125 Jahre Reichsgericht [1 ed.]
 9783428521050, 9783428121052

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K E R N / SCHMIDT-RECLA (Hrsg.)

125 Jahre Reichsgericht

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 126

125 Jahre Reichsgericht

Herausgegeben von

Bernd-Rüdiger Kern und Adrian Schmidt-Recla

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Umschlagbild: Reichsgerichtsgebäude am Simsonplatz um 1900 (Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., USA) Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten (; 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-12105-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706© Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber

Das Reichsgericht polarisiert. „Hüter des Rechts" oder „Wegbereiter der deutschen Privatrechtseinheit" im Kaiserreich, „Schaubühne politischer Grabenkämpfe" oder Juristischer Bewältiger der Inflation" in der Weimarer Republik, Reichstagsbrandprozeß oder „Vollstrecker der Rassenideologie" schließlich im Dritten Reich: das sind die Schlagworte, mit denen das Reichsgericht heute in der öffentlichen Wahrnehmung verbunden wird. Und in der Tat hat das Reichsgericht von 1879 bis 1900 die Rechtsvereinheitlichung ohne ersichtliche Probleme leicht bewältigt und ab 1900 dem neuen BGB schnell zur Akzeptanz verholfen. Tatsächlich hatte es in der Weimarer Republik erkennbar Mühe, nicht in parteipolitische Auseinandersetzungen hineinzugeraten und doch Erfolg damit, entscheidende Weichen - vor allem im Zivilrecht - richtig zu stellen. Und wirklich zerbrach in und nach der „nationalsozialistischen Revolution" weithin die innere Struktur, der Zusammenhalt, die innere Überzeugung dessen, was Recht ist, zerschellten Gesetzestreue und Rechtsstaatlichkeit an einem angeblichen „alten deutschen Recht" und an Treueschwüren, die dem Führer von tausenden deutschen Juristen bereitwillig geleistet wurden. Es ist leicht, sich je nach politischer Einstellung oder je nach herrschendem Zeitgeist selektiv zu bedienen und die Rolle des Reichsgerichts als oberstes Gericht des bevölkerungsreichsten europäischen Staates entweder als Erfolgsgeschichte oder als Geschichte endgültigen Scheiterns zu begreifen, sich entweder mit seiner Tradition zu identifizieren oder sie vehement zurückzuweisen. Nichts legt von diesem Tatbestand beredter Zeugnis ab als die Schriften, die zu den bisherigen Jahrestagen der Gründung des Reichsgerichts erschienen sind. Mittlerweile ist der historische Abstand groß genug, diese Einseitigkeit zu durchbrechen. Es geht nicht mehr darum, individuelle oder kollektive Verdienste herauszustellen oder individuelle oder kollektive Schuld zuzuweisen - und so mittels Projektion die eigene Verstrickung oder die Verstrickung aller auf prominente Akteure zu übertragen und Distanz zu ermöglichen und zu begründen. Statt dessen kommt es darauf an, die jeweils handelnden - in diesem Falle urteilenden - Personen sine ira et studio als (Re-)Akteure in einem gegebenen historischen und rechtlichen Kontext zu begreifen und dieses Handeln nicht ex post zu verurteilen. So wird es möglich, die Reichsgerichtsräte etwa als aktive Mitgestalter des nationalsozialistischen Familienrechts - und nicht als willfahrige oder widerwillige Vollstrecker von gesetzgeberischen Entscheidungen - zu be-

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rwort

schreiben. Freilich erfordert diese Perspektive den Verzicht auf politische Wertung, die auf einem anderen historischen und rechtlichen Kontext beruht. Unwissenschaftlich, vielmehr politisch und persönlich ist auch das apriorische Erkenntnisziel, den genauen Punkt zu ermitteln, ab wann die Bahn in den zivilisatorischen Abgrund so schief geworden ist, daß sich weitere Schritte darauf für jeden verboten. Andererseits ist auch die Rolle, die das Reichsgericht in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz gespielt hat, als ihm die Aufgabe zufiel, trotz der Vielzahl der deutschen Partikularrechte ein einheitliches bürgerliches Recht zu sprechen, noch wesentlich besser erforschbar, als das bislang gelungen ist. Doch beinahe wäre der historische Abstand einem erneuten Versuch zur Initiierung einer vertiefteren Annäherung an die unterschiedlichen rechts-, institutions-, personen- und dogmengeschichtlichen Probleme, die das Reichsgericht, seine Rechtsprechung und seine Exponenten aufwerfen, einer Erinnerung an den 125. Jahrestag der Gründung des Reichsgerichts zum Verhängnis geworden. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es infolge der kompletten institutionellen Zerstörung des letzten Deutschen Reiches keine Institution, der die Bewahrung oder Leugnung der Tradition des Reichsgerichts kraft Amtes zufiele. Hierin liegt aber neben dem Nachteil, daß es dem Zufall oder dem persönlichen Interesse einzelner obliegt, entsprechende Anlässe wahrzunehmen, der Vorteil, daß es am Reichsgericht kein institutionelles, und damit zwangsläufig getrübtes Interesse gibt. Letztlich war es der Zufall, der die Herausgeber auf das Datum stoßen ließ. Dieser Zufall ließ wenig Zeit und Raum für die Planung. Das Interesse freilich war groß: sehr schnell waren die Präsidenten der beiden höchsten Gerichte, die mit dem Reichsgericht in näherer Berührung stehen, bereit, ein Festkolloquium zu unterstützen. Die Nachfrage bei Referenten stieß auf ebenso große Bereitschaft. Finanzielle Unterstützung - ohne die die Veranstaltung am 1./2. Oktober 2004 im Großen Sitzungssaal des Bundesverwaltungsgerichts im Reichsgerichtsgebäude in Leipzig und in der Universitätsbibliothek der Universität Leipzig undenkbar gewesen wäre - stellte das Bundesjustizministerium auf Anfrage großzügig zur Verfugung. Die Veranstaltung selbst versammelte (die Grußworte in diesem Band und die Teilnehmerliste weisen es aus) zahlreiche Vertreter der gesamt- wie der bundesstaatlichen Gerichtsbarkeit und der Rechtswissenschaft. Freilich bekamen auch die Veranstalter und Herausgeber dieses Bandes den eingangs angesprochenen Tatbestand der Polarisierungswirkung des Reichsgerichts zu spüren. Nach anfänglicher Unterstützung zog sich die Stadt Leipzig in Gestalt ihres Oberbürgermeisters und sämtlicher Dezernenten aus nicht nachvollziehbaren Gründen auf ein zu verlesendes Grußwort zurück. So fiel es dem seinerzeitigen Sächsischen Staatsminister der Justiz zu, im Bundesverwaltungsgericht für den Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig als Standort oberster gesamtstaatlicher Rechtsprechung eine Lanze zu brechen und herauszustellen, daß es vor allem das kommunale Engagement gewesen ist, das

rwort

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1879 den Ausschlag fiir den Standort des Reichsgerichts gegeben hat - ein Lehrstück für den föderalen Staat und für die kommunale Selbstverwaltung. Der vorliegende, von Sibylle Gründel redaktionell betreute und vom Verlag Duncker & Humblot dankenswerterweise großzügig übernommene Band beinhaltet neben den im Bundesverwaltungsgericht gehaltenen Grußworten - die diesen Rahmen zur Freude der Herausgeber teilweise sprengen und strenggenommen als eigene wissenschaftliche Beiträge gelten müssen - alle Vorträge, die am 1. und 2. Oktober 2004 aus Anlaß der 125. Wiederkehr der Gründung des Reichsgerichts gehalten worden sind, erweitert um einen - leicht veränderten - Aufsatz von Hans Hermann Seiler, der bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurde. Es sind Beiträge aus allen eingangs angesprochenen Epochen des Reichsgerichts vorhanden. Die methodische Herangehensweise der einzelnen Autoren bedient sowohl die institutionelle Geschichte des Reichsgerichts, die Geschichte einzelner handelnder Personen, als auch die Rechtsprechungsgeschichte und schließlich die juristische Dogmengeschichte. Es soll noch hinzugefügt werden, daß die vorliegende Auswahl nicht mehr sein kann als der Entwurf einer methodischen Landkarte zur künftigen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Reichsgerichts und seiner Rechtsprechung. Die einzelnen thematischen Schwerpunktsetzungen erheben selbstredend nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Dies trifft umsomehr auf die Beiträge zu, die sich mit dogmengeschichtlichen Themen auseinandersetzen. Es bleibt zu hoffen, daß von der Bündelung der Forschungsbereiche, für die Gedenktage immer Anlaß bieten, Impulse für weitere Vertiefung ausgehen. Ansätze dafür bietet das Reichsgericht noch immer zuhauf.

Leipzig, im November 2005

Bernd-Rüdiger Kern, Adrian Schmidt-Recla

Inhaltsverzeichnis

Begrüßung durch Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern

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Grußwort von Eckart Hien, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts

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Grußwort von Dr. Joachim Wenzel, Vizepräsident des Bundesgerichtshofes

23

Grußwort von Dr. Thomas de Maizière , Sächsischer Staatsminister der Justiz

29

Grußadresse von Wolfgang Tiefensee, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Grußwort von Prof. Dr. Franz Häuser, Rektor der Universität Leipzig

33 35

Arno Buschmann Das Reichsgericht. Ein Höchstgericht im Wandel der Zeiten

41

Elmar Wadle Eduard von Simson - Erster Präsident des Reichsgerichts

77

Klaus-Peter Schroeder Erwin Bumke (1874-1945) - Letzter Präsident des Reichsgerichts

87

Bernd-Rüdiger Kern Universität - Juristenfakultät - Reichsgericht

97

Cosima Möller Das römische Recht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts - Geltendes Recht und ratio scripta

109

Werner Schubert Der Code civil (Code Napoléon) in Deutschland und das Reichsgericht

125

Hans Hermann Seiler Das Reichsgericht und das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch.... 151

10

Inhaltsverzeichnis

Eva Schumann Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

171

Adrian Schmidt-Recla Privatautonomie und Bestandsschutz: die stillschweigende Erwerbung bzw. Bestellung von Grunddienstbarkeiten vor dem Reichsgericht

215

Ulrike Rau Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

233

Kai Müller Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg Schlußwort von Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern

Autorenverzeichnis

249 265

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Bildnachweis

Tafel 1 Kriegsschäden am Reichsgerichtsgebäude, Photographie (Quelle: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig)

Tafel 2 Reichsgerichtsgebäude, zeitgenössische Photographie (Quelle: Photo aufgenommen von Dirk Goldhahn am 15. Juni 2005)

Tafel 3 Eduard von Simson, Photographie (Quelle: Bibliothek des Bundesgerichtshofs)

Tafel 4 Erwin Bumke, Photographie (Quelle: Bibliothek des Bundesgerichtshofs)

Begrüßung Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern (Leipzig)

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Hien, sehr geehrter Herr Vizepräsident des Bundesgerichtshof Dr. Wenzel, sehr geehrter Herr Staatsminister der Justiz Dr. de Maiziere, Magnifizenz, Spektabilitäten, liebe Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute hier zur Feier der 125. Wiederkehr der Gründung des Reichsgerichts zu begrüßen. Über die Probleme, den richtigen Ort für diese Feier zu finden, wird heute noch zu sprechen sein. Vor 125 Jahren jedenfalls gab es dieses Gebäude noch nicht, und das Hauptgebäude der Universität, in dem damals die Eröffnungsfeierlichkeiten stattfanden, existiert heute leider nicht mehr. Leipzig als Ort der Feierlichkeit steht auch nicht unangefochten fest. Das Gericht, das zumindest die Funktion des Reichsgerichts übernommen hat, auch wenn es sich heute ungern in dessen Tradition sieht,1 hat seinen Standort - gleichfalls leider - nicht in Leipzig, sondern in Karlsruhe. Daß diese Veranstaltung heute stattfinden kann, gleicht einem kleinen Wunder. Mir selbst fiel das Datum erst im Frühsommer dieses Jahres auf. Nachdem die Einhundertjahrfeier im Jahre 1979 aus naheliegenden Gründen in Ost und aus weniger naheliegenden Gründen - auch in West wenig Beachtung gefunden hatte,2 erschien es mir wünschenswert, diesen Tag des ein wenig ungeraden Geburtstages an historischer Stätte zu feiern. Innerhalb von nur zwei Monaten, die noch zudem in der Haupturlaubszeit lagen, ist es gelungen, das Programm

1

Vgl. dazu Gerd Nobbe, Der Bundesgerichtshof - Innenansichten zur Struktur, Funktion und Bedeutung, Festvortrag zur feierlichen Eröffnung des Instituts für Deutsches und Internationales Bank- und Kapitalmarktrecht der Juristenfakultät Leipzig, http://www.uni-leipzig.de/bankinstitut/ressrc/gruendung/festvortrag.pdf , S. 3; das war freilich nicht immer so. Vgl. dazu Hermann Weinkauff 75 Jahre Reichsgericht, in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), 75 Jahre Reichsjustizgesetze, o. J. (1954), S. 45-50, 45: „... der Bundesgerichtshof als Nachfolgegericht ..." 2 Ganz vergessen wurde das Ereignis nicht. Vgl. Elmar Wadle , Das Reichsgericht im Widerschein denkwürdiger Tage, in: JuS 1979, S. 841-847; Arno Buschmann, 100 Jahre Gründungstag des Reichsgerichts, in: NJW 1979, S. 1966-1973; Gerd Pfeiffer , Das Reichsgericht und seine Rechtsprechung, in: DRiZ 1979, S. 325-332; und 100 Jahre Reichsgericht, in: Die Welt, 2. 10. 1979, S. 8.

Bernd-Rüdiger Kern

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aufzustellen und die Finanzierung zu sichern. In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Herrn Hien dafür danken, daß er sich spontan zur Mitarbeit entschlossen und mir sogleich diesen Saal angeboten hat, als ich mit dem Gedanken an ihn herantrat, dieses Datum nicht unbeachtet vorübergehen zu lassen und es in diesem Rahmen zu feiern. Herrn Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofes Dr. Wenzel danke ich, daß er es ermöglicht hat, heute hier zu sein. Mein besonderer Dank gilt der Bundesministerin für Justiz, Frau Cypriess, die, unabhängig von mir, diesen Termin auch entdeckt hatte und, obwohl sie heute nicht anwesend sein kann, durch ihr Ministerium die wesentlichen Kosten der Veranstaltung trägt. Danken möchte ich aber auch der Stadt- und Kreissparkasse Leipzig, sowie den Unternehmen Horbach und MLP und nicht zuletzt meinem Doktoranden Dr. Peter Hinz, die diese Veranstaltung finanziell unterstützt haben, wodurch wir einige Annehmlichkeiten bereitstellen konnten, für die öffentliche Mittel nicht zur Verfügung stehen. Ein in die Zukunft gerichteter Dank gilt Herrn Professor Simon, der sich rasch bereiterklärt hat, die Vorträge als Sammelband in die Schriften für Rechtsgeschichte des Verlages Duncker & Humblot zu übernehmen. Nicht zuletzt möchte ich meinen Mitarbeitern danken, ohne die diese Veranstaltung nicht zu ermöglichen gewesen wäre.

Lassen Sie mich meine Begrüßung mit einer knappen Skizze der Stadt Leipzig als Standort überregionaler Rechtsprechung beenden.3 Jedenfalls seit der Mitte des 12. Jahrhunderts ist für Leipzig örtliche Gerichtsbarkeit nachweisbar. 4 Dabei handelte es sich zunächst um die des Stadtherrn. Im Laufe der Entwicklung - spätestens ab 1301/13045 - hat sich dann allerdings das Stadtgericht als Schöffengericht herausgebildet. Dieses Gericht, der Schöppenstuhl - der bekannteste Schöffenstuhl der deutschen Rechtsgeschichte überhaupt - nahm freilich nicht nur die städtische Gerichtsbarkeit wahr, sondern amtete seit dem 14. Jahrhundert 6 auch als Oberhof. Erstmalig in der Ge3

Vgl. dazu Bernd-Rüdiger

Kern, Leipzig als Stadt des Rechts, in: ZZP 1998, S. 261-

274. 4 Zur Datierung vgl. Bernd-Rüdiger Kern, Leipzig als Stadt des Rechts, in: ZZP 1998, S. 262. 5 K Friedrich von Posern-Klett (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Leipzig, Bd. 2, Nr. 52, 15. 2. 1301, S. 40f. und Nr. 60, 1304, S. 46. 6 Schon im Jahre 1325 sollte z. B. die Stadt Pirna ihre Rechtsbelehrung in Leipzig holen. Vgl. dazu Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht. Die Stadt Leipzig als Ort der Rechtsprechung, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung. Prozesse, Personen, Gebäude Sächsische Justizgeschichte, Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Bd. 3, 1994, S. 7-29, 9.

Begrüßung

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schichte trat Leipzig als Standort überregionaler Rechtsprechung auf. A m 15. November 1574 7 g r i f f Kurfürst August in die Verfassung des Leipziger Schöppenstuhls ein. 8 Er nahm das Gericht aus der Zuständigkeit der Stadt heraus und machte es zu einem landesherrlichen Spruchkollegium. Diese Verstaatlichung eines städtischen Gerichts bestätigte den Umstand, daß das Gericht in starkem Maße nicht mehr städtische Aufgaben wahrnahm, sondern territoriale, j a sogar überterritoriale. In der 1574 aufgezeichneten Gestalt blieb der Schöppenstuhl als Gericht bis zur Justizreform von 1835 bestehen. 9 Neben dem Schöppenstuhl entwickelte die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts 1 0 bestehende Juristenfakultät eine eigene Spruchtätigkeit, ohne jede K o m petenzabgrenzung zum Schöppenstuhl. Die Spruchtätigkeit fiel i m 15. Jahrhundert noch kaum ins G e w i c h t , 1 1 gewann dann aber i m folgenden Säkulum stark an überregionaler Bedeutung, die bis zu den Reichsjustizgesetzen des Jahres 1877 andauerte. Ein im modernen Sinne echtes Obergericht erhielt Leipzig 1483, als die gemeinsam regierenden Brüder Ernst und Albrecht hier ihr Oberhofgericht einrichteten. 1 2 Das Gericht wurde die erste v o m Fürsten losgelöste Zentralbehörde

7 Aufzeichnungen des Ratsherrn Leonhard Ölhafe über Vorgänge im Rate, 1563-1577, in: Gustav Wustmann (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Leipzigs. Veröffentlichungen aus dem Archiv und der Bibliothek der Stadt Leipzig, Bd. 2, 1895, S. 176f., 177. 8 Vgl. dazu insgesamt Theodor Distel, Beiträge zur älteren Verfassungsgeschichte des Schöppenstuhls zu Leipzig, in: ZRG-GA, Bd. 10, 1889, S. 63-97. 9 Zur Justizreform von 1835 vgl. Gerhard Schmidt, Die Anfänge des Justizministeriums im Königreich Sachsen 1831 bis 1847, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung. Prozesse, Personen, Gebäude - Sächsische Justizgeschichte, Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Bd. 2, 1994, S. 7-27, 14-20, 17. 10 Das Gründungsdatum der Juristenfakultät ist strittig. Teils wird das Gründungsjahr der Universität (1409) angenommen {Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 9), teils ein späteres Datum (1434-1446) {Bernd-Rüdiger Kern, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung. Prozesse, Personen, Gebäude - Sächsische Justizgeschichte, Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Bd. 3, 1994, S. 53-84, 54). Der älteste erhaltene Rechtsspruch der Fakultät stammt aus dem Jahre 1456 {Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 10). 11 Bernd-Rüdiger Kern, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 56. 12 Vgl. dazu Christian Gottfried Kretschmann, Geschichte des Churfurstlich Sächsischen Oberhofgerichts zu Leipzig von seiner Entstehung 1483 an bis zum Ausgange des XVIII. Jahrhunderts nebst einer kurzen Darstellung seiner gegenwärtigen Verfassung, 1804; Heiner Lück, Die Kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550 = Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17, 1997, S. 120-127; und Bernd-Rüdiger Kern, Frühe territoriale Hofgerichtsordnungen, in: Bernd-Rüdiger Kern, Klaus-Peter Schroeder, Elmar Wadle und Christian Katzenmeier (Hrsg.), Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag, 2005, S. 145-155.

Bernd-Rüdiger Kern

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Kursachsens. Auch das Oberhofgericht stellte seine Tätigkeit im Jahre 1835 ein. 13 Infolge der Reformation kam es zur Gründung eines weiteren Gerichts von überregionaler Bedeutung. Nachdem schon jahrelang Leipzig als Standort des Konsistoriums im Gespräch gewesen war, wurde es 1550 hierher verlegt. Das Leipziger Konsistorium ersetzte - wie die Konsistorien auch sonst - die durch die Reformation obsolet gewordene geistliche Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche. Bei den Konsistorien handelte es sich zwar formal um kirchliche Behörden, tatsächlich aber um landesherrliche Gerichte. 14 Konsequent wurden dann auch ihre Aufgaben 1835 auf die staatlichen Gerichte übertragen. Im Jahre 1835 erfolgte eine gründliche Justizreform. Alle älteren Gerichte mit Ausnahme der Juristenfakultät als Spruchkollegium - wurden aufgehoben. Im Lande gab es nur noch Stadt- 15 und sonstige Untergerichte, vier Appellationsgerichte - davon eines in Leipzig - und ein Oberappellationsgericht in Dresden. 16 Leipzig hatte den größten Teil seiner Bedeutung als überregionales Justizzentrum verloren. Der weitgehende Verlust überregionaler Gerichtsbarkeit dauerte bis nach der Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 an, in deren Folge Leipzig dann allerdings sogar Standort eines obersten Gerichtes im Reich wurde. Das Bundes-Oberhandelsgericht 17 nahm in Leipzig seinen Sitz, wo es am 5. August 1870 eröffnet wurde. 18 1871 wurde der Name den neuen Gegebenheiten angepaßt, und das Gericht hieß fortan Reichsoberhandelsgericht. Sachlich wuchsen ihm weitere Kompetenzen zu, weil alle reichsrechtlich geregelten privatrechtli-

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Heiner Lück, Die Kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550, S. 141. Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Die Sächsischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Frank Hartmann (Hrsg.), Kirchenrecht in der ehemaligen DDR, 1997, S. 13-23,21 ; Blaschke, Stadtbrief, S. 22. 15 Die Verstaatlichung der städtischen Gerichte erfolgte erst 1856; vgl. dazu Wolfgang Schneider, Leipzig. Dokumente und Bilder zur Kulturgeschichte, 1990, S. 456. 16 Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 17. 17 Vgl. dazu Sabine Winkler, Das Bundes- und spätere Reichsoberhandelsgericht. Eine Untersuchung seiner äußeren und inneren Organisation sowie seiner Rechtsprechungstätigkeit unter besonderer Berücksichtigung der kaufmännischen Mängelrüge, 2001 ; Anja Amend, Zankapfel Haftungskontinuität - zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Reichsoberhandelsgerichts, Juristenfakultät der Universität Leipzig (Hrsg.), Leipziger Juristische Vorträge, Heft 51, 2001. 18 Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 23. 14

Begrüßung

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chen Materien unter seine Gerichtsbarkeit fielen. Für das Reichsland ElsaßLothringen wurde es auch Revisionsinstanz in Strafsachen. 19 Die Entscheidung, das neue Gericht nach Leipzig zu geben, mag eine Vorentscheidung für den Sitz des einzurichtenden Reichsgerichts gewesen sein. Unumstritten war der Standort Leipzig zu keinem Zeitpunkt. Vielmehr entschied sich der Reichstag erst nach langer Debatte mit 213 gegen 142 Stimmen für Leipzig und gegen Berlin. 20 Demzufolge konnte am 1. Oktober 1879 mit einem Festakt in der Aula der Universität Leipzig das Reichsgericht eröffnet werden, während gleichzeitig das Reichsoberhandelsgericht seine Tätigkeit einstellte. 1878 hielt der antretende Rektor der Universität Leipzig Otto Stobbe anläßlich des Rektoratswechsels eine Rede, auf deren Themenwahl „der Umstand bestimmend ein(wirkte), dass im Lauf des heute beginnenden Universitätsjahres ein Ereigniss bevorsteht, von welchem sich unser Reich, die Stadt und unsere Universität Heil und Segen für sich und die Gesammtheit verspricht: ich meine die Eröffnung des Reichsgerichts in unserer Stadt". 21 Ich habe diese zeitgemäß pathetischen Worte an den Schluß meiner Begrüßung gestellt, um noch einmal die Dimension der heutigen Veranstaltung zu verdeutlichen. Es ist kein Universitätsjubiläum, das wir feiern, kein städtisches Ereignis, auch kein sächsisches, sondern ein gesamtdeutsches, die Errichtung des höchsten deutschen Gerichtes in dieser Stadt. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gute und erkenntnisreiche Tagung.

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Vgl. dazu Axel Weiss , Die Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts in Strafsachen, 1997. 20 Karlheinz Blaschke , Vom Stadtbrief zum Reichsgericht, in: Leipzig. Stadt der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 23f. 21 Otto Stobbe, Rede des antretenden Rector's, in: Rectoratswechsel an der Universität Leipzig, 1878, S. 22.

Grußwort des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Von Eckart Hien (Leipzig)

Sehr geehrter Herr Prof. Kern, sehr geehrter Herr Staatsminister de Maiztere, Magnifizenz, sehr geehrter Herr Kollege Dr. Wenzel, meine sehr geehrten Damen und Herren, als vor 25 Jahren - im Jahre 1979 - anlässlich der 100. Wiederkehr der Eröffnung des Reichsgerichts in Karlsruhe eine Gedenkstunde stattfand, hat wohl keiner der damals Anwesenden ernsthaft daran gedacht, dass das 125-jährige Jubiläum hier in diesem Großen Sitzungssaal des Gebäudes des ehemaligen Reichsgerichts in Leipzig begangen werden kann. Ich freue mich deshalb besonders, diesem Festkolloquium den ihm gebührenden äußeren Rahmen zur Verfügung stellen zu können. In diesem in neuem Glanz erstrahlenden Plenarsaal spürt, sieht und riecht man förmlich den Atem der Geschichte, die mit dem Reichsgericht und seiner Gründung zusammenhängt. Von Geschichte und von der Bewertung des Vergangenen werden Sie heute und morgen aus berufenem Munde sicher viel Interessantes, Nachdenkliches, Bedenkenswertes und vielleicht auch Ermahnendes hören; denn das, was man etwas unscharf die "Aufarbeitung" oder gar "Bewältigung" der Geschichte nennt, ist - zumal bei unserer konkreten Geschichte - ein ernstes Geschäft.

Lassen sie mich deshalb in meinem kurzen Grußwort sozusagen als Kontrast eine etwas andere Tonart anschlagen: Ich will die Gegenwart und die nahe Zukunft ins Auge fassen, und zwar - meinem Naturell mehr entsprechend - eher locker und optimistisch, vielleicht auch etwas unbeschwerter von historischer Last, aber nicht, wie ich hoffe, leichtfertig. Für uns als Bundesverwaltungsgericht - oder auch für Sie - stellt sich doch die Frage: Wie gehen wir damit um, heute in dem Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts mit all seinen historischen Reminiszenzen, wieder als oberstes Bundesgericht zu fungieren. Ist das nicht belastend, müssen wir da nichts verdrängen oder geht das überhaupt?

Eckart Hien

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Ich versichere Ihnen: Es geht wunderbar! Wir fühlen uns hier sehr wohl, ja, wir genießen es sogar - wenn dieser hedonistische Ausdruck in diesem Zusammenhang erlaubt ist - in diesem Gebäude wieder als Bundesgericht unseres Amtes zu walten. Warum? Natürlich auch wegen dieses eindrucksvollen und wunderschön restaurierten Gebäudes. Aber vor allem, weil wir uns einerseits bewusst sind, dass wir vor der Geschichte nicht ausweichen dürfen oder können, dass wir andererseits aber auch die Möglichkeit haben, an den positiven Teil geschichtlicher Traditionen anzuknüpfen und weil wir - drittens - auch selbstbewusst genug sind, die Tradition unserer eigenen Institution in den Vordergrund zu stellen. Das Bundesverwaltungsgericht ist ein Nachkriegskind, geboren im Jahr 1953. Der Sitz des Gerichts wurde im Sinn eines politischen Signals ganz bewusst nach West-Berlin gelegt, wo - wie der erste Präsident des BVerwG Frege bei der Einweihung betonte - die Freiheit am stärksten bedroht um am heißesten verteidigt wurde. Ich will hier kein Wort darüber verlieren, warum nach der Wende das Bundesverwaltungsgericht hier residiert und nicht der Bundesgerichtshof: Tempi passati. Und vor allem: Die List der Geschichte ist allemal weiser als die Vertreter von bestimmten Interessen. Es zeigt sich nämlich, dass wir in einem ganz spezifischen Sinn die richtige Institution am richtigen Ort sind: Das Reichsgericht stand vor 125 Jahren als Garant für die zu gewinnende Rechtseinheit auf dem damals ganz wichtigen Gebiet der sog. Reichsjustizgesetze, also der Gerichtsorganisation und des Verfahrensrechts, und ab 1900 auch des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Schaffung der Rechtseinheit war eine der zentralen Aufgaben und eine große Herausforderung in dem neu gefügten Deutschen Reich. An diese Tradition können wir anknüpfen: Steht doch das Bundesverwaltungsgericht nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch fiir die wieder gewonnene Rechtseinheit, insbesondere als Symbol für die einheitliche Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze in ganz Deutschland. In diesem Sinn kann auch dem Sitz des Bundesverwaltungsgerichts gerade in Leipzig symbolhafte Bedeutung zukommen: Damit ist nämlich die Stadt, die mit ihren Montagsdemonstrationen den Freiheitswillen der DDR-Bevölkerung unwiderstehlich bewiesen hatte, Sitz des Ge-

Grußwort

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richts geworden, dessen vornehmste Aufgabe es ist, die Freiheit der Bürger gegen staatliche Rechtsverletzungen zu schützen. Bedenkt und beherzigt man dies, so kann man die Nutzung dieses ehrwürdigen Gerichtsgebäudes des ehemaligen Reichsgerichts durch das Bundesverwaltungsgericht als einen geglückten Versuch verstehen, die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft zu verbinden. Ich wünsche dem Festkolloquium einen interessanten, anregenden und erfolgreichen Verlauf.

Grußwort des Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofes Von Dr. Joachim Wenzel (Karlsruhe)

Mit den Reichsjustizgesetzen trat vor genau 125 Jahren ein einheitliches, übersichtlich gegliedertes und in sich geschlossenes Gerichtswesen in Kraft, an dessen Spitze das Reichsgericht stand. Wirken und Bedeutung, Blütezeit und Niedergang dieses Gerichts sind aus Anlass der 100. Wiederkehr seiner Gründung von dem damaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Prof. Dr. Gerd Pfeiffer, in einem Festvortrag eingehend gewürdigt worden. Eine Erinnerung 25 Jahre danach kann weder darüber hinausgehen noch das einmal Gesagte verkürzend zusammenfassen. Neu wäre allenfalls ein Wort zu der durch die Wiedervereinigung Deutschlands aufgeworfenen Wiederbelegungsfrage des eindrucksvollen Gebäudes, in dem wir uns heute versammelt haben. Sie ist seinerzeit mit allem Ernst und in voller Verantwortung vor der Geschichte auch im Bundesgerichtshof kontrovers erörtert und dann entschieden worden. Diese Entscheidung verdient Respekt und man kann dem heutigen Hausherrn nur wünschen, dass der genius loci von dem unverwechselbaren freiheitlich demokratischen animus des Bundesverwaltungsgerichts ebenso geprägt wird wie der Gang nach Karlsruhe zwischenzeitlich schon zum Begriff für eine eigenständige bundesrepublikanische Rechtstradition geworden ist, die sich von dem Verständnis der Gründungszeit des Bundesgerichtshofes weitgehend gelöst hat.

Geburtstage nicht mehr existenter Institutionen sind Gedenktage, Geschichtstage. Die Geschichte des Reichsgerichts ist ein Teil deutscher Geschichte, ein getreuer Spiegel des Aufstiegs und des Niedergangs des Deutschen Reichs. In die rückblickende Betrachtung mischen sich unterschiedliche Aspekte. Achtung und Respekt gebühren vor allem der das Zivil- und das Strafrecht fortbildenden Kraft jener in Präzision und Diktion vorbildlichen Entscheidungen, die in ihrer Grundlegung für die Rechtsprechung auch heute noch gültige Erkenntnisse enthalten. Wenn auch die über 50-jährige Spruchpraxis des Bundesgerichtshofes die fortwirkende Bedeutung der Rechtsprechung des Reichsgerichts mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt hat, so ist nicht zu übersehen, dass in nahezu allen maßgeblichen Bereichen jene in dieser wurzelt. Neben diese positive Erinnerung tritt aber auch die Distanz gegenüber der unausgewogen einseitigen Rechtsprechung im politischen Strafrecht der Weimarer Zeit sowie Scham und Bedrückung vor der nationalsozialistischen Verblen-

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Joachim Wenzel

dung und dem Irrweg in judikatives Unrecht. 1 Dieser Spannungsbogen wird im Bundesgerichtshof äußerlich dadurch sichtbar, dass einerseits im Dienstzimmer des Präsidenten das Bild des ersten und wohl bedeutendsten Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simson hängt, andererseits im Foyer neben der Büste von Dr. Simson eine Stele aufgestellt ist mit der Inschrift: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Im Gedenken an die Frauen und Männer, denen im Namen des deutschen Volkes Unrecht geschah". Beides verdeutlicht, dass die Geschichte eines Gerichts in dem Kräftefeld von Recht und Unrecht zugleich eine Geschichte der handelnden Personen und ihrer Bedingungen ist, die wiederum die Vorstellungswelt der Justiz in ihrer Zeit widerspiegelt. Die Richter im Kaiserreich waren überwiegend monarchisch konservativ eingestellt und von der Vorstellung geprägt, die Rechtsprechung müsse der Staatsautorität dienen. „Was die Wehrmacht nach außen ist, das muss die Rechtspflege nach innen sein". 2 Mit dem Untergang des Kaiserreiches und der Ausrufung der Republik brach für sie eine Welt zusammen. In dem nach ihrer Meinung aus „Rechtsbruch" und „Hochverrat" hervorgegangenen Staat zielte ihr Denken auf die Wiederherstellung der alten Verhältnisse: Staat und Gesellschaft unter institutioneller Autorität. Nur eine kleine Minderheit stand loyal zur Republik. Von der die Mehrheit prägenden Vorstellungswelt legt nicht nur die ungleiche Handhabung des politischen Strafrechts ein beredtes Zeugnis ab, sondern beispielsweise auch die zur Einführung des neuen Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simons am 16. Oktober 1922 von dem Senatspräsidenten Dr. Meyn gehaltene Begrüßungsansprache. 3 Darin heißt es u.a.: „Die Rechtsprechung des Reichsgerichts wird geleitet von dem Gedanken, dass es nicht die Aufgabe des Richters ist, Paragraphenweisheit zu zeigen, sondern dem Leben zu dienen und für das Leben zu wirken und zu schaffen. Derjenige Richter spricht daher allein richtiges Recht, der ein klares Auge und ein offenes Ohr für die Bedürfnisse und Forderungen der Zeit hat". Dieser Satz klingt unverfänglich und auch heute noch aktuell, enthielt aber in Wahrheit eine Distanzierung von der Bindung des Richters an das Gesetz. Denn nach damaliger Vorstellung war das Gesetz im Wege des parlamentarischen Kompromisses „unsachlich" zustande gekommen und sollte von dem Richter nicht die gleiche Bindungswirkung einfordern können wie das durch den Kaiser sanktionierte Recht. Walter Simons formulierte unmissverständlich: „Bei uns ist das Richtertum der Monarchie als Ganzes in den neuen Staat hineingegangen..., aber mit dem neuen Staat bekam der Rich-

1 Dazu i.e. Ingo Müller , Kein Grund zur Nostalgie: das Reichsgericht, in: Betrifft Justiz 2001, S. 12 ff. 2 Max Reichert , Die deutschen Gerichte der Zukunft, in: DRiZ 1912, Sp. 613 f., 635. 3 Abgedruckt in: DRiZ 1922, S. 259 f.

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ter nicht den neuen Geist". 4 Die für die Demokratie konstitutive Möglichkeit, die unterschiedlichen Meinungen offen auszutragen, und die Notwendigkeit eines legislatorischen Ausgleichs der verschiedenen Interessen waren den meisten Richtern fremd. Leeb, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, brachte es auf die Formel: „Wo mehrere Parteien die Herrschaft üben; entstehen Kompromissgesetze. Sie stellen Mischlinge, Kreuzungen der Belange der herrschenden Parteien, stellen Bastardrecht dar. Jede Majestät ist gefallen. Auch die Majestät des Gesetzes."5 Konsequent und nachdrücklich wurde deswegen gefordert, die „Wellengischt des Tages" von der Rechtsprechung fernzuhalten und dem Richter die nötige Freiheit zu sichern, nach seiner Überzeugung entscheiden und ein Gesetz daraufhin überprüfen zu dürfen, „ob ihm der Name und die Geltung des Rechts zukomme". Der unpolitische Richter als Hüter eines Gerechtigkeitsideals - das Bild war und ist ambivalent. Ob es richtig oder falsch ist, hängt von der Verortung des herrschenden Gerechtigkeitsideals ab. Fixstern und Orientierungsmaßstab der damaligen Zeit war überwiegend die selbst erlebte und als verloren beklagte monarchische Harmonie von Staat und Gesellschaft, die der Präsident des Reichsgerichts, Dr. Erwin Bumke, bei den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Gerichts dann auf die Sehnsuchtsformel brachte „Ein Reich - ein Recht; ein Volk - ein Geist". Von daher nimmt es nicht wunder, dass das Reichsgericht dem einzigen Teilnehmer an dem Kapp-Putsch, der wegen Hochverrats - zur Mindeststrafe von 5 Jahren Festungshaft - verurteilt wurde, Traugott von Jagow, nach seiner Begnadigung gegen bestehende Gesetzesvorschriften rückwirkend die ihm aberkannte Pension wieder voll zusprach und angeklagten Fememördern zubilligte, in Notwehr für den bedrängten Staat gehandelt zu haben. Dies ist später in der NS-Zeit als „mutiger Schritt" gelobt worden, „entgegen den Buchstaben der Verfassung dem neuen Staatsgedanken zum Siege zu verhelfen". 6 In einem Pazifistenprozess prägte das Reichsgericht denn auch den denkwürdigen Satz: „Der Gedanke, dass das Wohl des Staates in seiner Rechtsordnung festgelegt sei und sich in deren Durchführung verwirkliche, ist abzulehnen".7 Die Entbindung von dem damals als Fessel empfundenen Gesetz und die Ausrichtung am deutschen Volkssinn monarchischer Prägung ermöglichte mit der Machtergreifung Hitlers den nahtlosen Übergang zur Ausrichtung des „königlichen Richters" 8 an der „völkischen Gemeinschaftsordnung", an dem „Lebensrecht der Nation" und dem Führerprinzip. Der neue Richter sollte als „ho4 Zitiert nach Ingo Müller, Kein Grund zur Nostalgie: das Reichsgericht, in: Betrifft Justiz 2001,S. 14. 5 Johannes Leeb, Dreierlei, in: DRiZ 1921, Sp. 129 f., 131. 6 Alfons Sack, Reichstagsbrandprozess, 1934, S. 94. 7 RGSt 62, S. 65. 8 Hermann Schroer, Der königliche Richter, in: DRiZ 1935, S. 2.

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her Priester deutschen Rechts zum Segen für Volk und Reich" 9 , als „Gehilfe des Führers" „in seinem Herzen, Denken und Wollen an Blut und Boden" gebunden sein 10 und beurteilen können, was dem Volke nützt. „Es ist nicht seine Aufgabe, einer über der Volksgemeinschaft stehenden Rechtsordnung zur Anwendung zu verhelfen oder allgemeine Wertvorstellungen durchzusetzen, vielmehr hat er die völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren", definierte später die Arbeitstagung der Reichsfachgruppen Richter und Staatsanwälte in Berlin. 11 Dieser Geist ermöglichte es, dass der Reichsgerichtspräsident bereits am 16. März 1933 den Vorsitzenden des VIII. Zivilsenats, Dr. David, auf Betreiben des Leiters der Rechtsabteilung der NSDAP in Sachsen und Thüringen beurlaubte. Aufgrund des am 7. April 1933 in Kraft gesetzten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wurden dann noch sechs Reichsgerichtsräte und ein Reichsanwalt, sämtlich jüdischer Abstammung, aus dem Dienst entfernt. Im Dezember 1933 verurteilte das Reichsgericht van der Lübbe unter Verstoß gegen das in Art. 116 WRV verankerte Rückwirkungsverbot zum Tode. Mit Urteil vom 12. Juli 1934, also noch vor den Nürnberger Rassegesetzen von 1935, erkannte es die Tatsache, dass der Ehepartner Jude war, als neuen Eheanfechtungsgrund an und erhob nachfolgend die Diskriminierung von Juden zum „allgemeinen Rechtsgrundsatz", der auch in allen anderen Rechtsbereichen, im Kaufrecht, Mietrecht, Eherecht wie im Familienrecht und Arbeitsrecht zu beachten sei. 12 Dieser höchstrichterliche Orientierungsmaßstab überantwortete den Kern der Gerechtigkeit, nämlich die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, dem nationalsozialistischen Zeitgeist und war wesentlicher Teil der beispiellosen Entrechtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus rassischen und ethischen Gründen, die schließlich in den Holocaust mündete. Wenn wir uns heute an die Gründung des Reichsgerichts erinnern, so können wir das Gericht nicht höher ehren als dadurch, dass wir einerseits an seine großen rechtsstaatlichen Verdienste um die Fortbildung des Rechts anknüpfen, die auch für unsere Rechtsprechung grundlegend waren oder noch sind, andererseits aber auch aus der Geschichte seines Niedergangs lernen, um in der Gegenwart bestehen und die Zukunft gestalten zu können. Jedes Justizsystem steht und fällt mit den handelnden Personen und den sie tragenden Wertvorstellungen. Der freiheitlich demokratische Rechtsstaat lebt davon, dass an den Gerichten und namentlich auch an den obersten Gerichten Persönlichkeiten wirken, die einstehen für Unabhängigkeit, Integrität und Loyalität gegenüber der bestehenden Verfassungsordnung. Orientierungsmaßstab für den demokratisch legitimierten Richter kann weder seine subjektive Gerechtigkeitsideologie noch der 9

Schraub Der Richter im neuen Reich, in: DRiZ 1934, S. 3. Hermann Schroer , Der königliche Richter, in: DRiZ 1935, S. 2. 11 Leitsätze abgedruckt in: DJZ 1936, Sp. 179f. 12 RG JW 1936, S. 2529 f. 10

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aktuelle Zeitgeist, das „gesunde Volksempfinden" sein. Der Richter ist vielmehr der Systemgerechtigkeit des verfassten Staates verpflichtet. Denn die Verfassung und die Gesetze definieren die der freiheitlich demokratischen Grundordnung zugrunde liegende Rechtsidee und damit auch das von der Justiz zu verwirklichende Leitbild von Gerechtigkeit. Dies uns immer wieder vor Augen zu fuhren, ist auch eine Frucht des Gedenkens an die Geschichte des Reichsgerichts und eine gute Zielsetzung für die Zukunft.

Grußwort des sächsischen Staatsministers der Justiz Von Dr. Thomas de Maizière (Dresden)

Sehr geehrter Herr Prof. Kern, Magnifizenz, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Hien, sehr geehrter Herr Vizepräsident des Bundesgerichtshofs Dr. Wenzel, meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 125 Jahren wird im Abstand von jeweils einem Vierteljahrhundert der Eröffnung des Reichsgerichts gedacht. Dieses Gedenken hat von Anfang an nicht nur die Entwicklung und Geschichte des Gerichts beleuchtet, sondern war stets auch ein Ausdruck seiner Zeit. Lassen sie mich einen Streifzug durch diese Vierteljahrhundertstationen machen. Parallelen zu heute sind ganz zufällig und völlig unbeabsichtigt. 25 Jahre nach Eröffnung des Reichsgerichts. Als im Jahre 1904 die Deutsche Juristenzeitung das 25jährige Bestehen des Reichsgerichts thematisierte, waren die Geburtswehen dieser Institution noch keineswegs vergessen. Reichsgerichtsrat Boethke erinnerte nicht ohne Bitterkeit daran, dass Bayern und Sachsen sich die letztinstanzliche Rechtsprechung in Landessachen in erheblichem Umfang vorbehalten hatten... Es bedurfte auch noch immer der Rechtfertigung, dass Leipzig und nicht Berlin Sitz des Gerichts geworden war - mit 28 zu 30 Stimmen übrigens, nämlich gegen das Votum von Preußen, Hessen, Baden, Anhalt, Waldeck, Lübeck, Bremen und Hamburg. Aus den Festbeiträgen des Jahres 1904 sprach aber auch Genugtuung über die inzwischen erreichte hohe Qualität der reichsgerichtlichen Rechtsprechung und vor allem die Zuversicht für die Zukunft dieses Gerichts, wie ja der Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland überhaupt von großem Optimismus geprägt war; ganz im Gegensatz leider zum Beginn unseres Jahrhunderts... 50 Jahre nach Eröffnung des Reichsgerichts. 25 Jahre später, 1929, zum 50jährigen Jubiläum des Reichsgerichts, herrschte eine andere Stimmung. Dem Stolz auf die Leistungen des Reichsgerichts ist nun ein gerütteltes Maß an Wehmut und Rückblick auf die „gute alte Zeit" beigemischt. Es ist bezeichnend, dass die Jubiläumsausgabe der Deutschen Juristenzeitung vor allem bewundernde Stimmen aus dem Ausland zu Worte kommen lässt - Balsam auf die Wunden der geschlagenen und von Krisen geschüttelten Republik. Breiten

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Raum nimmt in dem Festbeitrag des bis März 1929 amtierenden Reichgerichtspräsidenten Simons aber die Sorge um die Zukunft des Gerichts ein, die er mit den Schlagworten der „Vertrauenskrise der Justiz" und der „politischen Justiz" verbindet. Vor allem die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit für Hoch- und Landesverratsprozesse wird als schwere Belastung empfunden, die das Gericht in die politische Auseinandersetzung hereinziehe. Professor Gerland aus Jena beklagt: „Das Jubiläum des Reichsgerichts fällt in eine Zeit schwerster Erschütterungen staatlicher Autorität, in eine Zeit zersetzender Kritik." 75 Jahre nach Eröffnung des Reichsgerichts. 1954 sind erneut 25 Jahre vergangen, und was für Jahre. Der erste Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, selbst Reichsgerichtsrat von 1937 bis 1945, beschreibt den BGH als Erben und Nachfolgegericht. Sein Festvortrag trifft die Stimmung der Zeit, wenn er ausführt: „So steht heute das Bild des Reichsgerichts vor uns: große, bleibende, ja unvergängliche Leistungen, vorbildliches Richtertum und doch ein von Tragik umschattetes Ende." Zu den letzten 12 Jahren des Reichsgerichts merkt er an: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den erstem Stein." 100 Jahre nach Eröffnung des Reichsgerichts. Die Tonlage hat sich erneut gewandelt, als 1979 der BGH - Präsident Gerd Pfeiffer seinen Vortrag zum hundertsten Gründungstag des Reichsgerichts mit dem Goethezitat beginnt: „Gern wär ich Überliefrung los / Und ganz original / Doch ist das Unternehmen groß / Und führt in manche Qual". Er zollt zwar der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1933 Respekt, rügt aber die positivistische Sichtweise der Richterschaft und ihre innere Reserve gegenüber der Weimarer Verfassung. Das Versagen des Reichsgerichts im sogenannten „Dritten Reich" bildet den Schwerpunkt seiner Ausführungen. Gegenwart. Hat sich seitdem unser Blick auf das Reichsgericht geweitet? Die Signale des Bundesgerichtshofs waren oder sind nicht immer eindeutig: Einerseits ein Internetauftritt, der unter dem Punkt „Geschichte" das Reichsgericht mit keinem Wort erwähnt, und auch die Absage, nach der Wiedervereinigung in das Gebäude des Reichsgerichts nach Leipzig umzuziehen, andererseits der - teilweise durchgesetzte - Anspruch auf die Reichsgerichtsbibliothek. Wir sind gespannt, welches Bild die Vorträge, die heute und morgen gehalten werden, ergeben.

Eine persönliche Bemerkung sei mir als Jurist und für Vorschriftenabbau zuständigen Minister noch erlaubt: Für vorbildlich halte ich die klare, knappe und verständliche Sprache, die in den Urteilen des Reichsgerichts verwendet wurde. Lassen sie mich zum Abschluss noch einmal den Bogen zurück schlagen: In den 125 Jahren seit der Eröffnung des Reichsgerichts hat sich vieles, sehr vieles geändert. Gleich geblieben ist aber die Findigkeit der Leipziger: Dazu aus einem Schreiben des Reichskanzlers Bismarck an Kaiser Wilhelm den Ersten:

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„Unerwähnt darf ich übrigens nicht lassen, daß der Rath und die Stadtverordneten der Stadt Leipzig sowohl bei ihrer eigenen Regierung als bei dem Bundesrath warm dafür eingetreten sind, daß ihre Stadt zum Sitz des Reichsgerichts erwählt werden möge, und daß sie diese ihre Bitte durch das Anerbieten von Grundstücken und von nicht unerheblichen Erleichterungen bei der ersten Einrichtung wirksam unterstützt haben. Von Seiten der Städtischen Behörden Berlins ist dagegen Nichts geschehen, was darauf schließen ließe, daß sie Werth darauf legten, das Reichsgericht hierher gelegt zu sehen, und es ist dieser Gegensatz in dem Verhalten beider Städte im Bundesrath nicht unbemerkt geblieben, ja ist vielleicht auf das Ergebnis der Abstimmung von Einfluß gewesen." Diese Tradition der werbenden Findigkeit fur in diesem Falle Leipzig wollen wir für Sachsen gerne beibehalten, nicht nur bei Gerichtsstandorten...

Grußadresse des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig Von Wolfgang Tiefensee (Leipzig)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sie sehr herzlich hier im Großen Sitzungssaal des Bundesverwaltungsgerichts zum Festkolloquium „125 Jahre Reichsgericht" willkommen heißen. Das heutige Kolloquium steht in der Kontinuität einer Fülle von Veranstaltungen, die Leipzig in den letzten Jahren als eine Stadt des Rechts profiliert haben. Ich nenne nur die Mitgliederversammlung des „Deutschen Anwaltvereins" im Mai 1996 - die erste, die in den neuen Bundesländern stattfand -, die Jahrestagung der Präsidenten der Finanzgerichte des Bundes und der Länder im Jahr 1999 und den 63. Deutschen Juristentag, der 2000 in Leipzig einkehrte. Diese Konzentration hochrangiger Veranstaltungen ist kein Zufall. Sie spricht von der enormen rechtsgeschichtlichen Tradition unserer Stadt. Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 entstanden in Leipzig bedeutende nationalstaatliche Organe der Rechtspflege. Schon im April 1871 wurde das Reichsoberhandelsgericht eröffnet, dessen Aufgaben 1879 das Reichsgericht mit übernahm. Dieses Reichsgericht war Symbol wie Instrument der Vereinheitlichung der Rechtsstrukturen im Deutschen Reich. Sein erster Vorsitzender, Eduard von Simson, ist heute Namensgeber für den Platz vor dem ehemaligen Reichsgericht. Es folgten - aber Sie kennen die Daten zweifellos besser - der Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte und der Disziplinarhof für die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten. Während der Weimarer Republik entstanden beim Reichsgericht der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und das Reichsarbeitsgericht, um nur die wichtigsten zu nennen. Leipzig war damit zur deutschen Hauptstadt der Rechtspflege geworden. Leipzig hat seit der Friedlichen Revolution an diese rechtsgeschichtliche Tradition angeknüpft. Unsere Stadt ist heute nicht nur der Sitz eines Landgerichts, des größten sächsischen Amtsgerichts, eines Verwaltungsgerichts, eines Arbeitsgerichts, eines Sozialgerichts und des Sächsischen Finanzgerichts. Leipzig ist zudem Sitz des Sächsischen Verfassungsgerichts und Heimat des Bundesverwaltungsgerichts. Zudem hat mit dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes der erste und bislang einzige der obersten Gerichtshöfe der Bundesrepublik Deutschland in den neuen Bundesländern seine Zelte in unserer

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Stadt aufgeschlagen. Hinzu kommt, dass in Leipzig eine der ältesten juristischen Fakultäten Deutschlands zuhause ist. Das heutige Kolloquium erinnert uns daran, dass auch das Recht seine Geschichte hat. Oft begegnet man der Auffassung, dass die Rechtsprinzipien aus dem Himmel ewiger Ideale auf den Boden unseres schnöden Alltags gefallen seien. Allein das heutige Datum erzählt vom Gegenteil. Die Organisation des Rechts ist jeweils ein Resultat der politischen und intellektuellen Anstrengungen ihrer Zeit. Stets ist die Doppelfrage zu beantworten: Welchen Grundprinzipien fühlt sich eine Gesellschaft verpflichtet und wo liegen die Grenzen ihrer Duldsamkeit? Beide Fragen stellen Politik und Justiz vor die immerwährende Aufgabe, ein Recht zu schaffen, das die Entwicklungen der Zeit ebenso in Rechnung stellt wie die Sicherheit und die Freiheit der Bürger garantiert. Das Recht und die politische Ordnung eines Gemeinwesens stehen in untrennbarer Verbindung. Sie spiegeln sich geradezu. Auch davon kann die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ein Lied singen. Und in dieser findet das Leipziger Reichsgericht seinen historischen Ort. Es verkörpert diese deutsche Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Eduard von Simson, der erste Präsident des Reichsgerichts und Namensgeber des Platzes, an dem wir uns heute befinden, betonte zu Recht, dass „Recht und Freiheit nur zwei verschiedene Namen für dieselbe Sache sind." Diese Haltung jenseits der Lager hat sich als zukunftsträchtig erwiesen. Eduard von Simson war ein Mann des Ausgleichs, des Kompromisses und des goldenen Mittelweges, weil er um die Gefahr eines Extremismus wusste, der nur das eigene Interesse kennt. Im Reichsgericht begann aber auch die nationalsozialistische Aushöhlung des Rechts während des sogenannten Reichstagsbrand-Prozesses. Hier entstand nach 1949 eine Bleibe für die Kunstsammlungen unserer Stadt - das Museum der Bildenden Künste - und zugleich ein Ort der kommunistischen Heldenverehrung, das sogenannte Dimitroff-Museum. Und hier hat, 13 Jahre nach der Friedlichen Revolution, eine der wichtigsten Rechtseinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland, das Bundesverwaltungsgericht, eine neue Heimstätte gefunden. Meine Damen und Herren, gerade wir Ostdeutschen wissen, dass Rechtsunsicherheit und undemokratische Macht zwei Seiten einer Medaille sind. Wir wissen aber auch, wie schwierig das Einleben neuer Rechtsnormen ist und dass die Veröffentlichung im Amtsblatt das eine, die spontane Akzeptanz im Alltag das andere ist. Politik und Justiz sind hier gleichermaßen gefordert. Denn jede Ordnung lebt im Kern von der Akzeptanz, die sie im Rechtsempfinden der Bürger besitzt.

Grußwort des Rektors der Universität Leipzig Von Prof. Dr. Franz Häuser (Leipzig)

Sehr verehrter Herr Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, lieber Herr Hien, sehr geehrter Herr Vizepräsident des Bundesgerichtshofs Dr. Wenzel, sehr geehrter Herr Staatsminister der Justiz, Dr. de Maiztere, verehrte Vertreter der lokalen Justiz, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sehe auch einige spectabiles unserer Universität, die ich gerne begrüße! Es ist mir als Rektor der Universität Leipzig eine große Freude und Ehre, Ihnen die besten Grüße der Universität zu überbringen. Dies tue ich mit einer besonderen inneren Anteilnahme, weil die Institution, an deren Gründungstag wir heute erinnern, weil das Reichsgericht mit der Universität und der Stadt Leipzig einen ganz besonders harmonischen Leipziger Dreiklang bildete. Ihre Erwähnung der Grundstücksfrage, Herr Staatsminister, hat mir in Erinnerung gerufen, dass auf diesem Grundstück vorher der botanische Garten der Universität angesiedelt war; wir haben das Grundstück also offenbar dem Reichsgericht zur Verfugung gestellt. Für den erwähnten Dreiklang lässt sich beispielsweise anfuhren, was auf der Feier der Einweihung des Neuen Leipziger Rathauses am 7. Oktober 1905 der damalige Präsident des Reichsgerichts, Freiherr von Seckendorff, ausgeführt hat. Er wies in seiner Ansprache daraufhin, wie lebhaften Anteil das Reichsgericht an dieser Einweihung des neuen Rathauses nehme. Seit mehr als 25 Jahren habe das Gericht seinen Sitz in Leipzig und man habe das Gefühl der Dankbarkeit, vor allem aber das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Und dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Gericht hatte die Juristenfakultät unserer Universität ein Jahr zuvor, also vor 100 Jahren im Jahre 1904 aus Anlass des 25. Geburtstages des Gerichts darin zum Ausdruck gebracht, dass sie 10 Mitgliedern des Gerichts auf einen Schlag die Ehrendoktorwürde verlieh. Der spätere Präsident des Gerichts Simons war Honorarprofessor unserer Universität für Völkerrecht. Und um den angesprochenen Dreiklang zu vervollständigen: Die Zusammengehörigkeit zwischen Stadt und Universität über die Zeiten hinweg muss nicht besonders belegt werden, sie ergibt sich aus der gemeinsamen Geschichte und ist tagtäglich gelebte Wirklichkeit.

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Als Rektor der Universität Leipzig habe ich noch eine weitere Veranlassung, Grüße der Universität zu überbringen, denn - Herr Kollege Kern hat darauf hingewiesen - der Festakt zur Eröffnung, an den wir mit dieser Veranstaltung heute erinnern, fand am 1. Oktober 1879 in der Aula der Universität statt. Die Zweitälteste deutsche Universität mit ununterbrochenem Lehrbetrieb seit ihrer Gründung war also auch Geburtshelferin des jungen Reichsgerichts, das zwar vor Ort einen Vorläufer hatte - nämlich das Reichsoberhandelsgericht aber noch nicht über einen repräsentativen Saal verfügte. Und wie die Geschichte so spielt, kehren sich die Verhältnisse um: heute verfügt die Universität nicht über einen repräsentativen Saal, wohl aber das Gericht, und wir sind ungemein dankbar, dass das Bundesverwaltungsgericht uns in der Not aushilft. Aber - die Leipziger wissen das - wir erstreben ja den Bau eines innerstädtischen Campus' und erhoffen uns, dass wir im Jahre 2009 aus Anlass der 600-Jahrfeier in eigenen attraktiven Räumen einen Festakt ausrichten können.

Vor Juristen an die Eröffnung des Reichsgerichts am 1. Oktober 1879 zu erinnern, ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Es bedeutet Eulen nach Athen zu tragen, Sie darüber zu informieren, dass das Reichsgericht zwar als Institution der Vergangenheit angehört, in seiner Rechtsprechung aber nach wie vor lebendig ist, und, viel Prophetie gehört nicht dazu, auch weiterhin lebendig bleiben wird. Jeder deutsche Jurist hat seine persönliche Erinnerung an die ersten Begegnungen mit dem Reichsgericht - sei es in der Rechtsgeschichtsvorlesung im ersten Semester, sei es im Kontakt mit den Entscheidungssammlungen RGZ oder RGSt spätestens aus Anlass der ersten Hausarbeit. Diese Entscheidungssammlungen, der erste Zugang zur Rechtsprechung des Gerichts nicht nur für den Historiker, sind Titel, die nach wie vor in fester und strapazierfähiger Form gebunden in allen juristischen Bibliotheken des Landes vorgehalten werden. Als ich vor 12 Jahren in Potsdam Lehrstuhl Vertreter w a r ich habe einen Ruf dorthin abgelehnt und Leipzig vorgezogen - hat sich einer der Kollegen als erste Bestellung aus seinen Berufungsmitteln diese Riesenzahl von Bänden des Reichsgerichts gekauft, in sein Zimmer gestellt und dann keinen Platz für weitere Bücher mehr gehabt. Deren Aktualität zeigt sich auch daran, dass kürzlich sämtliche zivilrechtliche Entscheidungen auf DVD erschienen sind.

Es ist offenbar keineswegs eine Selbstverständlichkeit, an die Gründung heute öffentlich zu erinnern, wie beispielsweise vor kurzem in der sehr besonders attraktiven Form an den 50. Geburtstag des Bundesgerichtshofes.

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Es ist auch keine Selbstverständlichkeit, dass in diesem Hause, in dem w i r uns befinden, ein oberstes Bundesgericht seinen Sitz hat. Es gibt in diesem Lande eigentlich niemanden, dem die Erinnerung an die Gründung des Reichsgerichts ex officio, also von Amts wegen, zufiele - also weder dem Präsidenten des Bundesgerichtshofes noch dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts noch einem Bundes- oder Landesjustizminister. So sind es eben die Rechtshistoriker der Universitäten, denen die Beschäftigung sowohl mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts als auch mit seiner institutionellen und personellen Geschichte zufällt. Und ich freue mich besonders über den Umstand, dass alle, die ich eben eigentlich als nicht verantwortlich benannt und herausgestellt habe, der Idee der Rechtshistoriker so schnell und begeistert gefolgt sind und einen Beitrag zum Zustandekommen des heutigen Festkolloquiums geleistet haben. Die Rechtshistoriker sind es denn auch, die dem heutigen und morgigen Programm ihren Stempel aufdrücken werden. Wie man sich dem Reichsgericht nähern kann, dafür zeigt das Ihnen vorliegende Programm des Festkolloquiums einige Wege auf. Da ist zunächst einmal der historiografische Ansatz, der das Reichsgericht als eine Institution, seine Gründung, seine Existenz, sein Ende und seine Einbindung in den gesellschaftlichen Diskurs seiner Zeit zum Gegenstand hat. Herr Kollege Buschmann ist hierzu ein in jeder Hinsicht sehr aussagefähiger Informant. Dieser Ansatz lässt sich auch noch konkretisieren, indem bestimmte institutionelle Schwerpunktbereiche der Tätigkeit des Reichsgerichts herausgegriffen werden. Die Rolle des Reichsgerichts als Reichsarbeitsgericht herauszustellen ist insbesondere in Leipzig angebracht. Eine beliebte Frage, die ich im Ersten Staatsexamen stelle: Was und wer war das Reichsarbeitsgericht. Mittlerweile sind natürlich die Studierenden protokollfest und kennen diese Frage. Deshalb fällt die Antwort in aller Regel günstig aus. Der Leipziger Arbeitsrechtler Erwin Jacobi, 1947 letzter Jurist im A m t des Rektors der Universität vor meiner Wahl, war es, der im Gefolge von V i k t o r Ehrenberg in der Weimarer Zeit dem Arbeitsrecht auch in der Ausbildung den seiner praktischen Relevanz geschuldeten Schwerpunkt beimaß. Heute ist das Arbeitsrecht als eigenständiges Schwerpunktgebiet des bürgerlichen Rechts so angewachsen, dass es sich nicht vorstellen lässt und gar nicht denkbar wäre, das individualvertragliche und das kollektive Arbeitsrecht einem Senat des Bundesgerichtshofs anzuvertrauen. Das Reichsgericht als Strafgericht ist der Öffentlichkeit hierzulande vor allem wegen des Reichstagsbrandprozesses bekannt. Jeder Strafrechtsanfänger wird jedoch mit anderen Entscheidungen des Reichsgerichts traktiert - ich den-

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ke nur an Rose-Rosahl oder den Badewannenfall. Ich versage mir, Ihnen jetzt die Problematik näher zu erläutern. Nur wenige kennen die Rolle des Reichsgerichts als Gericht über Angehörige der deutschen Wehrmacht nach dem ersten Weltkrieg. Es dürfte wohl einmalig sein, dass die Sieger den Unterlegenen die Aburteilung von Kriegsverbrechen überließen, die von Angehörigen der Streitkräfte der unterlegenen Partei begangen worden waren - oder vermutlich begangen worden waren. Immerhin wird an dieser Tatsache aber deutlich, welches auch internationale Ansehen dem Reichsgericht in den beginnenden 20er Jahren des 20. Jahrhunderts beigemessen wurde. Dass solche Themen auch aus Anlass dieses Festkolloquiums behandelt werden, freut mich sehr. Faszinierend finde ich noch immer die große Zahl der unterschiedlichen partikularen Rechtsquellen, von denen das Gericht vor in Kraft treten des BGB auszugehen hatte. So hatte das Reichsgericht als Revisionsinstanz in den ersten 21 Jahren seiner Existenz für eine Vielzahl von Gerichtsbezirken das stark vom römischen Recht geprägte gemeine Recht anzuwenden. Wie schnell sich für den Rechtsanwender auch heute noch die Brücke über das BGB hin zum gemeinen Recht und den Digesten des 6. Jh. schlagen lässt, wird Frau Kollegin Möller in ihrem Beitrag demonstrieren. Gleiches trifft für das französische Recht zu, das im 19. Jahrhundert in Gestalt des Code Civil in großen Teilen des deutschen Reiches galt. Das deutsche Reichsgericht als Interpret des französischen Code Civil - das ist ein Thema, welches im Jahr des 200. Geburtstages des Code Civil von doppelter Faszination ist. Herr Kollege Schubert aus Kiel ist nicht nur einer der tatkräftigsten Editoren zu den Rechtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch ein profunder und vorzüglicher Kenner des französischen Rechts. Mit Rechtsprechungsanalyse lassen sich auch bestimmte einzelne Rechtsfiguren erfassen. Dass die Auswahl für eine Tagung wie die heutige nur bruchstückhaft sein kann, liegt auf der Hand. Unsere erst kürzlich hier in Leipzig habilitierte Kollegin Frau Professor Schumann wird bestimmte Institute des Familienrechts aus der wohl umstrittensten Periode der Judikatur des Reichsgerichts analysieren und Herr Schmidt-Recla ein meistens verborgenes, aber in Zeiten des Rechtsordnungswechsels regelmäßig gleichsam aus der Versenkung auftauchendes Institut des Sachenrechts aufgreifen. Der nachwirkende Beitrag des Reichsgerichts zu so aktuellen Rechtsmaterien wie dem von mir vertretenen Bank- und Kapitalmarktrecht ist erstaunlich. So habe ich wie selbstverständlich einen Beitrag zu einer im vorigen Jahr erschienenen Festschrift für einen verdienten Bankrechtler mit dem Hinweis auf eine Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1904 eröffnet, um die Kontinuität in der grundlegenden zivilrechtlichen Beurteilung einer bestimmten

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Frage des bargeldlosen Zahlungsverkehrs fernab aller abwicklungstechnischen Neuerungen zu verdeutlichen. Und als es in den 80er Jahren des letzen Jahrhunderts zu einer Liberalisierung der hochspekulativen Geschäftsformen des Börsenhandels, nämlich des Börsenterminhandels kam, war plötzlich die Rechtsprechung des Reichsgerichts aus der Zeit vor und nach dem Börsengesetz von 1896 brandaktuell, wenngleich die einschlägigen Entscheidungssammlungen eher verstaubt. Schließlich - die Personen. Geschichte, Justiz und das Recht werden greifbar und lebendig in den Personen, die sie und es prägen oder repräsentieren. Das Reichsgericht hat hier eine interessante und illustre Ahnengalerie aufzuweisen. Fast jeder deutsche Jurist kennt sie, die Geschichte der ab- und wieder aufgehängten Präsidentenporträts. Ich will auch weder Herrn Kollegen Wadle noch Herrn Kollegen Schroeder in dieser Frage vorgreifen. Aber, dass die beiden im Bilderstreit aktiv und passiv auftretenden Personen, Eduard v. Simson und Erwin Bumke auf einem Festkolloquium zur Reichsgerichtsgeschichte nicht fehlen dürfen, versteht sich beinahe von selbst. Ich freue mich in diesem Zusammenhang auch sehr, dass die Kunde von unserer heutigen Veranstaltung bis nach Spanien gedrungen ist, wo sie den Enkel von Erwin Bumke, des letzen Präsidenten des Reichsgerichts, erreicht hat und ich freue mich noch mehr darüber, dass Herr Wolfgang Bumke heute unter uns ist. Gesprächs- und Diskussionsstoff wird sich ganz von selbst ergeben. Nun möchte ich aber ihre Geduld nach so vielen Grußwörtern nicht weiter auf die Probe stellen und wünsche Ihnen einen angenehmen, ertragreichen und informativen Verlauf Ihres Kolloquiums.

Kriegsschäden am Reichsgerichtsgebäude

Reichsgerichtsgebäude, zeitgenössische Photographie

Eduard von Simson

Erwin Bumke

Das Reichsgericht Ein Höchstgericht im Wandel der Zeiten* Von Arno Buschmann

Das Reichsgericht, dessen Eröffnung heute vor 125 Jahren stattfand, hat im Verlauf seiner 66jährigen Geschichte und auch nach seinem Ende wiederholt im Mittelpunkt von öffentlichen Feierlichkeiten gestanden, die allesamt die unterschiedlichen historischen Situationen spiegeln, unter denen diese abgehalten wurden 1.

I.

Den Anfang bildeten die Feiern aus Anlaß der Eröffnung des Gerichts am 1. Oktober 1879, in deren Mittelpunkt der Festakt in der Aula der alten Leipziger Universität mit der Amtseinführung und Vereidigung des ersten Präsidenten des Reichsgerichts Eduard von Simson, der Mitglieder des Gerichts, der Reichsanwaltschaft und der Rechtsanwaltschaft am Reichsgericht durch den damaligen Staatssekretär des Reichsjustizamtes Heinrich Friedberg stand. Umrahmt waren die Amtshandlungen von Ansprachen des Staatssekretärs, des neu ernannten Präsidenten, des Vertreters der Reichsanwaltschaft, der Rechtsanwälte beim Reichsgericht, der Stadt und der Universität, um nur die wichtigsten zu nennen. Am Schluß gab es eine Ergebenheitsbekundung sämtlicher Teilnehmer der Versammlung an Seine Majestät den Kaiser mit einem dreifachen Hoch auf Allerhöchstdenselben, wie es in der Diktion der damaligen Zeit hieß. Die Presse, namentlich die „Illustrierte Zeitung" in Leipzig, schenkte dem Vorgang große Aufmerksamkeit, ebenso wie den weiteren Veranstaltungen, die in diesem Rahmen abgehalten wurden, dem Festmahl im Gewandhaus, dem festlichen

* Erweiterter und mit Nachweisen versehener Text des am 1. Oktober 2004 im Rahmen des Festkolloquiums gehaltenen Festvortrages. Die Nachweise sind auf das unumgängliche Maß beschränkt. 1 Über die Rolle des Reichsgerichts in der deutschen Rechtsgeschichte vgl. zuletzt Otto Rudolf Kissel, Bedeutung und Leistungen des Reichsgerichts, in: Ursula Oehme (Hrsg.), Das Reichsgericht, Leipzig 1995, S. 17ff.

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Ball im Neuen Theater, einem Sinfoniekonzert unter Leitung des berühmten Arthur Nikisch, ebenfalls im Neuen Theater, und schließlich dem Bürgerabend im großen Saal der Zentralhalle 2. Zweierlei verdient für diese Feierlichkeiten besondere Hervorhebung, weil es die historische Situation, in der diese stattfanden, schlaglichtartig erhellt, zum einen, daß mit der Eröffnung des Reichsgerichts endlich ein nationaler Traum in Erfüllung gegangen war, nämlich der Traum von der Rechtseinheit des Deutschen Reiches, und zum andern, daß mit der Errichtung des Gerichts gerade in Leipzig die Tradition des dort bis dahin tätigen Reichsoberhandelsgerichts fortgeführt werden sollte. Der Traum von der nationalen Rechtseinheit war freilich mit der Schaffung einer einheitlichen Höchstgerichtsbarkeit für das gesamte Deutsche Reich noch keineswegs vollendet. Rechtseinheit bestand lediglich auf dem Gebiet des Handels« und Wechselrechts durch das Allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 und die schon 1848 vom Deutschen Bund verabschiedete Allgemeine deutsche Wechselordnung und auf dem Gebiet des Strafrechts durch das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871, das aus dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 hervorgegangen war, sowie schließlich für das Gerichtsverfassungs- und das Verfahrensrecht durch die zwei Jahre zuvor verabschiedeten sog. Reichsjustizgesetze von 1877, auf deren Vorschriften auch die Errichtung des Reichsgerichts beruhte 3. Der wichtigste Teil der deutschen Rechtseinheit, nämlich die Rechtseinheit auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts, war noch nicht realisiert. Ihre Realisierung folgte erst 21 Jahre später, nachdem es gelungen war, durch Verfassungsänderung die Gesetzgebungskompetenz für das Bürgerliche Recht auf das Reich zu übertragen - übrigens, wie wir wissen, erst nach heftigen parlamentarischen Auseinandersetzungen durch den wiederholt gestellten Antrag der Abgeordneten Miquel und Lasker 4. Insofern war die Verwirklichung des Traums von der deutschen Rechtseinheit mit der Errichtung des Reichsgerichts in der 2

Zu den Feierlichkeiten anläßlich der Eröffnung des Reichsgerichts vgl. Karola Reckling, Die Ansiedlung des Reichsgerichts und seine Gründung in Leipzig am 1. Oktober 1879, in: U. Oehme (Hrsg.), Das Reichsgericht, S. 24ff., insbes. S. 34. 3 Zur Entstehung der Reichsjustizgesetze vgl. vor allem Werner Schubert, Die deutsche Gerichtsverfassung (1869-1877). Entstehung und Quellen, Frankfurt am Main 1981 (Ius Commnune, Sonderheft 34), pass., insbes. S. 153ff.; Zur nachfolgenden Entwicklung der deutschen Gerichtsverfassung vgl. O. R. Kissel, 100 Jahre Gerichtsverfassungsgesetz, NJW 1979, S. 1935ff.; ders., 100 Jahre Reichsjustizgesetze, DRiZ 1980, S. 81ff. 4 Die Auseinandersetzungen über die Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Reiches sind oft beschrieben worden. Vgl. zuletzt Fritz Sturm, Der Kampf um die Rechtseinheit in Deutschland, in: Michael Martinek/Patrick L. Sellier (Hrsg.), 100 Jahre BGB - 100 Jahre Staudinger, Berlin 1999, S. 13ff.

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Tat noch nicht vollendet. Dennoch empfanden alle Festredner und nicht nur diese, daß durch die Errichtung eines Höchstgerichtes für das ganze Deutsche Reich der Traum von der deutschen Rechtseinheit einen entscheidenden Schritt vorangekommen war und das neu errichtete Reichsgericht nicht nur ein institutionelles Symbol für die deutsche Rechtseinheit darstellte, sondern zugleich das Verlangen nach deren endgültiger Vollendung noch notwendiger erscheinen ließ. Der Wunsch nach der Fortsetzung der justiziellen Tradition des Reichsoberhandelsgerichts, das sich trotz der kurzen Zeitspanne seines Bestehens zunächst als Bundesoberhandelsgericht und sodann als Reichsoberhandelsgericht auf den Gebieten seiner Zuständigkeit ein hohes Ansehen erworben hatte, wurde bei der Eröffnungsfeier vor allem durch Staatssekretär Friedberg zum Ausdruck gebracht. Friedberg hob nicht nur die bis dahin erbrachten Leistungen dieses Gerichts hervor, sondern äußerte expressis verbis die Hoffnung, daß das neue Gericht an die Tradition des Reichsoberhandelsgerichts anknüpfen und seine eigene Rechtsprechung künftig an der Judikatur dieses Gerichts ausrichten möge. Tatsächlich hatte sich, wie neuere Forschungen bestätigt haben, bereits eine feste Jurisdiktionstradition des Reichsoberhandelsgerichts herausgebildet, die sich in der 25 Bände umfassenden Sammlung der Entscheidungen niedergeschlagen und sowohl in der partikularen Rechtsprechung wie in der Wissenschaft höchste Beachtung gefunden hatte, an die das Reichsgericht anschließen konnte und in vieler Hinsicht auch angeschlossen hat5. Sieht man einmal von den Feierlichkeiten zur Grundsteinlegung für das neue Reichsgerichtsgebäude im Jahre 1888 und dessen Einweihung im Jahre 1895 ab, die beide in Anwesenheit des Kaisers, des sächsischen Königs und zahlreicher Ehrengäste zelebriert wurden, dann verdienen in der Folgezeit vor allem die Feiern zum 25jährigen Bestehen des Reichsgerichts im Jahre 1904 besondere Erwähnung. Auch sie wurden mit einem Festakt begangen, diesmal im neuerbauten Reichsgerichtsgebäude6. Reichskanzler von Bülow pries in seiner Grußadresse an die Festversammlung das Reichsgericht als einen „Hort des Rechts zum Segen des deutschen Volkes und zur Festigung der deutschen Einheit" und in zahlreichen weiteren Grußadressen wurden vor allem die Leistungen des Reichsgerichts für die Herstellung einer einheitlichen Rechtsprechung bis zum Jahre 1900 hervorgehoben und seine Verdienste um die

5 Zur Kontinuität der Judikatur von Reichsoberhandelsgericht und Reichsgericht vgl. Christoph Bergfeld, Die Judikatur des Reichsoberhandelsgerichts und Reichsgerichts zum ADHGB und ihr Einfluß auf die frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts zum BGB, in: Ulrich Falk/Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, Frankfurt am Main 2000 (Rechtsprechung, Bd. 14), S. 625ff. 6 Vgl. dazu Elmar Wadle, Das Reichsgericht im Widerschein denkwürdiger Tage, JuS 1979, S. 841 ff., insbes. S. 842f.

