines biblischen Realismus zu verstehen, daß er ungeachtet eines offenbaren Interesses an der Bearbeitung ihn sonderlich beschäftigender Spezialthemen, seine neutestamentlichen Kollegs in Berlin zu Anfang der dreißiger Jahre mit den das Thema in schlatterscher Begrifflichkeit formulierenden Vorlesungen über „die Geschichte Jesu" und „die Geschichte des Urchristentums mit Auslegung der Apostelgeschichte" abschloß. Maßgeblichen Einfluß behielten natürlich die Anregungen des eigentlichen Fachordinarius, bis über die Mitte der dreißiger Jahre hinaus also Deißmanns, die sich in Verbindung mit dem Bestreben, in eine andere Tiefendimension vorzustoßen, bei der jüngeren Generation in eigenwilliger Selbständigkeit dahin auswirkten, daß man die in ihrer bisherigen Form methodisch wie sachlich als nicht zureichend empfundene rein literarkritische Betrachtung weiterzubilden und damit zugleich eine der Besonderheit des Objektes besser entsprechende Anwendung der religionsgeschichtlichen Arbeit zu verbinden trachtete. So hat Karl Ludwig Schmidt (1918) fast gleichzeitig mit Martin Dibelius in seiner 1919 erschienenen Untersuchimg „Der Rahmen der Geschichte Jesu" die Entstehung der sogenannten „formgeschichtlichen Methode" mit angebahnt. Sein nachdrücklicher Hinweis auf eine hinter der literarischen Formulierung liegende mündliche Jesusüberlieferung fixierte nicht nur die Frage nach der formalen Besonderheit der Einzelberichte vor ihrer Eingliederung in den Rahmen einer zusammenfassenden Ordnung, bzw. die nach den konsti167 W. Lütgert, in: Adolf von Schlatter und Wilhelm Lütgert zum Gedäditnis, in: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie XL (1938) S. 51.

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tutiven Elementen dieses Entstehungs- und Entwicklungsprozesses überhaupt, sondern suchte das Spezifische der genuin religiösen Motivation aus den gottesdienstlichen und missionarischen Bedürfnissen der christlichen Gemeinden zu erklären. Es war eine bewußte Abkehr von dem Wege der bisherigen Quellenforschung, sofern diese ungeachtet oder gerade auch wegen der unlängst zu Tage getretenen Problematik der Leben-Jesu-Forschung die Tendenz verfolgte, über die Feststellung der chronologischen und topographischen Notizen hinaus literarkritisch einen sicheren historisch-biographischen Überlieferungsbestand aufzudecken. Auch Georg Bertram (1922) ging auf die neue Fragestellung ein und orientierte sich in seinen von der kultgeschichtlichen Thematik beherrschten Beiträgen in etwa schon in der von K. L. Schmidt gewiesenen Richtung; er blieb jedoch stärker den Intentionen Deißmanns verhaftet, unter dessen bestimmendem Einfluß sein eigentliches Forschungsobjekt schließlich die Septuaginta-Ubersetzung wurde, in deren Sprache und Geschichte einzuführen ihm wie vorher schon K. L. Schmidt ein besonderer Lehrauftrag erteilt wurde. Dokumentierte sich darin in gewisser Weise Deißmanns betonte Hervorhebung der „Zusammenhänge des Neuen Testaments mit Sprache, Kultur und Religion des Hellenismus",158 so mochte man es wohl — auf dem Hintergrunde der prinzipiellen Dehatte innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft — als eine sachdienliche Ergänzung des Lehrbetriebes ansehen, daß 1928 Joachim Jeremias als außerordentlicher Professor und Direktor des Institutum Judaicum in die Fakultät eintrat, der nun insbesondere die vom Judentum auf den Gehalt und die Gestalt der urchristlichen Glaubens- und Lebensgemeinschaft ausgehenden Einwirkungen herauszustellen berufen war; doch ging er bereits im folgenden Jahre nach Greifswald. Daneben erinnerte an ein der neuen Problemstellung voraufgehendes und durch kritische Überbietung älterer liberaler wie religionsgeschichtlicher Theorien mit ausgelöstes Stadium der Auseinandersetzung durch seine Lehrtätigkeit noch fast ein Jahrzehnt lang Martin Brückner (1922), dessen von Pfleiderer angeregte Habilitation einst an dem Widerspruche von Bernhard Weiß gescheitert war, den die Fakultät aber nunmehr „in Anbetracht seiner nicht unbeträchtlichen literarischen Leistungen... als Privatdozenten angenommen"159 hatte. Die sich ihm unter Wredes Einfluß aufdrängende Sicht einer konstruktiven Distanz zwischen Paulus und Jesus, die ihn in der paulinischen Christologie eine „gewaltsame Vereinigung zweier disparater Christusbilder, die Paulus vor seiner Be-

158 159

Akten der Kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. Theol. Fak. P No 5 b Vol. III Bl. 176. Akten der Kgl. Friedr.-Wilh.-Univ. Theol. Fak. P No 5 b Vol. III Bl. 243. 115

kehrung in sich trug",160 erkennen ließ, konnte nach der manches klärenren Diskussion der letzten zwanzig Jahre ein breiteres Interesse bei seinen Hörern nicht mehr erwecken, und Deißmann hatte ihm gegenüber unter den veränderten Verhältnissen der Nachkriegszeit ein relativ leichtes Spiel, sein wesentlich anderes Verständnis des historischen Schrittes von Jesus zu Paulus und zumal seine Auffassung von dem Apostel als dem „Klassiker der Christusmystik und des Christuskultes" als sachgemäßer den Studenten einleuchtend zu machen. So gab Wilhelm Michaelis (1923) in seiner Grundhaltung einen engeren Anschluß an Deißmann zu erkennen, mit dem er eine größere Zurückhaltung gegenüber den neueren Tendenzen in der Exegese wahrte und von dem er sich zu eingehenden Untersuchungen über Probleme der Einleitungswissensch aft, zunächst speziell der Paulusforschung anregen ließ, die später ihre Zusammenfassung in seiner „Einleitung in das Neue Testament" finden sollten. Und auch Johannes Schneider (1930) hat seine theologischwissenschaftliche Herkunft nicht verleugnet, wenn er in seinen Studien über „die Passionsmystik des Paulus" das von Deißmann begründete Paulusverständnis weiterzuführen und die Struktur der urchristlichen Gemeinden vor allem auf dem Hintergrunde der hellenistischen Umwelt zu erfassen trachtete. Neben begriffsgeschichtlichen Untersuchungen galt sein Interesse dann hauptsächlich theologischen Sachfragen, speziell den Problemen Taufe und Gemeinde, und einer dem substantiellen Gehalt der neutestamentlichen Schriften nachgehenden Exegese, für die er jedoch aus der mit kritischer Reserve verfolgten hermeneutischen Debatte keine förderlich fruchtbaren Anregungen zu entnehmen vermochte. Ohne in methodischer wie sachlicher Hinsicht grundsätzlich Neues zu den seine Disziplin bewegenden Fragen beizusteuern oder als markanter Vertreter einer bestimmten Richtung hervorzutreten und doch nicht ohne Profiliertheit als wissenschaftlicher Theologe hat Johannes Behm (1935) nach dem Ausscheiden Deißmanns die Aufgaben des neutestamentlichen Ordinarius übernommen. Er hat sich den mancherlei neuen Anregungen nicht verschlossen, suchte aber jeweils in sorgsamem Abwägen des Für und Wider seinen eigenen Weg zu gehen, der mit großer Beharrlichkeit das Ziel verfolgte, eine exakte kritisch-historische Forschung mit einem systematischen Eingehen auf die theologischen Sachfragen zu vereinen. So wurde etwa auch ihm die religionsgeschichtliche Problemstellung Teil einer wesentlich theologischen Aufgabe und erkannte er die theologische Relevanz der These von dem 160 Nach W. G. Kümmel: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (1958) S. 372.

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glaubensbedingten Charakter der neutestamentlidien Überlieferung. So wurde vor allem die mehr und mehr in den Brennpunkt der Diskussion gerückte hermeneutische Frage auch ihm besonders wichtig, freilich ohne daß er der pneumatischen Exegese im Sinne Girgensohns oder Barths das Wort hätte reden können: „Das Neue Testament erschließt sich... dem Betrachter niemals unabhängig von seinem geschichtlichen Verständnis auf rein religiöse, ,theologische' oder pneumatische' Art, sondern in der Weise, daß ein historisch erkannter Sinn metahistorisch ausgewertet und gedeutet wird, daß eine sinngemäße, lebensvolle Anwendung auf diese Gegenwart stattfindet".161 Behm hat vielleicht die Untiefen, die in den jeweils vorgegebenen dogmatischkonfessionellen oder philosophischen Voraussetzungen für das Verständnis der geschichtlichen Wirklichkeit liegen, nicht klar genug gesehen und fand sich zu rasch zu dem Satze bereit: „Mit der Bitte um das Pneuma im Herzen wird der Theologe, wenn er Exegese treibt, doch immer nur historisch-wissenschaftliche Exegese treiben können und treiben wollen." 162 Doch hat er sich eben von daher bemüht, die Ergebnisse der text- und literarkritischen, religions- und formgeschichtlichen wie der archäologischen Forschung in zielstrebiger Mitarbeit auf den verschiedenen Gebieten für das Verstehen der Worte und Begriffe, der Aussagen und Daten des Neuen Testaments fruchtbar zu machen. Im engeren Anschluß an ihn hat dann sein Schüler Heinrich Seesemann (1937) diese theologischen Prinzipien und methodischen Grundsätze weiterzubilden unternommen; doch wurde seine Lehrtätigkeit in Berlin wie seine wissenschaftliche Produktivität zunächst durch die gleichzeitige Dozentur am Herder-Institut in Riga und seit der Auflösung dieser Hochschule 1939 durch das Kriegsgeschehen stark beeinträchtigt. Der letzte Habilitand für das Neue Testament in diesem Zeitraum war Konrad Weiß (1938), der sich anfänglich durch Lietzmann zur näheren Beschäftigung mit der neutestamentlichen Gräzität und urchristlichen Religionsgeschichte anregen ließ, sich dann aber unter Erich Seebergs Einfluß einerseits problemgeschichtlichen Untersuchungen zuwandte, andererseits als Kirchenhistoriker sein besonderes Interesse für die Scholastik und Mystik des Mittelalters durch die Mitarbeit an der EckartAusgabe bekundete. Die ihm 1938 übertragene Dozentur für Neues Testament und Kirchengeschichte hat er nur bis Kriegsbeginn versehen können. In der Kirchengeschichte gewährleistete zunächst Hans Lietzmann in der Nachfolge Harnades die Fortführung der streng historisch-kritischen 161 162

J. Behm: Pneumatische Exegese (1925) S. 21. J. Behm: Pneumatische Exegese S. 30. 117

Methode exakter Forschung, auch er in bewußter Konzentration vornehmlich den ersten Jahrhunderten zugewandt und stärker noch als sein Vorgänger in der unmittelbaren Mitarbeit an der neutestamentlichen Wissenschaft engagiert.163 Innerhalb dieser zeitlichen Begrenzung unternahm er jedoch den Versuch einer möglichst breiten Entfaltung der Quellenforschung durch die prinzipielle Einbeziehung und Förderung bisher noch zu wenig ausgenutzter oder berücksichtigter Randgebiete wie der Paläographie, der Literaturwissenschaft, der Archäologie usf. und konnte hier sowohl sein altes Ziel, „klassische Philologie und Theologie . . . zu einer Einheit zu verbinden",194 in immer neuen Variationen verfolgen wie auch seine archäologisch-kunstgeschichtlichen Interessen für seine wissenschaftliche Arbeit fruchtbar machen. Er sah sich freilich weniger dazu berufen, in übergreifenden Konzeptionen größere entwidclungsgeschichtliche Zusammenhänge aufzuzeigen oder der grundsätzlichen Problematik kirchen- und dogmengeschichtlicher Phänomene nachzugehen; seine eigentliche Begabung und Leistung lag auf dem Gebiete detaillierter Einzelforschung, wo er in scharfsinniger Gelehrsamkeit das Vermögen geistreicher Kombination mit der konsequenten Methodik und Akribie historisch-philologischer Untersuchung zu verbinden wußte. So hat er die reifen Früchte seines wissenschaftlichen Ingeniums in einer Reihe wertvoller Monographien vorgelegt, bis hin zu der für seine Arbeits- und Darstellungsweise kennzeichnenden „Geschidite der alten Kirche"; so hat er sich die Edition eines reichen Quellenmaterials angelegen sein lassen, wobei einmal seine im Interesse der Wissenschaft mit großem Bedacht gepflegte enge Verbindung mit den Nachbardisziplinen zutage trat, zum anderen sein unermüdliches Bemühen, gerade auch die Studierenden an die Quellen selbst heranzuführen und ihnen den Zugang technisch zu erleichtern. So ist er überhaupt als Herausgeber wissenschaftlicher Reihen und Fachzeitschriften usf. tätig gewesen und hat er sich auf diese wie manche andere Weise an der unabdinglidi gewordenen Aufgabe einer den neuen Bedürfnissen entsprechenden Organisation des theologischen Wissenschaftsbetriebes mit reger Aktivität beteiligt. Es bedeutet in der verschiedensten Hinsicht eine der Spannweite der kirchengeschiditlichen Arbeit Rechnung tragende Ergänzung, als Erich Seeberg (1927) Holls Lehrstuhl übernahm und in weit stärker ausgeprägter Unterschiedenheit neben Lietzmann trat als zuvor etwa Holl neben Harnack gestanden hat. Es handelte sich nicht nur darum, daß neben der Geschichte der alten Kirche auch die Kirchengeschichte 163 164

118

Vgl. S. 105. H. Lietzmann, in: Rel. Wiss. i. Selbstdarst. II. S. 86 (10).

der Reformation und der Neuzeit in Forschung und Lehre eine angemessene Berücksichtigung fand; wichtiger noch war die Demonstration der den beiden Gelehrten jeweils eigenen, stark voneinander abweichenden Methodik, die wiederum ihren tiefen Grund in der Unterschiedlichkeit ihrer prinzipiellen Anschauung vom Wesen der Geschichte, den Möglichkeiten und Grenzen ihres Erkennens und Verstehens und der daraus resultierenden Auffassimg von der Aufgabe des Historikers hatte. Seeberg sah in der Selbstbescheidung der kirchengeschichtlichen Arbeit auf eine — in ihrer Notwendigkeit natürlich unbedingt bejahte — kritisch sichernde Quellensammlung und -Sichtung und auf eine diese Quellen in pragmatischer Historiographie inhaltlich referierende Darstellung eine prinzipiell bedenkliche Verkürzung dessen, was die Geschichtswissenschaft zu leisten habe, sah darin einen sachlich doch unmöglichen Versuch der Ausklammerung der eigentlichen Geschichtsproblematik, der die Hilflosigkeit gegenüber dem nunmehr offenbaren Dilemma des Historismus mit heraufbeschworen habe. Er wollte die Historie bewußt mit einem systematischen Denken verbinden, sie in die Weite geistesgeschichtlicher Betrachtung führen, und er hat in Auseinandersetzung zugleich mit den krisenhaften Erscheinungen ablehnender Abwertimg der Historie wie des historischen Denkens seine „Ideen zur Theologie der Geschichte des Christentums" als wirksame Anregung zu einem neuen Durchdenken der Fragen nach dem „Sinn der Geschichte" und dem „Sinn der historischen Wissenschaft" vorgetragen. Gegenstand des geschichtlichen Erkennens ist nach ihm das „Geist gewordene Geschehen der Geschichte"165 als sich selbst „formenden und deutenden Lebens";164 und in dem Teilhaben meines Ich und des fremden Ich „an dem gleichen lebendigen Fluidum" (Objektiver Geist) ist „die Möglichkeit und Intensität des Verstehens"167 gegeben, das freilich über der niederen Stufe der „historischen" die höhere der „pneumatischen Exegese" erfordert, die selbst „über die Absichten der Autoren hinausgreift und die sich . . . des Zeitlosen zu bemächtigen imstande ist".188 Demzufolge kennzeichnet er es im Vorwort zu „Luthers Theologie. Seine Motive und Ideen" als seine Methode: sie „betont mehr das Ideengeschichtliche als das Psychologische; und sie will auch Luthers historische Stellung mehr durch den auf der Analyse beruhenden Vergleich der Totalitäten als durch die bloß historisch-kritische Untersuchung der in einzelnen Stel-