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einheitliche Anwendung des gerade in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuchs betont. Die Universität Leipzig nahm das Jubiläum zum Anlaß, etlichen Mitgliedern des Gerichts die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät zu verleihen und damit ihrer Wertschätzung der Tätigkeit des Gerichts Ausdruck zu verleihen 7. Wie schon zuvor die Eröffnung fand auch dieses Jubiläum in der Presse wiederum ein lebhaftes Echo und in der Wissenschaft wurde es vor allem durch die Schriftleitung des Sächsischen Archivs für deutsches Bürgerliches Recht, einer angesehenen juristischen Fachzeitschrift, durch einen umfangreichen Sonderband gewürdigt 8. Tatsächlich hatte das Reichsgericht in der verhältnismäßig kurzen Zeit von 1879 bis 1904 sowohl als Institution wie in seiner Rechtsprechungstätigkeit Bemerkenswertes geleistet. Als Institution hatte es sich in den Räumen des aufgehobenen Reichsoberhandelsgerichts schnell konstituiert und seine Rechtsprechungstätigkeit in zunächst fünf Zivilsenaten und drei Strafsenaten aufgenommen. Außerdem hatte das Gericht schon unmittelbar nach der Errichtung mit der Veröffentlichung seiner wichtigsten Entscheidungen begonnen, die in zwei voneinander unabhängigen Sammlungen, den „Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen" und den „Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen", herausgebracht worden waren und von denen bis 1904 die erstere 36, die letztere bereits 56 Bände erreicht hatten. Außerdem hatte man schon früh eine vollständige Sammlung der Entscheidungen angelegt und ein Nachschlagewerk geschaffen, um eine einheitliche Spruchpraxis der Senate zu gewährleisten. Alle diese Leistungen hatten dazu beigetragen, daß das Reichsgericht nicht nur die bei seiner Errichtung geäußerten Erwartungen hatte erfüllen, sondern sich darüber hinaus den Ruf hatte erwerben können, namentlich im Bürgerlichen Recht einer einheitlichen Anwendung zunächst des partikularen Rechts und danach des BGB entscheidend den Boden bereitet zu haben9. Freilich waren die trotz aller politischen und sozialen Spannungen vorhandenen relativ stabilen inneren Verhältnisse des Kaiserreichs eine nicht unwesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung. Ohne sie hätten die Leistungen des Reichsgerichts nicht erbracht werden können 10 .

7 Elmar Wadle, JuS 1979, S. 842; vgl. dazu auch Adolf Lobe, Die äußere Geschichte des Reichsgerichts, in: ders., (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, Berlin und Leipzig 1929, S. 1, insbes. S. 11. 8 Die ersten 25 Jahre, Sonderheft des Archivs für Deutsches Bürgerliches Recht, Beilagenheft zu Bd. 14(1904). 9 Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, herausgegeben von Mitgliedern des Reichsgerichts, später auch der Reichsanwaltschaft, Leipzig 1880ff.; desgleichen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, ebenfalls ab dem Jahre 1880. 10 Zur politischen und gesellschaftlichen Situation von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges vgl. zuletzt Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, pass., insbes. S. 493ff., der allerdings mit

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Höhepunkt der Feierlichkeiten, in deren Mittelpunkt das Reichsgericht stand, war die 50-Jahr-Feier des Reichsgerichts im Jahre 1929, die allerdings mitten in einer Zeit politischer Unruhe und vor allem eines gravierenden Konflikts zwischen dem Gericht und der Reichsregierung stattfand 11. Anlaß für diesen Konflikt, der zu einem regelrechten Eklat führte, war ein beim Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, der von Mitgliedern des Reichsgerichts beschickt wurde und dessen Präsident der Reichsgerichtspräsident war, anhängig gemachter Rechtsstreit zwischen Reich und Ländern um die Besetzung von Stellen im Verwaltungsrat der Reichsbahn. Der Staatsgerichtshof hatte für die Verhandlung, bei der es um den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ging, bereits einen Termin angesetzt, als die Reichsregierung in einem handstreichartigen Verfahren die strittigen Besetzungen vornahm und damit der Verhandlung vor dem Reichsgericht die tatsächliche Grundlage entzog. Der Eklat wurde ausgelöst, als der Reichsgerichtspräsident dieses Vorgehen der Reichsregierung mit seinem Rücktritt beantwortete und dies mit dem Hinweis begründete, daß eine solche Desavouierung des Reichsgerichts als des höchsten Rechtsprechungsorgans des Reiches durch die Reichsregierung nur mit dem Rücktritt des Reichsgerichtspräsidenten beantwortet werden könne. Als Nachfolger Simons wurde Erwin Bumke ernannt, der dem Reichsgericht bis zum Ende im Jahre 1945 vorstand12. Es war klar, daß dieser Konflikt die Feierlichkeiten überschattete, die zu diesem Jubiläum veranstaltet wurden, in deren Mittelpunkt ein Festakt im Kuppelsaal des Reichsgerichtsgebäudes stand, dessen Absage man zeitweilig erwogen, aber dann doch unterlassen hatte. Wie sehr die Ereignisse den Festakt überschatteten, läßt sich an der Tatsache ablesen, daß weder der Reichspräsident noch der Reichskanzler zum Festakt erschienen waren und sich die Reichsregierung nur durch den amtierenden Reichsjustizminister von Guerard vertreten ließ. Die beiden Erstgenannten beschränkten sich darauf, Glückwunschadressen mit den bei solchen Gelegenheiten üblichen formelhaften Wendungen zu schicken. In den Festreden dagegen fand das Ereignis immer wieder Erwähnung. Es war von einer „Vertrauenskrise" und von einem „Kurstiefstand des Rechts" im Verhältnis des Reichsgerichts zur Reichsregierung die Rede. Der neue Reichsgerichtspräsident bejahte in seiner Rede die Krise und sah eine Lösung vor allem in der Stärkung der Autorität des Richters, dem eine größere Freiheit bei

keinem Wort auf die Rechtsentwicklung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft eingeht. 11 Vgl. dazu Walter Simons, 1 Jahre Reichsgerichtspräsident, DJZ 1929, Sp. I249ff.; Adolf Lobe, Die äußere Geschichte des Reichsgerichts, S. 1 ff., insbes. S. 17ff. 12 Zu Person und Leben Erwin Bumkes vgl. vor allem Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, Karlsruhe 1975 (Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 4), pass., insbes. S. 75ff.

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der Rechtsfindung eingeräumt werden müsse, sowie vor allem in einer Erneuerung des Gemeinschaftsgefühls der Volksgemeinschaft, auf die ein Erstarken des Rechtsgefühls folgen werde, durch die allein die Krise werde überwunden werden können13. Ungeachtet dieser Schatten, die über den Feierlichkeiten lagen, die im übrigen wiederum, wie schon beim 25-Jahr-Jubiläum geschehen, mit zahlreichen Ehrungen einhergingen, und das entsprechende Presseecho fanden, wurde das Jubiläum in Justiz und Wissenschaft mit zwei umfangreichen Festschriften gewürdigt 14 . Die eine von beiden war eine Festschrift, die von Mitgliedern des Reichsgerichts selbst herausgegeben worden war, in der über Entstehung, Entwicklung und Tätigkeit des Reichsgerichts in den 50 Jahren seines Bestehens berichtet und gleichsam eine Art Bilanz aus Sicht des Reichsgerichts und der am Reichsgericht tätigen Personen gezogen wurde 15 . Die andere Festschrift war eine voluminöse Festgabe sämtlicher deutscher juristischer Fakultäten in sechs großformatigen Bänden, in der die gesamte judikative Tätigkeit des Reichsgerichts auf den Gebieten seiner Zuständigkeit von den führenden Sachkennern der deutschen Fakultäten beschrieben, analysiert und deren Bedeutung für das deutsche Rechtsleben ausführlich gewürdigt wurde 16 . Aus den Würdigungen konnte entnommen werden, daß das Reichsgericht längst in die Funktion eines Höchstgerichts des Reiches mit umfassender Zuständigkeit hineingewachsen war, das nicht nur in Straf- und Zivilsachen, sondern auch in Verwaltungsstreitsachen angerufen werden konnte und sogar für Verfassungsstreitigkeiten die letzte Instanz bildete - jedenfalls bis zu Gründung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich im Jahre 192117. Aus einem „Hort des Rechts" war es zum allzuständigen „Hüter des Rechts" und vor allem auch zum „Hüter der Reichsverfassung" geworden, wie der Titel eines der bekanntesten Aufsätze aus dieser Festgabe aus der Feder von Carl Schmitt lautete,

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Zu den Einzelheiten des Konflikts zwischen der Reichsregierung und dem Reichsgericht, zur Vorgeschichte der Ernennung des Reichsgerichtspräsidenten Bumke und zum Ablauf der Feierlichkeiten vgl. zuletzt Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, S. 47ff. 14 Die DJZ widmete dem Ereignis ein Sonderheft (DJZ Sonderheft 19, 1929) mit zahlreichen Beiträgen namhafter Autoren. Sogar eine Jubiläumsmünze wurde aus diesem Anlaß geprägt (entworfen von Prof. Focke von der Kunstakademie in Kassel). Auf ihr war der Spruch eingeprägt: „Ein Reich, ein Recht", mit dem der Reichsgerichtspräsident Bumke seine Festansprache beschlossen hatte. 15 Adolf Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, mit ausfuhrlichen Darstellungen verschiedener Autoren über die Tätigkeit des Reichsgerichts, der Reichsanwaltschaft und der Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht. 16 Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, 6 Bde., Berlin und Leipzig 1929. 17 Durch Gesetz vom 19.7.1921, RGBl. 1921, S. 905 errichtet.

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der sich allerdings kritisch mit dieser Funktion auseinandersetzte und die Aufgabe eines Hüters der Verfassung aus verfassungsrechtlichen Gründen fiir den Reichspräsidenten reklamierte 18 . Auf jeden Fall hatte das Reichsgericht im 50. Jahre seines Bestehens eine so herausragende Stellung erreicht, daß es schon von den Zeitgenossen zu den großen Gerichthöfen der Welt gezählt wurde, wie die Aufnahme in ein im gleichen Jahre unter diesem Titel erschienenes Sammelwerk belegt 19 . Die herausragende Stellung des Reichsgerichts zeigte sich im übrigen auch daran, daß der Präsident des Reichsgerichts im Jahre 1925 beim Tode des Reichspräsidenten Ebert bis zur Wahl und Vereidigung des Amtsnachfolgers durch ein eilends beschlossenes Gesetz mit der Vertretung des Reichspräsidenten betraut und diese Regelung später - übrigens auf Antrag der nationalsozialistischen Fraktion im Reichstag - in den Rang einer Verfassungsbestimmung erhoben wurde. Der Präsident des Reichsgerichts war damit neben seiner Funktion als höchster Richter im Reich auch zum höchsten Organ der Exekutivgewalt des Reiches geworden. Verfassungsrechtlich gesehen war diese Regelung freilich nicht unproblematisch, was von manchen Zeitgenossen auch durchaus bemerkt und artikuliert wurde 20 . Insgesamt wird man sagen können, daß das Reichsgericht bei diesem Jubiläum im Zenit seines Ansehens stand, trotz der vorhandenen Vertrauenskrise zwischen Reichsgericht und Reichsregierung und übrigens auch trotz einer zum Teil heftigen öffentlichen Kritik an einzelnen Urteilen, vor allem in Strafsachen, insbesondere solchen mit politischem Hintergrund.

II. Das Ende des Dritten Reiches brachte auch das Ende des Reichsgerichts als Höchstgericht des Deutschen Reiches. Wie alle deutschen Gerichte, wurde auch 18 Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, S. 154ff.; wiederabgedruckt in: Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Aufl. Berlin 1985, S. 63ff. Schmitt hat das Thema des Hüters der Verfassung in den nachfolgenden Jahren wiederholt behandelt, zuletzt in seiner Arbeit: Der Hüter der Verfassung, Berlin 1931. 19 Walter Simons, Das Reichgericht, in: Julius Magnus (Hrsg.), Die höchsten Gerichte der Welt, Leipzig 1929, S. 3ff. 20 Gesetz vom 10. März 1925, RGBl. 1925, S. 17. Reichspräsident Friedrich Ebert war kurz vor Ablauf seiner Amtszeit - diese endete am 30. Juni 1925 - am 28. Februar 1925 verstorben. Reichskanzler Dr. Luther hatte daraufhin zunächst gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 WRV die Vertretung des Reichspräsidenten übernommen, doch war diese Vertretungsbefugnis auf die bloß vorübergehende Verhinderung des Reichspräsidenten beschränkt. Daher bedurfte es einer gesetzlichen Regelung, die durch das erwähnte Gesetz erfolgte.

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das Reichsgericht durch die alliierte Kontrollratsgesetzgebung aufgehoben und ihm jede weitere gerichtliche Tätigkeit untersagt. Doch im Gegensatz zu den Amtsgerichten, Landgerichten und Oberlandesgerichten, die alsbald wieder eröffnet wurden, blieb das Reichsgericht trotz aller Bemühungen von einigen Mitgliedern des Gerichts, eine Wiedereröffnung zu erreichen, geschlossen. Es konnte im übrigen auch schon deswegen seine Tätigkeit nicht wieder aufnehmen, weil der größte Teil der in Leipzig verbliebenen Reichsgerichtsräte von der sowjetischen Militäradministration verhaftet und schließlich - nach einem „Zwischenaufenthalt" im Leipziger Untersuchungsgefängnis und im berüchtigten Internierungslager in Mühlberg an der Elbe - in das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald verbracht worden war, das nur 4 der 38 eingelieferten Richter überlebten 21. Reichsgerichtspräsident Bumke hatte noch vor der Kapitulation des „Großdeutschen Reiches", wie das Deutsche Reich damals hieß, in Leipzig Selbstmord begangen, und zwar am 20. April 1945, an einem symbolträchtigen Datum, denn es handelte sich um das Datum von Hitlers Geburtstag 22. Ungeachtet dieses Endes war das Reichsgericht jedoch auch nach 1945 wiederholt direkt oder indirekt Gegenstand von öffentlichen Feiern und Würdigungen, freilich nicht mehr in seiner Funktion als höchstes deutsches Gericht, sondern als Verkörperung des juristischen Erbes, das es hinterlassen hat, d.h. als Urheber und Träger der von ihm begründeten Rechtsprechungstradition. Von den zahlreichen Ereignissen, die in diesem Zusammenhang Erwähnung verdienen, sei zunächst der Festakt zur feierlichen Eröffnung des Bundesgerichtshofes am 8. Oktober 1950 in Karlsruhe - eine Woche nach dem Gründungstag des Reichsgerichts - genannt, bei dem immer wieder, allerdings situationsbedingt in differenzierter Form, auf die Tradition des Reichsgerichts als Grundlage für die künftige Rechtsprechungstätigkeit des neuen Bundesgerichtshofs verwiesen wurde. In einem Grußwort zur schmalen offiziellen Festschrift, die bei dieser Gelegenheit herausgegeben wurde, betonte Theodor Heuß, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik, daß der Bundesgerichtshof in dem geschichtlichen Auftrag stehe, eine große, „dann bös zerrissene Überlieferung aufzunehmen und sie mit freiem und festen Sinn neu zu entwickeln" 23 . Der damalige Bundeskanzler Adenauer sprach in seinem Grußwort

21 Über das Ende des Reichsgerichts vgl. zuletzt ausfuhrlich Hans Peter Glöckner, Die Auflösung des Reichsgerichts im Spiegel der archivalischen Überlieferung, in: Friedrich Battenberg/Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa (= Festschrift Bernhard Diestelkamp), Weimar Köln Wien 1994, S. 421 ff. 22 Über die Einzelheiten von Bumkes Selbstmord vgl. Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, S. 397ff. 23 Festschrift zur Eröffnung des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe am 8. Oktober 1950.

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von der verantwortungsvollen Tradition, die aus früheren Jahrzehnten noch herüberreiche - gemeint war das Reichsgericht - und die es gelte, mit den Forderungen der Gegenwart und Zukunft zu verbinden. Bundesjustizminister Thomas Dehler äußerte in seiner Festrede, daß es der Bundesgerichtshof nicht leicht haben werde, an die ausgezeichneten Leistungen des Reichgerichts anzuknüpfen und es sein Wunsch sei, daß der „Geist dieses Gerichts die Arbeit des Bundesgerichtshofes durchwalten möge" 24 . Vier Jahre später, im Jahre 1954, wurde erneut der Tradition des Reichsgerichts gedacht. Anlaß war hier die 75. Wiederkehr des Inkrafttretens der Reichsjustizgesetze, deren man in getrennten Feierstunden im Deutschen Bundestag in Bonn und im Bundesgerichtshof in Karlsruhe gedachte25. Wie zuvor bei der Eröffnung des Bundesgerichtshofes wurde auch hier in den Festansprachen immer wieder auf das Reichsgericht und die Tradition seiner Rechtsprechung verwiesen. Vor allem der damalige Staatssekretär im Bundesjustizministerium Walter Strauß hob hervor, daß man in dem Bundesgerichtshof nicht nur die rechtshistorische Fortsetzung des Reichsgerichtes sehen dürfe, sondern ihn als identisch mit dem Reichsgericht betrachten müsse. Aus diesem Grunde habe man es im Bundesjustizministerium auch als eine besondere Verpflichtung angesehen, den Bundesgerichtshof bei dessen Errichtung mit Mitgliedern des ehemaligen Reichsgerichts, der Reichsanwaltschaft und der Rechtsanwälte beim Reichsgericht zu besetzen. Tatsächlich war der erste Präsident des Bundesgerichtshofes Hermann Weinkauff ein ehemaliger Reichsgerichtsrat und auch etliche Mitglieder des neuen Gerichts stammten aus dem von Strauß angesprochen Personenkreis. Die Fortführung der Tradition des Reichsgerichts war

24 Geleitworte in: Festschrift zur Eröffnung des Bundesgerichtshofes, S. 3ff. Der vollständige Text der Ansprache des Bundesjustizministers ist abgedruckt in: DRiZ 1950, S. 249ff. In dem ebenfalls dort abgedruckten Aufsatz von Eduard Bötticher, Der Bundesgerichtshof, S. 251 ff. wird daraufhingewiesen, daß schon der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone die Erinnerung an das Reichsgericht wachgehalten habe. Zur Rolle des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone vgl. zuletzt Hinrich Rüping, Das „kleine Reichsgericht^, NStZ 2000, S. 355ff. Zur Fortsetzung der Tradition des Reichsgerichts durch den Bundesgerichtshof vgl. auch den Aufsatz von Georg Petersen, Die Tradition des Reichsgerichts, in: Festschrift zur Eröffnung des Bundesgerichtshofes, S. 25ff. Zur Frage nach der Kontinuität von Reichsgericht und Bundesgerichtshof vgl. ferner Werner Schubert/Hans Peter Glöckner, Vom Reichsgericht zum Bundesgerichtshof, NJW 2000, S. 2971 ff. und zuletzt Arno Buschmann, Reichsgericht und Bundesgerichtshof, in: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810-1899), Baden-Baden 2001 (Juristische Zeitgeschichte, Bd. 10), S. 132ff. 25 Vgl. dazu die vom Bundesjustizministerium herausgegebene Festgabe: 75 Jahre Reichsjustizgesetze, Bonn 1954, mit sämtlichen aus diesem Anlaß gehalten Ansprachen in Bonn und Karlsruhe.

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damit erkennbar kein Lippenbekenntnis, sondern durchaus ein konkretes personalpolitisches Programm 26. Höhepunkt dieser Betonung, ja beinahe Beschwörung der Tradition des Reichsgerichts und seiner Rechtsprechung war die Feier, die zur 100. Wiederkehr der Eröffnung des Reichsgerichts am 1. Oktober 1979 im Kuppelsaal des Bundesgerichtshofsgebäudes in Karlsruhe veranstaltet wurde, an der neben dem damaligen Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel auch Bundespräsident Carstens teilnahm. Anwesend war auch das letzte noch lebende Mitglied des Reichsgerichts, Reichsgerichtsrat Walter Uppenkamp, der von Vogel in seiner Ansprache ausdrücklich begrüßt wurde. Auch bei dieser Feier wurde wiederum der großen Rechtsprechungstradition des Reichsgerichts gedacht, am deutlichsten in der Ansprache von Lothar Späth, der damals das Amt des Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg innehatte, aber auch, allerdings modifiziert, von Hans Jochen Vogel. Späth sprach von dem hohen Ansehen, das sich das Gericht erworben und von dem Beitrag, den das Gericht zur Entwicklung eines einheitlichen deutschen Zivil- und Strafrechts geleistet habe, auch wenn man die dunklen Kapitel in der Geschichte des Gerichts, d.h. das Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus, nicht außer Betracht lassen dürfe. Vogel äußerte, daß der Bundesgerichtshof in der Tradition des Reichsgerichts stehe, mit der man sich immer wieder auseinandersetzen und deren man sich kritisch versichern müsse. Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte sei im übrigen eine anmaßende Verabsolutierung der Gegenwart. Eingehend behandelte der Präsident des Bundesgerichtshofes Gerd Pfeiffer in einem vielbeachteten Festvortrag die Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsgerichts, bei dem auch das Agieren des Gerichts in der nationalsozialistischen Zeit zur Sprache kam. Einer der Kernsätze seines Vortrages gerade im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus war die Forderung, sich nüchtern Rechenschaft über das Geschehene abzulegen, nicht um zu verurteilen, sondern um zu verstehen und die entsprechenden Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen27. Auch in der Rechtswissenschaft wurde dieses Jubiläums gedacht, hier allerdings nicht nur der Rechtsprechungstradition, sondern insgesamt der Geschichte des Gerichts. So wurde die Geschichte des Reichsgerichts im Gesamtzusammenhang der Geschichte der Höchstgerichtsbarkeit in Deutschland

26 Walter Strauß, Reichsgericht und Bundesgerichtshof, in: Festgabe 75 Jahre Reichsjustizgesetze, S. 51 ff. 27 Der Festvortrag des Präsidenten des Bundesgerichtshofes trägt den Titel „Das Reichsgericht und seine Rechtsprechung" und ist abgedruckt in: DRiZ 1979, S. 325ff. Der zitierte Kernsatz findet sich auf S. 329. Die Reden von Bundesjustizminister Vogel und Ministerpräsident Späth sind in Auszügen in der Tagespresse wiedergegeben. Die vollständigen Texte sämtlicher Ansprachen, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurden, sind im Bulletin der Bundesregierung Nr. 120, S. 2009ff. veröffentlicht worden.

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behandelt, wurden die wichtigsten Stationen in der Geschichte des Reichsgerichts nachgezeichnet, ein Überblick über die 100jährige Geschichte des Gerichtsverfassungsgesetzes, auf dessen Vorschriften die Errichtung des Reichsgerichts beruhte, gegeben und auch die Geschichte der Rechtsanwaltsordnung, die zugleich mit dem Gerichtsverfassungsgesetz in Kraft getreten war, dargestellt 28 . Die Tagespresse widmete dem Ereignis eine zum Teil umfangreiche und großformatige Berichterstattung, das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" nahm sich des Jubiläums in einem langen Artikel an, in dem unter dem provokanten Titel „Ein bißchen Bibel und viel Unrecht" nach bekannter Spiegel-Manier die Rechtsprechung des Reichsgerichts stets auch als Vollstreckung von Herrschaftsinteressen und das Gericht als deren Instrument dargestellt wurde - ein Votum, das zwar geeignet ist, die Aufmerksamkeit eines juristisch nicht vorgebildeten Publikums zu erregen und womöglich die Auflage zu steigern, dem tatsächlichen Geschehen jedoch kaum gerecht wird 2 9 . Auch in der Folgezeit wurde immer wieder der Tradition des Reichsgerichts gedacht, so beim 25-jährigen Jubiläum des Bundesgerichtshofs, auch bei dessen 50-Jahrfeier im Jahre 2000, hier vor allem in der Festschrift, die bei dieser Gelegenheit von der Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof herausgegeben wurde. Dort wurde vor allem an die Tätigkeit der Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht erinnert, allerdings gleich in drei Beiträgen 30. Auch auf andere Weise bezog man sich immer wieder auf die vom Reichsgericht begründete Tradition, so z. B. bei der Herausgabe der 11. Auflage des Reichsgerichtsräte28 Arno Buschmann, 100 Jahre Gründungstag des Reichsgerichts, NJW 1979, S. 1966ff.; Elmar Wadle, Das Reichsgericht im Widerschein denkwürdiger Tage, JuS 1979, S. 841 ff.; Otto Rudolf KisseL 100 Jahre Gerichtsverfassungsgesetz, NJW 1979, S. 1935ff. und ders., 100 Jahre Reichsjustizgesetze, DRiZ 1980, S. 82ff.; Fritz Ostler, 100 Jahre Rechtsanwaltsordnung, NJW 1979, S. 1959ff. 29 Z.B. FAZ 1979, Nr. 229, S. 6; Die Welt 1979, Nr. 230, S. 7; SZ 1979, Nr. 227, S. 7, auch S. 4 mit einem kritischen Kommentar unter dem Titel „ A u f dem rechten Auge blind", ferner Der Spiegel 1979, Nr. 40, S. 81 ff. Der Spiegel-Artikel stammte von Rolf Lamprecht und wies insgesamt in die gleiche Richtung wie der Kommentar der SZ. Hier wird sogar von „gemeinen Unterdrückungsurteilen" gesprochen, die das Reichsgericht gefällt habe. 30 Zum 25-Jahr Jubiläum des Bundesgerichtshofes vgl. die Festgabe von Gerda Krüger-Nieland (Hrsg.), 25 Jahre Bundesgerichtshof, München 1975; für das 50. Jubiläum ist vor allem auf die Festschrift der Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof zu verweisen: Norbert Gross (Hrsg.), Fortitudo Temperantia. Die Rechtsanwälte am Reichsgericht und beim Bundesgerichtshof, München 2000, in der in nicht weniger als vier Beiträgen des Reichsgerichts gedacht wird. In den Aufsätzen in der NJW, die aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes erschienen und in denen von verschiedenen Autoren eine Übersicht über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gegeben wurde, wird auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts nur ausnahmsweise verwiesen. Vgl. NJW 2000, S. 2921-2953.

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Kommentars zum BGB, der ersten Nachkriegsauflage des altbewährten Kommentars. In dessen Vorwort wurde ausdrücklich betont, daß man an dem Namen des seinerzeit von den Mitgliedern des Reichsgerichts begründeten Kommentars habe festhalten wollen, obwohl unter den Kommentatoren nur mehr ein einziges Mitglied des alten Reichsgerichts zu finden sei, alle übrigen Mitarbeiter dagegen aus dem Personalstand des Bundesgerichtshofs stammten. Wenn dennoch an dem überlieferten Titel festgehalten werde, so solle dies „als ein kleines Zeichen der Hochachtung und des Traditionsgefiihls, das die Richter des Bundesgerichtshofs dem Reichsgericht entgegenbringen" gewertet werden 31 . Von den weiteren hier zu erwähnenden Jubiläen, in denen an die Tradition des Reichsgerichts erinnert wurde, zu denen übrigens auch die 1999 abgehaltenen Veranstaltungen zu Ehren des 100. Todestages des ersten Reichsgerichtspräsidenten Eduard von Simson zu zählen sind 32 , sei nur noch eines angeführt, nämlich die Jubiläumsfeier, die im Jahre 1995 zur 100. Wiederkehr der Fertigstellung und Einweihung des Reichsgerichtsgebäudes im renovierten Reichsgerichtsgebäude abgehalten wurde und die von einer eindrucksvollen Ausstellung begleitet war, zu der auch ein gewichtiges Begleitbuch erschien, beides vom Leipziger stadtgeschichtlichen Museum organisiert 33. Auch diese Feier, namentlich der Festakt im großen Sitzungssaal des Gerichtsgebäudes, verdient im Zusammenhang mit den zahlreichen Jubiläen und Rückerinnerungen an das Reichsgericht erwähnt zu werden, weil hier erneut auf die Geschichte des Reichsgerichts eingegangen wurde. Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm skizzierte in seinem bei dieser Gelegenheit gehaltenen Festvortrag die Rolle des Reichsgerichts in den Zeiten revolutionären Umbruchs nach dem Ende des Kaiserreichs und zu Beginn der Weimarer Republik, während der damalige sächsische Justizminister Steffen Heitmann in seiner Ansprache auf die lange Tradition Leipzigs als Stadt des Rechts hinwies und darauf, daß die Einweihung des

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RGR-Kommentar, 11. Aufl. Berlin 1959, Vorwort Zum Gedenken an den 175. Geburtstag von Eduard von Simson wurde 1985 ein Festakt im badischen Staatstheater in Karlsruhe mit Ansprachen u. a. des Bundespräsidenten von Weizsäcker, des Bundeskanzlers Kohl und des Präsidenten des Bundesgerichtshofes Pfeifer veranstaltet. Der Text der Ansprachen wurde im Bulletin der Bundesregierung 1985, Nr. 126, S. 1093ff. veröffentlicht. Zu seinem 100. Todestag im Jahre 1999 fand in Leipzig ein Symposion statt, dessen Ergebnisse in einem Sammelband ein Schroeder (Hrsg.), Jahr später veröffentlicht wurden: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Eduard von Simson (1810-1899). 33 Vgl. Ursula Oehme (Hrsg.), Das Reichsgericht. Darin neben dem bereits erwähnten Beitrag von Karola Reckling über die Ansiedlung des Reichsgerichts in Leipzig Beiträge von Steffen-Peter Müller über den Architektenwettbewerb zur Errichtung des Reichsgerichtsgebäudes, von Thomas Topfstedt über das Umfeld des Reichsgerichtsbaus und von Steffen-Peter Müller über die Innenarchitektur des Gebäudes. 32

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Reichsgerichtsbaus im Jahre 1895 ein Höhepunkt in der Rechtsgeschichte der Stadt Leipzig gewesen sei 34 . Öffentliche Bauten, seien es geistliche oder weltliche, sind nicht nur Ausdruck der Zweckbestimmung, für die sie errichtet sind, und Zeugnisse des Stils und der Baugesinnung ihrer Erbauer und Bauherren. Sie sind zugleich Manifestationen der Bedeutung, die den Institutionen, die in diesen Gebäuden untergebracht sind, beigemessen wird. Das gilt für alle Bauten dieser Art, auch und nicht zuletzt für die großen Justizbauten, die im 19. Jahrhundert in Europa in großer Zahl entstanden, deren wichtigstes im Deutschen Reich das von Ludwig Hoffmann und Peter Dybwad geschaffene Reichsgerichtsgebäude in Leipzig war. Mit der Monumentalität dieses Gebäudes, vor allem mit der machtvollen Kuppel sollte für jedermann sichtbar die Stellung des Gerichts als höchstes Gericht innerhalb des Deutschen Reiches deutlich gemacht und vor Augen gestellt werden. Es sollte, wie es Zeitgenossen formulierten, eine „Festung des Rechts" sein, das die Herrschaft des Rechts symbolisieren sollte, vergleichbar den mittelalterlichen Kirchen als baulichen Zeugnissen der Herrschaft des christlichen Glaubens. Als Vorbild für diese Art und Funktion der Justizarchitektur wird in der Architekturgeschichte immer wieder der von Joseph Poelaert in den Jahren von 1866 bis 1883 errichtete Palais de Justice in Brüssel genannt, der in Anlehnung an die Ideenwelt der englischen Romantik und der schottischen Kathedralarchitektur an beherrschender Stelle in Brüssel gebaut worden war und mit der Wahl seines Standortes und der Monumentalität seines Kuppelbaus die Herrschaft des Rechts als bestimmendes Prinzip des belgischen Staates darstellen sollte und dies noch immer tut, auch wenn gerade in Belgien inzwischen manche Zweifel an dieser Herrschaft laut geworden sind 35 .

34 Der Text der Reden ist abgedruckt in: Dieter Grimm, Das Reichsgericht in Wendezeiten, Leipzig 1997 (Leipziger Juristische Vorträge, H. 25). Dort findet sich auch eine Betrachtung von Thomas Topfstedt über das Reichsgerichtsgebäude als Gesamtkunstwerk. 35 Die Baugeschichte des Reichsgerichtsgebäudes ist beschrieben bei Volkmar Müller, Der Bau des Reichsgerichts zu Leipzig, Berlin 1895 (Neudruck Leipzig 1995). Zur architekturgeschichtlichen Deutung des Gebäudes vgl. Henry-Russel Hitchcock, Architecture 19th and 20th Centuries, London 1990; dt. Ausgabe: Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 234f.; Godehard Hoffmann, Architektur für die Nation?, Köln 2000, S. 185ff. Über die Justizarchitektur in Deutschland vgl. u. a. Peter Landau, Reichsjustizgesetze und Justizpaläste, in: Ekkehard Mai/Hans Pohl/Stephan Waetzoldt (Hrsg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich, Berlin 1982, S. 197-223; Gert Kähler, Ein Jahrhundert Bauten in Deutschland, München 2000, S. 12f. (Justizforum in Hamburg). In Rudolf Zeitlers kunstgeschichtlicher Darstellung: Die Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985 (Propyläen Kunstgeschichte) wird das Gebäude des Reichsgerichts nicht erwähnt. Hier findet sich nur ein Hinweis auf den Palais de Justice in Brüssel.

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Überblickt man die in dieser Übersicht angeführten Feierlichkeiten, Würdigungen und Rückerinnungen, dann läßt sich in der Tat, wie eingangs angedeutet, feststellen, daß diese allesamt die historischen Situationen spiegeln, unter denen sie stattfanden: 1879 die politische Aufbruchsstimmung nach der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 und mit ihr verbunden das Verlangen nach der Verwirklichung der deutschen Rechtseinheit, 1904 - nach der Vollendung der deutschen Rechtseinheit - die Leistung des Gerichts als Garant einer einheitlichen Rechtsanwendung im Reich, 1929 - mitten in einer Vertrauenskrise des Rechts und einem gravierenden Konflikt zwischen Reichsregierung und Reichsgericht - die allgemeine Anerkennung des Reichsgerichts als Hüter von Recht und Verfassung im Reich und in den Jahren 1950 bis 1979 die Erinnerung an die Tätigkeit des Gerichts als Urheber und Träger einer Rechtsprechungstradition auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts und des Strafrechts und schließlich 1995 das Gedenken an die Errichtung des Reichsgerichtsgebäudes als äußeres Symbol für die Herrschaft des Rechts im Deutschen Reich und als architektonisches Kunstwerk.

III. Was für die Geschichte der Feierlichkeiten gilt, in deren Mittelpunkt das Reichsgericht stand, ist auch kennzeichnend für die äußere Geschichte des Reichsgerichts. Auch sie ist ein Spiegel der Zeit und ein getreues Abbild der Höhen und Tiefen, von denen die deutsche Geschichte im Zeitraum des Bestehens des Reichsgerichts geprägt war. Das Reichsgericht begann als Höchstgericht des Deutschen Reiches von 1871, also als kaiserliches Gericht, wurde nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im Jahre 1918 durch die Weimarer Reichsverfassung zum Höchstgericht des republikanischen Deutschland der Weimarer Republik und endete als Höchstgericht des nationalsozialistischen deutschen Staates, oder, wie es in der Diktion der damaligen Zeit hieß, des „Großdeutschen Reiches", zu dem die Weimarer Republik umgestaltet worden war, ohne daß die Weimarer Reichsverfassung förmlich aufgehoben worden wäre 36 . Die gesetzlichen Grundlagen seiner institutionellen Existenz blieben dieselben, freilich verändert durch etliche Novellierungen und ergänzt durch zahlreiche weitere Gesetze. Auch die

36 Vgl. zu der in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft vieldiskutierten Frage nach der Geltung der Weimarer Reichsverfassung Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1939 (2. Auflage des 1937 erschienenen Werkes „Verfassung" desselben Autors), S. 46ff. Der letzte Meinungsstand vor dem Ende des nationalsozialistischen Reiches ist wiedergegeben bei Georg Dahm, Deutsches Recht, Hamburg 1944, S. 203ff.

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wichtigsten Grundlagen seiner Rechtsprechungstätigkeit in Gestalt der großen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts blieben im wesentlichen erhalten, ebenfalls mit Veränderungen und Ergänzungen, ohne daß sie jedoch in der Substanz entscheidend verändert worden wären. Die rechtshistorische Forschung hat sich mit der Geschichte des Reichsgerichts bisher kaum beschäftigt. Eine Geschichte des Reichsgerichts ist noch nicht geschrieben. Von einer geplanten und auf vier Bände berechneten Darstellung des früheren Rechtsanwaltes beim Reichsgericht Friedrich Karl Kaul ist nur der 4. Band erschienen, der aus marxistischer Sicht die Geschichte des Gerichts in der nationalsozialistischen Zeit behandelt und eher als ein Dokument aus der Zeit rivalisierender politischer Weltanschauungen zu betrachten ist denn als eine nüchterne historiographische Darstellung 37. Sofern überhaupt Arbeiten zur Geschichte des Reichsgerichts vorliegen, handelt es sich um Einzelstudien, auch und nicht zuletzt um solche, die aus Anlaß der oben beschriebenen Jubiläen verfaßt wurden. Hauptgrund für diesen Forschungsrückstand war bis zur Wende die mangelnde Zugänglichkeit der Archivbestände für die Forschung im Westen und die Abkehr von der Beschäftigung mit der Tradition des Reichsgerichts in der ehemaligen DDR. Seit der Wende sind diese Hindernisse zwar weggefallen, so daß nunmehr einer rechtshistorischen Aufarbeitung der Geschichte des Gerichts nichts mehr im Wege steht. Allerdings wird es noch geraume Zeit dauern, bis der Forschungsrückstand aufgeholt worden ist. Wichtige Schritte in diese Richtung sind mit den großen Vorhaben der Edition des Nachlagewerks des Reichsgerichts und der Herausgabe der Sammlung sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen getan worden 38 . Eine erste institutionengeschichtliche Darstellung ist von Kai Müller für die Zeit des Kaiserreiches vorgelegt worden, in der ein Bild vom Funktionieren des Gerichts als höchstem kaiserlichem Gericht auf der Grundlage der erhalten gebliebenen Archivalien geboten wurde 39 .

37 Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Bd. IV, Berlin (Ost) 1971, Glashütten im Taunus 1971. 38 Werner Schubert/Hans Peter Glöckner (Hrsg.), Nachschlagewerk des Reichsgerichts, Bürgerliches Gesetzbuch, Goldbach 1994ff; Werner Schubert (Hrsg.), Sammlung sämtlicher Erkenntnisse der Reichsgerichts in Zivilsachen, Goldbach 1992ff. Die Kritik von Fritz Ostler, Wiederauferstehung des toten Reichsgerichts?, NJW 1995, S. 23ff. verkennt den großen Nutzen, den diese Editionen für die Erforschung der Geschichte des Reichsgerichts und seiner Rechtsprechung haben, nachdem die Amtliche Sammlung der Erkenntnisse des Reichsgerichts nur einen Bruchteil der vom Reichsgericht getroffenen Entscheidungen enthält. 39 Kai Müller, Der Hüter des Rechts, Baden-Baden 1997 (Hannoversches Forum der Rechtswissenschaften 4).

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Das Reichsgericht nahm seine Tätigkeit unmittelbar nach dem Ende der Eröffnungsfeierlichkeiten in den Räumlichkeiten des aufgelassenen Reichsoberhandelsgerichts in Leipzig auf, wodurch schon rein äußerlich die Kontinuität des Reichsgerichts zum Reichsoberhandelsgericht zum Ausdruck gebracht wurde. Noch stärker wurde die Kontinuität durch die Tatsache verdeutlicht, daß von den 8 Präsidenten einschließlich des Chefpräsidenten und den 60 Räten nicht weniger als 29 Räte und zwei Präsidenten aus dem Personalstand des Reichsoberhandelsgerichts stammten, wobei beide Vizepräsidenten in gleicher Funktion in das Reichsgericht übernommen wurden. Die übrigen Mitglieder kamen in der Mehrheit aus Preußen vom preußischen Obertribunal (1 Senatspräsident und 24 Räte), der Rest aus den anderen Ländern des Reiches. Die Auswahl und Besetzung geschah nach dem Vorbild der Besetzung des Reichsoberhandelsgerichts im Wege eines föderativen Proporzes. Später wurde die Zahl der Mitglieder des Reichsgerichts wiederholt erhöht, bis sie sich schließlich auf etwa 120 einpendelte, eine Zahl, die allerdings im Zweiten Weltkrieg deutlich reduziert wurde. An dem föderativen Prinzip bei der Richterbestellung wurde während der gesamten Zeit des Bestehens des Gerichts im wesentlichen festgehalten, auch wenn in der nationalsozialistischen Zeit abweichend von dieser Übung Versuche unternommen wurden, bei Freiwerden von Planstellen nationalsozialistisch orientierte Richter in das Gericht einzuschleusen40. Die Errichtung des Gerichts war von der erklärten Absicht des Gesetzgebers bestimmt, eine Justizbehörde des Reiches zu schaffen, die alle Höchstgerichte der Einzelstaaten des Reiches nicht nur ersetzen, sondern nach Funktion und verfassungsrechtlicher Konstruktion sowie nach der dienst- und besoldungsmäßigen Stellung ihrer Mitglieder weit überragen sollte. Als Gericht war es das einzige Gericht des Reiches in der föderativ organisierten Gerichtsverfassung, d.h. das einzige Reichsorgan der Justiz, dessen Zuständigkeit sich nicht nur sachlich, sondern auch geographisch auf das gesamte Reichsgebiet und damit auf das Gebiet aller seiner Einzelstaaten erstreckte und das allen einzelstaatlichen Gerichten übergeordnet war 41 .

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Vgl. dazu Hermann Weinkauff, 75 Jahre Reichsgericht, in: 75 Jahre Reichsjustizgesetze, S. 49. Zur Personalpolitik in der Justiz in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. im einzelnen Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933-1940, 3. Aufl. München 2001 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 28), pass., insbes. S. 124ff., sowie Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus. Ein Überblick, in: Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Teil I, Stuttgart 1968 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 16/1), pass., insbes. S. 96ff. Zum gesamten Forschungsvorhaben „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus" zuletzt Joachim Rückert, Justiz und Nationalsozialismus: Bilanz einer Bilanz, in: Horst Möller/Udo Wengst, 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1999, S. 181 ff. 41 Vgl. dazu zuletzt eingehend Kai Müller, Der Hüter des Rechts, S. 51 ff.

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Wie sehr das Reichsgericht die Gerichte aller Einzelstaaten überragte, läßt sich am besten an der herausgehobenen dienst- und besoldungsrechtlichen Stellung der Mitglieder ablesen. Die Richter des Reichsgerichts genossen nicht nur uneingeschränkte Unabhängigkeit, sondern sie unterstanden auch keinerlei Dienstaufsicht von außen, etwa des Reichsjustizamtes bzw. später des Reichsjustizministeriums. Eine Entfernung aus dem Amt war nur möglich auf Grund eines Plenarbeschlusses des Reichgerichts und auch dies nur wegen einer entehrenden Handlung oder einer Verurteilung zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe. Die Besoldung lag weit über der Besoldung der übrigen Richter im Reich, ausgenommen die Besoldung der Oberlandesgerichtspräsidenten in Preußen und Sachsen. Präsident und Vizepräsident waren die höchstbezahlten Richter im Reich, der Präsident erhielt das für die damalige Zeit exzeptionelle Gehalt von 25.000 Goldmark. Eine Altergrenze gab es nicht, eine Pensionierung war nur auf eigenen Antrag möglich und konnte nur durch einen Plenarbeschluß des Gerichts ausgesprochen werden. Später allerdings, namentlich in den zwanziger Jahren, ging diese herausgehobene Stellung verloren und die Dienstbezüge wurden nicht in dem Maße wie die der anderen Richter im Reich erhöht. Erst im Jahre 1927 fand eine deutliche Verbesserung der Bezüge statt. Schließlich wurde auch eine Altersgrenze (68 Jahre) eingeführt. Dennoch blieb die Stellung der Mitglieder des Reichsgerichts als Höchstrichter des Reiches deutlich herausgehoben und bildete traditionell den Höhepunkt der individuellen Karriere eines Justizjuristen 42. Das Reichsgericht war in erster Linie als Revisions- und Beschwerdegericht für sämtliche Straf- und Zivilsachen im Reich konzipiert, in Strafsachen allerdings zugleich als erste und einzige Instanz für Hoch- und Landesverratssachen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte seine Hauptaufgabe darin bestehen, für eine einheitliche Rechtsanwendung im Reich zu sorgen und damit die Rechtseinheit im Reich zu wahren. Diese Hauptaufgabe blieb auch erhalten, als das Gericht aus einem kaiserlichen zu einem Höchstgericht der Republik wurde und bestand auch in der nationalsozialistischen Zeit fort. Seine erstinstanzliche Zuständigkeit für Hoch- und Landesverratssachen ging freilich im Jahre 1934 auf den im gleichen Jahr errichteten Volksgerichtshof über, der als Spitze einer spezifisch nationalsozialistischen Gerichtsbarkeit vorgesehen

42 Kai Müller, Der Hüter des Rechts, S. 91ff.; ferner Arno Buschmann,, NJW 1979, S. 1970 jeweils mit weiteren Nachweisen. 43 Der Volksgerichtshof wurde durch Verordnung vom 12. Juni 1934, RGBl. I, S. 192, errichtet und später durch Gesetz über den Volksgerichtshof und über die fünfundzwanzigste Änderung des Besoldungsgesetzes vom 18. April 1936, RGBl. I, S. 369 als ordentliches Gericht im Sinne des Gerichtsverfassungsgesetzes konstituiert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er den Status eines Sondergerichts. Beide Rechtsquellen sind ab-

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Organisatorische Instrumente des Gerichts zu Erfüllung dieser ihm übertragenen Aufgabe zur Wahrung der Rechtseinheit waren, nachdem das Gericht schon bei seiner Eröffnung 8 Senate (5 Zivilsenate und 3 Strafsenate) aufwies, vor allem das Plenum und die Vereinigten Zivil- und Strafsenate. Von diesen war das Plenum zuständig, wenn ein Zivilsenat von der Entscheidung eines Strafsenates und umgekehrt ein Strafsenat von der eines Zivilsenates abweichen wollte. Die Vereinigten Zivil- und Strafsenate waren zuständig, wenn ein Ziviloder ein Strafsenat von der Entscheidung eines jeweils anderen Senats abzuweichen beabsichtigte. Sinn und Zweck dieser Regelung war es, unterschiedliche Entscheidungen einzelner Spruchkörper des Gerichts zu verhindern und damit die Hauptaufgabe des Gerichts, nämlich eine einheitliche Rechtsanwendung im Reich sicherzustellen, zu garantieren 44. Die Entscheidungen dieser übergeordneten Spruchkörper waren für den erkennenden Senat bindend, allerdings nur in den zur Entscheidung anstehenden Sachen, getreu dem Grundsatz des römischen Rechts: „res iudicata ius facit inter partes". Die hier nur in groben Umrissen skizzierte äußere Organisation des Reichsgerichts blieb im wesentlichen bis zum Ende des Gerichts erhalten. Änderungen ergaben sich bei Anzahl, Einteilung und Mitgliederzahl der Senate, z. T. auch nur vorübergehend, ferner durch Angliederung von weiteren Höchstgerichten des Reiches, die mit Mitgliedern des Reichsgerichts beschickt wurden, sowie durch Errichtung weiterer Höchstgerichte, auf die Zuständigkeiten des Reichsgerichts übergingen, wie dies im Falle des Volksgerichtshofes bereits erwähnt wurde. Die wichtigste Änderung in der inneren Organisation des Gerichts vollzog sich in der nationalsozialistischen Zeit mit der Abschaffung des Plenums und der Vereinigten Zivil- und Strafsenate und deren Ersetzung durch die Großen Senate für Zivil- und Strafsachen, die im Jahre 1935 vorgenommen wurde 45 . Mitglieder der großen Senate waren der Präsident, der Vizepräsident und jeweils 7 Mitglieder, die vom Reichsjustizminister ernannt wurden, der damit zumindest einen mittelbaren Einfluß auf die Rechtsprechung der Senate erhielt. Offiziell angegebener Grund für diese organisatorische Änderung war die Tatsache, daß sich das Plenum und die Vereinigten Zivil- und Strafsenate als zu schwerfällig für die Entscheidungsfindung erwiesen hatten. Namentlich die Einrichtung des Plenums hatte die vom Gesetzgeber gehegten Erwartungen nicht erfüllen können, weil dessen Anrufung vielfach gemieden wurde. Im gedruckt bei Arno Buschmann, Nationalsozialistische Weltanschauung und Gesetzgebung 1933-1945, Bd. II, Wien New York 2000, Nr. 56 und 57. Zu den Einzelheiten der Errichtung vgl. Lothar Gruchmann, S. 960ff.; ferner Klaus Marxsen, Das Volk und sein Gerichtshof, Frankfurt am Main 1994 (Juristische Abhandlungen, Bd. XXV), pass., mit kritischer Würdigung der bisherigen Forschungen zur Tätigkeit des Volksgerichtshofes. 44

Dazu zuletzt Kai Müller, Der Hüter des Rechts, S. 66f. Gesetz zur Änderung der Vorschriften des Strafverfahrens und der Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935, RGBl. I 1935, S. 844, Art. 3. 45

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Reichsgericht sprach man offen vom „horror pleni", weil man vor der Erörterung von schwierigen Rechtsfragen in seinem so großen Spruchkörper, wie es das Plenum nun einmal darstellte, zurückschreckte und sie wenn eben möglich zu vermeiden suchte. Ähnliches galt von den Vereinigten Zivil- und Strafsenaten, die ebenfalls zahlenmäßig große Spruchkörper waren, im Unterschied zum Plenum jedoch von Zeit zu Zeit mit der Entscheidung von Zweifelsfällen befaßt wurden. Die erwähnte Angliederung weiterer Höchstgerichte, die mit Mitgliedern des Reichsgerichts besetzt wurden, setzte schon verhältnismäßig früh ein. Als erstes Gericht wurde dem Reichsgericht der schon vor Errichtung des Reichsgerichts bestehende kaiserliche, später Reichsdisziplinarhof angegliedert. Es folgten der Ehrengerichtshof für die Rechtsanwälte, nach dem Ersten Weltkrieg der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, danach, wenn auch nur vorübergehend, der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, dessen Errichtung durch die Ermordung Walther Rathenaus veranlaßt wurde, ferner das Reichsschiedsgericht, das Wahlprüfungsgericht, das Reichsbahngericht, das Reichsarbeitsgericht 46. Weitere Höchstgerichte wurden vor allem seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingerichtet, so vor allem das Reichswirtschaftsgericht, das Reichsversorgungsgericht, außerdem in der nationalsozialistischen Zeit das Reichserbhofgericht, das Reichskriegsgericht, und schließlich das Reichsverwaltungsgericht, das im Jahre 1941 im Zusammenhang mit der Regelung von Kriegssachschäden durch Führererlaß geschaffen worden war 47 . Auf diese Gerichte gingen zum Teil Zuständigkeiten über, die bis dahin beim Reichsgericht lagen bzw. für die das Reichsgericht zuständig gewesen wäre, so daß im Ergebnis die Errichtung namentlich der zuletzt genannten Höchstgerichte auf eine Schmälerung der Zuständigkeit des Reichsgerichts hinauslief. Das Reichsgericht hatte damit seine Stellung als „absolutes" Höchstgericht des Reiches verloren und fungierte seither nur mehr als ein Höchstgericht neben anderen Höchstgerichten. Die justizielle Spitze der Gerichtsbarkeit im Reich war damit auf mehrere Höchstgerichte übergegangen - Spiegel einerseits von vielfältigen politischen Machtintentionen, anderseits aber auch von immer differenzierter werdenden Lebensverhältnissen, die eine Aufspaltung der Höchstgerichtsbarkeit im Reich fast zwingend zur Folge haben mußten. Ein besonderes Problem in der Geschichte des Reichsgerichts bildete von Anfang an die Geschäftsbelastung, und zwar nicht nur wegen der Aufgaben, die dem Reichsgericht zusätzlich übertragen wurden, denen durch die Errichtung 46 Übersicht bei Arno Buschmann, NJW 1979, S. 1971 f. sowie bei Elmar Wadle, JuS 1979, S. 844. 47 Vgl. dazu die umfangreiche Darstellung von Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, Tübingen 1991 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 4), S. 451 ff.

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neuer Gerichte in gewisser Weise Entlastungen gegenüberstanden, sondern auch und vor allem wegen der ständig wachsenden Inanspruchnahme auf seinen eigentlichen Zuständigkeitsgebieten in Straf- und Zivilsachen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg verzeichnete das Reichsgericht und vollends nach dessen Ende z. T. einen dramatischen Zuwachs. Im Jubiläumsjahr 1904 erreichte die Belastung mit 4142 Zivilsachen und 6756 Strafsachen einen ersten Höchststand, 1920 stieg die Zahl der Strafsachen sogar auf 9617, 1924 die der Zivilsachen auf 6612. Die Folge war, daß immer wieder die Forderung nach der Zuweisung weiterer Richterstellen und der Einrichtung neuer Senate erhoben wurde, um auf diese Weise eine Erledigung der Streitsachen innerhalb angemessener Zeit gewährleisten zu können 48 . Die Reichsjustizverwaltung reagierte auf solche Forderungen nach personeller Aufstockung eher zurückhaltend, zum einen aus den auch uns bekannten fiskalischen Gründen, zum andern aus Sorge um die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung, weil sie fürchtete, daß durch eine Vermehrung der Richterstellen und damit verbunden der Spruchkörper die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und damit die Erfüllung der Hauptaufgabe des Gerichts Schaden nehmen könnte. Dennoch fand nach und nach eine personelle Aufstockung statt, ohne daß damit allerdings das Problem der Überlastung des Gerichts wirklich gelöst worden wäre. Als Lösung blieb daher nur übrig, den Zugang zum Reichsgericht zu beschränken, was auch geschah, in Zivilsachen etwa durch Erhöhung der Revisionssumme oder durch Beschränkung von Rechtsmitteln bei bloßen Verfahrensverstößen, in Strafsachen durch die Regelung, bei offensichtlich unbegründeten Revisionen auch ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden49. Eine wirkliche Entlastung wurde damit freilich nicht erzielt. Die Geschäftsbelastung des Gerichts blieb auch nach der Aufstockung des Personalstandes hoch, wie die jährlichen Berichte des Reichsgerichtspräsidenten zeigen. Zugleich spiegeln sich im Umfang der Belastung in den einzelnen Zuständigkeitsbereichen die allgemeinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, aber auch die geistigen Auseinandersetzungen der Zeit wider. Vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges dominierten die Strafsachen, namentlich die politischen und Verratsdelikte, nach dem Ende des Krieges die Revolutions- und die Kriegsfolgen, in den wirt-

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Vgl. zu den Reformbemühungen Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München und Berlin 1954, S. 141 f. sowie Kai Müller, Der Hüter des Rechts, S. 77ff. Die Überlastung des Reichsgerichts war stets auch Gegenstand lebhafter Diskussion in Politik, Wissenschaft und Praxis. Aus der älteren Literatur sei hier nur die Schrift Wilhelm Putzler, Die Überlastung des Reichsgericht und die Abhilfevorschläge, Leipzig 1910, erwähnt, in der statt „mechanischen" Abschneidens der Revisionen eine „organische" Umgestaltung der prozessualen Normen vorgeschlagen wird. 49 Zu diesen Bemühungen zusammenfassend Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 141 f.

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schaftlichen Krisenzeiten der Weimarer Zeit dagegen die Zivilsachen, die zeitweilig mehr als das Doppelte der Strafsachen ausmachten50.

IV. Auch die Geschichte der reichsgerichtlichen Rechtsprechungstätigkeit spiegelt die allgemeine geschichtliche Entwicklung. Mehr noch als in der äußeren Geschichte werden in ihr die vielfältigen Veränderungen und Umwälzungen sichtbar, die sich in den Jahren, in denen das Gericht als Höchstgericht des Reiches tätig war, ereignet haben. Die aufkommende Industrialisierung, der daraus resultierende soziale Wandel und die nachfolgenden politischen Bewegungen haben in ihr ebenso ihre Spuren hinterlassen wie der Erste Weltkrieg, die Kriegswirtschaft, die politischen Wirren am Ende des Kaiserreichs, die Inflation, die große Wirtschaftskrise der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und schließlich der politische Umsturz des Jahres 1933, der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen. Allgemeine Geschichte und Geschichte der Rechtsprechung sind viel enger miteinander verbunden, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Dennoch zeigt die reichsgerichtliche Rechtsprechung insgesamt eine ruhige Konstanz der Entwicklung und eine wohlabgewogene Fortbildung des Rechts. Erst ab dem Jahre 1933 werden Abweichungen deutlich, insbesondere bei der Anwendung der spezifisch nationalsozialistischen Gesetze51. Manche der vom Reichsgericht bis dahin entwickelten Grundsätze wurden nicht nur zu festen Bestandteilen der zeitgenössischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, sondern haben sich auch nach dem Ende der reichsgerichtlichen Rechtsprechungstätigkeit behauptet und zählen noch heute zu den anerkannten Prinzipien der gerichtlichen Praxis 52. Aus der großen Zahl dieser Grundsätze seien für den Bereich des Strafrechts etwa die Äquivalenzlehre, die subjektive Theorie bei Teilnahme und Versuch 50 Bemerkenswert ist das Ansteigen der Gesuche um Bewilligung des Armenrechts im Jahre 1930. Mit 4797 Gesuchen lag die Zahl höher als die Zahl der Revisionen in Zivilsachen mit 4294 und deutlich über der Zahl der Revisionen in Strafsachen mit 3907. Die Zahl der Verfahren erster Instanz lag bei lediglich 69 Verfahren. 51 Das gilt vor allem für die Anwendung der Vorschriften der nationalsozialistischen Rassen- und Blutschutzgesetzgebung, d.h. des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935, RGBl. I, S. 1146, und des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935, RGBl. I, S. 1147, und der in diesen Gesetzen enthaltenen Strafvorschriften. Beide sind abgedruckt bei Arno Buschmann, Nationalsozialistische Weltanschauung und Gesetzgebung 1933-1945 Bd. II, Nr. 20 und 21. 52 Das wird bei Gerd Pfeiffer, Das Reichsgericht und seine Rechtsprechung, DRiZ 1979, S. 327, insbes. S. 328, ausdrücklich hervorgehoben.

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oder die Lehre von der Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums („error iuris non nocet") genannt, von denen die letztere allerdings vom Bundesgerichtshof durch die Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen im Jahre 1952 aufgegeben und durch die Lehre vom Verbotsirrtum ersetzt worden ist 53 . Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Lehre von der fortgesetzten Handlung oder vom übergesetzlichen Notstand 54 . Grundlage für die Entwicklung dieser Lehren war in allen Fällen das geltende Gesetz und dessen Auslegung. Eine richterliche Fortbildung wurde erst vorgenommen, wenn die bisherige Auslegung und Anwendung der geltenden gesetzlichen Vorschriften zu keinem befriedigenden Ergebnis führte. Diese Linie wurde auch nach Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots im Jahre 1935 nicht verlassen, die eine strafbegründende Analogie ermöglichte und eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung ausdrücklich zuließ. Auch hier bildete das Gesetz die Grundlage der Rechtsanwendung. Zu einer Rechtsfindung nach bloßem Rechtsempfinden oder nach allgemeinen „überpositiven" Prinzipien hat sich das Reichsgericht nicht verstanden 55. Die strenge Gesetzesbindung war denn auch die Ursache für das Dilemma, in das die Rechtsprechung des Reichsgerichts in der Zeit des Nationalsozialismus gestürzt wurde, als geltende Gesetze, zu deren Anwendung man sich verpflichtet sah, offensichtliches Unrecht enthielten. Besonders zahlreich sind die Grundsätze, die für das Bürgerliche Recht und das Handelsrecht entwickelt wurden. Im Handelsrecht knüpften manche von ihnen tatsächlich an die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts an, wie dies bei Eröffnung des Reichsgerichts als Erwartung geäußert worden war. Von den vielen Beispielen seien im folgenden nur einige erwähnt, so die Rechtsprechung zur Schadensliquidation im Drittinteresse, in der das Reichsgericht direkt an das Reichsoberhandelsgericht anknüpfte, die Rechtsprechung zur culpa in contrahendo, die an Jherings Lehre anschloß und zu einer umfangreichen Rechtsprechung zu den Verkehrsicherungspflichten ausgebaut wurde, zur positiven Vertragsverletzung, die auf den berühmten Vortrag von Hermann Staub vor der Berliner Juristischen Gesellschaft zurückging, ferner die Rechtsprechung zur Anerkennung der Sicherungsübereignung als Mittel der Kreditbeschaffung oder zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und dessen Schutz im Rahmen des § 823 BGB, sowie zur Anerkennung der Rechtsfigur der GmbH & Co. KG und zur faktischen Gesellschaft, die auf ei-

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BGHSt 2, S. 194(197). RGSt 61, S. 242 (254). 55 75 Jahre Reichsgericht, in: Vgl. dazu die Äußerung von Hermann Weinkauff, 75 Jahre Reichsjustizgesetze, S. 49, in der darauf hingewiesen wird, daß das Reichsgericht in seiner ganzen Rechtsprechung die Übung befolgt habe, die philosophischen Grundfragen des Rechts nicht anzurühren, sondern sich auf die sinnvolle Anwendung des im wesentlichen ungeprüft hingenommenen gesetzlichen Rechts zu beschränken. 54

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nen entsprechenden Vorschlag von Günter Haupt zurückging 56 . Auch die Anerkennung der quasinegatorischen Klagen und die Inhaltskontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen seien hier angeführt, wobei die letztere freilich durch das inzwischen in Kraft getretene AGB-Gesetz nicht mehr oder nicht mehr direkt aktuell ist. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Sie alle zeigen, welche Bedeutung die Rechtsprechung des Reichsgerichts für die Ausdifferenzierung des Privatrechts und dessen Reformen bis in die jüngste Zeit erlangt hat 57 . Auch hier steht die rechtshistorische Erforschung, wie bei der äußeren Geschichte des Reichsgerichts, erst am Anfang. Eine zusammenhängende Darstellung existiert nicht. Die bisher erzielten Forschungsergebnisse sind einstweilen nur in Einzelstudien enthalten. Im Strafrecht liegt der Schwerpunkt dieser Studien - sieht man einmal von den akkusatorischen Schriften ab, die sich vor allem mit der Judikatur des Reichsgerichts in der nationalsozialistischen Zeit beschäftigen - auf der Untersuchung der Fortwirkung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, für die stellvertretend für viele Arbeiten auf die Untersuchung von Gerhard Pauli verwiesen sei 58 . Im Privatrecht sind neben allgemeineren Arbeiten zur Gesetzesbindung, richterlichen Freiheit und Auslegung des geltenden Rechts, namentlich in der nationalsozialistischen Zeit, vor allem jene Untersuchungen zu erwähnen, die sich entweder auf einzelne Abschnitte der reichsgerichtlichen Rechtsprechungsentwicklung beziehen oder sich mit Einzelgegenständen auseinandersetzen. Als Beispiel für die erstgenannte Kategorie mag hier auf eine frühe Studie von Hans Georg Mertens verwiesen werden, die sich mit der Entwicklung der zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB beschäftigt hat, sowie auf die bekannte Untersuchung von Bernd Rüthers über die privatrechtliche Auslegungspraxis in der Zeit des Nationalsozialismus, in

56 Bei der Schadensliquidation im Drittinteresse hatte das Reichsoberhandelsgericht die wichtigsten Grundsätze bereits im Jahre 1875 auf der Grundlage des Gemeinen Rechts formuliert, an die das Reichsgericht später anknüpfte. Vgl. dazu vor allem ROHG 17, S. 78 (79) und RGZ 62, S. 331 (334), RGZ 113, S. 250 (253) u. a. 57 Das gilt auch und nicht zuletzt für die inzwischen in Kraft getretene Schuldrechtsreform, namentlich für das Leistungsstörungsrecht, bei dem die praktisch und dogmatisch wichtigen „ungeschriebenen" Rechtsinstitute wie die positive Forderungsverletzung, die culpa in contrahendo und die Geschäftgrundlagenstörung in das Gesetz eingefügt worden sind. Vgl. dazu statt vieler Claus-Wilhelm Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002, München 2002, S. Xlff. 58 Gerhard Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen zwischen 1933 und 1945 und ihre Fortwirkung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, Berlin New York 1992.

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der auch die Praxis des Reichsgerichts intensiv behandelt w i r d 5 9 . Aus der immer größer werdenden Zahl von Arbeiten über Einzelgegenstände der reichsgerichtlichen Rechtsprechung seien beispielhaft - nach der Chronologie des Erscheinens - die Untersuchungen von Rainer Schröder über die Entwicklung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zum Kartellrecht und kollektiven Arbeitsrecht, von Cosima M ö l l e r zur Fortwirkung römischrechtlicher Vorstellungen in der Rechtsprechung des Reichsgerichts genannt 6 0 . Z u erwähnen sind weiter Untersuchungen über den Einfluß nationalsozialistischer Anschauungen auf die zivilrechtliche Rechtsprechung des Reichsgerichts, über die Fortwirkung der römischrechtlichen Dreiteilung der Verbotsgesetze in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, die E i n w i r k u n g des römischrechtlichen

Schadensersatzrechts

auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts, über die Rechtsprechung zur Haftung für Einsturzschäden sowie über die zum Ehescheidungsrecht, um nur einige der Untersuchungen zu nennen 6 1 . Die Aufzählung ist nicht vollständig, weil 59 Hans Georg Mertens, Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, AcP 174 (1974), S. 333ff.; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 4. Aufl. Heidelberg 1991, pass., insbes. S. 64ff. und S. 21 Off. u. ö. Hier sind ferner zu nennen die Arbeiten von Marcus Klenner, Gesetzesbindung und Richterfreiheit, Baden-Baden 1996 (Fundamenta Juridica, 30), pass, und Knut Wolfgang Nörr, Der Richter zwischen Gesetz und Wirklichkeit, Karlsruhe 1996 (Juristische Studiengesellschaftt Karlsruhe, Schriftenreihe, 222), pass. 60

Rainer Schröder, Die Entwicklung des kollektiven Arbeitsrechts und des Kartellrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988 (Münchener Universitätsschriften - Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 69); Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht. Das Fortwirken des römischen Rechts in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Göttingen 1990 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, 18). 61 Christian Heinz Daut, Untersuchungen über den Einfluß nationalsozialistischer Anschauungen auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen, Diss. iur. Göttingen 1965; Jürgen Pansegrau, Die Fortwirkung der römischrechtlichen Dreiteilung der Verbotsgesetze in der Rechtsprechung des Reichgerichts, Göttingen 1989 (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, 17); Ruth Bilstein, Das deliktische Schadensersatzrecht der Lex Aquilia in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Münster Hamburg 1994 (Juristische Schriftenreihe, 52); Wenke Mull, Die Haftung für Einsturzschäden nach den §§ 836-838 BGB in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Frankfurt am Main u. a. 1996 (Rechtshistorische Reihe, 148); Hendrik Philipp Fr ober, Die Entstehung der Bestimmungen des BGB über den Maklervertrag (§§ 652-659) und die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum neuen Maklerrecht, Frankfurt am Main 1997 (Europäischen Hochschulschriften, Reihe 2: Rechtswissenschaft, 2052); Christoph Horn, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Ehescheidungssachen der Jahre 1900 bis 1905, Frankfurt am Main u. a. 1997 (Rechtshistorische Reihe, 155); Vesta Hoffmann-Steudner, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu dem Scheidungsgrund des § 49 EheG (Ehegesetz 1938) in den Jahren 1938-1945, Frankfurt am Main u. a. 1999 (Rechtshistorische Reihe, 204). Aus der Aufsatzliteratur seien erwähnt J. Michael Rainer, Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zum Inkrafttreten des BGB, ZEuP 5 (1997), S. 751 ff. sowie Klaus Luig, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung in den Urteilen des Reichsgerichts von 1879 bis 1900 auf dem Gebiete des deutschen Privatrechts, ZEuP 5 (1997), S. 762ff. Vgl. zum Ganzen auch den Forschungsbericht von Hans Peter Glöckner, Die Recht-

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viele Arbeiten, die als Dissertationen angefertigt wurden, nicht im Druck erschienen und daher nicht leicht zugänglich sind. Dennoch kann von einer umfassenden Erforschung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung einstweilen noch keine Rede sein. Auch der von Ulrich Falk und Heinz Mohnhaupt herausgegebene Sammelband „Die Richter und das BGB", in dem von verschiedenen Autoren die Haltung der Richter, namentlich aber des Reichgerichts, zum BGB nach dessen Inkrafttreten thematisiert wurde, enthält nur Untersuchungen einzelner Gegenstände oder Fragenkreise, nicht hingegen eine Schilderung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung im Ganzen62. Gleiches gilt für den von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann herausgegebenen historisch-kritischen Kommentar zum BGB, in dem zwar stets auf die reichsgerichtliche Rechtsprechung zum BGB Bezug genommen wird, eine Darstellung ihrer Entwicklung jedoch nicht enthalten ist 63 . Angesichts dieser Forschungslage ist es ein gewagtes Unterfangen, wenn im folgenden der Versuch unternommen wird, die Entwicklung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit zu skizzieren 64. Als Rechtfertigung mag die Beobachtung dienen, daß sich trotz aller Forschungslücken im einzelnen schon jetzt einige Tendenzen feststellen lassen, die für den Verlauf der Entwicklung als charakteristisch angesehen werden können. Aus dem Kreis dieser Tendenzen, die hier nicht in ihrer Gesamtheit behandelt werden können, sei nur eine herausgegriffen und erörtert, allerdings eine besonders wichtige, nämlich die beherrschende Tendenz in der methodischen Entwicklung der Rechtsanwendung. Noch deutlicher als in der äußeren Geschichte des Reichsgerichts spiegeln sich in ihr nicht nur die Wandlungen in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern auch die Veränderungen in der Denkungsart bis hin zu den Wandlungen in den politischen und weltanschaulichen Überzeugungen 65.

sprechung des Reichsgerichts: Thema mit Variationen, in: Ius Commune X X V (1998), S. 391 ff. 62 Ulrich Falk/Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, Frankfurt am Main 2000 (Rechtsprechung, Bd. 14). 63 Mathias Schmoeckel/Joachim Rückert/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Historischkritischer Kommentar zum BGB, Band I, Tübingen 2003. 64 Zur Frage der Kontinuität der Rechtsprechung des Reichsgerichts in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vgl. zuletzt Arno Buschmann, Reichsgericht und Bundesgerichtshof, in: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810-1899), S. 132ff. 65 Zur methodengeschichtlichen Entwicklung vgl. vor allem Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, hier zitiert: 4. Aufl. Berlin Heidelberg New York 1969, S. 36ff.; ferner Walter Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, Stuttgart und Köln 1951, S. 51 Off.; Georg Dahm, Deutsches Recht, Stuttgart und Köln 1963, S. 124ff.; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967 (2. Nachdruck 1996), S. 430ff., insbes. S. 458ff.

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Am Anfang dieser Entwicklung stand die Orientierung an der begrifflichen Methodik des historisch-juristischen Positivismus, sodann ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine vorsichtige Distanzierung von dieser Methodik und die Hinwendung zu einer stärkeren Berücksichtigung der tatsächlichen Lebensverhältnisse, danach, namentlich in der Weimarer Zeit, das Eingehen auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Zeit und schließlich die partielle Anpassung an die politisch dominierende Weltanschauung des Nationalsozialismus 66 . Die begriffsorientierte Methodik äußerte sich zunächst in der Anwendung der von der gemeinrechtlichen Wissenschaft begründeten Methode der Begriffsjurisprudenz. Sie wurde vom Reichsgericht nicht nur für das Gemeine Recht verwendet, sondern auch bei der Handhabung neuerer Gesetze zugrundegelegt67. Als ein Musterbeispiel für diese Methode mag eine Entscheidung aus dem Gründungsjahr des Reichsgerichts angeführt werden, die eine Begriffbestimmung der Eisenbahn enthält, mit der die Abgrenzung des Anwendungsbereiches des Reichshaftpflichtgesetzes begründet werden sollte. Sie bestand aus einem einzigen, beinahe monströsen Schachtelsatz, der sämtliche Merkmale aufzählt, die mit dem Betrieb einer Eisenbahn in Zusammenhang stehen. Danach ist die Eisenbahn „ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, bzw. die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Electrizität, thierischer oder menschlicher Muskeltätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung bei dem Betrieb des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, auch Menschenleben vernichtenden und die menschliche Gesundheit verletzenden) Wirkung zu erzeugen fähig ist". Diese Begriffsbestimmung hat schon unter den Zeitgenossen viel Spott und Hohn erzeugt und galt als abschreckendes Beispiel einer gemeinrechtlichen Methode, die sich spätestens seit Jherings beißender Satire „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" selbst überlebt hatte. Tatsächlich war sie in ihrem Kern jedoch keine Schöpfung der gemeinrechtlichen Jurisprudenz, sondern eine Me-

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Zu dieser Entwicklung vgl. auch die in Anmerk. 59 angeführten Arbeiten von Knut Wolfgang Nörr und Marcus Klenner. 67 RGZ 1 (1880), S. 247 (251), auch abgedruckt bei Hans Hattenhauer/Arno Buschmann, Textbuch zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, München 1967, Nr. 127.

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thode, die in der Vernunftrechtslehre des 18. Jahrhunderts entwickelt und von der gemeinrechtlichen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts allen Bekundungen strikter Ablehnung des Natur- und Vernunftrechts zum Trotz (Karl Bergbohm: „Das Unkraut Naturrecht...(muß) ausgerottet werden schonungslos mit Stumpf und Stiel") rezipiert und auf das Gemeine Recht, zunächst das Römische, in der Folge auch auf das Deutsche Privatrecht, angewandt worden war 68 . Die ersten Ansätze einer vorsichtigen Distanzierung von dieser Methode zeigen sich in einer Entscheidung aus dem Jahre 1901, in der sich das Reichsgericht um eine nähere Bestimmung des Begriffs der guten Sitten im BGB bemühte 69 . Als maßgebend für den Begriff der guten Sitten wurde das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" bestimmt - eine berühmte Bestimmung, die sich noch heute in allen Kommentaren und Lehrbüchern des BGB findet. Der Begriff der guten Sitten wird hier auf das herrschende Volksbewußtsein gegründet, das wie selbstverständlich als Grundlage des positiven Rechts angesehen wird. Das positive Recht erscheint als Ausdruck einer existierenden und allgemein anerkannten sittlichen Ordnung, die von einer nicht in Zweifel stehenden sittlichen Überzeugung des Volkes getragen wird, auf die man zurückgreifen kann und muß, wenn es um die Ausfüllung von unbestimmten Rechtsbegriffen geht. Gegenstand des Urteils war übrigens ein Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB wegen sittenwidriger Ausnutzung wirtschaftlicher Macht. Das Reichsgericht betonte, daß keineswegs sämtliche Machenschaften im Geschäftsverkehr als mit den guten Sitten vereinbar angesehen werden könnten. Vielmehr verstoße die gewinnsüchtige Ausnutzung einer wirtschaftlichen Monopolstellung auf jeden Fall gegen die guten Sitten. Diesen Fall hielt es im vorliegenden Fall für gegeben und bejahte den Schadensersatzanspruch. Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts war auch theoretisch die Kritik an der begriffsjuristischen Methode ständig gewachsen und hatte zu vielfältigen Forderungen nach einer methodischen Neuorientierung auch der Rechtspre-

68 Dazu vgl. vor allem Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 367ff. Ihren schärfsten Ausdruck fand die Kritik an dieser Methode schon vor Jherings Schrift in dem bekannten Vortrag Julius von Kirchmanns, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1848 (Neudruck Darmstadt o. J.), der die Wissenschaftlichkeit einer Rechtswissenschaft, die sich auf diese Methode stützt, schlichtweg bezweifelte. Das Zitat von Karl Bergbohm findet sich in dessen Werk Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, Leipzig 1892, S. 118. Vgl. zu Bergbohms Naturrechtskritik Rüdiger Kass, Karl Bergbohms Kritik der Naturrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Diss. iur. Kiel 1972, pass. Zur Rolle des Naturrechts im 19. Jahrhundert vgl. zuletzt Diethelm Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, Goldbach 1997 (Naturrecht und Rechtsphilosophie in der Neuzeit, Bd. 1), pass., insbes. ders., Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Naturrechts, a.a.O., S. Vllff. 69 RGZ 48, S. 114(124).

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chung geführt. Vor allem die in der Folge von Jherings teleologischer Jurisprudenz entstandene Interessenjurisprudenz verlangte den Rückgriff auf die Tatsachen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens als Grundlagen der Rechtsanwendung70. Das theoretische Fundament für dieses Verlangen lieferte zum einen die Hegersche Rechts- und Staatsphilosophie und zum andern die von Hegel ausgehende Lebensphilosophie namentlich Georg Simmeis, die vor allem für den führenden Vertreter der Interessenjurisprudenz Philipp Heck richtungweisend wurde. Einen wichtigen Beitrag zur methodischen Neuorientierung leistete zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Freirechtsschule mit ihren Forderungen nach einer freieren Stellung des Richters und die vornehmlich von einigen Richtungen des Neukantianismus, insbesondere der neufriesischen Schule (Leonard Nelson „Die Rechtswissenschaft ohne Recht"), formulierte scharfe Positivismuskritik 71 . Hinzu kamen die Veränderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen während des Ersten Weltkrieges und vor allem nach dessen Ende. Sie alle trugen ihren Teil dazu bei, daß sich die Rechtsprechung des Reichsgerichts stärker an den Tatsachen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens orientierte und nach und nach von der bis dahin angewandten begriffsjuristischen Methode löste. Als ein Beispiel für dieses Verlassen der begriffsjuristischen Methode und für die Orientierung an den tatsächlichen Lebensverhältnissen sei ein Urteil aus dem Jahre 1920 herangezogen, in dem ausgeführt wird, daß es die vornehmste Aufgabe des Richters sei, in seiner Rechtsprechung „den unabweisbaren Bedürfnissen des Lebens" gerecht zu werden und in bestehende Vertragsverhältnisse dann einzugreifen, wenn anders ein Zustand nicht verhindert werden könne, der den Geboten der Gerechtigkeit Hohn spreche 72. Gegenstand des Urteils war ein Rechtsstreit zwischen Vermieter und Mieter um die Bezahlung von infolge der Kriegsverhältnisse erhöhten Energiepreisen, die der Mieter unter Berufung auf den bestehenden Mietvertrag, der die Zahlung erhöhter Energiepreise nicht vorsah, verweigerte. Das Reichsgericht änderte das bestehende 70 Zusammenfassende Darstellung dieser methodischen Richtung zuletzt in Philipp Hecks Vortrag, Interessenjurisprudenz, Tübingen 1933 (Recht und Staat, Heft 97). Eine eingehende und kritische Darstellung der Lehre Hecks findet sich bei Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 50ff. 71 Von der sog. Freirechtschule ist vor allem die Kampfschrift Gnaeus Flavius (Hermann Ulrich Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtwissenschaft, Heidelberg 1906, hervorzuheben. Später äußerte sich Kantorowicz gemäßigter. Eine Auswahl seiner Schriften ist von Thomas Würtenberger unter dem Titel: Rechtswissenschaft und Soziologie, Karlsruhe 1962 (Freiburger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Band 19) herausgegeben worden. Leonard Nelsons Schrift erschien erstmals 1917, eine 2. Auflage wurde 1949 veranstaltet. Zu dieser Schrift zuletzt Arno Buschmann, Rechtswissenschaft ohne Recht, in: Stefan Chr. Saar u. a. (Hrsg.), Recht als Erbe und Aufgabe (= Festschrift für Heinz Holzhauer), Berlin 2005 (im Druck). 72 RGZ 100, S. 129(132).

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Mietverhältnis im Wege der ergänzenden Auslegung ab und gab der Klage des Vermieters statt73. Zwei Jahre später erging eine ähnliche Entscheidung in einem Rechtstreit um die Rückgewähr des Pachtinventars bei Auflösung eines Pachtverhältnisses, in der festgestellt wurde, daß der Richter bei Fehlen vertraglicher und gesetzlicher Vorschriften in deren Rahmen „selbstschöpferisch" tätig werden müsse, um einen Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen der Streitparteien herbeizuführen und eine Entscheidung treffen zu können, die den Forderungen der „Gerechtigkeit und Billigkeit" entspricht. Höhepunkt dieser Orientierung an den Tatsachen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens war die sog. Aufwertungsrechtsprechung aus dem Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, namentlich das im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Aufwertungsverbot ergangene Urteil vom 28. November 1923. In diesem Urteil wurde festgestellt, daß einem Schuldner die Befugnis abzusprechen sei, eine mit besserem Geld begründete Verpflichtung mit entwertetem Geld abzutragen und die Löschung einer zur Sicherung der bestehenden Forderung eingetragenen Hypothek zu fordern. Die Gleichung Mark gleich Mark, wie sie in den Währungsgesetzen enthalten sei, könne hier nicht Platz greifen. Begründet wurde diese Entscheidung mit der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben nach § 242 BGB, der für alle Rechtsverhältnisse des bürgerlichen Rechts maßgebend sei. Bei einem Widerstreit zwischen den Vorschriften der Währungsgesetze auf der einen und der Vorschrift des § 242 BGB müßten die ersteren zurücktreten, weil die aus der strikten Anwendung der Währungsgesetze resultierenden Folgerungen mit den anerkannten Grundsätzen von Treu und Glauben und Billigkeit nicht vereinbar seien74. Dieses Urteil verdient insofern besondere Erwähnung, als die Reichsregierung nach dessen Verkündung erwog, durch gesetzliche Maßnahmen die Entscheidung zu korrigieren und die Gleichstellung von besserem und entwertetem Geld wiederherzustellen. Der Richterverein beim Reichsgericht unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Lobe beschloß daraufhin in einer einmaligen Aktion in der Geschichte des Reichsgerichts, wenn nicht gar in der gesamten deutschen Justizgeschichte, die Reichsregierung öffentlich vor einer solchen Maßnahme zu warnen, und begründete dies mit der Sorge vor der Schaffung eines Rechtszustandes, der dem Grundsatz von Treu und Glauben zuwiderlaufen würde. Das Reichsgericht habe sich im vorliegenden Fall die Entscheidung nicht leicht gemacht. Die zurückhaltende Art, in der das Urteil begründet worden sei, lege Zeugnis davon ab, wie sehr sich der erkennende Senat seiner Verantwortung bewußt gewesen sei. Wörtlich betonte der Richterverein in seinem offenen Brief: „Wenn der höchste Gerichtshof des Reiches nach sorgfältiger Erwägung

73 74

RGZ 104, S. 394 (397). RGZ 107, S. 78 (88).

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des Für und Wider zu einer solchen Entscheidung gelangt ist, so glaubt er von der Reichsregierung erwarten zu dürfen, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird" 7 5 . Zu den Urteilen, die sich an den tatsächlichen Lebensverhältnisse als Grundlage der Rechtsfindung orientierten, wird man auch das Urteil vom 11. März 1927 zu rechnen haben, in dem erstmals die bereits erwähnte Rechtsfigur des „übergesetzlichen Notstandes" erscheint 76. Gegenstand des Rechtstreits war ein Strafverfahren nach § 218 StGB wegen einer strafbaren sog. Lohnabtreibung eines Arztes. Der Arzt wurde von diesem Vorwurf durch das Reichsgericht freigesprochen, weil er mit dem Schwangerschaftsabbruch das Leben einer stark suizidgefahrdeten Mutter retten wollte. Das Reichsgericht führte zur Begründung aus, daß die Abtreibung in einem solchen Falle straffrei bleiben müsse, da eine Kollision zwischen zwei Rechtsgütern - Schutz des Lebens der Mutter auf der einen Seite und Schutz des Lebens der Leibesfrucht auf der anderen Seite - vorliege, bei der eine an den Wertvorstellungen des geltenden Rechts orientierte Abwägung zwischen den im Widerstreit stehenden Rechtsgütern vorgenommen werden müsse. Eine auf eine solche Abwägung gegründete Entscheidung zugunsten des Schutzes des fertigen Menschen als höherwertigem Rechtsgut sei gerechtfertigt. Methodisch orientierte sich auch diese Entscheidung an den tatsächlichen Lebensverhältnissen, insofern diese im Ausnahmefall eine solche Abwägung im Blick auf die individuelle psychische und soziale Situation der Beteiligten unabweisbar erscheinen ließen. Im Zusammenhang mit dieser Orientierung an den tatsächlichen Lebensverhältnissen ist auch die partielle methodische Anpassung an die nationalsozialistische Weltanschauung zu sehen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 zu beobachten ist. Der Weg von der methodischen Orientierung an den tatsächlichen Lebensverhältnissen auf der einen zu einer Anpassung an die politische Weltanschauung, die diese Lebensverhältnisse dominiert, auf der anderen Seite ist nicht weit, ganz zu schweigen von dem politischen und persönlichen Druck, der von den Machthabern auf die Mitglieder des Reichsgerichts in einzelnen Fällen ausgeübt wurde 77 . Allerdings ist das Bild, das sich dem heutigen Betrachter bietet, wesentlich facettenreicher als vielfach behauptet, wie die nachfolgend ange-

75 DRiZ 1924, Sp. 7f.; abgedruckt auch bei Hans Hattenhauer/Arno Buschmann, Textbuch zur Privatrechtsgeschichte, Nr. 153. 76 RGSt 61, S. 242 (254ff.). 77 Vgl. dazu Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, S. 242ff. Kritisch zur Haltung des Reichsgerichts in der nationalsozialistischen Zeit Hubert Schorn, Der Richter im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1959, S. 119ff. Zu den Maßnahmen gegen Angehörige der Justiz im einzelnen vgl. Hermann Weinkauffl Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, in: Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Teil I, insbes. S. 68ff.

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führten Beispiele zeigen, die freilich nur eine sehr kleine Auswahl repräsentieren. Als erstes sei ein Urteil aus dem Jahre 1934 angeführt, das noch eine gewisse Distanz zur herrschenden Weltanschauung erkennen läßt, obschon die neuen weltanschaulichen Vorstellungen bereits in den Rechtsstreit eingeflossen waren. Gegenstand waren Art und Umfang der richterlichen Beweiswürdigung in einem Strafverfahren. Hier hatte die Vorinstanz den Aussagen vereidigter nichtbeamteter Zeugen eine größere Glaubwürdigkeit zugebilligt als den Aussagen von als Zeugen vernommenen Beamten, im konkreten Fall von Polizeibeamten78. Gegen die Einwände der Revision, die eine solche Beweiswürdigung für unzulässig gehalten und eine Rechtsfindung nach dem Rechtsempfinden von „gut und billig denkenden Volksgenossen" gefordert hatte, entschied das Reichsgericht, daß jeder Richter nur seinem Gewissen unterworfen sei und sich nach sorgfältiger Prüfung der Verhandlungsergebnisse stets eine eigene Meinung über den Wert von Beweismitteln zu machen habe. Wörtlich heißt es in diesem Urteil: „Wollten sie an Stelle dieser ihrer Überzeugung eine noch dazu nur gemutmaßte, entgegenstehende Auffassung anderer Volksgenossen setzen, so würden sie gegen ihre Richterpflicht verstoßen". Von einer Berücksichtigung der nationalsozialistischen Weltanschauung bei der Rechtsanwendung kann hier noch keine Rede sein. Etwas anders verhält es sich mit einer Entscheidung aus dem Jahre 1935, in der es um die Bemessung des Umfangs der Rechtspflicht zur Hilfeleistung in der häuslichen Gemeinschaft bei unterlassener Hilfeleistung gegenüber einem Familienmitglied ging 79 . Hier finden sich erste Bezugnahmen auf nationalsozialistische Vorstellungen, indem bei der Begründung einer Hilfspflicht auf das Gebot der Sittlichkeit, für einander einzustehen, verwiesen und betont wurde, daß sich dieses Gebot im weitesten Sinne aus der Pflicht zur christlichen Nächstenliebe, im engeren Sinne aus der Kameradschaft der Frontsoldaten und aus dem Nationalsozialismus ergebe. Diese sittliche Pflicht könne zu einer Rechtspflicht in einer so engen Lebensgemeinschaft wie in einer Familie oder der häuslichen Gemeinschaft werden. Für deren Bemessung komme es entscheidend auf den Willen der aus der Gemeinschaft entwickelten Vorstellung von Recht an 80 . Eine besonders deutliche Berücksichtigung der nationalsozialistischen Weltanschauung ist dagegen bei der Anwendung der Vorschriften des sog. Blut-

78 79 80

RGSt 68, S. 129. RGSt 69, S.321 (323). RGSt 73, S.390 (393).

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Schutzgesetzes vom 15. September 1935 festzustellen 81. In der zeitgeschichtlichen Forschung wird hierbei zu Recht immer wieder auf den für den heutigen Betrachter als beschämend empfundenen Beschluß des Großen Strafsenats vom 9.12.1936 hingewiesen, in dem entschieden wurde, daß unter dem Begriff „Geschlechtsverkehr" auch „beischlafsähnliche Handlungen" zu verstehen seien und daher als strafbare Handlung im Sinne der Vorschriften dieses Gesetzes betrachtet werden müßten. In der Begründung des Senats, der unter dem Vorsitz von Reichsgerichtspräsident Bumke tagte, wurde festgehalten, daß eine Gleichsetzung des Wortes „Geschlechtsverkehr" mit dem Wort „Beischlaf schon deswegen nicht in Betracht kommen könne, weil einer solchen Gleichsetzung in der gerichtlichen Praxis kaum überwindliche Beweisschwierigkeiten entgegenstünden und eine solche Auslegung überdies dem Gesetz nicht Genüge tue, das nicht nur dem Schutz des deutschen Blutes, sondern auch dem der deutschen Ehre diene. Der Schutz der deutschen Ehre verlange, daß das Gesetz weit ausgelegt werde und auch beischlafsähnliche Handlungen zwischen Juden und Arieren unterblieben, die mit dem Ziel vorgenommen werden, eine Befriedigung des Geschlechtstriebes auf andere Weise als durch Beischlaf herbeizuführen. Als Entscheidung des Großen Strafsenats war dieser Beschluß für alle Strafsenate bindend und fand dementsprechend auch Eingang in die Werke der einschlägigen Kommentarliteratur, namentlich in den führenden Kommentar von Stuckart-Globke 82. Weniger deutlich zeigt sich hingegen die Orientierung an der nationalsozialistischen Weltanschauung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Ehegesetz vom 6. Juli 1938, namentlich zu den §§49 ff., insbesondere § 55 Ehegesetz, hier insbesondere zur Frage der Beachtlichkeit des Widerspruchs nach § 55 Abs. 2 8 3 . Als Beispiel sei zunächst eine Entscheidung aus dem Jahre 1939 angeführt. In ihr erklärte das Reichsgericht den Widerspruch einer beklagten Ehefrau für sittlich gerechtfertigt und wies die Scheidungsklage des Mannes mit der Begründung ab, daß eine Scheidung, die nur zu dem Zweck begehrt werde, der klagenden Partei die „Freiheit" zu geben, sittlich nicht zu rechtfertigen sei. In einem ähnlichen Sinne entschied das Reichsgericht ebenfalls in einem Urteil aus dem Jahre 1939. Auch hier wurde der Widerspruch der beklagten Ehefrau für gerechtfertigt erklärt und die Scheidungsklage des Mannes abgewiesen. In Übereinstimmung mit den im Schrifttum geäußerten Rechtsan-

81 RGSt 70, S. 375 (376f.); Vgl. zur Entstehung dieser Entscheidung Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, S. 266ff. 82 Wilhelm Stuckart/Hans Globke, Kommentare zur deutschen Rassengesetzgebung, Bd. 1, München und Berlin 1936, in dem das Reichsbürgergesetz, das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) behandelt werden. 83 RGZ 159, S. 305 (309).

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sichten stellte das Reichsgericht fest, daß bei einwandfreier Haltung der beklagten Partei, bei ernsthafter Gefährdung ihrer Lebensstellung und im Hinblick auf das Interesse der ehelichen Kinder sowie angesichts des vorgerückten Alters der Frau eine Ehescheidung nicht gutgeheißen werden könne. Allerdings dürfe hierbei nicht allein auf die individuellen Pflichten der Eheleute abgestellt, sondern müßten auch die sittlichen Belange des gesamten Volkes in entscheidendem Maße berücksichtigt werden 84 . Als ein Beispiel, das zwar keine direkte Übernahme nationalsozialistischer Vorstellungen zeigt, wohl aber sich exakt an die vom nationalsozialistischen Gesetzgeber herbeigeführte Aufhebung des Analogieverbots in § 2 StGB hält, ist das Urteil vom 11. November 1937 anzusehen, das eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Beamtendelikte auf einen „Amtswalter" einer Unterorganisation der NSDAP für rechtens erklärt 85 . In ihm führte das Reichsgericht aus, daß es das gesunde Volksempfinden erfordere, daß ein nationalsozialistischer Amtswalter wie ein Beamter zu bestrafen sei, wenn er, obschon nicht Beamter im dienstrechtlichen Sinne, eine Tätigkeit ausübe, die der eines Beamten gleichkomme. Im vorliegenden Fall ging es um den Straftatbestand der Unzucht mit Abhängigen gemäß § 174 StGB, der vom Täter in Ausübung seiner Tätigkeit als Amtswalter verwirklicht worden war. Das Reichsgericht stützte sich hierbei auf den Wortlaut des § 2 StGB n.F., der vorschrieb, daß eine Tat nicht nur zu bestrafen ist, wenn sie nach dem Gesetz für strafbar erklärt ist, sondern auch, wenn sie nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Im letzteren Fall sollte sich die Bestrafung nach dem Gesetz richten, dessen Grundgedanke am besten auf die Tat zutrifft 86 . Schließlich sei noch ein Beispiel aus den letzten Jahren der Rechtsprechung des Reichsgerichts herangezogen, in dem von einer Berücksichtigung der nationalsozialistischen Weltanschauung bei der Rechtsanwendung keine Rede sein kann, nämlich das Urteil vom 19. Februar 1940, das als der sog. „Badewannenfall" in die strafrechtswissenschaftliche Literatur eingegangen ist 87 . Gegenstand des Urteils war eine Entscheidung über die Kriterien der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme bei Begehung eines Tötungsdeliktes. Im Sinne der

84

RGZ 159, S. 111 (114). RGSt 73, S. 390 (393). 86 Zu den Hintergründen der Aufhebung des Analogieverbots vgl. zuletzt Wolfgang Naucke, Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935, in: Ders., Über die Zerbrechlichkeit des rechtstaatlichen Strafrechts, Baden-Baden 2000 (Juristische Zeitgeschichte, Bd. 4), S. 301 ff.; Arno Buschmann, Das Strafgesetzbuch in der Zeit von 1933 bis 1945, in: Thomas Vormbaum/Jürgen Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, Berlin 2005 (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 3, Supplementband 1), S. 52ff., insbes. S. 91ff. 87 RGSt 74, S. 84 (85f.). 85

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subjektiven Theorie entschied das Reichsgericht, daß maßgebend für die Abgrenzung sei, ob der Täter die Tötungshandlung als eigene gewollt habe oder lediglich eine fremde Tat habe unterstützen wollen. Nur im ersteren Fall sei er als Täter, im zweiten hingegen als Gehilfe anzusehen. Nationalsozialistische Vorstellungen spielten bei dieser Entscheidung offensichtlich keine Rolle. Den angeführten Beispielen über die Tendenz der methodischen Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsgerichts könnten zahlreiche weitere an die Seite gestellt werden. Für die nationalsozialistische Zeit kann von einer generellen Orientierung an der nationalsozialistischen Weltanschauung keine Rede sein. Schon aus den angeführten Beispielen erhellt sich, daß nicht wenige Entscheidungen sowohl aus dem Strafrecht wie aus dem Zivilrecht von einer solchen Einflußnahme unberührt geblieben sind und daher nach dem Ende des Reichsgerichts problemlos in die Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofes übernommen werden konnten, wie der Präsident des Bundesgerichtshofes Gerd Pfeiffer in seiner Festrede bei der 100-Jahr-Feier des Reichsgerichts im Jahre 1979 ausdrücklich betont hat 88 .

V. Was ist das Resümee dieser Betrachtungen über das Reichsgericht, seine Geschichte, die von ihm begründete Rechtsprechung und deren Tradition? Zum einen ist festzuhalten, daß die Geschichte des Reichsgerichts insgesamt eingebettet ist in die Geschichte der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Verhältnisse ihrer Zeit und deren Wandlungen. Sie ist deren getreuer Spiegel, auch und nicht zuletzt der dunklen Seiten, die diese für die Zeit von 1933 bis 1945 aufzuweisen hat. Als Geschichte eines Gerichts kann sie daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern muß stets in diesem Zusammenhang gesehen werden. Posthume undifferenzierte Verurteilungen, ausgesprochen vom Standpunkt gegenwärtiger Anschauungen oder Maßstäbe, werden der Tätigkeit des Reichsgerichts nicht gerecht, so sehr manche Beschlüsse und Urteile dem heutigen Betrachter auch unverständlich erscheinen mögen. Wie alle Höchstgerichte in der Geschichte der Gerichtsbarkeit - übrigens nicht nur in Deutschland - stand auch das Reichsgericht nicht außerhalb oder gar über der Geschichte, sondern war in sie eingebunden und verstrickt. Zum andern muß hervorgehoben werden, daß das Reichsgericht durch seine Rechtsprechung auch über sein Ende als Justizbehörde hinaus maßgeblich auf das Rechtsleben in Deutschland eingewirkt hat. Wie nach 1945 immer wieder betont wurde, steht vor allem der Bundesgerichtshof in seiner Tradition 88

Gerd Pfeiffer,

DRiZ 1979, S. 330.

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Grund genug, sich immer wieder des Reichsgerichts zu erinnern und sich mit seiner Geschichte und seiner Rechtsprechung auseinanderzusetzen. Tradition und Geschichte bestimmen nun einmal unser Dasein, ob wir wollen oder nicht.

Eduard von Simson - Erster Präsident des Reichsgerichts Von Elmar Wadle

I. Hinführung und Stichworte Über Eduard von Simson zu sprechen fällt leicht und schwer zugleich1. Zum einen ist über ihn schon viel geschrieben worden, zum anderen jedoch wird man beim Lesen des Gedruckten den Gedanken nicht los, dass manche Quelle noch nicht verwertet sein könnte. Die Liste der Publikationen über Simson ist lang; sie reicht von den eigenen „Erinnerungen", die sein Sohn Bernhard im Jahre 1900 veröffentlicht hat, über die 1929 erschienene umfassende Darstellung von Ernst Wolff und einen Sammelband aus dem Jahre 1985, den Hildebert Kirchner aus Anlass der Gedenkfeier zum 175. Geburtstag Simsons herausgebracht hat, bis hin zu den Vorträgen, die Bernd-Rüdiger Kern und KlausPeter Schroeder zum 100. Todestag Simsons 2001 ediert haben. Daneben und dazwischen sind noch viele andere Schriften erschienen; auf sie darf hier pauschal verwiesen werden 2. Man könnte es sich also einfach machen und auf alle diese Bücher und Aufsätze verweisen und wieder abtreten; doch damit würde man den Absichten, die dieses festliche Kolloquium verfolgt, nicht gerecht. Geht es doch nicht nur darum, an den ersten Präsidenten des Reichsgerichts zu erinnern; es geht vielmehr auch um „eine der faszinierendsten Gestalten in der deutschen Geschichte des

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Dieser Beitrag entspricht im Wesentlichen dem Leipziger Vortrag vom 1.10.2004. Bernhard von Simson (Hrsg.), Eduard von Simson. Erinnerungen aus seinem Leben, Leipzig 1900; Ernst Wolff, Eduard von Simson (Meister des Rechts), Berlin 1929; Hildebert Kirchner (Hrsg.), Eduard von Simson. Ein großer Parlamentarier und Richter. Reden und Aufsätze zu seinem Gedenken (Kleine Rechtsgeschichtliche Schriften aus Karlsruhe, Heft 3), Karlsruhe 1985; Bernd-Rüdiger Kern/ Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810-1899), „Chorführer der Deutschen" und erster Präsident des Reichsgerichts (Juristische Zeitgeschichte Abt. 2: Forum Juristische Zeitgeschichte Bd. 10), Baden-Baden 2001; im Übrigen seien hier noch genannt: Günther Meinhardt , Eduard von Simson. Der Parlamentspräsident Preußens und die Reichseinigung (Häbelt Sachbuch Bd. 2), Bonn 1981; James Eistone Dow , A Prussian Liberal. The Life of Eduard von Simson, Washington 1981. 2

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19. Jahrhunderts" 3. Dass mein kleiner Beitrag sich auf einige Aspekte dieses reichen Menschenlebens beschränken muss, liegt auf der Hand. Auch die eben angedeutete Vermutung, dass es noch unbekannte Quellen geben könnte, kann hier und heute allenfalls angedeutet, aber nicht näher begründet werden. Für unsere Zwecke sei eine Würdigung aufgegriffen, die am 3. Mai 1899, also am Tage nach Simsons Tod, niedergeschrieben worden ist. In einem Beileidstelegramm 4 nennt der Reichskanzler, Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, Simson einen Mann, „der, einer der ersten Führer der Nation in der großen Zeit der Wiedergeburt des Reiches, als unbeugsamer Richter wie als Lehrer des Rechts hervorragte und der dem deutschen Volke ein leuchtendes Vorbild bleiben wird für alle Zeiten". Dieser Text mag stark von einer Rhetorik geprägt sein, die bei solchen Anlässen üblich war. Gleichwohl liefert er Stichworte, die für diese Erinnerungsrede bestens geeignet sein dürften. Im Vordergrund steht ohne Zweifel das Stichwort „Führer der Nation"; es verweist auf die bemerkenswerte, wenn nicht gar erstaunliche politische Karriere, die Eduard Simson durchlaufen hat. Seine Tätigkeit als Abgeordneter und Parlamentspräsident war freilich über Jahre hinweg eng verzahnt mit seinen Funktionen als Rechtslehrer und als Richter. In seiner Ernennung zum ersten Präsidenten des Reichsgerichts kommt diese Verknüpfung von politischer Rolle einerseits und fachjuristischer Arbeit andererseits wohl am besten zum Ausdruck. Weil sich nun die verschiedenen Arbeitsfelder Simsons vielfach verschränken, erscheint es sinnvoll, zunächst den Lebenslauf insgesamt in der gebotenen Kürze darzustellen und danach die Stichworte von Fürst HohenloheSchillingsfürst noch einmal aufzugreifen.

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Felix Hirsch , Eduard von Simson. Das Problem der deutsch-jüdischen Symbiose im Schatten Goethes und Bismarcks, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1965, S. 261-277, hier S. 261. 4

Karl-Alexander von Müller (Hrsg.), Fürst Clodwig zu Hohenlohe-Schillingsfurst. Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 28), München 1931 (Neudruck Osnabrück 1967), S. 499.

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II. Leben und Werdegang im Überblick Die Grundlagen für Simsons Werdegang 5 sind in seiner Heimatstadt Königsberg gelegt worden. Wichtige Faktoren waren die Integrationsbereitschaft seiner jüdischen Eltern, die zunächst ihre Kinder hatten taufen lassen und später selbst zum Christentum übergetreten sind; zu nennen sind sodann die humanistische Bildung am Gymnasium Fridericianum und das anschließende Jurastudium an der Königsberger Universität. Wichtig ist überdies die zweijährige Bildungsreise, die Simson aufgrund seiner guten Leistungen gewonnen hat: die Reise führte ihn nach Berlin, Weimar, Bonn und Paris, wobei er Hegel, Schleiermacher und Savigny, Goethe, Niebuhr und Börne begegnen konnte. Nach Königsberg zurückgekehrt boten die Professur an der Juristenfakultät und die Tätigkeit als Richter am Tribunal die Basis für spätere politische Aktivitäten. Seit 1846 sammelte Simson erste Erfahrungen als Stadtverordneter seiner Heimatstadt. Es folgte ein überraschender Sieg Simsons, der bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung als Kandidat der gemäßigten Liberalen angetreten war. Simson zog in das Paulskirchenparlament ein, wo er sich der Abgeordnetengruppe anschloss, die nach ihrem Tagungsort „Casino" bezeichnet wird. Schon bald trat er als Sekretär in die Geschäftsführung des Parlaments ein; bald wurde er Vizepräsident und schließlich Präsident und als solcher leitete er die Delegation, die dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone angeboten hat. Im Mai 1849, als der Erfolg der Nationalversammlung mehr und mehr in Frage gestellt war, gab Simson aus gesundheitlichen Gründen Amt und Sitz in der Nationalversammlung auf. Er arbeitete dann aber doch wieder als Parlamentarier mit, nämlich im Erfurter Unionsparlament und in der zweiten preußischen Kammer. Später zog er sich dann über längere Zeit aus der Politik zurück und konzentrierte sich auf die Tätigkeit an Universität und Tribunal. In den Jahren 1859/60 kam es zu einer erneuten Umorientierung. Simson zog wieder ins preußische Abgeordnetenhaus ein und verließ die Universität, als er Vizepräsident des Appellationsgerichts in Frankfurt a.O. geworden war. Von Frankfurt aus konnte er seine Tätigkeit als Parlamentarier weiter ausbauen. Er zog als Abgeordneter in den Reichstag des Norddeutschen Bundes

5 Gerd Pfeiffer , Biographische Skizzen zu Eduard von Simson, in: Wolfgang Dietz/Dietrich Panier (Hrsg.), Festschrift für Hildebert Kirchner zum 65. Geburtstag, München 1985, S. 289-314, auch in: Hildebert Kirchner , Eduard von Simson. Ein großer Parlamentarier und Richter, S. 35-56; Gerd Pfeiffer , Eduard von Simson (1810— 1899). Präsident der Deutschen Nationalversammlung von 1848/49, des Deutschen Reichstages nach 1871 und des Reichsgerichts, in: Helmut Heinrichs/Harald Franski/Klaus Schmalz/Michael Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 101-115.

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ein und in das Zollparlament. Er wurde deren Präsident und verblieb in diesem Amt auch nach der Gründung des Deutschen Reiches bis 1874. Drei Jahre danach schied er aus dem Parlament aus; wiederum dürften persönliche Gründe den Ausschlag gegeben haben. Dem Rückzug schien auch das Ende seiner Richterlaufbahn zu folgen, da das Appellationsgericht Frankfurt aufgelöst werden sollte. Simson hatte ohnehin ein Alter erreicht, das den Rückzug erlaubte; er befand sich ja „in einem Alter, in dem die meisten Beamten und Gelehrten sich schon des Ruhestands erfreuen" 6. In dieser Situation erreichte ihn die Berufung zum ersten Präsidenten des neu gegründeten Reichsgerichts. Simson sollte, wie Bismarck formulierte, seine „langjährige Arbeit an der Herstellung und Befestigung des Reichs auch in der Stellung eines ersten Richters im Reich" fortsetzen 7. Als Präsident begnügte sich Simson aber nicht mit den allgemeinen Verwaltungsaufgaben, er übernahm auch den Vorsitz eines Zivilsenates und zusätzlich die Leitung des kaiserlichen Disziplinargerichtshofes und des Ehrengerichtshofes der Rechtsanwaltschaft. Im achtzigsten Lebensjahr schließlich bat Simson um seine Entlassung; sie wurde ihm mit Wirkung zum 1. Januar 1891 gewährt.

I I I . „Lehrer des Rechts" Kehren wir nach dieser Skizze des Lebenslaufes zu den Stichworten zurück, die uns Hohenlohe-Schillingsfürst hinterlassen hat. Fragen wir zunächst nach der Bedeutung Simsons als Rechtslehrer 8. Soweit es um den Professor in Königsberg geht, so ist nicht allzu viel zu vermelden. Simson hatte sich früh für eine akademische Karriere interessiert. Aufgrund glänzender Leistungen wurde er promoviert, gewann er zwei Preisausschreiben und erhielt die venia legendi; 1831 wurde er habilitiert; 1833 hat man ihn zum außerordentlichen und drei Jahre danach zum ordentlichen Professor in Königsberg bestellt. Das wissenschaftliche Werk Simsons ist nach Umfang und Inhalt eher bescheiden. Seine Lehre hingegen wird von einer Reihe von Zeitgenossen gerühmt; sie sei besonders lebendig gewesen und habe auch die Hörer in einen Dialog einbezogen. 6

Felix Hirsch, Eduard von Simson, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1965, S. 275. 7 Felix Hirsch, Eduard von Simson, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1965, S. 275. 8 Dazu vgl. man bes. Bernd-Rüdiger Kern, Professor in Königsberg, Richter am Tribunal und Appellationsgericht, in: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson, S. 26-42.

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Man muss freilich bezweifeln, dass allein solche positiven Nachrichten einen hinreichenden Grund für die schnelle Karriere an der Universität abgegeben haben. Nicht minder wichtig muss die Personalknappheit an der Königsberger Rechtsfakultät gewesen sein. Es kommt hinzu, dass - wie Kern nachgewiesen hat - Simsons Tätigkeit am Königsberger Tribunal eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Die Versuche, Simson vom Hilfsarbeiter zum Tribunalrat zu befördern, scheiterten zunächst: Gleichsam als Ersatz dafür hat man in Berlin einen Ausweg gefunden, eben die Ernennung zum Ordinarius. Erst 1846 wurde Simson zum Tribunalrat berufen; am neuen, 1849 eingerichteten Appellationsgericht in Königsberg fungierte er dann als außerordentliches Mitglied. Da die „Urteilsgebühren", also die Vergütung für die Arbeit am Gericht, mit dem Professorengehalt verrechnet wurden, hatte diese Lösung sogar einen gewissen Vorteil. Damit soll nicht gesagt werden, dass Simson um solcher Vorteile willen seine Tätigkeit als Richter ausweiten wollte. Je länger und je intensiver er in der Praxis tätig war, umso stärker scheint seine Vorliebe für das Richteramt entfacht worden zu sein. So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass er sich bald mit dem Gedanken trug, die Professur aufzugeben. Offenbar sah Simson seine Zukunft in der Justiz. Es dürfte bezeichnend sein, dass er 1852 einen Ruf nach Jena ablehnte, und ebenso passt in dieses Bild, dass er, nachdem er zum Vizepräsidenten in Frankfurt a.O. ernannt worden war, seinen Lehrstuhl in Königsberg aufgegeben hat. An die Stelle einer Kombination von Professorenund Richteramt trat die Kombination von Richteramt und politischem Wirken.

IV. „Unbeugsamer Richter" Schauen wir nun in aller Kürze auf Simsons Tätigkeit als Richter 9. Die Laufbahn bis 1860 ist bereits geschildert. Zu ergänzen sind lediglich zwei weitere Etappen: die Bestellung zum Präsidenten des Frankfurter Appellationsgerichts im Jahre 1869 und die Ernennung zum Präsidenten des Reichsgerichts zehn Jahre danach. Simsons Befähigung für das richterliche Amt wird schon von den Zeitgenossen ausführlich gewürdigt. Wenngleich man mit Bewertungen im Kontext von Besetzungsvorschlägen etwas vorsichtiger umgehen muss, so wird man doch sagen können, dass viele Zeitgenossen in Simson das Muster eines objektiven und zugleich gerechten Richters sahen.

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Gerd Pfeiffer , Der lange Weg des Richters Eduard von Simson zum Präsidenten des Reichsgerichts, in: Deutsche Richterzeitung 1985, S. 417-423; auch in: Hildebert Kirchner (Hrsg.), Eduard von Simson. Ein großer Parlamentarier und Richter, S. 57-69.

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Über Einzelheiten seiner richterlichen Tätigkeit ist wenig bekannt. Es sieht so aus, als habe noch niemand den Versuch gemacht, seinen Einfluss auf die Rechtsprechung der von ihm geleiteten Spruchkörper bis hin zum IV. Zivilsenat des Reichsgerichts zu erkunden. Wahrscheinlich verspricht eine solche Recherche angesichts der Arbeitsweise von Kollegialgerichten auch wenig Erfolg; ganz ausschließen kann man aber nicht, dass das eine oder andere Votum Simsons doch noch aufgefunden werden könnte. Ob solche Funde neues Licht auf Simsons Leben und Wirken werfen werden, darf allerdings bezweifelt werden. Dass Simsons Vorstellungen vom Richteramt vorbildlich waren, steht außer Frage; gelegentlich äußert er sich auch selbst dazu, allerdings geschieht dies nicht im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit, sondern im Rahmen seiner Funktion als Parlamentarier, mithin im Umfeld der Politik. Das Stichwort „Politik" verweist zugleich auf die Übernahme des Präsidentenamtes am Reichsgericht 10. Dass Simson und nicht Heinrich Pape, der Präsident des Reichsoberhandelsgerichts, in dieses Amt berufen wurde, hat sicher etwas mit Simsons richterlichen Fähigkeiten zu tun, mehr noch mit seiner Tätigkeit in der Politik. Nicht nur die Einrichtung des Reichsgerichts hatte „hochpolitische Bedeutung" 11 , auch die Berufung des ersten Präsidenten ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Es konnte - so schreibt Laband „bei der Auswahl des ersten Präsidenten nicht ausschließlich auf die juristische Berühmtheit ankommen, sondern muß ein Mann dazu berufen werden, dessen gesamte Persönlichkeit und politische Vergangenheit ihn dazu geeignet machten, dessen persönliche Popularität auf die von ihm geleitete Behörde zurückstrahlte. Hierzu aber war niemand besser befähigt als Simson, der ein Volksmann im allerbesten und edelsten Sinne des Wortes war".

V. „Führer der Nation" Damit wären wir beim dritten Stichwort, das Hohenlohe-Schillingsfürst geliefert hat, indem er Simson bezeichnet hat als „einen der Führer der Nation".

10 Vgl. etwa Heinrich von Poschinger , Fürst Bismarck und der Bundesrat. 1. Bd: Der Bundesrat des Norddeutschen Bundes (1867-1870), Stuttgart 1897, S. 57 ff. (zu Pape und Simson bes. S. 60 m. Anm.); bemerkenswert der Nachruf „Dr. Eduard von Simson t " : Deutsche Juristenzeitung 1899, S. 210; auch: Ernst Wolff, Der erste Präsident des Reichsgerichts Eduard von Simson, in: Julius Magnus (Hrsg.), Die Höchsten Gerichte der Welt, Leipzig 1929, S. 29-52. 11 Paul Laband, Der Präsident des Reichsgerichts, in: Deutsche Juristenzeitung 1904, Sp. 932-933, hier Sp. 932; das nachfolgende Zitat Sp. 933.

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Simson gestaltete Politik als Parlamentarier, und zwar weniger als Debattenredner denn als Präsident 12 . In den Debatten meldete er sich vor allem in der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts zu Wort und scheute auch nicht die Auseinandersetzung m i t Bismarck. Wichtiger ist jedoch Simsons Fähigkeit, den von ihm präsidierten Parlamenten Zusammenhalt und Gewicht zu verleihen. Simson war - so nochmals Laband 1 3 „der geborene Präsident und hatte in der Führung von Präsidialgeschäften seit den Tagen des Frankfurter Parlaments eine fast ununterbrochene Übung gehabt; seine in jungen Jahren in England gemachten Parlamentsstudien, seine schnelle Auffassung auch verwickelter und schwieriger Situationen, seine mit Festigkeit in der Sache gepaarte Leutseligkeit in der Form, seine unerschütterliche Unparteilichkeit waren Eigenschaften, welche ihn zum Präsidenten großer Körperschaften prädestinierten und ihn befähigten, die mit der Präsidialwürde verbundenen Aufgaben in musterhafter Weise zu erfüllen. Dieses besondere ihm eigene Talent, kam ihm auch in seiner Stellung als Präsident des Reichsgerichts zustatten und war ein nicht zu unterschätzender Faktor für die erfolgreiche und glänzende Entwickelung, welche das Reichsgericht alsbald nach seiner Errichtung genommen hat". Zweimal hatte Simson Gelegenheit, seine Fähigkeiten bei besonderen Begegnungen mit dem K ö n i g von Preußen einzusetzen: Er leitete - wie schon erwähnt - die Delegation des Paulskirchenparlaments, die Friedrich W i l h e l m I V . die Würde eines „Kaisers der Deutschen" angeboten hat. Weniger spektakulär, aber nicht weniger bedeutsam war m.E. der Auftritt in Versailles am 18. Dezember 1870, als Simson an der Spitze einer Abordnung des Norddeutschen Reichstages dem preußischen K ö n i g das Angebot machte, „Deutscher Kaiser" zu werden; dieser „erste Tag von Versailles" ist dann zwar in den Schatten des „zweiten Tages", des Tages der feierlichen Ausrufung im Schloss am 18. Januar 1871, geraten; er war indes nicht weniger wichtig, denn er verdeutlicht die 12 Zur Tätigkeit als Politiker vgl. man noch: Josef Knott , Eduard von Simson in der Revolution von 1848-1849, Phil. Diss. München 1939 (eine z.T. von dem „Geist der Zeit" geprägte Darstellung); Gerd Pfeiffer , Eduard von Simson, in: Franz Josef Düwell/Thomas Vormbaum (Hrsg.), Recht und Juristen in der deutschen Revolution 1848/49 (Juristische Zeitgeschichte Abt. 2, Forum Juristische Zeitgeschichte Bd. 3), Baden-Baden 1998, S. 5-46; Gerhard Lingelbach, Martin Eduard von Simson - ein Mann adelt parlamentarische Institutionen - Zum Wirken Simsons als Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses, des Reichstages des Norddeutschen Bundes und des deutschen Zollparlaments, in: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson, S. 71-87; Elmar Wadle , Von Versailles nach Leipzig - Notizen zu vier Tagen im Leben des Eduard von Simson, in: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson, S. 88-103; ders ., Das Reichsgericht im Widerschein denkwürdiger Tage, in: Juristische Schulung 1979, S. 841-846, hier S. 841 ff. 13 Paul Laband, Der Präsident des Reichsgerichts, in: Deutsche Juristenzeitung 1904, Sp. 933.

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demokratisch gewählte Repräsentanz als unverzichtbaren Faktor der Reichsgründung. Im eigentlichen Sinne politisch, nämlich rechtspolitisch sah Simson schließlich auch die Funktion des Reichsgerichts und seine eigene Rolle als Präsident 14 . Schon bei der Eröffnung des neuen Gerichts betonte er den Auftrag, die Rechtseinheit in Deutschland voranzutreiben. Und bei der Einweihung des Gebäudes, in dem wir uns befinden, konnte er auf die guten Anfangserfolge hinweisen. Natürlich hatte zu dieser Entwicklung auch der Gesetzgeber des Reiches Wesentliches beigetragen; die vereinheitlichende Wirkung der obersten Gerichtsbarkeit indes war nicht weniger bedeutend und zu dieser Wirkung hat der Präsident selbst Entscheidendes geleistet. Ein drittes Mal sei die Würdigung Labands zitiert 15 : „Es war gewiß keine leichte Sache, in eine so große aus sehr verschiedenen einander fremden Elementen zusammen gesetzten Behörde nicht nur eine äußerliche, formale Ordnung, sondern eine innere Harmonie und Einheit zu bringen, Gegensätze auszugleichen, Reibungen und Eifersüchteleien zu verhüten und alle Kräfte an der richtigen Stelle für die große Gesamtaufgabe nutzbar zu machen. Nach dem übereinstimmenden Zeugnis zahlreicher Mitglieder des Gerichtshofes ist die Lösung dieser Aufgabe Simson in vorzüglicher Weise gelungen, und alle seine Mitarbeiter haben von ihm niemals anders als mit größter Verehrung und Dankbarkeit gesprochen und sein Verdienst um die innere Ordnung des Geschäftsbetriebes des Reichsgerichts rühmend anerkannt".

VI. „Vorbild ... für alle Zeiten" Zum Schluss noch einige wenige Sätze zum vierten Stichwort, das Hohenlohe-Schillingsfürst uns gegeben hat „dem deutschen Volke ein leuchtendes Vorbild ... für alle Zeiten". 1933 hat sich einer der Nachfolger im Amt des Reichsgerichtspräsidenten nicht mehr am Vorbild Simsons orientiert 16 . Erwin Bumke ließ das Portrait, das wie die Portraits aller anderen Präsidenten im Gebäude des Reichsgerichts hing, abnehmen und in einem Keller verschwinden. Eduard von Simson, der erfolgreiche Volksmann, der voll im deutschen Bürgertum assimilierte Spross einer 14 Zum folgenden auch: Elmar Wadle , Das Reichsgericht im Widerschein denkwürdiger Tage , in: Juristische Schulung 1979, S. 844 ff. 15 Paul Laband, Der Präsident des Reichsgerichts, in: Deutsche Juristenzeitung 1904, Sp. 933. 16 Erich Ebermayer , Das Reichsgericht vor 1933, in: Prisma I (1947), S. 21-25, hier S. 21; auch Klaus-Peter Schroeder , Vom Sachsenspiegel zum Grundgesetz. Eine deutsche Rechtsgeschichte in Lebensbildern, München 2001, S. 177-199.

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jüdischen Familie, der Politiker und Präsident, dem Kaiser Friedrich III. den Schwarzen Adlerorden verliehen hatte, der ihn adelte - dieser Simson konnte und durfte aus der Sicht der herrschenden Rassenideologen kein Vorbild mehr sein. Wie immer man die Willfährigkeit Bumkes gegenüber dem Ungeist der Zeit zu deuten hat, eines erscheint sicher: Gerade dieses vorauseilende und anpasserische Verhalten entsprach nicht dem Vorbild, das ein HohenloheSchillingsfurst oder ein Laband gepriesen hatten. Die Repräsentanten der Bundesrepublik waren - wenn auch etwas spät - bestrebt, das in braunen Zeiten verstoßene und verdrängte Vorbild Simsons wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wir tun gut daran, auch heute an diesen Mann, an sein Leben und an sein Werk zu erinnern.

Erwin Bumke (1874-1945) Letzter Präsident des Reichsgerichts Von Klaus-Peter Schroeder

I. Obsta principiis „Durch Nationalsozialismus dem deutschen Volk das deutsche Recht" - so lautete der Leitspruch des „1. Deutschen Juristentages", welcher 1933 in Leipzig stattfand. Mehr als 20.000 Juristen hatten sich auf dem Platz vor dem Reichsgericht versammelt. Erschienen waren - neben den Richtern des Reichsgerichts - ebenso Reichsjustizminister Gürtner und Hans Frank, Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung. Mit unverhohlenem Stolz verkündete Frank: „Wir haben in allen diesen letzten Monaten die Organisation des deutschen Juristenstandes unnachsichtig, zielbewußt und mit der Härte herbeigeführt, die dem neuen Typus des deutschen Menschentums entspricht". Zu diesem Zeitpunkt hatte sich im öffentlichen Leben Deutschlands bereits nach wenigen Monaten der Übergang vom parlamentarischen System Weimars zur Diktatur Hitlers vollzogen; späterhin bezeichnete man die Spanne der Monate vom 30.1.1933 bis zum 30.6.1934 als die Epoche der „Entfaltung der legalen Revolution" (Triepel). Das am 7.4.1933 verkündete Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums stellte eine der wichtigsten Etappen auf dem Wege der Durchsetzung nationalsozialistischer Gewaltherrschaft dar; sein Ziel war ein von politischen Gegnern gesäubertes und auf den neuen Staat verpflichtetes Beamtentum. Aufgehoben wurde mit dem Ermächtigungsgesetz gleichzeitig das für demokratisch verfasste Staaten substantielle Prinzip der Gewaltenteilung. Noch wagte man es aber nicht, offen den Primat der Partei gegenüber dem Staat - d.h. auch

* Überarbeitete und stark gekürzte Fassung des in der Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag {Jost Hausmann/Thomas Kruse [Hrsg.], „Zur Erhaltung guter Ordnung" - Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz, Köln-Weimar-Wien 2000, S. 598-615) publizierten Beitrags „ I m Dienste des Unrechts: Erwin Bumke (1874— 1945)".

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ihr Recht, jederzeit in die Justiz einzugreifen - zu proklamieren. Und doch waren bereits wenige Tage nach dem 30.1.1933 rechtsstaatliche Fundamentalnormen ausgehöhlt worden: So die Presse- und Versammlungsfreiheit durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes vom 4.2.1933. Den Grundsatz „nulla poena sine lege" beseitigte das Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 29.3.1933, welches die rückwirkende Anwendung der Reichstagsbrandverordnung und der darin enthaltenen Androhung der Todesstrafe auch für Taten zuließ, die vor dem Erlaß der Verordnung zwischen dem 31.1. und dem 28.2.1933 begangen worden waren. Gedämpfter Optimismus herrschte in der Richterschaft nach einer programmatischen Erklärung Hitlers während der Sitzung des Reichstages in der KrollOper gelegentlich der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 23.3.1933, in der er sich zum Institut der richterlichen Unabhängigkeit bekannte. Deutlicher wurde er bereits wenige Monate später in seiner Rede vor dem eingangs erwähnten 1. Deutschen Juristentag zu Leipzig: „Der totale Staat wird keinen Unterschied dulden zwischen Recht und Moral. Nur im Rahmen seiner gegenwärtigen Weltanschauung kann und muß eine Justiz unabhängig sein". Obgleich sämtliche Richter des Reichsgerichts in ihren roten Roben an dieser Versammlung teilnahmen, vermißte man doch in ihrem Kreis den höchsten deutschen Richter: Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke. Aus wohlbedachten Gründen hatte er um eine Verlängerung seines Urlaubs nachgesucht, da er sich - wie sein Bruder, der berühmte Münchener Psychiater Oswald Bumke notierte - „seelisch ziemlich an Ende fühlte". Denn auch das Reichsgericht war in den Strudel der nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen geraten, welche das gesamte Justizwesen nach den rechtspolitischen Vorstellungen des Führers des deutschen Volkes, Adolf Hitler, umgestalten sollten. Nichts anderes stand zu befürchten als die Beseitigung der verfassungsrechtlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit. Gürtner, Hitlers erster Justizminister, versuchte zunächst, die Autonomie der Justiz durch flexible Anpassung an die veränderten politischen Verhältnisse zu bewahren. Zur Unterstützung der Haltung des Reichsjustizministeriums entschloß sich ebenso Bumke, die Autorität des Reichsgerichts in dieser prinzipiellen Frage in die Waagschale zu werfen. Ende März berief er eine Plenarversammlung des Reichsgerichts unter seinem Vorsitz ein, um im Wege einer einstimmigen Entschließung die Ansicht des Reichsjustizministeriums zu stützen und auf die Notwendigkeit richterlicher Unabhängigkeit hinzuweisen. Vier Richter des Reichsgerichts waren jedoch der NSDAP beigetreten und verweigerten ihre Zustimmung. So begnügte man sich mit einer an den Reichskanzler gerichteten Adresse, in der die Mitglieder des Reichsgerichts dessen Erklärung zur richterlichen Unabhängigkeit „dankbar" begrüßten. Als im Gefolge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auch sieben jüdische Richter am Reichsgericht zwangspensioniert wurden, schwiegen ihre Kollegen. Bumke erhob gleichfalls keinen Protest, ob-

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wohl er über diese Maßnahmen des neuen Regimes bestürzt war und daran dachte, sein Amt als Reichsgerichtspräsident zur Verfügung zu stellen, um ein Signal zu setzen. Oswald Bumke berichtet: „Mein Bruder und ich waren in vielen Besprechungen zu dem Ergebnis gelangt, daß er als Reichsgerichtspräsident zurücktreten sollte. Da kam der Reichsjustizminister Gürtner: Herr Präsident, Sie wissen doch, was nach Ihnen käme, Sie dürfen nicht gehen. Was noch zu retten ist, müssen wir retten. So ist er geblieben". Und Bumke harrte auch noch in den folgenden Jahren bis zum katastrophalen Ende auf dem Posten des Reichsgerichtspräsidenten aus. Er wurde so zur tragischen Symbolfigur der deutschen Richterschaft, welche zu einem Instrument justizförmig verbrämten Terrors durch die nationalsozialistischen Machthaber korrumpiert wurde.

I I . Stationen eines Juristenlebens 1. Studium und Berufsanfang Am 7.7.1874 wurde Erwin Konrad Eduard Bumke in der kleinen pommerschen Landstadt Stolp geboren. Der Vater, ein bekannter Arzt, zählte zu ihren angesehenen Honoratioren. Trotz seines frühen Todes gelang es der Mutter, finanziell ausreichend abgesichert, die Lebensatmosphäre eines großbürgerlichen Hauses für sich und ihre vier Söhne aufrechtzuerhalten. Nach dem Abitur nahm Erwin Bumke das Studium der Rechtswissenschaften auf. Zunächst immatrikulierte er sich an der Universität Freiburg, wechselte dann nach Leipzig, München und Berlin. In Greifswald, der pommerschen Landesuniversität, beschloß er das juristische Studium im Sommersemester 1896. 1902 legte Erwin Bumke in der Reichshauptstadt die Große Juristische Staatsprüfung mit der Note „Gut" ab. Ihm standen nunmehr alle Türen offen; Bumke entschied sich für die Richterlaufbahn. Zunächst wurde er nach seiner Bestallung zum Gerichtsassessor als - unbesoldeter - Hilfsrichter dem LG Stettin zugewiesen. Nur knapp zwei Jahre später folgte die Ernennung Bumkes zum Landrichter am LG Essen. Schon früh hatte er sich theoretisch - und dann noch besonders intensiv gelegentlich eines Auslandsaufenthalts - mit den brennenden Problemen der Jugendkriminalität und des Strafvollzugs befaßt; den nachhaltigsten praktischen Anschauungsunterricht erhielt er nunmehr im Ballungsraum des Ruhrgebietes, in dem sich die sozialen Spannungen des zweiten deutschen Kaiserreiches wie in einem Brennglas bündelten.

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2. Mitglied des Reichsjustizamts Bereits seit geraumer Zeit hatte man sich in Berlin beim Reichsjustizamt, welches damals noch dem Reichskanzler direkt unterstellt war, mit einer Reform des RStGB befaßt. Staatssekretär Dr. Nieberding war als Leiter des Amtes die herausragende Persönlichkeit, der die Initiative zum Beginn des langen Weges einer allgemeinen Strafrechts- und Strafprozeßrechtsreform ergriff. Personell war das Reichsjustizamt als die zahlenmäßig kleinste oberste Reichsbehörde mit den anstehenden Reformarbeiten völlig überfordert. Entlastung versprach man sich von der Einstellung sog. „kommissarischer Hilfsarbeiter". Nieberding brachte Bumke für einen solchen Posten in Vorschlag und setzte dessen Einstellung in die Dienste des Reichsjustizamtes für zunächst sechs Monate durch. Bumke, welcher 1907 die aus altem schlesischem Adel stammende Eva von Merkatz geheiratet hatte, verbrachte schließlich mehr als zwei Jahrzehnte bei dem in Juristenkreisen hoch angesehenen Reichsjustizamt. Bei sämtlichen, ihm zugewiesenen Aufgaben bewährte sich Bumke so hervorragend, daß er bereits im Alter von 34 Jahren zum Geheimen Regierungsrat und Vortragenden Rat bestallt wurde. Im Rang eines hoch dekorierten Hauptmannes der Landwehr erlebte er den militärischen und politischen Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands im Jahr 1918. Bumke, welcher 1920 zum Ministerialdirektor befördert worden war, übernahm nun federführend die Arbeiten an der Jahrhundertaufgabe einer Reform des Strafprozeßrechts. Einen großen Erfolg konnte er auf dem Gebiet der Reform des Jugendstrafrechts für sich verbuchen: Unter seiner Leitung entstand das bahnbrechende Jugendgerichtsgesetz vom 16.2.1923. Insbesondere vermochte Bumke sich mit seiner Ansicht durchzusetzen, erzieherischen Maßnahmen den Vorrang gegenüber der starren Forderung nach Bestrafung einzuräumen. Ebenso wurde das Strafmündigkeitsalter von 12 auf 14 Jahre angehoben und die bedingte Strafaussetzung erstmals gesetzlich verankert. Modern und zukunftsweisend war ebenso die von Bumke vertretene und durchgesetzte Forderung nach einem erzieherischen Strafvollzug. Im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz vom 9.7.1922 fanden dann die schwersten Erziehungsmaßregeln, die das Jugendgerichtsgesetz vorsah (Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung), ihre gesetzliche Regelung. Sämtliche Anläufe zu einer Gesetzesreform des materiellen Strafrechts verliefen jedoch im Sande oder wurden legislatorisch nur in Einzelpunkten gelöst. Auch der fortschrittliche „Entwurf Radbruch" vom Oktober 1922, welcher unter anderem - die Abschaffung der Todesstrafe als „Rest" eines längst überwundenen Strafrechtsdenkens vorsah, scheiterte bereits im Regierungskabinett. Wiederum war Bumke maßgeblich an der Ausarbeitung dieses progressiven Entwurfes beteiligt; Radbruch verlieh ihm nachträglich in seinen Memoiren das Prädikat eines „Vertreters des Reformgedankens im Reichsjustizministerium".

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Das besondere Interesse Bumkes galt aber dem Strafvollzug, dessen Verbesserung und Vereinheitlichung. Nachdrücklich setzte er sich für den Gedanken einer sinnvollen Resozialisierung des Straftäters ein. Eingang fand dieser erstmals in der Vereinbarung der Landesregierungen über die „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen" - sog. Reichsratsgrundsätze - vom 7.6.1923. Die von ihm wesentlich mitgetragene Strafvollzugsnovelle aus dem Jahre 1927, die seinen reformerischen Ideen Rechnung trug, wurde zu Bumkes großer Enttäuschung nie Gesetz. Aber er galt nun innerhalb und außerhalb der Grenzen Deutschlands als die Autorität auf den Gebieten des Strafvollzugs und Gefängniswesens. Seinem beharrlichen Drängen ist es zuzuschreiben, daß Deutschland trotz der damaligen außenpolitischen Schwierigkeiten im Jahre 1925 in den „Internationalen Gefängniskongress" aufgenommen wurde.

I I I . Präsident des Reichsgerichts Am 25.2.1929 ernannte Reichspräsident von Hindenburg Bumke zum Präsidenten des Reichsgerichts. Die Herausforderung für den neuen Reichsgerichtspräsidenten Bumke bestand vor allem darin, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die höchstrichterliche Rechtsprechung zurückzugewinnen und das Ansehen des Reichsgerichts wiederherzustellen. Eine erste, publikumswirksame Möglichkeit bot ihm dazu das 50jährige Jubiläum des Reichsgerichts, das am 10.10.1929 in Leipzig feierlich begangen wurde. Elegant formulierte Glückwunschadressen und die Eitelkeit schmeichelnde Ehrenpromotionen wechselten einander ab. Neben diesen Äußerlichkeiten scheute man sich nicht, in den zahlreichen Redebeiträgen vor aller Öffentlichkeit auf die Misere der Justiz und ihre Gründe hinzuweisen, die zu einem „Kurstiefstand des Rechts" geführt haben. Mit Verve betonte Bumke in seiner Festrede die Notwendigkeit, in einer neuen Zeit ein neues Recht zu schaffen. Erreicht werden könne dies aber nur, wenn Gesetzgebung, Justizverwaltung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft harmonisch zusammenwirkten. Bumkes Aufgabenkreis am Reichsgericht war - seiner Stellung als Präsident entsprechend - weitausgreifend: Neben den umfänglichen Arbeiten im Rahmen der Justizverwaltung des Reichsgerichts führte er den Vorsitz im dritten Strafsenat, im Plenum und in den Vereinigten Straf- bzw. Zivilsenaten. Er amtete als Präsident des Reichsdisziplinarhofs, als Vorsitzender des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich wie auch als Vorsitzender des ersten Senats des Ehrengerichtshofs für die deutschen Rechtsanwälte. Die Geschäftslage war in sämtlichen Senaten äußerst angespannt; nur selten konnten die anhängigen Verfahren innerhalb eines angemessenen Zeitraumes abgeschlossen werden. Schwer beschädigt wurde das Ansehen des Reichsgerichts durch Verfahren hochpolitischen Charakters. Ein Sensationsprozeß jagte in jenen krisengeschüttelten Jahren den anderen. Im Mittelpunkt der von allen Seiten vorgetragenen Kritik

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stand nicht nur das Reichsgericht, sondern ebenso der Staatsgerichtshof, der in die Streitigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern immer wieder involviert wurde. In seinen Entscheidungen schreckte der Gerichtshof immer wieder davor zurück, seine Rechtsprechung gegenüber den Trägern der Macht durchzusetzen. Diese Dienstbarkeit, welche Bumke in seiner Person geradezu verkörperte, blieb Hitler nicht verborgen. Sie bildete den Hintergrund für den damals obskur erscheinenden Antrag der Nationalsozialisten im Reichstag vom 6.12.1932, im Falle der Verhinderung, d.h. des Todes des Reichspräsidenten, den Präsidenten des Reichsgerichts zum Vertreter zu bestellen; nach der Weimarer Verfassung wäre der Reichskanzler der Vertreter gewesen (Art. 51 WRV). Am 17.12.1932 trat jenes verfassungsändernde Gesetz in Kraft. Bei dem gesundheitlichen Zustand Hindenburgs war jederzeit mit einem solchen Fall der Vertretung zu rechnen. Als knapp zwei Jahre später der greise Reichspräsident im August 1934 verstarb, wurde Bumke von Hitler ohne jede Schwierigkeit beiseite geschoben. Wohlbedacht bezog Hitler die Willfährigkeit Bumkes gegenüber den Anforderungen des nationalsozialistischen Regimes in sein Kalkül ein. In den frühen Tagen der Machtergreifung wagte es das Reichsgericht gar, gegen den Stachel der NS-Führung zu locken. Freilich war es nicht der Senat Bumkes, sondern der 4. Strafsenat unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Bünger gewesen, welcher in dem sog. „Reichstagsbrandprozeß" die vier angeklagten Kommunisten mangels Beweisen freisprach. Der Holländer Marinus van der Lübbe jedoch wurde auf der Grundlage der rückwirkenden „Lex van der Lübbe" vom 29.3.1933 zum Tode verurteilt. Ad absurdum geführt war aber mit den Freisprüchen die nationalsozialistische These von der Kollektivschuld der Kommunisten. Hitler empfand dieses Urteil als einen Affront und dachte zeitweilig daran, das gesamte Reichsgericht aufzulösen. Dazu kam es zwar nicht, aber mit dem „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens" vom 24.4.1934 wurde dem Reichsgericht die Zuständigkeit zur erstinstanzlichen Entscheidung in politischen Strafsachen (Hochverrats- und Landesverratssachen) entzogen und dem neugebildeten „Volksgerichtshof übertragen. Bumke selbst gab nach der Konsolidierung der Hitler-Regierung seine anfängliche skeptische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auf und wandelte sich nunmehr zu einem willfährigen Richter des totalitären Regimes. Besonders kraß gelangte dies in der Rechtsprechung zu den Nürnberger Rassegesetzen zum Ausdruck. Es war der 3. Strafsenat des Präsidenten Bumke, der für die Revision in Rasseschutzsachen, den Vergehen gegen die Nürnberger Gesetze von 1935, zuständig war. Unter seiner Mitwirkung legte die sog. „Blutschutzrechtsprechung", d.h. die Judikatur aufgrund des berüchtigten Gesetzes „Zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom 15.9.1935, jene Normen weit über ihren Wortlaut hinaus zum Nachteil der Angeklagten

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aus. Beispielhaft sei unter den zahlreichen Entscheidungen nur der Beschluß des unter dem Vorsitz von Bumke tagenden Großen Senats vom 23.2.1938 erwähnt, der „Rassenschande" selbst dann für strafbar erklärte, wenn sie zum Zwecke der Umgehung der deutschen Gesetzgebung im Ausland vollzogen wurde. Trotz dieser willfährigen Akte gegenüber dem Regime steigerten sich die Ein- und Übergriffe von Partei und Polizei in die Organisation und das Verfahren der Gerichte. Insbesondere die nationalsozialistische Presse betrieb - zum Teil unter namentlicher Nennung mißliebiger Richter - bereits lange vor Kriegsbeginn eine regelrechte Hetzkampagne zur Verunglimpfung der Rechtsprechung. Noch stärker untergruben außergesetzliche „Korrekturmaßnahmen" der Polizei die Strafverfolgungskompetenz der Justiz; selbst von den Gerichten Freigesprochene wurden von der Gestapo unmittelbar nach der Verhandlung festgenommen und in Konzentrationslager verbracht. Nach Beginn des Krieges ließ Hitler Justizgefangene, gegen die Strafverfahren anhängig oder die bereits verurteilt waren, direkt der Gestapo zur Exekution überstellen. Schon zuvor besaßen die Polizeiformationen der SS die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sämtliche „Maßnahmen aus staatspolitischen Gründen" und bewirkten so die Ausschaltung des Justizapparates. In dem Zeitraum von 1939-1945, während des Krieges also, ist die Situation der Justiz gekennzeichnet durch eine erhebliche Verschärfung der Strafgesetzgebung, durch gesteigerten Druck der NSDAP auf die richterliche Personalpolitik und durch unzählige Eingriffe in Rechtsprechung und Strafrechtspflege; die Pervertierung des Rechts war vollkommen. Radikal hatte sich das NS-Regime von den Grundwerten freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit abgekehrt und sie ersetzt durch die Maxime nationalsozialistisch verstandener Volkswohlfahrt: „Recht ist, was dem Volke nützt". Das gesamte öffentliche Leben des Dritten Reiches bestimmte das Prinzip der omnipotenten Führergewalt Adolf Hitlers. Über sämtliche Instanzen hinweg schuf bereits allein seine Willensbekundung Recht und Gesetz: „Ohne seinen Willen ist kein Gesetz möglich, mit seinem Willen jedes". Die letzten Reste richterlicher Unabhängigkeit beseitigte schließlich die Ernennung Hitlers zum „Obersten Gerichtsherrn" auf dem Höhepunkt seiner Macht im Jahre 1942. Schon zuvor war sie jedoch durch „Nichtigkeitsbeschwerde" und „Außerordentlichen Einspruch", durch „Vor- und Nachschau" wie auch die sog. Richterbriefe zu einer bloßen Farce degradiert worden. Bei Bumke aber war noch die Illusion vorhanden, Reste richterlicher Unabhängigkeit bewahren zu können, wenn er gelegentlich der verhalten geführten Diskussion um eine Verlängerung seiner Amtszeit erklärte: „ ... an meiner Stelle würde dann irgendein wilder Nationalsozialist ernannt werden; und was würde dann aus dem Reichsgericht?" Das Reichsgericht aber war längst zum gefügigen Werkzeug auf dem Weg in die Perversion des Rechts geworden. Zu einer bloßen Chimäre verwandelt

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hatte sich das Prinzip der Unabhängigkeit der Rechtspflege. Für alle besaß der Führer das Recht, jeden Richter „ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren aus dem Amte ... zu entfernen". Die Richterschaft zeigte sich wiederum gefugig: Wurden im Jahr 1940 926 Todesurteile gefällt, so stieg die Zahl im Jahr 1942 auf 3641. Im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchte Bumke als Vorsitzender des 3. Strafsenats dieser Entwicklung entgegenzusteuern und die Zahl der Todesurteile möglichst gering zu halten. Konflikte mit der Partei und dem Reichsjustizministerium blieben dabei natürlich nicht aus. Dennoch konnte der 3. Strafsenat seinen verhältnismäßig restriktiven Kurs bis Anfang 1944 weiterverfolgen; erst die Verschärfung der Kriegslage und die Verschlechterung der inneren Situation des Reiches führten zu einem dramatischen Anstieg der Todesurteile. Der Ausverkauf der Justiz trat in seine letzte Phase ein. Die Rechtsprechung hatte sich selbst zu einem Instrument degradieren lassen, das nach dem Willen nationalsozialistischer Führung funktionierte und ihren Forderungen gehorchte.

IV. Das Ende Trotz der schweren Bombenangriffe auf Leipzig, die Teile des Reichsgerichtsgebäudes zerstörten, blieb bis in die letzten Kriegswochen hinein eine geordnete Durchfuhrung von Straf- und Zivilprozessen möglich. Eine größere Anzahl von Reichsgerichtsräten wurde erst Ende 1944 zur Armee einberufen. Mit der „Verordnung zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges" vom 13.12.1944 versuchte man hieraus die Konsequenzen zu ziehen, indem Besetzung und Anzahl der Straf- und Zivilsenate vermindert wurden. Die letzte, vom Reichsgerichtspräsidenten geleitete Senatssitzung fand Mitte März 1945 statt. Genau einen Monat später marschierten amerikanische Truppenverbände in Leipzig ein (19./20.4.1945). In Kraft trat nunmehr das Militärregierungsgesetz Nr. 3, das die Schließung sämtlicher Gerichte am Ort der Besetzung anordnete; eingetreten war damit der bisher nur theoretisch bekannte Fall eines „Stillstands der Rechtspflege" (§§ 203 BGB, 245 ZPO). Zahlreiche Beamte und Spitzenfunktionäre der NSDAP wurden sofort von den Amerikanern festgenommen, so u.a. auch Oberreichsanwalt Brettle. Reichsgerichtspräsident Bumke aber entzog sich am 20.4.1945 seiner drohenden Inhaftierung durch Selbstmord. Einzig papiernen Wert besaß daher die der Direktive Nr. 38 des Kontrollrats vom 12.10.1946 über die „Verhaftung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen" beigegebene Personalliste „gefährlicher Deutscher", in welcher auch der Name des längst verstorbenen Reichsgerichtspräsidenten Erwin Bumke zu finden ist. Nur zu gut hatte er gewußt, daß nach der Niederlage des NS-Staates der Strang auf ihn wartete. Gleichfalls am 20.4.1945 wurde von den Amerikanern das Reichsgericht ge-

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schlossen und eine Kommission zur Verwaltung eingesetzt. Von den Sowjets wurde diese Kommission dann am 8.10.1945 aufgelöst, nachdem sie bereits im August mehr als 40 Richter des Reichsgerichts inhaftiert und anschließend in die KZ Buchenwald und Mühlberg verbracht hatten; nur vier Richter überlebten die sowjetische Internierung.

V. Beschluß Der berufliche Lebensweg des letzten Reichsgerichtspräsidenten ist repräsentativ für eine Vielzahl hochbegabter Juristen seiner Generation. Aufgewachsen und geprägt von dem scheinbar unerschütterlichen Selbstwertgefühl des kaiserlichen Deutschlands sah man sich nach dessen Niederlage konfrontiert mit dem oft geschmähten „Bastard" der Weimarer Republik. Eine glanzvolle Zukunftsperspektive schien vielen unter den Juristen das auf den übersteigerten völkisch-nationalen Ideen des 19. Jahrhunderts beruhende Dritte Reich zu verheißen, dem man nach 1933 mit gedämpftem Optimismus und oftmals in blindem Gehorsam folgte. Wie manche andere Juristen an herausgehobener Position hatte sich ebenso Bumke in der Hoffnung auf einen völkisch-autoritären Rechtsstaat in den Dienst des Hitler-Regimes gestellt und zunächst aus Überzeugung „mitgemacht". Es mag sein, daß die Richterschelte Hitlers in seiner Reichstagsrede vom 26.4.1942 auch bei Bumke ein Umdenken einleitete. Aber es war in diesem Zeitpunkt schon zu spät: zu tief hatte er sich bereits in das Unrecht des NS-Staates verstrickt, als daß für ihn noch eine Umkehr möglich gewesen wäre. So harrte er auf seinem Posten bis zum absehbaren, bitteren Ende in der Meinung aus, dadurch vielleicht Schlimmeres zu verhüten. Auch bei Bumke findet die von Hochhuth geprägte Formel von dem „furchtbaren Juristen" ihre beängstigende Bestätigung.

Universität - Juristenfakultät - Reichsgericht Von Bernd-Rüdiger Kern

I. Einführung Als ich vor nunmehr elf Jahren auf Anregung des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz die Arbeit an einem Überblick über die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät 1 aufnahm, lautete eine Bitte aus dem Ministerium, auch das Verhältnis der Fakultät zum Reichsgericht zu beleuchten. Ich bin dieser Bitte gern nachgekommen und wurde auch schnell mit einem ebenso verheißungsvollen Autor wie Titel fündig. Der bekannte Handelsrechtskommentator und Reichsgerichtsrat Dr. Adalbert Düringer widmete sich 1909 in der Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500-jährigen Jubiläum der Universität Leipzig dem Thema „Universität und Reichsgericht" 2. Aber die Freude über den Fund wich schnell einer gewissen Enttäuschung. Der größere zweite Teil des ohnehin nicht langen Aufsatzes beschäftigt sich abstrakt mit der sicherlich auch interessanten Thematik des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis allgemein3. Und die wenigen auf das Thema bezogenen Sätze verbleiben in einer gewissen Unverbindlichkeit bzw. Beliebigkeit. Der wesentliche Inhalt insoweit besteht zudem noch in der Wiedergabe der Rede, die der erste Präsident des Reichsgerichts, Eduard von Simson4 in der Aula der Universität Leipzig vor genau 125

1 Bernd-Rüdiger Kern , Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Sächsische Justizgeschichte. Leipzig. Stadt der Rechtsprechung. Prozesse, Personen, Gebäude, 1994, S. 5 3 - 8 4 . 2 Adalbert Düringer , Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 23 - 30. 3 Adalbert Düringer , Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 26ff. Als Erich Molitor zum 50. Geburtstag des Reichsgerichts einen entsprechenden Artikel verfaßte, drückte er das sogleich im Titel aus: Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, in: Das neue Leipzig. Monatshefte für die Kulturinteressen der Grosstadt, 1929, S. 104 —

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4 Über ihn vgl. Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Sehr oeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810-1899). „Chorführer der Deutschen" und erster Präsident des Reichsgerichts, 2001.

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Jahren gehalten hat5. Aus diesen spärlichen Informationen habe ich vor elf Jahren den Schluß gezogen, daß das Verhältnis wohl nicht immer so ungetrübt gewesen sei, wie es hätte erwartet werden können. Als Beleg habe ich damals eine kleine Anekdote angeführt, deren inhaltliche Richtigkeit naturgemäß zweifelhaft ist: Nach einer vernichtenden Kritik an einem Urteil des Reichsgerichts fragte ein Leipziger Professor seine Studenten, was einem die Reichsgerichtsräte tun könnten, und seine eigene Antwort lautete: leid! 6 Im Abstand von 10 Jahren, die nicht zuletzt mit Forschungen zur Fakultätsgeschichte angefüllt waren, vermag ich jetzt doch mehr und genauere Informationen zu geben.

I I . Standortfrage Schon bezüglich des Standortes des Bundes- (Reichs-)Oberhandelsgerichts, vermehrt aber bei der Lokalisation des Reichsgerichts, entbrannten in Reichsrat und Reichstag heftige Debatten7. Die grundsätzliche Frage lautete: Berlin oder Leipzig. Bei der Beantwortung dieser Frage mag dem Umstand, daß Leipzig über eine berühmte Universität verfügte - was indessen für Berlin auch galt 8 Bedeutung zukommen. Für die Entscheidung mögen andere Gesichtspunkte maßgeblich gewesen sein9, aber - insoweit möchte ich Düringer recht geben „soviel läßt sich mit Bestimmtheit sagen: Die Universität ist zwar nicht die Ursache, daß der höchste deutsche Gerichtshof nach Leipzig kam; aber keinesfalls wäre der Sitz des Reichsoberhandelsgerichts und des Reichsgerichts in Leipzig

5 Adalbert Düringer, Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 24, 25 Anm. 1. 6 Bernd-Rüdiger Kern, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Sächsische Justizgeschichte. Leipzig. Stadt der Rechtsprechung. Prozesse, Personen, Gebäude, S. 71. 7 Vgl. dazu A. Kutschbach, Die Errichtung des Reichsgerichts und der Kampf um seinen Sitz, in: Das neue Leipzig. Monatshefte für die Kulturinteressen der Grosstadt, 1929, S. 99f. und Bernd-Rüdiger Kern, Leipzig als Stadt des Rechts, in: ZZP 1998, S. 261 - 2 7 4 , 270f. 8 Darauf hat bereits Adalbert Düringer, Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 25, hingewiesen. 9 Insbesondere werden bundesstaatliche Rücksichten genommen worden sein. Hinzukommt für das Reichsgericht ein gewisser Bestandsschutz, weil schon das Reichsoberhandelsgericht seinen Sitz in Leipzig hatte. Für die Ansiedlung dieses Gerichtes wird es von Bedeutung gewesen sein, daß Leipzig, im Gegensatz zu Berlin, eine der bedeutendsten Handelsstädte Deutschlands war. Vgl. dazu auch Sabine Winkler, Das Bundes- und spätere Reichsoberhandelsgericht. Eine Untersuchung seiner äußeren und inneren Organisation sowie seiner Rechtsprechungstätigkeit unter besonderer Berücksichtigung der kaufmännischen Mängelrüge, 2001, S. 28f.

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bestimmt worden, wenn Leipzig nicht seine berühmte Universität gehabt hätte." 10

I I I . Nachbarschaftliche Hilfe Das Reichsgericht wurde am 1. Oktober 1879 mit einem Festakt in der Aula der Universität Leipzig eröffnet. In seinem vom Reichsoberhandelsgericht übernommenen Gebäude am Brühl hat es wohl keinen hinreichend großen repräsentativen Raum für eine derartige Veranstaltung gegeben, und dieses Gebäude, in dem wir heute für eine universitäre Veranstaltung Gastrecht genießen, weil in der Universität ein entsprechender Raum fehlt, war noch nicht einmal in Planung11. Wie selbstverständlich sprang die Universität in die Bresche und stellte ihre Aula zur Verfügung. Entsprechend betonte der erste Präsident des Reichsgerichts Eduard von Simson in seiner Eröffnungsrede, „daß der erste freudige Zuruf, der dem Reichsgericht entgegendrang, aus der Aula der Universität erklungen sei" 12 , und zwar vom damaligen Rektor Otto Stobbe13.