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E. Seeberg: Ideen zur Theologie der Geschichte des Christentums (1929)

S. 7.

156 197 168

E. Seeberg: Ideen zur Theologie . . . S. 7. E. Seeberg: Ideen zur Theologie . . . S. 9. E. Seeberg: Ideen zur Theologie . . . S. 13. 119

len sich anzeigenden Beziehungen herausstellen".169 Und entsprechend erfaßt er das Ganze der Kirchengeschichte nicht von einem abstrakten Wesensbegriff des Christentums aus — es ist keine „einheitliche Konstruktion der Geschichte des Christentums möglich",170 sondern von der Idee der Inkarnation her als der „Grundidee der christlichen Religion",171 um so von einem betont christologischen Ansatz aus Immanenz und Transzendenz, Vielfalt und Einheit, Bewegung und Sein usf. in ihrer unendlich variablen Beziehungsfülle und dennoch einmaligen Bezogenheit als die elementare Konstitution der Geschichte zu erhellen. Daß die so stark differenzierte Besonderheit der Lehrer zu einer nahezu schulmäßigen Gruppierung des Nachwuchses führte, kann nicht Wunder nehmen, so wenig übersehen werden kann, daß dabei hochschulpolitische Ambitionen wie so oft auch jetzt eine nicht immer sachdienliche Rolle spielten. Zudem will für die Zeit des nationalsozialistischen Regimes zur rechten Würdigung der Situation bedacht sein, daß durch die aus politischen Gründen vorgenommene Trennung der Habilitation von der Verleihung einer Dozentur wie in anderen Disziplinen so auch in der Kirchengeschichte wissenschaftsfremde Gesichtspunkte bei der „Auslese" der Dozenten maßgeblichen Einfluß gewannen, d. h. mancher qualifizierte Bewerber zwar von der Fakultät zur Habilitation zugelassen, aber durch das Ministerium dank parteipolitischer Voten vom akademischen Lehramte ausgeschlossen wurde. Vor solchen und ähnlichen lediglich politisch motivierten Eingriffen in die Gestaltung des Lehrkörpers durch das nationalsozialistische Regime war es dem Nachwuchs umgekehrt in dem Dezennium nach dem ersten Weltkriege zustatten gekommen, daß durch die mit der Festsetzung einer Altersgrenze herbeigeführte Entpflichtung der 65- bzw. 68jährigen Professoren eine nicht unerhebliche Reihe von Lehrstühlen neu besetzt werden mußten und ein Revirement zugunsten der jungen Generation erfolgte, das sich freilich auch nicht ganz ohne den Versuch der Durchsetzung bestimmter kulturpolitischer Absichten von Seiten des Staates vollzog und dem Rivalitätsstreit der „Schulen" und „Richtungen" mancherlei Einflußmöglichkeiten bot. Für die kirchengeschichtliche Disziplin habilitierte sich als erster nach der gewaltsamen Unterbrechung durch den Krieg der im engeren Sinne einzige die venia legendi in Berlin erwerbende Schüler Karl Holls noch zu dessen Lebzeiten, Hanns Rückert (1925), der von der Intensivierung der Lutherforschung ausgehend deren Einsichten und Ergebnisse auch 169 170 171

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E. Seeberg: Luthers Theologie. Motive und Ideen I (1929) S. 5". E. Seeberg: Ideen zur Theologie . . . S. 32. E. Seeberg: Ideen zur Theologie . . . S. 23.

für eine fruchtbare Durchdringung anderer bedeutsamer Phänomene der Reformationsgeschichte auszuwerten unternahm und mit seinen fundierten Untersuchungen zum Tridentimum auch die auf der altkirchlichen Seite ausgelöste Reaktion auf die Reformation in die Gesamtbetrachtung einbezog. Bereits im Frühjahr 1928 folgte er jedoch einem Rufe nach Leipzig, so daß er in Berlin noch keinen nachhaltigen Einfluß in der Fortführung der Intentionen seines Lehrers gewinnen konnte. Ein Schüler Erich Seebergs, Fritz Fischer, der sich 1935 für „neuere Kirchengeschichte und politische Geschichte" habilitiert und 1939 eine „Dozentur neuer Art" erhalten hatte, wechselte, nachdem seine Lehrtätigkeit durch Beurlaubungen mehrfach unterbrochen worden war, im Juni 1940 mit einem Lehrauftrag für „politische Geschichte" in die Philosophische Fakultät über. Walter Dreß (1930) gehört dagegen mit gewissen Vorbehalten schon zu der zwar noch von Holl ausgegangenen, aber weiterhin von Erich Seeberg angeregten und betreuten Gruppe junger Wissenschafder, deren Interesse vornehmlich auf die Erfassung geistesgeschichtlicher Bewegungen und Zusammenhänge gerichtet war. Er setzte mit seiner Arbeit in dem Grenzgebiet zwischen Mittelalter und Reformation, bei dem religiösen Humanismus und spätmittelalterlichen Nominalismus in seiner Verbindung mit der Mystik ein, um von da aus einerseits zur mittelalterlichen Scholastik, andererseits zur Theologie Luthers vorzudringen. Seiner Wirksamkeit in der Berliner Fakultät, die bereits durch seine Tätigkeit in der Dorpater Hochschule von 1930—33 unterbrochen wurde, bereitete die aus politisch-kirchenpolitischen Gründen dekretierte Entlassung aus der Dozentur im März 1938 ein gewaltsames Ende. Da die von Seeberg angeregten und geförderten Aspiranten ähnlich denen Holls an anderen Universitäten in das akademische Lehramt eintraten, rekrutierte sich der kirchenhistorische Nachwuchs in Berlin im übrigen aus der Schule Lietzmanns. Einer ihrer tüchtigsten Repräsentanten war Hans Opitz (1933), dessen Hauptarbeitsgebiet die Geschichte der alten Kirche wurde und der aus der Beschäftigung mit den Anfängen des arianischen Streites die längst gestellte Aufgabe einer gründlichen Erforschung der historischen Vorgänge um das Nizänische Konzil von 325 aufgriff und sie mit eingehenden Untersuchungen über die dogmengeschichtliche Entwicklung in der Frühzeit der Kämpfe um das trinitarische Dogma verband. Seine von der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften getragenen Veröffentlichungen kennzeichnen ihn als ebenso historisch-philologisch exakten Bearbeiter und Herausgeber des Quellenmaterials wie als einen bis in die Details mit der Materie vertrauten kenntnisreichen Forscher und nicht zuletzt als einen scharfsinnigen und geistvollen, immer auch das Ganze im Auge behaltenden Interpreten. Stärker noch als Opitz hat Walter Eltester

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(1940) seine Fähigkeiten in den Dienst der Kirchenväterkommission gestellt, und er hat die Dozentur nicht eigentlich zu dem Zwecke der Ausübung der Lehrbefugnis erworben, sondern als Voraussetzung für eine Beamtenstelle an der Akademie. Das gab seiner Arbeit, deren generelles Thema die Aufhellung des Zusammenhanges von Antike und Christentum war, die besondere Note, und zwar sowohl seinen wissenschaftlichen Spezialunternehmungen auf neutestamentlichem und kirchengeschichtlichem Gebiete als seiner starken Beteiligung an organisatorischen Aufgaben, die ihm zumal nach Lietzmanns Tode zufielen. Ein Teil der von Lietzmann verantwortlich geleiteten Unternehmen ging in die Hände des vorher schon zur Mitarbeit herangezogenen Kurt Aland über, der 1942 auch mit der Abhaltung von Übungen im kirchengeschichtlichen Seminar betraut wurde. Schließlich fand die zuvor von Zscharnack besonders wahrgenommene Pflege der brandenburgischen Kirchengeschichte dadurch die ihr im Lehrbetrieb der Theologischen Fakultät zukommende Berücksichtigung, daß seit 1927 ein besonderer Lehrauftrag für dieses Spezialgebiet an Walter Wendland erteilt wurde, dessen Sachkenntnis und selbständiger Forschungsdrang die Gewähr fruchtbringender Einführung und Unterrichtimg boten. Außerdem versah der 1923 zum Honorarprofessor ernannte Leiter des vom Deutschen Evangelischen Kirchenbund gegründeten kirchenstatistischen Amtes Johannes Schneider einen Lehrauftrag für evangelische Statistik und Kirchenkunde. Er hat recht eigentlich dieser Arbeit System und Methode gegeben und sie, den Intentionen Schleiermachers folgend, in die Weite und Tiefe einer im Detail sich das Ganze erschließenden Beobachtung des kirchlichen Lebens geführt, der die scheinbar toten Zahlen und Ziffern beredtes Zeugnis von der im nachweisbaren Handeln verborgenen Bewegung in Kirche und Gemeinde gaben. In der Verbindimg peinlicher Genauigkeit der statistischen Erhebung mit vorsichtiger Zurückhaltung in der Auswertung des gewonnenen Materials hat er nicht minder die schonungslose Offenheit der Zahl zu Worte kommen lassen als er vor dem verhängnisvollen Mißbrauch solcher Zahlen zur illusionistischen Selbstbespiegelung warnte, hat er alles in allem Sinn und Bedeutung, Grenzen und Möglichkeiten einer auf der Statistik aufbauenden Kirchenkunde aufzuzeigen unternommen, die einen aufschlußreichen Einblick in den gegenwärtigen Zustand des gemeindlich-kirchlichen Lebens zu vermitteln wohl imstande war. Die fruchtbare Spannung in der kirchengeschichtlichen Disziplin wirkte sich nicht zuletzt auch in den ihr verbundenen Hilfswissenschaften belebend aus, und der Wechsel in der Besetzung der außerordentlichen Professur für christliche Archäologie und kirchliche Kunst trug zudem ebenfalls zu einer gesteigerten Aktivierung und Intensivierung der Ar122

beit auf diesem Sektor bei. Stuhlfauths Nachfolger Friedrich Gerke (1934) ist im Anschluß an die von der klassisch-archäologischen Forschung erarbeitete Methodik insbesondere den Problemen der stilistisdi-zeitlichen Gruppierung der altchristlichen Sarkophagplastik nachgegangen und hat sich zugleich bemüht, durch die Konstruktion form- und geistesgeschichtlicher Zusammenhänge zu einer eigenen Interpretation zentraler Bildinhalte zu gelangen. Es war gewiß, gerade von seinem speziellen Arbeitsgebiet aus gesehen, im Interesse einer Konzentration der Leistungskraft des ihm anvertrauten Institutes verständlich, wenn er dessen Aufgabenbereich bewußt auf die spätantike und frühmittelalterliche Archäologie und Kunstforschung beschränkte, wenn es auch ein sein Vermögen übersteigendes Bestreben war, das Berliner Institut zur „Zentrale auf dem Gebiete der christlich-archäologischen Forschung in Deutschland" zu machen. Aber er vernachlässigte damit über Gebühr die schon von Ferdinand Piper dem „christlichen Museum" gestellte, weiter gespannte Aufgabe einer allgemeinen Einführung in die kirchliche Kunst. Der schon 1934 an den emeritierten Professor der Technischen Hochschule Friedrich Seesselberg erteilte Lehrauftrag für kirchliche Baukunst konnte den Bedürfnissen doch nur in sehr begrenztem Umfange genügen. Auf das Ganze gesehen ist es den historischen Disziplinen und speziell der Kirchengeschichte gelungen, in der Zeit zwischen den beiden Kriegen gegenüber dem resignierenden Ressentiment, der skeptischen Reserviertheit und der aggressiven Kritik die grundlegende Bedeutung und maßgebliche Funktion der historischen Wissenschaften durch sachliche Arbeit in Forschung und Lehre darzutun. Sie haben dabei die zur grundsätzlichen Besinnung über Wesen und Gestalt, Sinn und Aufgabe ihrer Arbeit rufenden Fragen nicht überhört, die in der Krisis der allgemein geistesgeschichtlichen Entwicklung in der Auseinandersetzung über das Problem des Historismus laut wurden, und sie haben den prinzipiellen Einwand der dialektischen Theologie wohl vernommen, daß alle noch so eindringende historische Akribie und kongeniale Einfühlung immer nur im Vorhof der eigentlichen Theologie bleiben könne. Nur hat der Radikalismus solchen Einspruches weder von Seiten eines alles geschichtliche Erkennen letztlich in Frage stellenden Relativismus noch von Seiten eines mit souveräner Selbstverständlichkeit sich absolut setzenden theologischen Pneumatismus zu einem tiefer greifenden Wandel, geschweige denn zu einem offenbaren Umbruch geführt, auch wenn man die Kritik in ihrer letzten Motivation nicht einfach als gegenstandslos für eine emsthafte Besinnung auf die Berechtigung und Zureichendheit der bisher geübten Arbeitsweise abzutun gesonnen war. Im Bereiche der systematischen Disziplin ging unmittelbar nach dem Ende des ersten Weltkrieges der jüngste Habilitand, Paul Tillich (1919) 9*