IV. Irritationen anläßlich der Gründung des Reichsgerichts Dennoch erscheint es fraglich, ob die Schilderung des harmonischen Beginns wirklich den Tatsachen entspricht. Allzuwenig Konkretes wissen wir über das Verhältnis von Universität und Gericht in den ersten 25 Jahren des Reichsgerichts. Folgen wir noch einmal der Darstellung Düringers: „Der persönliche und gesellschaftliche Verkehr zwischen Mitgliedern der Universität und des Reichsgerichts wird eifrig gepflegt, und die vielseitige geistige Anknüpfung und Anregung, welche sich notwendig hieraus ergibt, als überaus wertvoll empfunden. In der Leipziger Juristischen Gesellschaft 14 wechseln Vor-

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Adalbert Düringer , Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 25. 11 Zu den politischen Voraussetzungen des Neubaues vgl. A. Kutschbach , Die Errichtung des Reichsgerichts und der Kampf um seinen Sitz, in: Das neue Leipzig. Monatshefte für die Kulturinteressen der Grosstadt, 1929, S. 100; zur Baugeschichte vgl. u. a. Thomas Topfstedt , Das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig - vom Entwurf zum ausgeführten Bau, in: Adrian Schmidt-Recla/Eva Schumann/Frank Theisen (Hrsg.), Sachsen im Spiegel des Rechts, 2001, S. 1 - 8. 12 Adalbert Düringer , Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 26. ' 1 3 Zu Stobbes Rektorat 1878/79 vgl. Bettina Scholze , Otto Stobbe (1831-1887). Ein Leben für die Rechtsgermanistik, 2002, S. 87f., 90. 14 Über sie ist leider nur wenig bekannt. Für 1821 wird eine „Juristische Gesellschaft" genannt; Joachim Schlesinger , Kleine Vereinsgeschichte der Stadt Leipzig, Bd.

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träge der Hochschullehrer mit solchen unserer Praktiker, und der daran anschließende Gedankenaustausch hat gewiß schon manche bedeutsame Erkenntnis gefördert. Als Strohal vor etwa einem Jahrzehnt Vorträge über das BGB. hielt, haben auch Mitglieder des Reichsgerichts zu seinen Füßen gesessen."15 Ähnlich unverbindlich bleiben die Ausführungen der „anderen" Seite: „Dasselbe geistige Band umschließt das Reichsgericht und die deutschen Universitäten als die hervorragendsten Organe der Praxis und Wissenschaft. Ganz besonders aber gilt das für Leipzig, wo die enge Nachbarschaft unmittelbarere persönliche Beziehungen zwischen den Beteiligten gestattet."16 Für die Arbeit der Juristischen Gesellschaft sei ein Beispiel angeführt. Am 16. Februar 1898 berichtete Reichsgerichtsrat Dr. Petersen „über die geplanten Aenderungen des Revisionsverfahrens in Civilsachen" 17 . Ganz anders stellte sich die Situation im Hinblick auf das Reichsoberhandelsgericht 18 dar, auf das ich in diesem Zusammenhang zu sprechen kommen muß. Nicht zuletzt durch die Forschungen von Thomas Henne, dem ich sehr für das freundliche Überlassen seiner im Druck befindlichen Habilitationsschrift 19 danke, ist bekannt, daß das, was Düringer über das Verhältnis der Fakultät zum Reichsgericht schreibt, für das Verhältnis zum Reichsoberhandelsgericht nachweislich stimmt. Dafür lassen sich mehrere Ursachen anführen. Wesentlich ist sicherlich, daß mit Levin Goldschmidt 20 dem Reichsoberhandelsgericht ein ordentlicher Professor angehörte, was den Kontakt sehr erleichterte, zumal Goldschmidt mit Karl Binding 21 seit seiner Studienzeit bekannt war 22 . Aber auch mit 1, 1992, S. 26. Ob sie mit der von Düringer genannten Gesellschaft identisch ist, bleibt offen. Bis 1856/57 taucht sie unregelmäßig im Vorlesungsverzeichnis der Leipziger Juristenfakultät auf. Danach finden sich erst wieder Belege in der Zeit nach 1892. 1909 gab die Juristische Gesellschaft eine Festschrift zum 500jährigen Geburtstag der Universität heraus; vgl. dazu unten, Anm 48. 15 Adalbert Düringer, Universität und Reichsgericht, in: Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 26. 16 Erich Molitor, Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, in: Das neue Leipzig. Monatshefte für die Kulturinteressen der Grosstadt, 1929, S. 106. 17 Dr. Hamm, Vereine und Gesellschaften, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 1898, S. 117-119. 18 Vgl. dazu Sabine Winkler, Das Bundes- und spätere Reichsoberhandelsgericht. 19 Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren. Startbedingungen, Methoden und Erfolge, Habilitationsschrift Frankfurt/M.,

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20 Über ihn vgl. Lothar Weyhe, Levin Goldschmidt. Ein Gelehrtenleben in Deutschland. Grundfragen des Handelsrechts und der Zivilrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1996. 21 Über ihn vgl. Daniela Westphalen, Karl Binding - Material zur Biographie eines Strafrechtsgelehrten, 1987. 22 Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren, S. 302 Anm. 372.

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den Kollegen Bernhard Windscheid 23 und Otto Stobbe24 war er „nahe befreundet" 25 . Allerdings schied er schon 1875 aus dem Reichsoberhandelsgericht wieder aus26. Eine „wärmste Freundschaft" verband Windscheid auch mit dem Präsidenten des Reichsoberhandelsgerichts Heinrich Eduard Pape27, dem er 1887 die 6. Auflage seines berühmten Pandektenlehrbuchs „in inniger Verehrung" widmete. Andererseits rezensierten Reichsoberhandelsgerichtsräte Werke der Leipziger Professoren 28. Als Höhepunkt der Verbundenheit ist aber die Ehrenpromotion der bis dato nicht promovierten Reichsoberhandelsgerichtsräte anzusehen, die am 2. Januar 1872 im Plenarsaal des Gerichts stattfand. Die Fakultät entsandte nicht nur den Dekan Karl Otto Müller, sondern auch noch den Ordinarius Carl Georg von Waechter 29. Wohl einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte ist der Umstand, daß eine Mitteilung über dieses Ereignis in der amtlichen Entscheidungssammlung des Gerichts erschien 30. Aus der Ansprache des Dekans möchte ich nur den ersten Satz zitieren: „Hoher Gerichtshof, hochzuverehrende Herren! Wir haben um die Ehre gebeten, heute in diesen Räumen - dem Schauplatz ihres vereinten Wirkens - erscheinen zu dürfen, um ein feierliches Zeugniß abzulegen von der hohen Achtung und warmem Sympathie, von welcher die Mitglieder der Juristenfacultät in der Universität Leipzig für den obersten Gerichtshof des Deutschen Reichs und die in diesem Rathe sitzenden hochverehrten Männer beseelt sind." j l Noch zwei weitere Richter am Reichsoberhandelsgericht wurden in der Folge ehrenhalber promoviert. Am 21. Februar 1879 wurde dem erst 1874 in das

23 Über ihn vgl. Bernd-Rüdiger Kern, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, 1998, Sp. 1442 - 1446. 24 Lothar Weyhe, Levin Goldschmidt. Ein Gelehrtenleben in Deutschland, S. 100; über Stobbe vgl. Bettina Scholze, Otto Stobbe (1831-1887). 25 Max Pappenheim, Levin Goldschmidt, in: ZHR, Bd. 47, 1898, S. 1 - 49, 13. 26 Lothar Weyhe, Levin Goldschmidt. Ein Gelehrtenleben in Deutschland, S. 100. 27 Zitiert nach Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren, S. 303 Anm. 380. Über Pape vgl. Gerd Kleinhey er/Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl. 1996, S. 501 f. 28 Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren, S. 302 Anm. 376. 29 Über ihn vgl. Bernd-Rüdiger Kern (Hrsg.), Zwischen Romanistik und Germanistik. Carl Georg von Waechter (1797-1880), 2000. 30 Anhang der Redaktion, in: ROHG-E 3, S. 441 - 446. 31 Anhang der Redaktion, in: ROHG-E 3, S. 441 f.

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Gericht eingetretenen 32 Vizepräsidenten Carl Hocheder sowie dem Reichsoberhandelsgerichtsrat Heinrich Wiener die Ehrenpromotion verliehen. Eigentlich sprach alles dafür, daß sich das gute Verhältnis der Juristenfakultät zum Reichsoberhandelsgericht auf das Reichsgericht übertragen würde. Nicht wenige der Richter wechselten in das neue Gericht, so daß eine erhebliche personelle Identität gegeben war. Allerdings war der ordentliche Professor Goldschmidt schon 1875 aus dem Gericht ausgeschieden, aber die Lücke hätte zumindest theoretisch durch den gleichfalls ordentlichen Professor v. Simson33 gefüllt werden können. Und dennoch war es gerade die Berufung Simsons in das Amt des Reichsgerichtspräsidenten, die zu gewissen Spannungen, oder jedenfalls doch Verstimmungen führte. Hören wir, was der damalige Rektor Otto Stobbe zu der Ablösung des Gerichtspräsidenten Pape durch Simson schreibt: „Daß Simson seine (Papes, d. Verf.) Stelle einnimmt, freut mich sehr für meine Person; es giebt sehr wenige Männer, denen ich so viel zu verdanken hätte und zu denen ich in jungen Jahren in einem so nahem Verhältnis gestanden hätte. Jetzt nach 20 Jahren, freut es mich, wieder in den alten freundschaftlichen Verkehr zu ihm und seiner vortrefflichen Familie treten zu können." 34 Nach dem Amtsantritt v. Simsons schrieb Stobbe abermals - jetzt deutlich kritischer - an v. Ihering: „Aber - unter uns gesagt - darüber kann doch auch kein Zweifel sein, daß er nicht die Pape'sehen Qualitäten hat. Er ist gewissermaßen primo inter pares, aber nichtjuristisches Haupt des Gerichts. An solchen hochstehenden, dem Gericht ihren Stempel aufdrückenden Persönlichkeiten wie Pape und Goldschmidt es beim ROHand. Gericht waren, scheint es mir gegenwärtig zu fehlen." 35 Wohl auf Anregung Goldschmidts vermochte es Stobbe durchzusetzen, daß die philosophische Fakultät Pape anläßlich seines Abschieds von Leipzig zum Dr. h.c. promovierte 36. Und - wie schon erwähnt - widmete Windscheid ihm noch im Jahre 1887 die 6. Auflage seines Pandektenlehrbuchs.

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Sabine Winkler, Das Bundes- und spätere Reichsoberhandelsgericht, S. 35. Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Professor in Königsberg, Richter am Tribunal und Appellationsgericht, in: Bernd-Rüdiger Kern/Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810-1899), S. 2 6 - 4 2 . 34 Brief Stobbes an v. Ihering vom 12.10.1879, Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Geheimes Staatsarchiv, HA I, Sig. Acc. Darmst. 1924.138, S. 79, 80; vgl. auch Bettina Scholze, Otto Stobbe (1831-1887), S. 91. 35 Brief Stobbes an v. Ihering vom 31.12.1879, Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Geheimes Staatsarchiv, HA I, Sig. Acc. Darmst 1924.138, S. 81, 82; vgl. Bettina Scholze, Otto Stobbe (1831-1887), S. 91. 36 Vgl. dazu Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren, S. 303. 33

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In dem zuletzt zitierten Brief äußerte Stobbe zudem noch Bedenken gegen die zu erwartende Arbeitsweise des Reichsgerichts: „Eines ist aber sicher ein Übelstand: Die zu Anfang bestehende Überbürdung des Gerichts mit Sachen; zudem ist ihm aber mehr aufgepackt als es bewältigen kann. Da heißt es dann, die Sachen müssen abgemacht werden, und ich fürchte, daß in einzelnen Senaten dabei die Gründlichkeit leiden und daß man sich daran gewöhnen wird, eilig zu arbeiten. Doch diese Befürchtungen entre nous ... ." 3 7 1878 hatte Stobbe in seiner Rektoratsrede über das Thema „Reichskammergericht und Reichsgericht" 38 noch die Hoffnung geäußert, daß „die Reichsregierung ... darauf bedacht sein (werde), das Gericht mit ausreichenden Kräften zu versehen, und der Reichstag wird ihr dafür die Mittel bewilligen..." 39 .

V. Das Verhältnis nach der Gründung des Reichsgerichts Über das gesellige Leben, von dem Düringer berichtet, vermag ich nur wenig genaueres zu sagen. Dieser Aspekt entzieht sich seiner Natur gemäß am stärksten der Überlieferung. Immerhin kam es zu mehreren Einladungen Stobbes an v. Simson40, so daß sich seine dahingehenden Wünsche erfüllten. Rudolf G. Binding berichtet beiläufig über Besuche von Reichsgerichtsräten in der elterlichen Wohnung am Brühl 41 . Daß der zweite Sohn Bindings mit dem Blasrohr über die Straße hinweg mit großer Treffsicherheit Lehmkugeln auf die Glatzen der Schreiber im alten Reichsgericht schoß, sei hier nur der Kuriosität halber vermerkt 42. Mehr weiß der jüngere Binding nicht über das Verhältnis des Reichsgerichts zu den Professoren mitzuteilen. Hans Fallada, dem wir so detailreiche Schilderungen des geselligen Verkehrs unter Berliner Kammergerichtsräten verdanken 43, schweigt über vergleichbare Ereignisse in Leipzig ganz. Dennoch dürften sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts derartige Kontak-

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Brief Stobbes an v. Ihering vom 31.12.1879, Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Geheimes Staatsarchiv, HA I, Sig. Acc. Darmst. 1924.138, S. 81, 82 38 Vgl. dazu knapp Bettina Scholze, Otto Stobbe (1831-1887), S. 87. 39 Otto Stobbe, Rede des antretenden Rector's, in: Rectoratswechsel an der Universität Leipzig, 1878, S. 22 - 44, 43. 40 Bettina Scholze, Otto Stobbe (1831-1887), S. 95, 103. 41 Rudolf G. Binding, Erlebtes Leben. Selbstbildnis und Bild der Zeit, 1956, S. 41. 42 Rudolf G. Binding, Erlebtes Leben, S. 42f. 43 Hans Fallada, Damals bei uns daheim. Erlebtes, Erfahrenes und Erfundenes, 1966, Festessen, S. 7 - 27.

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te verstärkt haben, als nämlich der spätere Professor Lutz Richter die Tochter des Reichsgerichtsrats Rudolf Heinrich Leopold Bewer 44 heiratete. Diese familiäre Bindung dürfte auch dazu gefuhrt haben, daß Reichsgerichtsräte, allen voran Bewer selbst, aber auch Alois Zeiler 45 , Vorträge im Institut für Arbeitsrecht gehalten haben46, dessen geschäftsführender Assistent in diesen Jahren Lutz Richter war. Ob auch Reichsgerichtsräte an dem Einschulungskurs des Instituts für die künftigen Vorsitzenden der Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte teilnahmen, ist nicht überliefert. Substantieller wurde das Verhältnis dann allerdings im Jahre 1933. Der Direktor des Instituts für Arbeitsrecht Erwin Jacobi arbeitete nach seiner Zwangspensionierung bei dem Rechtsanwalt beim Reichsgericht Hans Drost als ständiger Gutachter 47, was den Reichsgerichtsräten sicherlich nicht verborgen blieb. Noch dürftiger fallen die Informationen über die Juristische Gesellschaft aus. Wir wissen nichts über die regelmäßige Tätigkeit dieser Gesellschaft im einzelnen. Im Jahre 1909 gab sie eine Festschrift anläßlich des fünfhundertjährigen Bestehens der Universität heraus. Unter den sieben Verfassern waren drei Reichsgerichtsräte: 48 Albert Bolze („Aus dem Patentrecht"), Wilibald Peters („Die Revisionsgründe des österreichischen und des deutschen Zivilprozesses") und der schon genannte Adalbert Düringer („Richter und Rechtsprechung"), der zu diesem Anlaß noch den eingangs genannten Artikel über das Verhältnis zwischen Reichsgericht und Universität verfaßte. Molitor berichtete, daß sie Übungen „über praktische Fälle, wie sie sich in den Urteilen des Reichsgerichts finden ... auf den meisten deutschen Universitäten, insbesondere in Leipzig, heimisch geworden" 49 seien. Ob diese Ansicht über den Austausch von Höflichkeiten zu den jeweiligen Jubiläen hinausgeht,

44 Über ihn vgl. Verzeichnis der Reichsgerichtsräte bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, Anlage I, S. 376, Nr. 251. 45 Über ihn vgl. Verzeichnis der Reichsgerichtsräte bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, Anlage I, S. 383 Nr. 321. 46 Im Institut haben vom Sommersemester 1921 bis einschließlich 1926 folgende nicht der Universität Leipzig angehörende Vertreter des Arbeitsrechts Vorträge gehalten. Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10200/41, Blatt 108. 47 Universitätsarchiv Leipzig, N A 34 1/1, 2/3.15 - 2/3.18, S. 3; PA 2472, S. 2. Drost hat Jacobi dadurch „in ganz entscheidender Weise seelisch und wirtschaftlich geholfen" (NA 34 1/1). 48 Vgl. Festschrift der Universität Leipzig zur funfhundertjährigen Jubelfeier gewidmet von der Juristischen Gesellschaft in Leipzig, 1909. 49 Erich Molitor, Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, in: Das neue Leipzig. Monatshefte für die Kulturinteressen der Grosstadt, 1929, S. 106.

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scheint jedoch eher fraglich. Auch handelte es sich dabei um höchst einseitige Bezüge, die zudem nicht an den Ort gebunden sind. Kontakte dürften sich auch durch die Arbeit in der einzigartigen Reichsgerichtsbibliothek 50 ergeben haben, deren Benutzung den Mitgliedern der Juristenfakultät in großzügigster Weise gestattet wurde. Professoren durften sogar Bücher ausleihen51, aber auch den Studenten stand die Bibliothek - sogar noch nach dem 2. Weltkrieg - zur Verfügung. Darüber hinaus ist auch weiterhin über eine große Zahl von Ehrenpromotionen zu berichten. Auffallig sind insoweit zwei Termine mit zahlreichen Ehrungen, zum einen anläßlich des Umzugs in dieses Gebäude und zum anderen vor genau 100 Jahren aus Anlaß des 25. Geburtstages des Reichsgerichts. Am 26. Oktober 1895 wurden 14 Ehrenpromotionen verliehen und am 1. Oktober 1904 zehn52. An beiden Terminen erhielten je sechs Reichsgerichtsräte den Doktortitel ehrenhalber verliehen 53 . Hinzukamen 1895 vier Senatspräsidenten54, ein Oberreichsanwalt 55 sowie drei Rechtsanwälte beim Reichsgericht 56. Vor 100 Jahren kamen zwei Senatspräsidenten57 sowie zwei Rechtsanwälte beim Reichsgericht 58 hinzu. Einzelverleihungen fanden zudem in den Jahren 1881, 1886, 1897, 1907 (zwei Senatspräsidenten), 1909, 1922 und am 1. Oktober 1929 statt. Der fünfzigste Geburtstag gab also nur noch Anlaß für je eine Ehrenpromotion eines Reichsgerichtsrats und eines Rechtsanwalts beim Reichsgericht. Die letzte Ehrenpromotion wurde am 9. Dezember 1933 vorgenommen, dem Geburtstag und mutmaßlichen Pensionierungstermin des Senatspräsidenten Julius Franz Katluhn 59 . Dabei handelt es sich um die einzige Ehrenpromo-

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Vgl. dazu Jochen Otto, Bibliothek des Bundesgerichtshofs, 1996. Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren, S. 304. 52 Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Zur Reichsgerichtsfeier. Zum 100. Jahrestag der zehn Ehrenpromotionen der Juristenfakultät am 1. Oktober 2004, in: Rektor der Universität Leipzig (Hrsg.), Jubiläen 2004. Personen/Ereignisse, 2004, S. 59 - 61. 53 1895: Carl Friedrich Julius von Bülow, Christian Friedrich Rassow, Karl Adalbert Hugo Rehbein, Otto Loewenstein, Emil Meischeider und Carl Oskar Meves. 1904: Hugo Wilhelm Sigismund Blanck, Gustav Ludwig Wilhelm Kaufmann, Heinrich Friedrich Beer, Heinrich Ferdinand Constantin Schütt, Adolph Richard Stellmacher und Conrad Bernhard Gottlieb Förster. 54 Ernst Moritz von Bomhardt, Johannes Carl Heinrich von Dähnhardt, George Rudolf Peterßen und Harald Arthur Wolf von Wolff. 55 Hermann Tehsendorff. 56 Theodor Julius Buhsenius, Friedrich Arndts und Ernst Ludwig Romberg. 57 Leberecht Fürchtegott Maßmann und Ludwig Treplin. 58 Franz Patzki und Artur Zweigert. 59 Über ihn vgl. Verzeichnis der Reichsgerichtsräte bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, Anlage I, S. 347 Nr. 60. 51

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tion der Juristenfakultät im Dritten Reich. Alles in allem wurden 45 Ehrenpromotionen an Reichsgerichtsräte und Rechtsanwälte beim Reichsgericht verliehen, immerhin mehr als 25% der Ehrenpromotionen der Leipziger Juristenfakultät überhaupt (161) oder jede dritte, die die Fakultät während des Bestehens des Reichsgerichts verliehen hat (117). Das zeigt doch eine außerordentlich große Wertschätzung der Fakultät für das oberste Gericht im Reich. Diese Wertschätzung wird auch nicht durch wissenschaftliche Dispute - die es zu jeder Zeit gegeben hat - verringert, in deren Gefolge die eingangs wiedergegebene Anekdote entstanden sein mag. Das zeigt schon die erste Kontroverse über die Auslegung des § 1 HGB zwischen Carl Friedrich von Gerber 60 einerseits und den Reichsoberhandelsgerichtsräten Levin Goldschmidt und Georg Friedrich von Hahn andererseits 61, die das gute Einvernehmen in keiner Weise zu stören vermochte. Ähnliches mag auch für die bis heute aktuell gebliebene Auseinandersetzung um die juristische Einordnung des ärztlichen Heileingriffs gelten. Den Heileingriff wertete das Reichsgericht in seiner berühmten Entscheidung vom 31. Mai 189462 als Körperverletzung, die ihre Rechtfertigung in der Einwilligung finde 63 . Gegen diesen Ansatz wandte sich Karl Binding mit Vehemenz, etwa in der zweiten Auflage seines „Lehrbuch(s) des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil. 1. Band" aus dem Jahre 190264. Nur in geringem Maße wurde für die Lehrtätigkeit auf die Reichsgerichtsräte zurückgegriffen. Goldschmidt und v. Simson lasen nicht, obwohl das nahegelegen hätte und zumindest bei Goldschmidt auch von den Studenten gewollt war 65 . Bemerkenswert sind die beiden Staatsanwälte beim Reichsoberhandelsgericht. Der erste, Adolf Nissen, war vor seiner praktischen Tätigkeit außerordentlicher Professor in Leipzig, las aber in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hier nicht 66 . Sein Nachfolger Carl Heinrich Dreyer hingegen las in Leipzig fran-

60 Über ihn vgl. Susanne Schmidt-Radefeldt, Carl Friedrich von Gerber (1823-1891) und die Wissenschaft des deutschen Privatrechts, 2003. 61 Vgl. dazu Susanne Schmidt-Radefeldt, Carl Friedrich von Gerber (1823-1891) und die Wissenschaft des deutschen Privatrechts, S. 267f. 62 RGSt 25, 375. 63 Zum Ausgang des Verfahrens vor dem LG Hamburg vgl. Berndt Gr ambergDanielsen, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Rechtsophthalmologie, 1985, S. 1 - 4 , 3. 64 Karl Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, 1. Bd., 1902, S. 53 - 58. Speziell zur Auseinandersetzung mit dem Reichsgericht, S. 58 Anm. 1. 65 Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren., S. 304. 66 Über ihn vgl. Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren., S. 385f.

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zösisches Zivilrecht 67 . Zur Jahrhundertwende finden wir den Rechtsanwalt beim Reichsgericht Peter Kloeppel über zahlreiche Semester hin als Lehrbeauftragten. Lediglich drei Reichsgerichtsräte wurden zu Honorarprofessoren ernannt, das erst in den letzten Jahrzehnten des Gerichts und zudem erst nach ihrem Eintritt in den Ruhestand. Als Lehrbeauftragte waren sie allerdings schon zuvor tätig. Bei dem Ersternannten handelt es sich um den Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer 68, der am 31. August 1926 in den Ruhestand versetzt worden war; er bekam den Titel 1927 verliehen. Vorlesungen hielt er vom WS 1919/20 bis zum WS 1931/32. Der vorletzte Reichsgerichtspräsident Walter Simons69, der am 1. April 1929 in den Ruhestand trat, nahm im WS 1929/30 seine Vorlesungstätigkeit als Honorarprofessor auf 70 . Er unterrichtete vom WS 1919/20 bis zum Sommersemester 1937 und hielt z.B. im WS 1936/37 ein Seminar zum Völkerrecht ab. Der Reichsgerichtsrat Paul Emil Rudolf Werner Pinzger 71 las seit 1934 über Gewerblichen Rechtsschutz. Bei ihm ist das Ernennungsdatum nicht bekannt.

VI. Schluß Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Verhältnis zwischen Juristenfakultät und Reichsgericht im großen und ganzen gut und ungetrübt war, was fachliche Kontroversen nicht ausschließt. Daß es wohl nicht mehr so eng und herzlich war, wie zu Zeiten des Reichsoberhandelsgerichts, mag seine Ursache - neben persönlichen Gründen - auch in der erheblich unterschiedlichen Größe beider Gerichte haben72. Der dauernde Kontakt zu Richtern eines Gerichts ist

67 Vgl. über ihn Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht" in den 1870er Jahren, S. 368f. 68 Über ihn vgl. Verzeichnis der Reichsgerichtsräte bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, Anlage IV, S. 400, Nr. 6. 69 Über ihn vgl. Verzeichnis der Reichsgerichtsräte bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, Anlage I, S. 339, Nr. 6. 70 Vgl. dazu auch knapp Erich Molitor , Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, in: Das neue Leipzig. Monatshefte für die Kulturinteressen der Grosstadt, 1929, S. 106. 71 Reichsgerichtsrat seit dem 4. Oktober 1928. Vgl. Verzeichnis der Reichsgerichtsräte bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, Anlage I, S. 389, Nr. 384. 72 Das ROHG verfügte 1870 über 14 Richter, 1871 über 18. Insgesamt gehörten dem Gericht 32 Richter an, aber nicht alle gleichzeitig, zuletzt - im September 1879 - 27 in drei Senaten. Vgl. dazu auch Sabine Winkler , Das Bundes- und spätere Reichsoberhandelsgericht, S. 34ff.

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einfacher aufrechtzuerhalten, wenn deren Anzahl in etwa gleich groß ist, wie die der Professoren. Das galt für das Reichsgericht nicht mehr 73 . Daß meine Betrachtungsweise die Sicht aus dem Blickwinkel der Juristenfakultät auf das Gericht ist und nicht die der Richter auf die Fakultät, liegt zum einen in meiner beruflichen Tätigkeit begründet, andererseits aber auch daran, daß es für die Fakultätssicht mehr Belege gibt als für die Gerichtssicht. Im Ergebnis habe ich den eher etwas spröden Befund Düringers aus dem Jahre 1909 mit genaueren Informationen im einzelnen untermauern und etwas mit Leben füllen können. Wenn ich meinen Vortrag abschließend in einem Satz zusammenfassen darf, so lautet dieser: Jedenfalls handelt es sich nicht bloß um ein geordnetes Nebeneinander von Reichsgericht und Juristenfakultät, sondern um ein vielfältiges aktives Miteinander.

73

Das Reichsgericht verfugte zum Gründungszeitpunkt über 70 Richter.

Das römische Recht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Geltendes Recht und ratio scripta Von Cosima Möller

I. Einleitung Die Gründung des Reichsgerichts war einer der wesentlichen Schritte auf dem Weg zur Rechtseinheit. Die Grundlage dafür war durch die Vereinheitlichung der Prozeßgesetze und die Verabschiedung des Gerichtsverfassungsgesetzes im Jahr 1877 gelegt worden. Im Jahr 1879 bedeutete diese äußere Gerichtseinheit aber keine materielle Rechtseinheit, denn es galten in Deutschland verschiedene Rechte.1 Das französische Recht, über das wir im nächsten Vortrag hören werden, das preußische Recht, dänisches Recht, der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, das sächsische BGB von 1863 und manche andere Partikularrechte. Eine Sonderstellung hatte das gemeine Recht, also das allgemein geltende. Seine Geltung war grundsätzlich subsidiär. Allerdings war es für 20 Millionen Reichsbürger in Ermangelung eines Gesetzbuchs unmittelbar anwendbar. Das Reichsgericht hatte zu den Rechtsordnungen zu entscheiden, die revisibel waren. Entsprechend wurden Senate für das preußische, das rheinische und das gemeine Recht sowie für das bereits geltende Reichsrecht, insbesondere das Handelsrecht eingerichtet. Das gemeine Recht bestand zum größten Teil 2 aus dem römischen Recht, und zwar in der Gestalt, die das römische Recht durch die Kodifikation Justinians im 6. Jh. n. Chr. gewonnen hatte und in der es mit den Zutaten der Glossa-

1 Eindrucksvoll ist dies in einer Rechts- und Gerichtskarte dokumentiert, die Klippel vor einigen Jahren neu veröffentlicht und überzeugend interpretiert hat. Eine solche Karte im Jahr 1895 zu erstellen, diente dem Zweck, die Reichstagsabgeordneten für eine Zustimmung zum BGB zu gewinnen. Diethelm Klippel, Deutsche Rechts- und Gerichtskarte, Goldbach 1996, S. XIV f. 2 Zu der auffällig bereitwilligen Annahme von gemeinem deutschen Privatrecht durch das Reichsgericht s. Klaus Luig, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung in den Urteilen des Reichsgerichts von 1879 bis 1900 auf dem Gebiete des Deutschen Privatrechts, ZEuP 3 (1997), S. 762 ff.

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toren der norditalienischen Universitäten in Deutschland im Mittelalter rezipiert worden war. Die besondere Stellung des römischen Rechts wird daran erkennbar, dass es das an allen Universitäten gelehrte Recht bildete. Alle Richter, die ans Reichsgericht berufen wurden, hatten ihre juristische Ausbildung anhand des römischen Rechts genossen. Es war das römische Recht, wie es seit der Erneuerung durch die historische Rechtsschule seit Beginn des 19. Jhs. in Deutschland einen großen wissenschaftlichen Aufschwung genommen hatte, der das Studium der Rechtswissenschaft hierzulande zu einem auch international wirksamen Magneten machte.3 Überzeugend war die Entdeckung der Geschichtlichkeit des Rechts in Verbindung mit einer systematischen Durchdringung des Stoffs. Für das römische Recht bedeutete diese Methode eine unmittelbare Hinwendung zu den Quellen und zugleich einen unabhängigen Standpunkt für die Befreiung von überlieferten Lehrmeinungen der Rezeptionszeit wie auch gegenüber zeitbedingten Besonderheiten des römischen Rechts. Die systematische Arbeitsweise nahm ihren Ausgang im römischen Recht, wurde dann aber auf viele andere Gebiete übertragen, nicht zuletzt auf das öffentliche Recht, auch in Gestalt des noch recht jungen Verwaltungsrechts. 4 Der zuletzt in Leipzig lehrende Windscheid hebt in seinem Pandektenlehrbuch, das in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. wie ein kommentiertes Gesetz verwendet wurde und das BGB stark geprägt hat, die Rolle des römischen Rechts hervor. Auch die Einschränkungen im Hinblick auf dessen Geltung mit Gesetzeskraft, die neuere Kodifikationen seit dem Ende des 18. Jhs. mit sich gebracht hätten, änderten letztlich kaum etwas, weil diese Gesetzbücher das römische Recht oder die Ansichten ihrer Verfasser über den Inhalt des römischen Rechts zur Grundlage hätten. Und er ging noch weiter. Unabhängig von dieser gesetzlichen Geltung schreibt er dem römischen Recht als Ausdruck allgemein menschlicher Auffassungen über allgemein menschliche Verhältnisse eine besondere Meisterschaft zu. Es sei daher überall verwertbar, wo „civilisierte Menschen zusammenlebten" 5 . In der formalen Ausbildung des römischen Rechts sieht Windscheid ebenfalls etwas zeitlos Wertvolles. Scharfe und präzise Begriffe, die in der La-

3

HKK-Zimmermann, Einleitung vor § 1, Rn. 6. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band II, 1800-1914, S. 381 ff., insbes. S. 383 f. 5 Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, 7. Aufl., 1891, § 6, S. 16. 4

Das römische Recht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts

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ge seien, sich veränderten Bedingungen anzupassen. „Das römische Recht ist immer klar und doch nie abstrakt." 6 Ich will im folgenden einen Eindruck davon vermitteln, in welcher Weise das römische Recht vom Reichsgericht angewendet wurde. Die Beispiele, die ich verwende, zeigen das römische Recht als geltendes Recht in seiner Interpretation durch das Reichsgericht, aber auch das römische Recht als Ausdruck allgemein als richtig angesehener Rechtssätze, die Grundlage für die Redeweise von der ratio scripta sind.7 Zugleich werden materielle Regelungen ins Licht treten, auf die das römische Recht einen großen Einfluß hatte.

I I . Das Sicherungseigentum Ein Beispiel bietet das lange Zeit umstrittene Sicherungseigentum.8 In den deutschen Territorialrechten des 18. und 19. Jhs. hatte das Faustpfandprinzip die Oberhand gewonnen und auch in § 40 der Reichs-Konkursordnung von 1879 war es verankert. Diese Entwicklung sollte die Nachteile der römischen Mobiliarhypothek für den Gläubiger beseitigen, hatte aber wiederum erhebliche Nachteile für die Kreditwürdigkeit von Gewerbetreibenden und Landwirten, die auf den Besitz an den zur Sicherheit erklärten Gegenständen nicht verzichten konnten.9 Das besitzlose Pfand war nach römischem Recht möglich, ebenfalls im preußischen und im rheinischen Recht anerkannt. Dieser Umstand erhöhte die Akzeptanz für Geschäfte, die als Kaufvertrag mit der Option des Rückkaufs aus-

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Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, § 6, S. 16. Vgl. auch die Ausführungen auf S. 17: „Endlich ist die wissenschaftliche Behandlung, welche dem römischen Recht seit der Wiedererweckung seiner Kunde in dem neueren Europa zu Theil geworden ist, die Grundlage aller Privatrechtswissenschaft, und in gewissem Maße aller Rechtswissenschaft geworden. Das römische Recht hat lange Zeit den weitaus überwiegenden Teil aller rechtswissenschaftlichen Kräfte auf sich vereinigt, und der selbständige Ausbau der übrigen Rechtsdisziplinen, und vor allem der Disziplin des deutschen Privatrechts, beruht in wesentlichem Maße auf der in dieser Schule gewonnenen Ausbeute nicht bloß von formaler Geistesbildung, sondern auch von materiellen Rechtsbegriffen und Rechtswahrheiten." 7 Vgl. dazu bereits Hans-Georg Mertens, Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, AcP 174 (1974), S. 333-380, S. 358 f. mit Blick auf die Rolle des römischen Rechts bei der Auslegung des preußischen ALR und S. 360 f. für das rheinische (französische) Recht. 8

Wolfgang Hromadka, Die Entwicklung des Faustpfandprinzips im 18. und 19. Jh., Köln 1971, S. 144 ff. 9 Klaus Luig, Richter secundum, praeter oder contra BGB? Das Beispiel der Sicherungsübereignung, in: Das BGB und seine Richter, hrsg. von Ulrich Falk und Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a.M. 2000, S. 387.

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gestattet wurden, um die Bestellung eines besitzlosen Pfandes zu vermeiden. 10 Die Übertragung des Eigentums geschah in Form der Vereinbarung eines Besitzkonstituts. In der Debatte um Scheingeschäft oder Gesetzesumgehung wird die Konstruktion der Parteien durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts anerkannt, wenn es sich dabei um die bestimmte Einräumung eines Besitzkonstituts handelte.11 Hier zeigt sich, daß ein anerkanntes Institut in neuem Gewand beibehalten wird. Diese Linie hat das Reichsgericht auch nach Inkrafttreten des BGB nach anfänglichem Zögern weiterverfolgt und auf § 930 gestützt.12

I I I . Gefahrtragung beim Arbeitsvertrag Beispiele für die Anwendung des römischen Rechts findet man auch im Bereich des Arbeits- oder Dienstvertragsrechts. Das Reichsgericht hatte bereits ein Jahr nach seiner Gründung bei einem ungewöhnlichen Fall Gelegenheit, grundsätzlich zu dem Problem der Gefahrtragung bei einem Dienstvertrag Stellung zu nehmen.13 Kläger in dem Prozeß war Fürst Bismarck. Ihm gehörte dank einer Schenkung des Kaisers von 1871 die Herrschaft Schwarzenbeck mit dem Sachsenwald an der Unterelbe. In dem Dorf Schwarzenbeck gab es einen Bauervogt, der als Vertreter der landesherrlichen bzw. der gutsherrlichen Gewalt fungierte. Als Bauervogt stand ihm die Nutzung einer sog. Dienstkoppel zu. Als nun durch die Landgemeindeordnung von 1874 das Amt des Bauervogts abgeschafft wurde, verlangte Bismarck die Koppel heraus. Der Bauervogt berief sich demgegenüber darauf, daß er seine Stellung auf Lebenszeit verliehen bekommen habe. Er sei auch weiterhin in der Lage und bereit, die entsprechenden Dienste zu leisten. Sein Anspruch auf die Gegenleistung, zu der auch die Nutzung der Dienstkoppel gehöre, könne daher

10 Allerdings sind dann auch die Voraussetzungen für einen wirksamen Kaufvertrag zu beachten. Dazu gehört, wie das Reichsgericht klarstellt, die Vereinbarung eines festen Kaufpreises. Daran fehlte es in dem Fall von RGZ 2, S. 173 f f , III. Civilsenat, Urteil vom 24.9.1880 (Kassel). Der III. Civilsenat sah in dem Fall RGZ 5, S. 181 f f , Urt. v. 8.11.1881 (Frankfurt am Main) keinen hinreichenden Grund für die Annahme eines Besitzkonstituts. 11 S. zum Beispiel RGZ 2, S. 168 ff., I. Civilsenat, Urt. vom 9.10.1880 (Frankfurt a.M.): kein Scheingeschäft. 12 Zur Geschichte der Reichsgerichts-Rechtsprechung unter der Geltung des BGB s. Klaus Luig, Richter secundum, praeter oder contra BGB? Das Beispiel der Sicherungsübereignung, in: Das BGB und seine Richter, hrsg. von Ulrich Falk und Heinz Mohnhaupt, S. 383 ff. 13 RGZ 3, S. 179 f f , III. Civilsenat, Urt. vom 7.12.1880 (Ratzeburg/Kiel).

Das römische Recht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts

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nicht untergegangen sein. 14 Der Bauervogt stützte seine Ansicht auf römischrechtliche Quellen. Der Arbeitsvertrag wird vom Reichsgericht noch als Dienstmiete bezeichnet. Diese Besonderheit erklärt sich aus dem römischen Vertragssystem, in dem die locatio conductio als Vertragstyp unsere heutige Miete und Pacht, aber auch den Werkvertrag und den Dienst- oder Lohnarbeitsvertrag umfaßte. Nach der Entscheidung des Reichsgerichts entfällt nur bei Leistungshindernissen auf Seiten des Dienstverpflichteten die Pflicht zur Lohnzahlung. Das gilt in diesem Fall auch, wenn das Tätigkeitsfeld durch eine gesetzliche Regelung abgeschafft wird. Der Bauervogt mußte die Koppel an Bismarck herausgeben. Das Reichsgericht wandte das römische Recht als geltendes Recht an. Es stellte den Fall in den Rahmen der allgemeinen Schuldrechtsdogmatik. Dabei beachtete es alle Quellen, die in der Literatur des gemeinen Rechts erörtert wurden. Den Ausgangspunkt bildete das Grundverständnis zweier Obligationen im Synallagma, die das Risiko zu Lasten des zur Leistung Verpflichteten zuweisen. Erörtert wurde aber auch der Gedanke, daß der Arbeitnehmer insbesondere seine Leistungsbereitschaft schuldet und alle Risiken, die nicht in seinen Verantwortungsbereich fallen, vom Arbeitgeber zu tragen sind. Die entsprechenden Quellen interpretierte das Reichsgericht als Ausnahmen. Diese Eckpunkte der Diskussion sind nach wie vor erhalten geblieben. Damit sind auch die zwei markant unterschiedlichen Traditionslinien im römischen Recht, wie sie der Göttinger Rechtshistoriker Okko Behrends nachgewiesen hat, 15 weiterhin präsent: die liberale, von der Philosophie der skeptischen Akademie inspirierte Linie, die wegen ihrer Klarheit und Dominanz als spezifisch klassische bezeichnet werden kann und im 1. Jh. v. Chr. von dem CiceroFreund Servius Sulpicius 16 begründet wurde, und die stoisch-naturrechtlich ge14 Vgl. zu dem Sachverhalt und dem Urteil der Vorinstanz (OLG Kiel) Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, Göttingen 1990, S. 92-94. 15 S. die in den beiden Bänden Institut und Prinzip zusammengestellten Aufsätze, hrsg. von Martin Avenarius, Rudolf Meyer-Pritzl und Cosima Möller, Göttingen 2004. Für Fragen des römischen Arbeitsrechts s. Okko Behrends, Die Arbeit im römischen Recht. Zur Frage ihrer rechtlichen Einordnung und moralischen Bewertung, in: Le travail. Recherches historiques. Table ronde de Besançon, 14 et 15 novembre 1997. Ed. Jacques Annequin [u.a.], Besançon 1999, S. 115-162 = Institut und Prinzip, Band II, S. 723 f f ; ders., Fremdbestimmte und eigenverantwortliche Arbeit. Die rechtstheoretischen und rechtsethischen Grundlagen des Arbeitsvertrags und des Auftrags im römischen Recht, in: Iurisprudentia universalis, Festschrift für Theo Mayer-Maly zum 70. Geburtstag, hrsg. von Martin J. Schermaier, J. Michael Rainer und Laurens C. Winkel, Köln [u.a.] 2002, S. 21-50 = Institut und Prinzip, Band II, S. 771 ff. 16 Okko Behrends, Servius Sulpicius Rufus, in: Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Stolleis, München 1995, S. 562-563 = Institut und Prinzip, Band II, S. 980.

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prägte, an Prinzipien orientierte Linie, die für eine erste Phase der wissenschaftlichen Bearbeitung des römischen Rechts seit dem 3. Jh. v. Chr. steht. Das strenge Synallagma ist klassisch, die Lehre, die dem Arbeitnehmer ausschließlich das eigene Unvermögen anlastet, entspricht dagegen einer von der bona fides getragenen, eher statusrechtlich argumentierenden vorklassischen Linie. 17 In der Literatur wurde später kritisiert, daß die Fälle der Betriebsgefahr durch das Reichsgerichts-Urteil nicht gelöst seien. 1 8 Das BAG 1 9 hat in der Tradition einer Reichsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 192320 und der Fortführung dieser Rechtsprechung durch das Reichsarbeitsgericht 21 für diese Fälle die Betriebsrisikolehre weiterentwickelt und grundsätzlich dem Arbeitgeber das Risiko zugewiesen.22 Diese Rechtsprechung hat nach der Schuldrechtsreform auch im Gesetz einen Niederschlag gefunden. Die Regelung in Satz 1 und 2 von § 615, die sich auf den Annahmeverzug des Arbeitgebers bezieht, ist nach Satz 3 entsprechend auf die Fälle anwendbar, in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt. Damit ist allerdings für das Verständnis des Gesetzes weiterhin die Rechtsprechung heranzuziehen. 23

IV. Schutzpflichten im Arbeitsvertrag Ein weiteres interessantes Anwendungsfeld des römischen Rechts im Arbeits- bzw. Dienstvertragsrecht bilden die Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung von Schutzpflichten im Arbeitsvertrag. Das Reichsgericht verfolgt hier verschiedene Argumentationsstrategien. Die abstrakte Vergleichbarkeit von Sach- und Dienstmiete führt ebenso zum gewünschten Ergebnis, 24 nämlich dazu, daß der Arbeitgeber für die erforderlichen Schutzmaßnahmen zuständig 17

Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 41 f f , zusammenfassend S. 67 f. und S. 69 f. 18 S. die Nachweise bei Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 100-

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BAGE 3, S. 346 f f , Urt. vom 8.2.1957. RGZ 106, S. 272 f f , Urt. vom 6.2.1923. 21 RAGE 2, S. 74 f f , Urt. vom 20.6.1928. 22 Vgl. dazu und zu Lösungsansätzen in der Literatur Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 134-139. Die Begründungen der Gerichtsurteile sind höchst unterschiedlich und signifikant. Das Reichsgericht löst sich 1923 ausdrücklich von Vorgaben der zivilrechtlichen Dogmatik, das Reichsarbeitsgericht bemüht sich um eine Anknüpfung bei allgemeinen Rechtsgedanken des BGB. Das Bundesarbeitsgericht lehnt eine Orientierung an § 323 oder § 615 ausdrücklich ab. 23 Heinz Georg Bamberger/Herbert Roth-Fuchs, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 615 Rn. 43 ff. 24 RGZ 8, S. 149 f f , I. Civilsenat, Urt. vom 30.12.1882 (Hamburg/Hamburg) und dazu Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 113 f. 20

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ist, wie die Betonung des bona-fides-Charakters des Arbeitsvertrages. 25 Bei schuldhafter Verletzung der Schutzpflichten durch Unterlassen entsprechender Vorkehrungen wird ein Schadensersatzanspruch anerkannt. Das Reichsgericht hielt sich bei diesen Entscheidungen im Rahmen der gemeinrechtlichen Lehre. Sie war geprägt von dem weiten Obligationsverständnis Savignys, das dieser treffend als organisch bezeichnet hatte.26 Die auf Erfüllung gerichtete Obligation wandelte sich nach seiner Lehre zu einer solchen auf Schadensersatz, wenn der Schuldner sich eine Pflichtverletzung zuschulden kommen ließ. Die Grundlage eines derart pflichtenhaltigen Vertragsverständnisses liegt im bona-fides-Charakter dieser Verträge. Je nach Vertragstyp sind Modifikationen vorgesehen. Das, was später als positive Vertragsverletzung von Staub „entdeckt" wurde, gehört damit in einem wesentlichen Bereich bereits zum dogmatischen Bestand der Richter am Reichsgericht 27 und wurde sogar in der Gesetzgebungsdiskussion als Argument für die Einführung von § 618 BGB angeführt. Man dürfe nicht hinter den Stand der Rechtsprechung des Reichsgerichts zurückfallen. 28 Dieses Argument wurde vorgebracht, um größere Rechtssicherheit für solche Schadensersatzansprüche zu schaffen. Denn die Verfasser des 1. Entwurfs hatten diesen Ansprüchen keineswegs die Grundlage entziehen wollen. Doch schien ihnen die Aufnahme einer Regelung von Treu und Glauben und die Definition der Fahrlässigkeit - in § 224 BGB, 1. Entwurf waren der spätere § 242 und § 276 zusammengefaßt - hinreichende Grundlage auch für die Konstituierung von Schadensersatzpflichten bei Verletzung sehr weit verstandener Vertragspflichten zu sein. In der Diskussion setzte sich das Argument durch, daß man bei einem neuen Gesetzbuch die Chance nutzen sollte, Klarheit und Si25 RGZ 21, S. 170 ff., VI. Civilsenat, Urt. vom 24.5.1888 (Lübeck/Hamburg) und dazu Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 114-116. Da es hier um einen Arbeitsunfall ging, der durch die Tätigkeit anderer Arbeiter des Unternehmers verursacht worden war, haftete der Unternehmer nur wegen Auswahlverschuldens. Die Hinterbliebenen des zu Tode gekommenen Arbeiters konnten sich nicht auf einen vertraglichen Anspruch berufen. 26 Friedrich Carl v. Savigny, System I, § 59 und dazu Susanne Würthwein, Zur Schadensersatzpflicht wegen Vertragsverletzungen im Gemeinen Recht des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 183 ff. 27 Vgl. auch die Untersuchung von Hans Peter Glöckner, Die positive Vertragsverletzung, in: Das BGB und seine Richter, hrsg. von Ulrich Falk und Heinz Mohnhaupt, S. 155 ff. Sein Hauptaugenmerk liegt allerdings auf der Zeit nach 1900. Die Kontinuitäten werden nur am Rande vermerkt. 28 O. Jacobi, Die Lehre vom Dienstvertrag im Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, Archiv für bürgerliches Recht 4 (1890), S. 137 ff., S. 163; Horst-Heinrich Jakobs/Werner Schubert, Die Beratung des BGB, Recht der Schuldverhältnisse II, zu §§618, 619, S. 786 ff. und dazu Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, s! 121-125.

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cherheit zu schaffen und solche Ansprüche einem möglichen Wandel in der Rechtsprechung zu entziehen. Im Bereich des Dienstvertragsrechts war so tatsächlich die Verengung des Obligationsbegriffs ohne Konsequenzen.29 Die vom Reichsgericht entschiedenen Fälle zeigen die Lücken auf, die das Reichshaftpflichtgesetz, die Reichsgewerbeordnung und die deliktische Haftung nach der lex Aquilia ließen. 30 Auch bei Zweifeln über die Anwendbarkeit der GewO griff das Reichsgericht auf allgemeine Grundsätze des gemeinen Rechts zurück. So beispielsweise in einem Fall, in dem die Anwendbarkeit zweifelhaft war, weil die Haftungsnorm den Gewerbebetrieb von Eisenbahnunternehmungen ausnahm und der klagende Arbeiter sich die Verletzung beim Transport von Schienennägeln zugezogen hatte, die aus einem Eisenbahnwaggon ausgeladen worden waren und auf einem zweirädrigen Karren zur Maschinenwerkstatt der Eisenbahngesellschaft gebracht werden sollten. Der Transportkarren war nicht verletzungsvermeidend mit einer Stütze ausgestattet. Als der Karren umstürzte, zog sich der Arbeiter eine Verletzung an der Hand zu. Das Reichsgericht argumentierte, daß unabhängig von der positiven Vorschrift der Gewerbeordnung nach der richtigen Auffassung des gemeinen Civilrechts der Dienstmietvertrag dem Gewerbeunternehmer wesentlich dieselben Verpflichtungen auferlege. 31 Wie ein Mieter für die Integrität der ihm anvertrauten Sache zu sorgen habe, so obliege es der Diligenz des Gewerbeunternehmers, für die Sicherheit von Leben und Gesundheit des Arbeiters zu sorgen. So wird das Urteil der Vorinstanz aufrechterhalten und dem Arbeiter ein Schadensersatz zugesprochen. Die grundsätzliche Anerkennung eines Schadensersatzanspruchs bei der Verletzung von Schutzpflichten bewirkte konsequenterweise auch die Klarstellung des zivilrechtlichen, nicht präventiv-polizeirechtlichen Charakters der in der GewO enthaltenen Schutzvorschriften. 32

29 Vgl. für die Rechtsprechung zu nicht speziell geregelten Schadensersatzpflichten die Hinweise bei Susanne Würthwein, Zur Schadensersatzpflicht wegen Vertragsverletzungen im Gemeinen Recht des 19. Jahrhunderts, S. 17 Fn. 16 und S. 223. Unter Fortführung der Tradition stützte das Reichsgericht die Schadensersatzansprüche zunächst auf § 276 BGB. Damit ließen die Richter den Charakter dieser Norm als Zurechnungsnorm außer Betracht. 30 Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 111-113. 31 RGZ 8, S. 149 ff., S. 151. 32 Susanne Würthwein, Zur Schadensersatzpflicht wegen Vertragsverletzung, S. 217 spricht daher zu Recht davon, daß in der GewO eine gesetzliche Fixierung dieser Schutzpflichten anzutreffen ist. Die Regelung in der GewO ist symptomatisch für die damaligen Unsicherheiten bei der Bewältigung rechtspolitischer Aufgaben. Sie fanden grundsätzlich außerhalb des BGB einen Platz im Gesetz. Das gilt für das Arbeitsrecht in Teilen und markant für den Schutz von Verbrauchern, vgl. das AbzG von 1894 oder

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Die Herleitung des Schadensersatzanspruchs zeigt den typisch an der Systematik orientierten Umgang mit den Quellen des römischen Rechts. Ich zitiere das Reichsgericht: ...vielmehr gilt schon nach römischem Rechte bei allen bonae fidei contractus der Satz, daß jeder Kontrahent einen durch sein Verschulden dem anderen bei Ausfuhrung des Vertrages entstandenen Schaden ersetzen müsse, mag dieser Satz in den Quellen auch beim Dienstmietvertrage nicht gerade besonders zur Sprache kommen."^ Die Basis für diesen pflichtenerzeugenden Charakter der bona fides findet man im römischen Recht bei den stoisch-naturrechtlich geprägten Juristen des 2. Jhs. v. Chr., den von den späteren Klassikern sog. Alten, den veteres. Ihr letzter Vertreter Quintus M u c i u s / 4 Konsul des Jahres 95 v. Chr., hatte seine Lehre von den Rechtsverhältnissen der Verkehrsgesellschaft auf dem Prinzip der bona fides aufgebaut. ' 5 In der Kaiserzeit werden diese Lehren von der sabinianischen Rechtsschule wieder aufgegriffen. So sind Quellen des berühmten Leiters der sabinianischen Rechtsschule Julian, der zur Zeit von Kaiser Hadrian wirkte, die Grundlage für ein organisches Obligationenverständnis in der Diskussion des gemeinen Rechts. M i t der Kaufklage konnte nach Julian nicht nur auf Erfüllung geklagt werden - bzw. auf Wertersatz für ihr Ausbleiben - , sondern auch auf Schadensersatz, wenn die Lieferung einer mangelhaften Kaufsache andere Rechtsgüter des Käufers geschädigt h a t t e / 6

§ 56 Abs. 1 Nr. 6 GewO, demzufolge Darlehensabschlüsse als Haustürgeschäite bis zum Inkrafttreten des HaustürWG verboten waren. 33 RGZ21.S. 170 ff., S. 173. Okko Behrends, Mucius Scaevola, Quintus. In: Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Stolleis, S. 444-445 = Institut und Prinzip, Band II, S. 979. Marcus Tullius Cicero, de officiis, 3, 70. D. 19,1,13 pr. Ulpianus libro 32 ad edictum: Iulianus libro quinto decimo inter eum, qui sciens quid aut ignorans vendidit, differentiam facit in condemnatione ex empto: ait enim, qui pecus morbosum aut tignum vitiosum vendidit, si quidem ignorans fecit, id tantum ex empto actione praestaturum, quanto minoris essem empturus, si id ita esse scissem: si vero sciens reticuit et emptorem decepit, omnia detrimenta, quae ex ea emptione emptor traxerit, praestaturum ei: sive igitur aedes vitio tigni corruerunt, aedium aestimationem, sive pecora contagione morbosi pecoris perierunt, quod interfuit [idonea venisse erit praestandum] . Julian macht im 15. Buch [seiner Digesten] zwischen dem, der eine Sache in Kenntnis und dem, der sie in Unkenntnis [ihres Mangels] verkauft hat, einen Unterschied bei der Verurteilung aus Kauf Er sagt nämlich, daß derjenige, der ein krankes Tier oder einen mangelhaften Balken verkauft hat, dann, wenn er dies in Unkenntnis des Mangels getan hat, aufgrund der Klage aus Kauf lediglich das leisten müsse, um wie viel weniger ich gekauft hätte, wenn ich die Beschaffenheit der Sache gekannt hätte; wenn er jedoch den Mangel wissentlich verschwiegen und den Käufer getäuscht hat, dann müsse er dem Käufer für allen Schaden einstehen, den dieser aus dem Kauf erleidet. Stürzt daher das Haus aufgrund des Mangels des Balkens ein, so ist für den Schätzwert des Hauses ein-

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An diesen historischen Tiefenschichten des römischen Rechts waren die Richter am Reichsgericht allerdings nicht interessiert. Das zeigt sich auch darin, daß die Stellen aus dem Corpus Iuris Civilis zitiert wurden, ohne daß dem zitierten Juristen oder dem besonderen Werk Aufmerksamkeit gewidmet worden wäre. 37

V. Die actio quasi institoria Ein Beispiel soll auch dafür stehen, daß es Elemente des römischen Rechts gab, die durch neuere dogmatische Weiterbildungen entbehrlich geworden waren. Es geht um die bekannte Ablehnung des klassischen römischen Rechts gegenüber der direkten Stellvertretung. 38 In bestimmten Fällen anerkannte das römische Recht eine Haftung des Geschäftsherrn, auch wenn es ihn nicht für direkt aus der Obligation verpflichtet ansah. Einer dieser Fälle war die Klagemöglichkeit für Kunden eines institor, eines von einem Geschäftsherrn eingesetzten Geschäftsleiters. In der Spätklassik nimmt Papinian eine Ausdehnung dieser Klage allgemein auf Vermögensverwalter vor. 39 Daraus hatte man im gemeinen Recht die actio quasi institoria gemacht, die bei indirekter bzw. mittelbarer Stellvertretung dem Vertragspartner gegen den Auftraggeber zustand. Das Reichsgericht entschied, daß diese Klage nach dem „heutigen gemeinen Recht" keine Anwendung mehr finde, weil zunächst durch Gewohnheitsrecht 40 und dann gemäß dem HGB (Art. 52 ADHGB) die direkte Stellvertretung anerkannt worden sei. 41 Wer einen Vertrag im eigenen Namen abschließt, wird nur selbst Vertragspartner, auch wenn er zu erkennen gibt, daß er im Auftrag eines zustehen; geht Vieh aufgrund der Ansteckung durch ein krankes Tier ein, so ist für das Interesse einzustehen, daß dies nicht geschehen wäre. Ulpian/Julian setzen allerdings auf Seiten des Verkäufers Arglist voraus. 37 Vgl. als Beispiel nur RGZ 2, S. 159 ff., II. Civilsenat, Urt. vom 25.6.1880 (Neuwied/Frankfurt a.M.), in der das Reichsgericht auf das Rücksichtnahmegebot bei der Anlage von Servituten Bezug nimmt, wie es in der berühmten Stelle D. 8,1,9 Celsus libro quinto digestorum überliefert ist. Das Reichsgericht spricht hier nur von „dem Juristen", ohne Celsus zu erwähnen. S. zu einer Entscheidung, die ebenfalls die Ausübung einer Servitut betrifft, nämlich RGZ 1, S. 331 f f , III. Civilsenat, Urt. vom 13.4.1880 (Bernburg/Dessau), und dem römischrechtlichen Hintergrund Cosima Möller, Servituten im römischen Recht und in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: Sachsen im Spiegel des Rechts, hrsg. von Adrian Schmidt-Recla, Eva Schumann und Frank Theisen, Köln u.a.2001, S. 127 f f , S. 129-138. 38 Max Käser, Römisches Privatrecht I, 2. Aufl., München 1971, S. 260 ff. 39 D. 14,3,19 pr. Papinianus libro tertio responsorum. 40 Insbesondere seit der Anerkennung der direkten Stellvertretung durch Savigny. Vgl. zur Entwicklung dieser Lehre jetzt Franz Josef Hölzl, Friedrich Carl von Savignys Lehre von der Stellvertretung, Göttingen 2002. 41 RGZ 2, S. 166 f f , I. Civilsenat, Urt. vom 2.10.1880 (Landgericht Rostock).

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anderen handelt. Ein Rückgriff auf den Auftraggeber wurde damit abgeschnitten, wenn nicht die Voraussetzungen einer direkten Stellvertretung erfüllt waren, also ein Handeln in fremdem Namen vorlag. Wir erkennen hier einen Anwendungsfall für den Wahlspruch eines großen Romanisten des 19. Jhs., Rudolf von Jhering: „Durch das römische Recht, aber über dasselbe hinaus." 42

VI. Treu und Glauben im Bedingungsrecht Ein schönes Beispiel dafür, daß im Zusammenspiel von Windscheids Pandektenlehrbuch und dem Zitat einer Quelle aus den Digesten eine stabile Grundlage für eine Entscheidung gefunden wurde, enthält der 2. Band der amtlichen Sammlung. In einer Entscheidung des I. Zivilsenats wird eine aufschiebende Bedingung unter Hinweis auf Windscheids Pandektenlehrbuch im Zweifel zugleich als Befristung eingeordnet. 43 Eine Befristung ergibt sich aus einer aufschiebenden Bedingung, wenn man den gewöhnlichen Lauf der Dinge zugrunde legt. Wird der Eintritt der Bedingung schuldhaft verhindert, so wird er - gestützt auf eine Ulpian-Stelle 44 - fingiert. Dieser Anwendungsfall von Treu und Glauben ist in § 162 BGB übernommen worden.

V I I . Nachbarrecht: das römische Recht als ratio scripta In das Nachbarrecht führen zwei Entscheidungen, die abschließend herangezogen werden sollen. 45 In einer Entscheidung aus dem Jahr 190046 hat der V. Senat unter Bezugnahme auf das gemeine Recht entschieden, daß bei einer 42 Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Band 1,10. Aufl., 1968, S. 14. 43 RGZ 2, S. 143 f., I. Civilsenat, Urt. vom 10.5.1880 (Hamburg/Hamburg) unter Hinweis auf Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, 5. Aufl., § 91 S. 256. Die Sache wurde zur weiteren Sachverhaltsermittlung zurückverwiesen. 44 D. 50,17,161 Ulpianus libro septuagensimo septimo ad edictum: In iure civili receptum est, quotiens per eum, cuius interest condicionem non impleri, fiat quo minus impleatur, perinde haberi, ac si impleta condicio fuisset. Ulpian im 77. Buch seines Ediktkommentars: Im Zivilrecht ist es anerkannt, daß es so angesehen wird, als ob die Bedingung eingetreten wäre, wenn derjenige, in dessen Interesse der Nichteintritt der Bedingung liegt, darauf hin gewirkt hat, daß sie nicht eintritt. 45 S. dazu bereits Cosima Möller, Servituten im römischen Recht und in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: Sachsen im Spiegel des Rechts, hrsg. von Adrian Schmidt-Recla, Eva Schumann und Frank Theisen, S. 127 f f , S. 152-155. 46 RGZ 45, S. 297 ff., V. Civilsenat, Urt. vom 28. Februar 1900 (1. Instanz: LG I Berlin, 2. Instanz: KG Berlin).

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Dampfwäscherei, die in einem angemieteten Gebäude betrieben wurde, die Klage wegen übermäßigen Lärms gegen den Betreiber der Wäscherei und damit gegen den Störer, zu richten sei, der Eigentümer des Hauses zur Beseitigung der störenden Anlage jedenfalls nicht mit verpflichtet sei. 47 Das Reichsgericht führt dazu aus: „Schon in den römischen Rechtsquellen ist anerkannt, daß mittels der negatoria und anderer verwandter Klagen nur der Störer zur Beseitigung der störenden Anlage auf seine Kosten, der Eigentümer als solcher aber höchstens zur Duldung der Beseitigung belangt werden kann. [...] [C. 3,34,8; D. 39,3,6,7 et 11,2.; D. 43,24,7 pr. et 16,2; Windscheid, Pandekten Bd. 1, § 198.] Es besteht kein gesetzlicher Grund, für das Geltungsgebiet des preußischen Allgemeinen Landrechtes von dieser Meinung abzuweichen."48

Die Quellen des römischen Rechts werden also auch im Bereich des preußischen Allgemeinen Landrechts herangezogen. Sie behalten dann ihre Autorität, wenn sie dem Gesetzbuch nicht widersprechen. Hinsichtlich des französischen Rechts, wie es in übersetzter und ergänzter Fassung als Badisches Landrecht in Baden und im übrigen in einigen weiteren Gebieten des Deutschen Reichs bis zum Inkrafttreten des BGB in Geltung war, läßt sich ebenfalls zeigen, daß das Reichsgericht auf die im gemeinen Recht entwickelten Grundsätze des Nachbarrechts zurückgriff. In einer Entscheidung des II. Zivilsenates aus dem Jahr 1883 ging es um den Fall, daß ein Eigentümer sein Haus an eine benachbarte Giebelmauer anbaute.49 Aus diesem Neubau drang Wasser in die Giebelmauer ein und verursachte auf der Innenseite des zuerst errichteten Hauses feuchte Stellen und Schimmelbildung. Die Schadensersatzklage des geschädigten Hauseigentümers wurde zwar vom Reichsgericht dem Verschuldensgrundsatz unterstellt und die Sache aus diesem Grunde zurückverwiesen. Doch hat der II. Senat grundsätzliche Ausführungen zur Anwendbarkeit des römischen Rechts gemacht.50 Auf der Suche nach nachbarrechtlichen Regelungen im badischen Landrecht, die wechselseitige Rücksichtnahme der Nachbarn vorsehen, findet der Senat eine Vorschrift, die beim Betreiben einer Anlage auf einem Nachbargrundstück Rücksichtnahme auf das Interesse des Grundstückseigentümers verlangt. In einem ersten Schritt stellt der Senat daher fest, daß das Nachbarrecht als solches dem französischen Recht 47

Vgl. zu dieser Entscheidung auch J. Michael Rainer, Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts, ZEuP 3 (1997), S. 759. 48 RGZ 45, S. 299. 49 RGZ 11, S. 341 f f , II. Civilsenat, Urt. vom 13. Dezember 1883 (1. Instanz: LG Karlsruhe, 2. Instanz: OLG Karlsruhe). 50 J. Michael Rainer, Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts, ZEuP 3 (1997), S. 757 f.

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nicht widerstrebe und es daher möglich sei, auf das gemeine Nachbarrecht zurückzugreifen, 5 1 das in Baden subsidiär gelte. Doch verlassen die Richter diesen Begründungsweg wieder, indem sie das Prinzip des Nachbarrechts auch unmittelbar für das französische Recht annehmen. Aus dem Nebeneinander der Grundeigentümer

und ihres jeweils absoluten Nutzungsrechts habe schon

Pothier Rücksichtnahmepflichten hergeleitet. 5 2 U n d Pothier habe diese Pflichten mit Stellen aus dem römischen Recht belegt. Unter Hinweis auf die neuere französische Doktrin und Praxis, die dieses Prinzip des Nachbarrechts anerkenne, kommen die Richter dazu, eine actio negatoria gegen das Durchfeuchten der Giebelmauer zuzubilligen. 5 3 In dieser Argumentation w i r d besonders deutlich, daß das römische Recht auch dann noch die Grundlage der europäischen Rechtsordnungen geblieben ist, als die Kodifikationen den B l i c k für die römischrechtlichen Wurzeln zu verstellen begannen. 5 4 D e m Reichsgericht waren diese Wurzeln schon durch 51 S. ebenso die Entscheidung vom gleichen Tage RGZ 11, S. 345 ff., II. Civilsenat, Urt. vom 13. Dezember 1883 (1. Instanz: LG Elberfeld, 2. Instanz: OLG Köln): Zur Begrenzung der actio negatoria auf den Beseitigungsanspruch im Falle von Immissionen durch einen Fabrikschornstein. 52 RGZ 11, S. 343. 53 Der Fall erinnert wegen des Durchfeuchtens besonders an einen von Alfen behandelten, in dem das Durchfeuchten einer Wand auf den Misthaufen zurückzuführen war, den der Nachbar unmittelbar an der Wand angelegt hatte. D. 8,5,17,2 Alfenus libro secundo digestorum: Secundum cuius parietem vicinus sterculinum fecerat, ex quo paries madescebat, consulebatur, quemadmodum posset vicinum cogere, ut sterculinum tolleret. Respondi, si in loco publico id fecisset, per interdictum cogi posse, sed si in privato, de Servitute agere oportere: si damni infecti stipulatus esset, possit per eam stipulationem, si quid ex ea re sibi damnum datum esset, servare. Alfen im zweiten Buch seiner Digesten: Ein Nachbar hatte an der Wand eines anderen einen Misthaufen angelegt, von dem aus die Wand durchfeuchtet wurde. Bei ihm [Servius] wurde angefragt, wie der andere den Nachbarn zur Entfernung des Misthaufens zwingen könne. Ich habe geantwortet, wenn er dies auf einem öffentlichen Grundstück getan hätte, könne er durch Interdikt gezwungen werden, wenn er es aber auf einem privaten tue, müsse man wegen der Dienstbarkeit [die der Nachbar sich anmaße] klagen. Wenn er sich Sicherheit wegen drohenden Schadens habe versprechen lassen, könne er kraft dieses Versprechens den in dieser Sache entstehenden Schaden ersetzt erhalten. Vgl. zu dieser Stelle und zu ihrem Hintergrund im römischen Servitutenrecht demnächst meine Habilitationsschrift, Die Servituten. Zur Entwicklungsgeschichte, Funktion und Struktur der grundstücksvermittelten Privatrechtsverhältnisse im römischen Recht. Mit einem Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte und das BGB, zur Zeit im Manuskript, Göttingen 2000, S. 264 ff. S. einstweilen Schahin Seyed-Mahdavi Ruiz, Die rechtlichen Regelungen der Immissionen im römischen Recht und in ausgewählten europäischen Rechtsordnungen, Göttingen 2000, S. 66 ff. 54 Die europäischen Kodifikationen bezeichnet Behrends als „Töchter der gleichen europäischen, von der Rezeption des römischen Rechts geprägten Privatrechtswissenschaft", Okko Behrends, Das Privatrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, seine Kodifikationsgeschichte, sein Verhältnis zu den Grundrechten und seine Grundlagen im klassisch-republikanischen Verfassungsdenken, in: Der Kodifikationsgedanke und das

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den ständigen Zwang zur Rechtsvergleichung und durch die Geltung des gemeinen Rechts zugänglich.55 Die Tradition für eine rechtsvergleichende Betrachtung hatte auf der Seite höchster Gerichte bereits das ROHG begründet. 56

V I I I . Schlußbemerkungen Das Reichsgericht hat auf der Grundlage des römischen Rechts eine eigenständige Rechtsprechungstradition entwickelt. Es hat dabei das römische Recht den Anforderungen des Falles 57 und der Weiterentwicklung der zeitgenössischen Dogmatik entsprechend angewendet. So wie es Entscheidungen gibt, die der geschichtlichen Situation stark verhaftet sind, so gibt es auch solche Entscheidungen, die als Grundlage der späteren Entwicklung gedient haben. Das gilt für die Anerkennung des Sicherungseigentums, für den Schadensersatzanspruch bei Verletzung vertraglicher Nebenpflichten und auch für das Nachbarrecht. Die Entscheidungen des Reichsgerichts wurden von der Lehre und in der Gesetzgebungsdiskussion beachtet. Eine statistische Auswertung der römischrechtlichen Zitate in den Entscheidungen des Reichsgerichts, die in der amtlichen Sammlung veröffentlicht sind, hat bei einem Forschungsprojekt 58 unter der Leitung von Okko Behrends in Göttingen ergeben, daß das Reichsgericht in 598 Entscheidungen Zitate aus dem Corpus Iuris Civilis anführt. Die Mehrzahl dieser Entscheidungen ist, wie

Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), hrsg. von Okko Behrends und Wolfgang Sellert, Göttingen 2000, S. 11 f. 55 Vgl. auch die Würdigung der Reichsgerichtsrechtsprechung bei J. Michael Rainer, Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts, ZEuP 3 (1997), S. 760 f , der überzeugend eine Trias von Rechtsgeschichte, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung hervorhebt, die eine einheitliche deutsche Rechtswissenschaft getragen hätte. Die historische Rechtsschule Savignys und ihre Vorherrschaft an den Universitäten spielte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. 56 Herbert Kronke, Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung in der Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts, ZEuP 5 (1997), S. 735-750. 57 Vgl. als ein Beispiel RGZ 1, S. 101 f f , III. Civilsenat, Urt. vom 13.1.1880 (Neuwied/Ehrenbreitstein): Im Hinblick auf die Ersitzung eines Fahrtrechts zieht das Reichsgericht verschiedene Stellen aus den Digesten und dem Codex heran, und nimmt eine fallbezogene Auslegung vor. Die Frage einer wirksamen Unterbrechung der Ersitzungszeit wird unter Hinweis auf einen Meinungsstreit in der Literatur und unterschiedliche Erkenntnisse von Gerichten entschieden. 58 Im Rahmen dieses Projekts entstanden auch Einzelstudien zur Rechtsprechung des Reichsgerichts mit römischrechtlicher Grundlage: Jürgen Pansegrau, Die Fortwirkung der römischrechtlichen Dreiteilung der Verbotsgesetze in der Rechtsprechung des Reichsgerichts: Zur Vorgeschichte des § 134 BGB, Göttingen 1989; Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht; Henrike Schlei, Schenkungen unter Ehegatten, Göttingen 1993.

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nicht anders zu erwarten, vor Inkrafttreten des BGB ergangen (516). Daß die Gesamtzahl nur ein Indiz für den Einfluß des römischen Rechts auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts bildet, ist nach dem Gesagten wohl deutlich geworden. Dieser Einfluß war erheblich größer. Zum Teil könnte man von einer Wiedergewinnung eines ius commune sprechen, das durch die Kodifikationen jedenfalls auf den ersten Blick zurückgedrängt worden war. Die gemeinsame Grundlage im römischen Recht und der Umstand, daß das Reichsgericht in den ersten beiden Jahrzehnten seines Wirkens verschiedene Kodifikationen anzuwenden hatte, forderten rechtsvergleichende Seitenblicke, wie wir sie am Beispiel des Nachbarrechts kennengelernt haben. Die Anwendung des römischen Rechts machte es für jeden Richter erforderlich, die Spielräume der Quellen und ihrer wissenschaftlichen Interpretation in einer verantwortlichen Weise zu nutzen. 59 Für den zu entscheidenden Fall wurden entscheidungserhebliche Quellenstellen gesucht, Ähnlichkeiten und Unterschiede festgestellt und die Entscheidung im Hinblick auf den systematischen Zusammenhang überprüft. Dieser systematische Zusammenhang ist der von der historischen Rechtsschule und der Pandektistik erarbeitete. Die im römischen Recht vorhandenen unterschiedlichen Systementwürfe sind nur in dieser gespiegelten Form, aber nicht als reflektierte Unterschiede erkennbar. Diese unterschiedlichen Traditionen, die in den Quellen erhalten geblieben waren, führten dazu, daß einerseits die liberalen Elemente des römischen Rechts eingesetzt wurden, andererseits aber auch naturrechtlich begründete, ein umfangreiches Pflichtenprogramm enthaltende Lehren den Quellen entnommen werden konnten. Diese Ambivalenz des römischen Rechts machte es zu einer interpretationsfähigen Grundlage des geltenden Rechts. Die sichtbaren Konstanten verliehen ihm die Rolle einer ratio scripta.

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HKK-Zimmermann, Einleitung vor § 1, Rn. 13 und 16 f.

Der Code civil (Code Napoléon) in Deutschland und das Reichsgericht Von Werner Schubert

Der Code civil, der in diesem Jahre sein 200jähriges Jubiläum feiert, hat in den französischrechtlichen Gebieten Deutschlands bis 1900 gegolten1. Wenn man in der ersten Hälfte des 19. Jhts. vom französischen oder rheinischfranzösischen Recht sprach, meinte man allerdings nicht nur den Code civil oder, wie er hier auch nach 1814 genannt wurde, den Code Napoléon, sondern die Gesamtheit der französischen Rechtsordnung. Dem französischen Zivilrecht lagen nach Meinung der Rheinländer die Prinzipien der „modernen Staats- und Gesellschaftsordnung" 2 zugrunde. Im Code Napoléon kam das zum Ausdruck durch den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, die Gewährleistung der persönlichen Freiheit und der Unverletzlichkeit des Eigentums, der Unabhängigkeit des bürgerlichen Rechts von dem religiösen Bekenntnis (insbesondere im Eherecht) sowie durch den Wegfall der feudalen Institutionen (Fideikommisse, Lehen) sowie solcher Vereinbarungen, die eine dauernde Abhängigkeit von einem Grundstücksbesitzer haben würden. Hinzu kamen aus den anderen napoleonischen Kodifikationen 3 das öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren, die Einrichtung der Staatsanwaltschaft, die Geschworenengerichte, die Handelsgerichte, die Gewerbegerichte sowie das Notariat. Für die Beibehaltung des französischen Rechts sprach in der Vormärzzeit auch das Argument, dass dieses nicht spezifisch französischen, sondern vielmehr germanischen Ursprungs sei. Das Rheinland habe, so der Koblenzer Stadtrat 1826, nur das wie-

1 Zum Geltungsgebiet des Code civil am Vorabend des Inkrafttretens des BGB B. Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB, Bd. 1, 1899, S. 845 (für 6,7 Millionen Einwohner). 2 C. Crome, Allgemeiner Theil der modernen französischen Privatrechtswissenschaft, Mannheim 1892, S. 15; vgl. auch H.-J. Becker, in: JuS 1985, S. 340 ff. 3 Code de procédure civile, Code de commerce, Code pénal (hierzu Chr. Brandt, Die Entstehung des Code pénal und sein Einfluss auf die Strafgesetzgebung der deutschen Partikularstaaten des 19. Jhts. am Beispiel Bayerns und Preußens, Frankfurt a.M. 2002) und Code de procédure criminelle.