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in sehr selbständiger Weise an die philosophisch-theologische Bewältigung prinzipieller Fragen einer christlichen Existenz und gab er in seinen konzentrierten Beiträgen den entschiedenen Willen zu erkennen, sich den Problemen in rüdchaldoser Offenheit zu stellen, sie bis in die letzten Konsequenzen hinein durchzudenken. Im Widerspruch gegen jeglichen Versuch heteronomer Vergewaltigung wie autonomer Selbstherrlichkeit war es ihm um den Erweis der theonomen Wirklichkeit zu tun und unter Aufhebung des Gegensatzes von Vernunft und Offenbarung suchte er „die gläubige und existentielle Verwurzelung allen Erkennens"172 aufzuzeigen, das in der Form eines „gläubigen Realismus" die Spannung zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten als den die ganze Beziehungsfülle des Lebens bestimmenden Nomos begreift und dessen inne wird, daß das konstitutive Paradox nicht einseitig — weder auf dem Wege „religiöser" noch auf dem „profaner" Übersteigerung oder Entmachtung des Unbedingten, bzw. des Bedingten — aufzulösen ist. Mit der Kraft solchen intuitiven Denkens, das stets auf das Erfassen der sinnhaften Einheit selbst sich ostentativ distanzierender und divergierender Elemente gerichtet war, unternimmt er es auch, die tiefe Kluft zwischen der kulturellen Revolution und der religiösen Tradition, wie sie im Zusammenbruch des ersten Weltkrieges offenbar geworden war, zu überbrücken und von dem Satz der „gegenseitigen Immanenz von Religion und Kultur"173 her den Weg für eine Wiedervereinigung von Religion und profaner Kultur durch die Idee einer „theonomen Kultur"174 zu bereiten. Das schloß notwendig ein intensives Eindringen in den Problemkreis des Soziologischen unter seiner besonderen Perspektive in sich, die über alle mehr oder minder im Konventionellen stecken bleibende „Beschäftigung mit der sozialen Frage" hinaus alle und jede Gesellschaftsordnung um der freien Anerkennung der durch sie unvermeidlich gesetzten Bindungen willen grundsätzlicher Kritik unterwarf und zugleich die Dimension der Kirche neu zu bedenken gab, mitsamt allen sich daraus ergebenden Folgerungen. Das alles wollte mehr sein als nur ein Zeichen des Sturmes und Dranges, mehr als nur ein Symptom der Krisis, und Tillich hätte in Berlin wenigstens bis 1933 wohl ein breites Wirkungsfeld haben können. Doch er blieb nur bis 1924 und neben oder nach ihm erwuchs seiner Disziplin hier zunächst kein so unkonventionell die neuen Probleme sehender und sie angehender Denker. Bis in die dreißiger Jahre hinein haben vielmehr R. Seeberg und Titius ungeachtet der die Geister erregenden neuen Gedanken noch immer einen 172 173 174

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Siegfried: P. Tillich, in RGG. V (19312) Sp. 1181. P. Tillich: Der Protestantismus. Prinzip und Wirklichkeit (1950) S. 92. P. Tillich: Der Protestantismus S. 73.

bestimmenden Einfluß ausgeübt und seit 1929 trat ihnen Wilhelm Lütgert zur Seite, der in seinen langjährigen Studien über die religiösen Bewegungen der Gegenwart dem Werden und Vergehen des Idealismus in seiner Auswirkung auf das geistige Ringen der Neuzeit nachgegangen und von da aus zu einem eigenen Verständnis der krisenhaften Vorgänge in Theologie und Kirche gelangt war. Als die beiden seine theologische Arbeit leitenden Themata gibt er selbst rückblickend an: „die Einordnung der Natur in die Gotteslehre, also das volle Gegenteil des modernen Marcionitismus und Spiritualismus, und die Wiederherstellung des Liebesgebotes in der protestantischen Ethik",175 beide Themen nicht als abstrakte Theologumena begriffen, sondern als zwei angesichts der inneren Lage des deutschen Volkes ebenso geforderte wie hilfreiche Möglichkeiten der Wegweisimg zu einem biblischen Realismus. Denn der drohenden, nunmehr in ein akutes Stadium getretenen Gefahr einer Auflösung der deutschen Theologie „in eine naturalistische und spiritualistische Front", ein seit langer Zeit angebahntes Ergebnis, kann nicht gewehrt werden, „wenn sich . . . über dem Idealismus und dem Naturalismus nicht ein biblischer Realismus, der Realismus der Offenbarung durchsetzt".176 Wohl gaben demgegenüber einige der zur jüngsten Generation zählenden Berliner Dozenten zu erkennen, daß sie da, wo die Älteren die akute Gefahr einer Auflösung der deutschen Theologie fürchten zu müssen glaubten, jedenfalls im Blick auf die zumal von der dialektischen Theologie ausgehenden Intentionen durchaus neue Möglichkeiten einer echten Konzentration der theologischen Arbeit sahen. Nur blieb es ihnen schon aus äußeren Gründen versagt, sich innerhalb der Fakultät eine stärkere Resonanz zu verschaffen. Friedrich Delekat (1929) schied noch im Jahre seiner Habilitation schon wieder aus dem Dozentenkollegium aus, ohne hier eigentlich in Funktion getreten zu sein. Und Dietrich Bonhoeffers (1930) akademische Lehrtätigkeit wurde allzu oft unterbrochen oder durch andere Aufgaben beeinträchtigt, bevor sie durch die Entziehung der Lehrbefugnis 1936 gänzlich unterbunden wurde, als daß sein beunruhigtes und beunruhigendes Fragen über einen relativ kleinen Kreis hinaus stärkere unmittelbare Wirkungen hätte auslösen können. Durch Reinhold Seeberg zu einer dogmatischen Untersuchung zur Soziologie der Kirche angeregt, blieb die Thematik „Kirche" für ihn bestimmend, und er hat das in seiner Erstlingsarbeit herausgestellte Ergebnis, daß die Kirche als Geistgemeinde eine soziologische Struktur sui generis habe, als wesentlichen Ansatz seines theologischen Denkens fest175 176

W. Lütgert, in: Beiträge z. Förd. diristl. Theol. XL. S. 54. W. Lütgert, in: Beiträge z. Förd. diristl. Theol. XL. S. 55. 125

gehalten, wenn er sich auch durch die lebhafte Beteiligung an der ökumenischen Arbeit einerseits, durch die Begegnung mit Karl Barth andererseits wie durch die konkrete Entscheidungen fordernden Erfahrungen des Kirchenkampfes und der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime veranlaßt sah, diesen Ansatz erheblich anders zu entwickeln als das in seiner ursprünglichen Konzeption vorgesehen war und wie es zumal durch sein immer neues Bemühen um eine Bewältigung des Problems der Ethik, um eine gültige Antwort auf „die Frage nach der Möglichkeit der Verkündigung des konkreten Gebotes durch die Kirche"177 mit bedingt wurde. Der erst 1930 gewonnene engere Kontakt mit der Persönlichkeit und Theologie Karl Barths löste ihn sehr schnell aus der Geistigkeit der Berliner Fakultät und ließ ihn von seiner Position aus bald schon etwas scharf urteilen, daß „da niemand ist, bei dem man Theologie lernen kann";178 und es mag nicht ganz unzutreffend gewesen sein, wenn er bereits Ende 1931 das Empfinden aussprach: „meine theologische Abkunft wird hier allmählich suspekt, und man hat wohl etwas das Gefühl, daß man sich eine Schlange am Busen großgezogen habe".179 Walter Künneth (1930) dagegen erfaßte zwar auch sehr bewußt die Herausforderung zu einer Intensivierung der theologisch-systematischen Arbeit und setzte im anthropologischen Sektor mit seiner Fragestellung ein, um in einer neuen Weise der Apologetik die Auseinandersetzung des christlichen Glaubens mit den derzeitigen weltanschaulichen Mächten zu führen; aber er geriet nicht in den Sog der von der dialektischen Theologie bestimmten Strömung und wahrte in schärferer Ausprägung seiner lutherischen Haltung den Anschluß an die Generallinie der Fakultät, bis die durch die kirchlich-politischen Kämpfe seit 1933 bedingte Distanzierung mit der vom nationalsozialistischen Staate 1938 verfügten Entziehung der venia legendi endete. Solcher kaum mit einem Schein des Rechtes vollzogenen Ausmerzung ihm unbequemer Geister durch das politische Regime entsprach es, daß andererseits seit 1933 die vermeintliche oder tatsächliche kirchenpolitische Einstellung bei der Neubesetzung gerade auch der systematischen Lehrstühle eine recht vordergründige Rolle gespielt hat. Die z. T. allerdings recht widerwillige Nachgiebigkeit, sich auf die von oben herab dekretierte Kirchen- und Kulturpolitik einzulassen, hat im Verein mit den mancherlei Spannungen innerhalb der Fakultät dahin gewirkt zu verhindern, daß einer qualifizierten Auseinandersetzung zwischen den die Zeit 177

Brief an Erwin Sutz, Anfang August 1932, in: Dietrich Bonhoeffer. Gesammelte Schriften, herausgeg. von Eberhard Bethge I (1958) S. 33. 178 Brief an Erwin Sutz vom 24. 7. 1931, Ges. Sehr. I. S. 20. 179 Brief an Erwin Sutz vom 25. 12. 1931, Ges. Sehr. I. S. 24. 126

bestimmenden theologischen Richtungen in ihrer Differenziertheit wenigstens durch ein ernsthaftes Bemühen um wissenschaftliche Sachlichkeit bei den Berufungen in ihre Reihen Raum gegeben wurde. Die systematische Disziplin verfügte infolgedessen trotz den ihr noch immer zur Verfügung stehenden drei Lehrstühlen bald über keinen namhaften Vertreter mehr, der in eigenständiger Weise wirksam hervorgetreten wäre oder sonstwie einen größeren Einfluß als akademischer Lehrer ausgeübt hätte. Sie geriet überraschend schnell in den Winkel und schied inmitten der doch den systematischen Fragen mit besonderer Intensität zugewandten Bewegung der Geister als ein sich Geltung und Beachtung schaffender Partner so gut wie gänzlich aus. Der Nachfolger von Titius wurde Ende 1933 Arnold Stolzenburg, der sich 1921 in Berlin habilitiert hatte und neben Untersuchungen zur Geschichte der Theologie der „Übergangszeit" die Sozialethik als sein spezielles Arbeitsgebiet angab; er ging damit auf eine die damalige Berliner Fakultät lebhaft beschäftigende zeitnahe Thematik ein, wie er überhaupt eine große Bereitwilligkeit bekundete, aktuelle Fragen der am Rande des kirchlich-religiösen Lebens auftauchenden Sonderbestrebungen aufzugreifen und von da aus schließlich auch die religiöse Volkskunde in seinen Lehrauftrag einzubeziehen wünschte. Noch versuchte man, das oft geübte Privileg, die Ordinariate an namhafte, durch hohe Leistungen längst ausgewiesene Gelehrte zu vergeben, durch die Berufung von Georg Wobbermin noch einmal wahrzunehmen. Doch dieser Rückgriff auf den bereits 65jährigen bedeutete, auch wenn er noch drei Jahre lang den Lehrstuhl innehaben konnte, eine gleichermaßen von Verlegenheit und Absichtlichkeit diktierte Notlösung, die der Fakultät keinen echten Gewinn brachte, da die in den nächsten Jahren sich nicht zuletzt aus kirchenpolitischen Gründen verschärfenden Differenzen innerhalb der Fakultät einer sachlichen Berücksichtigung und ernsthaften Durchsetzung wissenschaftlicher Gesichtspunkte je länger desto weniger zuträglich waren, zumal konformistische Tendenzen der immer unverhüllter zu Tage tretenden zielstrebigen Einmischung rein politisch und.kirchenpolitisch orientierter Instanzen in der Personalpolitik entgegenkamen. 1937 wurde der Dorpater Dozent und Berliner Habilitand Werner Gruehn berufen, der als Schüler Girgensohns neben seinem Lehrer bereits als anerkannter Vertreter der empirischen Religionspsychologie hervorgetreten war. Unter sinngemäßer Anwendung der experimentellen Methodik der allgemeinen empirischen Psychologie auf das besondere Gebiet des religiösen Lebens galt sein Bemühen dem Versuch, von der „Außenschicht des christlichen Glaubens" zu dessen innerster Tiefensdiicht vorzudringen, und wollte er durcii eine so sich von der Peripherie zum Zentrum vortastende Erforschung der psychologischen Struktur des religiösen Bewußtseins vor allem der 127

systematisch- wie praktisch-theologischen Arbeit neue Impulse geben. Die besondere Zwedcbestimmtheit dieser Berufimg war in der konkreten Situation der Berliner Fakultät schwerlich zu übersehen und zumal nicht, daß ihm die Aufgabe zugedacht war, in der Ergänzimg sowohl der systematisch-theologischen Vorlesungen wie der katechetisch-pädagogischen Übungen der „weltfremden dialektischen Theologie" entgegenzuwirken. Eine entsprechende Überlegung lag den Erwägungen über die Nachfolge Wobbermins zu Grunde, für die schließlich nicht ohne ein in ihrem Besetzungsvorschlag positiv formuliertes Votum der Fakultät F. W. Schmidt (1939) ausersehen wurde. Sein ernsthaftes Bemühen um die „Grundfrage der Theologie" und ihre bewußt an Luther orientierte Bewältigung verband sich in der Abwehr der Grundhaltung der „neuesten Theologie" und ihrer radikalen Tendenzen mit einer um so größeren Bereitwilligkeit verstehenden Eingehens auf die im allgemein geistigkulturellen Leben immer neu aufbrechenden Strebungen der Zeit nach Bewußtwerdung seiner selbst bis in die Jahre des „nationalsozialistischen Umbruches" hinein, deren Pervertiertheit in der offenen Demonstration menschlicher Hybris durch den Nationalsozialismus ihm freilich sehr lange verborgen blieb. In seinen Beiträgen zur Theologiegeschichte zwar durch verdienstvolle Arbeiten an der Forschung beteiligt, ist er in der allgemeine Diskussion bis zu seinem frühen Tode nicht als ein eigenständiger Systematiker wegweisend hervorgetreten. Die systematische Disziplin war seit der Gründung der Fakultät nach ihrer geistigen Potenz und theologischen Bedeutung niemals so stark zurückgefallen wie in dem letzten halben Jahrzehnt vor dem Ende des zweiten Weltkrieges. Demgegenüber gelang es innerhalb der „praktischen Theologie" ein derartiges Abgleiten zu verhindern, obwohl sie vielleicht noch stärker der Gefahr ausgesetzt war, der jüngsten weltanschaulichen Ideologie durch personalpolitische Maßnahmen als Einbruchsstelle zu dienen. Man hielt im Ganzen die von der Fakultät nach dem Weltkriege beobachtete Generallinie ein und das bedeutete zunächst: Männer wie Simons und Kawerau schieden aus, ohne daß sie einen ihre betont historischen Interessen irgendwie aufnehmenden Nachfolger gefunden hätten. So weit berücksichtigte man offensichtlich die durch die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der gesellschaftlichen und kulturpolitischen Verhältnisse geforderte und durch den Zug zu größerer „Gegenwartsnähe" charakterisierte Neuorientierung der praktischen Theologie; aber gegenüber den dann nach dem Kriege durch die „Barthianer" unternommenen Vorstößen zu einer theologischen Neufundierung und daraus sich ergebenden wesentlichen Kursänderung verhielt man sich überaus ablehnend. Mahling selber behielt die Fragen- und Aufgabenstellung, mit der er seine Lehrtätigkeit begonnen hatte, ohne wesentliche Modifikation bei 128

und stellte gerade von seinem speziellen Arbeitsgebiet her als ein maßgebliches Prinzip der Verfahrensweise aller Praxis heraus, dem Auftrag der Verkündigung — in ihrem weitesten Verstände — im Eingehen auf die konkrete Situation des Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft gerecht zu werden, d. h. die psychologisch-soziologischen Voraussetzungen des kirchlichen Handelns zu untersuchen und sie in der Neuprägung alter wie in der Schaffung neuer Formen des Dienstes zu wirkungskräftiger Gestaltung einer ebenso sach- wie zeitgemäßen Verkündigung auszuwerten. Es bedeutet audi keine tiefer greifende Veränderung der grundsätzlichen Orientierung, als sich Bruno Doehring und Hermann Werdermann für praktische Theologie habilitierten, die beide im Gesamtverständnis des Wesens und der Aufgabe ihrer Disziplin nicht entscheidend von der Auffassung des Ordinarius differierten. Immerhin brachte ihre Wirksamkeit nicht nur eine Entlastung Mahlings, sondern sie führte faktisch vor allem zu einer gewichtigen Hervorhebung zweier zentraler Fachgebiete im praktisch-theologischen Lehrbetrieb. Denn Doehring (1923), seit 1914 Hof- und Domprediger in Berlin, legte das Schwergewicht seiner akademischen Lehrtätigkeit auf die Homiletik, nicht allein, weil er selbst ein „geborener Prediger" war und durch den Wechsel der Zeiten hindurch die Hörer durch die Macht des Wortes bezwang, vielmehr aus der innersten Uberzeugung, daß dem Gottesdienst und in ihm der Predigt unzweifelhaft der Vorrang unter all den vielfältig verschiedenartigen Formen kirchlichen Handelns gebühre, eben darum die von der Sache her der Homiletik eigene Präponderanz zumal in der praktischen Unterweisung klar zum Ausdrude kommen müsse. Mag auch sein Predigtverständnis stark unter dem Vorzeichen einer „kollektiven Seelsorge" gestanden haben und in dem Streben nach Gegenwartsnähe die „Zeitpredigt" als virtuose Beherrschung der „religiösen Rede" für ihn selber kennzeichnend sein, so blieb ihm doch die Predigt immer eine unter der Nötigung des Wortes stehende, seiner Wahrheit gewisse Verkündigung des Wortes, das aus sich selber den Menschen „angeht". Werdermann (1923) hingegen wandte seine Aufmerksamkeit neben seinen Studien zur Geschichte des evangelischen Pfarrerstandes vornehmlich den Fragen der Religionspädagogik und der Seelsorge zu, und er hat sowohl in die lebhaft aufbrechende Diskussion über Wesen und Wege, Recht und Möglichkeit religiöser Unterweisung und Seelsorge eingeführt als auch aus einer neuen Wegen sich nicht verschließenden, obschon traditionsgebundenen Haltung heraus helfende Hinweise zur praktischen Bewältigung der Aufgaben zu geben gesucht. Freilich, die Problematik, mit der gerade auf diesen beiden Gebieten die prinzipielle Auseinandersetzung in der offenen Krisis des geistig-religiösen Lebens belastet wurde, und die zumal von der dialektischen Theologie ausgehende Kritik an der 129

humanistisch-idealistischen Überfremdung und abwegigen Auffassung kirchlichen Wirkens als einer verfügbaren Möglichkeit religiöser Menschenbildung haben ihn in den sechs Jahren, die er — vor seiner Berufung an die Pädagogische Akademie in Hannover — in der Berliner Fakultät tätig war, nicht zu einer wesentlichen Korrektur seiner Anschauungen geführt, so daß auch hier die auf evangelischem Boden besonders intensiv zum Grundsätzlichen vorstoßende Erörterung gleichsam nur im kritischen Referat auf den Lehrbetrieb einwirkte. Erst Leonhardt Fendt, •der sich 1931 in Berlin habilitierte und 1934 das Ordinariat Mahlings übernahm, griff die durch die jüngste theologische Entwicklung in ihrer Ungelöstheit wieder so offenbar gewordene Frage nach der „Stellung •der Praktischen Theologie im System der Theologischen Wissenschaft" (so das Thema seiner Antrittsvorlesung) mit allem Ernste auf. Er konstatierte — angesichts der bisher üblichen Eingliederungsversuche auf Grund nicht haltbarer Aufgabenstellung und im Blick auf die wesentliche Bestimmtheit der wissenschaftlichen Theologie als „rationale Theologie", obschon „die fiduziale Theologie in ihr als lebendiges Herz schlägt"180 — die faktische „Stellungslosigkeit", die nur dadurch zu beheben sei, daß ihr die Wissenschaft ein eigenes Gebiet als ihr spezifisches Objekt zuweise. Und als dieses Eigengebiet einer methodischen wissenschaftlichen Forschung, das bis jetzt herrenlos daliegt und „unbedingt von der Wissenschaft, von der theologischen Wissenschaft vergeben werden muß", 181 nahm er nun für sie das „Aktuell-Werden und AktuellSein der gesamten Theologie in allen ihren Sätzen und Teilen"182 in Anspruch und definierte von da aus schließlich „praktische Theologie (als) die theologische Theorie, welche die im Neuen Testament vorausgesetzte kirchliche Praxis" — d. h. was Jesus Christus laut dem Neuen Testament als kirchliches Handeln wollte, was er als den Willen Gottes in dieser Hinsicht kundtat 183 — „erforscht, darlegt und in die gegenwärtige Lage •einzeichnet".184 Es war ein entschlossener Versuch, auf die immer neuen Variationen, von dem summierten Vielerlei der kirchlichen Handlungen als Lebensäußerungen der Kirche zu einem mehr oder minder formalen Begriff des „kirchlichen Handelns" aufzusteigen, endgültig zu verzichten und die stete Aktualität der scientia eminens practica als den die genuine Einheit aller Praxis konstituierenden Faktor herauszustellen, zugleich

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L. Fendt: Die Stellung der Praktischen Theologie im System der Theologischen Wissenschaft (1932) S. 9. 181 L. Fendt: Die Stellung d. Prakt. Theol. S. 23. 182 L. Fendt: Die Stellung d. Prakt. Theol. S. 23. 183 L. Fendt: Grundriß der Praktischen Theologie (19492) S. 4. 184 L. Fendt: Grundriß der Praktischen Theologie S. 4.

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•die praktische Theologie als eine mit den Methoden und Mitteln der Wissenschaft ein ihr von der Wissenschaft zugewiesenes und speziell vorbehaltenes Gebiet erforschende und lehrende Disziplin zu qualifizieren und sie in sachlicher Kommunikation mit der historischen und der systematischen Theologie als integrierendes Element vollgültig in das System der theologischen Wissenschaft einzufügen. Fendt hat seine Position auf biblisch-reformatorischer Grundlage in lebendiger Auseinandersetzung besonders mit der theologischen Arbeit des 19. und 20. Jahrhunderts bis in seine Gegenwart hinein gewonnen und, geleitet von dem bewußten Streben nach allseitiger Offenheit und stärkster Konzentration, auf ein Verständnis der praktischen Theologie hingewirkt, in dem die Begriffe „theologisch" und „Wissenschaft" in ihrem vollen Gehalt zur Geltung kommen sollten und die ganze Weite der Praxis einbeschlossen war. Fraglos war er in der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der hervorragendste, im echten Sinne produktivste und wirksamste Vertreter seiner Disziplin in der Berliner Fakultät, über dessen neue Wege weisenden Beitrag zum Ganzen der praktischen Theologie nicht vergessen werden darf, daß er in spezieller Forschung eine unter evangelischen Theologen selten weit reichende Kenntnis des gesamten Gebietes der Liturgie-Wissenschaft besaß. Neben Fendt trat Werner Schütz (1931), der sich ein halbes Jahr nach ihm habilitiert hatte, nicht sonderlich in Erscheinung. Die sechs Jahre seiner Zugehörigkeit zum Berliner Lehrkörper dienten ihm zunächst bei seiner Beanspruchung durch das praktische Amt im Ganzen und Großen der stofflichen Einarbeitung in das akademische Lehramt, ohne sich von den grundsätzlichen Erwägungen Fendts stärker inspirieren zu lassen. Wohl geben die Themen seiner Vorlesungen, sofern sie als Spezialkollegs eines jungen Dozenten überhaupt etwas auszusagen vermögen, zu erkennen, daß ihn im Rahmen seines Fachgebietes die Probleme des evangelischen Kirchengedankens, die Theologie des Kirchen- und Amtsbegriffes, Kirchenrecht und Kirdienverfassung beschäftigten. Das waren in der Tat in jenen Jahren auch für den praktischen Theologen besonders akut gewordene Fragen, die in der theologischen Debatte eine scharfe Zuspitzung erfahren hatten. Nur gab die Diskussion nicht zuletzt auch einer verhängnisvollen Variante des Strebens nach „Gegenwartsnähe" Auftrieb, wenn man nun eine „gegenwartsbezogene" Lösimg unter dem Vorzeichen der Rücksichtnahme auf die im Wandel der politischen Verhältnisse und im Zusammenhange mit ihm stehende „Glaubensbewegung" versuchen zu müssen wähnte; auch Schütz bewegte sich schließlich in dieser Richtung. Sie sollte ostentativ von Eugen Mattiat verfolgt werden, der 1935 als Professor für praktische Theologie und deutsche Volkskunde der Fakultät zugewiesen wurde; doch hat er neben seiner

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Funktion im Kultusministerium die Professur nicht wirklich wahrgenommen und ging 1937 nach Göttingen. Im weiteren Rahmen der praktischen Disziplin müssen auch die Vertreter der Kirchenmusik Erwähnung finden, die als Lehrbeauftragte ihre wichtige Funktion wahrnahmen und, wenn sie auch zunächst nur sehr am Rande fungierten, doch immerhin durch das Angebot ihrer Vorlesungen und Übungen zum Ausdrude brachten, daß die Fakultät sich der Einsicht in die Bedeutung dieses Zweiges der Wissenschaft nicht verschloß und dem wachsenden Bedürfnis nach einer fachkundigen Berücksichtigung in ihrem Lehrbetrieb Rechnung zu tragen willens war. Die Aufnahme dieses Unterrichtes war insbesondere der persönlichen Initiative von Johannes Biehle (1919) zu danken, der den Theologie-Studenten nicht nur die bedeutsamen Ergebnisse seiner Forschung zur Raum- und Bauakustik, zur Orgelbaukunst und Glockenkunde vermittelte, sondern auch als Kirchenmusiker seine praktischen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnisse auf dem Gebiete des liturgischen Gottesdienstes wie der kirchenmusikalischen Betätigimg überhaupt vortrug. Eine strengere wissenschaftliche Ausrichtung und Konzentration auf eine historische wie systematische Grundlegung erfuhr diese Arbeit durch Adam Adrio, der als Oberassistent am musikhistorischen Seminar 1938 in der Nachfolge Biehles einen Lehrauftrag für Kirchenmusik und musikalische Liturgik übernahm und auf Grund seiner gediegenen Kenntnis und selbständigen Forschung auch in die neuere evangelische Kirchenmusik einzuführen vermochte, freilich durch den Krieg in seinem fruchtbaren Wirken beeinträchtigt wurde. Durch die Erteilung von Lehraufträgen wurde schließlich auch die Möglichkeit zu fachkundiger Unterrichtimg für recht spezielle Fachgebiete geschaffen, deren Einbeziehung in den Vorlesungsplan gewiß nicht in jedem Falle einer besonderen fachwissenschaftlich begründeten Notwendigkeit entsprach, die aber für jene Zeit doch wohl mehr zu bedeuten hatte als nur die Nutzung einer günstigen Gelegenheit zur Bereicherung des Angebotes für Interessenten. So stand es in einem unmittelbaren Zusammenhange mit der Funktion des von Reinhold Seeberg begründeten sozialethischen Institutes, daß die Fakultät seit 1927 den Direktor des Evangelischen Hauptwohlfahrtsamtes Friedrich Ulrich mit der Abhaltung von Vorlesungen und Übungen über Wohlfahrtspflege beauftragte, der durch Theorie und Praxis in die Probleme und Aufgaben dieses weitverzweigten Bereiches des öffentlichen Lebens einzuführen und auch über die „weltanschaulichen Grundlagen" dieser Arbeit zu referieren suchte. Doch hier forderte er bald, obwohl noch 1933 zum Honorarprofessor ernannt, den Einspruch des neuen Regimes heraus, dem die „theologische Fakultät nicht der gegebene Ort zu sein (schien), 132

um die weltanschaulichen Grundlagen der Wohlfahrtspflege im nationalsozialistischen Staate abzuhandeln" 185 und der die Tätigkeit Ulrichs wie auch die des sozialethischen Institutes so begrenzt wissen wollte, „daß er sich auf das Aufgabengebiet der Theologischen Fakultät beschränkt . . .",18S das hieß praktisch auf die Behandlung der christlichen Liebestätigkeit. — Größerer Gunst konnte sich verständlicherweise Ernst Schubert erfreuen, der 1929 einen Lehrauftrag für „deutsch-evangelische Kirche im Ausland" erhalten hatte. Wie in seinem Jahrbuch „Auslandsdeutschtum und evangelische Kirche" ging es ihm bei der Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabe nicht lediglich um eine informatorische Darstellung der organisatorischen Gestalt und der inneren Verhältnisse der •deutsch-evangelischen Auslandsgemeinden im Sinne etwa einer referierenden Kirchenkunde; wesentlicher war es ihm, die eigentümliche Situation und besondere Funktion deutlich werden zu lassen, die diesen Gemeinden aus ihrem Kirchentum wie aus ihrem Volkstum als Gabe und Aufgabe erwuchsen. Daß damit die Forderung einer umfassenden •und eingehenden historischen Grundlegung, d. h. einer Kirchengeschichte der Auslandsdeutschen gestellt war, hat Schubert wohl gesehen, und er hat mit seiner „Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom" oder seinem „Abriß einer Volksdeutschen Kirchengeschichte" wenigstens einen Schritt zu ihre Erfüllung getan; doch über solche ersten Ansätze hinauszuführen war ihm nicht vergönnt. Beide Lehraufträge dürfen letztlich wohl als Ausdruck des eben in den zwanziger Jahren stark hervortretenden öffentlichkeitswillens der Fakultät und ihres Bestrebens angesehen werden, der studentischen Jugend durch die Einführung in derartige Arbeitsgebiete den Blidc für die über die Grenzen des spezifisch kirchlichen Lebens hinausgreifende Öffentlichkeitsbedeutung der Kirche zu weiten. Und man verfolgte die gleiche Tendenz, wenn man 1925 dem Direktor des „Evangelischen Preßverbandes für Deutschland" August Hinderer einen Lehrauftrag für evangelische Publizistik erteilte. Denn der zwei Jahre später zum Honorarprofessor Ernannte vermittelte nicht nur eine gewisse Kenntnis von Theorie und Praxis des in den veränderten Zeitläufen längst zu einem unentbehrlichen Bestandteil der unmittelbaren „kirchlichen Versorgung" gewordenen Pressedienstes; er gab das mit dem technischen Fortschritt immer differenzierter sich gestaltende, immer weiter sich spannende System publizistischer Einflußnahme auf das geistig-kulturelle Leben zu bedenken und wies auf die Aufgaben hin, die sich daraus auf den Gebieten von Presse und Literatur, Theater und Film, überhaupt des gesamten Unterhaltungs185 188