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der erlangt 4, was durch die Rezeption des römischen Rechts verdrängt worden sei. Die Stadt Düsseldorf verwahrte sich zu dieser Zeit gegen den Vorwurf des Unpatriotismus: Eine Gesetzgebung könne nur insoweit als fremd angesehen werden, als sie der Geschichte dieses Landes nicht angehöre, dabei den Neigungen und Bedürfnissen der Einwohner nicht entspreche und endlich das Land auf eine widernatürliche Weise von anderen Ländern scheide, was für das französische Recht nicht zutreffe. Dieses sei kein Erzeugnis der Revolution, vielmehr hätten im Gegenteil diejenigen Normen, „welche traurig verwüsteten Ländern nach verwirrenden Bewegungen Recht und Ordnung soweit wie möglich hergestellt, dem verderblichen Walten des Despotismus nicht ohne sichtbaren Erfolg die Spitze geboten"5. Es beruhe „wirklich auf einem gediegenen historischen Grund". Der Code Napoleon und die ihm zugrunde liegende Gesamtrechtsordnung entsprachen den sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Rheinländer, so dass er dort innerhalb kurzer Zeit heimisch geworden war. Bevor auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Code civil näher eingegangen wird, ist zunächst das Verbreitungsgebiet dieser Kodifikation näher zu umschreiben und anschließend die höchstrichterliche Judikatur zum französischen Recht vor Begründung des Reichsgerichts zu kennzeichnen.

I. Der Code Napoléon in der Rheinbundzeit Der Code Napoléon galt während der napoleonischen Zeit in folgenden Gebieten im wesentlichen unmodifiziert 6 : in den vier linksrheinischen Departementen (umfassend die Städte Zweibrücken, Mainz, Saarbrücken, Trier, Köln und Aachen), im Königreich Westphalen (Hauptstadt: Kassel), im Großherzogtum Berg, welches das ehemalige Herzogtum Berg (Düsseldorf, Elberfeld) sowie das heutige Ruhrgebiet umfasste, in den drei hanseatischen Departementen (Hamburg, Lübeck, Bremen, Osnabrück) sowie in den Departementen EmsOriental (seit 9.7.1810 bei Frankreich) und im Departement de la Lippe 4

W. Schubert, Der Rheinische Provinziallandtag und der Kampf um die Beibehaltung des französisch-rheinischen Rechts (1826-1845), in: R. Schulze (Hrsg.), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 132; vgl. auch K. F. Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution, Wiesbaden 1966, S. 110 ff. 5 W. Schubert, Der Rheinische Provinziallandtag, in: R. Schulze (Hrsg.), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, S. 132. 6 Hierzu F. Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, 2. Aufl., Göttingen 1978; W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln, Wien 1977, S. 70 ff. - Zum Kgr. Westphalen gehörten auch einige Gebietsteile des Königreichs Sachsen (sächsischer Anteil an Mansfeld, Ämter Gommern, Querfurt, Barby und Treffurt), die nach 1815 an Preußen kamen.

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(Münster/Westfalen). Allerdings hob man in den rechtsrheinischen Territorien nur die Leibeigenschaft und die Personalfronen sowie alle zeitlich unbestimmten Dienste auf 7. Dagegen blieben die Grundabgaben, die als Preis für die Überlassung des nutzbaren Eigentums zu betrachten waren, bestehen; in Westphalen blieb sogar das geteilte Eigentum unangetastet8. Baden übernahm zum 1.1.1810 den Code Napoléon „mit Zusäzen und Handelsgesetzen als Landrecht für das Großherzogthum Baden" 9 . Die Zusätze, aber auch die deutsche Übersetzung des Originals änderten den Code Napoléon in vielfältiger Weise ab: So blieb die feudale Bodenordnung in vollem Umfang bestehen. Ein Zusatzartikel zu Art. 340 Code Napoléon ließ zu, dass auch der Mann zum Vater eines nichtehelichen Kindes erklärt werden konnte, der „freiwillig geständig" war, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. LRS 1148 a beruhte für das Mitverschulden auf dem Grundsatz der Kompensation10: „Schuld ist gegen Schuld wettzuschlagen". Die LRS 1150a-c enthielten Bestimmungen über das Tatbestandsmerkmal der Voraussehbarkeit des Schadens in Art. 1150 Code Napoléon 11 . Die Schadensersatzpflicht wegen unerlaubter Handlung brachte unterschiedliche Regelungen für vorsätzliche und fahrlässige Taten. Insbesondere war in LRS 1382 a die entschädigungspflichtige Tat dahin umschrieben: „Jede unrechte That eines Menschen, welche einen Anderen beschädigt, verbindet den Thäter zur Entschädigung." In dem für Eugène Beauharnais bestimmten Großherzogtum Frankfurt führte Karl Theodor von Dalberg zum 1.1.1811 den Code Napoléon im Original zusammen mit der nicht sonderlich genauen Übersetzung von Erhard 12 ein. Aller7

Hierzu W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 362 ff. 8 Vgl. K. Rob, Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807-1813, München 1992, S. 116 ff. 9 Hierzu J. Federer, Beiträge zur Geschichte des Badischen Landrechts, in: Baden im 19. und 20. Jahrhundert, Karlsruhe 1948, S. 81 ff.; W. Andreas, Die Einführung des Code Napoléon in Baden, in: ZRG GA, Bd. 31 (119), S. 182 ff.; W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 209 ff; E. ¡Vadle, Rezeption durch Anpassung: Der Code Civil und das Badische Landrecht. Erinnerung an eine Erfolgsgeschichte, in: ZEuP 2004, S. 947 ff. 10 Hierzu F. Ferid, Das französische Zivilrecht, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1971, 2 B 100; D. Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1969, S. 116 ff. 11 Diese und die im Folgenden genannten Regelungen wichen vom französischen Recht ab; zu der dem französischen Recht fehlenden klaren Abgrenzung zwischen Das französische Zivilrecht, Bd. 2, 2. Rechtswidrigkeit und Schuld Ferid/Sonnenberger, Aufl. 1986, S. 460 f. 12 Hierzu P. Darmstädter, Das Großherzogtum Frankfurt, Frankfurt a.M. 1901; K. Rob, Regierungsakten des Primatialstaates und des Großherzogtums Frankfurt 1806-1813, München 1995; W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 292 f f

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dings waren wichtige Teile der Kodifikation modifiziert. Zwar wurde die obligatorische Zivilehe eingeführt, jedoch war eine Eheschließung nur möglich, wenn kein kirchliches Ehehindernis vorlag. Für die Ehescheidung von Katholiken waren weiterhin die kirchlichen Gerichte zuständig, da Dalberg „als letzter geistlicher Fürst" nicht „der erste Erzbischof 4 sein wollte, „der seiner Geistlichkeit einen tausendjährigen Vorzug entzieht" 13 . Zu Art. 530 Code Napoléon 14 kam eine Regelung über die Ablösung der Grundabgaben nicht mehr zustande; ebenfalls nicht eine dem Code Napoléon entsprechende Justizverfassung. Intensiv befassten sich mit den Voraussetzungen einer Einführung des Code Napoléon Hessen-Darmstadt und Nassau15. Jedoch wollte der für die Einführungsarbeiten zuständige Nassauische Jurist Ludwig Harscher von Almendingen die Übernahme des Code Napoléon solange wie möglich hinausschieben. Die wohl beste kodifikatorische Arbeit der Rheinbundzeit war der Entwurf zu einem „Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch für das Königreich Baiern" von 1808/0916, der im Wesentlichen auf den Vorschlägen von Paul Johann Anselm von Feuerbach 17 beruhte. Der bayerische König Maximilian IV. hatte mit der Aufnahme der Kodifikationsarbeiten dem Drängen Napoleons nachgeben wollen, seinen Code auch in Bayern 18 einzuführen. Feuerbach stellte in einem Bericht für das Justizministerium „über die Art der Einführung des Code Napoléon in einem deutschen Lande" 1808 als Hauptideen des Code Napoléon heraus19: Freiheit der Person; rechtliche Gleichheit der Untertanen; Gleichheit der Gesetze für alle Bürger des Staates; Freiheit des Eigentums sowie Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Staates von der Kirche zu allen bürgerlichen Dingen. Der Code Napoléon war für ihn ein Resultat der Französischen Revolu-

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P. Darmstädter, Das Großherzogtum Frankfurt, S. 239. Art. 530 Code Napoléon lautet in der Übersetzung von J. Cramer, Les cinq Codes. Die fünf französischen Gesetzbücher, Koblenz o.J.: „Jede Rente, die als Kaufpreis eines Grundstückes oder als Preis einer Bedingung der unter einem lästigen oder einem wohlthätigen Titel geschehenen Abtretung eines Immobiliarstückes für immer errichtet worden ist, ist ihrem Wesen nach ablösbar." 15 Hierzu U. Ziegler, Regierungsakten des Herzogtums Nassau 1803-1814, München 2001, S. 114 f f ; dies., Regierungsakten des Großherzogtums Hessen-Darmstadt 1802— 1820, München 2002, S. 252 ff.; W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 242 ff. 16 Neu hrsg. und ergänzt von W. Schubert, Frankfurt a.M. 1986. 17 Über Feuerbach C. Kleinheyer/J. Schröder, Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, Heidelberg, 4. Aufl. 1996, S. 126 ff. 18 Über Bayern in der Rheinbundzeit M. Schimke, Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern 1799-1815, München 1996, S. 238 ff. 19 Der Vortrag von Feuerbach ist enthalten in „Themis oder Beiträge zur Gesetzgebung", Landshut 1812, S. 3-69; vgl. auch ders., Naturrecht und positives Recht, Freiburg, Berlin 1993, S. 131 ff. (Vortrag von 1909). 14

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tion 20 : „Es war Zweck der französischen Gesetzgebung, einerseits die Revolution vollkommen zu beendigen, andererseits die wohlthätigen Resultate der Revolution zu verewigen". Wer die Grundideen eines Gesetzbuchs durch Modifikation zerstören wolle, töte „das wahrhaft geistige Leben desselben und macht den lebendigen Leib zum Leichnam. In der Modificationsretorte, auf welcher der unbequeme spiritus rector verflüchtigt werden sollte, bliebe zuletzt nicht mehr als ein caput mortuum zurück, welches kaum des Aufhebens Werth sein dürfte. Gerade diejenigen Theile der französischen Gesetzgebung, welche unseren bestehenden teutschen Grundsäzen widersprechen, sind dessen glänzendste Punkte". Als die Beratungen des Entwurfs im Geheimen Rat nahezu abgeschlossen waren, brachte 1809/10 die konservative Adelsopposition die Vorlage zu Fall. Der bayerische Entwurf stellt insbesondere wegen der von Feuerbach vorgeschlagenen Änderungen des Hypothekenrechts eine dem französischen Original durchaus ebenbürtige deutsche Fassung des Code Napoléon dar. Besondere Sorgfalt legte Feuerbach auf die sprachliche Fassung: Sofern eine Regelung des Code Napoléon beibehalten werden sollte, ging es ihm darum 21, das französische Original in eine „reine, durch keine Provinzialismen befleckte, deutsche Gesetzes-Sprache womöglich mit gleichen Vorzügen" zu übertragen. Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kommission häufig die Grenzen einer bloßen Übersetzung überschritten hat. Die wichtigste Änderung bestand darin, dass im Entwurf fast alle Spuren der französischen Justizverfassung getilgt waren. Modifiziert war auch Art. 530 Code Napoléon dahin, dass die Ablösung immerwährender Grundrenten nur im Einverständnis beider Parteien zulässig sein sollte. Dem Erbrecht lag die Erbfolgeordnung des österreichischen Rechts22 zugrunde. Das vom Code Napoléon fast vollständig übergangene Besitzrecht war in einem eigenen Kapitel geregelt.

II. Die Weitergeltung des Code Napoléon (Code civil) in den linksrheinischen Gebieten und in Baden Der Code Napoléon wurde in fast allen rechtsrheinischen Gebieten nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft außer Kraft gesetzt und blieb zusammen mit den vier weiteren napoleonischen Kodifikationen nur in der preußischen Rheinprovinz (einschließlich des rechtsrheinischen Düsseldorf und der Gebiete 20 A. v. Feuerbach, Themis oder Beiträge zur Gesetzgebung, S. 12; das folgende Zitat S. 14 f. 21 Feuerbach nach dem Staatsratsprotokoll vom 21.1.1809 (Bayr. HStA München, Staatsrat 9). 22 Vgl. Edikt Joseph III. über die gesetzliche Erbfolge vom 11.5.1786 (Vollständige Sammlung aller ... höchsten Verordnungen und Gesetze, Bd. 6, Wien 1788 f f , S. 179 ff.); Art. 726 ff. bayr. Entwurf von 1808.

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des ehemaligen Herzogtums Berg), in Rheinhessen (Mainz) und in der bayerischen Rheinpfalz (Zweibrücken) sowie in Baden in der Fassung des „Landrechts" bis 190023 bestehen. Das Landrecht stellt eine mitunter den Code Napoléon abändernde deutsche Übersetzung des Code Napoléon mit über 500 Zusätzen dar. Lediglich in Preußen war es zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen der rheinischen Bevölkerung und der preußischen Ministerialbürokratie über die Beibehaltung des französischen Rechts gekommen24. Mit Hilfe des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. erreichten es die Rheinländer, dass die Abschaffung des Code Napoléon von der Revision des preußischen Strafund Zivilrechts 25 abhängig gemacht wurde, die jedoch in der Folgezeit nicht zustande kam. Für Rheinhessen und Rheinbayern kam es zu garantieähnlichen Erklärungen der Landesherren, das französische Recht vorerst nicht anzutasten. In der Vormärzzeit bekamen unter dem Frühliberalismus der Code Napoléon und die weiteren Institutionen des französischen Rechts Modellcharakter für soziale und institutionelle Reformen. Während der Rheinbundzeit hatten zahlreiche deutsche Juristen und Publizisten die Einführung des Code Napoléon gefordert 26, dessen Grundentscheidungen nach Meinung einiger Autoren modifiziert werden sollten. Nach der Niederlage Napoleons spielte die Verwirklichung der Rechtseinheit in Frankreich durch den Code Napoléon und die weiteren vier Kodifikationen in der deutschen, insbesondere von Thibauts Programmschrift bestimmten Rechtsvereinheitlichungs-Diskussion als Vorbild eine erhebliche Rolle 27 , wenn auch der Code Napoléon inhaltlich nicht allenthalben Zustimmung fand. Thibauts Forderung nach einem Nationalgesetzbuch, welches die deutsche Rechtseinheit stärken und symbolisieren sollte, stieß - anders als die Ablehnung einer Zivilrechtskodifikation durch Savigny - auf breite Zustimmung. Der sog. Kodifikationsstreit war kein bloßer Gelehrtenstreit, sondern eine rechts- und verfassungspolitische Kontroverse, aus der Savigny keineswegs als Sieger

23 Einzelheiten bei W. Schubert, Das französische Recht in Deutschland zu Beginn der Restaurationszeit, in: ZRG GA, Bd. 94 (1977), S. 134 ff. 24 Hierzu H.-J. Becker, Das Rheinische Recht und seine Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: JuS 1985, S. 338 ff.; E. Landsberg, Die Gutachten der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission und der Kampf um die rheinische Rechts- und Gerichtsverfassung 1814-1819, Bonn 1914 (Nachdruck Düsseldorf 2000); W. Schubert, Das französische Recht in Deutschland zu Beginn der Restaurationszeit, in: ZRG GA, Bd. 94 (1977), S. 154 ff. 25 Hierzu W. Schubert/J. Regge, Gesetzrevision (1825-1848), Bd. I 1, Vaduz 1981, Einleitungen der Herausgeber. 26 W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 47 ff., 312 ff. 27 C. Schöler, Deutsche Rechtseinheit. Partikulare und nationale Gesetzgebung (1780-1866), Köln, Weimar, Wien 2004, S. 88 ff.

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hervorging. In der Vormärzzeit (1840-1847) und mit der Revolution von 1848/49 erreichte der Einfluss des französischen Rechts als eines gesellschaftspolitischen Emanzipationsmodells seinen Höhepunkt. Im Abschnitt der Frankfurter Verfassung über die Grundrechte des Deutschen Volkes war festgelegt, dass „die bürgerliche Gültigkeit der Ehe nur von der Vollziehung des Civilactes abhängig" sei; die kirchliche Trauung könne nur nach der Vollziehung des „Civilactes" stattfinden 28. Die Standesbücher sollten von den „Bürgerlichen Behörden" geführt werden. Nach § 168 waren, wie nach Art. 530 Code Napoléon, „alle auf Grund und Boden haftenden Abgaben und Leistungen, insbesondere die Zehnten" ablösbar. Hätte Deutschland zu dieser Zeit eine Zivilrechtskodifikation erhalten, so wäre diese zumindest im Familien- und Personenrecht stark vom Code Napoléon beeinflusst gewesen. Besondere Wertschätzung genoss vor allem der Familienrat des Code Napoléon 29 , welcher der Familie die Mitwirkung in Vormundschaftssachen ermöglichte. Weniger Anklang fanden dagegen die Schlechterstellung der Ehefrau im Ehescheidungsrecht und das Verbot des Art. 340 Code Napoléon, den nichtehelichen Vater zu ermitteln (sog. Verbot der recherche de la paternité). Auch die erbrechtliche Zurücksetzung der überlebenden Ehefrau war Gegenstand umfangreicher Kritik wie auch das System des französischen Erbrechts 30. Auf wenig Verständnis stieß auch der unmittelbare Eigentumsübergang durch Abschluss des obligatorischen Vertrags und das Fehlen eines Hypotheken- bzw. Grundbuchs auf der Basis der konstitutiven Wirkung der Bucheintragungen. Die Verwurzelung des Code Napoléon im deutschen Rechtsleben ist vor allem der Judikatur insbesondere der partikularen Mittel- und Obergerichte für Rheinpreußen, Rheinbayern und die Rheinpfalz zu verdanken. Vorausgegangen war die Etablierung einer an Innerfrankreich orientierten Rechtsprechung zum Code Napoléon in den vier rheinischen Departementen, für welche als Berufungsgericht die mit französischen und deutschen Juristen besetzte Cour impériale in Trier 31 zuständig war. Erst die Gewöhnung der rheinischen Richter-

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Zitiert nach E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961. 29 Chr. Rachel, Die Diskussion um den französischen Familienrat in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994; W. Schubert, Der Code civil und die Personenrechtsentwürfe des Großherzogtums Darmstadt von 1841-1847, in: ZRG GA, Bd. 88 (1971), S. 144 ff. 30 Einzelheiten bei W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 505 ff. 31 Über dieses Gericht N. Petzelt, in: Influence du modèle judiciaire français en Europe sous la Révolution et l'Empire, Lille 1999, S. 255 ff. und demnächst in ihrer Dissertation; zur familien- und erbrechtlichen Judikatur des Trierer Gerichts W. Schubert, Die Rechtsprechung der Trierer Cour d'appel in Familien- und Erbrechtssachen nach den Urteilssammlungen von Johann Birnbaum, in dem von B. Dölemeyer und H. Mohn-

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schafit an die französische Rechtskultur ermöglichte es dem Kölner und dem Zweibrückener Appellationsgerichtshof, den eigentlichen Nachfolgern des Trierer Gerichts, die französische Urteilspraxis im Rheinland und in der Rheinpfalz während der napoleonischen Zeit fortzufuhren und zum Teil eigenständig weiterzuentwickeln. Letzte Instanz für die preußische Rheinprovinz war der 1819 begründete Revisions- und Kassationshof (RKH) in Berlin 32 , der mit Juristen rheinischer und altpreußischer Herkunft besetzt war. Nach Meinung der preußischen Ministerialbürokratie stellte dies das beste Mittel dar, „die Vorurtheile für und gegen die Altpreußische und Rheinländische Justizverfassung zu berichtigen und die Entscheidung darüber sowohl der öffentlichen Meinung als auch der Regierung zu begründen." Insgesamt hat der RKH diese ihm zugedachte Funktion voll erfüllt und die Rezeption insbesondere der französischen Gerichtsverfassung und des französischen Prozesses durch die preußische Gesetzrevision 33 maßgeblich gefördert, wenn dies auch von den an der Gesetzgebung Beteiligten vielfach verschleiert wurde. Über die Urteilspraxis zum Code Napoléon liegen bisher keine detaillierten Untersuchungen vor. Von 1852 an nahm die Funktion des RKH ein Senat des Berliner Obertribunals bis 1879 wahr. In Rheinbayern war seit 1816 der Kassationsgerichtshof in Zweibrücken mit dem dortigen Appellationsgericht vereinigt 34 , dem bis 1824 Georg Friedrich Rebmann und von 1824-1832 Johann Birnbaum vorstanden. Wie der preußische Revisions- und Kassationshof konnte auch der Zweibrückener Gerichtshof in Abänderung des französischen Kassationsrechts in der Sache selbst entscheiden. Auch die Zweiteilung des Verfahrens (Zulassung der Kassation und materielle Entscheidung über diese) hatten der bayerische wie auch der preußische Gesetzgeber nicht übernommen. Die liberale Justizpolitik Bayerns änderte sich nach der französischen Julirevolution 1830 und dem Hambacher Fest im Mai 1832. Fast die Hälfte der Richter (sechs von dreizehn) schieden aus dem pfälzischen Oberappellationsgericht aus; alle neuen Richter, die in der Handhabung des französischen Prozesses völlig unerfahren waren, kamen aus Altbayern. Darüber hinaus wurde zum Dezember 1832 der Kassationshof nach München verlegt und an das dortige Oberappellationsgericht angebunden, eine Maßnahme, die bis 1879 andauerte. Die Urteilspraxis der bayerischen Kassationsgehaupt hrsg. Tagungsband: „Richterliche Anwendung und Umsetzung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs", Frankfurt a.M. 2005. 32 Zu diesem Gericht G. Seynsche, Der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin (1819-1852). Ein rheinisches Gericht auf fremdem Boden, Berlin 2003; Zitat S. 84 f. 33 Zu dieser die Edition von W. Schubert/J. Regge, Gesetzrevision (1825-1848). 34 Hierzu und zum Folgenden B. C. Fiedler, Der rheinbayerische Kassationsgerichtshof von seiner Errichtung bis zur Verlegung an das Oberappellationsgericht zu München, Frankfurt a.M. 2004.

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richtsbarkeit ist bis jetzt, von wenigen Hinweisen in der Literatur abgesehen, ebenfalls noch nicht untersucht worden. Gleiches gilt für den Kassationsgerichtshof in Darmstadt für Rheinhessen (seit 1818). Das Reichsoberhandelsgericht, das am 5.8.1870 zunächst als Bundesoberhandelsgericht ins Leben getreten war, befasste sich mit dem Code civil im Rahmen der seiner Zuständigkeit unterliegenden Handelssachen. Durch Gesetz vom 14.6.1871 trat es als Oberster Gerichtshof für Elsaß-Lothringen an die Stelle des Kassationshofs in Paris 35.

I I I . Das Reichsgericht als letztinstanzliches Gericht in französischrechtlichen Zivilsachen Die Vereinheitlichung der letztinstanzlichen Judikatur zum französischen Zivilrecht erfolgte durch das am 1.10.1879 eröffnete Reichsgericht. Nach § 511 CPO konnte die Revision nur darauf gestützt werden, „dass die Entscheidung auf der Verletzung eines Reichsgesetzes oder eines Gesetzes, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk eines Berufungsgerichts hinaus erstreckt, beruhe". Damit wäre das Badische Landrecht nicht revisibel gewesen. Jedoch bestimmte § 6 EGGVG, dass eine Kaiserliche Verordnung bestimmen konnte, dass die Verletzung von Gesetzen, obgleich deren Geltungsbereich sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt, die Revision begründe. Dies erfolgte durch eine Verordnung vom 28.9.187936, nach deren § 7 die Revision begründet wurde durch Verletzung des Badischen Landrechts einschließlich der Zusatzartikel und der Einführungsedikte von 1809. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das Eheschließungsrecht des Code civil durch das Personenstandsgesetz von 187537 außer Kraft gesetzt worden war. Die deutsche Literatur zum französischen Zivilrecht um 1880 ist bestimmt durch das von Zachariä begründete „Handbuch des französischen Civilrechts", bis 1837 von ihm selbst bearbeitet, anschließend 1843 von Anschütz, 1875 von Puchelt, 1886 von Dreyer und 1894/95 von Carl Crome. Außer dem Lehrbuch von Zachariä sind noch zu erwähnen die Darstellungen des französischen Rechts von Bauer, Bauerband, Dreyer, Frey und Thibaut; heute noch lesenswerte Darstellungen zum französischen Familien- und Personenrecht stammen von Barazetti und für zahlreiche Einzelfragen von Josef Kohler. Die Lehrbücher orientierten sich am römischen Recht und an der französischen Judikatur.

35 Hierzu A. Weiss, Die Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts in Strafsachen, Marburg 1997. 36 RGBl. 1879, S. 299. 37 RGBl. 1875, S. 23 ff.; zur Entstehung des Gesetzes W. Schubert, Zur Vorgeschichte und Entstehung der Personenstandsgesetze Preußens und des Deutschen Reichs (1869-1875), in: ZRG GA, Bd. 97 (1980), S. 43 ff.

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Kennzeichnend war vor allem die „selbstständige Lösung eines Problems aus allgemeinen Rechtsprinzipien" 38. Auf der anderen Seite waren es Kohler und Barazetti, die nach der Reichsgründung durch Einzeldarstellungen den Anschluss an die neuere französische Rechtsdogmatik herstellten. Im Übrigen verfügten die Obergerichte im Geltungsbereich des Code civil bzw. des Badischen Landrechts wie auch das Reichsgericht über die wichtigste französische Literatur zum Code civil und deren Judikatur. Ferner unterrichtete die 1871 gegründete „Zeitschrift für französisches Zivilrecht" umfassend auch über die französische, belgische und später auch die italienische Zivilrechtsjudikatur und über die wichtigsten französischen Neuerscheinungen. Allerdings zeigt die Reichsgerichtsjudikatur, wie Bürge kürzlich nachgewiesen hat 39 , dass der deutsche Richter, der nicht in Frankreich studiert bzw. dort eine längere Ausbildungsstation durchlaufen hat, „selbst bei guter Dokumentation das Atmosphärische nur schwer zu erfassen vermag und daher anders urteilt, als es der ausländische Richter in seiner eigenen Ordnung tun würde und tun müsste." Nach der Geschäftsverteilung vom 27.9.1879 waren dem II. Zivilsenat des Reichsgerichts, dem später sog. Rheinischen Senat, zugewiesen die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten aus den OLG-Bezirken Köln, Colmar, Karlsruhe und des LG Mainz 40 . Dem Senat gehörten bis 1889 neben Juristen des rheinischfranzösischen Rechts auch gemeinrechtliche und landrechtliche Juristen an 41 . Ab 1890 war der Senat ausschließlich mit Richtern besetzt, die mit dem französischen Recht vertraut waren. Die profiliertesten Juristen kamen aus Baden bzw. Elsaß-Lothringen wie Puchelt und Dreyer. Den Senatsvorsitz hatte der herausragende Badische Jurist Adrian Bingner von 1879 bis zu seinem Tode 1902 inne. Bingner 42 , der den rheinischen Zivilsenat mithin 23 Jahre leitete, gehörte zu den angesehensten Mitgliedern des Reichsgerichts. „Seine formelle Gewandtheit", so schreibt sein Biograph H. Dietz, „war unübertroffen; er beherrschte die Technik und den Mechanismus des Rechts. Sein scharfer, praktischer Blick drang in alle Lebensverhältnisse, das ganze Rüstzeug wissenschaftlicher Bil-

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D. Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts,

S. 41. 39

A. Bürge, Der Arrêt Boudier von 1892 vor dem Hintergrund der Entwicklung des französischen Bereicherungsrechts im 19. Jahrhundert, in: Privatrecht in Europa. Vielfalt, Kollision, Kooperation. Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger zum 70. Geburtstag, München 2004, S. 1, 17. 40 Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts (Sonderheft des Sächsischen Archivs für Deutsches Bürgerliches Recht), Leipzig 1904, S. 88 ff. 41 Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts, S. 82. 42 Zu Bingner J. Federer, NDB, Bd. 2 (1955), S. 248; H. Dietz, Badische Biographien, Teil 6 (1935), S. 109 ff.; Zitat S. 111 f.

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dung und einer umfassenden Gesetzeskenntnis stand ihm in jedem Augenblick zur Verfügung; mit seltener Leichtigkeit entwirrte er den verwickeltsten Prozessstoff und traf mit Sicherheit den entscheidenden Punkt. Talent und Übung machten ihn zu einem vorbildlichen Leiter der Verhandlung und Diskussion. Er vereinigte all die seltenen Eigenschaften, welche das schwierige Amt des Vorsitzes erforderte. Eine schöne Erscheinung, war er in seiner ruhigen, vornehmen Würde das Muster eines Präsidenten". Bingner, 1830 in Karlsruhe geboren (als Sohn eines Stempelpapierverwalters), war nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und Berlin sowie umfassenden Bildungsreisen nach Frankreich (hier dreimonatige Tätigkeit bei einem avoué), England, Belgien und Italien 1852 in den badischen Justizdienst eingetreten (1861 Amtsrichter in Heidelberg). 1865 kam er in das Justizministerium in Karlsruhe und arbeitete hier mit an der Durchführung der badischen Justizorganisation und gesetzgebung, die auch für die Reichsjustizgesetze vorbildlich war. Nach der Reichsgründung war er als Mitglied der StPO-Kommission des Bundesrates an der Vereinheitlichung und Reform des deutschen Strafprozessrechts beteiligt. Von ihm stammen die Ausführungsgesetze zum StGB (1871) und zu den Reichsjustizgesetzen (1879) für Baden. Zeitlebens dem Liberalismus verbunden, verfügte Bingner über umfassende juristische und historische Kenntnisse, wie seine einflussreichen und detaillierten Gutachten zu den BGB-Entwürfen zeigen. Als Befürworter der deutschen Rechtseinheit trat er allerdings nur in sehr beschränktem Umfang für die Übernahme französischen Rechts in das BGB ein, für das man in Baden - so ein Gutachten des Justizministeriums von 187243 - „nirgends eine Vorliebe" hatte: „Man hat es stets mit Missbehagen erkannt, dass es nicht ein Erzeugnis deutschen Rechtsbewusstseins ist, dass eine selbstständige wissenschaftliche Ausbildung des Code civil als badisches Particularrecht unmöglich, vielmehr auch die Entwicklung des Rechts vorzugsweise auf fremde Quellen hingewiesen ist, während das deutsche Recht und seine Fortschritte als fast fremdartige Producte gegenüberstehen. Wegen dieses unnatürlichen Verhältnisses wird man in Baden das fremde Recht gerne hingeben". Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Bingner in seiner Kritik am 2. BGBEntwurf 44 weder das französische Konsensprinzip gegen den Abstraktions- und Trennungsgrundsatz des gemeinen Rechts noch das französische Deliktsrecht verteidigte. Nur in wenigen Vorschlägen empfahl er die Berücksichtigung des französischen Rechts. So sollte etwa die Wirksamkeit einer Zession entspre-

43 K. Muscheler, Die Rolle Badens in der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Berlin 1993, S. 19 f. 44 Vgl. A. Bingner, Bemerkungen zu dem zweiten Entwürfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Sächs. A. Bd. 1 (1891), S. 81 ff., 112 ff.; Bd. 3 (1893), S. 270 ff.; Bd. 4 (1894), S. 385 ff.; Bd. 5 (1895), S. 77 ff., 593 ff.

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chend Art. 1690 Code civil von deren schriftlicher Mitteilung an den Schuldner abhängig sein. Ferner setzte er sich für die Möglichkeit einer Konventionalscheidung und einer Ehescheidung wegen Geisteskrankheit ein. Das handschriftliche Testament wollte er dagegen nur in beschränktem Umfang gelten lassen. Vom französischen Recht her ist seine Skepsis gegenüber den weiten Möglichkeiten hinsichtlich der Vor- und Nacherbschaft zu sehen. Nicht nur bis zum Inkrafttreten des BGB, sondern auch noch zwischen 1900 und 1907 ergingen zahlreiche Entscheidungen des II. Zivilsenats zum Code civil 4 5 , der weiterhin zuständig blieb für die noch nach dem französischen Recht zu entscheidenden Zivilsachen. Darüber hinaus galten Teile des Code civil als partikularrechtliche Sonderregelung weiter, so insbesondere die nachbarrechtlichen Bestimmungen, zu denen das Nachschlagewerk des Reichsgerichts noch für 1939 eine wichtige Entscheidung (RGZ 162, 209) nachweist46. Senatsvorsitzender wurde nach dem Tod von Bingner 1902 Richard Förtsch, der zwar aus dem landrechtlichen Gebiet kam, aber 1871 in den Justizdienst von ElsaßLothringen versetzt wurde 47 . Zunächst war er am Landgericht Metz und am OLG Colmar tätig; von 1882 bis 1890 arbeitete er im Ministerium für ElsaßLothringen. 1890 kam er als Rat an das Reichsgericht. Förtsch gab mehrere Sammlungen der in Elsaß-Lothringen geltenden Gesetze sowie eine vergleichende Darstellung des Code civil und des BGB (1897/99) heraus, hatte sich also auch umfassende Kenntnisse des französischen Rechts angeeignet.

IV. Die französischrechtliche Judikatur des II. Zivilsenats am Beispiel familien- und schuldrechtlicher Problembereiche Die Entscheidungen des Rheinischen Zivilsenats zum Code civil sind zwar sämtlich erhalten geblieben, aber bisher nur zum Teil veröffentlicht und ausgewertet worden. Die folgende Untersuchung beschränkt sich auf einige grundlegende Fragen des Familienrechts (Ehescheidung; Stellung des nichtehelichen Kindes) und des Deliktsrechts, auf das Kaufrecht und auf den Art. 1184 Code Napoléon, der eine Vertragsauflösung bei jeder erheblichen Vertragsverletzung zuließ. Die Beispiele sollen zeigen, dass das Reichsgericht einerseits wie im Eherecht und im Kaufrecht das Potential des Code civil voll ausschöpfte, ande-

45 Diese Entscheidungen sind nachgewiesen in der Sammlung sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen (1900-1914), hrsg. v. W. Schubert, Goldbach 1992-2002. 46 Vgl. W. Schubert/H. P. Glöckner, Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Preußisches Landesrecht, Goldbach 1998, S. 249. 47 Hierzu W. Schubert, in: Sammlung sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 2 (1902), Goldbach 1993, S. 3.

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rerseits in einigen Bereichen die Ergebnisse der französischen Judikatur zurückwies. 1. Die französischen Gerichte gewährten nach anfänglichem Schwanken einer während der Verlobungszeit geschwängerten Braut einen Schadensersatzanspruch auch für die Kosten, die für den Unterhalt des Kindes notwendig waren 48 . Voraussetzung war allerdings, dass die Mutter des Kindes durch Täuschung oder Verführung zum Beischlaf veranlasst worden war. Nach Meinung der französischen Jurisprudenz stand dem Anspruch auf Schadensersatz nicht Art. 340 Code Napoléon entgegen, nach welchem die recherche de la paternité nicht zulässig war. Denn es handelte sich nicht um die Feststellung des Rechtsverhältnisses der Vaterschaft zwischen dem möglichen Vater und dem von der Mutter geborenen Kind, sondern um eine Entschädigungsklage der Mutter gegen den wortbrüchigen früheren Verlobten, die auf eine widerrechtliche Handlung i.S. des Art. 1382 Code civil gestützt wurde. Das Reichsgericht folgte der französischen Judikatur, bis es sich in einer Entscheidung vom 25.10.189249 der gegenteiligen Judikatur der rheinpreußischen Gerichte anschloss. Allerdings hatte in der rheinpreußischen Streitsache von 1892 der Beklagte die Vaterschaft bestritten. Das Reichsgericht gab in den Urteilsgründen zu, dass es bei betrüglicher Verleitung der Mutter zum Beischlaf sich bisher der französischen Rechtsprechung angeschlossen habe. Eine nochmalige Prüfung dieser Frage habe jedoch zu dem Resultat geführt, „daß das RG die früher gutgeheißene rechtliche Anschauung nicht festhalten kann, sondern als die Meinung des Gesetzes aussprechen muß, daß auch in den vorerwähnten Fällen der betrüglichen Verleitung die Untersuchung der Vaterschaft dem Richter untersagt ist, daß also Art. 340 eine allgemeine Bedeutung hat, welche nicht lediglich ... auf die Feststellung des Paternitätsverhältnisses zwischen Vater und Kind beschränkt werden darf, sondern daß er überall anzuwenden ist, wo in einem Civilprozesse die Untersuchung der Vaterschaft in Frage kommt, gleichviel zu welchem Zwecke sie erfolgen und von wem die Klage, welche zu dieser Untersuchung Veranlassung geben kann, angestellt sein möge." Begründet wurde die Rechtsmeinung mit einem Hinweis auf die Verhandlungen im Staatsrat. Das Verbot sei „ohne alle Einschränkung gegeben und gehört der öffentlichen Ordnung an". Diese Anschauung sei anfangs auch von den französischen Gerichten geteilt worden, von der man aber aus „Gründen der Billigkeit" abgewichen sei. Ob die Unterschiede zwischen der französischen und der Reichsgerichtsjudikatur allein auf eine unterschiedliche Auslegungspraxis zurückzuführen sind, dürfte fraglich sein. Möglicherweise spielte auch eine Rolle, dass der E I die in § 1572 normierte Mehrverkehrseinrede vorsah, die der zurückge48 K. S. Zachariä von Lingenthal/C. Crome, Handbuch des Französischen Civilrechts, 8. Aufl., Freiburg 1894-1895, Bd. 2, S. 762 (§ 414 Fn. 14). 49 RGZ 30, S. 311-315; die folgenden Zitate S. 313.

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tretene Verlobte hier der Sache nach geltend machte. Hinzu kam noch, dass die aus Rheinpreußen kommenden Richter im II. Senat eine starke Stellung gehabt haben dürften. 2. Da nach französischem Recht eine Anfechtung der Ehe wegen arglistiger Täuschung oder wegen Irrtums über eheerhebliche Eigenschaften des anderen Partners ausgeschlossen war, unternahmen getäuschte Ehepartner mitunter den Versuch, die Auflösung der Ehe über eine Scheidung nach Art. 231 Code civil wegen „injures graves" zu erreichen. Sie konnten sich hierzu auf einige Stimmen in der Literatur berufen wie Duranton und Demolombes50. Begründet wurde dies von der Revision in einer badischen Ehescheidungssache damit 51 , „das an sich höchst tadelnswerte Benehmen der Beklagten habe seine Wirkung hauptsächlich nach dem Eheabschlusse geäußert, und auch als Ehefrau habe sie die Täuschung fortgesetzt, indem sie den Kläger im Glauben ließ, er habe sie geschwängert. Darin liege eine grobe Verletzung des Sittengesetzes, eine Missachtung der ehelichen Pflichten, also auch eine schwere Beleidigung des Ehemannes, die alle Merkmale einer groben Verunglimpfung i.S. von LRS 231 habe". Das Reichsgericht stellte demgegenüber fest, auch wenn man in der Ehe nicht lediglich einen Vertrag des bürgerlichen Rechts sehe, so könnten „die besonderen Pflichten, welche die Ehe auferlegt, erst nach deren Abschluss entstehen, also auch nicht vorher verletzt werden". Danach habe der Art. (Satz) 231 die Tendenz, „nur das, was zwischen den Eheleuten, d.h. nach dem Eheabschlusse vorgefallen ist, zu berücksichtigen". Das Reichsgericht wies die Revision des Klägers zurück mit der Begründung, die schwere Täuschung, welche die Beklagte gegen den Kläger verübt habe, falle in die frühere Zeit und könne unmöglich als Verletzung der durch die Ehe übernommenen Pflichten angesehen werden, weil damals die Ehe noch nicht bestanden habe. Das Stillschweigen der Beklagten könne daher nicht als eine „nach dem Eheschlusse zugefügte schwere Beleidigung des Ehemannes" erachtet werden. Nach Art. 180 Code civil konnte eine Ehe als nichtig nur angefochten werden, wenn sich der eine Ehegatte in der Person des Anderen geirrt hat. Das Reichsgericht entschied sich am 4.6.1889 52 entgegen einer in der französischen Literatur verbreiteten Ansicht für eine enge Auslegung dieser Norm. Die Klage des Ehemannes stützte sich auf die nicht mehr streitige Behauptung, „die Beklagte sei zur Zeit der Eheschließung von einem anderen Manne schwanger gewesen und Kläger habe sich in dem nach Art. 180 des bürgerl. Gesetzbuches 50

Hierzu C. Barazetti, Das Eherecht mit Ausschluss des ehelichen Vermögensrechts nach dem Code Napoléon und dem Badischen Landrecht, Hannover 1895, S. 167 ff.; K. S. Zachariä von Lingenthal/C. Crome, Handbuch des Französischen Civilrechts, Bd. 3, S. 101 (Fn.). 51 RGZ 11, S. 351-354 (Entscheidung vom 9.5.1884); hieraus die folgenden Zitate. 52 RGZ 23, S. 332 f f ; Zitat S. 333.

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die Ungültigkeitserklärung rechtfertigenden Irrthume über die ausschlaggebende, nach dem sittlichen Charakter der Ehe vorauszusetzende Eigenschaft der geschlechtlichen Unbescholtenheit seiner Braut befunden". Die klageabweisende Entscheidung nennt zwar keine Literaturstellen, jedoch hatten die Richter die Materialien zum Code Napoléon herangezogen. Mit dieser Rechtsprechung folgte das Reichsgericht der strengen französischen Judikatur und nicht der deutschen Rechtsentwicklung53, nach welcher eine Eheanfechtung wegen Irrtums über eheerhebliche Eigenschaften möglich war. 3. Die Judikatur zum Scheidungsrecht war stärker als bei anderen Rechtsgebieten auf sich selbst verwiesen, da die Ehescheidung in Frankreich zwischen 1816 und 1884 unzulässig54 und die Rechtsprechung zur Trennung von Tisch und Bett wenig umfangreich war. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts nehmen die injures graves, der wohl häufigste Scheidungsgrund, einen breiten Raum ein, ohne dass eine detaillierte Auseinandersetzung mit der französischen Literatur und Judikatur stattfindet. Im November 1884 stellte es fest 55 , dass der Begriff der groben Verunglimpfung weder die Absicht einer Ehrenkränkung noch eine feindselige Gesinnung voraussetze. Auch eine besondere „Geflissentlichkeit" sei nicht notwendig 56 , so dass auch im Zustand der Trunkenheit verübte Beleidigungen sich als hinreichend erweisen könnten. Wurde die Ehescheidungsklage darauf gestützt, dass der andere Ehegatte den klagenden Teil in Gegenwart Anderer eines unsittlichen Verhältnisses beschuldigt habe57, so genügte zur Ehescheidung nicht die einfache Tatsache, „dass der gegnerische Gatte dieses Verhältnis nicht erweisen konnte; vielmehr war auch zu prüfen, ob nicht subjektiv der beklagte Teil der Meinung sein konnte, dass ein solches Verhältnis bestehe und ob er nicht solchen Falls in Berücksichtigung der Persönlichkeiten, gegenüber welchen er seinen Verdacht kund gab, und seiner leidenschaftlichen Aufregung, ungeachtet der objektiven Schwere seiner Vorwürfe, als entschuldigt gelten kann". Persönliche Reizbarkeit und vorübergehende fremde Einflüsse, die Veranlassung zu ehelichem Streit und Beleidigungen gaben, konnten „bei der Beurteilung der Schwere der Beleidigungen und in ihrer Eigenschaft als Scheidungsgründe" nach richterlichem Ermessen mitberücksichtigt und zugunsten des beschuldigten Teils verwertet werden 58. Injurien 53 Vgl. ALR II 1 § 40 ff. (auch G. Planck, in: W. Schubert [Hrsg.], Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines BGB, Familienrecht, Bd. 1, Berlin 1983, S. 357 ff.). 54 E. Holthöfen in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III 3, München 1982, S. 957 ff. 55 Zeitschrift für französisches Zivilrecht (hrsg. von E. S. Puchelt) [Rhein. Zeitschrift], Bd. 16, S. 188 ff. 56 Rhein. Zeitschrift Bd. 27, S. 232 (Urteil vom 20.9.1895). 57 Rhein. Zeitschrift Bd. 27, S. 519 (hessische Sache). 58 Rhein. Zeitschrift Bd. 28, S. 84 ff. (30.10.1896).

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mussten nicht unbedingt wörtliche Beleidigungen darstellen; auch ein böswilliges Verlassen (im Code Napoléon im Gegensatz zum BGB kein eigener Scheidungsgrund) konnte als grobe Beleidigung erscheinen: etwa, wenn eine Ehefrau sich weigerte, zu ihrem Ehemann zurückzukehren, mit dessen Zustimmung sie an einen anderen Ort, der Heimat ihrer Eltern, gereist war, wohin der Ehemann auch die zu ihrem Lebensunterhalt erforderlichen Geldmittel geschickt hatte. Nach Art. 232 Code civil war die Verurteilung eines Ehegatten zu einer peine infamante ein absoluter Scheidungsgrund. Nach dem Tatbestand einer vom Reichsgericht entschiedenen Ehescheidungssache war der Ehemann wegen Meineides zu einer Zuchthausstrafe von fünf Jahren verurteilt worden 59 . Das Reichsgericht untersuchte ausführlich, beginnend mit dem Code pénal von 1791, den Staatsratsverhandlungen und den Reden im Tribunat, was unter einer peine infamante zu verstehen war. Danach hatte nur die Strafe einen entehrenden Charakter, die durch die vorgeschriebene Ausstellung bzw. öffentliche Brandmarkung des Verurteilten auch äußerlich hervortrat. Im Gegensatz zum preußischen StGB hatte das RStGB ,jedes System von Strafen", welche den Verlust der bürgerlichen Ehre nach sich ziehen, verworfen und ferner den Grundsatz anerkannt, dass die Ehrenfolgen einer strafbaren Handlung nicht von Rechts wegen mit einer bestimmten Strafart zu verbinden seien, deren Verhängung vielmehr, „weil es gerade hier auf die individualisierende Würdigung der Tat und des Täters ankomme, dem Ermessen des Richters zu überlassen" sei. Damit war für die Anwendung des Art. 232 Code civil die Grundlage entfallen, so dass es nunmehr der Landesgesetzgebung oblag, diese Lücke zu füllen. Während dies für Rheinhessen und Baden geschehen war, fehlte für Rheinpreußen eine entsprechende Gesetzesbestimmung. Nach Art. 230 Code Napoléon konnte die Ehefrau wegen Ehebruchs des Mannes auf Ehescheidung klagen, „lorsqu'il aura tenu sa concubine dans la maison commune" 60 , während dem Mann wegen eines Ehebruchs der Frau die Ehescheidung uneingeschränkt zustand. Diese Benachteiligung der Ehefrau, die in Deutschland als unangemessen angesehen wurde, führte zu einer großzügigen Interpretation des Art. 230. Danach konnte ein ehemännlicher Ehebruch, der nicht unter den Tatbestand des Art. 230 fiel, „nach den besonderen Umständen des Falles eine grobe Verunglimpfung" darstellen 61. Dies sei insbesondere dann anzunehmen, wenn „das jahrelang fortgesetzte ehebrecherische Verhältnis des Beklagten mit der in der Nähe der ehelichen Behausung wohnenden 59

RGZ 15, S. 314 (Urteil vom 6.10.1885). In Frankreich war dieser Passus mit Gesetz vom 27.7.1884 entfallen (vgl. E. Holthöfer, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III 3, S. 960 f.). 61 Rhein. Zeitschrift Bd. 12, S. 579 f. (Urteil vom 4.2.1881); vgl. auch das Urteil vom 21.11.1884 (Rhein. Zeitschrift Bd. 17, S. 20). 60

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Weibsperson offenkundig geworden ist"; denn dadurch würde das Ansehen und die Würde der Ehefrau auch nach außen hin in der empfindlichsten Weise gekränkt und herabgesetzt. Es spielte auch keine Rolle, ob die Ehefrau in der gemeinschaftlichen Wohnung noch lebte. Auch wenn der Ehemann seine Frau verlassen hatte und in von ihm gemieteten Wohnungen in Brüssel und London „mit einer fremden Frauensperson wie Mann und Frau" zusammenlebte, war der Tatbestand des Art. 230 gegeben62. Denn nach Art. 240 war die Frau verpflichtet, „bei dem Manne zu wohnen, und ihm allenthalben zu folgen, wo er seinen Aufenthalt zu nehmen für gut findet". Auch war ein Konkubinat nicht erforderlich; vielmehr reichte die Tatsache des „dauernden geschlechtsvertraulichen Verhältnisses, wie es sich im mehrfachen Beischlafe mit einer Frauensperson in der Wohnung des Ehemannes oder in der Nähe derselben kundgibt" aus63. Für Baden kam noch hinzu, dass eine Ehescheidung wegen Ehebruchs des Mannes auch schon dann zulässig war, wenn die „Beischläferin" so in der Nähe des Aufenthalts des Mannes war, „dass sie einander von da aus zuwandeln" konnten. Nach Meinung des OLG Karlsruhe waren bei den Jetzigen Verkehrserleichterungen" (1882) Reisen auf größere Entfernungen noch als Zuwandel „in der Nähe" anzusehen64. 4. In dem in Deutschland wenig geschätzten, bereits erwähnten Art. 340 Code civil, dem Verbot einer recherche de la paternité nichtehelicher Kinder, sind Entscheidungen, welche unmittelbar die Rechtsstellung des Kindes betrafen, nicht veröffentlicht worden. Nach Art. 340 Abs. 2 Code Napoléon war eine Vaterschaftsklage nur zulässig, wenn der Vater des Kindes die Kindesmutter entführt hatte und wenn der Zeitpunkt der Entführung mit dem der Empfängnis übereinstimmte. Die französische Judikatur ließ eine Nachforschung auch zu, wenn die Mutter durch Verführung verleitet worden war, das elterliche Haus zu verlassen. Das Reichsgericht hat zu dieser Frage - soweit feststellbar - keine Stellung genommen. Da aber der in der bereits unter 1. besprochenen Entscheidung am 25.10.1892 zitierte belgische Jurist Laurent den rapt de séduction von der Anwendung des Art. 340 ausschloss65, hätte das Gericht wohl eine auf eine solche Verführung gestützte Klage des Kindes abgewiesen.

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Rhein. Zeitschrift Bd. 28, S. 235 f. (Urteil vom 8.12.1896). Rhein. Zeitschrift Bd. 13, S. 383 (Urteil vom 3.11.1880). Das Reichsgericht ließ in einer Entscheidung vom 2.2.1880 eine deliktische Schadensersatzklage gegen einen Ehebrecher zu (Rhein. Zeitschrift Bd. 12, S. 32 ff.). 64 Rhein. Zeitschrift Bd. 14, S. 379 f. (Urteil vom 9.12.1882). 65 F. Laurent, Principes de droit civil, 3. Aufl., 33 Bde., Bruxelles 1878; Bd. 4, S. 96 f. 63

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5. Abweichend von der Praxis des französischen Rechts entschied das Reichsgericht am 27.2.1883 66 , dass eine natürliche Verbindlichkeit durch das Anerkenntnis und die Zusage der Erfüllung nicht zu einem klagbaren Anspruch werde. Vielmehr habe es nur die Wirkung, dass das freiwillig Bezahlte nicht zurückgefordert werden könne. Im konkreten Fall hatte die Schwester der Beklagten fünf Tage vor ihrem Tod die Absicht ausgesprochen, eine Summe von ca. 3000 Gulden dem Armenrat in Z. zu hinterlassen, damit aus den Zinsen unbemittelte Mädchen ausgesteuert würden. Ein Testament war wegen der Schwäche der Schwester nicht zustande gekommen. Nach dem Tod erklärte die Beklagte dem Vertreter des Armenrates, der letzte Wille ihrer Schwester sei ihr heilig, sie werde innerhalb von fünf Jahren die Summe aus den Zinsen zurücklegen und die Stiftung errichten. Nach Ablauf von fünf Jahren erhob der Armenrat Klage; das Reichsgericht stützte seine die Klage abweisende Entscheidung vor allem auf historische Argumente, die in der zeitgenössischen deutschen Judikatur bis Ende der 1880er Jahre als zweifelhaft bezeichnet wurden 67 . Ausschlaggebend dürfte für die aus Baden kommende Rechtssache jedoch gewesen sein, dass nach dem Badischen Landrecht „natürliche Verbindlichkeiten, welche nicht mittelbar oder unmittelbar in das bürgerliche Gesetz aufgenommen sind", „weder Ansprache noch Forderung an Andere" wirkten. Nach einer für Rheinpreußen ergangenen Entscheidung vom 1.11.188468 war auch ein bei tatsächlicher oder möglicher nichtehelicher Vaterschaft gegebenes Unterhaltsversprechen als formlose Schenkung nicht klagbar. 6. Die französische Praxis verstand unter dommage i.S. der Artt. 1382, 1383 Code civil auch den sog. moralischen Schaden, d.h. den Schaden, der in der Verletzung von Gefühlen (Ehrgefühl, Erregung, körperlich-physische Schmerzen) bestand. Dieser Judikatur folgten die rheinbayerische und rheinhessische Judikatur, nicht aber die rheinpreußischen und badischen Gerichte 69. Während für rheinpreußische Urteile detaillierte Begründungen hierfür nicht vorliegen, war nach badischem Recht gemäß LRS 1383 f die Forderung von Schmerzensgeld ausgeschlossen. Das Reichsgericht lehnte eine aus Rheinbayern stammende Klage von Eltern wegen Tötung ihres Sohnes auf Schmerzensgeld ab mit denkbar knapper Begründung ohne Anführung von Literatur: 70 „Richtig ist, daß

66 RGZ 8, S. 314 (vgl. auch O. Francken, Die grundlegenden Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts auf dem Gebiet des Rheinischen Civilrechts, Berlin 1893, S. 80 ff.). 67 Rhein. Zeitschrift Bd. 18, S. 278 (OLG Darmstadt); vgl. auch D. Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 52. 68 Rhein. Zeitschrift Bd. 16, S. 574. 69 D. Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 118 ff. 70 RGZ 7, S. 295 f. (Urteil vom 27.6.1882).

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sich in Doktrin und Praxis die Ansicht vertreten findet, es sei unter dem ,Schaden4, der nach den Artt. 1382, 1383 Code civil im Falle einer widerrechtlichen Handlung zu ersetzen ist, auch der s. g. moralische Schade [...] zu verstehen; allein diese Ansicht kann als dem Willen des Gesetzes entsprechend nicht erachtet werden. Es besteht kein Grund, anzunehmen, daß das Gesetz in dem bezeichneten ,dommage' etwas anderes verstanden habe, als in den Artt. 1246 flg." Eine solche Entschädigung würde eine reine Privatstrafe darstellen, eine Argumentation, die kurz danach Windscheid für das gemeine Recht aufgab 71 und die auch nicht mehr für den 1. BGB-Entwurf maßgebend war. Möglicherweise hatte das Reichsgericht in den 1890er Jahren keine Gelegenheit mehr, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. 7. Im Recht der unerlaubten Handlung waren die Unterschiede zwischen der französischen Judikatur und der deutschen Rechtsprechung in einigen Fallbereichen nicht unerheblich. Vor allem spielte in Deutschland das Tatbestandsmerkmal der Rechtswidrigkeit 72 insbesondere bei Schadensersatzansprüchen von Straßenanliegern eine erhebliche Rolle, so dass es im Einzelfall auch zu unterschiedlichen Ergebnissen und Begründungen kommen konnte. Rechtsdogmatische Schwierigkeiten bereiteten den rheinischen Gerichten die immissionsrechtlichen Streitigkeiten 73. Während die französischen Gerichte, ohne auf die Rechtswidrigkeit abzustellen, Schadensersatzansprüche aus den Art. 13821384 Code civil bejahten, kam es nach rheinischer Ansicht auf die Rechtswidrigkeit der Immissionen an, die im Hinblick auf Art. 544 Code civil grundsätzlich zu verneinen war. Erst das Reichsgericht näherte sich der französischen Judikatur in einer grundsätzlichen Entscheidung von 188374 und sah in jeder übermäßigen Immission einen rechtswidrigen Eingriff in das Nachbareigentum. Hinsichtlich des Verschuldens stellte es auf die Vorhersehbarkeit des Schadens ab. Ansprüche bei unlauterem Wettbewerb, welche die französische Judikatur entsprechend den Art. 1382, 1383 Code Napoléon schon früh bejahte, waren

71 Vgl. den Hinweis von D. Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 122. 72 Anders in Frankreich (vgl. Ferid/Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, Bd. 2, S. 460 f.). 73 Zum Folgenden D. Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 68 ff.; C. Lies-Benachib, Immissionsschutz im 19. Jahrhundert, Berlin 2002, S. 141 ff.; N. Koch, Die Entwicklung des deutschen privaten Immissionsschutzrechts seit Beginn der Industrialisierung unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Frankfurt a.M. 2004, S. 141 ff., 174 ff. 74 RGZ 11, S. 341 (Urteil vom 13.12.1883).

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auch in der rheinischen Judikatur bis 1879 anerkannt 75. Demgegenüber sah das Reichsgericht seit einer Entscheidung vom 30.11.1880 die Regelung des Markenschutzgesetzes als speziell an 76 . Ausschlaggebend hierfür dürfte gewesen sein, eine unterschiedliche Judikatur im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes aufgrund der verschiedenen Partikularrechte zu vermeiden. Allerdings rezipierte das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs 1896 das französische Recht in weitgehendem Maße bis in die Einzelheiten der drei von der französischen Judikatur entwickelten Fallgruppen 77. 8. Die rheinische Judikatur zur kaufrechtlichen Gewährleistung weist einige charakteristische Unterschiede insbesondere zum späteren BGB auf 78 . Nach Art. 1648 Code civil waren die Gewährleistungsrechte innerhalb einer bref délai (kurzen Frist) geltend zu machen. Im Gegensatz zum späteren BGB kam es grundsätzlich hinsichtlich des Beginns der Gewährleistungsfrist auf die Kenntnis vom Mangel bzw. auf das Kennenmüssen an. Nach einer Entscheidung des RG von 1897 79 war ein Zeitraum von vier bis fünf Monaten zur Wahrung der Frist ausreichend. Obwohl die Handhabung des Begriffs der „kurzen" Frist, deren Dauer nach dem Ermessen des Gerichts festgestellt wurde, zu Unsicherheiten in der Rechtspraxis führte, war die französische Regelung für den Käufer, wie einige Reichsgerichtsentscheidungen zeigen80, immer noch günstiger als die starre Regelung des § 477 BGB a.F., wonach die Gewährleistungsfrist unabhängig von der Kenntnis des Käufers vom Mangel lief. Im Unterschied zum BGB a.F. galt bei zugesicherten Eigenschaften im französischen Recht nicht die kurze Frist des Art. 1648 Code Napoléon. Entgegen einer Entscheidung des ROHG von 1876 81 sollte nach Meinung des Reichsgerichts hinsichtlich einer Eigenschaftszusicherung Art. 1184 Code Napoléon Anwendung finden, so dass die ordentliche Verjährung eingriff. Das Reichsge-

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//. v. Stechow, Das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27.5.1896. Entstehungsgeschichte und Wirkung, Berlin 2002, S. 62 ff. 76 RGZ 3, S. 67; hierzu E. Wadle, Französisches Recht in Deutschland. Acht Beiträge zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, Köln 2002, S. 149 f f ; vgl. auch ders., ebd., S. 113 ff. 77 H. v. Stechow, Das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27.5.1896. Entstehungsgeschichte und Wirkung, S. 103 ff., S. 216 ff. 78 Hierzu R. Förtsch, Vergleichende Darstellung des Code civil und des BGB, 2. Aufl. Berlin 1899, S. 248 ff. 79 Rhein. Archiv Bd. 92 II, S. 80 (Urteil vom 25.5.1897). 80 D. Olsen, Das kaufrechtliche Sachmängelgewährleistungsrecht des Code civil in der Rechtsprechung deutscher Gerichte im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Ablösung der Partikularrechte durch das BGB, Frankfurt a.M. 1997, S. 144. 81 Rhein. Zeitschrift Bd. 10, S. 40 (Urteil vom 10.11.1879); anders bereits ein Urteil vom 19.4.1879 (Annalen der Großherzogl. Badischen Gerichte, Bd. 45, S. 140).

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rieht schloss sich dieser Meinung in fünf Entscheidungen (1885-1898) 82 an und entschied damit in Übereinstimmung mit der französischen Praxis. Während im Übrigen die spätere Reichsgerichtsjudikatur zum BGB grundsätzlich nur ausdrückliche Eigenschaftszusicherungen als verpflichtend anerkannte 83, war nach der Judikatur des II. Zivilsenats unter Hinweis auf die französische Praxis auch ein stillschweigendes Gewährleistungsversprechen ausreichend gewesen. Divergenzen finden sich auch in der Judikatur des Reichsgerichts zum Verhältnis des Gewährleistungsrechts zur Irrtumsanfechtung. In einer Reichsgerichtsentscheidung vom 21.9.1894 ging es um folgenden Sachverhalt: 84 Ein Sammler römischer Altertümer hatte von einem Antiquitätenhändler eine Bronzestatue sowie andere wertvolle Stücke erworben, die angeblich römischer Herkunft waren. Jedoch stellte sich bald heraus, dass es sich bei der Figur lediglich um eine Kopie des „Pescatore" handelte, einer antiken Figur, die in einem italienischen Museum zu finden war. Nach Meinung des Reichsgerichts war entgegen dem OLG Köln nicht das Gewährleistungsrecht, sondern Art. 1110 Code Napoléon (Irrtum über wesentliche Eigenschaften, erreur sur la substance) anzuwenden, so dass hinsichtlich der Vertragsauflösung die gewöhnliche Verjährungsfrist Anwendung zu finden hatte. Das rheinisch-französische Recht kannte mithin keinen Ausschluss der Irrtumsanfechtung im Verhältnis zur Sachmängelgewährleistung. An dieser Judikatur hielt der II. Zivilsenat auch für das BGB fest, wie der Leitsatz einer Entscheidung vom 5.12.1902 zeigt: 85 „Das Bestehen von Gewährleistungsansprüchen nach §§ 459 ff. BGB schließt die Anfechtung wegen Irrtums nicht aus". Im Gegensatz zum rheinischen Recht hatte das Reichsgericht - in Abweichung gegenüber einer gefestigten Urteilspraxis des Obertribunals - für das preußische Recht die Anwendbarkeit der Bestimmungen über den Eigenschaftsirrtum neben dem Gewährleistungsrecht in einer Entscheidung vom 11.5.1885 verneint 86 . 1905 griff der preußisch dominierte V. Zivilsenat

82 Nachweis der Entscheidungen bei D. Olsen, Das kaufrechtliche Sachmängelgewährleistungsrecht des Code civil in der Rechtsprechung deutscher Gerichte im 19. Jahrhundert, S. 154. 83 Hierzu und zum Folgenden D. Olsen, Das kaufrechtliche Sachmängelgewährleistungsrecht des Code civil in der Rechtsprechung deutscher Gerichte im 19. Jahrhundert, S. 65 ff. 84 RGZ 34, S. 321. 85 W. Schubert/H. P. Glöckner, Nachschlagewerk des Reichsgerichts. BGB, Bd. 1, Goldbach 1994, S. 350 (Nr. 6 zu § 119 BGB); hierzu und zum Folgenden auch F. Ranieri, Kaufrechtliche Gewährleistung und Irrtumsproblematik: Kontinuität und Diskontinuität in der Judikatur des Reichsgerichts nach 1900, in: Das BGB und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896-1914), hrsg. von U. Falk und H. Mohnhaupt, Frankfurt a.M. 2000, S. 207 ff. 86 RGZ 13, S. 281 (hierzu Chr. Seiler, Vom Allgemeinen Landrecht zum BGB. Dargestellt am Beispiel der höchstrichterlichen Judikatur zum kaufrechtlichen Sachmängelgewährleistungsrecht, Frankfurt a.M. 1996, S. 250 ff).

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(zuständig u.a. fiir Streitigkeiten aus Grundstücksveräußerungsverträgen) auf die vorkodifikatorische Reichsgerichtsjudikatur zurück und stellte, wie der Leitsatz zu einer Entscheidung vom 1.7.1905 zeigt, fest: 87 „Neben der Wandlungsklage aus § 462 BGB ist nicht auch die Anfechtung eines Kaufvertrags aus § 119 Abs. 2 BGB zulässig, wenn die Kaufsache mit einem Fehler behaftet ist, fiir den der Verkäufer nach § 459 BGB haftet, und der dem Käufer beim Vertragsschlusse nicht bekannt war. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Käufer den Fehler erst nach Ablauf der Verjährungsfrist für die Wandlungsklage entdeckt hat." Während der II. Senat an seiner bisherigen Rechtsansicht nicht festhielt, schloss sich 1907 auch der gemeinrechtlich orientierte III. Zivilsenat der Rechtsmeinung des V. Senats an: 88 „Der vom 5. Zivilsenat für den Fall, dass die Kaufsache mit einem Fehler behaftet ist, für den der Verkäufer nach § 459 des BGB haftet, ausgesprochene Grundsatz gilt auch für den Fall, dass der Kaufsache eine zugesicherte Eigenschaft mangelt. Auch hier ist neben der Zulassung des Wandlungs-, Minderungs- und Schadensersatzanspruchs die Erhebung einer Anfechtungsklage wegen Irrtums ausgeschlossen." Insgesamt wurde insoweit die kaufrechtliche Regelung im Sinne der Rechtsprechung zum preußischen Recht vor 1900 verschärft, eine Anknüpfung an das großzügigere französische Recht erfolgte also nicht. 9. Eine sehr flexible Regelung für die Auflösung gegenseitiger Verträge enthält Art. 1184 Code civil: 8 9 „Die auflösende Bedingung wird allemal als in zweiseitigen Verträgen für den Fall enthalten angesehen, dass einer von beiden Theilen seinem Versprechen kein Genüge leistet." Allerdings erfolgte die Vertragsauflösung nicht durch einseitige Gestaltungserklärung des beeinträchtigten Vertragspartners, sondern ausschließlich im Wege der gerichtlichen Klage durch den Richter. Der Richter hatte eine weitgehende Ermessensfreiheit in der Beurteilung des Verhältnisses der Vertragsparteien. Eine sehr aufschlussreiche Entscheidung (10.2.1880) brachte bereits Bd. 1 von RGZ 90 . In dem Rechtsstreit ging es um einen Sukzessivlieferungsvertrag. Zwei Lieferungen waren erfolgt, jedoch hatte der Verkäufer nicht die vertragsmäßige Ware geliefert und zudem bestimmt erklärt, eine andere Ware könne er auch in Zukunft nicht liefern. Ein Verzug des Verkäufers war nach den Bestimmungen des französischen Rechts nicht anzunehmen. Deshalb stand dem Käufer das Rücktrittsrecht nach Art. 355 ADHGB nicht zu. Nach Meinung des II. Senats konnte ihm aber das „minder

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W. Schubert/H. P. Glöckner, Nachschlagewerk des Reichsgerichts. BGB, Bd. 1, S. 352 (Nr. 20 zu § 119 BGB). 88 W; Schubert/H. P. Glöckner, Nachschlagewerk des Reichsgerichts. BGB, Bd. 1, S. 362 (Nr. 49 zu § 119 BGB). 89 Zitiert nach der Übersetzung von J. Cramer, Les cinq Codes. Die fünf französischen Gesetzbücher. 90 RGZ 1,S. 56 f.

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wirksame Auflösungsrecht" des Art. 1184 Code civil nicht verweigert werden, der neben Art. 355 ADHGB immer dann anwendbar war, wenn es um eine Zuwiderhandlung gegen erhebliche Vertragspflichten ging, die sich weder als Verzug noch als Unmöglichkeit darstellten. In einer weiteren Entscheidung von 188091 ging es um die Zuwiderhandlung gegen Unterlassungsverpflichtungen, die eine Anwendung des Art. 1184 rechtfertigten. Nach einer Entscheidung vom 16.5.1890 konnte die Auflösung eines Vertrags wegen Nichterfüllung auch durch Übereinkunft der Parteien mit Rechtswirkung erfolgen 92. Im Übrigen fand Art. 1184 sehr breite Anwendung auf alle zweiseitigen Verträge, so auch auf Vergleiche und auf Verträge zur Auseinandersetzung einer OHG. Seit 1900 war eine Vertragsauflösung nach der Regelung des Art. 1184 nicht mehr möglich, da das BGB a.F. in den §§ 325 und 326 das Rücktrittsrecht nur bei Unmöglichkeit bzw. Verzug gewährte. Bereits 1902 forderte Staub, für positive Vertragsverletzungen dem Gläubiger auch die Rechte aus § 326 zu gewähren 93. Das Reichsgericht kam dieser Forderung bereits in einer Entscheidung vom 6.3.1903 in der sog. Kies-Entscheidung nach 94 . Hintergrund des Rechtsstreits war, dass die Beklagte den gelieferten Kies auch zu anderen als im Vertrag vorgesehenen Zwecken verwendete und deshalb der Lieferantin (Klägerin) die Preisfestsetzung andauernd unmöglich machte. Nach Meinung des Reichsgerichts lag eine neben Unmöglichkeit und Verzug dritte Art schuldhaften Verhaltens eines Vertragsteils vor, eine sog. positive Vertragsverletzung, durch welche die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet war. Das Reichsgericht befürwortete hier die (analoge) Anwendung des § 326 BGB hinsichtlich eines möglicherweise begründeten Rücktrittsrechts. In den folgenden Jahren ergingen zu diesem Problemkreis weitere wichtige Entscheidungen95, die insgesamt den im II. Zivilsenat von 1894 bis 1912 tätigen Reichsgerichtsrat Ernst Robert Remele 1912 zu „Bemerkungen zu der Frage der positiven Rechtsverletzungen" veranlassten 96. Hier stellte Remple, der aus dem rheinischpreußischen Justizdienst stammte, fest: „Die Entwicklung der Rechtsprechung und der Rechtslehre über die positiven Vertragsverletzungen und die aus der91

RGZ 1, S. 217 (Entscheidung vom 20.1.1880). RGZ 26, S. 358. 93 H. Staub, Die positiven Vertragsverletzungen und ihre Rechtsfolgen, in: Festschrift für den XXVI. Deutschen Juristentag, Berlin 1902, S. 31 ff. (auch in einer Buchausgabe, Berlin 1904). 94 RGZ 54, S. 98; hierzu und zum folgenden H. P. Glöckner, Die positive Vertragsverletzung, in: Das BGB und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896-1914), hrsg. von U. Falk und H. Mohnhaupt, S. 155 ff. 95 Nachgewiesen und besprochen bei H. P. Glöckner, Positive Vertragsverletzung Die Geburt eines Rechtsinstituts, Frankfurt a.M. 2005. 96 E. R. Remele, Recht 1912, Sp. 569; hieraus die folgenden Zitate. 92

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Werner Schubert

selben für den Vertragstreuen Teil gegenüber dem vertragsuntreuen sich ergebenden Rechte entspricht im Wesentlichen dem in Art. 1184 Code civil zum Ausdruck gekommenen Grundsatze des französischen Rechts und dessen Ausbau durch die Praxis. Wie in vielen anderen Fragen hat der französische Gesetzgeber auch in dieser verstanden, durch einen in kurze Worte gekleideten Satz die Richtschnur für eine dem materiellen Recht ebenso sehr wie den Bedürfnissen des geschäftlichen Lebens und des Verkehrs entsprechende Rechtsentwicklung zu geben." Hiernach ist offensichtlich, dass Art. 1184 für die Anerkennung der analogen Anwendung der §§ 325 und 326 BGB a.F. auf die Fälle der sonstigen erheblichen Vertragsverletzungen auch Pate gestanden hat.

V. Zusammenfassende Schlussbemerkungen 1908 schrieb Kohler, einer der besten Kenner des französischen Zivilrechts in Deutschland:97 „Es war ein günstiges Geschick, dass die französische Rechtskultur uns befruchtete und uns Rechtsgedanken, Rechtseinrichtungen und vor allem eine ganze Methode der Rechtsübung brachte, die wir in Deutschland noch lange nicht kannten und die wir ... erst in Jahrhunderten wieder erlangt hätten." Auch wenn Kohlers Feststellung für die Übernahme des Rechtsgedankens des Art. 1184 Code civil voll zutrifft, so dürfte sie für die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum französischen Zivilrecht nicht allgemein gelten. Wie Schumacher nachgewiesen hat, gingen die Reichsrichter, anders als die französischen Richter, nicht selten bei einer französischrechtlichen Entscheidung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen und abstrakten Rechtssätzen aus, die aus einzelnen Bestimmungen des Code Napoléon hergeleitet wurden. Die Lösung eines jeden juristischen Problems „wird aus juristischen allgemeinen Prinzipien hergeleitet und in ein geschlossenes Ganzes gestellt" 98 , so etwa der deliktsrechtliche Unterlassungsanspruch: „Das Reichsgericht interpretiert die Generalklausel des Art. 1382 Code civil als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes, daß jedermann zur Unterlassung von schädigenden Handlungen verpflichtet sei. Erst in Anwendung dieses Grundsatzes kommt es im konkreten Fall zur Entscheidung, zur Bejahung eines Unterlassungsanspruchs." Dagegen beruhten die französischen Entscheidungen in der Regel auf einer konkreten Bestimmung des Code civil und auf dem vorgegebenen Sachverhalt. Hinzu kommt noch, dass das Reichsgericht das gemeine römische Recht für die sich

97 J. Kohler, Rhein. Zeitschrift für Zivil- und Prozessrecht, Bd. 1 (1908), S. 2; die Feststellung von C. Crome, dass „unser halbes bürgerliches Recht" auf französischer Basis beruhe (ebd., S. 6), dürfte allerdings kaum zutreffen. 98 Z). Schumacher, Das französische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 152; vgl. auch S. 156 ff.

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aus dem Code civil ergebenden Rechtsgrundsätze als Autorität oder als Interpretationshilfe herangezogen hat, etwa indem es vom Tatbestandsmerkmal der Rechtswidrigkeit beim Deliktstatbestand ausging, das im französischen Recht keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Dies alles ist auch nicht weiter verwunderlich, da dem II. Zivilsenat zunächst nicht nur französischrechtlich orientierte Richter mehrheitlich angehörten und auch in ihm nach 1890 die rheinpreußische Richterschaft vertreten war, die mehr am gemeinen Recht orientiert war als der rheinhessische und rheinbayerische Richter. Zugunsten der Rechtseinheit entschied das Reichsgericht mitunter im Sinne des badischen Rechts oder der gemeinrechtlichen Tradition abweichend vom französischen Recht. Auffallend ist die häufige Heranziehung von Pothier" und der von Locré herausgegebenen Materialien zum Code Napoléon besonders in den Fällen, in denen es von der französischen Judikatur abwich. In diesem Zusammenhang zog es auch häufig das Werk von François Laurent: „Principes de droit civil" (3. Aufl. 1878) heran, der der h.M. oft kritisch gegenüberstand. Insgesamt hat das Reichsgericht die partikulare Judikatur zum Code civil bzw. zum Badischen Landrecht in vielen Bereichen übernommen; dort wo sie unterschiedlich war, hat es sich in zentralen Fragen, so beim dommage morale, für die von der französische Judikatur abweichende Variante entschieden. Berücksichtigt man noch, dass das Reichsgericht oft die verallgemeinernde, an allgemeinen Rechtsbegriffen orientierte Rechtsfindungsmethode auch für das französische Recht anwandte, so lässt sich das Ergebnis der Untersuchungen dahin zusammenfassen: Das Reichsgericht hat sich zwar im Großen und Ganzen nach der französischen Judikatur und Rechtslehre gerichtet, wobei jedoch die Verbindung zur reichhaltigen französischen rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Diskussion seit den 1890er Jahren wohl zunehmend lockerer wurde 100 , verfolgte aber gleichzeitig in nicht unwichtigen Teilbereichen, in denen es der Cour de cassation nicht folgte, eine eigene Linie, so dass man insgesamt wohl eher von einer partiell eigenständigen deutschen Rechtsprechungsvariante zum Code civil sprechen kann.

99 Über die Heranziehung von Pothier durch das Reichsgericht K. Luig, ZEuP 2002, S. 489 ff. 100 Vgl. auch F. Ranieri, Französisches Recht und französische Rechtskultur in der deutschen Zivilrechtswissenschaft heute. Eine unwiderrufliche Entfremdung?, in: Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft?, hrsg. von O. Beaud/E.V. Heyen, BadenBaden 1999, S. 183 ff.

Das Reichsgericht und das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch Von Hans Hermann Seiler

I. Einfuhrung „Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft" 1 zu verwirklichen, in der auch das allgemeine Zivilrecht den ihm gebührenden Platz einnimmt, ist eine Aufgabe, deren Erfüllung trotz vielfältiger Bemühungen noch aussteht. Dazu ist im einzelnen mit überzeugenden, vor allem auch historischen Argumenten festgestellt worden, 2 daß die „Rechtsvereinheitlichung á la Bruxelles" bislang eher zu größerer Unübersichtlichkeit und Komplexität, ja Rechtszersplitterung geführt hat, daß ferner der Erlaß eines europäischen Privatgesetzbuches, obwohl vom Europäischen Parlament in zwei Resolutionen vom Mai 1989 und vom Mai 1994 angemahnt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder praktikabel noch auch nur wünschenswert ist, daß vielmehr zunächst die Begründung und Herausbildung einer europäischen Rechtswissenschaft not tut - eine Aktualisierung also von Savignys Programm einer Historischen Rechtsschule. Zweifellos gehört die Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen in Europa zu den Themen, die die juristische Welt unserer Tage bewegen. Ein historisches Vorbild für Rechtsvereinheitlichung gibt es bekanntlich in der jüngeren Rechtsgeschichte Deutschlands. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden,3 daß die heutige europäische Situation in mancher Hinsicht mit derjenigen im Deutschland des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist. Das braucht hier im einzelnen nicht belegt zu werden. Jedenfalls haben die Verfasser des BGB, was durch die umfangreichen Gesetzesmaterialien belegt wird, in vorbildlicher Weise gezeigt, wie Rechtszersplitterung legislatorisch zu überwinden ist. * Geringfügig geänderte Abhandlung des Verfassers in „Beiträge zum deutschen und europäischen Recht - Freundesgabe für Jürgen Gündisch" (1999), S. 51 ff. 1 Vgl. Jürgen Gündisch, Anwaltsblatt 1998, S. 170 ff. 2 Reinhard Zimmermann, Savignys Vermächtnis. Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, Tübinger Universitätsreden, Neue Folge Band 23 (1998), S. 22. 3 Reinhard Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 18.

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Jede solide Gesetzgebungsarbeit beginnt mit einer gründlichen Bestandsaufnahme, und so erfahren wir aus den Vorarbeiten zum BGB, was die Rechtszersplitterung des Privatrechts damals im praktischen Rechtsleben bedeutete. Das soll hier kurz in Erinnerung gerufen werden. Im neugegründeten deutschen Reich galten mehrere größere Privatrechtsordnungen 4: Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794 (ALR; Einwohnerzahl 21 200 000), unkodifiziertes römisch-gemeines Recht (Einwohnerzahl 16 500 000), Rheinisches Recht (Code civil von 1804, Badisches Landrecht von 1808/1809) (Einwohnerzahl 8 400 000), Sächsisches Bürgerliches Gesetzbuch von 1863 (Einwohnerzahl 3 500 000), Dänisches Recht (Gesetzbuch Christian V. von Dänemark von 1863) (Einwohnerzahl 15 000) und Österreichisches Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch von 1811 (ABGB; Einwohnerzahl 2500). Daneben waren noch ca. 46 „wichtigere Partikularrechte" in Kraft. Das war also die Ausgangslage für die nun folgenden langjährigen Kommissionsarbeiten unter maßgeblicher Leitung und Beteiligung des Reichsjustizamtes. Wie sorgfaltig, gründlich und geschickt diese Arbeit im einzelnen geplant und durchgeführt worden ist, das kann hier nicht weiter geschildert werden, so reizvoll und wichtig es ist, immer wieder die modernen Gesetzgeber an dieses historische Vorbild zu erinnern. Dieser Beitrag wendet sich vielmehr einem anderen Problem zu, das die Rechtszersplitterung mit sich bringt, das heißt der Frage, wie die Rechtsanwendung mit Rechtszersplitterung umgeht. Auch hierfür gibt es ein prominentes und anschauliches Beispiel aus dem 19. Jahrhundert, nämlich die frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen, mit der sich die folgenden Ausführungen befassen.

II. Das Reichsgericht vor Inkrafttreten des BGB Das Reichsgericht in Leipzig - ein Produkt der sog. Reichsjustizgesetzgebung von 1879 - ist im Zuge der Vereinheitlichung der deutschen Gerichtsorganisation als die oberste Instanz in Zivil- (und Straf)sachen geschaffen worden (§§ 125 ff. GVG vom 27. 1. 1877, in Kraft getreten am 1. 1. 1879). Es hat seine rechtsprechende Tätigkeit am 1. 10. 1879 aufgenommen, zu einem Zeitpunkt also, als ein einheitliches bürgerliches Gesetzbuch für das deutsche Reich, das spätere BGB (vom 18. 8. 1896, in Kraft getreten am 1. 1. 1900), noch in weiter Ferne war. Das Gericht sah sich demnach vor die Aufgabe gestellt, als oberste Revisionsinstanz Zivilprozesse zu entscheiden und außerdem vor allem die Rechts-

4 Quelle: Anlage zur Denkschrift zum BGB in: Benno Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band I (1899), S. 844 f.

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einheit zu wahren, und zwar - angesichts eines noch fehlenden zentralen Zivilgesetzbuchs - jedenfalls theoretisch innerhalb jeder einzelnen der soeben genannten noch geltenden Privatrechtsordnungen. Eine äußere Orientierungshilfe und gleichzeitig ein Denkmal für die noch herrschende Rechtszersplitterung enthielten die einzelnen Bände der nun entstehenden amtlichen Entscheidungssammlung durch die Gliederung ihrer Inhaltsverzeichnisse. Dem Abschnitt I Reichsrecht (zunächst von bescheidenem Umfang: HGB, HaftpflichtG, KO u. a.) folgten die Abschnitte II Gemeines Recht, III Preußisches Recht, IV Rheinisches Recht und V Prozeßrecht. Diese Gliederung wurde bis in das 20. Jahrhundert beibehalten. Noch der 60. Band der Sammlung (1905) enthielt sie in vollem Umfang; erst ab 1911 (71. Band) wurden andere Einteilungen verwendet. Die Rechtseinheit in Deutschland zu wahren, war auf den ersten Blick sicherlich eine schwierige Aufgabe, deren Lösung aber durch die Herrschaft einer supranationalen, gewissermaßen unsichtbaren Autorität erleichtert wurde, nämlich des römisch-gemeinen Rechts, das namentlich in der Bearbeitung durch die deutsche Pandektenwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine dominierende Bedeutung erlangt hatte. Im Universitätsunterricht der damaligen Zeit spielte das Pandektenrecht eine maßgebende Rolle, und so wird klar, daß die an ihm geschulten Juristen, also auch die Reichsrichter des ausgehenden 19. Jahrhunderts, gleichgültig aus welchem Bundesstaat sie kamen, ohne Schwierigkeiten in der Lage waren, das unkodifizierte römischgemeine Recht, das ihnen in erster Linie durch die bekannten Pandektenlehrbücher von Windscheid, Vangerow, Brinz und vielen anderen vermittelt war, in dem zweitgrößten deutschen Rechtsbezirk (s. soeben I) anzuwenden. Ähnliches gilt für das Sächsische Bürgerliche Gesetzbuch, zwar kodifiziertes Recht, aber „eine sehr bedeutende und charakteristische Leistung der Pandektenwissenschaft" (Wieacker). Selbst das preußische ALR, das den größten deutschen Rechtsbezirk ausmachte, war im Vermögensrecht stark vom römisch-gemeinen Recht beeinflußt. Zudem begann eine vertiefte wissenschaftliche Bearbeitung dieser Kodifikation erst sehr spät, in den Lehrbüchern des Preußischen Privatrechts von Dernburg (ab 1878), und auch hierbei ist der Einfluß des römischgemeinen Rechts nicht zu übersehen. So ist es nicht überraschend, wie richtig beobachtet wurde, 5 daß das Reichsgericht in Entscheidungen, die auf der Grundlage des ALR ergingen, sich häufig zunächst auf das römisch-gemeine Recht berief und anschließend seine Interpretation des ALR danach ausrichtete.

5

Christoph Seiler, Vom allgemeinen Landrecht zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Dargestellt am Beispiel der höchstrichterlichen Judikatur zum kaufrechtlichen Sachmängelgewährleistungsrecht (1996), S. 29, Fn. 18.

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Wesentlich anders verhielt es sich dagegen mit dem sog. Rheinischen Recht, dem drittgrößten deutschen Rechtsbezirk (s. soeben I). 6 Seine Grundlage, der bedeutende französische Code civil, galt im Westteil des späteren Reichs seit langen Jahrzehnten (1810/11); es gab daher bei der Gründung des Reichsgerichts bereits eine umfangreiche Rechtsprechung zum Rheinischen Recht.7 Das Gesetzbuch seinerseits ging zurück auf eine große eigenständige französische Rechtswissenschaft; die Namen Domat (1625-1692) und Pothier (1699-1772) mögen hier für viele andere stehen. Angesichts des Umfangs, der Bedeutung und Originalität dieser Rechtsmaterie wird verständlich, daß beim Reichsgericht dafür - anders als bei den anderen Partikularrechten - ein Spezialsenat, der II., sog. Rheinische Zivilsenat eingerichtet wurde. Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats ist in vielen Entscheidungen dokumentiert, deren Zahl allein in der amtlichen Sammlung (RGZ 1-50; 1880-1902) etwa 360 beträgt. 8 Darüber hinaus ist zahlreiche weitere Judikatur des Senats an anderer Stelle veröffentlicht. 9 Einige Einzelanalysen dieser Rechtsprechung liegen vor. Eine Arbeit über die Sachmängelgewährleistung beim Kauf 1 0 zeigt, daß die Judikatur des Senats zu diesem Thema vor und nach 1900 kaum Veränderungen aufweist. 11 Dies kann wohl auch deshalb nicht überraschen, weil gerade die kaufrechtliche Sachmängelgewährleistung zu den besonders geglückten Erzeugnissen der antiken römischen Jurisprudenz zu rechnen ist, die - anders als manche sonstige römische Hervorbringungen - in den Grundzügen überall rezipiert worden ist, 6 Grundlegend hierzu Hans-Jürgen Becker, Das Rheinische Recht und seine Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, JuS 1985, S. 338 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 7 Dazu eingehend Detlef Schumacher, Das Rheinische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Auslegung rezipierter Rechtsnormen (1969). 8 Vgl. Erich-Hans Kaden, Das Reichsgericht und das französiche Zivilrecht, in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1929), Band 2, S. 87, Fn. 17. 9 Vgl. die Entscheidungssammlung von Oskar Francken, Die grundlegenden Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts auf dem Gebiete des rheinischen Zivilrechts (1893); Martin Scherer, Die Entscheidungen des Reichsgerichts und des Obersten Bayerischen Landgerichts zum Code civil (1895). - Aus der Literatur zu dieser Rechtsprechung vor allem Erich-Hans Kaden, Das Reichsgericht und das französiche Zivilrecht, S. 82 ff. 10 Dietmar Olsen, Das kaufrechtliche Sachmängelgewährleistungsrecht des Code civil in der Rechtsprechung deutscher Gerichte im 19. Jahrhundert (1997). 11 Bemerkenswert auch die Kontinuität in der Geschäftsverteilung beim II. Zivilsenat und in der Herkunft seiner Richter, die fast ausnahmslos aus dem französischen Rechtsgebiet stammten, vgl. Dietmar Olsen, Das kaufrechtliche Sachmängelgewährleistungsrecht des Code civil in der Rechtsprechung deutscher Gerichte im 19. Jahrhundert, S. 177.

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wo römisches Recht Einfluß hatte. - Eine weitere tiefgehende Untersuchung 12 legt den Schwerpunkt auf die unterschiedliche Auslegungstechnik deutscher und französischer Gerichte bei der Anwendung des Code civil und hebt auch hier auf deutscher Seite - in dem hier vorliegenden Beitrag eine vielleicht penetrante, aber sachlich gebotene Wiederholung - den Einfluß des römischen Rechts hervor. Das wird anhand ausgewählter Sachfragen demonstriert 13: Natürliche Verbindlichkeiten, Schadensersatz bei Verlöbnisbruch und Schwängerung, Wirksamkeit von Zinseszinsvereinbarungen, Rechtswidrigkeit als Voraussetzung für Schadensersatzansprüche gem. Artt. 1382, 1383 Code civil, Schadensersatzansprüche von Straßenanliegern und bei unlauterem Wettbewerb, Unterlassungsklage, moralischer Schaden, mitwirkendes Verschulden. Eigentümlicherweise hat aber etwa der bei der Eigentumsübertragung für die Struktur des Vermögensrechts grundlegende Gegensatz zwischen dem Konsensprinzip des Code civil (Art. 1138 II) und dem Traditionsprinzip des gemeinen Rechts (später § 929 BGB) in der Judikatur des Reichsgerichts anscheinend keine erkennbaren Spuren hinterlassen. Doch bedarf diese wichtige Frage wohl noch genauerer Untersuchung. 14 Im Anschluß an diese Skizze der ersten größeren Bewährungsprobe, die das junge Reichsgericht unmittelbar nach seiner Gründung bei der Erfüllung seiner Aufgabe, die Rechtseinheit sicherzustellen, zu bestehen hatte, folgt nun eine Erinnerung an eine weitere Aufgabe ähnlicher Art auf diesem Gebiet einige Jahrzehnte später. Es handelt sich um die relativ kurze Zeitspanne der Jahre 1938/1939 bis 1945, in der österreichisches Zivilrecht und deutsche Gerichtsbarkeit - über die natürlich stets gegebenen kollisionsrechtlichen Zufallsberührungen 15 hinaus - in enger Verbindung gestanden haben. Daß sich über das österreichische Zivilrecht und seine praktische Anwendung in dieser „dunklen" Zeit im österreichischen Schrifttum nur knappe Bemerkungen finden, 16 ist ver12 Detlef Schumacher, Das Rheinische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 35 ff., 158 passim. 13 Detlef Schumacher, Das Rheinische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts, S. 44 ff. 14 Hinweise bei Norbert J. Gross, Der Code Civil in Baden. Eine deutschfranzösische Rechtsbegegnung und ihr Erbe (1993), S. 20 mit Fn. 42; ders., Der Code Napoléon in Baden und sein Verleger C. F. Müller (1997), S. 41 mit Fn. 58. 15 Beispiele dafür etwa in RGZ 151, S. 313 oder RGZ 159, S. 167. 16 Vgl. Franz Gschnitzer, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 2. Aufl. 1992, S. 27; Ursula Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte, 3. Aufl. 1996, S. 18 f.; Hermann Baltl/Gernot Kocher, Österreichische Rechtsgeschichte. Unter Einschluss sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Grundzüge. Von den Anfangen bis zur Gegenwart, 10. Aufl. 2004, S. 276. - Der Sammelband Ulrike Davy/H. Fuchs/Herbert Hofmeister/Judit Marte/Ilse Reiter, Nationalsozialismus und Recht (1990) betrifft nur Rechtsetzung und Rechtswissenschaft, nicht die Rechtsprechung Österreichs während des Nationalsozialismus.

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ständlich. Verständlich ist aber vielleicht auch der Versuch, schlicht aus historischer Neugier etwas Licht in dieses Halbdunkel zu bringen.

I I I . Die neue Aufgabe des Reichsgerichts 1938-1945 Doch zunächst ein Blick auf die staats- und organisationsrechtlichen Daten, die die Basis für die dann folgende Rechtsprechungsanalyse bilden. Sie werden hier als Fakten mitgeteilt, ohne die aus heutiger Sicht möglicherweise gebotene verfassungsrechtliche und politische Erläuterung und Kritik. Die österreichische Bundesregierung beschloß am 13. 3. 1938 aufgrund des österreichischen Ermächtigungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen von 1934 ein „Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem deutschen Reich" (GB1Ö 1938, 1), dessen Artikel I lautete: „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches". Gleichfalls mit Datum vom 13. 3. 1938 beschloß die deutsche Reichsregierung ein „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem deutschen Reich" (RGBl. 1938, 237 f.), nach dessen Artikel I das eben genannte österreichische Bundesverfassungsgesetz deutsches Reichsgesetz wurde. Die „Wiedervereinigung" erfolgte also staatsrechtlich dadurch, daß das deutsche Reich ein österreichisches Verfassungsgesetz als deutsches Reichsgesetz übernahm. Artikel II des eben genannten deutschen Reichsgesetzes enthielt dann die wichtige Vorschrift, daß das derzeit in Österreich geltende Recht bis auf weiteres in Kraft blieb und daß die Einführung des deutschen Reichsrechts in Österreich durch den Führer und Reichskanzler oder den von ihm hierzu ermächtigten Reichsminister erfolgte. Schließlich erhielt durch Artikel III der Reichsinnenminister die Ermächtigung, im Einvernehmen mit den beteiligten Reichsministern die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Für den Fortgang dieser Untersuchung sind danach noch zwei Feststellungen wesentlich: 1. Da das deutsche BGB in Österreich nicht eingeführt wurde, blieb das österreichische ABGB nach Artikel II des eben genannten deutschen Reichsgesetzes in Kraft. Die Einführung des BGB unterblieb, wie man annimmt, 17 weil das geplante Volksgesetzbuch die beiden alten bürgerlichen Gesetzbücher ersetzen sollte, wozu es - glücklicherweise - nicht mehr gekommen ist. Aller-

17 Vgl. Franz Gschnitzer, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 27; Ursula Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte, S. 18 f.; Hermann Baltl/Gernot Kocher, Österreichische Rechtsgeschichte, S. 276. - Als Grund wird auch vermutet, daß Hitler das BGB noch verhaßter war als das ABGB seines Heimatlandes.

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dings kam es zu einzelnen Teilnovellierungen. Die beiden wichtigsten neuerlassenen Gesetze sind das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen (!) Reichsgebiet"18 (EheG) sowie das „Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen" 19 (TestG). Diese beiden Bereiche sind in der folgenden Untersuchung nicht berücksichtigt. Ausgeschlossen ist darüber hinaus das gesamte Personenrecht (§§ 15-284 ABGB). 2. Anders als mit dem ABGB, das also im wesentlichen weiter galt, verhielt es sich mit der Gerichtsorganisation. Abgesehen von eher kleineren Veränderungen wie z. B. der Umbenennung der Gerichte (aus den Landes- und Kreisgerichten wurden Landgerichte, die Bezirksgerichte wurden zu Amtsgerichten) 20 oder auch der Errichtung eines neuen Oberlandesgerichts in Linz 2 1 bestand der wohl stärkste Eingriff darin, daß der „Oberste Gerichtshof' in Wien aufgehoben und dessen bisherige Zuständigkeiten auf das Reichsgericht übertragen wurden. Die Verordnung über diese Maßnahme22 trat mit dem 1. 4. 1939 in Kraft. 23 Seitdem war also das Reichsgericht die oberste Revisionsinstanz für Zivilsachen in Österreich. Die maßgebende materielle Privatrechtsordnung blieb aber im wesentlichen das österreichische ABGB. Die folgende Untersuchung der Judikatur des Reichsgerichts zum ABGB (in dem eben abgesteckten Rahmen) beschränkt sich, was das Entscheidungsmaterial angeht, auf die amtliche Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. Dort sind in den Jahren von 1939 bis 1943 (RGZ 161 bis zum letzten Band RGZ 172) etwa 76 Entscheidungen zum ABGB veröffentlicht worden. 24 Das erste Urteil datiert vom 15. 6. 1939,25 das letzte vom 24. 11. 1943.26 Die Entscheidungen stammen weit überwiegend vom VIII. Zivilsenat; bei den Instanzgerichten liegt das OLG Graz mit ca. 32 Entscheidungen an der Spitze, gefolgt vom OLG Wien mit ca. 27 Entscheidungen.

18 Vom 8. 7. 1938 (RGBl. I S. 807) mit eingehenden Sondervorschriften für das Land Österreich in den §§ 99-128. 19 Vom 31.7. 1938 (RGBl. I S. 973) mit Sondervorschriften für das Land Österreich in § 49. 20 VO vom 2. 8. 1938 (RGBl. I S. 998). 21 VO vom 9. 2. 1939 (RGBl. I S. 166). 22 VO vom 28. 2. 1939 (RGBl. I S. 358), §§ 1 und 2. Nach § 3 blieben allerdings für das Verfahren die bisher für das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof geltenden Vorschriften maßgeblich. 23 Bekanntmachung des Reichsjustizministers vom 8. 3. 1939 (RGBl. I S. 448). 24 Nach Stichproben im sonstigen Schrifttum sind außerhalb dieser Sammlung offensichtlich nicht nennenswert mehr Entscheidungen veröffentlicht worden. 25 VIII 18/39 (RGZ 161, S. 6). 26 VII 111/43 (RGZ 172, S. 164).

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Der VIII. Zivilsenat des Reichsgerichts war aus Anlaß der „Wiedervereinigung" Österreichs mit dem deutschen Reich neu geschaffen worden. 27 Ihm wurden die Entscheidungen in allen Rechtssachen aus Österreich („Ostmark"), den „sudetendeutschen Gebieten" und dem „Protektorat Böhmen und Mähren" zugewiesen. Ausgenommen waren die Rechtssachen, die infolge von Sonderzuständigkeiten dem I., II., IV. und V. Zivilsenat zugeteilt waren. Außerdem konnte der VIII. Zivilsenat die ihm zugewiesenen Rechtssachen an den Zivilsenat abgeben, zu dessen Zuständigkeit sie nach den für die Rechtssachen aus dem „Altreich" geltenden Vorschriften über die Geschäftsverteilung gehört hätte, dies allerdings nur, wenn der betroffene Senat zustimmte. In den letzten Monaten der Existenz des Reichsgerichts mußte u. a. der VIII. Zivilsenat aus Gründen personeller Unterbesetzung aufgelöst werden. 28 Seine Zuständigkeiten wurden den übrigen noch arbeitsfähig erhaltenen sieben Zivilsenaten übertragen. Über die personelle Besetzung der Gerichtssenate informiert die „Übersicht über die Besetzung der Zivil- und Strafsenate", 29 und so ist auch die Besetzung des VIII. Zivilsenats bekannt. 30 Die Lebensläufe der am Reichsgericht tätigen Richter sind dagegen nur publiziert, soweit die Personalunterlagen der Forschung zugänglich waren. Immerhin ergibt sich aus deren Zusammenstellung,31 daß der Präsident des VIII. Zivilsenats ein hoher österreichischer Richter war, der nach der „Wiedervereinigung" zunächst als kommissarischer Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien tätig war und dann mit der Einrichtung des VIII. Zivilsenats beim Reichsgericht am 1.4. 1939 der erste (und letzte) Präsident dieses Senats wurde. Mitglied der NSDAP wurde er (erst) am 1.4. 1940. Aus der, wie erwähnt, unvollständigen Liste der Lebensläufe ist ferner zu ersehen, daß eine Reihe weiterer österreichischer Juristen als Reichsgerichtsräte berufen wurden, die allerdings nicht im VIII. Zivilsenat tätig waren. Übrigens waren oder wurden sie überwiegend nicht Mitglieder der NSDAP. Ob unter den in der Besetzungsliste genannten Beisitzern des VIII. Senats Juristen österreichischer Herkunft waren, muß danach offenbleiben.

27 Zum folgenden vgl. Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Band IV (1933-1945) (1971), S. 44 ff., 338. - Den Einblick in dieses Werk verdanke ich freundlicher Hilfe aus der Bibliothek des Bundesgerichtshofs (Lt. Reg.Dir. Pannier). 28 Schon ab 1943 (RGZ 170, S. 255) sind nur Urteile des VII. Zivilsenats zum ABGB in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, zunächst noch mit der Bezeichnung V I I (VIII). 29 Mitgeteilt bei Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Band IV (1933-1945), S. 324 ff. 30 Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Band IV (1933-1945), S. 338, 340. 31 Vgl. Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Band IV (1933-1945), S. 261 ff.

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IV. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum ABGB Nach der Durchsicht sämtlicher Entscheidungen des Reichsgerichts zum ABGB in der amtlichen Sammlung wird im folgenden eine Auswahl aus dieser Judikatur vorgestellt, geordnet nach den Sachbereichen 1. Allgemeiner Teil, 2. Schuldrecht, 3. Sachenrecht, 4. Familienrecht, 5. Erbrecht, 6. Gefährdungshaftung. Die Entscheidungen stammen, wenn nichts anderes vermerkt ist, vom VIII. Zivilsenat. Sie werden mitgeteilt in leitsatz- und stichwortartigen Zusammenfassungen, gelegentlich mit wörtlichen Zitaten und kurzen Erläuterungen. Die Auswahl bemüht sich um ein möglichst repräsentatives Bild der richterlichen Alltagsarbeit, wie es sich aus der in der amtlichen Sammlung veröffentlichten Judikatur ergibt. Außer den juristischen Sachthemen sind maßgebende Gesichtspunkte die Eigenständigkeit des ABGB und seiner Interpretation durch die österreichische Rechtsprechung und Wissenschaft, der Einfluß des BGB sowie der Rechtsprechung und Literatur dazu, die Suche nach Spuren nationalsozialistischen Gedankengutes und anderes mehr.

1. Allgemeiner Teil a) Wenn bei einem Grundstückskaufvertrag die Preisüberwachungsstelle den vereinbarten Preis beanstandet, ist der Vertrag nichtig und nicht etwa zu dem geringeren Preis aufrecht zu erhalten, den die Überwachungsstelle festgesetzt hat. Die maßgebende Vorschrift ist § 134 BGB, dem § 879 ABGB nachgebildet ist, allerdings ohne den letzten Halbsatz (III. Teilnovelle vom 21. 3. 1916). Erlasse des Reichskommissars für Preisbildung sind „innerdienstliche Verfügungen", „die nicht das Wesen einer Rechtsquelle haben". Es folgen längere Ausführungen dazu, daß die Preisüberwachungsstelle zur Preisfestsetzung nicht befugt war (RGZ 168, S. 91-108 [!]; 1941). b) Eine ausdrückliche Wettbewerbsverzichtsklausel des Verkäufers eines Unternehmens kann gem. § 879 ABGB sittenwidrig sein, und zwar, wie bereits der österreichische OGH entschieden hat, besonders dann, wenn sie über die wirklichen und möglichen Belange des Erwerbers hinausgeht (RGZ 163, S. 311; 1940). c) Anläßlich der Erteilung einer Kaminfegerkonzession machte der beklagte Bewerber den Töchtern des verstorbenen bisherigen Konzessionsinhabers weitgehende, wucherverdächtige Rentenzusagen. - Auslegung des Begriffes der für den Wuchertatbestand u. a. erforderlichen Zwangslage (§ 879 II Nr. 4 ABGB); Auseinandersetzung mit älterer österreichischer Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung. - Zusätzlich wird darauf hingewiesen, es würde Jedem gesunden Volksempfinden widersprechen", wenn die von der Zwangslage begünstigte Klägerin „noch weiter Rechte aus dem Vertrage herleiten wollte" (RGZ 168, S. 108; 1941).

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d) Ein wucherisches Rechtsgeschäft ist nach geltendem Recht, nämlich gem. § 879 II Nr. 4 ABGB, nichtig, nicht bloß anfechtbar, wie dies Gschnitzer de lege ferenda für vorzugswürdig hält (RGZ 163, S. 189; 1940). e) Eine noch nicht bestehende Stiftung kann - vergleichbar einem ungeborenen Kind (§ 22 ABGB) - nur dann Erbe werden, wenn die Willenserklärung des Stifters, ein Vermögen einem bestimmten Zweck zu widmen (Zeugung), ferner die Entgegennahme der Erklärung durch die Stiftungsbehörde (Empfängnis) und schließlich die Genehmigung der Stiftung (Geburt) vorliegen (Auslegung des § 646 ABGB; RGZ 170, S. 22; 1942).

2. Schuldrecht a) Nach ABGB ist - anders als nach § 313 BGB - ein Grundstückskaufvertrag formlos wirksam. Weigert der Verkäufer sich, den formlos abgeschlossenen Vertrag durchzuführen, kann der Käufer, z. B. um die Genehmigung zuständiger Behörden zu erreichen, nur auf Feststellung des wirksamen Zustandekommens des Vertrages (so zunächst RGZ 165, S. 117; 1941) klagen, nach späterer Auffassung auch auf Mitwirkung des Verkäufers bei der Fertigung eines schriftlichen Vertrages (RGZ 168, S. 343; 1942). b) Mängelgewährleistung bei entgeltlichen Verträgen. Gem. § 932 ABGB kann u. a. entweder Minderung des Entgelts oder „Verbesserung" (vollständige Erfüllung) verlangt werden; Verjährung gem. § 933 ABGB in drei Jahren. Davon zu unterscheiden ist eine „Verbesserungsabrede" der Parteien, durch die ein neuer Anspruch gem. §§ 917-921 ABGB entsteht. Tritt der Käufer von dieser Abrede gem. § 918 oder § 920 ABGB zurück, lebt der Gewährleistungsanspruch wieder auf, und es beginnt die Gewährleistungsfrist neu zu laufen. Nimmt der Verkäufer dagegen aufgrund der Verbesserungsabrede den Verbesserungsversuch vor, beginnt die Gewährleistungsfrist für diesen Mangel nach der Abnahme der Verbesserung durch den Käufer neu zu laufen (RGZ 164, S. 147; 1940). c) Auf das Vorkaufsrecht, das gemeinnützigen Siedlungsunternehmen nach § 4 Reichssiedlungsgesetz (1919) zusteht, sind die Vorschriften über das persönliche Vorkaufsrecht nach BGB (§§ 505 ff.), nicht nach §§ 1072 ff. ABGB anzuwenden (Teileinführung deutschen Rechts), weil dieses Gesetz den Begriff des Vorkaufsrechts voraussetzt, wie er in § 504 BGB geprägt ist (RGZ 170, S. 208; 1942). d) Widerruf einer Schenkung gem. § 948 ABGB. Grober Undank des Beschenkten im Sinne einer Mißachtung des Schenkers kann auch vorliegen, wenn der Beschenkte die Geschlechtsehre der noch minderjährigen Tochter des Schenkers verletzt (RGZ 172, 123; 1943; VII. Zivilsenat).

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e) Der Widerruf einer gemischten Schenkung (§§ 948, 949 ABGB) erfaßt (im Anschluß an RGZ 148, 236 [zu §§ 530 ff. BGB] und entgegen dem österreichischen OGH und Schrifttum) nur den unentgeltlichen Teil des Geschäfts, so daß der undankbare Beschenkte nur zur Erstattung des seine Gegenleistung übersteigenden Mehrwerts verpflichtet ist (RGZ 163, S. 257; 1940). f) Der Dienstgeber, der Arbeitsgerät für eine Arbeit zu stellen hat, haftet gem. § 1157 ABGB nicht nur seinem unmittelbaren Vertragspartner, sondern auch den Hilfskräften, die dieser mit seinem Wissen und Wollen heranzieht. Die Bezeichnungen „Arbeitsverhältnis ohne Arbeitsvertrag oder mittelbares Arbeitsverhältnis" (so RGRK zum BGB) sind nicht entscheidend. „Maßgebend ist, daß jemand mit den von ihm gestellten Arbeitsmitteln Arbeiten verrichten läßt" (RGZ 164, S. 397; 1940). g) Im Falle der Entlehnung von Arbeitern eines Unternehmers bleibt dieser gem. § 1157 ABGB fürsorgepflichtig (ebenso als „Führer der Gefolgschaft" nach § 2 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit [1934]). Der Entlehnende ist lediglich Gehilfe, der die Fürsorgepflicht des Unternehmers erfüllt (§ 1313 a ABGB; § 278 BGB nachgebildet) (RGZ 170, S. 216; 1942). h) Vorzeitige Beendigung eines langjährigen Dienstvertrages zu geringem Lohn, aber in der Erwartung zukünftiger Zuwendung von Geschäft und Haus. Nach „früherem", d. h. römisch-gemeinem Recht ein Fall der condictio causa data causa non secuta, die aber das ABGB nicht übernommen hat (§ 812 I 2 2. Alt. BGB wird nicht zitiert). Aber „billiger Ausgleich" unter Anwendung der Grundsätze der §§ 1431, 877, 1447 ABGB (RGZ 170, S. 385; 1943; VII. Zivilsenat). i) Bei einem Werkvertrag kann der Besteller wegen wesentlicher Mängel gem. § 1167 ABGB vom Vertrag zurücktreten (Wandlung), und zwar - abweichend von § 932 ABGB (Aufhebungsvertrag) - durch einseitige Erklärung. Dadurch wird der Vertrag mit Rückwirkung unwirksam. Das bereits Geleistete ist „aus dem Grunde der Bereicherung" zurückzugewähren. Da es einen „Schadensersatzanspruch wegen mangelhafter Erfüllung einer nicht (mehr) bestehenden Vertragspflicht" nicht gibt, kann Schadensersatz nur aus „unerlaubter oder ihr ähnlichen Handlung" gefordert werden (RGZ 171, S. 15; 1943; VII. Zivilsenat). j ) Die Haftung des eigenmächtigen Verwalters fremden Gutes richtet sich innerhalb der Geschäftsführung ohne Auftrag nicht nach den §§ 1035-1039 ABGB (Geschäftsführung im Notfalle oder zum Nutzen des andern), sondern nach den strengeren Bestimmungen der § 1035 (Schlußsatz) und § 1040 ABGB (RGZ 164, S. 86; 1940). k) Gemeinschaftliches Eigentum an einer Sache (§§ 825 ff. ABGB) und Erwerbsgesellschaft (§ 1175 ABGB) sind zu unterscheiden. Das ist namentlich

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für die Bestellung eines Verwalters wesentlich (RGZ 172, S. 153; 1943; VII. Zivilsenat). 1) Beim Rechtsverhältnis zwischen dem zur Prozeßführung befugten Rechtsanwalt und dem Mandanten sind das Außenverhältnis (Bevollmächtigungsvertrag gem. § 1002 ABGB) und Innenverhältnis (§ 1004 ABGB) zu unterscheiden. Weitere Erörterungen der Rechtslage im Innenverhältnis (Werk-, Dienstleistung u. a.) (RGZ 172, S. 171; 1939). m) Anders als nach § 787 II BGB ist nach der Auslegungsregel des § 1401 I ABGB der Angewiesene bei einer Anweisung auf Schuld verpflichtet, die Anweisung zu befolgen; letzteres gilt aber nicht, wenn der Schuldner eine Staatskasse ist (RGZ 170, S. 113; 1942). n) Tötung des Ehemannes bei einem Verkehrsunfall. Anders als nach § 844 BGB kann die Witwe gem. § 1327 ABGB verlangen, was ihr durch den Tod des Ehemannes „entgangen" ist, d. h. ihre Lebensstellung und Lebensführung als Ehefrau. Nachdem der beklagte Schädiger in der Revisionsbegründung sich unter Hinweis auf das „Volksempfinden" gegen die Klage gewehrt hatte, liest es sich fast wie Ironie, wenn der Senat gelassen repliziert: „Denn es entspricht dem Volksempfinden, daß bei der Schadenszufügung mindestens der wirkliche Schaden ersetzt wird" (RGZ 172, S. 65; 1943; VII. Zivilsenat). o) Tötung der Ehefrau bei einem Verkehrsunfall. Anspruch des Ehemannes auf Schadensersatz, wenn ihm durch die Tötung deren (gesetzlich geschuldete) Dienste im Hauswesen und Gewerbe entgehen. Nach § 1295 ABGB ist nur der unmittelbare, dem Verletzten selbst entstehende Schaden zu ersetzen, nach § 1327 ABGB zwar auch der mittelbare Schaden, aber nur für die ihm entgangenen gesetzlichen Unterhaltsansprüche. Obwohl in der III. Teilnovelle (1916) eine Erweiterung der Haftung i. S. von § 845 BGB (entgehende Dienste) abgelehnt worden ist und entgegen der daher bisher ablehnenden Rechtsprechung (OGH Wien; OGH Brünn; RG) ist der Anspruch des Ehemannes trotzdem begründet: „Die Rechtsentwicklung führt zwangsläufig zu einer erweiterten Auslegung (!) des § 1327 ABGB" (RGZ 171, S. 126; 1943; VII. Zivilsenat). p) Bei einem Eisenbahnunfall an einem nicht gesicherten Bahnübergang wurde ein Kind getötet. Die Mutter, die unmittelbar nach dem Unfall zur Unglücksstelle gekommen war und beim Anblick ihres getöteten Kindes einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, verlangt Ersatz des durch diese Erkrankung entstandenen Schadens. Definition des mittelbaren Schadens, der hier nicht vorliegt (vgl. RGZ 133, S. 270). Vergleich zwischen RHaftpflichtG („Altreich") und österreichischem EisenbahnhaftpflichtG (RGZ 162, S. 321; 1940). q) Nach der Auslegung des Begriffs des ursächlichen Zusammenhangs „wie er sich in Rechtslehre und Rechtsprechung herausgebildet hat", sind auch Krankheitserscheinungen im Rechtssinn in vollem Umfang Folgen eines Unfalls, die durch den Unfall nur deshalb ausgelöst sind, weil die Anlage zur

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Krankheit bereits vorher vorhanden war. Hinweise auf deutsche Rechtsprechung und österreichische Kommentarliteratur (RGZ 169, S. 117; 1942). r) Haftung gem. der Vorschrift des (§ 278 BGB nachgebildeten) § 1313 a ABGB nicht nur ftir das Verschulden der eigenen Erfüllungsgehilfen, sondern auch gegenüber den Gehilfen, die der Vertragspartner bei der Durchführung des Vertrages einsetzt (RGZ 172, S. 145; 1943; VII. Zivilsenat). s) Schadensverteilung wegen mitwirkenden Verschuldens des Geschädigten bei einem Verkehrsunfall (§ 1304 ABGB). Das „Verhältnis des Rechtswidrigkeits-, des Verursachungs- und des Schuldzusammenhangs" ist maßgebend (RGZ 169, S. 284; 1943; auch RGZ 168, S. 253, 256; 1942). t) Der Einrede der Verjährung (§§ 1486 Nr. 5, 1489 ABGB) kann auch nach österreichischem Recht die Gegeneinrede der Arglist entgegengesetzt werden. „Alles, was Rechtslehre und Rechtsprechung in dieser Richtung für das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ausgesprochen haben, kann auch im Geltungsbereiche des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches verwendet werden, handelt es sich doch bei dem Einwand der allgemeinen Arglist um einen allgemein gültigen, jedem Recht innewohnenden Rechtsbehelf 4 (RGZ 168, S. 336; 1942).

3. Sachenrecht a) Bei Sprengungen in einem Steinbruch, dessen Betrieb gewerbebehördlich genehmigt war, wurde durch Steinschlag eine benachbarte Wiese beeinträchtigt. Die Betreiber des Steinbruchs wurden zur Unterlassung der Beeinträchtigung verurteilt. „Es geht nicht an, die Freiheit des Eigentums zu beschränken, wo gesetzliche Handhaben dazu fehlen, wie sie etwa in den deutschen Reichsgesetzen über die Beschränkung der Nachbarrechte vom 13. 12. 1933 (RGBl. I S. 1058) und vom 18. 10. 1935 (RGBl. I S. 1247) zugunsten von Betrieben von allgemeiner Wichtigkeit gegeben wurden". - Ein deutliches Bekenntnis zum Schutz des privaten Eigentums. Älteres, in Österreich nicht eingeführtes Reichsrecht ist nicht (auch nicht analog) anwendbar (RGZ 161, S. 65; 1939). b) Nach dem ABGB sind zur Übertragung des Eigentums Titel (Verpflichtungsgeschäft) und Übergabe erforderlich (§§ 380, 424, 425 ABGB). Die in § 431 ABGB vorgeschriebene Eintragung in die öffentlichen Bücher gehört nur zu den „Arten der Übergabe" (Überschrift zu §§ 426 ff. ABGB). Die §§ 313, 873, 925 BGB sind in Österreich nicht eingeführt worden. - Klarstellung gegenüber dem abweichenden OLG Linz (RGZ 165, S. 117; 1940). c) Inhalt einer Grunddienstbarkeit kann auch sein, den Betrieb einer Anlage, wie sie auf dem herrschenden Grundstück besteht, auf dem dienenden Grundstück zu unterlassen (§ 472 ABGB; §§ 1018, 1019 BGB; Zitate österreichischer und deutscher Literatur) (RGZ 161, S. 90; 1939).

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d) Sicherungsabtretung. Trotz des Ausdrucks „Abtretung" ist nur die Verpfändung der Forderung (vgl. § 1343 ABGB) beabsichtigt. Es kommt nicht auf die äußere Form an, sondern auf den wahren Inhalt und Zweck des Rechtsgeschäfts; Zitat von RGZ 155, S. 50 (RGZ 168, S. 115; 1941). e) Klage nach § 372 ABGB (nachgebildet der römisch-gemeinrechtlichen actio Publiciana; vergleichbar § 1007 BGB). „Rechtlich vermutetes" Eigentum steht dem Kläger zu, wenn er zwar den Erwerb des Eigentums nicht beweisen kann, wohl aber „den gültigen Titel, und die echte Art, wodurch er zu ihrem Besitze gelangt ist, dargetan hat" (§ 372 ABGB) (RGZ 168, S. 248; 1942).

4. Familienrecht a) Vaterschaftsklage. Die Rechtslage ist nach § 163 ABGB (nicht nach dem teilweise abweichenden § 1717 BGB) zu beurteilen, wonach die Mutter die Wahl zwischen mehreren Vätern haben kann. Doch ist es richtig, daß „es im nationalsozialistischen Staat als notwendig erachtet werden muß, die Abstammung aller Volksgenossen nach Möglichkeit einwandfrei festzustellen" und ein Widerspruch solcher Feststellungen zur Verwandtschaftsbeziehung nach bürgerlichem Recht (Zahlvaterschaft) zu vermeiden ist. Daher Prüfung der Beweislage „mit besonderer Sorgfalt" (RGZ 164, S. 45; 1940). b) Der Erzeuger eines im Ehebruch erzeugten Kindes, dessen Ehelichkeit nicht angefochten worden ist, hat zwar keine rechtlich durchsetzbare, wohl aber eine - ähnlich wie bei den Naturalobligationen des Schuldrechts - natürliche Pflicht, für den Unterhalt des Kindes zu sorgen. Daher können Leistungen in Erfüllung solcher Pflicht nicht zurückgefordert werden (Rechtsprechung des österreichischen OGH und Schrifttum). Ergänzender Hinweis auf die entsprechende Judikatur im Altreich zu § 814 BGB („sittliche Pflicht") (RGZ 165, S. 358; 1941).

5. Erbrecht a) Nach § 585 ABGB konnte - vor Inkrafttreten des TestG (1938) - der Erblasser ein außergerichtliches mündliches Testament vor Zeugen errichten. - Die Zeugen für ein solches Testament müssen während der ganzen Zeit der Erklärung des letzten Willens anwesend sein. Denn das BGB und das TestG kennen ein solches Testament zwar nicht, verlangen aber „sogar für die Errichtung eines schriftlichen Testaments", daß möglicherweise mitwirkende Zeugen während der ganzen Verhandlung zugegen sind (§ 2239 BGB, § 12 TestG) (RGZ 161, S. 127; 1939).

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b) Nach § 724 ABGB gilt ein Legat (das ABGB kennt außerdem auch die Bezeichnung „Vermächtnis") als widerrufen, wenn der Testator die zugedachte Sache veräußert. Eine Veräußerung liegt schon dann vor, wenn der Erblasser das zugedachte Grundstück verkauft und die Eintragung des Kaufes ins Grundbuch bewilligt hat (RGZ 170, S. 220; 1943). c) Das ABGB kennt keinen Erbschein, sondern sieht statt dessen ein gerichtliches Abhandlungsverfahren mit abschließender „Einantwortung des Nachlasses, das ist, die Übergabe in den rechtlichen Besitz" (§ 797 ABGB) vor. Die Einantwortungsurkunde reicht nach Altabkommen zwischen dem deutschen Reich und Österreich, die als innerdeutsches Recht anzuwenden sind, auch für Grundbuchumschreibungen auf dem Gebiet des Altreiches aus (RGZ 167, S. 383; 1941). d) Die nach §§ 608 ff. ABGB zulässige Anordnung einer fideikommissarischen Substitution durch den Erblasser und ihre Abgrenzung von einem Veräußerungsverbot gem. § 364 c ABGB, das ein Belastungsverbot einschließen kann (RGZ 163, S. 261; 1940).

6. Gefährdungshaftung Nicht selten mußte der VIII. Zivilsenat sich mit den zivilrechtlichen Folgen von Verkehrsunfällen auf der Straße 32 und bei der Eisenbahn33 in Österreich befassen. Die dafür in erster Linie zuständige Gefährdungshaftung ist nicht im ABGB geregelt und daher nicht mehr Thema dieses Beitrages. Immerhin gibt es Berührungspunkte mit dem allgemeinen bürgerlichen Recht. Dazu zwei Beispiele: a) Haftungsrechtlich bildet der Eigentümer des KfZ mit dem bei ihm angestellten Fahrer des KfZ im Außenverhältnis eine Einheit, so daß er sich dessen Verschulden einem Drittschädiger gegenüber als eigenes Verschulden anrechnen lassen muß (§ 1304 ABGB) (RGZ 164, S. 203; 1940). b) Ein Fahrgast, der an einer Schwarzfahrt in einem Pkw der SS unentgeltlich teilnahm, wurde bei einem durch den Schwarzfahrer verursachten Unfall verletzt. - Außer dem Fahrer haftet die NSDAP (da die SS als Gliederung der NSDAP keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt), falls die Voraussetzungen einer außervertraglichen Haftung nach bürgerlichem Recht gegeben sind, also entweder wenn ihr Mitglied, das den Wagen mangelhaft verwahrt hat, als eine „untüchtige Person" (§ 1315 ABGB) anzusehen ist (wird offengelassen), oder

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RGZ 161, S. 359; 164, S. 203; 166, S. 81; 166, S. 385; 167, S. 9; 167, S. 391. RGZ 162, S. 65; 166, S. 257.

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wenn die NSDAP Eigentümerin und Betriebsunternehmerin des Pkw (§§ 8, 2 österreichisches KHG von 1908) ist (wird bejaht). „Über diese bürgerlichrechtliche Haftung der NSDAP aufgrund ihrer Beteiligung am allgemeinen Rechtsleben besteht keine Meinungsverschiedenheit im Schrifttum; sie ist anerkannten Rechtens" (Zitate). Eingehende Ausführungen zu den einzelnen Voraussetzungen (RGZ 167, S. 391 - 4 0 1 [!]; 1941). Abschließend noch eine Entscheidung des III. Zivilsenats (Amtshaftung) über einen Verkehrsunfall in Österreich im Zusammenhang mit besetzungsähnlichen Aktionen anläßlich der sog. Wiedervereinigung. c) Auf Anfordern des Polizeipräsidenten einer österreichischen Stadt stellte ein dortiges Busunternehmen 30 Busse mit je zwei Fahrern für eine „Transportübung" zur Verfügung, in Wahrheit für Maßnahmen anläßlich der „Wiedervereinigung" Österreichs mit dem deutschen Reich. Bei einem Zusammenstoß eines Busses mit einem Privat-Pkw am 20. 3. 1938 wurde dessen Fahrer verletzt. - Da es sich bei den Transportfahrten um Ausübung hoheitlicher Gewalt handelt, ist der Fall nach Amtshaftungsgrundsätzen zu beurteilen, für die in Österreich im „Augenblick" der „Wiedervereinigung", also ab 13. 3. 1938 (Gesetze vom 13. 3. 1938; s. oben III), dieselbe Rechtslage bestand wie im Altreich (Art. 131 Weimarer Verfassung i. V. m. § 839 BGB). Daraus folgt, daß die Haftung des beklagten Busfahrers wegen des Beamtenprivilegs nicht begründet ist und die Haftung des außerdem beklagten Busunternehmens nach den Grundsätzen der Gefahrdungshaftung gleichfalls zu verneinen ist, weil die Eigenschaft des „Betriebsunternehmers" („Halters") vom Busunternehmer auf das (im Prozeß nur als Streithelfer beteiligte) Deutsche Reich übergegangen ist, das durch den Führer der Polizeitruppe die volle Verfügung über die Fahrzeuge für einen längeren Zeitraum innehatte und das daher schadensersatzpflichtig ist (RGZ 167, S. 9; 1942; III. Zivilsenat).

V. Ergebnisse Damit ist der Bericht über eine Auswahl reichsgerichtlicher Entscheidungen zum österreichischen ABGB aus den Jahren 1939-1943 (RGZ 161-172) abgeschlossen, und es ist nun eine zusammenfassende Beurteilung zu versuchen. Wie häufig in solchen Fällen ist die Suche nach einem einheitlichen Nenner vergebens. Eine überzeugende Gesamtbewertung kommt nicht daran vorbei, wie bereits oben (IV a. A.) angedeutet, mehrere Merkmale hervorzuheben. Das Gericht hatte das ABGB anzuwenden und dessen Anwendung durch die Instanzgerichte zu kontrollieren. Im ABGB ist manches anders geregelt als im BGB, und so ist klar, aber doch auch bemerkenswert, daß die Richter des VIII. Zivilsenats die Originalitäten des ABGB wie in einer juristischen Diaspora mit deutlichen Worten hervorheben. Ein Grundstückskaufvertrag bedarf nach

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ABGB keiner Form (oben IV 2 a); die Mängelgewährleistung bei entgeltlichen Verträgen sieht generell eine Art Nachbesserung („Verbesserung") vor (2 b); die Wandlung vernichtet den Vertrag mit Rückwirkung (2 i); es gibt keine Kondiktion wegen Zweckverfehlung (2 h); bei der Anweisung auf Schuld ist der Angewiesene zur Leistung an den Anweisungsempfänger verpflichtet (2 m); die Eigentumsübertragung ist anders geregelt als im BGB (3 b); vor 1938 gab es das außergerichtliche Testament vor Zeugen (5 a); einen Erbschein kennt das ABGB nicht (5 c); es gibt die fideikommissarische Substitution (5 a). Diese Beispiele aus den Entscheidungsbegründungen können belegen, daß die Eigenständigkeit des ABGB durch solche Hervorhebungen betont wird und daß sie damit zweifellos ein vorrangiges Kennzeichen der untersuchten Judikatur darstellt. Nur scheinbar steht dazu im Widerspruch der für diese Judikatur gleichfalls charakteristische, vergleichende, zustimmende, aber auch kritische Blick auf das BGB und das deutsche Schrifttum. Die gemeinsame gemeinrechtlichrömische Tradition, die stark unter dem Einfluß des BGB stehende Revision des ABGB durch die umfassende 3. Teilnovelle aus dem Jahr 1916 und schließlich das zwangsläufig vom BGB bestimmte zivilrechtliche Umfeld im Leipziger Reichsgericht - dies alles macht den Kontakt der ABGB-Judikatur des VIII. Zivilsenats mit dem deutschen Zivilrecht verständlich. Die folgenden Stichworte aus den Entscheidungsbegründungen mögen dies verdeutlichen. § 879 I ABGB (Nichtigkeit eines Vertrages wegen Verbotsverstoßes) ist § 134 BGB nachgebildet (1 a), § 1313 a ABGB (Haftung für Hilfsperson) der Vorschrift des § 278 BGB (2 g) und § 364 II ABGB der Vorschrift des § 906 BGB (3 a). - Der mögliche Inhalt einer Grunddienstbarkeit ist nach beiden Gesetzen identisch (§ 472 ABGB - §§ 1018, 1019 BGB); über die Bedeutung einer Sicherungsabtretung besteht nach beiden Gesetzen Einigkeit (3 d); ebenso über so allgemeine Begriffe und Regelungen wie das mitwirkende Verschulden (§ 1304 ABGB) (2 s), den Kondiktionsausschluß bei Leistungen aufgrund sittlicher Pflicht (4 b) und erst recht über einen so allgemeinen Rechtsbehelf wie den Einwand der Arglist (2 s). - Hinsichtlich des Widerrufs einer gemischten Schenkung (§§ 948, 949 ABGB) ist der deutschen, nicht der österreichischen Rechtsprechung und Literatur zu folgen (2 e); das Vorkaufsrecht nach dem ReichsheimstättenG ist notwendigerweise nach §§ 505 ff. BGB, nicht nach dem anders konstruierten österreichischen Vorkaufsrecht (§§ 1072 ff. ABGB) zu beurteilen (2 c). - Dagegen gibt es Unterschiede in den Regelungen der beiden Gesetze, die zu beachten sind, so bei den Wirkungen einer Anweisung auf Schuld (§ 1401 I ABGB einerseits, § 787 II BGB andererseits) (2 m); beim Umfang des Schadensersatzes im Falle der Tötung des Ehemannes (§ 1327 ABGB: entgangene Lebensführung und -Stellung; § 844 BGB: entgangener Unterhalt) (2 n). - Gegenüber modernen Bezeichnungen aus dem deutschen Arbeitsrecht („Arbeitsverhältnis ohne Arbeitsvertrag ...") zeigt der Senat deutliche Zurückhaltung (2 f).

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Nur wenige Fragwürdigkeiten oder sogar Mißgriffe in den Begründungen trüben dieses positive Bild. Dazu einige Beispiele. Trotz der soeben erwähnten Skepsis gegenüber deutscher arbeitsrechtlicher Terminologie hat der Senat keine Bedenken, den Dienstgeber für Gerätschaften gem. § 1157 ABGB (vergleichbar: § 618 BGB) auch den Hilfskräften des Vertragspartners gegenüber haften zu lassen (2 f), eine Annahme, die sicherlich genauerer dogmatischer Begründung bedurft hätte (heute: Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter). Ähnliches gilt für § 1313 a ABGB (Einstandspflicht für Hilfspersonen; § 278 BGB nachgebildet). Daß diese Vorschrift nicht nur ihre genuine Funktion als ein Haftungsmaßstab für die aus anderen Normen zu begründende Haftung des Geschäftsherrn wahrnimmt, sondern auch für die Haftung des Geschäftsherrn gegenüber den Hilfspersonen seines Vertragspartners als Anspruchsgrundlage herhalten muß (2 r), ist schon eine recht kühne Behauptung, die jedenfalls genauer begründet werden mußte. Bemerkenswert gewagt ist ferner die „erweiterte Auslegung (!) des § 1327 ABGB", mit der der Senat entgegen den bisher in der Gesetzgebung und Rechtsprechung vertretenen Standpunkten dem Ehemann einen Ersatzanspruch für die ihm entgehenden Dienste seiner getöteten Ehefrau verschafft (2 o). Vielleicht sind die dogmatischen Defizite in den beiden zuletzt genannten Urteilen, die 1943 durch den VII. Zivilsenat anstelle des schon aufgelösten VIII. Zivilsenats ergangen sind, bereits Schwächeerscheinungen einer zu Ende gehenden Epoche. - Wenn schließlich anläßlich eines Verkehrsunfalls auf österreichischem Gebiet kurz nach der „Wiedervereinigung" die reichsdeutschen Amtshaftungsgrundsätze angewendet werden und nicht das gem. Art. II des einschlägigen Reichsgesetzes (oben III) weitergeltende österreichische Recht, so ist das wohl nur mit dem Bestreben zu erklären, den Geschädigten besser zu stellen als nach österreichischem Recht, das eine entsprechende Staatsverantwortlichkeit nicht kannte. In diese Gesamtbeurteilung gehört auch der Hinweis auf Äußerungen des Reichsgerichts, mit denen eine fach- und methodengerechte Rechtsanwendung durchgeführt und gestützt wird, und zwar gerade in Fällen drohender Konflikte mit politisch abweichenden Anschauungen der damaligen Zeit. Solche richterliche Unabhängigkeit ist in einer die Grundwerte des Zivilrechts ablehnenden oder geringachtenden Diktatur keine Selbstverständlichkeit. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang das deutlich ausgesprochene Bekenntnis zum Schutz des privaten Eigentums (3 a). Bemerkenswerterweise wirkt Art. II des oben (III) genannten Reichsgesetzes - anders als im eben erwähnten Staatshaftungsfall - diesmal (korrekt) als Abwehr älterer reichsdeutscher eigentumsbeschränkender Gesetze, die - weil in Österreich nicht eingeführt - dort nicht anwendbar sind. Der Eigentumsschutz ist in Österreich also wirksamer als im Altreich. - Erlasse des Reichskommissars für Preisbildung besitzen nicht „das Wesen einer Rechtsquelle", sind daher nur von innerdienstlicher Wirkung (1 a). Damit ist die Vertragsfreiheit jedenfalls insoweit geschützt, als ein von der staatlichen Preisüberwachungsstelle oktroyierter Preis von den Vertragsparteien nicht hin-

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genommen zu werden braucht. - Auch die NSDAP (6 b) und das Deutsche Reich (6 c) sind bei Verkehrsunfällen als Halter von Kraftfahrzeugen nach der gesetzlichen Betriebshaftpflicht schadensersatzpflichtig. - Die einzige Konzession, die das Gericht in solchen politisch heiklen Fällen offenbar für angebracht hielt, war eine ausführlichere Begründung seiner Entscheidungen als sonst (1 a; 6 b; 6 c). Solche Überlegungen führen weiter zu der Frage nach erkennbaren Spuren nationalsozialistischen Gedankenguts in der hier untersuchten reichsgerichtlichen Judikatur. Im österreichischen Schrifttum heißt es allgemein zu diesem Thema, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft hätten neue Akzente gesetzt, „indem sie als neue Rechtsquelle den Führerwillen, das gesunde Volksempfinden und das Parteiprogramm der NSDAP anerkannten". 34 Diese Feststellung ist nach der Durchsicht der reichsgerichtlichen Judikatur zum ABGB allerdings nicht zu bestätigen. Es gibt nur einige wenige Stellen, in denen die entsprechende nationalsozialistische Terminologie ermittelt werden konnte. Das „Volksempfinden", vom Beklagten in Anspruch genommen, wird vom Gericht in einem eher ironischen, sachlich bedeutungslosen Zusatz umgekehrt für die Klägerin als Witwe des getöteten Ehemannes ins Feld geführt (2 n). Aus einem Vertrag, der nach der sorgfältigen Begründung des Gerichts nach zivilrechtlichen Maßstäben wegen Wuchers nichtig ist, kann die in ihm begünstigte Partei keine Rechte mehr herleiteten. Ist es ein Beweis nationalsozialistischer Gesinnung, wenn der Senat hinzufügt, daß die gegenteilige Auffassung auch Jedem gesunden Volksempfinden widersprechen würde"? (2 n) Die einwandfreie Feststellung der Vaterschaft ist ein legitimes Ziel moderner Familienrechtsordnungen. Dann kann es nicht vorzuwerfen sein, daß dies auch „im nationalsozialistischen Staat als notwendig erachtet werden muß" (4 a). Bei der Verwendung der genannten Termini handelt es sich danach, richtig gesehen, um sprachliche Kosmetik, ohne für die Entscheidung ausschlaggebende Bedeutung. Allenfalls kann man die Verwendung so verstehen, daß der Senat daraufhinzuweisen sich bemüht, daß die für ihn maßgebende bürgerliche Rechtsordnung der nationalsozialistischen Ordnung nicht widerspricht. Daß aber etwa neue Rechtsquellen freigelegt werden, davon kann in der hier untersuchten Judikatur keine Rede sein. Das Urteil des VIII. Zivilsenats in RGZ 168, S. 317 (1942) über einen Grundstückskaufvertrag mit einer Jüdin als Verkäuferin, der von der Behörde genehmigt, aber mit einer Auflage versehen war, ist nicht zum ABGB ergangen, sondern zur Rechtslage im sog. Protektorat Böhmen und Mähren. Dort war durch VO die behördliche Genehmigung solcher Verträge vorgeschrieben, ohne daß in der VO die Zulässigkeit von Auflagen erwähnt war. Mit der Genehmigung verbundene Auflagen waren dagegen nach dem

34

Ursula Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte, S. 18 f.

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Hans Hermann Seiler

Wortlaut der entsprechenden reichsdeutschen VO möglich. Wie B. Rüthers 35 mit Recht kritisch bemerkt, konnte unter dem vom Reichsgericht genannten Postulat der Gleichbehandlung aller Juden von einer Gesetzeslücke im Protektorat gesprochen werden, die dann durch eine analoge Anwendung der reichsdeutschen Bestimmung zu schließen war. Das Reichsgericht nennt seine Anwendung dieser Vorschrift jedoch „Auslegung" der Protektoratsvorschrift, was Rüthers als fehlende methodische Klarheit bei der Anwendung judenfeindlicher Vorschriften bezeichnet.

Abschließend noch eine knappe Bemerkung zur äußeren Form. Die Entscheidungen des VIII. Zivilsenats sind großenteils von angenehmer Kürze (Einfluß des österreichischen Senatspräsidenten?). Formulieren sie etwas ausführlicher, läßt sich, wie erwähnt, der (politische) Grund erahnen. Wenn wenig zitiert wird, ist dies sicher auch damit zu erklären, daß es erheblich weniger als heute zu zitieren gab. Erfreulich wie die Kürze ist ferner die überwiegend einfache und klare Sprache. Vielfach ist es ein Vergnügen zu lesen, wie verständlich und schlicht Juristisches gesagt werden kann. Der bildhafte Vergleich der Entstehung einer Stiftung mit der Geburt eines Menschen (1 e) hat geradezu natürlich mit juristischem Maß gemessen - künstlerisches Format. Alles in allem also eine Rechtsprechung auf beachtlichem Niveau, die Respekt verdient.

35 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 5. Aufl. 1997, S. 377 f.

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensacheü von 1933-1945 V o n Eva Schumann

I. Einführung Anlässlich der Gedenkstunde zum 100. Gründungstag des Reichsgerichts vor 25 Jahren (1979) urteilte der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Gerd Pfeiffer, über die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen für die Zeit nach 1933, dass „das Reichsgericht... dem neuen Rechtsdenken nicht nur dort, w o es durch A k t e des Gesetzgebers dazu gezwungen war, sondern in noch viel größerem Maße über die Uminterpretation normativ-unbestimmter Rechtsbegriffe und gesetzlicher Generalklauseln ohne erkennbaren Widerstand zum Durchbruch verholfen" habe. 1 Seit damals wurde das B i l d über die Rechtsprechung des für Familiensachen zuständigen I V . Zivilsenats des Reichsgerichts 2 durch zahlreiche Dissertationen

1 Gerd Pfeiffer, Das Reichsgericht und seine Rechtsprechung, Vortrag anlässlich der Gedenkstunde zum hundertsten Geburtstag des Reichsgerichts, DRiZ 1979, S. 325, 330. 2 In den Jahren 1933-1945 gehörten folgende Reichsgerichtsräte über einen längeren Zeitraum (mind. zwei Jahre) dem IV. Zivilsenat an: Paul Maria Cornelius Blumberger 1935-1942 (geb. 24.6.1879 in Düsseldorf, seit 1.7.1930 RGR, seit 1.5.1937 Parteimitglied, seit 1.4.1942 Senatspräsident eines Strafsenats, gest. 1946 im Lager Mühlberg); Karl Boos 1933-1938, 1940-1941 (geb. 2.5.1873, kein Parteimitglied); Martin Buchwald 1933-1945 (geb. 28.9.1884, seit 1.9.1933 RGR, seit 1.5.1937 Parteimitglied); Georg Frantz 1937-1943 (geb. 4.12.1899 in Ueckeritz, Parteimitglied seit 1.2.1932, seit 1.8.1937 RGR, nach 1945 RA und Notar in Lübeck); Hermann Günther 1933-1942 (geb. 23.5.1882, seit 1.1.1933 RGR, seit 1.5.1933 Parteimitglied, seit 1.4.1942 Senatspräsident des VI. Zivilsenats, gest. 1945 im Lager Mühlberg); Ernst Hallamik 19331937; Siegfried Hofmann 1936-1939, 1943-1945 (geb. 16.6.1877, Parteimitglied seit 1.5.1937); Ernst Kahtz 1933-1942 (geb. 1.5.1875, kein Parteimitglied); Ludwig Lippert 1940, 1942-1945 (geb. 23.4.1887, Parteimitglied seit 1.5.1933); Wolfgang Schrutka 1939-1945 (geb. 29.6.1884, kein Parteimitglied, gest. 1946 im Lager Mühlberg); Friedrich Schwegmann 1942, 1944-1945 (geb. 9.3.1882, Parteimitglied seit 1.5.1933). Der einzige Richter jüdischer Herkunft, Victor Hoeniger ließ sich zum 1.4.1935 auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetzen. Senatspräsidenten waren seit 1934 bis 1.1.1938 Fritz Seyffahrt (geb. 12.12.1872 in Wormditt, seit 1.4.1919 RGR, gest. 23.11.1938) und seit 1.5.1938 bis 14.4.1945 Martin Jonas (geb. 8.11.1884 in Stettin, 1923-1937 Mitar-

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und Abhandlungen ergänzt. So bewertete etwa Dieter Niksch die Rechtsprechung des Senats zur Scheidung wegen Zerrüttung nach § 55 EheG 1938 dahingehend, dass „alle bevölkerungspolitischen und rassischen Schlagworte der Zeit ... vom Senat ohne Bedenken übernommen und als selbstverständlich angewendet" worden seien. Die Urteile zeigten, „daß das Reichsgericht sich dem Geist der Zeit vollkommen anpaßte und die Auffassung von einer nationalsozialistischen Ehe und Familie in seinen Urteilen aufgriff und weiterbildete". 3 Hingegen kam Andreas Rethmeier in seiner Arbeit über die Nürnberger Rassegesetze zu dem Ergebnis, dass das Reichsgericht noch „eine gewisse Bremse gegen die Maximalposition neuer nationalsozialistischer Gesetzesauslegung" dargestellt habe.4 Nach Marius Hetzel zeugt die Reichsgerichtsrechtsprechung zu den Rassenmischehen von einer „großen Unsicherheit" der Leipziger Richter: „Die grundsätzliche Übernahme der nationalsozialistischen Weltanschauung (könne) angesichts ihrer einhelligen Akzeptanz in der Literatur und in der Rechtsprechung der Instanzgerichte nicht überraschen." Bei „der Frage, ob nicht die höchsten deutschen Richter mehr Widerstand gegen die Entrechtung der Juden hätten leisten können ..., (müsse) man sich die politische Lage in Deutschland ... vor Augen führen, (der) auch das Reichsgericht Tribut zollen mußte".5 Eine aktive, rechtsfortbildende Rolle wurde dem IV. Zivilsenat bislang nur für Einzelentscheidungen zugewiesen, während die Frage, in welchem Umfang das Reichsgericht rechtsgestaltend am Aufbau eines nationalsozialistischen Familienrechts mitgewirkt hat, unbeantwortet blieb. 6 Im Folgenden soll dieser

beiter im Reichsjustizministerium, seit 1937 Mitglied des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, Parteimitglied seit 1.1.1940, Selbstmord am 14.4.1945). Dazu insgesamt Marius Hetzel, Die Anfechtung der Rassenmischehe in den Jahren 1933-1939, 1997, S. 93 ff.; Vesta Hoffmann-Steudner, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu dem Scheidungsgrund des § 49 EheG (EheG 1938) in den Jahren 1938— 1945, 1999, S. 65 ff.; Kathrin Nahmmacher, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und der Hamburger Gerichte zum Scheidungsgrund des § 55 EheG 1938 in den Jahren 1938-1945, 1999, S. 85 ff.; Dieter Niksch, Die sittliche Rechtfertigung des Widerspruchs gegen die Scheidung der zerrütteten Ehe in den Jahren 1938-1944, 1990, S. 259 ff. Zum Schicksal der Reichsgerichtsräte nach 1945 vgl. August Schaefer, Das große Sterben im Reichsgericht, DRiZ 1957, S. 249 f. 3

Niksch (o. Anm. 2), S. 587, vgl. auch S. 590: „Die vom IV. Zivilsenat des RG gegenüber der nationalsozialistischen Führung gezeigte Loyalität ist vollkommen." Zurückhaltender hingegen Nahmmacher (o. Anm. 2), S. 235: „Die Darstellung hat gezeigt, daß sich Einflüsse des nationalsozialistischen Zeitgeistes in den Entscheidungen sowohl der Instanzgerichte als auch des Reichsgerichts nachweisen lassen." 4 Andreas Rethmeier, „Nürnberger Rassegesetze" und Entrechtung der Juden im Zivilrecht, 1995, S. 64. 5 Hetzel (o. Anm. 2), S. 114 f. 6 Verneint wird diese Frage von Nahmmacher (o. Anm. 2), S. 241: „Daraus, daß sich das Reichsgericht ... gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern loyal gezeigt

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

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Frage nachgegangen werden, und zwar für die Bereiche der Anfechtung der Ehe wegen Irrtums nach § 1333 BGB, der Scheidung wegen Zerrüttung nach § 55 EheG 1938 und der Feststellung der blutsmäßigen Abstammung.7

II. Anfechtung der Ehe wegen Irrtums nach § 1333 BGB 8 Am 12. Juli 1934 hatte der IV. Zivilsenat darüber zu befinden, „unter welchen Voraussetzungen ... eine arisch-jüdische Mischehe wegen Irrtums über die (hat), kann aber noch nicht notwendig gefolgert werden, daß ... mit der Spruchpraxis aktiv Rechtspolitik betrieben wurde. Dem Reichsgericht fiel zwar nicht die Rolle des unbeteiligten, unterdrückten Opfers zu, aber es kann wohl angenommen werden, daß es als ,Objekt4 der nationalsozialistischen Machthaber gebraucht und genutzt wurde, um den nationalsozialistischen Geist in der Rechtsprechung und darüber hinaus zu verbreiten." 7 Berücksichtigt wurden auch einschlägige Veröffentlichungen der Reichsgerichtsräte des IV. Zivilsenats, insb. von Georg Frantz (auch nach 1945), Hermann Günther und Martin Jonas. Martin Buchwald und Ernst Hallamik waren Bearbeiter von Bd. 4 (Familienrecht) des BGB-Kommentars der Reichsgerichtsräte; Martin Jonas kommentierte § 55 EheG im Kommentar von Schlegelberger/Vogels und war außerdem Bearbeiter des ZPO-Kommentars Stein/Jonas von der 12. Aufl. 1925 ff. bis zur 16. Aufl. 1938 ff. Georg Frantz: Zu § 56 des Ehegesetzes, DR 1940, S. 709-711; Die neuere Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Ehelichkeitsanfechtung, DR 1940, S. 1552-1555; Rechtsprechung in Abstammungsstreitigkeiten, DR 1941, S. 1973-1976; Richtung und Grundgedanken der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zum Ehegesetz, DR 1941, S. 1028-1035; Verfahrensfragen aus dem Eherecht, DR 1941, S. 689-691; Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung in Abstammungsstreitigkeiten, DR 1942, S. 820-821; Neues aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung in Abstammungssachen, DR 1943, S. 62-65; Verweigerung der Fortpflanzung als Scheidungsgrund (§ 48 EheG), DR 1943, S. 326-329; Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts auf familienrechtlichem Gebiet, NJW 1949, S. 448-450; Ehezerrüttung, NJW 1950, S. 94-96; Änderung des Eherechts?, SchleswigHolsteinische Anzeigen 1953, S. 45-47; Die Ehezerrüttung als Grundlage der Scheidung - Ein Beitrag zur Frage der Reform unseres Scheidungsrechts, FamRZ 1954, S. 190193; Zur Abstammungsfeststellungsklage, DRiZ 1955, S. 282-285; Tendenziöse Erfindungen des RG?, NJW 1956, S. 498. Hermann Günther: Befreiung des Reichsgerichts von der Fessel veralteter Entscheidungen, ZAkDR 1937, S. 300-304; Die Feststellungsklage wegen Abstammung und die Familienrechtsnovelle, JW 1938, S. 1699-1701; Zum neuen Eherecht, DRpfl. 1938, S. 291-294; Zur Familienrechtsnovelle, DRpfl. 1938, S. 163-168; Der Zwiespalt zwischen Unterhalts- und Abstammungsurteil, ZAkDR 1943, S. 26-27; Zur Angleichung des Familienrechts, ZAkDR 1943, S. 145-147. Martin Jonas: Zum neuen Ehescheidungsrecht, in: FS für Erwin Bumke zum 65. Geburtstag, 1939, S. 203-217; Besprechung zu Erich Volkmar, Kommentar zum Ehegesetz v. 6. Juli 1938, 1939, DR 1939, S. 1910-1911; Der Unterhalt des geschiedenen Ehegatten, DR 1941, S. 755-764; Die Anerkennung ausländischer Eheurteile, DR 1942, S. 55-60. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 8

§ 1333 BGB 1900: Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden, der sich bei der Eheschließung in der Person des anderen Ehegatten oder über solche persönliche Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden.

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Rassenverschiedenheit angefochten werden" könne. 9 Z u diesem Zeitpunkt war die Frage im Schrifttum bereits seit einem Jahr lebhaft diskutiert 1 0 und von den Instanzgerichten unterschiedlich beurteilt worden. 1 1 Daher sah man der Entscheidung des Reichsgerichts m i t großen Erwartungen entgegen, erhoffte man sich doch von den Leipziger Richtern die dringend gebotene K l ä r u n g . 1 2 Die hochgesteckten Erwartungen sollten allerdings nicht erfüllt werden, denn das Reichsgericht wies die Klage zurück und nahm nicht zu allen Streitfragen abschließend Stellung. Aus diesem Grund wurde die Entscheidung i m juristischen Schrifttum eher kritisch aufgenommen; so schrieb etwa Rechtsanwalt Ferdinand Mößmer, Vorsitzender des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, in seiner sieben Seiten umfassenden Besprechung: „ D e m Urteil kommt keineswegs die grundsätzliche Bedeutung zu, die erwartet worden war. M a n kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, daß in verschiedenen Punkten eine endgültige Festlegung vermieden werden sollte." 1 3 Noch heute dient diese erste Entscheidung des Reichsgerichts zur sog. Rassenmischehe 14 als Beleg für die bereits erwähnte „große Unsicherheit" des Se9 RGZ 145, S. 1 ff. = JW 1934, S. 2613 ff. (Urt. v. 12.7.1934 - IV 94/34). Am 12.7.1934 wurden insgesamt fünf Urteile zu sog. Rassenmischehen erlassen (nur zwei davon sind in der amtlichen Sammlung der reichsgerichtlichen Entscheidungen veröffentlicht). An diesen Urteilen hatte der einzige jüdische Reichsgerichtsrat des IV. Zivilsenats, Victor Hoeniger, nicht mitgewirkt. Dazu Hetzel (o. Anm. 2), S. 92, 102. 10 Etwa Wöhrmann, JW 1933, S. 2041; Krug, DJ 1933, S. 635 ff.; Schumacher, DJZ 1933, S. 1492 ff.; Schneider, JW 1934, S. 868 ff.; Jung, JW 1933, S. 2367 f.; Stoll, DJZ 1934, S. 561 ff.; Dageförde, Jugend und Recht 1934, S. 28 f.; Ermel, StAZ 1934, S. 156. 11 KG DJ 1933, S. 818 f.; LG Köln DJ 1933, S. 819; KG DJ 1934, S. 134; KG DJ 1934, S. 395 jeweils mit Urteilsanmerkungen. Weitere Urteile finden sich bei Hetzel (o. Anm. 2), S. 56 f f , 74 ff. Vgl. auch Hans Wrobel, Die Anfechtung der Rassenmischehe, in: Kritische Justiz 1983, S. 349, 358 ff. 12 Etwa Mößmer, ZAkDR 1934, S. 86, 89; Matzke, JW 1934, S. 2593, 2594. 13 Mößmer, ZAkDR 1934, S. 86, 90. Vgl. auch Matzke, JW 1934, S. 2593, 2594: „Leider muß man zusammenfassend feststellen, daß das Gewicht der Gründe des ... Urteils des RG der Bedeutung jener Frage keineswegs entspricht. Das Urteil weist in sachlich-rechtlicher und in verfahrensrechtlicher Beziehung mehrfach Mängel auf; sein Ergebnis dient nicht gerade der Vorwärtsentwicklung des Rechts im völkischen Staat." Dazu auch Wrobel (o. Anm. 11), S. 370 f. Weite Teile der Entscheidung stießen allerdings auch auf Zustimmung; vgl. Maßfeiler, DJ 1934, S. 1031 f., 1102 f.; weitere Nachweise bei Hetzel (o. Anm. 2), S. 117 f f 14 Erst mit Runderlass des Reichsinnenministeriums v. 26. April 1935 (IV f 1814/1073c) wurde angeordnet, dass „im behördlichen Verkehr das Wort ,Mischehe4 nur in dem Sinne zu gebrauchen ist, daß hierunter eine zu einer Rassenmischung führende Ehe zu verstehen ist, d.h. eine solche, die zwischen einem Arier und einer Nichtarierin oder umgekehrt geschlossen wird" (JW 1935, S. 1835). Bereits seit 1933 wurde aber im nationalsozialistischen Sinne unter einer Mischehe eine Ehe zwischen Menschen verschiedener Rassenzugehörigkeit verstanden. Eine Statistik über die im Deutschen Reich bis 1933 geschlossenen Mischehen findet sich bei Göllner, Reichsgesundheitsblatt 1935, S. 980 f f

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nats; Uwe Wesel nennt diese Rechtsprechung als Beispiel für das „vorsichtige Zögern des Reichsgerichts". 15 Dies ist insofern nicht richtig, als das Reichsgericht zu der grundlegenden Frage, ob die Rassenzugehörigkeit eine persönliche Eigenschaft eines Ehegatten darstelle, eindeutig Stellung bezog und dabei seine bisherige Rechtsprechung änderte. In mehr als 80 Entscheidungen zu § 1333 BGB zwischen 1901 und Juli 1934 hatte das Reichsgericht eine persönliche Eigenschaft nur dann anerkannt, „wenn sie einer Person ... dergestalt wesentlich zukommt, daß sie als Ausfluß und Betätigung ihres eigentlichen Wesens, als ein integrierender Bestandteil ihrer Individualität erscheint". 16 Dazu wurden unheilbare Krankheiten, insbesondere Unfruchtbarkeit und Homosexualität sowie die in den 1920er Jahren häufig vorgetragene Hysterie der Ehefrau, aber auch Charaktereigenschaften oder ein unsittlicher Lebenswandel gezählt. Umstände, die nicht in der Person selbst angelegt waren, sondern nur durch äußere Beziehungen oder rechtliche Verhältnisse zur Umwelt vermittelt wurden, hatte das Reichsgericht hingegen in keiner Entscheidung als persönliche Eigenschaft angesehen.17 Dies ergab sich im Übrigen schon aus der Abgrenzung zur Betrugsanfechtung nach § 1334 BGB a.F., wonach über die persönlichen Eigenschaften des § 1333 BGB a.F. hinaus auch weitergehende Umstände berücksichtigt werden konnten, wenn über diese arglistig getäuscht worden war. 18 Im juristischen Schrifttum bis 1933 war die Rassenzugehörigkeit als persönliche Eigenschaft überhaupt nicht diskutiert worden; 19 vergleichbare Merkmale 15

Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2. Aufl. 2001, S. 485: „Das Zivilrecht war nicht so sehr betroffen, obwohl es auch hier eine nicht unerhebliche Zahl von Richtern gab, die den Rassenwahn in juristische Urteile umsetzten, bei der Scheidung von Mischehen zum Beispiel, trotz vorsichtigen Zögerns des Reichsgerichts." Vgl. weiter Uwe Diederichsen, Nationalsozialistische Ideologie in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Ehe- und Familienrecht, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich", 1989, S. 241, 269 f.: „Ich halte das Urteil für eines der wichtigsten zu unserem Thema überhaupt. Denn es zeigt, wie schwierig es für uns heute ist, die Frage zu entscheiden, in welchem Maße ein Urteil Ausfluß einer bestimmten ideologischen Grundhaltung ist. Die Entscheidung läßt sich nämlich trotz der Tatsache, daß das RG die Mischehe der Parteien im Ergebnis aufrechterhalten hat, als Triumph der Rassenideologie lesen. ... Das Urteil läßt sich aber auch genau umgekehrt interpretieren als ein gegen die NS-Ideologie gerichteter Akt der Rechtsprechung." 16

RGZ 52, S. 306, 310 (Urt. v. 6.10.1902 - IV 206/02). Dazu auch SoergelLindemann, Bürgerliches Gesetzbuch, 1921, § 1333, Anm. 1. 17 Hans So etwa Urt. v. 14.4.1910 (IV 328/09), zit. nach Schubert, Werner/Glöckner, Peter (Hrsg.), Nachschlagewerk des Reichsgerichts, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 9, 2000, 35 (§ 1333 Nr. 29): „Der Umstand, daß der Vater des einen Ehegatten vor geraumer Zeit eine Zuchthausstrafe erlitten und der Ehegatte dies dem anderen verschwiegen hat, berechtigt nicht zur Anfechtung der Ehe." 18 Dazu auch Hetzel (o. Anm. 2), S. 49 ff. 19

V g l . Wrobel (o. A n m . 11), S. 350.