Nadi unveröffentlichten Unterlagen. Nach unveröffentlichten Unterlagen. 133

wesens neu ergaben, um Geist und Wesen evangelischen Christentums in der allgemeinen Kulturentwicklung gebührend zur Geltung zu bringen. Daß auch hier ein Konflikt mit dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Regimes unvermeidlich war, lag auf der Hand. Die durch die Emeritierung von Julius Richter vakante Professur für Missionswissenschaft wurde 1930 Johannes Witte übertragen, der sich 1921 habilitiert hatte und als Direktor des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsverems eine freiere Auffassung vom Wesen und von der Aufgabe der Mission vertrat als sie seinem noch stärker an die orthodox-pietistische Anschauungsweise gebundenen Vorgänger eigen gewesen ist. Es entsprach den Zielen der von ihm vertretenen „Ostasien-Mission", seinem Fachgebiet auch an der Universität eine den wissenschaftlichen Erfordernissen der Zeit genügende Fundierung und Orientierung zu geben, und er suchte dem in Sonderheit auch dadurch gerecht zu werden, daß er seinen Lehrauftrag auf allgemeine Religionsgeschichte ausdehnen ließ. Er hat sich hier zumal den ostasiatischen Religionen zugewandt und durch seine Arbeit zu seinem Teile dazu beigetragen, daß die deutsche Theologie inmitten der solchen „peripheren" Anliegen wenig freundlichen Periode des Sturmes und Dranges die Verbindung mit der religionsgeschichtlichen Forschung nicht verlor und auch der Kontakt zwischen Religions- und Missionswissenschaft aufrecht erhalten wurde. Er wurde allerdings im Dezember 1938 von den amtlichen Verpflichtungen entbunden. Forschimg und Lehre sind infolge der „totalen Kriegführimg" schließlich fast völlig zum Erliegen gekommen, bis im Zusammenbruch des Jahres 1945 die Universität geschlossen wurde. Im Ganzen gesehen hatte die Fakultät in der bis dahin letzten Phase ihrer Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen eine nicht geringe Aktivität und Leistungskraft entfaltet und in einzelnen Disziplinen auch durch neue Ideen und Anregungen die wissenschaftlich-theologische Gesamtarbeit befruchtet. Sie ließ dabei keinen Zweifel, wie stark sie sich dem Erbe des 19. Jahrhunderts verpflichtet fühlte, wahrlich nun nicht im Sinne eines impotenten Traditionalismus, wohl aber im Bewußtsein der nachhaltig fortwirkenden Bedeutung des noch nicht zum vollen Austrag gekommenen geistesmächtigen Ringens dieser Zeit. Man stellte sich, obschon in aufschlußreicher Differenzierung, der Problematik, in welche die Theoolgie in ihrer ganzen Breite durch die spekulativ-dogmatische wie historisch-kritische Arbeit im voraufgegangenen Jahrhundert geführt worden war; und im gesteigerten Bemühen, diese Problematik klar zu erfassen und ihr gerecht zu werden, empfand die jüngere Generation, stärker als die der Väter, die Schwierigkeiten einer sachgemäßen Lösung, zumal die „Theologie der Krisis" den Blick für die gegenwärtige Situation von 134

Theologie und Kirche als das Resultat einer unbewältigten Vergangenheit geschärft hatte. Aber man war nun nicht gewillt, den vielfältig verschlungenen Knoten einfach zu durchhauen, also den Weg der Theologie des 19. Jahrhunderts als prinzipiell durch eine falsche Zielsetzung orientiert, darum von Anfang bis zum Ende und je länger desto mehr nur in die Irre führend zu kennzeichnen, die Behauptung der qualitativen Besonderheit der Theologie bis zu der These ihrer Isoliertheit im System der Wissenschaften als einer notwendigen Folge ihres allen anderen Wissenschaften inadäquaten Charakters zu akzeptieren. Man bekannte sich zu dem in besonderer Weise gerade die Geschichte der Berliner Fakultät umschließenden, durch sie selber mit begründeten u n d vielfach bereicherten geistigen Erbe und suchte im vollen Bewußtsein der keineswegs geleugneten oder unterschätzten Problematik der damit übernommenen Aufgabe seiner Erfüllung die Universalität und Intensität des so zwiespaltigen Bemühens um eine „wissenschaftliche Theologie" durch die Zeiten des Sturmes und Dranges hindurch lebendig zu erhalten. D a ß bei diesem Unterfangen die schöpferische Energie geistesmächtiger Gedankenbildung und die mit elastischer Weite gepaarte Fähigkeit konzentrierter Problemdurchdringung in der Auseinandersetzung mit den jüngsten theologischen Strebungen dank dem so und nicht anders sich gestaltenden Wandel in der Zusammensetzung des Lehrkörpers die Fakultät mehr und mehr abnahm, läßt sich freilich nicht in Abrede stellen und ist nicht allein durch die der wissenschaftlichen Arbeit abträgliche Unruhe des letzten Jahrzehntes zu erklären. Keine der deutschen theologischen Fakultäten sah sich nach der Beendigung des zweiten Weltkrieges vor die Notwendigkeit eines so radikalen Neuanfanges gestellt wie die der Berliner Universität. Denn von den ihr zu Beginn des Krieges noch verbliebenen neun planmäßigen Ordinarien, bzw. Extraordinarien stand ihr bei dem Versuch der Wiederaufnahme des Unterrichtes kein einziger mehr zur Verfügung, da Lietzmann, Erich Seeberg und Fr. Wilh. Schmidt inzwischen gestorben waren, ohne einen Nachfolger zu erhalten, die übrigen aber nicht in ihr Amt zurückkehrten. Unter dem provisorischen Rektorat Eduard Sprangers und dem kommissarischen Dekanat von Johannes Schneider begann man noch im Sommer 1945 im Zehlendorfer Gemeindehaus zunächst einen vorläufigen Vorlesungsbetrieb für Theologen zu organisieren, an dem sich von den damaligen Mitgliedern der Fakultät außer Joh. Schneider auch Dreß und Aland beteiligten. Die alsbald einsetzenden Bemühungen um eine Erweiterung des Lehrkörpers, in die sich auch Bischof Dibelius maßgeblich einschaltete, ließen dann aber die Schwierigkeiten erst recht offenbar werden, die unter den gegebenen Verhältnissen dem Aufbau einer leistungsfähigen oder doch den notwendigen Erfordernissen ent-

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sprechenden Fakultät entgegenstanden. Ein geordnetes Berufungsverfahren, das auf der Basis kritischer Umschau unter den qualifizierten Vertretern der einzelnen Disziplinen der theologischen Wissenschaft zur Aufstellung von Vorschlagslisten, zur Befragung der in Aussicht genommenen Kandidaten und schließlich ihrer Zusage und Berufung geführt hätte, war nach Lage der Dinge in jeder Hinsicht noch völlig unmöglich. Man mußte sich darauf beschränken, die in Berlin selbst unmittelbar verfügbaren Nichtordinarien mit dem Lehramt zu betrauen und die noch bleibenden Lücken dadurch zu schließen, daß man in der Zeit des Kirchenkampfes als theologische Lehrer hervorgetretene Geistliche heranzog oder bei der Philosophischen Fakultät Hilfe suchte. Doch gelang es auf diesem Wege tatsächlich, daß, als die Universität am 29.1.1946 offiziell wieder eröffnet wurde, auch die Theologische Fakultät für das Sommersemester ein Vorlesungsprogramm anbieten konnte, in dem bereits alle Disziplinen berücksichtigt waren. Für das Alte Testament war man allerdings noch auf die Unterstützung durch den Religionswissenschaftler Walter Braune angewiesen, der außer dem hebräischen Sprachkursus noch „Genesis mit Interpretationen" und „Geschichte Israels" jeweils zweistündig anzeigte. Das Neue Testament wurde durch Johannes Schneider vertreten, neben dem Martin Albertz als ein entschieden der dialektischen Theologie zugewandter Theologe seine grundsätzliche Kritik an der die neutestamentliche Wissenschaft seit der Aufklärung bestimmenden Entwicklung und seine auf einen radikalen Bruch mit dieser verhängnisvollen Uberlieferung drängenden Anschauung einer sachgemäßen Neugestaltung der neutestamentlichen Forschung und Lehre unter dem Skopus der „Entstehung und Entfaltung der Botschaft des Neuen Testaments" vortrug. Dreß, Eltester und Aland kündigten gleich im ersten Semester fast alle Teile der Kirchengeschichte in Vorlesungen und einem Repetitorium an, und die beiden Schüler Lietzmanns suchten auch sofort in der schon zuvor geübten Arbeitsteilung die von ihrem Meister übernommenen Forschungs- und Publikationsaufgaben in Verbindung mit der Berliner Akademie wieder aufzugreifen, wobei namentlich Alands große organisatorische Begabung und energischer Zugriff noch darüber hinaus immer neue Möglichkeiten zur Ausweitung und Intensivierung der Arbeit zumal im neutestamentlich-kirchengeschichtlichen Sektor erschloß. Die Kollegs und Seminare der systematischen Disziplin übernahm Heinrich Vogel, der wie Albertz durch Bischof Dibelius der Fakultät zugeführt worden war und in ihr nunmehr eine Dogmatik dozierte, die in ihrer Grundkonzeption und ganzen Struktur eine starke Beeinflussimg durch Karl Barth offen zu erkennen gab, allerdings im Unterschied zu Albertz, der „die nach Gottes Wort reformierte Kirche" (so das Thema seiner Einführungsvorlesung) in ihrer Lehre zu 136

Worte kommen lassen wollte und sollte, in wesentlichen Stücken den Anschluß an Luther zu wahren suchte und auch den hieraus resultierenden Dissensus zu Barth nicht verschwieg. Der Lehrstuhl für die praktische Theologie sollte Fendt erhalten bleiben, und man setzte seinen Namen in der zuversichtlichen Erwartung seiner Rückkehr in das Vorlesungsverzeichnis ein; doch die Hoffnung, ihn als akademischen Lehrer für Berlin wiederzugewinnen, trog, so daß Doehring, der als der „dienstälteste Nichtordinarius" seine Lehrtätigkeit ebenfalls wieder aufnahm, die volle Vertretung übernehmen mußte. Daß man das Angebot durch eine Vorlesung des Mathematikers Alexander Dinghas über das „Weltbild der modernen Naturwissenschaft" noch bereicherte und auch für die Durchführung der lateinischen und griechischen Sprachkurse Sorge trug, soll nicht nur am Rande vermerkt sein. So hatte sich unter dem Dekanat von Eltester eine Fakultät gebildet, der es gewiß anzumerken war, daß sie unter den notvollen Verhältnissen der damaligen Situation Berlins entstanden war, unter wesentlich anderen Voraussetzungen als 135 Jahre zuvor die Gründung in der Zeit der von Napoleon heraufgeführten Katastrophe Preußens erfolgen konnte. Auch bei dieser „Neugründung" war ohne Zweifel der Wille spürbar, dem in den beiden letzten Jahrzehnten sich vollziehenden Umbruch des theologischen Denkens nachdrücklich Raum zu schaffen und den Dienst einer so von neuen Impulsen bewegten Theologischen Fakultät, freilich nun unter einem ganz anderen Vorzeichen als zur Zeit Schleiermachers, innerhalb des Ganzen der Universität für die Gesundung des zerrütteten Lebens in Kirche und Volk fruchtbar zu machen. Aber allein schon die durch die Einwirkung nicht auszuschaltender fremder Instanzen bedingte Begrenztheit der äußeren Möglichkeiten hinderte die Freizügigkeit der Gestaltung und machte erst recht eben angesichts ihres doch illusorisch scheinenden Charakters das Fehlen einer einheitlich-selbständigen Konzeption verständlich. Man rechnete nüchtern mit den zunächst vorfindlichen Gegebenheiten, nahm wohl auch günstige Gelegenheiten bestimmender Einflußnahme bei der Verfolgung besonderer Interessen und Tendenzen wahr, nutzte jedenfalls die dargebotenen Hilfen tatkräftig aus, um vorab als das nächstliegende Ziel wenigstens die Wiederaufnahme eines einigermaßen zureichenden Unterrichtes zu verwirklichen, und überließ es der Zukunft, wieweit sich die Fakultät im Laufe ihrer weiteren Entwicklung eine klar geprägte Eigenform zu geben willens und imstande sei. Allerdings waren ihr auf Grund der jetzt zustande gekommenen personalen Zusammensetzung wichtige, die Ausgangsposition bestimmende Elemente von vornherein mit auf den Weg gegeben, nämlich einmal durch die übernommenen Nachwuchskräfte der früheren Fakultät das in jener so entscheidend hervortretende Verständnis von

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wissenschaftlicher Theologie, das sich nunmehr kaum modifiziert namentlich im Bereiche der exegetischen und historischen Arbeit weiterhin durchsetzte, zum anderen durch die beiden neuen Lehrer die davon so eminent unterschiedene Grundanschauung über Wesen und Aufgabe der Theologie, wie sie im Anschluß an Barth vertreten wurde. Beide Elemente haben sich fortan in der geistigen Struktur der Fakultät vornehmlich mit geltend gemacht und sich gleichsam in friedlicher Koexistenz im weiteren Aufbau ausgewirkt, der als ebenso dringliche wie schwierige Aufgabe noch bevorstand. Die allmähliche Konsolidierung der allgemeinen Verhältnisse und die Übernahme auch der Universitätsangelegenheiten in die volle Verantwortlichkeit der deutschen Behörden brachte nicht nur eine Erleichterung. Die Herausbildung eigener Formen des Hochschulwesens engte die Freiheit selbständigen Handelns der Fakultät im Laufe der Jahre faktisch immer mehr ein; die politische Entwicklung in Richtung auf eine deutsche Doppelstaatlidikeit mit der zunehmenden Verschärfung zwischen dem deutschen Osten und dem Westen machte bei Berufungen den Rückgriff auf Wissenschaftler aus Gesamtdeutschland praktisch unmöglich und selbst der ursprünglich noch großzügig konzedierte Wechsel der Professoren innerhalb der östlichen Fakultäten wurde immer stärker eingeschränkt, obschon nicht völlig unterbunden, statt dessen der in einem besonderen Bildungsgang (Aspiranturen) durch weitgehende Unterstützung sehr geförderte, jedoch gelegentlich wissenschaftlich noch nicht zureichend ausgewiesene Nachwuchs mit und ohne Einverständnis der Fakultäten bei der Neubesetzung der dreifach abgestuften Professuren bevorzugt, bzw. durch die Errichtung von Dozenturen dem Lehrkörper zugeteilt, mit der Begründung, daß man ein gleichmäßiges Nachrücken der jungen Kräfte möglichst gewährleisten müsse, demzufolge dann auch im Blick auf die personale Notlage aller Fakultäten ein Privilig einzelner Kollegien, sich nur durch die Berufung bereits voll ausgewiesener Gelehrter zu ergänzen, nicht zu rechtfertigen sei. Angesichts solcher nur im Zusammenhang der kulturpolitischen Entwicklung recht verständlichen Komplikationen konnte sich die Fakultät im ersten Jahrzehnt ihres erneuerten Bestehens der weitgehenden Berücksichtigung ihrer begründeten Wünsche erfreuen und den weiteren Ausbau sukzessive vornehmen. Das dringendste Erfordernis nach der Konstituierung war die Behebung des Provisoriums in der alttestamentlichen Disziplin, die durch die noch im gleichen Jahre erfolgte Berufung von Leonhard Rost relativ schnell ermöglicht wurde. Mit Rost zog der erste Ordinarius wieder in die Fakultät ein, dessen erfahrene Vertrautheit mit der Führung von Fakultätsgeschäften und dessen unermüdlich tatkräftiger Einsatz in diesem besonders schwierigen Stadium der Neuord138