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wie die soziale Herkunft eines Menschen oder der Geburtsstand hatte die K o m mentarliteratur hingegen ausdrücklich von den persönlichen Eigenschaften ausgenommen. 2 0 Dies änderte sich ab September 1933: Bereits in den ersten Veröffentlichungen

zur

Rassenmischehe

persönliche Eigenschaft angesehen,

21

wurde

die

Rassenzugehörigkeit

als

wobei die Autoren nur ganz vereinzelt auf

die bisherige Auffassung eingingen. 2 2 Auch die Leipziger Richter fühlten sich nicht verpflichtet, sich mit der alten Rechtslage und der Abkehr von ihrer eigenen Rechtsprechung auseinander zu setzen, vielmehr stellten sie ohne weitere Begründung fest: „Wegen der besonderen Eigentümlichkeiten der verschiedenen Rassen erscheint die Zugehörigkeit zu einer Rasse, insbesondere zur jüdischen Rasse, nach der natürlichen Lebensauffassung als wesentlicher Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen und damit als persönliche Eigenschaft i m Sinne der angegebenen Gesetzesvorschrift." 2 3 Allerdings lehnte der I V . Zivilsenat i m vorliegenden Fall einen Irrtum über die Rassenzugehörigkeit ab, w e i l dem Kläger der Umstand, dass seine Ehefrau

20 Etwa Staudinger, Kommentar zum BGB, Bd. IV, 9. Aufl. 1926, § 1333, Anm. 2a: „Keine persönliche Eigenschaft im Sinne des § 1333 bildet die ... Zugehörigkeit zu irgendeinem weiteren oder engeren Verband (Konfession, Beruf, Staatsangehörigkeit, Familienzugehörigkeit, Bürgerrecht, Abstammung, Name, Personenstand, Adel u. dgl.)"; Planck, Kommentar zum BGB, Bd. IV, 4. Aufl. 1928, § 1333, Anm. 3b: „Persönliche Eigenschaften sind solche Merkmale, die in der Person selbst liegend (also nicht wie die Beziehungen einer Person zu Staat, Gesellschaft, Familie, Religion, außerhalb der Person befindlich) dieser so wesentlich sind, daß sie sie von anderen Personen unterscheiden ... ." Weitere Nachweise bei Hetzel (o. Anm. 2), S. 50 f. 21 So insb. Wöhrmann, JW 1933, S. 2041; Krug, DJ 1933, S. 635 ff.; Schumacher, DJZ 1933, S. 1493; Schneider, JW 1934, S. 868 ff.; Jung, JW 1933, S. 2367 f.; Stoll, DJZ 1934, S. 563 ff.; Dageförde, Jugend und Recht 1934, S. 28 f.; Ermel, StAZ 1934, S. 156. Vgl. auch Wrobel (o. Anm. 11), S. 354 ff. 22 So heißt es etwa bei Schumacher, DJZ 1933, S. 1492, 1493, dass zwar nach bislang h. M. Konfession, Beruf, Staatsangehörigkeit, Familienzugehörigkeit, Bürgerrecht, Abstammung, Namen, Personenstand und ähnliches nicht als persönliche Eigenschaften gewertet worden seien, so dass entsprechendes auch für die Rassenzugehörigkeit gelten müsse, nunmehr erscheine aber „mit Rücksicht auf die geänderten Verhältnisse, die der Rassenfrage eine überragende Stellung zuweisen, ... die herrschende Meinung als überholt ..., so daß die rassische Zugehörigkeit einer Person als deren wesentliche Eigenschaft anzusehen" sei. 23 RGZ 145, S. 1,2. Dazu auch Wrobel (o. Anm. 11), S. 366: „Das Gericht erklärte die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse zur persönlichen Eigenschaft i.S.d. § 1333 BGB mit der in ihrer Schlichtheit bemerkenswerten Begründung, dies entspreche der natürlichen Lebensauffassung'." Zustimmend aber Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 5. Aufl. 1997, S. 155: „Der Senat wertet zutreffend die Zugehörigkeit des Ehegatten zu einer anderen Rasse, ,insbesondere zur jüdischen Rasse', als persönliche Eigenschaft im Sinne der Vorschrift."

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jüdischer Herkunft war, bei der Eheschließung bekannt war, dieser Umstand sogar eine wesentliche Rolle gespielt hatte, weil die Familien der Brautleute aus diesem Grund die Ehe hatten verhindern wollen. Der Kläger, ein ehemaliger Pfarrer, hatte deshalb von seiner Braut den Übertritt zur evangelischen Religion verlangt und diese war seinem Wunsch nachgekommen.24 Daher mochten sich die Leipziger Richter dem Vortrag des Klägers und den Ausführungen des Berufungsgerichts, 25 dass der Kläger zwar die Rassenzugehörigkeit gekannt, jedoch „die Bedeutung der nichtarischen Abstammung der Beklagten bei der Eheschließung nicht in ihrer vollen Tragweite erfaßt" habe, nicht anschließen. Nach Ansicht des Senats sollte ein Irrtum über die Bedeutung der Rassenzugehörigkeit nur dann vorliegen, wenn „der arische Teil unter dem Einfluß kirchlicher Lehren vom Rassenunterschied überhaupt nichts wußte, sondern angenommen (habe), der andere Teil gehöre lediglich einer anderen Religion an und der Unterschied werde durch einen Übertritt des anderen zum Christentum beseitigt". „Denkbar (sei) auch, daß der arische Teil zwar etwas vom Bestehen eines Rassenunterschiedes gehört, dessen Wesen aber zufolge primitiven Denkens nur ganz ungenügend erfaßt", insbesondere nicht gewusst habe, „daß der jüdische Teil die Eigentümlichkeiten seiner Rasse, selbst wenn sie bei ihm nicht merkbar in Erscheinung getreten sein sollten, auf die gemeinschaftlichen Nachkommen übertragen könne". 26 Somit umfasst nach dieser Rechtsprechung der Irrtum über persönliche Eigenschaften eines Ehegatten auch den Irrtum über die Bedeutung der Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Rasse, wobei es unerheblich sein sollte, ob die - nach den Vorstellungen der damaligen Zeit - mit der Rassenzugehörigkeit verbundenen Merkmale in der Person des Ehegatten in Erscheinung getreten waren. Erfasst wurden also Umstände, die den einen Ehegatten zwar betrafen, sich jedoch in seiner Person nicht bemerkbar gemacht haben müssen, die aber den anderen Ehegatten bei richtiger Würdigung der Bedeutung dieser ihm bekannten Umstände von der Eheschließung abgehalten hätten. Aus dem Irrtum über eine Eigenschaft der Person war ein Irrtum über die Bedeutung von Umständen geworden. Dass sich diese Interpretation weder mit dem Wortlaut noch mit der Entstehungsgeschichte des § 1333 BGB vertrug und im Widerspruch zur eigenen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung im Schrifttum bis 1933 stand, 24 RGZ 145, S. 1,4 f f Die Ehe stand von Anfang an unter keinem glücklichen Stern. Bereits im ersten Ehejahr erhob der Kläger ohne Erfolg eine Anfechtungsklage mit der Begründung, dass er sich über die hysterische Veranlagung seiner Frau geirrt habe. 25 Zum Urteil der Vorinstanz OLG Karlsruhe (Urt. v. 2.3.1934) vgl. Hetzel (o. Anm. 2), S. 68 ff. Vgl. weiter Christoph Schiller, Das OLG Karlsruhe im Dritten Reich, 1997, S. 324 ff. 26 RGZ 145, S. 1,4.

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war den Leipziger Richtern durchaus bewusst. Denn als Begründung für die neue Interpretation des § 1333 BGB wurde angeführt, „daß die Gerichte bei der Anwendung des Gesetzes dem durch die Ariergesetzgebung staatlich anerkannten Rassenunterschied Rechnung zu tragen" hätten; daraus folge, „daß die Rassezugehörigkeit ... als persönliche Eigenschaft im Sinne des § 1333 BGB zu werten" sei. 27 Gleichzeitig wurde schon im nächsten Satz die Bindung des Richters an das Gesetz gefordert: „Im Übrigen kann die Anfechtbarkeit von Mischehen nur im Rahmen dieser Vorschrift zugelassen werden. Die Gerichte sind nicht befugt, den nationalsozialistischen Anschauungen über diejenigen Grenzen hinaus Geltung zu verschaffen, die die Gesetzgebung des nationalsozialistischen Staats sich selbst gezogen hat. In dieser Hinsicht ist von entscheidender Bedeutung, daß die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Regierung in der Rassenfrage bei weitem nicht alle Forderungen des nationalsozialistischen Programms verwirklicht hat. ... Man würde also über die Absichten des Gesetzgebers hinausgehen, wenn man die Anfechtung früher geschlossener Mischehen über die Grenzen des § 1333 BGB hinaus zulassen wollte. Damit steht in Einklang das Rundschreiben des Reichsministers des Innern vom 17. Januar 1934 (...), das darauf aufmerksam macht, daß die gesetzlichen Schranken, die sich die Reichsregierung bei der Ariergesetzgebung gesteckt hat, genau zu beachten seien .... Das alles bestätigt die hier vertretene Auffassung, daß die Gerichte bei der Entscheidung über die Anfechtung von Mischehen den Boden des § 1333 BGB nicht verlassen dürfen. ... Nach wie vor gilt die Bindung des Richters an das Gesetz. Solange daher die Bestimmung des § 1333 BGB nicht geändert wird, und zwar mit rückwirkender Kraft, ist die Anfechtbarkeit von Mischehen wegen Irrtums über die Rassezugehörigkeit eines Ehegatten über die oben angegebenen Grenzen hinaus nicht möglich ... ," 2 8

Den Boden des § 1333 BGB hatte das Reichsgericht allerdings längst verlassen. Zu Recht weist Bernd Rüthers daher darauf hin, dass „dieser Teil der Gründe ... irreführend" sei, denn „mit der Anerkennung des Wertungsirrtums als Anfechtungsgrund" hätten die Leipziger Richter „bereits de(n) entscheidendein) Schritt zur Vereitelung des Normzweckes" des § 1333 BGB vollzogen. „Die Analyse des Urteils zeig(e), daß das Reichsgericht gesetzgeberische Funktionen" wahrgenommen habe.29 Im Übrigen lag der Senat mit seinem Hinweis auf die Bindung des Richters an das Gesetz ganz auf der Linie der Staats- und Parteiführung. Nachdem sich bereits 1933 Standesbeamte geweigert hatten, Ehen zwischen Ariern und Juden zu schließen, sah sich Reichsinnenminister Wilhelm Frick am 17.1.1934 veran27

RGZ 145, S. 1,6. RGZ 145, S. 1, 6 f. Ähnlich RGZ 150, S. 125, 127 f. (Urt. v. 30.6.1936 - IV 202/35) zur Scheidung einer Mischehe; auch dort berief sich der IV. Zivilsenat zunächst auf die Bindung an das Gesetz, um anschließend die Möglichkeiten richterlicher Rechtsfortbildung aufzuzeigen. Vgl. weiter RG JW 1936, S. 1958 (Urt. v. 20.4.1936 - IV 17/36) mit Anm. Maßfeller: RG JW 1938, S. 234 (Urt. v. 18.11.1937 - IV 133/37). 28

29

Rüthers (o. A n m . 23). S. 159.

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

179

lasst, „ i n einem Runderlaß alle Reichs- und Landesbehörden zu ermahnen, die Grenzen der , Arier-Gesetzgebung' genauer zu beachten und Amtshandlungen, wie etwa Eheschließungen, vorzunehmen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür erfüllt seien, selbst wenn diese Gesetze v i e l l e i c h t nationalsozialistischen Auffassungen nicht v o l l zu entsprechen 4 " schienen. 30 Bezeichnenderweise erwähnt

das Urteil

zwar

diesen an die Exekutive

gerichteten

Runderlass, nicht aber die gegenüber der Judikative mehrfach erhobenen Forderungen Roland Freislers, W i l h e l m Fricks und Franz Gürtners nach einer engen Bindung des Richters an das Gesetz. A u c h der Justiz war somit schon mehrfach von höchster Stelle bis zum Erlass entsprechender Gesetze Zurückhaltung geboten worden. Erstmals im Herbst 1933 hatte Roland Freisler (damals noch Staatssekretär im Preußischen Justizministerium) in der DJ zum Verhältnis von „Recht, Richter und Gesetz" Stellung genommen: „Und das bedeutet im Rahmen unserer Betrachtungen, daß der Richter nicht etwa dazu da ist, die geltenden Gebote des Staates zu ändern. ... Würde der Richter das tun wollen, was Sache des Führers ist, wollte er dort, wo der nationalsozialistische Staat aus irgendwelchen Gründen Gesetze des früheren ,Staates4 bestehen ließ, prüfen, wie weit diese Gesetze mit den Forderungen des Nationalsozialismus übereinstimmen, und wollte er, wenn er nach gewissenhafter Prüfung glaubt, feststellen zu müssen, daß diese Gesetze mit dem Geist des nationalsozialistischen Staates nicht vereinbar sind, sie bewußt nicht anwenden, so wäre das eine Handlung, die in einem nationalsozialistischen Staate niemals heimatberechtigt sein kann. Denn diese Handlung würde an Stelle des Führers den zufallig amtierenden Richter setzen und nicht den Richter als Typus, sondern den einzelnen Richter als Persönlichkeit mit allen Schwächen. Sonderansichten, mit seiner Auffassung vom Wesen des Nationalsozialismus und mit seiner Sonderauffassung von völkischen und staatlichen Notwendigkeiten.... Deshalb kann es nie Aufgabe des Richters sein, dem Gesetze entgegen zu entscheiden, auch dann nicht, wenn er das geschriebene Gesetz als unvereinbar mit nationalsozialistischer Auffassung hält. Der einzelne Richter kann nicht wissen, ob seine Auffassung von gegebenen Notwendigkeiten, von richtigen oder unrichtigen Lösungen schwebender Fragen, von Geboten des Nationalsozialismus im einzelnen die des Führers ist. Und er kann darüber hinaus nicht wissen, warum der Führer diese oder jene Frage bisher noch nicht der Lösung entgegengefahrt hat, die sie betreffenden Normen also so belassen hat, wie sie sie vorfanden. ... Das jedenfalls muß unverrückbar feststehen: Das Gesetz, das der Staat geschaffen oder übernommen hat, einschließlich des in fester Gewohnheit zum Recht gewordenen Brauchs muß die Grundlage der Urteilsfindung sein Diese Organstellung ausfüllen, ihre naturgegebenen Schranken nicht brechen, ist Kennzeichen des mutigen, des weisen, des gerechten, des königlichen Mannes, des Richters."

30 Zit. nach Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 1989, S. 99. Dazu auch Wrobel Anm. 11), S. 373. 31

Freisler,

DJ 1933, S. 694, 695 f.

(o.

180

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Weiterhin hatte Reichsminister Wilhelm Frick in der DJZ vom Januar 1934 unter dem Titel „Die Rassenfrage in der deutschen Gesetzgebung" ausdrücklich die Ausdehnung der Ariergesetzgebung auf andere Bereiche zurückgewiesen und ausgeführt: „Derartige Bestrebungen verkennen, dass es auch in der Ariergesetzgebung Grenzen gibt, die beachtet werden müssen, und sind deshalb auch von der Regierung schon wiederholt mit Nachdruck abgelehnt worden." 32 Schließlich hatte Franz Gürtner, Reichsminister der Justiz, in einer (in der März-Ausgabe der DJ veröffentlichten) Rede vor der Akademie für Deutsches Recht am 17. März 1934 unmissverständlich festgestellt: „Der Richter soll Diener des Gesetzes sein, nicht sein Herr. Über diese Forderung sollte man m. E. ernstlich nicht streiten. Mir scheint es mit der Vorstellung eines autoritären Staates unvereinbar zu sein, daß der Richter schlechthin mit dem Gesetzgeber in Konkurrenz treten sollte." 33 Im juristischen Schrifttum hatte noch kurz vor dem Urteil des Reichsgerichts der Tübinger Rechtslehrer Heinrich Stoll zur Auflösung von Rassenmischehen Stellung genommen, dabei mehrfach Freislers Forderungen nach der Bindung des Richters an das Gesetz zitiert und sich im Ergebnis gegen eine richterliche Rechtsfortbildung und für eine gesetzgeberische Lösung ausgesprochen.34 Mit Bezug auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe, das als Vorinstanz der Anfechtungsklage stattgegeben hatte,35 heißt es bei Stoll: „Die Gewährung der Anfechtung kann zu unbilligen Härten (keine Unterhaltspflicht, Zerstörung lange bestehender engster Gemeinschaft, insbes. des Familienlebens für die Kinder) und - wie der Tatbestand des Karlsruher Urteils befürchten läßt - zur Ausnüt-

7,2

Frick, DJZ 1934, S. 1,6. Gürtner, DJ 1934, S. 369, 370. 34 Stoll, DJZ 1934, S. 562 ff., insb. S. 567 ff.: „Unser Problem ist methodisch sehr beachtlich. Denn es führt uns zu den außerordentlich schwierigen Fragen der Stellung des Richters zum Gesetz. Der Richter ist dem Gesetz unterworfen; er darf es weder abändern noch ganz außer acht lassen. Aber er muß das Gesetz auslegen und seine Lücken ergänzen. ... Die Grenze zwischen der Rechtsfortbildung und der Rechtsänderung ist flüssig und im einzelnen Fall oft sehr schwer zu bestimmen. ... Hier muß der Richter sich dem Zweck des alten Gesetzes einschl. der in feststehender Rechtsprechung gewonnenen Auslegung beugen, wie es seiner ,Organstellung in Volk und Staat zukommt' (Freisler); andernfalls würde er selbst die Rolle des Gesetzgebers übernehmen, ohne zu wissen, ob seine Auffassung dem Ziel der Führung entspricht und warum der Führer diese Frage bisher einer Lösung noch nicht entgegengeführt hat. ... Die kommende gesetzgeberische Regelung wird bestimmen, wie in Zukunft Mischehen zu beurteilen sind." Dazu auch Wrobel (o. Anm. 11), S. 352 ff., 364 f., 369 (Fn. 118). 35 Zum Echo in Presse und juristischem Schrifttum auf das Karlsruher Urteil vom 2. März 1934, das teilweise sehr kritisch aufgenommen worden war, vgl. Hetzel (o. Anm. 2), S. 71 ff., mit Hinweis darauf, dass die Karlsruher Richter vom Präsidenten des Oberlandesgerichts für die Wortwahl in ihrem Urteil (Bezeichnung der Rassenmischehe als „widernatürlich") gerügt worden waren. Vgl. weiter Wrobel (o. Anm. 11), S. 361 ff.; Schiller (o. Anm. 25), S. 329 ff. 33

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1 9 3 3 - 1 9 4 5 1 8 1

zung dieses Anfechtungsgrundes fuhren, um eine aus andern Gründen erstrebte, aber nicht erreichbare Eheauflösung herbeizuführen." 36 Vor diesem Hintergrund gelang den Leipziger Richtern mit der ersten Entscheidung zur Rassenmischehe fast Unmögliches: Inhaltlich anerkannten sie die rassengesetzlichen Rechtslehren und offenbarten gleichzeitig „in methodischer Hinsicht ein richterliches Selbstverständnis, ... das dem entspricht, was Heinrich Stoll im Anschluß an Roland Freisler als das Idealbild des nationalsozialistischen Richters propagiert hatte". 37 Dass die Richter des IV. Zivilsenats - wie Hetzel glaubt - „zu ihren anerkennenden Worten für den Nationalsozialismus auch deshalb gegriffen haben, um die ... unvermeidliche Brüskierung des u.a. von Hans Frank öffentlich gelobten Oberlandesgerichts Karlsruhe ,abzufedern 4",38 scheint hingegen eher unwahrscheinlich. Zwar hatte Frank in einer Rede auf dem Badischen Juristentag in seiner Heimatstadt Karlsruhe im April 193439 die „mutige Entscheidung44 der Karlsruher Richter vom 2. März 1934 gelobt. 40 Ob diese Äußerung Franks aus der süddeutschen Provinz bis nach Leipzig vorgedrungen war und die Richter bei ihrer Entscheidung nachhaltig beeinflusst hat, bleibt aber Spekulation. Jedenfalls lässt sich darüber hinaus keine weitere mittelbare oder gar unmittelbare Einflussnahme der Staats- und Parteiführung auf die Entscheidung des IV. Zivilsenats vom 12. Juli 1934 nachweisen; im Gegenteil: „Aus den Akten des Reichsjustizministeriums geht hervor, daß man dort erst aus der Zeitung von den Leipziger Richtersprüchen erfahren hatte. Mit Schreiben vom 21. Juli 1934 ersuchte der Reichsminister der Justiz den Präsidenten des Reichsgerichts um ,tunlichst baldige4 Zusendung von zehn Abdrucken des Urteils vom 12. Juli 1934", was dann auch geschah.41

36

Stoll, DJZ1934, S. 562, 569. So Wrobel (o. Anm. 11), S. 366. 38 Hetzel (o. Anm. 2), S. 113. 39 Hans Frank, damals Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung, war bei dieser Gelegenheit die Ehrenbürgerurkunde der Stadt überreicht worden. 40 Badischer Juristentag in Karlsruhe, DRiZ 1934, S. 155, 156: „In diesem Zusammenhange erstattete Minister Dr. Frank in aller Öffentlichkeit den Richtern des Oberlandesgerichts Karlsruhe Dank für die mutige Entscheidung, die sie vor kurzem auf rasserechtlichem Gebiet gefällt haben. ,Es war ein erstes ganz großes Verdienst 4, so führte er aus, ,daß ein Gericht dem Deutschen Volke sagte, daß der Gedanke der Rasse und der Rassezugehörigkeit ein solch wesentliches Element der Eheschließung darstellt, daß Ehen anfechtbar sind, die unter dem irrtümlichen Gesichtspunkte einer Rassezugehörigkeit des Juden zum deutschen Volke geschlossen wurden. 4 44 Dazu auch Hetzel (o. Anm. 2), S. 84 ff. mit Hinweis darauf (S. 88), dass „eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Rede ... weder in der damaligen Literatur noch in Gerichtsurteilen zu finden 44 sei. 41 So Hetzel (o. Anm. 2), S. 123 mit den entsprechenden Nachweisen. 37

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In den folgenden Jahren baute der IV. Zivilsenat seine Rechtsprechung zu § 1333 BGB stetig aus, wobei immer weiter entfernt liegendere Umstände als persönliche Eigenschaften des Ehegatten gewertet wurden. Dabei ging das Reichsgericht selbst über die Wertungen des am 15. September 1935 in Kraft getretenen Blutschutzgesetzes weit hinaus. 42 Zwar hatte das Blutschutzgesetz keinerlei Auswirkung auf bereits bestehende Rassenmischehen,43 regelte aber die Voraussetzungen für die Eheschließung mit sog. jüdischen Mischlingen und stellte dabei klar, dass Personen, die nur von einem jüdischen Großelternteil abstammten, Deutschblütigen gleichgestellt waren und diese heiraten durften. 44 Dennoch entschied das Reichsgericht im Mai 1938, dass auch die Abstammung von einem jüdischen Großelternteil den anderen Ehegatten zur Anfechtung berechtigen könne. Während die Vorinstanz unter Berufung auf die Wertungen des Blutschutzgesetzes die Anfechtungsklage abgewiesen hatte, setzten sich die Leipziger Richter über die Grenzen des Gesetzes ausdrücklich hinweg: Aus dem Blutschutzgesetz folge nicht, dass diese Ehen vom Rassenstandpunkt aus unbedenklich wären und erst recht nicht, dass ein Deutschblütiger sich nicht auch durch einen Bruchteil jüdischer Erbmasse von einer Heirat abhalten lassen könne.45 Erst als sich in einem weiteren Verfahren der Kläger darauf berief, bei der Eheschließung nicht gewusst zu haben, dass seine Frau eine jüdische Ururgroßmutter gehabt habe, also - nach der Terminologie der damaligen Zeit - ei-

42

Zum Blutschutzgesetz vgl. etwa Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 179 ff. 43 Auch später gab es von Seiten des Gesetzgebers keine Bestrebungen zur Auflösung bereits bestehender Rassenmischehen. Vgl. in diesem Zusammenhang den Vermerk Gürtners vom 17.11.1936 über eine Äußerung Hitlers: „Der Führer, wegen der Scheidung mischrassiger Ehen befragt, hat erklärt, etwas derartiges sei einfach unanständig und unsittlich. Auch die Lösung, eine neue letzte Anfechtungsfrist für solche mischrassigen Ehen zu geben, hat der Führer als schlechthin unsittlich bezeichnet." Zit. nach HetzeHo. Anm. 2), S. 167. 44 Dies ergibt sich aus § 1 I BlutschutzG v. 15.9.1935 iVm §§ 1 II, 2 Erste Verordnung zur Ausführung des BlutschutzG v. 14.11.1935 iVm §§ 2 II, 5 I, II Erste Verordnung zum ReichsbürgerG v. 11.11.1935. Dazu Werle (o. Anm. 42), S. 181 ff. 45 RG JW 1938, S. 2475 (Urt. v. 2.5.1938 - IV 20/38). Dazu Hetzel (o. Anm. 2), S. 157: „Trotz der bereits weitgehenden Durchsetzung des Rassengedankens in den Nürnberger Gesetzen sahen die Richter im Rahmen des Eheanfechtungsrechts genügend Spielraum für eine noch radikalere Berücksichtigung rassischer Aspekte." Rüthers (o. Anm. 23), S. 160 deutet die Entscheidung dahingehend, „daß der 4. Senat den Gesetzgeber sogar in den Anforderungen des Rassebewußtseins überbieten wollte: Unter Berufung auf das extensiv ausgelegte Rassenbewußtsein des Nationalsozialismus wurden sogar die fernwirkenden Wertungen des Blutschutzgesetzes bei der Auslegung des Eigenschaftsbegriffs in § 1333 BGB überboten."

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1 9 3 3 - 1 9 4 5 1 8 3 nen jüdischen Bluteinschlag von 1/16 aufzuweisen hatte, verneinte der I V . Z i vilsenat das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes. 4 6 Wichtiger noch als diese beiden Urteile, die am Ende der richterlichen Rechtsfortbildung zu § 1333 B G B stehen, ist aber eine ältere Entscheidung aus dem Jahr 1935, weil die Leipziger Richter hier ausdrücklich von einer Erweiterung des Eigenschaftsbegriffs sprechen: „Geht man von diesem erweiterten Begriff der persönlichen Eigenschaft aus, so kann von einer solchen auch dann gesprochen werden, wenn der rassische Ursprung einer Person insofern in ein unaufklärbares Dunkel gehüllt ist, als nicht festgestellt werden kann, welcher von zwei rasseverschiedenen Männern ... der Erzeuger gewesen ist. ... Liegt bei einem Eheschließenden die nicht zu widerlegende Möglichkeit vor, dass er von seinem Erzeuger her einer fremden, insbesondere der jüdischen Rasse angehört, so ... liegt ... ein von der Persönlichkeit nicht zu trennendes persönliches Verhältnis des Eheschließenden vor. das nach allgemeiner Lebensauffassung, zumal vom nationalsozialistischen Standpunkt aus, sehr wohl geeignet erscheint, den anderen Teil bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eheschließung abzuhalten."47 Dass diese Interpretation, die die bloße Möglichkeit nichtarischer Abstammung als persönliche Eigenschaft wertete, 4 8 mit § 1333 B G B nicht zu vereinbaren war, wohl aber dem späteren § 37 I EheG 1938 4 9 entsprach, verrät ein Hinweis in v. Scanzonis Kommentar zum „großdeutschen Ehegesetz". Dort w i r d die genannte Entscheidung als Beispiel für den neuen § 37 EheG angeführt und folgendermaßen kommentiert: „Es ist also auch als ein Umstand, der die Person betrifft, anzusehen, daß die Abstammung arischer oder jüdischer Rasse nicht festgestellt werden k a n n . " 5 0 Daher überrascht es auch nicht, dass nach Inkrafttreten des Ehegesetzes in der Kommentarliteratur vertreten wurde, dass sich die Rechtslage für Rassenmischehen durch den neuen § 37 EheG nicht geändert

46

RG WarnRspr 1938, Nr. 139, S. 321 ff. (Urt. v. 15.8.1938 - IV 65/38). Die Klage war in der Berufungsinstanz nach § 1333 BGB und nach Inkrafttreten des Ehegesetzes am 1.8.1938 in der Revisionsinstanz nach dem neuen § 37 EheG zu beurteilen. Das Reichsgericht verneinte ebenso wie das Berufungsgericht das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes nach § 1333 BGB und § 37 EheG. Dazu Hetzel (o. Anm. 2), S. 159. 47 RGZ 148, S. 193, 195 (Urt. v. 22.8.1935 - IV 128/35). Zu diesem Urteil auch Hetzel (o. Anm. 2). S. 124 f f 48 Rüthers (o. Anm. 23), S. 159 spricht vom „Verdacht der Rasseverschiedenheit" als Anfechtungsgrund. 49 § 37 I EheG 1938: Ein Ehegatte kann Aufhebung der Ehe begehren, wenn er sich bei der Eheschließung über solche die Person des anderen Ehegatten betreffende Umstände geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten hätten. 50 Gustav v. Scanzoni, Das großdeutsche Ehegesetz vom 6. Juli 1938, Kommentar, 3. Aufl. 1943, §37 EheG, RdNr. 6.

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habe, 5 1 obwohl dieser seinem Wortlaut nach deutlich weiter gefasst war, als der alte § 1333 B G B . 5 2 Tatsächlich hatte der I V . Zivilsenat seine Rechtsprechung zu § 1333 B G B zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ehegesetzes bereits so weit ausgedehnt, dass der neue § 37 EheG nur das festschreiben konnte, was ohnehin längst Recht war. 5 3

I I I . Scheidung der Ehe wegen Zerrüttung, § 55 EheG 193854 Kernstück des am 1. August 1938 in Kraft getretenen Ehegesetzes war die Scheidung wegen Zerrüttung gemäß § 55 EheG. Allerdings fehlte dem nationalsozialistischen Gesetzgeber der M u t , das Zerrüttungsprinzip

konsequent

umzusetzen, so wie es i m Laufe der Reformdiskussion mehrfach vorgeschlagen

51

Etwa Volkmar/Antoni/Ficker/Rexroth/Anz, Großdeutsches Eherecht, Kommentar, 1939, § 37 EheG, Anm. 4. 52 So auch v. Scanzoni (o. Anm. 50), § 37 EheG, RdNr. 1. Eine Erweiterung des Tatbestandes bestand aber nur gegenüber § 1333 BGB in der Auslegung bis 1933, nicht hingegen gegenüber der Rechtsfortbildung durch das Reichsgericht ab 1934. Allerdings legten die Leipziger Richter in Abgrenzung zum neuen Recht nun § 1333 BGB wieder einen engeren Eigenschaftsbegriff zugrunde; so etwa RG JW 1939, S. 106, 107 (Urt. v. 13.10.1938 - IV 81/38): „Für die Aufhebung der Ehe ist es nach dem neuen EheG nicht mehr wie noch nach dem bisher geltenden § 1333 BGB erforderlich, daß sich der Kl. über eine persönliche Eigenschaft des anderen Ehegatten im Irrtum befunden hat. Es genügt vielmehr, daß er sich über einen die Person des anderen Ehegatten betreffenden Umstand geirrt hat (§ 37 des neuen EheG). Darin liegt, wie auch in der amtlichen Begründung des neuen EheG hervorgehoben wird, eine gewisse Erweiterung. Es braucht sich nicht mehr um eine Eigenschaft, d.h. um ein der Person anhaftendes Merkmal körperlicher, geistiger oder psychischer Art zu handeln. Es genügen Umstände jeder Art, auch Vorgänge, Verhältnisse, Werturteile u.ä". Ähnlich auch RGZ 158, S. 334, 339 (Urt. v. 10.10.1938-IV 91/38). 53

Vgl. auch Hetzel (o. Anm. 2), S. 185 zu § 37 EheG: „Soweit der Irrtum über die Zugehörigkeit des Ehegatten zum Judentum und über die Bedeutung dieser Tatsache von den Gerichten bisher anerkannt worden war, konnte die Rechtsprechung weitgehend an die frühere Judikatur anknüpfen." Schon bald nach Inkrafttreten des Ehegesetzes erweiterte der IV. Zivilsenat in RGZ 158, S. 334 (Urt. v. 10.10.1938 - IV 91, 38) auch den Tatbestand des § 37 EheG in einer vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Weise. 54

§ 55 EheG 1938: (1) Ist die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten seit drei Jahren aufgehoben und infolge einer tiefgreifenden unheilbaren Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht zu erwarten, so kann jeder Ehegatte die Scheidung begehren. (2) Hat der Ehegatte, der die Scheidung begehrt, die Zerrüttung ganz oder überwiegend verschuldet, so kann der andere der Scheidung widersprechen. Der Widerspruch ist nicht zu beachten, wenn die Aufrechterhaltung der Ehe bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe und des gesamten Verhaltens beider Ehegatten sittlich nicht gerechtfertigt ist.

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worden war. 55 Stattdessen wurde das in § 55 I EheG aufgestellte Zerrüttungsprinzip durch das Verschuldensprinzip in Abs. 2 wieder eingeschränkt. 56 Die amtliche Begründung zum Ehegesetz spiegelt das Dilemma wider, das sich aus der nicht zu vereinbarenden Gegenläufigkeit zweier nationalsozialistischer Prinzipien zwangsläufig ergab. 57 Auf der einen Seite stand die Überhöhung von 55

Zu den Reformbemühungen seit den 1920er Jahren, zum Gesetzesvorschlag des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht sowie zu den Arbeiten am EheG vgl. Alfred Wolf Das Zerrüttungsprinzip und die Nationalsozialisten, FamRZ 1988, S. 1217, 1218 ff.; Lothar Gruchmann, Das Ehegesetz vom 6. Juli 1939, ZNR 1989, S. 63 ff.; Heinz Holzhauer, Die Scheidungsgründe in der nationalsozialistischen Familienrechtsgesetzgebung, in: NS-Recht in historischer Perspektive, 1981, S. 53, 56 ff.; Christian Heinz Daut, Untersuchungen über den Einfluß nationalsozialistischer Anschauungen auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen bei der Anwendung einiger nationalsozialistischer Gesetze, 1965, S. 69 f f ; Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, 1987, S. 188 ff.; Hoffmann-Steudner (o. Anm. 2), S. 41 ff. Der von der Akademie im Jahre 1935 vorgelegte Entwurf zum Scheidungsrecht ging deutlich über den Wortlaut des § 55 EheG hinaus. Vgl. dazu Mößmer, Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechts, Denkschrift der Akademie für Deutsches Recht, 1936, S. 65 f. Weitere Stellungnahmen Mößmers finden sich in DR 1935, S. 86-89, JW 1936, S. 353-354, ZAkDR 1938, S. 493-495. 56

Vgl. aus den Stellungnahmen des Reichsjustizministeriums zu § 55 EheG etwa Volkmar (Ministerialdirektor im RJM), DJ 1938, S. 1145, 1147: „Diese Scheidungsmöglichkeit, die sich dem Gedanken der Scheidung wegen objektiver Zerrüttung annähert, bedurfte jedoch, um nicht zu Mißbräuchen zu führen und um nicht dem Grundgedanken, von dem die Scheidungsreform des Dritten Reiches ausgegangen ist, zu widersprechen, sehr wesentlicher Einschränkung. Wollte man auch dem Ehegatten, der durch eigenes grobes Verschulden die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft selbst herbeigeführt hat, nach dreijähriger Fortdauer dieses Zustandes die Scheidungsmöglichkeit eröffnen, so würde dies ... praktisch dahin führen, daß der Ehemann die Möglichkeit der Verstoßung seiner Frau erlangt." Vgl. auch Ficker (Ministerialrat im RJM), JW 1938, S. 2065, 2068: „Da in allen Regelfällen die Frau die Unterhaltsbedürftige ist, würde das Fehlen eines Schuldausspruchs, wie es das Zerrüttungsprinzip, folgerichtig durchgeführt, zur Folge hätte, zum Nachteil der Frau ausschlagen; das wäre namentlich in den Fällen, in denen die Ehe zerrüttet ist, weil der Mann sich einer jüngeren Frau zugewandt hat und die Gefahrtin der ersten wirtschaftlich schweren Jahre verlassen will, schlechterdings unerträglich. ... Außerdem liegt in dem Grundsatz der objektiven Zerrüttung als alleinigen Scheidungsgrundes ein fatalistischer Zug, der dem Nationalsozialismus in seinem tiefsten Wesen fremd ist." Vgl. weiter Rexroth (Staatsanwalt im RJM), JW 1938, S. 2080, 2086 f. Zur „reformerischen Zurückhaltung des Ehegesetzes" vgl. auch Holzhauer (o. Anm. 55), S. 69 f. Ähnlich Daut (o. Anm. 55), S. 78 f., 81. 57 Amtliche Begründung zum EheG, DJ 1938, S. 1102, 1107: „Dadurch, daß die Ehe durch die gegenseitige Treupflicht der natürlichen Verbindung der Geschlechter Stetigkeit verleiht, wird sie zum ,Hort des Kinderreichtums 4 und zur unersetzlichen Voraussetzung einer gesunden und geordneten Erziehung der Nachkommenschaft. ... Sie fordert von jedem Ehegatten Rücksicht und Verständnis für den anderen und die Bekämpfung eigennütziger Regungen, die das Glück der Ehe gefährden. ... Daraus folgt einerseits, daß die neue Regelung des Ehescheidungsrechts über die Hemmungen hinweggehen muß, die sich aus rein religiösen Betrachtungen gegen die Lösung einer Ehe ergeben können. Andererseits kann aber auch das Ziel der Reform nicht sein, eine allgemeine Erleichterung der Ehescheidung im Sinne individualistischer Eheauffassung

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Ehe und Familie als „Grundlagen des völkischen Gemeinschaftslebens" und auf der anderen Seite der Wunsch nach Auflösung zerrütteter Ehen, die unter bevölkerungspolitischen Aspekten kernen Wert mehr für die Gemeinschaft hatten: „Das Ziel kann daher nur sein, es zu ermöglichen, daß eine Ehe, die für die Volksgemeinschaft wertlos geworden ist, die auch für die Ehegatten, die sich ihrer sittlichen Pflichten in vollem Maße bewußt sind, nicht mehr zu einem rechten ehelichen Gemeinschaftsleben fuhren kann, auf einem ehrlichen Wege lösbar wird. Die schwierigste Frage ist jedoch die, auf welchem Wege dieses Ziel am besten erreichbar ist, ob man ... generell jede Ehe für lösbar erklären soll, die ohne Rücksicht auf die Frage eines etwaigen Verschuldens der Ehegatten so zerrüttet ist, daß sie für die Volksgemeinschaft keinen Wert mehr besitzt. Die letztgenannte, von beachtlichen Stellen empfohlene Regelung würde annehmbar sein, wenn die große Mehrzahl der Volksgenossen von der nationalsozialistischen Weltanschauung schon so tief durchdrungen wäre, wie dies nach einer erst fünfjährigen nationalsozialistischen Erziehungsarbeit noch nicht erwartet werden kann. Im gegenwärtigen Augenblick ergeben sich gegen diese Lösung erhebliche Bedenken. ... Deshalb geht das Gesetz davon aus, daß die Durchsetzung der nationalsozialistischen Auffassung im Ehescheidungsrecht zur Zeit nicht durch eine radikale Einführung des Zerrüttungsgedankens als einzigen Scheidungsgrundes, die zur Zeit einen Sprung ins Dunkle bedeuten würde, sondern besser durch einen Um- und Ausbau der bisherigen Scheidungsgründe durchgeführt wird." 5 8 Demzufolge waren in §§ 47 ff. EheG drei verschiedene Ehescheidungsgründe vorgesehen: Erstens die Scheidung wegen Verschuldens, dazu gehörten bestimmte Eheverfehlungen (§ 49), namentlich Ehebruch (§ 47) und die Verweigerung der Fortpflanzung (§ 48); zweitens die Scheidung aus anderen Gründen wie Geistesstörungen (§ 50), Geisteskrankheiten ( § 5 1 ) , ansteckende oder ekelerregende Krankheiten (§ 52) und Unfruchtbarkeit (§ 53); drittens die Scheidung wegen tiefgreifender unheilbarer Zerrüttung gemäß § 55 EheG. A l l e i n zu § 55 EheG existieren aus der Zeit vom 12. Januar 1939 bis zum 13. Dezember 1944 insgesamt 408 Urteile des Reichsgerichts. 59 Die Menge der ständig wachsenden Revisionen (durchschnittlich fast sechs Entscheidungen

herbeizufuhren. Denn wollte man jedem Ehegatten, der in der Ehe nicht das volle von ihm erwartete persönliche Glück findet, ermöglichen, von seiner Ehe frei zu werden, so würde man den Wert der Ehe herabsetzen, man würde bei den Volksgenossen das Gefühl für die heilige Pflicht, aus ihrer Ehe das Beste zu machen und sich mit Unzulänglichkeiten des Gefährten abzufinden, statt zu stärken abschwächen." 58 Amtliche Begründung zum EheG, DJ 1938, S. 1102, 1107 f. Von der amtlichen Begründung distanzierte sich der Vorsitzende des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, Mößmer (ZAkDR 1939, S. 292): „ ... dennoch ist Veranlassung gegeben, vom Standpunkt der Akademie für Deutsches Recht, deren Familienrechtsausschuß maßgeblich an der Gestaltung des Ehegesetzes - nicht an der amtlichen Begründung hiezu - beteiligt war, zu den Grundfragen des § 55 und seiner Auslegung Stellung zu nehmen". 59 Niksch (o. Anm. 2), S. 22. Einen Überblick über die Entscheidungen gibt Daut (o. Anm. 55), S. 90 ff., der anmerkt, „daß alle veröffentlichten Reichsgerichtsurteile Klagen von Ehemännern gegen ihre Ehefrauen betreffen".

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pro Monat zu § 55 EheG) war nur durch eine Erweiterung des I V . Zivilsenats zu bewältigen, so dass der Senat zeitweise 13 statt regulär 7-8 Mitglieder hatte und zuweilen in zwei v ö l l i g unterschiedlichen Besetzungen tagte. 6 0 Eine Analyse der Reichsgerichtsrechtsprechung zu § 55 EheG hat Dieter Niksch in seiner fast 600 Seiten umfassenden Dissertation vorgenommen, wobei er i m Ergebnis die Rechtsprechung des I V . Senats als vollkommen angepasst und loyal gegenüber der nationalsozialistischen Führung bewertete. 61 Die Überlegung, inwieweit der I V . Zivilsenat durch richterliche Rechtsfortbildung das Verständnis von § 55 EheG in den Jahren bis Ende 1944 rechtsgestaltend geprägt hat, findet sich bei i h m jedoch nicht. Dafür spricht aber bereits, dass von Seiten des Reichsjustizministeriums dem Familienrechtssenat die Aufgabe zugedacht war, in richterlicher Rechtsschöpfüng § 55 EheG i m nationalsozialistischen Sinne auszuformen. 6 2 Für diese Annahme streitet weiter die Tatsache, dass § 55 EheG 1938 in Gestalt des § 48 Abs. 1-2 EheG 1946 in der Bundesrepublik unverändert bis 1961 und in der ehemaligen D D R bis zum Inkrafttreten des Familiengesetzbuchs von 1965 fortgalt, jedoch von den höchsten Gerichten dieser beiden Staaten jeweils ganz anders interpretiert wurde. 6 3

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So Reichsgerichtsrat Frantz, NJW 1949, S. 448, 449. Während von 1935 bis 1938 jährlich durchschnittlich 65 Familiensachen anhängig waren, verzehnfachte sich die Zahl im Jahr 1939 auf 681 Revisionen. Dazu Niksch (o. Anm. 2), S. 322 mwN. 61 Niksch (o. Anm. 2), S. 587, 590. 62 So Ficker (Ministerialrat im RJM), JW 1938, S. 2065, 2067: „§ 55 ist wohl die Bestimmung, die am ehesten die Bezeichnung einer ,beschränkten Generalklausel' verdient. ... Das Aufstellen solcher beschränkter Generalklauseln ist sinnvoll, wenn durch hinreichend konkrete Tatbestände über die allgemeine Marschrichtung des Gesetzgebers kein Zweifel gelassen ist; sie dienen dann dazu, dem sonst nie völlig zu erfassenden Einzelfall Unbilligkeiten zu ersparen und das Gesetz in der Hand des seinen weltanschaulichen Inhalt beherrschenden Richters geschmeidig zu machen. Damit fuhrt die beschränkte Generalklausel auf die Abgrenzung der Tätigkeit zwischen Gesetzgeber und Richter, wie das EheG sie vornimmt. ... Vertrauen auf den nationalsozialistischen Richter und die Hoffnung, daß er aus diesem EheG nun das deutsche Eherecht machen werde, sprechen aus diesen weiten Fassungen des Gesetzes. ... Unter der Leitung des Familienrechtssenates des RG, dessen Entscheidung in allen grundsätzlichen Fragen herbeigeführt werden kann, wird es dem Richter zustehen, diese bewußt weitgefaßten Blankette mit Leben zu erfüllen und damit eine volkserzieherische Aufgabe von höchstem Wert zu leisten. Es ist zu hoffen, daß diese Erweiterung der richterlichen Rechtsschöpfung auch die Atmosphäre des Scheidungsprozesses verbessern wird ...." 63 Bernd Rüthers, „Institutionelles Rechtsdenken" im Wandel der Verfassungsepochen, 1970, S. 26 ff. So habe der BGH das Wesen der Ehe mit ihrer Unauflöslichkeit gleichgesetzt; seine Rechtsprechung sei demzufolge von einer „rigorosen Scheidungsfeindlichkeit" gekennzeichnet gewesen. Das Oberste Gericht der DDR habe hingegen die „Rücksicht auf die Pflichten der Eheleute gegenüber der (sozialistischen) Gesellschaft" in den Vordergrund gestellt. Vgl. auch Meike Hetzke, Die höchstrichterliche Rechtsprechung von 1948-1961 zum Scheidungsgrund des § 48 EheG 1946 wegen un-

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Entscheidend ist dabei die Auslegung von § 55 I I EheG 1938 bzw. § 48 I I EheG 1946. Der Wortlaut legt nahe, dass der Widerspruch des nicht schuldigen Teils in der Regel beachtlich und nur ausnahmsweise unter den Voraussetzungen des S. 2 unbeachtlich sein soll. Dieser Interpretation folgte auch der B G H in ständiger Rechtsprechung zu § 48 I I EheG 1946. 6 4 Das Reichsgericht kehrte indessen das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 55 I I EheG 1938 um, obwohl es sich dabei weder auf den Wortlaut noch auf die amtliche Begründung stützen konnte. 6 5 In einer Grundsatzentscheidung legte sich der I V . Zivilsenat im A p r i l 1939 darauf fest, dass der Widerspruch nur dann beachtlich sei, wenn die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise sittlich gerechtfertigt wäre, wobei völkische Belange ausschlaggebend sein sollten: „Das Berufungsgericht geht davon aus, der Widerspruch des anderen Ehegatten sei... grundsätzlich zu beachten und nur ausnahmsweise ohne Wirkung, falls besondere Gründe die Scheidung trotzdem rechtfertigten. Diese Einstellung ist rechtsirrig. Die sittliche Wertung einer Ehe darf nicht mehr von den Belangen der beteiligten Ehegatten ausgehen, sondern hat in den Vordergrund den Wert der Ehe für die völkischen Belange zu stellen. ... Diesem Gedanken dient § 55 Abs. 1 EheG. Aus ihm muß gefolgert werden, daß die Zulassung des Widerspruchs in § 55 Abs. 2 EheG keine Veränderung des Maßstabes bedeuten soll, nach dem der Wert einer Ehe gemessen werden muß. Auch bei Anwendung des § 55 Abs. 2 EheG geht es infolgedessen nicht an, die persönlichen Belange des widersprechenden Ehegatten vornehmlich zu beachten und dahinter die Bedeutung der Ehe für das Volk zurückzusetzen. Vielmehr ist auch die Frage, ob die Aufrechterhaltung der Ehe wegen des Widerspruchs bei richtiger Würdigung ihres Wesens sittlich gerechtfertigt ist, in erster Reihe nach den völkischen Belangen zu beantworten. ... Die Nichtbeachtung des Widerspruchs bedeutet daher keine Ausnahme von einer in § 55 Abs. 2 EheG zu suchenden Regel, sondern die Rückkehr zur Regel des ersten Absatzes. Die Beachtung des Widerspruchs muß also, jedenfalls sobald allgemeine Belange für die Scheidung sprechen, eine Aus-

heilbarer Zerrüttung, 2000, S. 60 ff.; Gruchmann (o. Anm. 55), S. 82 f.; Daut (o. Anm. 55), S. 143 ff.; Holzhauer (o. Anm. 55), S. 53; Bosch, FamRZ 1961, S. 255, 257. 64 Etwa BGHZ 18, S. 14, 17 (Urt. v. 18.6.1955 - IV 71/55). 65 So Petra Kannappel, Die Behandlung von Frauen im nationalsozialistischen Familienrecht, 1999, S. 144 f. Auch Daut (o. Anm. 55), S. 97 kommt zu dem Ergebnis, dass das Reichsgericht mit seiner „wenig gesetzeskonforme(n) Auslegung" des § 55 II EheG „einer im Gesetz nicht enthaltenen, aber rechtspolitisch für wünschenswert erachteten Auffassung (folgte) und ... sie dem Gesetz" unterlegte. Vgl. auch S. 124 f., 138 („Abweichungen vom Willen des Gesetzgebers", „Widerspruch zu den in der amtlichen Begründung niedergelegten gesetzgeberischen Vorstellungen"). Außerdem verweist Daut, S. 98 f. auf eine Entscheidung (WarnRspr. 1940, Nr. 54, S. 107, 108), in der der IV. Zivilsenat der Gesetzesauslegung durch das Reichsgericht den Vorrang vor dem Gesetzeswortlaut eingeräumt hat: „Zunächst scheint das Berufungsgericht im engen Anschluß an den Wortlaut des Gesetzes der Ansicht zu sein, daß die Beachtung des Widerspruchs, falls er nach § 55 Abs. 2 Satz 1 begründet ist, die Regel bilde und die Nichtbeachtung die unter besonderen Voraussetzungen zugelassene Ausnahme. Das steht jedoch im Widerspruch zu den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung des erkennenden Senats hierzu entwickelt worden sind. Danach müssen bei der sittlichen Wertung einer Ehe die völkischen Belange im Vordergrund stehen".

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nähme bleiben und ist nur zulässig, wenn im Einzelfalle besondere Gründe es sittlich rechtfertigen, den aus der Ehe herausstrebenden Teil trotz ihrer unheilbaren Zerrüttung an den durch die Ehe begründeten Pflichten festzuhalten." 66

Im Schrifttum wird vertreten, dass der IV. Zivilsenat erst auf Druck des Reichsjustizministeriums zu dieser Interpretation des § 55 II EheG gelangt sei. 67 Im Reichsjustizministerium in Berlin hatte am 24. und 25. Januar 1939 eine Lenkungsbesprechung stattgefunden, zu der sämtliche Präsidenten der Oberlandesgerichte und mehrere Senatspräsidenten des Reichsgerichts eingeladen worden waren. Tagesordnungspunkt eins war die uneinheitliche Rechtsprechung der Instanzgerichte, die seit Inkrafttreten des Ehegesetzes am 1. August 1938 mit einer Flut von Scheidungsverfahren wegen Zerrüttung gemäß § 55 EheG zu kämpfen hatten.68 Eines dieser Ehescheidungsverfahren betraf einen alten Mitkämpfer Hitlers, Hermann Esser, der seit vier Jahren von seiner Ehefrau getrennt lebte, mit einer anderen Frau drei gemeinsame Kinder hatte und sich bereits auf der Grundlage des alten Eherechts erfolglos um die Scheidung seiner Ehe bemüht hatte. Hitler ließ sich über den Verlauf dieses Verfahrens vor dem LG Berlin seit Oktober 1938 vom Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, berichten und äußerte sich diesem gegenüber dahingehend, dass in Fällen, in denen eine tatsächliche Wiederherstellung der Ehe ausgeschlossen erscheine, die Aufrechterhaltung der Ehe nicht gerechtfertigt sei. 69 Von dieser Auffassung unterrichtete Lammers Reichsjustizminister Franz Gürtner, der wiederum den Führerwillen in der Lenkungsbesprechung Ende Januar 1939 an die Spitze der Justiz weitergab. 70 Somit war das Ziel der Lenkungsbesprechung zwar die Vereinheitlichung der Rechtsprechung zu § 55 EheG entsprechend den - zur Diskussion gestellten - Vorstellungen des Reichsjustizministeriums. 71 Die auf dieser Bespre66 RGZ 160, S. 144, 146 f. (Urt. v. 17.4.1939 - IV 259/38). Dazu auch Daut (o. Anm. 55), S. 92 ff., 100 ff. Ähnlich schon RGZ 160, S. 15, 17 ff. (Urt. v. 13.3.1939 - IV 251/38); vgl. aber auch RGZ 160, S. 41 ff. (Urt. v. 23.3.1939 - IV 250/38). Eine Auswertung der ersten zehn Urteile des Reichsgerichts zu § 55 EheG findet sich bei Niksch (o. Anm. 2), S. 266 ff. Vgl. weiter Kannappel (o. Anm. 65), S. 146 ff. 67 So etwa Niksch (o. Anm. 2), S. 208 f., 222 f., aber auch S. 257 f.; Gruchmann (o. Anm. 55), S. 81 f. 68 Dazu Niksch (o. Anm. 2), S. 203 f.; Gruchmann (o. Anm. 55), S. 81. Vgl. weiter Daut (o. Anm. 55), S. 85 ff. 69 Dazu Niksch (o. Anm. 2), S. 188 ff., 201 ff.; Blasius (o. Anm. 55), S. 215 ff. 70 Niksch (o. Anm. 2), S. 193 ff. mwN. 71 Niksch (o. Anm. 2), S. 203 f. gibt aus dem Protokoll der Lenkungsbesprechung die Ausführungen Gürtners wie folgt wieder: „Die Rechtsprechung zu § 55 sei zur Zeit nicht einheitlich. In drei Gerichtsbezirken werde die Ehe nach § 55 überhaupt nicht geschieden. Andere Bezirke würden die gegenteilige Meinung vertreten. ... Das Reichsgericht müsse daher Stellung nehmen.... Es sei schon angeregt worden, § 55 zu ändern, wenn es

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chung protokollierten Äußerungen des damaligen Präsidenten des I V . Zivilsenats Martin Jonas belegen allerdings, dass Jonas ohnehin die Auffassung vertrat, dass die Individualinteressen des widersprechenden Ehegatten hinter den Belangen der Volksgemeinschaft zurückzustellen seien. 7 2 Dass Jonas schon vor der Lenkungsbesprechung

ein ausschließlich bevölkerungspolitisches

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ständnis vom Eherecht verinnerlicht hatte, lässt sich auch anhand seiner Redebeiträge auf einer Sitzung des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht Ende 1938 nachweisen. 7 3 Somit wurde Jonas auf der Sitzung des Reichsjustizministeriums nur in seinem Verständnis von § 55 EheG bestätigt. In den folgenden Jahren sollte der I V . Zivilsenat unter der Leitung von Jonas sogar noch weit über die auf der Lenkungsbesprechung erörterten Fallgestaltungen hinausgehen; 74 teilweise wurde selbst der Widerspruch kinderreicher

nicht gelinge, eine einheitliche Rechtsprechung zu erreichen. ... Gürtner gab ferner die gegenwärtige Scheidungsstatistik bekannt, Danach seien in Deutschland 100.000 Scheidungsprozesse anhängig gewesen. 60.000 Ehen seien geschieden worden. 10.000 Scheidungsklagen seien auf den Widerspruch der Frau abgewiesen worden; 30.000 Verfahren seien noch anhängig. Bei den genannten Zahlen handele es sich nur um Prozesse gemäß § 55 EheG." Ähnlich auch die Niederschrift des Vizepräsidenten des OLG München vom 6.2.1939, die sich bei Gruchmann (o. Anm. 55), S. 81 findet: „Zwar trage der § 55 aufgrund seiner Entstehungsgeschichte einen ausgesprochenen Kompromißcharakter, aber er halte es ,für ausgeschlossen, daß eine neue Fassung jede Schwierigkeit beseitigt.' Auch ,eine Dienstanweisung oder etwas ähnliches für das Ehescheidungsrecht' könne ,es natürlich nicht geben'. Vielmehr müsse ,versucht werden, diese Frage in der Praxis zu lösen. Der Gesetzgeber hat sie nicht lösen können'. Deshalb müsse das Reichsgericht Stellung nehmen und ,sich seiner Mission bewußt sein, daß das Gesetz für die Praxis behandelbar gemacht werden muß'". Dazu insgesamt Niksch, S. 202 ff. Zur Außenwirkung der auf der Lenkungsbesprechung entwickelten Leitlinien vgl. Daiit (o. Anm. 55), S. 88 f. Vgl. weiter H. Bosch, Ehescheidung und Sorgepflicht des Mannes, Völkischer Beobachter (Münchener Ausgabe) v. 8.3.1939, S. 1 f.; dazu Völkischer Beobachter (Münchener Ausgabe) v. 29.3.1939, S. 1 f. mit dem Titel „Ein abschließendes Wort, Der Sinn des § 55 der neuen Ehegesetzgebung". 72 So etwa die Äußerung von Jonas: „Auch wenn die Frau besondere Gründe geltend mache, könne ,allein der Grund einer neuen aussichtsvollen Ehe' für die Scheidung entscheidend sein." Zit. nach Niksch (o. Anm. 2), S. 209. 73 Jonas war seit 1937 Mitglied des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht. Vgl. etwa die von Jonas protokollierte Äußerung in einer Sitzung des Ausschusses zum Eheschließungsrecht vom 18.11.1938: „Wenn man ein neues Eherecht verfaßt, muß man die Vorschriften selbstverständlich mit mehr Fleisch und Blut umgeben, als es das BGB jetzt tut. ... Zunächst sollte man nun nach meiner Ansicht Zweck und Ziel der Ehe betrachten und nicht, wie das Schweizerische Recht es tut, Rechte und Pflichten der Ehegatten festsetzen. Man sollte sagen: Zweck und Ziel der Ehe ist Fortpflanzung der Nation usw.; daraus ergeben sich für die Ehegatten die und die Pflichten. ..." (zit. nach Werner Schubert, Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Äusschüsse, Bd. III/2: Familienrechtsausschuss, 1989, S. 688). 74

Auf der Lenkungsbesprechung waren drei Fälle mit Lösungen erörtert worden: 1. Die kinderlose Ehe war durch Schuld des Mannes zerrüttet; der Mann hatte aus einer

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1 9 3 3 - 1 9 4 5 1 9 1 Ehefrauen - entgegen den Leitlinien der Lenkungsbesprechung - v o m I V . Z i vilsenat als unbeachtlich angesehen. 75 Diese Rechtsprechung ging selbst dem Reichsjustizministerium zu weit, so dass es ab 1943 Überlegungen zu einer Reform des § 55 EheG gab, wonach diese Bestimmung bei kinderreichen Familien nicht zur Anwendung gelangen sollte. 7 6 Gegen eine nachhaltige E i n w i r k u n g auf den I V . Zivilsenat spricht schließlich, dass der Senat seine Rechtsprechung zu § 55 I I EheG - entgegen den Behauptungen von N i k s c h 7 7 - keineswegs nach der Lenkungsbesprechung geändert hat. V o r der Besprechung hatte der Senat lediglich zwei klageabweisende

außerehelichen Beziehung mehrere Kinder; der Unterhalt der Frau war gesichert. In diesem Fall sollte der Widerspruch unbeachtlich sein. 2. Das Ehepaar hatte gemeinsame Kinder, der Mann unterhielt kein festes Verhältnis; die Frau wollte dem Mann vergeben. In diesem Fall sollte der Widerspruch beachtlich sein. 3. Der Ehemann nahm sich nach 6-jähriger Trennung eine Geliebte; die Ehefrau zeigte keine versöhnliche Gesinnung; die gemeinsamen Kinder bedurften noch des Vaters; der Unterhalt der Frau war gefährdet. In diesem Fall sei die Entscheidung zweifelhaft. Dazu Niksch (o. Anm. 2), S. 202 f. 75

Etwa RG DR 1940, S. 1141 (Urt. v. 27.4.1940 - IV 397/39). Vgl. auch RG DR 1940, S. 1362 f. (Urt. v. 17.5.1940 - IV 649/39). Weitere Nachweise bei Niksch (o. Anm. 2), S. 444 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Daut (o. Anm. 55), S. 141 ff.; Kannappel (o. Anm. 65), S. 154 f f , 192 f. 76 Niksch (o. Anm. 2), S. 460 ff. In diesem Zusammenhang zitiert Niksch, S. 224 als Beleg für eine mögliche Einflussnahme auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts einen Aktenvermerk Fickers vom 19.9.1943: „Eine gesetzliche Regelung der Frage allein ist nicht nötig, da ein Wink an das Reichsgericht genügen dürfte, um eine entsprechende Rechtsprechung einzuführen." Ob dieser Wink erfolgte, ist offen. Inwieweit dieser Vermerk Rückschlüsse auf eine Einflussnahme auf die Reichsgerichtsrechtsprechung in den Jahren 1939-1942, in denen die meisten Urteile zu § 55 EheG 1938 ergingen, erlaubt, bleibt Spekulation. Möglicherweise gab es auch andere Gründe dafür, dass das Reichsgericht ab 1943 den Widerspruch nach § 55 II 1 EheG häufiger berücksichtigte. Dies legen jedenfalls die Ergebnisse Hoffmann-Steudners (o. Anm. 2), S. 227 nahe: „Die anfänglich sehr scheidungsfreundliche Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 55 EheG nährte in der Bevölkerung die Befürchtung, daß sie eine einseitige Verstoßung der Frau herbeiführen könnte. Daher wurden sämtliche Urteile, die sich auf den Zerrüttungstatbestand stützten, aufmerksam verfolgt und auch in der Presse umfangreich besprochen. Dies führte dazu, daß das RG im Jahre 1943 seine bis dahin geltende Spruchpraxis auf den Druck der Bevölkerung modifizieren mußte. Bis 1943 hatte es ... das für § 55 Abs. 2 EheG geltende Regel-Ausnahme-Prinzip umgekehrt. Diese Umkehrung mußte im Jahre 1943 teilweise wieder zurückgenommen werden, weil vor allem ältere Frauen den mangelnden Schutz des Gesetzes beklagten, wenn der Mann eine neue, bevölkerungspolitisch wertvollere Beziehung aufgenommen hatte. Wie bereits festgestellt, war die Schutzlosigkeit der Frauen keine Folge, die ihre Ursache in der gesetzlichen Ausgestaltung des § 55 EheG hatte, sondern beruhte vielmehr auf der gesetzeswidrigen Auslegung, die die Norm in der Rechtsprechung des RG erfahren hatte." 77

Niksch (o. Anm. 2), S. 209, 257, 282. Ähnlich Gruchmann (o. Anm. 55), S. 81 f. zur Wirkung der Lenkungsbesprechung: „In der Folgezeit entwickelte der zuständige IV. Zivilsenat des Reichsgerichts bei der Auslegung der Generalklauseln in seiner Revisionsrechtsprechung dann auch Grundsätze, die den Intentionen der politischen Führung voll entsprachen."

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Urteile zu § 55 EheG erlassen, wobei die eine Klage bereits an den Voraussetzungen des § 55 I EheG gescheitert war, weil die häusliche Gemeinschaft der Parteien nicht aufgehoben war. 78 In dem anderen Verfahren war es zwar zu einer Klageabweisung wegen Beachtlichkeit des Widerspruchs nach § 55 II EheG gekommen, jedoch zog das Reichsgericht - so wie auch später - allein bevölkerungspolitische Argumente hierfür heran: „Der Kläger ist 60 Jahre alt. Sollte er sich überhaupt wiederverheiraten, so erscheint ... als das Natürliche eine Ehe mit einer Frau reiferen Alters, aus der dann Kindersegen nicht zu erwarten sein dürfte. Die Ehe eines Mannes dieses Alters mit einer viel jüngeren Frau ist aber vom bevölkerungspolitischen Standpunkt aus nicht so erwünscht, daß diese Möglichkeit entscheidend zugunsten der Scheidung ins Gewicht fallen könnte. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, daß nach der Persönlichkeit des Klägers auch für den Bestand einer solchen Ehe zu fürchten wäre." 79

Zwar erließ der IV. Zivilsenat erst nach der Lenkungsbesprechung das erste einer Scheidungsklage trotz Widerspruchs stattgebende Urteil, änderte jedoch nicht seine Rechtsprechung, sondern berief sich auch hier auf das Interesse der Volksgemeinschaft, das dafür spreche, die Legalisierung eines nichtehelichen Verhältnisses zu ermöglichen, wenn dieses seit siebzehn Jahren bestehe und die Ehe bereits ebenso lang zerrüttet sei. 80 Auch Reaktionen aus dem damaligen Schrifttum bestätigen, dass die Rechtsprechung des Reichsgerichts als einheitlich empfunden wurde. So wurden in einer Veröffentlichung die ersten Entscheidungen des IV. Zivilsenats, einschließlich der sog. Grundsatzentscheidung zu § 55 EheG vom 17. April 1939, folgendermaßen zusammengefasst: „Leitender Gesichtspunkt für die Auslegung von Abs. 2 Satz 2 (sei) das Allgemeininteresse - nicht das Interesse der Parteien - an der Aufrechterhaltung oder Lösung der Ehe"; entscheidend seien „also völkische Gesichtspunkte. Im übrigen (sei) die Auslegung notwendigerweise kasuistisch". Es folgt eine Übersicht über die bislang entschiedenen Fälle und am Ende die Feststellung: „Diese Einzelheiten, die sich aus den bisherigen Entscheidungen des RG ergeben, lassen also deutlich erkennen, auf welche Ge-

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R G Z 159, S. 115 (Urt. v. 12.1.1939 - IV 211/38). RGZ 159, S. 111, 114 (Urt. v. 12.1.1939-IV 171/38) = RG ZAkDR 1939, S. 240, mit Anm. Satter. Besondere Berücksichtigung fanden in dieser Entscheidung aber auch die außergewöhnlichen Opfer der Ehefrau, die nach Schwangerschaft und Geburt eines gemeinsamen, bald nach der Geburt verstorbenen Kindes unfruchtbar geworden war und sich danach wiederholt Operationen zur Beseitigung ihrer Unfruchtbarkeit unterzogen hatte sowie mit der Adoption eines nichtehelichen Kindes des Ehemannes einverstanden gewesen war. Auf diese Opfer der Ehefrau zur Beseitigung der Kinderlosigkeit der Ehe verweist auch Mößmer , ZAkDR 1939, S. 292, 295. 80 RGZ 159, S. 305 ff. (Urt. v. 13.2.1939- IV 229/38) = RG ZAkDR 1939, S. 239 f., mit Anm. Lauterbach , ZAkDR 1939, S. 234 f. 79

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1 9 3 3 - 1 9 4 5 1 9 3 sichtspunkte es ankommt. Maßstab ist, wie nochmals hervorgehoben sei, stets der Wert der Ehe für die Volksgemeinschaft." 8 1 Ein ausgewiesener Kenner der Materie wie Ferdinand Mößmer, unter dessen Leitung als Vorsitzender des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht die Vorentwürfe zum Ehegesetz von 1938 entstanden sind, sah ebenfalls zwischen den Urteilen vor und nach der Lenkungsbesprechung keineswegs einen Bruch; vielmehr zog er die Urteile v o m 12. Januar 1939 und vom 13. Februar 1939 in einem Zuge als Belege dafür heran, dass nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts „die Aufrechterhaltung einer Ehe ... demnach sittlich nicht begründet (sei), wenn sie, selbst inhaltslos und zerrüttet, durch ihren Fortbestand der Erhaltung und Mehrung des Volkes oder dem Einsatz des einzelnen Volksgenossen für die Aufgaben des Gemeinschaftslebens hindernd im Wege steht". 8 2 In den folgenden Jahren bis Ende 1944 kam dem I V . Zivilsenat des Reichsgerichts die Aufgabe zu, in richterlicher Rechtsfortbildung Voraussetzungen und Grenzen des § 55 EheG zu bestimmen, wobei die Entscheidungen regelmäßig positiv aufgenommen wurden. 8 3 So beurteilte Gustav v. Scanzoni, einer der führenden Familienrechtler der Zeit, die Reichsgerichtsrechtsprechung i m Jahre 1940 folgendermaßen: „Die Vorschrift des § 55 EheG hat seit Inkrafttreten des Gesetzes zu einer Hochflut von Revisionen geführt. Heute ist die Lage so, daß sich durch eine ungewöhnlich große Zahl einschlägiger... Entscheidungen des RG eine in den wichtigsten Punkten feste und ständige Rechtsprechung herausgebildet hat, die bereits zu allen im Zusammenhange mit § 55 nur denkbaren Einwendungen, Zweifelsfragen, Rechtsangriffen und Rechtsverteidigungen Stellung nimmt und die unendlich vielgestaltigen Anwendungsfälle des praktischen Lebens so gattungsmäßig einfängt, daß sich von dem

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Lauterbach, ZAkDR 1939, S. 379. Vgl. auch ders., ZAkDR 1939, S. 234 f. Mößmer, ZAkDR 1939, S. 292, 294. Im Anschluss an die Würdigung der Reichsgerichtsrechtsprechung wird aus beiden Urteilen zitiert und am Ende der Gesetzgeber kritisiert: „Das Reichsgerichtsurteil vom 12.1.1939 sagt hiezu: ,Trotzdem würden die der Beklagten günstigen Gesichtspunkte nicht den Ausschlag geben dürfen, wenn besondere, bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe schwerwiegende Umstände, etwa Gesichtspunkte bevölkerungspolitischer Art, das Scheidungsbegehren gerechtfertigt erscheinen lassen.' Auch das Urteil vom 13.2.1939 stellt dem Interesse des beklagten Ehegatten an der Fortdauer der Ehe ,die schweren sittlichen und einer gesunden Volkserhaltung abträglichen Schäden4 entgegen, ,die sich aus einer Aufrechterhaltung inhaltslos gewordener Ehen ergeben', so dass ,auch die sittlichen Belange des gesamten Volkes in entscheidendem Maße berücksichtigt werden müssen'. Um so bedauerlicher bleibt es, dass die amtliche Begründung sich zu diesen grundlegenden Fragen überhaupt nicht geäußert und dadurch in weiten Kreisen den Eindruck erweckt hat, als hätte der Gesetzgeber diesen Fragen keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung beigelegt." 83 Etwa Maßfeiler, DR 1939, S. 1716 f.: „Ich möchte hiernach der Fortentwicklung des Gesetzesrechts in der Richtung, die das RG eingeschlagen hat, nicht entgegentreten." 82

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ursprünglich ziemlich chaotischen Untergrund längst klare, scharf und plastisch umrissene Richtlinien abheben."84

Besonders aufschlussreich sind aber die Veröffentlichungen der Mitglieder des IV. Zivilsenats, weil sie deutlich belegen, dass der Senat seine Aufgabe gerade im Bereich des § 55 EheG vor allem in der Rechtsgestaltung sah. So heißt es in einem Beitrag des Senatspräsidenten Martin Jonas „Zum neuen Ehescheidungsrecht" in der Festschrift für den Reichsgerichtspräsidenten Erwin Bumke zum 65. Geburtstag im Jahre 1939: „Das EheG ist - und das ist letzten Endes das Kernstück des Gesetzes - von der Alleingeltung des Schuldprinzips abgerückt und hat daneben das vom Verschulden absehende Zerrüttungsprinzip gestellt. ... Es hat aber... vermieden, nähere Normen zu geben, und hat damit bewußt die Entwicklung zunächst in die Hand der Rechtsprechung gelegt. Ihr und besonders dem obersten Gericht ist damit die hohe Aufgabe zugefallen, in die weite Schale des Gesetzes erst den wirklichen unmittelbar aus dem Leben geschöpften Inhalt zu gießen und damit dem Gesetzgeber der künftigen Zeit wiederum vorzuarbeiten." 85

84 v. Scanzoni, DR 1940, S. 755, 756. Dort heißt es weiter: „Nach der grundsätzlich wohl wichtigsten Entscheidung RGZ 160, 147 (144) läßt § 55 Abs. 1 EheG als Grundanschauung des Gesetzgebers erkennen, daß der nationalsozialistische Staat zwar darauf bedacht ist, eine vollwertige Ehe zu schützen, daß ihm aber nicht daran gelegen sein kann, eine Ehe durch Zwang aufrechtzuerhalten, die ihren inneren Wert endgültig verloren hat." Den von v. Scanzoni verfassten Kommentar „Das großdeutsche Ehegesetz" hatte zuvor Reichsgerichtsrat Hermann Günther in der JW 1939, S. 747 lobend, insb. im Hinblick auf die Berücksichtigung der Reichsgerichtsrechtsprechung, besprochen: „Der Verf. steht fest auf dem Boden des neuen Rechtsdenkens und der nationalsozialistischen Würdigung des Wesens der Ehe. ... Das Schrifttum ist sorgfältig berücksichtigt, und aus der Rechtsprechung sind ... die zum neuen Gesetz ergangenen Entscheidungen, soweit ersichtlich, lückenlos angeführt... . Bei dem schnellen Tempo, in dem Fragen des Eherechts gegenwärtig zur Entscheidung gebracht werden, ist es natürlich unvermeidlich, daß seit der Drucklegung des Buches schon wieder eine Reihe von Urteilen des RG ergangen sind, die darin nicht berücksichtigt werden konnten. ... Das Buch ... sollte in jedem Gerichtssaal stehen, in dem Deutsche für ihre Ehe Recht nehmen und damit ihr Leben auf Gedeih und Verderb der Entscheidung unterwerfen müssen, denn der im besten Sinne revolutionäre Geist, den dieses Werk atmet, muß auch die Urteile beseelen, damit das neue Recht unserem Volke zur Erlösung werde." 85

Martin Jonas, Zum neuen Ehescheidungsrecht, in: Wilhelm Hedemann/Gustav Wilke (Hrsg.), Erwin Bumke zum 65. Geburtstag, 1939, S. 203, 204. Die folgenden Ausführungen zur Rechtsprechung im einzelnen schließen mit den Worten (212): „Man wird, wenn man die bisherige Entwicklung überblickt, anerkennen müssen, daß der von dem neuen Ehegesetz gewiesene und nun von der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu einer festen Straße ausgebaute Weg in einer geraden und, wie mir scheint, durchaus richtigen Linie verläuft." Vgl. auch Jonas, DR 1939, S. 1910, 1911: „Ich stehe, was den Kernpunkt des Gesetzes, den Übergang zum Zerrüttungsgrundsatz bei der Scheidung, anlangt, rückhaltlos auf dem Boden des neuen Rechts; wohl keiner ist so wie ich davon durchdrungen, daß hier der Gesetzgeber eine befreiende Tat vollbracht hat - aber man darf sich andererseits auch dem nicht verschließen, daß die praktisch-technische Gestaltung, die der neue gesetzgeberische Gedanke gefunden hat, von dem Idealbilde des künftigen Dauerrechts doch noch recht weit entfernt ist."