nung unschätzbare Dienste leistete, der aber auch insbesondere auf seinem Fachgebiete die wissenschaftliche Arbeit im engen Anschluß an die reiche Berliner Tradition und sie fortentwickelnd neu belebte. Die Wiedererrichtung eines zweiten alttestamentlichen Lehrstuhls blieb zwar — bis heute — ein unerfüllter Wunsch, doch mit Hilfe des überaus stark ausgebauten Systems der Lehraufträge gelang es ihm, den alttestamentlichen Lehrbetrieb in verhältnismäßiger Breite bis hin zur Wiederbelebung des ihm sehr am Herzen liegenden Institutum Judaicum zu organisieren. So hat Braune noch zwei bis drei Jahre die Tätigkeit des Ordinarius .durch Vorlesungen über „die Religionsgeschichte des Vorderen Orient" ergänzt, hat Erich Klamroth (1947—53) ihm für hebräische Sprache und alttestamentlichen Hilfswissenschaften zur Seite gestanden und Gerhard Lisokowsky (1947—49) ihn neben den Sprachkursen in der Arbeit des Institutum Judaicum unterstützt. Eine stärkere Entlastung im eigentlich fachwissenschaftlichen Unterricht brachte die Habilitation von Fritz Maaß (1951), der, von Otto Eißfeldt herkommend, an der grundlegenden Bedeutung einer neuen Erkenntnissen stets offenen kritischen Beschäftigung mit dem Alten Testament festhielt und diesen Standpunkt unter stärkerer Betonimg der theologischen Komponente sehr bewußt vertrat. Als Rost sich 1956 für den Fortgang nach Erlangen entschied, fiel die Wahrnehmung der Pflichten des verwaisten Ordinariats Maaß zu, der dieser Aufgabe auch voll gerecht wurde, bis es nach langwierigen Verhandlungen über die Neubesetzung des Lehrstuhles, in denen auch er als einer der von der Fakultät in Aussicht genommenen Nachfolgekandidaten ausschied, schließlich doch gelang, die Berufung von Gottfried Quell (1959) zu erreichen. Die Disziplin gewann in ihm einen theologischen Lehrer, der durch die „säuberliche Scheidung von Form und Substanz" über die Vordergründigkeit aller von außen herangetragenen, darum in ihrem relativen Wert keineswegs verkannten Problemstellung hinaus das eigentliche Kraftfeld des im Alten Testamente sich bezeugenden religiösen Lebens in seiner irrationalen Tiefe aufzuweisen sich zum Ziele setzte. In die durch den Abgang von Maaß frei gewordene Dozentur rückte der langjährige Oberassistent Gerhard Wallis (1959) nach seiner Habilitation ein, der jedoch noch im gleichen Jahre nach Halle berufen wurde und durch den Dozenten Siegfried Herrmann (1960), den letzten direkten Schüler Albrecht Alts ersetzt werden konnte. Das gleiche Bild einer modifizierten, sich jeweils spezialisierenden Aufnahme und Fortführung der im Prinzip eingehaltenen Generallinie der neueren Bibelforschung, die bei aller Zustimmung zu einer die Tiefen auslotenden theologischen Neubesinnung zumindest skeptisch bleibt gegenüber der modernen Neigung, sich dem totalen Herrschaftsanspruch bestimmter Theologumena zu unterwerfen, bietet sich auch innerhalb 11 Elliger

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der neutestamentlichen Disziplin. Johannes Schneider wahrte zur Hauptsache die Position, die er sidi von Deißmann ausgehend geschaffen und die er in der Auseinandersetzung mit dem zumal von Barth und Bultmann aufgeworfenen Fragen geweitet und gefestigt hatte, ohne sidi etwa durch die ins Grundsätzliche vorstoßende hermeneutische Debatte spürbar beindrudcen zu lassen. Martin Albertz hätte mit seinem Drängen auf einen radikalen Umbruch der gesamten neutestamentlichen Wissenschaft im Sinne der Barthschen Revolutionierung der Theologie hier wohl etwas von der spannungsreichen Situation der gegenwärtigen neutestamentlichen Arbeit spürbar machen können; doch schied er bereits 1948 wieder aus. So blieb es im Grunde dabei, daß auf das Große und Ganze gesehen, in methodischer wie sachlicher Hinsicht sehr bewußt die direkte Verbindung mit der voraufgehenden Entwicklungsphase wiederhergestellt wurde, auch insofern, als durch Eltester und Aland Lietzmanns Mitwirkung auf diesem Fachgebiete eine beschränkte Fortsetzimg erfuhr, die Rabbinica durch das Institutum Judaicum weiterhin gepflegt und für die Septuaginte seit 1951 besondere Lehraufträge erteilt wurden. Durch die Habilitation und Dozentur von Werner Schmauch (1952) fanden dann die konstruktiven Gedanken Ernst Lohmeyers einen gewissen Nachhall, jedoch nur in der Zurückhaltung und Umbildung seines Schülers und nur ganz vorübergehend, da Schmauch bereits im folgenden Jahre nach Greifswald ging und dort an die Stelle von Erich Fascher trat, der 1954 zunächst als Gastprofessor, dann als planmäßiger Ordinarius den wiedererrichteten zweiten Lehrstuhl für Neues Testament in der Berliner Fakultät besetzte. Faschers Eintritt in den Berliner Lehrkörper bedeutete dank seiner speziellen Interessen für die von der jüngeren religionsgeschichtlichen Forschimg herausgestellten Aufgaben und für die Probleme der Hermeneutik sowohl eine wertvolle Ergänzung als auch in seiner nicht verleugneten wissenschaftlichen Herkunft und von daher fest geprägten Stellungnahme zu den die Geister so leidenschaftlich bewegenden Bemühungen um eine „theologische Interpretation" eine Verstärkung der schon für die frühere Fakultät kennzeichnenden Position. Der Versuch, dem wissenschaftlichen Meinungsstreit durch die Berufung eines Vertreters auch der „anderen Seite" hier irgendwie Raum zu schaffen, scheiterte an mancherlei Schwierigkeiten, die es auch zu einem Teile wenigstens bedingen, daß die junge Generation kaum das Verlangen zu bekunden scheint, sich in selbständiger Weise an der Diskussion zu beteiligen. Der jüngste Habilitand Martin Schenke (1960) konzentriert vorerst seinen Eifer auf das neuerdings der Forschung zugänglich gewordene koptische Schrifttum und läßt den Wunsch wach werden, daß der „Kopten-Schmidt" in der Fakultät einen Nachfolger finden möchte. 140

In der kirchengeschichtlichen Disziplin betrachteten sich zunächst die Schüler als die Sachwalter des wissenschaftlichen Erbes ihrer Lehrer, von denen sie nicht nur, zum Teil jedenfalls, die Durchführung konkreter Forschungs- und Organisationsfragen übernommen, sondern deren prinzipielles Verständnis von Sinn und Zweck der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin sie sich weitgehend zu eigen gemacht hatten, wenngleich Walter Dreß die vorhandene Distanz zu Erich Seeberg durch die schärfere Hervorkehrung einer früher schon beobachteten lutherischen Observanz noch vergrößerte. So blieb die Divergenz der beiden Richtungen über die Wende von der alten zur neuen Fakultät bestehen, mochte auch der ursprüngliche Dissensus zwischen den geistigen Welten der beiden namhaften Fachvertreter nicht mehr in seiner ganzen Tiefe nachwirken und vornehmlich nur die sinnvolle fachliche Besonderung beibehalten werden, daß Eltester und Aland das Schwergewicht ihrer Arbeit auf die Geschichte der Alten Kirche, Dreß auf die der Reformation und der Neuzeit legten, ohne daß im übrigen freilich die wurzelhafte Differenz bis in die Konsequenzen des methodischen und didaktischen Vorgehens hinein völlig gegenstandslos geworden wäre. Als Aland 1947 eine Professur in Halle übernahm und die von ihm sich damals gesicherte Möglichkeit einer Fortsetzung seiner Berliner Lehrtätigkeit mehr und mehr eingeengt und schließlich so gut wie ganz unterbunden wurde noch bevor er sich 1958 genötigt sah, mit seiner Übersiedlung nach Westdeutschland auch auf die Gastprofessur zu verzichten, und Eltester 1949 einem Rufe nach Marburg folgte, riß die Tradition der Schule Lietzmanns ab. Denn der 1949 habilitierte und zum Dozenten ernannte Klaus Wessel stand nur noch in einer lockeren Verbindung mit ihr, wandte sich auch weniger der Behandlung spezieller kirchengeschichtlicher Probleme zu als er sich, ein Schüler Gerkes, auf das Gebiet der christlichen Archäologie und kirchlichen Kunst spezialisierte, das er schon zuvor als Lehrbeauftragter mit Aland zusammen betreut hatte; er ging zudem 1953 nach Greifswald. Dreß blieb somit der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, konnte sich jedoch nicht entschließen, zu Gunsten der ungeteilten Wahrnehmung des akademischen Lehramtes auf sein Pfarramt zu verzichten. Das durch das Ausscheiden von Eltester freigewordene Ordinariat wurde durch Walter Elliger (1950) neu besetzt, der zugleich die Leitung des traditionsreichen Institutes für christliche Archäologie und kirchliche Kunst übernahm, für das das ehemals selbständige Extraordinariat zu erneuern bisher nicht möglich war. Den gegenwärtig dem Kollegium angehörenden Nachwuchs bilden Gert Haendler (Hab. 1954), der sich als besonderen Arbeitsbereich die von den protestantischen Kirchenhistorikern so stark vernachlässigte frühmittelalterliche Kirchengeschichte wählte und in seinen Forschungsbeiträgen zur 141 n*

karolingischen Epoche die Ansätze zu einem neuen Verständnis der theologischen Entwicklung dieser Periode erkennen läßt; er erhielt 1957 auf Antrag der Fakultät eine Dozentur.187 Sodann Rosemarie Müller-Streisand (Hab. 1958), deren vornehmlich systematische Begabung durch ein positiv-kritisches Eingehen auf die Problemstellung der dialektischen Theologie und ihrer Ausläufer wie, dem innerlich korrespondierend, durch ein ebenso kritisch-positives Eingehen auf die weltanschaulich-politische Ideologie des fortschrittlichen Marxismus angeregt die Frage nach dem Verhältnis von Kirchen- und Profangeschichte erneut aufgreift und die in einer betont kirchenkritischen Sicht unter Verwertung einzelner Thesen der jüngeren Lutherforschung eine eigene Anschauung der Anfänge Luthers und darüber hinaus der Reformationsgeschichte überhaupt zu entwickeln sucht. Sie wurde 1959 der Fakultät als Dozentin zugewiesen. Als ein neues selbständiges Forschungsgebiet wurde 1947 die „Osteuropäische Kirchenkunde" in den Lehrbetrieb aufgenommen und bis 1948 von Fritz Lieb vertreten. Doch erst 1952 konnte diese Arbeit durch Karl Rose zunächst mit einem Lehrauftrag für „Ostkirchenkunde" in einer etwas veränderten Form fortgesetzt und ihr zwei Jahre später durch die Errichtung einer besonderen „Abteilung für Ost- und Südslawische Religions- und Kirchenkunde" im Rahmen des Theologischen Institutes eine festere Grundlage und damit eine bessere Möglichkeit der Entfaltung gegeben werden, die Rose nimmehr als Professor mit Lehrauftrag und Abteilungsleiter zu nutzen sich bemüht. Für die systematische Theologie sah sich in den ersten Jahren Heinrich Vogel fast allein verantwortlich und zumal seit dem Verzicht von Albertz auf eine weitere Vorlesungstätigkeit, in der er immerhin einen ausgeprägt reformierten Standpunkt unter kritischer Bezugnahme auf entgegenstehende Anschauungen vorgetragen hatte, wuchs das Bedürfnis, den in dieser Disziplin nun einmal in spezifischer Weise in die Erscheinung tretenden und hier besonders relevanten Sachverhalt der Existenz nicht unerheblich differierender „theologischer Richtungen" zu berücksichtigen und der methodischen wie inhaltlichen Unterschiedlichkeit systematischer Konzeption im akademischen Unterricht irgendwie Rechnung zu tragen. Vogels Art der in sich geschlossenen Entwicklung eines einheitlichen „Systems der Glaubenslehre" in rein thetischer, die wissenschaftliche Diskussion gleichsam nur intern führender Darbietimg bekenntnishafter Aussage barg neben den unleugbaren Vorzügen die kaum zu meisternde Schwierigkeit für ihn, allein den Anforderungen seines Faches im vollen Umfange nachkommen zu müssen. Zwar trat auch hier eine jüngere Generation bald in die Erscheinung und konnte 187

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Er wurde zum 1. 9. 1960 in eine Professur nach Halle berufen.

Assistenz leisten: 1950 wurde Gerhard. Koch (Hab. 1949) als erster zum Dozenten mit einem Lehrauftrag für systematische Theologie ernannt und wuchs allmählich mit zunehmendem Erfolge in eine volle Lehrtätigkeit hinein; aber obwohl er in der Entwicklung seiner Gedanken eine bewußte Selbständigkeit wahrte und namentlich in seinem Entwurf einer Ekklesiologie seine Eigenheit bekundete, stand er doch sozusagen „richtungsmäßig" gesehen in methodischer wie sachlicher Hinsicht Vogel zu nahe als daß er die Lücke hätte schließen können. Ebenso wenig konnte nach Lage der Dinge die Übernahme von Liselotte Richter (1951) aus der Philosophischen in die Theologische Fakultät als ein Lösungsversuch angesehen werden. Sie erfolgte von vornherein auch gar nicht unter solchem Aspekt, sondern unter dem bei den Verhandlungen klar herausgestellten Gesichtspunkt, die in der Berliner Fakultät seit langem gepflegte „Religionswissenschaft" auch weiterhin in ihren Aufgabenbereich mit einzubeziehen, und das um so mehr, als in der Philosophischen Fakultät kein Raum für sie war. Frau Richter beschränkte sich infolgedessen nicht darauf, die unter den neuen Verhältnissen von der Fakultät in eigene Regie genommenen Vorlesungen und Übungen über Geschichte der Philosophie zu halten; ihr Lehrauftrag enthielt darüber hinaus die Verpflichtung, eben die Religionswissenschaft zu vertreten, und zwar in dem weiteren Verstände, der die Religionsphilosophie, die Religionssoziologie und Religionsgeschichte mit umschloß. Es entsprach ihren speziellen wissenschaftlichen Interessen, wenn sie sich in diesem Rahmen insbesondere der Behandlung geschichtlicher wie systematischer Themen aus dem Gebiete der Religionsphilosophie zuwandte und im Zusammenhang ihrer eigenen Arbeiten gegenwartsnahe Probleme erörterte, zumal sachkundig in die Kierkegaard-Forschung einführte. Doch suchte sie der so weit gespannten Aufgabe auch sonst in den Grenzen des Möglichen gerecht zu werden und dabei Nähe und Distanz zugleich zur „Fachtheologie" zu wahren. Erst 1953 gelang es eine zweite systematische Professur wieder zu errichten, und deren Besetzung durch Rudolf Hermann führte der Fakultät einen Gelehrten zu, der seine geistige Selbständigkeit, seine hohen wissenschaftlichen Qualitäten und eigenwüchsige Prägung als systematischer Theologe nun gerade in der immer wieder gesuchten Auseinandersetzung mit den für das religiöse Wahrheits- und Erkenntnisstreben bedeutsamen Großen der deutschen Theologie- und Geistesgeschichte in der Neuzeit gewonnen hatte. Ein tiefschürfendes Eindringen in Luthers Theologie verband sich bei ihm mit einer ernstgenommenen Verantwortung gegenüber dem Erbe des 19. Jahrhunderts, dessen religionsphilosophischem Ringen und theologischem Bemühen er nach seiner geistigen Potenz und seinem substantiellen Gehalt entgegen der modischen Behauptung ihrer theologischen Inferiorität bei aller Kritik 143

ein offenes Verstehen entgegenbrachte und bleibende Bedeutung für die gediegene Weiterbildung einer wissenschaftlichen Theologie zuerkannte, die sich selber als solche weder preizugeben noch aufzugeben willens sei. Durch Martin Kähler und Carl Stange auf den Weg gebracht, der dann doch bald in selbstgewählter Richtung weiterging, in der im ständigen Umgang mit Luther, Kant und Schleiermacher wesentlich geformten geistigen Welt heimisch geworden, hielt er sich freilich der dogmatischen Auseinandersetzung der Gegenwart gegenüber zumeist in dem reservierten Abstand des kritischen Beobachters. Aber der Eifer um die Sache, der ihn inmitten der wechselnden Erscheinungen in Theologie und Kirche, in Wissenschaft und Politik gleichbleibend umtrieb und mit scharfsichtiger Wachsamkeit auf Gefahrenmomente achten ließ, erlahmte nie. Ein immer erneut ansetzendes Fragen, ein nie Genüge findendes Bohren, ein fortwährendes Drängen auf Klärung und Klarheit führte ihn als Forscher und Lehrer über ein formales Problematisieren ebenso weit hinaus wie in ein lebendiges Ringen um die sachlichen Probleme tief hinein, führten von allen scheinbar noch so peripheren und speziellen Themen immer zur Mitte der sein theologisches Denken bestimmenden Thematik: „Gott-Mensch-Glauben". Allmählich debütierte nun auch die Generation, die ihr Studium erst nach dem zweiten Weltkriege begonnen hatte, als Erstling in der systematischen Disziplin Hans-Georg Fritzsche (Hab. 1956; Doz. 1957), der vornehmlich Liselotte Richter und Heinrich Vogel entscheidende Förderung in seiner wissenschaftlichen Erudition verdankt, sich jedoch früh unabhängig zu machen und eine eigenständige Position zu schaffen suchte. Die aus dem engen Umgang mit der dialektischen Theologie und ihren geistigen Ahnen erwachsene kritische Reflexion über das Selbstverständnis der Theologie in den letzten anderthalb Jahrhunderten reizte den weniger an der historischen Problematik interessierten als in prinzipiellen abstrakten Gedankengängen versierten jungen Gelehrten zu wissenschaftstheoretischen Untersuchungen über die „Theologie als Wissenschaft" in ihrem enzyklopädischen Befunde. Die offenbarungstheologische Ausrichtung seines Theologisierens ist im selbständigen Eingehen auf Karl Barth eigen geprägt, aber so, daß bei allem Bestreben, einen eigenen Weg zu gehen, eine Geistesverwandtschaft mit seinem Lehrer Heinrich Vogel vorerst deutlich bleibt und das durch seine Ernennung zum Professor mit Lehrauftrag sich ankündigende Einrücken in die Professur Hermanns die bisher so glückliche Ergänzung der beiden Systematiker wieder in Frage stellt. Schließlich wurde ein weiterer Schüler Vogels, Hanfried Müller (1959), ohne abgesdilossenes Habilitationsverfahren der Fakultät als Dozent für systematische Theologie zugeteilt. 144

Die wenigsten Veränderungen vollzogen sich innerhalb der Praktischen Theologie im engeren Sinne, das heißt wenn man davon absieht, daß ihr mit mehr oder minder sachlicher Berechtigung mancherlei Lehraufträge für einige Spezialgebiete eingegliedert wurden. Da man eine Zeitlang immer noch mit der Möglichkeit einer Rückkehr Fendts rechnete, suchte man bis dahin Doehring wenigstens von der Katechetik zu entlasten und erteilte Ernst Jahn 1947 einen Lehrauftrag für Religionspädagogik. Jahn hat seitdem dieses Teilgebiet der praktischen Disziplin so gut wie selbständig vertreten und dabei in einer gewissen Einengung seiner Aufgabe besonderes Gewicht darauf gelegt, die zum Teil auf seinen eigenen Forschungen mit beruhenden Ergebnisse der Untersuchungen über die Bedeutung der Tiefen-, Individual- und Strukturpsychologie für die Jugendseelsorge und die christliche Unterweisung auszuwerten. Man konnte jedoch im fortschreitenden Aufbau der Fakultät die Wiedererrichtung eines Lehrstuhles für die praktische Theologie nicht länger hinauszögern und berief 1951 als seinen ersten Inhaber innerhalb des neugebildeten Kollegiums Otto Haendler, einen Nachkommen des ersten praktischen Theologen der Berliner Fakultät überhaupt. Bisher namentlich als Homiletiker hervorgetreten und in intensiver Beschäftigimg mit tiefenpsychologischen Fragen einer sich auf die Menschhaftigkeit des Menschen wirklich einlassenden Seelsorge zugewandt — gerade in der bevorzugten Pflege dieser beiden Elemente ein moderner Nachfolger seines Urahnen Strauß — griff er in unbefangener Gelöstheit von der nötigenden Gewalt traditioneller Anschauungen, zugleich aber in ebenso souveräner Freiheit gegenüber dem Geltungsanspruch revolutionärer theologischer Extremismen nun auch stärker in die Diskussion über ein neues Verständnis der Praktischen Theologie ein. In enger Berührung mit der Anschauung Dedo Müllers, aber in eigener Perspektive geht er von dem Satz aus, daß die Theologie „die Wissenschaft von der Struktur der gegenwärtigen Kirche"188 sei, wobei für ihn „die Struktur der Kirche... vollständig umschrieben (ist) mit der doppelten und zusammengehörigen Aussage, daß sie zugleich Organismus und Organ ist",189 und formuliert von da aus seine Grundthese: „Praktische Theologie kann nicht nur als Theorie der kirchlichen Praxis definiert werden, sondern ist infolge der unlöslichen gegenseitigen Durchdringung der Praxis mit dem Gesamtsein der Kirche erweitert als Strukturtheologie der gegenwärtigen Kirche zu verstehen".190 Haendler tut damit einen neuen Schritt auf dem Wege Schleiermacher-Nitzsch188 189 190

O. Haendler: Grundriß der Praktischen Theologie (1957) S. 11. O. Haendler: Grundriß der Praktischen Theologie S. 11. O. Haendler: Grundriß der Praktischen Theologie S. 1. 145

Kleinert-Fendt, auf dem Wege zur Integration der Praktischen Theologie, zu ihrer Funktionsbestimmung als Wissenschaft im Ganzen der wissenschaftlichen Theologie, tut ihn im lebendigen Kontakt mit der Bewegung und Bewegtheit des Menschen der Gegenwart in der Welt Gottes. Obwohl von den amtlichen Verpflichtungen entbunden, hat er sich noch zu einer befristeten Fortsetzving seiner Lehrtätigkeit bereit gefunden, um seinem präsumtiven Nachfolger auf dem Lehrstuhl, Hans Hinrich Jenssen, der 1960 zum Dozenten für Praktische Theologie ernannt und mit der Wahrnehmung einer „Professur mit Lehrauftrag" beauftragt wurde, ein allmähliches Einarbeiten in die selbständige Vertretung der Disziplin zu erleichtern. Aus der bisherigen Ubersicht über den Prozeß der Neugestaltung der Fakultät und die vornehmlich im ersten Jahrzehnt offenbare Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit ging bereits hervor, daß die Einrichtung des freien außerordentlichen Lehrauftrages an Umfang und Bedeutung eher zu- als abgenommen hat, daß sie zunächst mehr als früher dazu dienen mußte, über akute Schwierigkeiten in der Durchführung des Lehrbetriebes hinwegzuhelfen und daß sie nach wie vor dazu verwandt wurde, die Behandlung spezieller Aufgaben in Forschung und Lehre zu ermöglichen. Mit ihrer Hilfe wurde zum Teil auch der Einsatz der nichttheologischen Kräfte bewerkstelligt, die für die außerhalb des Fachstudiums obligatorischen Lehrveranstaltungen benötigt wurden, vor allem also für das „gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium", das mit den „Grundlagen des Marxismus-Leninismus", den „Grundlagen der politischen Ökonomie" u. a. bekannt machen sollte, weiter für die „Körpererziehimg" und die bald freilich als fakultativ rubrizierte Vorlesung über „Deutsche Sprache und Literatur". Aber die zahlreichen Namen hier zu registrieren erübrigt sich ebenso wie das Beginnen, über die bereits gemachten Angaben hinaus die Liste der fortlaufend zumal an Assistenten der Bibelwissenschaften etwa für Sprachen, Bibelkunde usf. erteilten Mandate zu vervollständigen. Nur ein Zwiefaches bedarf in diesem Zusammenhange noch ausdrücklicher Erwähnung: einmal die Wiederaufnahme zweier früher schon in derartiger Weise berücksichtigter Sachgebiete in den Vorlesungsplan, nämlich der christlichen Sozialethik und der Kirchenmusik. Uber geschichtliche wie systematische Fragen der evangelischen Sozialethik, die Diakonie der Kirche und sachverwandte Themen informierte Horst Fichtner seit 1951 in regelmäßiger Folge und abgewogener Stoffauswahl, während die Pflege der Kirchenmusik unter dem ständigen Wechsel der Lehrkräfte zu leiden hatte. Denn die nacheinander damit betrauten Experten Hans-Heinz Dräger (aus der Philosophischen Fakultät) 1952—53, Friedrich Graupner (aus der Pädagogischen Fakultät) 1954—55 und Hans Pflugbeil (Kirchen146

musikschule Greifswald) 1957 haben innerhalb der sehr allgemein gehaltenen Richtlinien jeweils ihre eigene Vorstellung vom Sinn und Zweck ihres Auftrages gehabt und dementsprechend recht unterschiedliche Ziele verfolgt, bis durch Luise Hähnel-Rose (1955) Technik des Orgelspiels und Geschichte der Kirchenmusik die festen Bestandteile eines kontinuierlichen Unterrichtes wurden. Zum anderen die Tatsache — und hier wird sich die Fakultät noch um eine befriedigende Lösung bemühen müssen —, daß die Missionswissenschaft und das Kirchenrecht bisher nur durch Lehraufträge versehen werden. Es war allerdings aus naheliegenden Gründen vorerst nicht möglich, das ehedem bestehende missionswissenschaftliche Ordinariat zu erneuern und man mußte sich damit bescheiden, daß der Missionsdirektor der Berliner Missionsgesellschaft Gerhard Brennecke seit 1952, eben in der Beschränkung eines Lehrauftrages für „Geschichte der Ausbreitung des Christentums", die heute nicht mehr zu übersehende noch zu übergehende Aufgabe übernahm, in diesen Zweig der wissenschaftlichen Theologie einzuführen. Brennecke hat es sich neben der Erörterung geschichtlicher Fragen besonders angelegen sein lassen, die modernen Probleme der Gestaltwerdung der , Jungen Kirchen" in den Vordergrund zu rücken und die Bedeutsamkeit der jüngsten Phase dieses so eminent hervortretenden räumlich-zeitlichen Abschnittes der neueren Kirchengeschichte im Spiegel der Weltmissionsund Weltkirchenkonferenzen anschaulich zu machen. Leider wurde sein fruchtbares Wirken in der Fakultät, das eine auf dem unmittelbaren Kontakt und aktiver Mitarbeit beruhende, ebenso eindringende wie umfassende Sachkenntnis zu vermitteln vermochte, 1959 dadurch unterbunden, daß sein Lehr auftrag nicht erneuert wurde. Ging es hinsichtlich der Missionswissenschaft darum, einer längst mündig gewordenen Disziplin wieder zu ihrem alten Rechte zu verhelfen, stand die Fakultät im Blick auf das Kirchenrecht vor der Notwendigkeit, die volle Verantwortung für ein bisher zur Hauptsache jedenfalls von der Juristischen Fakultät vertretenes Sachgebiet zu übernehmen, das dort im Zuge der Neuordnung nach 1945 nicht mehr gelehrt wurde. Da sich Hans Gotthilf Strasser nach seiner Emeritierung in Rostock als Gastprofessor mit einem Lehrauftrag für Kirchenrecht der Berliner Fakultät zur Verfügung stellte, war hier wenigstens eine vorläufige Lösung der unvorhergesehenen Aufgabe möglich geworden. Er hat seit 1952 nicht nur über Geschichte des kirchlichen Rechtes und die Entwicklung der Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Kirche gelesen, wobei die neugeschaffenen Grundordnungen der Evangelischen Kirche eine besonders eingehende Würdigung erfuhren, er hat auch unter systematischem Aspekt die Grundprobleme des evangelischen Kirchenrechtes erörtert und manche prinzipielle Frage gesondert behandelt. Nur hat er selber immer wieder 147

darauf hingewiesen, daß der unter den neuen Verhältnissen gesteigerten Bedeutung des von ihm gelehrten Faches durch die unverbindliche Form des freien Lehrauftrages kein Genüge geschehe, und er hat es wohl mit Recht als ein dringendes Erfordernis bezeichnet, die Aufnahme des Kirchenrechtes als einer nimmehr freigewordenen Disziplin in das System der theologischen Wissenschaft auch durch die Berücksichtigung im ordentlichen Stellenplan der theologischen Fakultät erkennen zu geben und soweit als möglich zu sichern. Abschließend sei auch der Lektoren für den lateinischen und griechischen Sprachunterricht gedacht, die schon vor 1945 ihren Einzug in den Lehrkörper der Fakultät gehalten hatten, deren Funktion jedoch für die theologische Fakultät geradezu lebensnotwendig geworden ist, seitdem kaum noch ein Student zur Universität kommt, der eine auch nur einigermaßen zureichende sprachliche Vorbildung auf der Schule erhalten hat. Die mehrfach gestaffelten Kurse in den beiden klassischen Sprachen hielten seit 1946 nacheinander Wilhelm Köhler, der diese Aufgabe bei den Theologen bereits seit 1931 in der Nachfolge von Kurt Schmidt (1930) übernommen hatte, Gerda Lezius (1949) und Fritz Fischer (1953). Man darf im zusammenfassenden Rückblick auf die 150 Jahre der Geschichte der Berliner Theologischen Fakultät unbedenklich urteilen, daß sie einen bedeutsamen Ausschnitt aus der deutschen Theologiegeschichte und damit der Geschichte der deutschen Wissenschaft überhaupt in diesem Zeitraum darstellt. Das heißt nicht nur, daß sich in Forschung und Lehre ihrer Dozenten das Erkenntnisstreben der theologischen Wissenschaft dieser anderthalb Jahrhunderte vielfältig widerspiegelt, sondern daß der von der Fakultät geleistete Beitrag auch anregend, bestimmend, Richtimg weisend auf die Gestaltung der wisserischaftlich- theologischen Arbeit eingewirkt hat. Die glanzvolle Höhe des Anfangs hat sie zwar niemals wieder erreicht, aber nach relativ raschem Niedergang und langsamem Wiederaufstieg hat sie um die Jahrhundertwende noch einmal eine so gesteigerte und konzentrierte Leistungskraft gezeigt, daß sie wieder in die Reihe der führenden theologischen Fakultäten einrückte und auch in dem illustren Verbände der Berliner Universität ihren Rang zurückgewann. Zu allen Zeiten hat sie jedoch Männer in ihren Reihen gehabt, die sich durch überlegene Geisteskraft, durch bohrenden Forschungsdrang, tiefgründige Gelehrsamkeit und gediegenes Wissen auszeichneten; Männer zugleich, denen die Theologie von ihrem sachlich-inhaltlichen Zentrum her eine sie innerlich nötigende Lebensaufgabe war, mochten sie gleichwohl mitunter mit der offiziellen Kirche oder einer tradierten Kirchlichkeit in Konflikt geraten, mochten sie andererseits in der Erfüllung ihres Auftrages dem Zeitgeist in Wissenschaft, Kultur und Politik den Kampf ansagen. Nur selten haben ihr 148

Denker und Forscher gefehlt, die sich im Ringen um die Erkenntnis der Wahrheit den immer neu entstehenden Problemen stellten, die in der Freiheit selbständigen Geistes eigene Wege zu gehen wagten, weiterführende Einsichten vermittelten, neue Aufgaben zeigten und in Angriff nahmen. Dabei wurde ein hohes Maß geistiger Energie auf eine dem Gegenstand der theologischen Arbeit gemäße Aneignimg, Auswertung und selbständige Weiterbildung der im Bereiche der übrigen Wissenschaftszweige gewonnenen Erkenntnisse und Methoden verwandt und im unmittelbaren Zusammenhange mit der intensiven wie extensiven Entwicklung aller theologischen Disziplinen in kritischer Reflexion über Wesen und Funktion der Theologie ihre Eigenständigkeit und ihr Eigenrecht als Wissenschaft zu präzisieren wie ihre Einordnung in das System der Wissenschaften zu fixieren unternommen. Alle Gebiete der theologischen Forschung erfuhren hier eine sorgsame Pflege und reiche Förderung, die in einer oft überaus regen und qualifizierten literarischen Produktion ihren beredten Ausdruck fanden, die wieder neben der nicht immer und jedesmal eindrucksvollen Darbietung im akademischen Unterricht die deutsche wie die internationale gelehrte Welt zur Auseinandersetzimg herausforderte und das geistige Leben der Nation mannigfach befruchtete. Vom Anbeginn ihrer Existenz war es ein sonderliches Anliegen der Berliner Fakultät, der zunehmenden Distanzierung der modernen Geistigkeit und des kulturellen Lebens von der christlichen Kirche und der christlichen Religion entgegenzuwirken und in immer neuen Variationen hat sie zur Lösung der als vordringlich erkannten Aufgabe beizutragen versucht, die zu scharfer Gegensätzlichkeit sich steigernde Spannung aufzuheben, auf der einen Seite der wachsenden Entfremdung zu begegnen, auf der anderen die gewollte oder ungewollte Selbstisolierung zu verhindern. Sie hat in dem Bestreben, die Fühlung zu behalten, die Grenzen des Entgegenkommens bisweilen beängstigend weit gezogen wie ihr umgekehrt auch Tendenzen dogmatischer Verengung nicht fremd geblieben sind; doch hat sie in der Erkenntnis ihres Auftrages die zielstrebige Orientierung und bewußte Konzentration auf „die Mitte" niemals preisgeben wollen und von da aus ihrer Aufgabe innerhalb der Theologie und der Wissenschaft überhaupt, innerhalb von Kirche, Staat und Gesellschaft gerecht zu werden gesucht. Sie hat ihre Verantwortung stets ernst genommen, auch und gerade da, wo es galt, den ihr aufgetragenen Dienst im Widerspruch zu leisten, mochten nun theologische Einseitigkeiten und Extravaganzen jedweder Art, Ansprüche der offizielen Kirche, Eingriffe des Staates oder Forderungen der Gesellschaft solchen Widerspruch hervorrufen. Sie ist in alledem zu keiner Zeit eine uniforme Größe gewesen und hat in fast allen Generationen starke Spannungen, ja scharfe Gegensätze erlebt, die nicht nur in der allzu 149

menschlichen Unzulänglichkeit der einzelnen Mitglieder begründet waren, vielmehr in der Uberzeugtheit grundverschiedener Andersartigkeit der Anschauungen wurzelten und mit dem gewichtigen Emst theologisch-religiöser Sachgebundenheit und mit der inneren Leidenschaft des der theologischen Wissenschaft verpflichteten wissenschaftlichen Theologen im unbedingten Willen zur Wahrhaftigkeit zum Austrag kamen, so daß weithin sogar die Möglichkeit sinnvollen Zusammenwirkens in einem Kollegium in Frage gestellt zu sein schien. Dennoch blieb auch in kritischen Situationen die Gemeinsamkeit des Mühens um die eine Aufgabe ungeachtet der in der verschiedensten Hinsicht aufbrechenden Differenzen und Diskrepanzen erhalten, suchte man „den gesunden christlich geordneten Verkehr zwischen den wissenschaftlichen Arbeitern" 191 aufrecht zu erhalten, immer zugleich in der Wahrung des unaufgebbaren Grundsatzes, „daß die Lehrenden in dem Vortrag dessen, was sich ihnen aus freier gewissenhafter Erforschung des göttlichen Wortes als Wahrheit ergeben hat, in keiner Hinsicht beschränkt werden dürfen". 192

191 192

150

Adolf Schlatter: vgl. S. 82. Vgl. Anm. 66.

PERSONENREGISTER Adrio 132 Aland 122; 135; 136; 140; 141 Albertz 136; 140; 142 Alt 112; 139 Altenstein 26; 35; 42; 44; 45 Althof 82 Ammon 9 Bachmann 56 Baethgen 93 f.; 94 Barth 113; 117; 126; 136; 137; 138; 140; 144 von Baudissin 93; 94 f.; 95; 104; 110 Bauer 44 f.; 46; 47; 49; 50 Baumgarten 99; 100 Baur 46; 50; 65 Behm 116 f. Bellermann 36; 43; 44 Benary 44; 46 Benzinger 96; 96 f. Bertholet 111 Bertram 115 Beth 88 f . Bethmann-Holweg 57; 58; 59 Beyme 2 Beyschlag 59; 68 Biehle 132 Bleek 36; 38; 39 Böhl 41 Böhmer 41 Bonhoeffer 125 f . Braune 136; 139 Brennecke 147 Bresler 41 Brüdener, B. B. 64 Brückner, M. 115 Bultmann 140 Chlebus 53 Cremer 65

Deißmann 98/.; 105; 114; 115; 116; 140 Delekat 125 Deutsch 75 f. Dibelius, F . W . 71 Dibelius, M. 105; 114 Dibelius, O. 135; 136 Dillmann 63 f.; 64; 65; 71; 72; 76; 93; 94 Dilthey 88 Dinghas 137 von Dobschütz 98 Doehring 129; 137; 145 Domer 59; 59/.; 65; 67; 69; 70; 73 Dräger 146 Dreß 121; 135; 136; 141 Eichhorn 45; 49 Eißfeldt 104 f.; 139 Elliger 141 Eltester 121 f.; 136; 137; 140; 141 Engelhardt 46 Erbkam 35; 47 Erdmann 56 f. Fabricius 107 Falk 65; 66 Fascher 140 Fendt 130 f.; 131; 137; 145; 146 Feuerbach 74 Fichte 2; 6; 30 Fichtner 146 Fischer, E. 106 Fischer, F . Doz. 121 Fischer, F . Lekt. 148 Frank 83 Fries 19; 20 Fritzsche 144 Frommann, K. 62 Frommann, T . C. E . 71

151

Galling 112 Gennrich 91 George 44 Gerke 123; 141 Gerladi, H. M. T . 61 von Gerladi, O. 41; 42; 43; 44; 46 von Gerladi, Gebr. 29 Girgensohn 113; 117; 127 v. d. Goltz, E . 100 f. v. d. Goltz, H. 68 f f . ; 92 Gräfe 81; 97 Graupner 146 Greßmann 72; 95/.; 111 Gruehn 127 f. Guericke 46 Gunkel 92 f.; 94; 95; 97; 105 Hähnel-Rose 147 Haendler, G. 141 f . Haendler, O. 145 f. von H a r n a c k 7 0 ; 7 3 ; 7 5 ; 77—81;

Kahler 66; 82; 105; 144 Kaftan 73; 73 f f . ; 82; 86; 87; 107 Kahnis 51 f.; 52 Kant 43; 73; 144 Kautzsch 93 Kawerau 102; 128 Klamroth 139 Kleinert 61; 62; 100; 102; 146 Koch 143 Köhler 148 von Kottwitz 38 Kranichfeld 61 Küchler 96; 97 Künneth 126

83;

88; 89; 90; 91; 97; 100; 104; 105; 106; 113; 117; 118 Hase 46; 61; 76 Hasse 46 Hegel 17; 18; 27; 41; 43; 46; 60 Heinrici 71 Hempel 111 f. H e n g s t e n b e r g 26—29;

33; 34; 35; 39;

40; 41; 43; 44; 47; 51; 52; 54; 55; 56; 57; 58; 59; 61; 62 Henke 63 Herder 19; 93 Hermann, R. 143 f. Herrmann, S. 139 Herrmann, W . 103 Hertzberg 112 Hinderer 133 f. Hoennidce 97 f. Hoffmann 59 Holl 89/.; 90; 91; 102; 113; 118; 120; 121 Holtzmann 65; 68 von Humboldt, W . 2; 34 Jacobi 53 Jahn 145 Jenssen 146 Jeremias 115 Jülicher 76 f.; 81

152

Laemmer 57 Lehmann 104 Lehnerdt 34; 55; 58 Lezius 148 Lieb 142 Lietzmann 113; 117; 117 f.; 118; 121; 122; 135; 136; 140; 141 Lisowsky 139 Loesche 76 Loewe 47 Lohmeyer 140 Lommatzsch, K. H. E. 41; 43 Lommatzsch, S. O. N. 71 Lücke 35; 36; 37 Anm.; 38 Lütgert 113 f.; 125 Lüttge 107 f. Maass 139 Mahling 102 f.; 128; 129; 130 von Manteuffel 72 Marheineke 9; 10; 1 7 f f . ; 2 2 ; 27; 2 9 ;

30; 31; 35; 41; 42; 43; 44; 45; 46; 47; 48; 49 Mattiat 131 f. Mayerhoff 46 Meßner 59 Michaelis 116 Mücke 71 von Mühler 62; 63 Müller, D. 145 Müller, H. 144 Müller, J. 58; 59 Müller, K. 75 Müller, N. 90 f.; 106 Müller-Streisand 142 Münscher 9 Mulert 106 f .

N e a n d e r 9 ; 1 0 ; 1 1 ; 22—25;

27;

29;

37; 39; 41; 42; 44; 48; 49; 50; 51; 52; 53; 54; 55; 56; 58; 59; 63 Neumann, K. P. L. 46 Neumann, W . 54 Niedner 58; 62 Nitzsch, F . A. B. 58 Nitzsch, C. I. 31 f f . ; 55; 59; 62; 100; 145 Nowack 71 f . Olshausen 36; 38; 39 Opitz 121 Overbeck 66 Pelt 41 Pfleiderer 65 f f . ; 67; 73; 76; 82; 88; 97; 98; 103; 115 Pflugbeil 146 f . Philippi 47 Piper 35; 50; 55; 90; 123 Planck 9; 23 Plath 64 f.; 108 Preuß 57 Quell 139 Ranke 76 Rauh 54 von Raumer 55; 56 Reuter 35; 52/.; 58; 63 Rheinwald 41; 43 Richter, J. 108; 134 Richter, L. 143; 144 Ritsdil, A. 58; 66; 73; 77; 86; 107 Rose 142 Rost 112 f.; 138 f. Rothe 58 Rückert 120 f . Runze 75 Sack 36; 37 f.; 59 Schaff 50 f . Schelling 2; 18; 43 Schenke 140 Schenkel 59 Schiele 92 Schlatter 82 f.; 99; 114 Schleiermacher 2 ; 3 ; 5 ; 8 ; 9 ;

11—16;

17; 19; 22; 23; 26; 29; 30; 31; 32; 33; 35; 36; 37; 38; 40; 41; 43; 46; 49; 60; 62; 71; 74; 77; 86; 87; 122; 137; 144; 145

Schleusner 9 Sdilottmann 54 Schmauch 140 Schmidt, F . W . 128; 135 Schmidt, J. C. E . 9 Schmidt, Karl 91 Schmidt, K. L. 114 f. Schmidt, Kurt 148 Schmidt, P. W . 64 Schmitz 105 f. Schneider, J. Hon.-Prof. 122 Schneider, J . Prof. 116; 135; 136; 140> Schneider, K. F . T. 56 Scholz 107 Schubert 133 Schuckmann 35 Schütz 131 Schultz 56 Schulze 57 Schweizer 30 Seeberg, E . 117; 118 f f . ; 121; 135; 14L Seeberg, R. 83 f f . ; 124; 125; 132 Seesemann 117 Seesselberg 123 Sellin 110 f. Semisch 62 f.; 71 Simons 101; 102; 128 von Soden, Hans 106 von Soden, Hermann 81; 106 Spranger 135 Stahl 47 Stange 144 Steffens 2 Steinmeyer 54/.; 76 Stolzenburg 127 Stosch 108 Strack 72; 94; 96 Strasser 147 f. Strauß, D. F . 43; 44 Strauß, F . A. 54 Strauß, G. F . A. 26; 27; 43; 145 Stuhlfauth 106; 123 Theremin 35; 47 Tholuck 35; 39 f.; 41; 50; 59 Thümmel 100 Tillich 123 f. Titius 86 f.; 104; 124; 127 Troeltsch 90; 103; 104 Twesten 29 f f . ; 32; 33; 41; 67; 71 1535

Uhlemann 41; 43; 44 Uhlhorn 63 Ulrich 132 f. Vatke 35; 43 f.; 46; 63 Vogt 46 Voigt 91 Vogel 136; 142 f.; 144 Wallis 139 Weinel 97 Weingarten 61 f. Weiß, B. 67 f.; 69; 76; 97; 98; 115 Weiß, K. 117

154

Weizsädcer 81 Wellhausen 76; 95; 97 Wendland 122 Werdennann 129 f. Wessel 141 d e W e t t e 9 ; 10; 19—22;

26; 29; 33;

35; 36 Wichern 102; 103 Witte 134 Wobbennin 86; 87 f.; 127; 128 Wrede 115 Wuttke 57 Zsdiamadc 91 f.; 122