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1 9 3 3 - 1 9 4 5 1 9 5 Nach Darstellung der eigenen Rechtsprechung erhob Jonas folgende Forderung an den Gesetzgeber: „Der wichtigste Punkt des künftigen Gesetzesrechts scheint mir die folgerichtige Durchfuhrung des Zerrüttungsprinzips zu sein. Das EheG hat - mit Recht behutsam das Zerrüttungsprinzip zunächst neben das Schuldprinzip gestellt, es hat damit den grundsätzlichen Anfangsschritt in eine Richtung getan, in der zwangsläufig weitere Schritte folgen müssen und, das ist meine feste Überzeugung, hoffentlich auch folgen werden." 86 Diesen Weg beschritt dann jedoch das Reichsgericht selbst, in dem es die nach Jonas „folgerichtige Durchführung des Zerrüttungsprinzips" Schritt für Schritt in richterlicher Rechtsfortbildung umsetzte und i m L a u f der Zeit sämtliche anderen Wertungen hinter den „völkischen Belangen" zurückstellte. 8 7 Eine gezielte Steuerung der umfangreichen Judikatur des I V . Zivilsenats von Seiten der Staats- und Parteiführung lässt sich - entgegen den Vermutungen Nikschs 8 8 - nicht nachweisen und ist bei rund 400 Einzelentscheidungen zu

86 Jonas, Zum neuen Ehescheidungsrecht (o. Anm. 85), S. 213. Vgl. auch Frantz, DR 1941, S. 1028 ff. zu § 55 EheG: „Indem das Gesetz letztlich fast allgemein darauf abstellt, ob im Einzelfall die Lösung der Ehe sittlich gerechtfertigt ist,... beschränkt es den Richter nicht auf die Feststellung des Tatbestandes, sondern gibt ihm die Macht und Verantwortung der freien Entscheidung (S. 1029). ... Sittlich ist im Rahmen des EheG naturgemäß im Sinne von ,völkisch-sittlich' zu verstehen (S. 1030). ... Hier greift nun aber beschränkend die Bestimmung des § 55 Abs. 2 EheG ein. Sie hat dem RG in besonderem Maße Gelegenheit zu grundsätzlicher Stellungnahme gegeben. ... Die reichsgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der Beachtlichkeit des Widerspruchs hat eine Reihe von Grundsätzen entwickelt, die insgesamt... eine bestimmte Richtung aufzeigen und praktisch eine gemäßigte Scheidungsfreudigkeit erkennen lassen. Im Vordergrund steht dabei der Satz, daß die Frage, ob die Ehe zu scheiden oder aufrechtzuerhalten sei, in erster Linie nach den völkischen Belangen entschieden werden müsse .... An dieser Auffassung hat das RG trotz beachtlicher Gegenstimmen ... festgehalten (S. 1031)." 87 Etwa RGZ 162, S. 44, 47 (Urt. v. 6.11.1939 - IV 103/39): „Vom völkischen Standpunkte aus ist das entscheidende Gewicht darauf zu legen, daß die zur hohlen Form herabgesunkene Ehe nutzlos Kräfte bindet und verzehrt, die bei Trennung der Ehe der Allgemeinheit zugute kommen können." Vgl. auch die Kommentierung von Reichsgerichtsrat Ernst Hallamik zu § 55 EheG (Ziff. 7) im Reichsgerichtsrätekommentar, Bd. 4, 9. Aufl. 1940 mwN. Zur „rechtsschöpferischen Natur" der Reichsgerichtsentscheidungen und dem „rechtsgestaltenden Wirken des RG" vgl. auch die Urteilsanmerkung von v. Scanzoni, DR 1941, S. 152. Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung zu § 55 EheG 1938 finden sich bei Rüthers (o. Anm. 63), S. 23 ff.; Nahmmacher (o. Anm. 2), 5. 236 ff.; Kannappel (o. Anm. 65), S. 148 ff.; Niksch (o. Anm. 2), S. 333 ff. 88 Bei Niksch (o. Anm. 2), S. 209 heißt es zunächst unter Heranziehung der auf der Lenkungsbesprechung im Januar 1939 protokollierten Äußerungen von Jonas: „ M i t dieser Erklärung legte Senatspräsident Jonas die spätere Praxis seines Senates fest, bevor überhaupt das erste Grundsatzurteil in dieser Sache gefällt worden war. Sowohl der Wink des Ministers an den Präsidenten des zuständigen Senats als auch die Festlegung der Rechtsprechung des Senats durch seinen Präsidenten dürfte in der Rechtsprechung des Reichsgerichts neu und unerhört gewesen sein." In der abschließenden Würdigung zu diesem Kapitel nimmt Niksch diese Ausführungen teilweise zurück und fuhrt zum In-

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§ 55 EheG auch kaum vorstellbar. 8 9 In diesem Zusammenhang sei abschließend noch auf einen Aufsatz von Reichsgerichtsrat Georg Frantz, M i t g l i e d des I V . Zivilsenats in den Jahren 1937 bis 1943, verwiesen, mit dem Frantz nach dem Krieg die Rechtsprechung des Senats zum Zerrüttungsprinzip verteidigte: „Als das neue EheG erschien und am 1.8.1938 in Kraft trat, konzentrierte sich schnell das Interesse auf § 55. Es herrschte bei uns Einmütigkeit darüber, daß der Grundgedanke richtig, die Fassung wenig glücklich sei. Fraglos war es nur ein Rahmen, den auszufüllen Sache der Rspr. war. Die Bestimmung trug deutlich den Charakter eines Kompromisses zwischen einer sehr gemäßigten Richtung, die vor allem in der amtlichen Begründung zu Wort kam, und den ,Allesscheidern', deren wildeste Leute im ,Schwarzen Korps' großen Lärm vollführten. Der Ordnung halber sei hier bemerkt, daß von keiner amtlichen oder parteiamtlichen Stelle der Versuch einer Einwirkung auf die Rspr. des Senats gemacht worden ist. Es hätte auch schon sehr mächtiger Pressionen bedurft, um den starken Unabhängigkeitssinn des Senats zu erschüttern." 90

IV. Feststellung der blutsmäßigen Abstammung A n der richterlichen Rechtsfortbildung zur Abstammungsfeststellungsklage war nicht nur der I V . Zivilsenat beteiligt, sondern ab 1938 auch der V I I I . Z i v i l senat, der sog. Österreichsenat in Zivilsachen, der das österreichische Kindschafts- und Zivilprozessrecht unter Übernahme der Rechtsprechung des I V . Zivilsenats in ähnlicher A r t und Weise umgestaltete. 91 Da der V I I I . Zivilsenat

teresse des Reichsjustizministeriums an der Beendigung der Diskussion um die Auslegung der Widerspruchsklausel nach § 55 II EheG aus (S. 257): „Dazu bedurfte auch der NS-Staat einer Richterschaft, die das Spiel mitmachte. Der IV. Senat war bereit. ... Damit hat das Reichsgericht im strengen Sinne nicht dem Wink des Führers Folge geleistet, sondern hat für ihn sogar die Kastanien aus dem Feuer geholt, in einer Lage, in der der Führer gar nicht hätte deutlich werden können, ohne zuzugeben, daß er zunächst in voller Kenntnis der Dinge das falsche Gesetz unterschrieben hatte." 89 Niksch (o. Anm. 2), S. 314 ff. weist noch daraufhin, dass im RJM die Reichsgerichtsrechtsprechung zu § 55 EheG genau verfolgt, insb. im Oktober 1939 eine Statistik über die bis dahin vorliegenden Urteile des IV. Zivilsenats gefertigt wurde. Im Verhältnis zur Rechtsprechung der Land- und Oberlandesgerichte wurde die Reichsgerichtsrechtsprechung als scheidungsfreundlicher eingestuft. Niksch, S. 317 sieht hierin eine Observierung der Arbeit des IV. Senats durch das Ministerium, die jedoch keine weiteren Konsequenzen gehabt zu haben scheint. Eine Einflussnahme auf die Rechtsprechung war schon deshalb nicht nötig, weil diese ohnehin den Vorstellungen des RJM entsprach. Vgl. auch Daut (o. Anm. 55), S. 138 mit Hinweis darauf, dass das Reichsgericht „in den ersten eineinhalb Jahren seiner Rechtsprechung zu § 55 Abs. 2 ... in fast vier Fünfteln der veröffentlichten Entscheidungen, in denen es der Klage stattgab, von den vorherigen Urteilen der Oberlandesgerichte" abwich. 90 Frantz, NJW 1949, S. 448. 91 Zum VIII. Zivilsenat vgl. Hans Hermann Seiler, Das Reichsgericht und das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, in: Lens, Carl Otto/Thieme, Wer-

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

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jedoch im Wesentlichen die Rechtsprechung für das Altreich auf Österreich übertrug, 9 2 w i r d i m Folgenden nur vereinzelt auf die Rechtsprechung des Österreichsenats hingewiesen. 9 3 Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Abstammung (Gesetz zur W i e derherstellung des Berufsbeamtentums v. 7. A p r i l 1933, Reichsbürgergesetz v. 15. September 1935, Blutschutzgesetz v. 15. September 1935) erwiesen sich die Möglichkeiten zu ihrer Klärung als unzureichend. Nach dem B G B in der Fassung von 1900 konnte die Abstammung eines ehelichen Kindes zwar i m Rahmen der Ehelichkeitsanfechtung nach §§ 1593 ff. B G B geklärt werden, das Anfechtungsrecht stand jedoch nur dem Ehemann der Mutter zu (§ 1593 B G B ) . Außerdem war die Anfechtungsfrist mit einem Jahr bewusst kurz gewählt und begann mit der Kenntnis von der Geburt des Kindes zu laufen (§ 1594 B G B ) . Die Abstammung eines nichtehelichen Kindes konnte nur inzident im Rahmen der Unterhaltsklage gegen den Erzeuger geklärt werden (§ 1717 B G B ) . 9 4 Daher war seit Inkrafttreten des B G B über die Zulässigkeit einer selbständigen Klage auf Feststellung des Bestehens der nichtehelichen Vaterschaft nach § 256 ZPO diskutiert worden. 9 5

ner/Graf v. Westphalen, Friedrich (Hrsg.), Freundesausgabe für Jürgen Gündisch, 1999, S. 51, 55 ff. 92 Seiler (o. Anm. 91), S. 69 f. beurteilt die Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats im Bereich der Abstammung folgendermaßen: „Die einwandfreie Feststellung der Vaterschaft ist ein legitimes Ziel moderner Familienrechtsordnungen. Dann kann es nicht vorzuwerfen sein, daß dies auch ,im nationalsozialistischen Staat als notwendig erachtet werden muß4. Bei der Verwendung der genannten Termini handelt es sich danach, richtig gesehen, um sprachliche Kosmetik, ohne für die Entscheidungen ausschlaggebende Bedeutung. ... Daß aber etwa neue Rechtsquellen freigelegt werden, davon kann in der hier untersuchten Judikatur keine Rede sein. ... Alles in allem also eine Rechtsprechung auf beachtlichem Niveau, die Respekt verdient." Dies kann nicht unwidersprochen bleiben: Richtig ist, dass die grundlegenden Entscheidungen auf den IV. Zivilsenat zurückgehen, jedoch hat sich der VIII. Zivilsenat diese Rechtsprechung zu eigen gemacht und lediglich an die österreichischen Verhältnisse angepasst. 93 In der amtlichen Sammlung veröffentlichte Urteile des VIII. Zivilsenats (Österreichsenat): RGZ 161, S. 325; 162, S. 113; 163, S. 90; 163, S. 399; 164, S. 45; 165, S. 186; 166, S. 157; 167, S. 120; 169, S. 219; 170, S. 61; 170, S. 63. Außerdem liegt ein Beschluss des Großen Senats für Zivilsachen vor: RGZ 169, S. 129. 94 Zwar verbot das BGB im Gegensatz zum französischen Recht nicht die Erforschung der Vaterschaft, eröffnete aber auch keinen Weg zur selbständigen Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft. Darüber hinaus blieb in den linksrheinischen Gebieten nach Art. 208 EGBGB die Geltung des Code civil aufrechterhalten, so dass nichtehelichen Kindern, die dort vor dem 1.1.1900 geboren worden waren, die Erforschung der Vaterschaft verboten war. Dazu Planck, Bürgerliches Gesetzbuch nebst Einführungsgesetz, Bd. 6, 1901, Art. 208 EGBGB, Anm. 3a; Roquette, DR 1936, S. 487; Jan Zimmermann, Geschichte der Klage auf Feststellung der Abstammung, 1990, S. 101 f. 95 Zur Entwicklung vor 1900, insb. zur Diskussion bei den Arbeiten zum BGB, sowie zur Diskussion seit 1900 vgl. Zimmermann (o. Anm. 94), 45 f f , 61 ff. mwN.

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Obwohl für die Zulässigkeit dieser Klage der Wortlaut des § 644 ZPO sprach, der nur die Anwendung der für Statusklagen geltenden §§ 640 bis 643 ZPO ausschloss,96 gab es im Schrifttum erhebliche Einwände gegen eine selbständige Vaterschaftsfeststellungsklage. Hauptargument war dabei, dass die nichteheliche Vaterschaft eine biologische Tatsache und kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis sei, weil der Vater und sein nichteheliches Kind gemäß § 1589 BGB als nicht miteinander verwandt galten. 97 Angesichts der unbefriedigenden Rechtslage war bereits seit 1917, vor allem aber seit den 1920er Jahren - allerdings ohne Erfolg - an einer Reform gearbeitet worden. 98 Ziel der Reformarbeiten war jedoch die Verbesserung der Rechtsstellung des nichtehelichen Kindes, nicht hingegen der Nachweis der Abstammung und die damit verbundene Feststellung der Rassenzugehörigkeit. 99 Mit dem Jahr 1933 trat der Gesichtspunkt der Klärung der sog. blutsmäßigen Abstammung in den Vordergrund. Die Diskussion um die Zulässigkeit der Abstammungsfeststellungsklage wurde nun mit großer Heftigkeit geführt, 100 wobei

96 der §§ 640 bis 643 gelten nicht für einen § 644 ZPO 1900: Die Vorschriften Rechtsstreit, der die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der unehelichen Vaterschaft zum Gegenstande hat. 97 Gegenüber dem Vater bestand nur ein Unterhaltsanspruch (§§ 1708 ff. BGB), der im Klage verfahren geltend gemacht werden konnte. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde die Vaterschaft als Voraussetzung für den Anspruch festgestellt. Die einzige zivilrechtliche Beziehung des Kindes zu seinem Vater war bis zum 16. Lebensjahr das Unterhaltsverhältnis; darüber hinaus bestand kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zwischen Vater und Kind. 98 Zu nennen sind insb. der Reformvorschlag des bevölkerungspolitischen Ausschusses im Dt. Reichstag von 1917, der Entwurf des Verbandes Dt. Berufsvormünder von 1920, die Leitsätze des 32. Dt. Juristentages von 1921, der Nichtehelichenrechtsentwurf von 1925, die Entwürfe des Verbandes Dt. Berufsvormünder von 1925/26 sowie der Regierungsentwurf von 1929. Dazu Zimmermann (o. Anm. 94), S. 71 ff. 99 Dies gilt selbst noch für einige Entwürfe nach 1933, vgl. Eva Schumann, Die nichteheliche Familie, Reformvorschläge für das Familienrecht mit einer Darstellung der geschichtlichen Entwicklung und unter Berücksichtigung des Völker- und Verfassungsrechts, 1998, S. 116 ff. 100 Etwa v. Scheurl, JW 1935, S. 260 f.; ders., JW 1936, S. 235 ff.; Roquette, JW 1935, S. 1385 ff.; ders., JW 1935, S. 2476 ff.; ders., DR 1936, S. 486; Fischer, JW 1936, S. 237 ff.; DeIcker, STAZ 1936, S. 145. Weitere Nachweise bei Otto Warneyer, Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 1938, Vorbem. zu §§ 1591 ff. BGB. Vgl. auch Roquette, Vaterschaftsklagen, 1938, S. 74.

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nach wie vor namhafte Stimmen i m Schrifttum 1 0 1 und etliche Instanzgerichte die Zulässigkeit einer solchen Klage verneinten. 1 0 2 Hier mag ein kurzer Einblick in den Diskussionsstand vor der ersten Entscheidung des Reichsgerichts genügen. In der JW 1936 sind unter der Überschrift „ D i e Feststellung der blutsmäßigen Abstammung" zwei Beiträge hintereinander abgedruckt.

Als

erstes ein Beitrag

von einem Mitarbeiter

des

Reichsrechtsamtes der N S D A P , Freiherr v. Scheurl, und danach eine Stellungnahme eines Rechtsreferendars aus München namens Paul Fischer, der sich auf die „Unterstützung durch den Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht, Rechtsanwalt Dr. Ferdinand Mößmer", berief. 1 0 3 Nach Darstellung des Meinungsstandes und einem Lösungsvorschlag i m Wege der Auslegung des geltenden Rechts stellte v. Scheurl abschließend die Frage, „ o b sich nicht eine möglichst baldige gesetzgeberische Klärung der ganzen Fragen empfehlen würde", verneinte diese aber: „Gerade der vorliegende Fall beweist, wie Wissenschaft und Rechtsprechung von sich aus mit eigener Kraft den neuen Erfordernissen gerecht werden können. Hierzu müssen w i r

101 Aus dem Schrifttum ist insbesondere Hermann Roquette, JW 1935, S. 1385, 1389 zu nennen: „Gegenstand einer Feststellungsklage kann nur die eheliche oder nicht eheliche Abstammung sein, nicht die rassische Abstammung. Der Familienstand ist ein Rechtsverhältnis, die rassische Abstammung eine biologische Tatsache; eine Klage kann aber nur auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses, nicht auf Feststellung einer Tatsache gerichtet sein." Zu diesem Absatz findet sich eine Fußnote von Ruttke: „Nach der lebensgesetzlichen Rechtslehre ist die rassische Abstammung ebenso ein Rechtsverhältnis wie der Familienstand, daher ist auch hier eine Feststellungsklage nötig. Lebensgesetzliche Rechtslehre ermöglicht in diesem Falle Verwirklichung nationalsozialistischer Rechtsgedanken, ohne daß in jedem Einzelfalle gesetzliche Änderungen notwendig sind." Daraufhin wieder Roquette, JW 1935, S. 2476, 2477 ff.: „Gibt es eine Klage auf Feststellung der arischen oder einer sonstwie bestimmten rassischen Abstammung? Diese Frage ist zu verneinen. ... Die rassische Abstammung ... ist kein Rechtsverhältnis, sondern eine biologische Tatsache. Ich habe dies bereits in meinem Aufsatz JW 1935, 1389 hervorgehoben und glaube, hieran auch trotz der gegenteiligen Auffassung von Dr. Ruttke, die er in der Fußnote zu meinem zit. Aufsatz niedergelegt hat, festhalten zu müssen. ... Alle diese Ausführungen zeigen, daß die ZPO nicht die Formen für die Ermittlung der rassischen Abstammung enthält. Das Verfahren, in dem die arische oder nichtarische Abstammung festgestellt wird, ist bisher gesetzlich nicht geregelt. Wenn es überhaupt zu einer solchen Regelung kommt, wird vorweg zu prüfen sein, ob die ordentlichen Gerichte dazu berufen sein können, Träger eines solchen Verfahrens zu sein." 102

Etwa OLG München JW 1937, S. 964, 966: „Die blutmäßige Abstammung des Kindes von einem bestimmten Vater ist allerdings eine Tatsache, die nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein kann." Vgl. weiter LG Bonn JW 1937, S. 2921: „Die Feststellung der blutsmäßigen Abstammung eines unehelichen Kindes kann nicht Gegenstand eines Prozesses sein. Die blutsmäßige Abstammung ist kein Rechtsverhältnis, sondern eine biologische Tatsache." Dazu auch Zimmermann (o. Anm. 94), S. 99 ff. mwN. 103

Fischer, JW 1936, S. 237.

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Rechtswahrer uns aber vor allem selbst erziehen." 104 Den Ausführungen v. Scheurls trat Fischer entschieden entgegen: „Die tatsächliche Abstammung ist also zwar Element eines Tatbestandes von rechtlicher Erheblichkeit, aber sie ist nicht im gesetztechnischen Sinn ein Rechtsverhältnis. Die ,blutmäßige Abstammung' ist vielmehr eine biologische Tatsache. ... Wenn daher von Scheurl im Wege der Analogie die Feststellung der ,blutmäßigen Abstammung' für zulässig erklärt, so übersieht er diese Gesichtspunkte. ... Die ,blutmäßige Abstammung' ist aber auch nicht als sog. ,biologische Verwandtschaft' ein Rechtsverhältnis, weil hieraus Folgen öffentlich-rechtlicher Natur abgeleitet werden. ... Die Rechtsbeziehungen, die nach § 256 ZPO festgestellt werden können, müssen grundsätzlich bürgerlich-rechtlicher Natur sein, worüber in Schrifttum und Rechtsprechung Übereinstimmung besteht." 105

Abschließend kommentierte Fischer die Auslegung v. Scheurls folgendermaßen: „Das geht nicht an. Das wäre eine völlig neuartige Methode der Auslegung und Rechtsfindung, die den Rahmen der bisher bestehenden Bindung an das Gesetz sprengt Ebensowenig ist natürlich eine neue ZPO durch Gewohnheitsrecht entstanden Nachdem sich also m. E. mit zwingender Logik die Unzulässigkeit der Klage auf Feststellung der ,blutmäßigen Abstammung' durch das Gericht ergibt, bleibt nur die Möglichkeit der Einführung eines besonderen gerichtlichen Verfahrens, das die sichere Feststellung der ,blutmäßigen Abstammung' gewährleistet. Bisher hat es ja der Gesetzgeber unterlassen, durch ein Sondergesetz einzugreifen, was wohl auf die Absicht deuten lässt, diese Fragen im Zuge der Gesamterneuerung des Familienrechts zu regeln." 106

Die allgemein erwartete gesetzgeberische Lösung blieb zwar aus, 107 nicht aber eine Änderung der Rechtslage. Diese erfolgte durch richterliche Rechtsfortbildung im Wege einer Erweiterung von § 256 ZPO. Im Oktober 1937 bejahte der IV. Zivilsenat 108 zunächst das Vorliegen eines Rechtsverhältnisses. 104

v. Scheurl, JW 1936, S. 237. Fischer, JW 1936, S. 237, 238. 106 Fischer, JW 1936, S. 237, 239. Zustimmend Roquette, DR 1936, S. 486. 107 Etwa LG Oels JW 1935, S. 3125, 3126: „Nach alledem ist das mit den gegenwärtig vorhandenen Prozeßmitteln durchfuhrbare Verfahren so fragwürdig und wertlos, daß sich die Gerichtsbarkeit des Dritten Reiches nicht dazu hergeben kann, sie zuzulassen. ... Dies wäre ein offensichtlicher Verstoß gegen die bestehenden Gesetze und würde nichts anderes bedeuten, als daß unbefugt dem Gesetzgeber vorgegriffen würde." Dazu Anm. Roquette, JW 1935, S. 3127: „Der Entsch. ist im Ergebnis und in der Begr. in vollem Umfang beizupflichten. In klaren und sehr sorgfältig durchdachten Ausführungen gibt das LG Oels eine scharf umrissene Darstellung des gegenwärtigen unerfreulichen Rechtszustandes. ... In diesem Zusammenhang wirken die Ausführungen der Entsch. über die Mangelhaftigkeit des gegenwärtigen Verfahrens und die Bedeutungslosigkeit der erreichbaren Entsch. besonders überzeugend." Auch an anderer Stelle forderte Roquette, DR 1936, S. 488 eine Lösung des Problems durch ein Tätigwerden des Gesetzgebers. 105

108 RG JW 1938, S. 245 ff. (Urt. v. 14.10.1937 - IV 92/37) mit Anm. Bernhardt-, Anm. Roquette = ZAkDR 1937, S. 724 ff. Dazu Zimmermann (o. Anm. 94), S. 112 ff.

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Zwar sei die Rassenzugehörigkeit eines Menschen kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis, w o h l aber die Abstammung des unehelichen Kindes von seinem Erzeuger. 1 0 9 Hingegen stellte der Senat beim rechtlichen Interesse an der Abstammungsfeststellung allein auf die Bedeutung der Rassenzugehörigkeit ab: „Seit dem Inkrafttreten der Ariergesetzgebung hat auch hier im Schrifttum und in der Rspr. eine sehr lebhafte Erörterung eingesetzt darüber, ob das rechtliche Interesse an einer Klage auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung von einem bestimmten Bekl. damit begründet werden kann, daß der Kl. diese Feststellung zum Nachweis seiner arischen Abstammung brauche; .... Dieses auf öffentlich-rechtlichem Gebiet liegende Interesse des unehelichen Kindes an der Feststellung seines wirklichen Erzeugers hat sich, wie gar nicht zu verkennen ist, in den letzten Jahren außerordentlich gesteigert durch die Ariergesetzgebung des Dritten Reichs mit allen ihren Einwirkungen auf das Staatsbürgerrecht, das Beamtenrecht, das Wehrverfassungsrecht usw. Man wird daher ein Bedürfnis des unehelichen Kindes anerkennen müssen, die Mitwirkung des Gerichts für die Feststellung der blutsmäßigen Abstammung von einem bestimmten Erzeuger in Anspruch zu nehmen, solange nicht der Gesetzgeber ein besonderes Verfahren eingerichtet oder gegebenenfalls eine mit richterlichen Befugnissen ausgestattete besondere Behörde geschaffen hat, die alle zum Nachweis der arischen Abstammung eines unehelichen Kindes erforderlichen Beweiserhebungen von sich aus anstellen kann." 1 1 0 Die Ermittlung der arischen Abstammung i m Wege der gewöhnlichen Feststellungsklage weise zwar Mängel und Unzulänglichkeiten auf, das auf diesem Wege gewonnene Streiturteil stelle jedoch ein „wertvolles, j a zur Zeit durch nichts anderes zu ersetzendes Material" d a r . 1 1 1 Die Mängel sah der Senat vor allem darin, dass § 644 ZPO eine Anwendung der für Statusklagen vorgesehe-

109 RG JW 1938, S. 245, 246: „Die blutsmäßige Abstammung ist also rechtlich nicht nur als ein Tatbestandselement zu bewerten, sie ist nicht nur eine biologische Tatsache, sondern sie selbst ist das Rechtsverhältnis, auf dessen Feststellung es nach § 256 ZPO ankommt." Die Begründungsschwierigkeiten zeigen sich etwa bei Stein/Jonas in der Kommentierung zu §§ 256, 644 ZPO. Während in den Vorauflagen, insb. noch in der 15. Aufl. von 1934 die Abstammungsfeststellungsklage keine Erwähnung findet, heißt es in der Kommentierung des Senatspräsidenten Martin Jonas zu § 256 ZPO in der 16. Aufl. von 1938 unter Ziff. II.l.b.: „Die physiologische Abstammung ist kein rechtliches, sondern ein rein tatsächliches Verhältnis, das ebenso wie sonstige Tatsachen ... einer der Rechtskraft fähigen richterlichen Feststellung unzugänglich ist. Die uneheliche Vaterschaft ... ist dagegen ein Rechtsverhältnis, das sich nicht in der Unterhaltspflicht erschöpft und sehr wohl durch Feststellungsklage nach § 256 zur richterlichen Feststellung gebracht werden kann." Diese Auffassung wird in der dazugehörigen Fußnote unter Hinweis auf die Reichsgerichtsrechtsprechung als ,jetzt vorherrsch. Ansicht" bezeichnet. Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation zeigt aber die Kommentierung zu § 644 ZPO. Dort wird unter Ziff. I. noch ausgeführt: „Eine neben der ehelichen oder unehelichen Vaterschaft als Rechtsverhältnis anzuerkennende biologische Vaterschaft gibt es nicht."; unter Ziff. II.4. heißt es dann: „Soweit die Klage auf Feststellung der biologischen Vaterschaft in der Rechtsprechung zugelassen wird ...." 110 111

RG JW 1938, S. 245, 246 f. RG JW 1938, S. 245, 247.

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nen §§ 640-643 ZPO auf die Feststellungsklage ausschloss, so dass einerseits die Grundsätze des Offizialverfahrens und die Rechtskraftwirkung gegen Dritte nicht galten und andererseits entgegen der wirklichen Sachlage ein Versäumnis- oder Anerkenntnisurteil ergehen k o n n t e . 1 1 2 Daher bezeichnete der Senat seine Entscheidung als „ N o t b e h e l f , dessen Zulassung aber geboten erscheine, „ u m i m Interesse des unehelichen Kindes eine Lücke auszufüllen, die so lange bestehen wird, bis der Gesetzgeber sie durch die zu erwartende grundlegende Regelung schließt, die die Abstammungsverhältnisse der unehelichen ebenso wie der ehelichen Kinder u m f a ß t " . 1 1 3 I m Schrifttum wurde die Bedeutung der Entscheidung vor allem für die Praxis hervorgehoben, 1 1 4 wobei die ergebnisorientierte Begründung kritisiert und die Verantwortung des Gesetzgebers nachdrücklich betont wurde. So heißt es etwa in der Urteilsanmerkung von Hermann Roquette: „Der Streit der Meinungen über die Frage, ob eine Klage nur auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung zulässig ist, erfährt durch das vorstehende Urteil des RG eine neue Wendung. Indem das RG die Zulässigkeit bejaht, bereitet es der Praxis der unteren Gerichte den Weg zu einer Vereinheitlichung der Rspr. Der bisherige Stand des Meinungsstreits hatte eine unerfreuliche Rechtsunsicherheit ergeben, weil jedes Gericht die Rechtsfrage anders beurteilte. ... Deshalb ist es zu begrüßen, daß nunmehr das höchste Gericht gesprochen hat. ... Allerdings sind die Gründe, mit denen das RG seine Entsch. stützt, nicht restlos überzeugend. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das RG die reale Voraussetzung eines Rechtsverhältnisses mit dem Rechtsverhältnis selbst gleichgesetzt hat, indem es die blutsmäßige Abstammung als solche als ein Rechtsverhältnis bezeichnet. Indessen kommt es nunmehr auf die Begründung nicht mehr wesentlich an, die Praxis wird davon auszugehen haben, daß nach dem Spruch des höchsten Gerichtshofs die reinen Klagen auf Feststellung der Abstammung grundsätzlich zulässig sind, und daher muß bei der Würdigung des Urteils die praktische Auswirkung der Entsch. in den Vordergrund gerückt werden. ... Als ein Notbehelf bezeichnet das RG selbst den von ihm beschrittenen Weg, und ein Notbehelf wird er immer bleiben Das RG lehnt es ausdrücklich ab, die Rechtskraftwirkung des Urteils über den Kreis der Parteien hinaus gegen dritte Personen auszudehnen. ... Der Ausgangspunkt für die Stellungnahme des RG ist der Satz, daß prozessuale Vorschriften auf einen Fall, für den sie nicht vorgesehen sind, nicht ausgedehnt werden können. ... Nur der Gesetzgeber kann einem Urteil Rechtskraft für und gegen alle beilegen. In der Möglichkeit der Verdoppelung oder gar beliebigen

112

RG JW 1938, S. 245, 246 f. RG JW 1938, S. 245, 247. 114 Etwa Bernhardt, ZAkDR 1937, S. 726: „Dem Urt. kommt die allergrößte Bedeutung zu, da es zweifellos eine Anzahl weiterer derartiger Klagen nach sich ziehen wird. ... Mit der Zulassung der Klage auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung hat das RG einem bestehenden dringenden Bedürfnis abgeholfen, da ohne diese Klagemöglichkeit der Nachweis der arischen Abstammung den unehelichen Kindern wesentlich erschwert würde." Zur Auswirkung der Entscheidung auf die Instanzgerichte am Beispiel des OLG Celle vgl. Rainer Schröder, „ ... aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!", 1988, S. 209 f. 1,3

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

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Vervielfältigung der Klagen auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung zeigt sich auch wieder, wie richtig die Annahme des RG ist, die Feststellungsklage nur als einen Notbehelf zu bezeichnen. Wenn der Gesetzgeber daran geht, diesen Notbehelf durch eine endgültige Regelung zu ersetzen, kann es nur sein Bestreben sein, ein Verfahren zu finden, bei welchem die materielle Richtigkeit der Entsch. mit allen nur denkbaren Garantien gesichert wird." 1 1 5

Die allseits erwartete Initiative des Gesetzgebers blieb jedoch weiterhin aus, 116 obwohl sich mit dem Familienrechtsänderungsgesetz vom 12.4.1938 die Gelegenheit zu einer Gesetzesänderung geboten hätte. Mit diesem Gesetz wur-

115 Roquette, JW 1938, S. 247 f. Auch dem IV. Zivilsenat war bewusst, eine allein ergebnisorientierte und mit dem bisherigen Verständnis von § 256 ZPO nicht vereinbare Entscheidung getroffen zu haben, wie die von Reichsgerichtsrat Herrmann Günther, Mitglied des IV. Zivilsenats von 1933-1942, in JW 1938, S. 1699, 1670 veröffentlichte Rechtfertigung des Urteils belegt: „Schon zweifelhaft ist es, ob in unseren Fällen wirklich die Feststellung eines Rechtsverhältnisses begehrt wird. Es ist vor der Entscheidung des RG teils bejaht, teils mit beachtlichen Gründen verneint worden. Das RG hat sich fiir die Bejahung entschieden und dafür eine eingehende Begründung gegeben. Ob sie geeignet ist, die Gegner zu überzeugen, muß bezweifelt werden, nachdem Roquette schon in seiner Anmerkung zu dem Urteil ihnen diese Kraft abgesprochen hat. Man sollte ihnen aber mindestens im Ergebnis zustimmen. Die Feststellungsklage des § 256 ZPO verdankt ihr Dasein lediglich der Anerkennung eines praktischen Bedürfnisses. Deshalb muß die Vorschrift auch so ausgelegt und angewendet werden, daß sie dringliche Bedürfnisse wirklich zu befriedigen vermag. Das Bedürfnis nach der Feststellung der blutsmäßigen Abstammung ist ganz neu entstanden und ganz gewiß dringend. Deshalb muß ihm, da kein anderer Weg gangbar erscheint, mit der Klage nach § 256 ZPO abgeholfen werden. Selbst wenn die blutsmäßige Abstammung trotz aller ihrer rechtlichen Folgen kein Rechtsverhältnis geworden, sondern bloß ein natürlicher Vorgang geblieben sein sollte, so darf daraus nicht die Unzulässigkeit der Feststellungsklage gefolgert, sondern es muß das Anwendungsgebiet des § 256 ZPO derart erweitert werden, daß diese Zweckmäßigkeitsvorschrift auch einem Erfordernis entspricht, an das man bei ihrer Entstehung gemäß der Einstellung jener Zeit nicht gedacht hat." Dazu auch Nebesky, DRpfl. 1938, S. 266, 269; kritisch Weber, DR 1939, S. 1612. 116 Etwa auch OLG München JW 1937, S. 964, 965: „Gerade der nationalsozialistische Staat betont die Stärkung und Einheitlichkeit der Staatsgewalt sowie die Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Diesen Grundsätzen würde es widersprechen, die Fortgeltung einer so wichtigen und einschneidenden verfahrensrechtlichen Vorschrift wie § 644 ZPO zu bezweifeln und dadurch die Gefahr widersprechender Entsch. und unerträgliche Rechtsunsicherheit heraufzubeschwören. Dazu kommt, daß der Gesetzgeber nach der Staatsumwälzung die ZPO wiederholt geändert, aber keinen Anlaß genommen hat, den § 644 ZPO aufzuheben oder die Vorschriften der §§ 640-643 ZPO auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der unehelichen Vaterschaft zu erstrecken. Jetzt schon die zuletzt genannten Vorschriften bei der Feststellung der unehelichen Vaterschaft entsprechend anzuwenden, ist willkürlich und würde sicher nicht die Billigung aller Gerichte finden. ... Das bisherige Schweigen des Gesetzgebers legt den Schluß nahe, daß er die schwierige und jetzt besonders wichtige Frage der Abstammung für die ehelichen und unehelichen Kinder grundlegend und zusammenfassend regeln will. ... Die allenfallsige Änderung des bestehenden Rechtszustandes muß daher der Gesetzgebung, die heute schneller eingreifen kann als früher, vorbehalten werden."

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de nicht nur die Ehelichkeitsanfechtung nach §§ 1593 ff. B G B reformiert, 1 1 7 sondern auch in Art. 3 § 9 F a m R Ä n d G festgeschrieben, dass Parteien und Zeugen in familienrechtlichen Streitigkeiten zur Feststellung der Abstammung eines Kindes erb- und rassenkundlichen Untersuchungen zwangsweise unterworfen werden konnten, insbesondere die Entnahme von Blutproben zum Zwecke der Blutgruppenuntersuchung zu dulden hatten. 1 1 8 Diese Bestimmung bezog sich aber nur auf familienrechtliche Verfahren und konnte daher nicht ohne weiteres auf die Abstammungsfeststellungsklage nach § 256 ZPO übertragen werden. 1 1 9

117

In diesem Bereich hatte sich das Reichsgericht einer Rechtsfortbildung verweigert und dem Gesetzgeber eine Gesetzesänderung nahegelegt. Im November 1936 war dem IV. Zivilsenat folgende Frage vorgelegt worden: „Darf § 1594 Abs. 2 BGB mit Rücksicht auf die Anschauungen des nationalsozialistischen Staates über die Bedeutung der blutsmäßigen Abstammung dahin ausgelegt werden, daß die Frist zur Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes erst zu laufen beginnt, wenn der Mann Kenntnis davon erlangt, daß das Kind nicht von ihm abstammt?" Eine solch weitgehende Auslegung über den Wortlaut hinaus lehnte das Reichsgericht mit der Begründung ab, „daß die für die Anfechtung der Ehelichkeit nun einmal bestehenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (nicht) als durch das nationalsozialistische Gedankengut ohne Gesetzesänderung außer Kraft gesetzt angesehen werden könnten". So RGZ 152, S. 390, 394 f. (Urt. v. 23.11.1936- IV 189/36). Ähnlich auch schon RG JW 1935, S. 2716 (Urt. v. 1.8.1935 IV 105/35) = DJ 1935, S. 1340 f. mit zustimmender Anm. von Maßfeiler, DJ 1935, S. 1341. Der Hinweis des IV. Zivilsenats, dass den nationalsozialistischen Anschauungen nur durch eine Gesetzesänderung zum Durchbruch verholfen werden könne, scheint gehört worden zu sein. Jedenfalls enthält das 1V2 Jahre später in Kraft getretene FamRÄndG v. 1.4.1938 eine entsprechende Formulierung (§ 1594 II BGB 1938: Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Mann Kenntnis von den Umständen erlangt, die für die Unehelichkeit des Kindes sprechen). Im übrigen hatte der IV. Zivilsenat seine Zurückhaltung im Entscheidungsfall darauf zurückgeführt, dass die Feststellung der Abstammung keine Bedeutung für die Rassezugehörigkeit des Klägers hatte, sondern es allein um die Frage der Ehelichkeit ging: „Ein solcher Konflikt berechtigt... den Richter zu einem Eingriff von so großer Tragweite in das sachliche Familienrecht des BGB jedenfalls so lange nicht, als dessen Anfechtungsbeschränkungen nur das Interesse an der Feststellung der wirklichen Sippenzugehörigkeit des Kindes gegenübersteht. Die Frage, ob anders zu entscheiden wäre, wenn im vorliegenden Falle nicht nur die fehlende Sippenzugehörigkeit des Beklagten, sondern auch seine Rassenverschiedenheit in der auf Anfechtung der Ehelichkeit gerichteten Klage behauptet und unter Beweis gestellt worden wäre, kann unerörtert bleiben" (RGZ 152, S. 390, 395). Zur Reform der §§ 1593 ff. BGB durch das FamRÄndG von 1938 vgl. auch Günther, DRpfl. 1938, S. 163, 165 ff. 118

Art. 3 § 9 des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften vom 12.4.1938 (RGBl. I, 380): (!) In familienrechtlichen Streitigkeiten haben sich Parteien und Zeugen, soweit dies zur Feststellung der Abstammung eines Kindes erforderlich ist, erb- und rassenkundlichen Untersuchungen zu unterwerfen, insbesondere die Entnahme von Blutproben zum Zwecke der Blutgruppenuntersuchung zu dulden. (2) Weigert sich eine Partei oder ein Zeuge ohne triftigen Grund, so kann unmittelbarer Zwang angewendet, insbesondere die zwangsweise Vorführung zum Zwecke der Untersuchung angeordnet werden. Dazu Zimmermann (o. Anm. 94), S. 146 ff. 1,9 So auch RGZ 159, S. 58, 64 (Urt. v. 19.12.1938 - IV 179/38).

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

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Mangels gesetzgeberischer Lösung war es nun allein Aufgabe der Rechtsprechung, den bestehenden Unzulänglichkeiten abzuhelfen. Aus Sicht des IV. Zivilsenats konnte dies nur durch einen Ausbau der Abstammungsfeststellungsklage geschehen, der dann in mehreren Schritten bis zum Jahr 1942 auch erfolgen sollte. 120 Mit jeder Entscheidung wurde dabei klarer, dass es nicht um die Feststellung des Bestehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses und den daraus resultierenden familienrechtlichen Wirkungen, sondern allein um den Nachweis der arischen Abstammung und den daraus folgenden öffentlich-rechtlichen Wirkungen ging. So heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahr 1938: „Für die positive Feststellungsklage des unehelichen Kindes gegen den vermeintlichen Erzeuger hat der Senat ... das Interesse aus der Bedeutung hergeleitet, welche die blutmäßige Abstammung durch die Gesetzgebung des Dritten Reiches erhalten hat. Es liegt darin, daß das Blut, das jemand in sich trägt, auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in mancherlei Richtungen von rechtlicher Bedeutung ist. Daraus geht ohne weiteres hervor, daß die damals angestellten Erwägungen ungeeignet sind, das rechtliche Interesse desjenigen zu erweisen, der die Feststellung begehrt, daß er nicht der Erzeuger eines unehelichen Kindes sei; denn die blutmäßige Zugehörigkeit dieses Klägers zu einer bestimmten Sippe wird mittels einer solchen Feststellung nicht geklärt. 4 ' 121

Deutliche Worte fand daher auch der Österreichsenat (VIII. Zivilsenat) bei Übernahme der Rechtsprechung des IV. Zivilsenats im Jahr 1939: „Wie bereits in den Entscheidungen des Reichsgerichts ... dargelegt wurde, ist die blutmäßige Abstammung eines Kindes als ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 256 RZPO (§ 228 Öst. ZPO) anzusehen und ein Interesse des Kindes an der Feststellung seiner wirklichen Abstammung jedenfalls in den Fällen gegeben, in denen sich die Frage darauf zuspitzt, ob das Kind einen deutschen (artverwandten) oder einen jüdischen Erzeuger hat." 1 2 2 Die rechtsgestaltende Kraft der Reichsgerichtsrechtsprechung im Bereich des Familienrechts zeigt sich aber vor allem in der Entscheidung vom 15. Juni 1939. 123 Während der IV. Zivilsenat in der ersten Entscheidung zur Abstammungsfeststellungsklage ausdrücklich eine Anwendung der §§ 640-643 ZPO verneint hatte, 124 änderte der Senat nun seine Rechtsprechung: 125

120 In drei Abhandlungen hat Reichsgerichtsrat Georg Frantz diese Entwicklung nachgezeichnet (DR 1941, S. 1973 ff.; DR 1942, S. 820 f.; DR 1943, S. 62 ff.). 121 RGZ 159, S. 58,61 f. 122 RGZ 162, S. 113, 115 (Urt. v. 6.11.1939 - VIII 257/39). 123 RGZ 160, S. 293 (Urt. v. 15.6.1939 - IV 256/38). Auf dieses Urteil bezog sich nach dem Krieg noch Guggumos, NJW 1947/48, S. 59, 60: „Das Urteil des RG vom 15.6.1939 kann somit nach Säuberung von den natsoz. Sprüchen und Unrichtigkeiten auch heute noch als Quelle für die Anwendung deutschen Rechts benützt werden.44 124 RG JW 1938, S. 245, 246: „Das BG läßt die Frage offen, ob es sich bei der erhobenen Klage um die gewöhnliche Feststellungsklage des § 256 ZPO oder um eine Sta-

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„Bei dieser Gelegenheit mußte auch zu der weiteren Frage Stellung genommen werden, ob für die Feststellungsklage die allgemeinen Verfahrensvorschriften oder die Sondernormen der §§ 640-643 ZPO anzuwenden seien. Die Geltung der Sondervorschriften für diesen Feststellungsstreit hat der Senat damals verneint, weil es ihm nicht angängig erschien, Verfahrensrecht auf einen Fall anzuwenden, für den es nicht vorgesehen ist. Diese Verneinung hat zur Folge, daß auf die Feststellungsklage nur mit Wirkung unter den Parteien des Rechtsstreits entschieden werden kann, daß für das Verfahren nicht der Untersuchungsgrundsatz, sondern der Verhandlungsgrundsatz gilt und es durch Anerkenntnis und Versäumnisurteil erledigt werden kann, endlich, daß die Zulässigkeit der Feststellungsklage von vornherein entfällt, wenn zwischen den Parteien gar kein Streit besteht. Eine auf das gewöhnliche Prozeßverfahren verwiesene Feststellungsklage ist deshalb in ihrem praktischen Werte, wie schon in der angeführten Entscheidung erwähnt ist, stark beeinträchtigt. Die Werteinbuße ist umso erheblicher, als die Bedeutung der Abstammung, wie sie durch die nationalsozialistische Weltanschauung erst geschaffen oder doch dem Volke zum Bewußtsein gekommen ist, ganz überwiegend auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts liegt und über die Beziehungen der am Rechtsstreit unmittelbar beteiligten Personen weit hinausgeht. ... Deshalb hat sich der Senat entschlossen, seine bisherige Stellung zur Frage nach dem anwendbaren Verfahren aufzugeben und auf einen Rechtsstreit, der die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Abstammungsverhältnisses betrifft, §§ 640 flg. ZPO anzuwenden; denn es muß der Weg zu solchen Entscheidungen gebahnt werden, wie sie die rassen- und bevölkerungspolitischen Belange des Volkes erfordern. Dabei verkennt der Senat gegenwärtig ebensowenig wie in der ersten Entscheidung, daß der Wortlaut der Zivilprozeßordnung einer solchen Anwendung entgegensteht. ... Grundsätzlich dürfen Verfahrensvorschriften nur auf einen Fall angewendet werden, für den sie bestimmt sind. Das kann jedoch bloß gelten, soweit für ein Verfahren wirklich Vorschriften im Gesetz enthalten sind. ... Ist das nicht der Fall, sondern steht außer Zweifel, daß die Zivilprozeßordnung für derartige Feststellungsklagen, welche die blutmäßige Abstammung betreffen, überhaupt keine Regelung getroffen hat und treffen konnte, so liegt es anders. Dann entsteht für die Rechtsprechung die Aufgabe, eine im Gesetz aufgefundene Lücke auszufüllen, also zu ermitteln, welche Verfahrensnorm das Gesetz für anwendbar erklärt hätte, wenn

tusklage i.S. der §§ 640 bis 643 handle. Diese Frage wird im älteren Schrifttum ganz allgemein dahin beantwortet, daß für die Klage auf Feststellung, daß der Bekl. der Erzeuger des Kl. ist, die Vorschriften der §§ 640 bis 643 ZPO keine Anwendung finden ... . In den Aufsätzen, die in den letzten Jahren die Klage auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung behandelt haben, wird mehrfach empfohlen, auf diese Klage auch ohne ausdrückliche Anordnung der ZPO oder, sogar gegen deren Verbot (§ 644 ZPO) die erwähnten Grundsätze des Offizialverfahrens anzuwenden und der ergehenden Entsch. Rechtskraftwirkung gegen alle zuzuschreiben. Vereinzelte Gerichtsentscheidungen aus jüngster Zeit sind dieser Empfehlung gefolgt (...). Der erk. Senat sieht sich nicht in der Lage, auf dem hier angedeuteten Wege mitzugehen. ... Eine Anwendung prozessualer Vorschriften auf einen Fall, für den sie nicht vorgesehen sind, ist nicht angängig." 125 Zur Aufgabe der noch keine zwei Jahre alten Rechtsprechung vgl. aus dem damaligen Schrifttum Weber, DR 1939, S. 1612, 1613. Vgl. weiter Zimmermann (o. Anm. 94).

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zur Zeit seiner Fassung auch für eine solche Feststellungsklage eine Regelung beabsichtigt worden wäre. Diese Aufgabe ist der Rechtsprechung erwachsen." 126 Schließlich erklärte der I V . Zivilsenat in einem letzten Schritt i m Juni 1942 Art. 3 § 9 FamRÄndG für anwendbar, wonach in familienrechtlichen Streitigkeiten unmittelbarer Z w a n g bei Durchfuhrung erb- und rassenkundlicher U n tersuchungen, insbesondere bei der Blutentnahme, gestattet w a r . 1 2 7 Auch dies bedeutete eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung, denn in einer früheren Entscheidung aus dem Jahre 1938 hatte der I V . Zivilsenat noch ausdrücklich betont, dass sich „ d i e Vorschrift ... auf familienrechtliche Streitigkeiten" beschränke und „offensichtlich über die Zulässigkeit von Klagen zur Feststellung der Abstammung keine Bestimmungen" treffe. 1 2 8 Der Gesetzgeber erließ erst danach eine entsprechende Regelung m i t der Verordnung über die Angleichung

familienrechtlicher

Vorschriften

vom 6. Feb-

ruar 1943. 1 2 9 Unter Aufhebung von Art. 3 § 9 FamRÄndG von 1938 wurde in 126 RGZ 160, S. 293, 294 ff. Die folgenden Ausführungen lauten (S. 297 ff.): „Nach der neuen Rechtsauffassung und mit Rücksicht auf verschiedene gesetzliche Vorschriften der Gegenwart hat die blutmäßige Abstammung des einzelnen eine nicht auf ihn beschränkte, sondern für das Volksganze wesentliche Bedeutung. Aus diesem Grunde ist sie nicht geringer zu bewerten als das im Bürgerlichen Gesetzbuche geregelte Elternund Kindesverhältnis. Das bedarf heute keiner besonderen Begründung mehr. ... Die große Bedeutung der blutmäßigen Abstammung ergibt dann ohne weiteres die Antwort auf die Frage, wie die Zivilprozeßordnung das Verfahren zur Feststellung dieser Abstammung gestaltet haben würde, wenn man bei der Schaffung des Gesetzes eine Regelung für nötig gehalten hätte. Ein Rechtsstreit, der die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der blutmäßigen Abstammung betrifft, würde dann als nicht weniger wichtig eingeschätzt worden sein als der Rechtsstreit, dessen Gegenstand die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Eltern- und Kindesverhältnisses ist. Deshalb wäre für einen solchen Abstammungsstreit das Verfahren nach §§ 640 flg. ZPO für anwendbar erklärt worden. Aus dieser Erwägung entnimmt der Senat das Recht, aber auch die Notwendigkeit, die Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der blutmäßigen Abstammung in das sogenannte Statusverfahren zu verweisen. Dadurch wird die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft ermöglicht (§ 640 Abs. 1, § 607 ZPO), die Wirkung eines Anerkenntnisses beseitigt (§ 640 Abs. 1, § 617 Abs. 1, 3 ZPO), ebenso die Erledigung des Rechtsstreits durch ein Versäumnisverfahren nach § 618 ZPO eingeschränkt. Ferner gilt der Ermittlungsgrundsatz, wie ihn § 622 ZPO, und zwar dessen zweiter Absatz enthält." Dazu auch Zimmermann (o. Anm. 94), S. 115 ff. 127 RGZ 169, S. 223, 225 (Urt. v. 24.6.1942 - IV 53/42); dort wird lediglich - ohne weitere Begründung - festgestellt: „Bei der Bedeutung, welche die Klärung der Abstammungsfrage nach heutiger Auffassung hat, darf deshalb das Gericht auf diese Aufklärungsmöglichkeit nicht verzichten." 128 RGZ 159, S. 58, 64. Auch noch in der Kommentierung zu § 644 ZPO (Ziff. II. 4.) von Senatspräsident Martin Jonas im ZPO-Kommentar Stein/Jonas in der 16. Aufl. von 1938 wurde die Anerkennung der Abstammungsfeststellungsklage als Familienstandssache iSd §§ 640 ff. ZPO sowie die Anwendung des Art. 3 § 9 FamRÄndG abgelehnt. 129 Die Verordnung bezweckte in erster Linie die Vereinheitlichung des österreichischen und deutschen Rechts im Bereich der Ehelichkeitsanfechtung und der Feststellung der blutsmäßigen Abstammung. Vgl. zu dieser Verordnung Sven Bielefeld, Die deutsch-

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Art. 4 § 7 der Verordnung die zwangsweise Durchfuhrung von erb- und rassenkundlichen Untersuchungen auf alle Verfahren zur Feststellung der Abstammung erstreckt. 130 Darüber hinaus legte Art. 3 § 6 der Verordnung fest, dass weitere verfahrensrechtliche Vorschriften „in Streitigkeiten über Klagen auf Feststellung der blutmäßigen Abstammung eines unehelichen Kindes entsprechend anzuwenden" seien. Damit bestätigte der Gesetzgeber im nachhinein den vom IV. Zivilsenat eingeschlagenen Weg der Rechtsfortbildung im Bereich der Abstammungsfeststellungsklage. Zwar regelte die Verordnung nicht die Abstammungsfeststellungsklage selbst, setzte diese aber in mehreren Bestimmungen voraus und ergänzte somit das Richterrecht. 131 Auch Reichsgerichtsrat Herrmann Günther hob diese Anerkennung der Reichsgerichtsrechtsprechung durch den Gesetzgeber in einer Veröffentlichung zu der neuen Verordnung hervor: „Aus der VO können schließlich einige wichtige Folgerungen für die Streitigkeiten um die blutmäßige Abstammung gezogen werden. Zunächst ist dem Umstände, daß die VO keine Regelung dieser Streitigkeiten bringt, zu entnehmen, daß die von den Gerichten ausgebildete Rechtsprechung, insbes. die Behandlung der Abstammungsfeststellungsklagen als Personenstandssachen (§§ 640 ff. ZPO), also auch mit Rechtskraft für und gegen alle, Billigung gefunden hat." 1 3 2 Die jahrelange Zurückhaltung des Gesetzgebers beruhte im Übrigen keineswegs auf Nachlässigkeit oder Desinteresse. Im Familienrechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht war bereits seit 1935 intensiv an einer Gesetzesänderung gearbeitet worden, wobei die Feststellung der Abstammung von österreichische Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiete des Privatrechts von 1938 bis 1945, 1989, S. 49 ff. 130 Art. 4 § 7 der Verordnung über die Angleichung familienrechtlicher Vorschriften vom 6.2.1943 (RGBl. I, 80): (1) Soweit es zur Feststellung der Abstammung in einem Rechtsstreit oder einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (einem außerstreitigen Verfahren) erforderlich ist, haben sich Parteien, Beteiligte und Zeugen, erforderlichenfalls deren Eltern und Großeltern, erb- und rassenkundlichen Untersuchungen zu unterwerfen, insbesondere die Entnahme von Blutproben zum Zwecke der Blutgruppenuntersuchung zu dulden. [(2) Anwendung unmittelbaren Zwangs. (3) Verfahren vor dem Reichssippenamt.] (4) § 9 des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften und über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 12. April 1938 tritt außer Kraft. 131 Vgl. etwa Leiß, DR 1943, S. 473, 474 zur Verordnung und der damit verbundenen Angleichung des österreichischen Rechts an das Altreich: „Auch die Anwendung der in § 6 Abs. 1 der VO aufgeführten Verfahrensvorschriften auf alle sonstigen Kindschaftsund Abstammungssachen entspricht dem Rechtszustand des Altreichs. Hier waren die Kindschaftssachen von jeher, die Verfahren zur Feststellung der blutmäßigen Abstammung seit der grundlegenden Rechtsprechung des RG (RGZ 160, 293) den Bestimmungen der §§ 640 ff. ZPO unterworfen." 132 Günther, ZAkDR 1943, S. 145, 146. Dazu auch Zimmermann (o. Anm. 94), S. 157 ff. mwN.

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nichtehelichen Kindern als eine der wichtigsten Aufgaben angesehen worden w a r . 1 3 3 A m 23. Dezember 1937 war ein Vorläufiger über die Feststellung unehelichen

Kinder

der Abstammung

Entwurf

zu einem Gesetz

sowie über die Rechtsverhältnisse

der

von Seiten der Akademie dem Reichsjustizministerium

vorgelegt worden, der eine Ermittlung der Abstammung von Amts wegen vorsah. 1 3 4 In diesem Zusammenhang war ursprünglich sogar erwogen worden, die Kindesmutter zur Bekanntgabe des Erzeugers zu z w i n g e n . 1 3 5 V o n dieser Idee kam der Ausschuss erst ab, als in der Sitzung v o m 13. Juli 1937 Reichsminister Frank den übrigen Mitgliedern zur Kenntnis brachte, dass „der Führer ... sich mit aller Leidenschaftlichkeit dagegen gewehrt (habe), die Kindesmutter zur Bekanntgabe des Vaters zu z w i n g e n " . 1 3 6 Stattdessen wurde nun in § 10 des Entwurfs ein Aussageverweigerungsrecht der Mutter aufgenommen. Nach weiteren Überarbeitungen 1 3 7 wurde der E n t w u r f i m Juni 1940 als Zweites Familienrechts-Änderungsgesetz v o m Reichskabinett verabschiedet, scheiterte jedoch abermals am Widerstand Hitlers, der „den Inhalt des vorliegenden Gesetzes ...

133 Zur Arbeit des Familienrechtsausschusses vgl. Zimmermann (o. Anm. 94), S. 134 ff. Zu anderen Reformvorschlägen zwischen 1933 und 1945 im Bereich der Feststellung der Abstammung vgl. Zimmermann, S. 128 ff. In zahlreichen Reformvorhaben kommt zum Ausdruck, dass der Reformwille von dem Gedanken getragen war, dass mit Hilfe des geltenden Rechts die Feststellung der Abstammung nicht zu erreichen sei. Bereits seit 1934 war daher über eine Ergänzung des § 644 ZPO um eine isolierte Abstammungsfeststellungsklage nachgedacht worden. Zum Reformvorhaben des NSDJB von 1934 und zum Entwurf des Deutschen Charitasverbandes von 1935 vgl. Zimmermann, S. 129, 131 f. 134 Vorläufiger Entwurf vom 23.12.1937, abgedruckt in: Werner Schubert (Hrsg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, 1993, S. 576 ff. Dazu auch Zimmermann (o. Anm. 94), S. 145 ff. 135 Vgl. die Ausführungen Ferdinand Mößmers, des Vorsitzenden des Familienrechtsausschusses, in der Sitzung vom 13.7.1937, zit. nach Werner Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. III/2: Familienrechtsausschuss, 1989, S. 605: „Eine weitere, wichtige Frage, über die man sich lebhaft unterhalten hat, ist, ob die Mutter gezwungen werden kann, den wirklichen oder mutmaßlichen Erzeuger des Kindes namhaft zu machen. Diese Frage berührt den Grundsatz, daß die biologischen Verhältnisse nach Möglichkeit positiv festzustellen sind, und den weiteren Grundsatz, daß in allen die öffentlichen Interessen berührenden Fragen die unbedingte Wahrheits- und Auskunftspflicht von Privatpersonen verlangt werden muß. Aber gerade dies ist ein Punkt, der sich hier wohl schwerlich unter diesem Gesichtswinkel aufrechterhalten läßt. Ich glaube nicht, daß man einen praktischen Erfolg haben wird, wenn man in das Gesetz hineinschreibt: Die Mutter des unehelichen Kindes ist bei Strafe verpflichtet, den Erzeuger des Kindes namhaft zu machen." 136 Ausführungen Franks auf der Sitzung des Familienrechtsausschusses vom 13.7.1937, zit. nach Schubert (o. Anm. 135), S. 627 f. 137 Dazu Zimmermann (o. Anm. 94), S. 194 ff.

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für v ö l l i g unannehmbar" hielt; „es sei ein Gesetz ,gegen die unehelichen K i n der' oder auch ein Gesetz ,zur Entrechtung der unehelichen M u t t e r 4 " . 1 3 8 Der Abstammungsfeststellungsklage stand das Reichsjustizministerium ohnehin distanziert gegenüber. Dies lag vor allem daran, dass es sich bei den Klägern häufig um sog. jüdische Mischlinge handelte, die vortrugen, dass sie nicht von einem jüdischen Vater abstammten, weil ihre arische Mutter während der Empfängniszeit auch mit einem arischen M a n n verkehrt habe. 1 3 9 M i t Allgemeinverfügung des Reichsjustizministeriums v o m 24. M a i 1941 über die Abstammungsfeststellung aufgefordert,

bei jüdischen

Mischlingen

wurden die Gerichte daher

in Abstammungsfeststellungsverfahren

sämtliche

verfügbaren

Beweismittel auszuschöpfen und die Staatsanwaltschaft am Verfahren zu beteiligen.140

138 Vermerk Lammers über eine Besprechung mit Hitler am 21.9.1940, zit. nach Schubert (o. Anm. 134), S. 713. Zum Gesetzgebungsverfahren vgl. Schumann (o. Anm. 99), S. 116 ff.; Zimmermann (o. Anm. 94), S. 154 f. Zum Entwurf von 1940 vgl. Werner Schubert , Der Entwurf eines Nichtehelichengesetzes vom Juli 1940 und seine Ablehnung durch Hitler, FamRZ 1984, S. 1 ff. 139 Daher wurde häufig auch nur negative Feststellungsklage erhoben, mit dem Ziel der Feststellung, dass kein Abstammungsverhältnis zwischen dem Kläger und dem beklagten jüdischen Vater besteht. Vgl. etwa den Sachverhalt RGZ 169, S. 219 (Urt. v. 24.6.1942 - VIII 47/42): „Die Klägerin wurde am 30. September 1919 von der deutschblütigen Hedwig W. geboren, die seit dem 19. Mai 1912 mit einem Juden verheiratet war. Diese Ehe wurde erst im Jahre 1938 aus Verschulden des Ehemannes geschieden. Eine Klage auf Bestreitung der ehelichen Geburt der Klägerin wurde nicht erhoben. Die Klägerin begehrt die urteilsmäßige Feststellung, daß sie blutmäßig nicht von dem Juden W., sondern von dem Deutschblütigen M abstamme, der mit ihrer Mutter um die Jahreswende 1918/1919 Geschlechtsverkehr gehabt habe." Weitere Beispiele bei Ilse Staff Justiz im Dritten Reich, 1964, S. 85 ff. 140 Allgemeinverfügung Abstammungsfeststellung bei jüdischen Mischlingen des RJM v. 24.5.1941, abgedruckt in DJ 1941, S. 629. Vgl. in Ergänzung dazu Allgemeinverfügung v. 15.7.1942, abgedruckt in DJ 1942, S. 489. Dazu auch Zimmermann (o. Anm. 94), S. 155 ff. Bereits die Formulierung der Allgemeinverfügung v. 24.5.1941 belegt die Befürchtung des Ministeriums, dass sich jüdische Mischlinge auf diesem Wege den Nachweis arischer Abstammung erschleichen könnten: „Personen, die außer der Ehe von einer deutschblütigen Mutter geboren, aber als jüdische Mischlinge anzusehen sind, ... erstreben in zunehmendem Maße die gerichtliche Feststellung, daß der beklagte Jude ... nicht ihr Erzeuger sei. Zum Beweis für die Richtigkeit der Behauptung ... beruft sich der Kläger vielfach lediglich auf das Zeugnis seiner Mutter... . Diese Aussage der Mutter, die sich von dem Bestreben leiten lässt, ihr Kind vor den Nachteilen seiner jüdischen Abstammung zu bewahren, ... wird ... oft einer gewissenhaften Würdigung und Nachprüfung nicht standhalten. Eine solche Nachprüfung ist wegen der Bedeutung der Abstammung aus rassepolitischen ... Gründen unerläßlich. Ihr dient u.a. die in § 640 RZPO durch den Hinweis auf § 607 RZPO vorgeschriebene Beteiligung der Staatsanwaltschaft und die durch den Hinweis auf § 622 RZPO ... zugelassene Aufnahme von Beweisen von Amts wegen, die es ermöglicht, alle zur Klärung der Abstammung verfügbaren Beweismittel zu erschöpfen." Der Allgemeinverfügung wurde demzufolge ebenfalls die Reichsgerichtsrechtsprechung als Richterrecht zugrundegelegt.

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

211

Auch in den seit 1942 vom Reichsjustizministerium herausgegebenen Richterbriefen wurde hervorgehoben, dass „das deutsche Volk ... schon vor der bloßen Möglichkeit des Eindringens jüdischen Blutes geschützt werden" müsse; „der Richter (dürfe) sich bei der Behandlung des Rechtsstreits und der Würdigung des Beweisergebnisses nicht vom Gefühl des Mitleids für den einzelnen beeinflussen lassen, der bei Abweisung seiner Klage weiter als Jude oder Mischling (gelte), obwohl für seine deutschblütige Abstammung eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteh(e). Das Wohl des Volkes geh(e) auch hier dem Wohl des einzelnen vor." 1 4 1 Positiv wurde in den Richterbriefen allerdings gewertet, dass die Rechtsprechung für Abstammungsfeststellungsklagen „in der richtigen Erkenntnis ihrer hohen Bedeutung für die Volksgemeinschaft ohne besondere gesetzliche Änderungen die Grundsätze des Amtsverfahrens (§§ 640 ff. ZPO) beachtet" habe. 142 Dies belegt, dass von Seiten des Reichsjustizministeriums die Rechtsgestaltung durch das Reichsgericht gebilligt wurde, 143 nachdem eine umfassende gesetzgeberische Lösung der Abstammungsfeststellung am Willen des Führers gescheitert war. 144 In mehreren Abhandlungen 145 hatten auch die Reichsgerichtsräte Hermann Günther und Georg Frantz diese richterliche Rechtsfortbildung des IV. Zivilsenats auf eine Stufe mit der Gesetzgebung gestellt; so etwa Frantz in einem Aufsatz aus dem Jahr 1941:

141

Zit. nach Staff(o. Anm. 139), S. 87; Heinz Boberach, Richterbriefe, 1975, S. 78, sowie dazu S. 495. 142 Zit. nach Staff{o. Anm. 139), S. 86 f.; Boberach (o. Anm. 141), S. 78. 143 Diese Haltung zeigt sich auch in einer Veröffentlichung aus der Reichsleitung des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP aus dem Jahr 1938 {Peter, JW 1938, S. 1293): „Für die dritte Frage, der Zulässigkeit der Klage auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung, ist eine gesetzliche Neuregelung noch nicht erfolgt. Der lang währende Streit (...) ist aber durch die Entscheidung des Reichsgerichts v. 14. Okt. 1937 (...) in ein gewisses abschließendes Stadium getreten. Das RG hat darin die Zulässigkeit der Klage auf Feststellung der blutsmäßigen Abstammung bejaht." 144 Allerdings wurde noch in den Jahren 1943/44 von Seiten des NSDJB an einem Entwurf zur Änderung des § 644 ZPO gearbeitet, wobei die bisherige Reichsgerichtsrechtsprechung in leicht überarbeiteter Form in § 644 ZPO gesetzlich geregelt werden sollte. Dazu Zimmermann (o. Anm. 94), S. 162 f., 275 f. Auch dies belegt, dass der IV. Zivilsenat mit seiner Rechtsprechung - jedenfalls nach Auffassung des NSDJB - über das geltende Recht weit hinausgegangen war. Dazu Zimmermann, S. 164: „Bemerkenswerterweise wurde keines der auf nationalsozialistischer Rassenideologie beruhenden Reformvorhaben, welches eine ausdrückliche Regelung der Abstammungsfeststellungsklage enthielt, Gesetz. Man begnügte sich mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu dieser Frage...." 145 Günther, JW 1938, S. 1699 ff.; ders., ZAkDR 1943, S. 26 f.; Frantz, DR 1941, S. 1973 ff.; ders., DR 1942, S. 820 f.

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Eva Schumann

„Die großen Auseinandersetzungen in Rechtslehre und Rechtsprechung zum Gegenstand der, Abstammungsprozesse 4 sind vorüber. Teils hat der Gesetzgeber eingegriffen - so hinsichtlich der Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes durch das Gesetz über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften usw. v. 12. April 1938 -, teils hat das RG durch grundlegende Entscheidungen - vor allem RGZ 160, 293 = DR 1939, 1258 - den Erfordernissen der neuen Zeit entsprochen, in der die Abstammungsfragen gegenüber früher eine weit erhöhte Bedeutung gewonnen haben. Die Tatsache, daß seither ein grundsätzlicher Meinungsstreit nicht mehr besteht, zeigt, daß der jetzige Zustand jedenfalls erträglich ist." 1 4 6 Nach dem Krieg hob Frantz in dem schon erwähnten Aufsatz in der N J W 1949 ein weiteres M a l die „rechtsgestaltende W i r k u n g der reichsgerichtlichen Rechtsprechung" auf dem Gebiet der Abstammungsfeststellungsklage

her-

v o r . 1 4 7 Zweck dieser Ausführungen war eine Verteidigung der Rechtsfortbildung durch das Reichsgericht gegen die nunmehr schon wieder herrschende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass eine Klärung der Abstammung nicht im Rahmen der Feststellungsklage nach § 256 ZPO erfolgen kön-

V. Ergebnisse Als Ergebnisse lassen sich für die Rechtsprechung des I V . Zivilsenats des Reichsgerichts in Familiensachen festhalten: 1 4 9 1. Bei den bestehenden Rassenmischehen waren es allein die Gerichte, die in den Jahren bis 1938 in richterlicher Rechtsfortbildung das Familienrecht im nationalsozialistischen Sinne gestalteten. 1 5 0 Der spätere § 37 EheG konnte in diesem Bereich nur noch das festschreiben, was ohnehin längst Recht war. Daher verdient die Einschätzung Rüthers, dass das Reichsge-

146

Frantz, DR 1941, S. 1973. Frantz, NJW 1949, S. 448, 450. 148 So Frantz, NJW 1949, S. 448, 449: „Endlich noch ein paar Worte zur Abstammungsfeststellungsklage. Man will heute im allgemeinen von ihr nichts wissen ...." Vgl. weiter Zimmermann (o. Anm. 94), S. 165 ff., 174 ff. mwN. Bald danach wendete sich das Blatt wieder: 1952 bestätigte der BGH (BGHZ 5, S. 385, 387 f.) in weiten Teilen die Reichsgerichtsrechtsprechung zur Abstammungsfeststellungsklage. Trotz zahlreicher Reformvorschläge seit den 1950er Jahren kam es aber erst 1961 zu einer Reform der §§ 640 ff. ZPO. Dazu insgesamt Zimmermann, S. 187 ff., 195 ff., 202 ff.; Bosch, FamRZ 1961, S. 457 f., 460. 149 Zu anderen Bereichen der Zivilrechtsprechung vgl. etwa Eugen Dietrich Gaue, Das Zivilrecht im Nationalsozialismus, in: Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, 1992, S. 103, 116 f.; Gerhard Fieberg, Justiz im nationalsozialistischen Deutschland, 1984, S. 61 f.; Boberach (o. Anm. 141), S. 496. 150 So auch Schröder (o. Anm. 114), S. 15: „Im Eherecht etwa waren es Gerichte, die die ,Rassenmischehe4 zur Disposition stellten.44 147

Die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945

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rieht hier gesetzgeberische Funktionen wahrgenommen habe, uneingeschränkte Zustimmung. 151 2. Bei Umsetzung des § 55 EheG hatte der Gesetzgeber der Rechtsprechung von vornherein einen großen Gestaltungsspielraum zugedacht.152 Bei Ausfüllung dieser Aufgabe legte das Reichsgericht jedoch ein solches Tempo vor, dass sich das juristische Schrifttum schon nach kurzer Zeit darauf beschränkte, die umfangreiche Judikatur zu referieren und zu ordnen. 153 Wie groß die Gestaltungskraft war, zeigt der Vergleich zur Rechtsprechung des BGH und des Obersten Gerichts der DDR, die bei gleichem Wortlaut der Norm zu ganz anderen Interpretationen gelangten. 3. Nachdem der Gesetzgeber im Bereich der Abstammungsfeststellungsklage wider Erwarten nicht tätig wurde, haben die Leipziger Richter unter mehrmaliger Aufgabe der eigenen Rechtsprechung und mit teilweise widersprüchlichen Begründungen in kürzester Zeit die Rechtslage selbst geändert. In mehreren Veröffentlichungen der Reichsgerichtsräte vor und nach 1945 wird dabei deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der IV. Zivilsenat in dem Bewusstsein handelte, gesetzgeberische Aufgaben wahrzunehmen. Die Überzeugung der hier zitierten Reichsgerichtsräte, dass gerade das höchste deutsche Gericht zur Gestaltung des alten Rechts im neuen Sinne berufen sei, gründete sich dabei auch auf Art. 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935. Danach hatte „das Reichsgericht als höchster deutscher Gerichtshof ... darauf hinzuwirken, daß bei Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen" werde; zur ungehinderten Erfüllung dieser Aufgabe wurde bestimmt, dass das Reichsgericht an die Rechtsprechung vor dem 1. September 1935 nicht mehr gebunden sei. 154

Rüthers (o. Anm. 23), S. 159. So auch Daut (o. Anm. 55), S. 79, 84 mwN. 153 Vgl. etwa v. Scanzoni (o. Anm. 50), § 55; Volkmar/Antoni/Ficker/Rexroth/Anz (o. Anm. 51), § 55 EheG, Ziff. 4 (S. 209); Bötticher, ZAkDR 1941, S. 341 ff. 154 Art. 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28.6.1935 (RGBl. I, S. 844, 845): Befreiung des Reichsgerichts von Bindungen an alte Urteile. Das Reichsgericht als höchster deutscher Gerichtshof ist berufen, darauf hinzuwirken, daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird. Damit es diese Aufgabe ungehindert durch die Rücksichtnahme auf die aus einer anderen Lebens- und Rechtsanschauung erwachsene Rechtsprechung der Vergangenheit erfüllen kann, wird folgendes bestimmt: Bei der Entscheidung über eine Rechtsfrage kann das Reichsgericht von einer Entscheidung abweichen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist. 152

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Eva Schumann

Reichsgerichtsrat Hermann Günther, der während neun von zwölf Jahren an der Reichsgerichtsrechtsprechung des IV. Zivilsenats im Dritten Reich mitwirkte, nahm in der ZAkDR 1937 unter dem Titel „Befreiung des Reichsgerichts von der Fessel veralteter Entscheidungen" zu Art. 2 dieses Gesetzes Stellung. Seine damals ganz allgemein für das Zivilrecht formulierte Stellungnahme spiegelt sich aus der Rückschau in erschreckender Weise in der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Familiensachen wider: „Daß nicht alle vorhandenen Gesetze alsbald durch neue ersetzt werden konnten, hat dabei nichts zu bedeuten; die alten Gesetze haben über Nacht einen neuen Inhalt bekommen. Deshalb war zugleich die Rechtsprechung vor die große Aufgabe gestellt, dieses neue Recht durchzuführen. Die Größe dieser Aufgabe kann man sich gar nicht gigantisch genug vorstellen. Ohne weiteres war klar, daß die Bindung des RG an die alten Entscheidungen verschwinden mußte; denn sie konnte nicht mehr ein Garant der Rechtseinheit und Rechtssicherheit sein, sondern war zum Hemmnis bei der nötigen Umstellung des RG und des Rechts geworden." 155

Diese Ansicht blieb nicht unwidersprochen; der Greifswalder Hochschullehrer George A. Löning schloss seine Erwiderung auf Günther u.a. mit den Worten: „Das vermeintliche Hemmnis der Bindung sucht G. mit einem Eifer zu beseitigen, als ob es für das RG gelte, die hindernisfreie Jagd nun in gewaltigen Galoppsprüngen zurückzulegen." 156 Anpassung und Loyalität, ja selbst vorauseilender Gehorsam, beschreiben daher nicht hinreichend die Reichsgerichtsrechtsprechung des IV. Zivilsenats in den Jahren 1933-1945; es war vielmehr ein ganz bewusstes und aktives Mitgestalten am nationalsozialistischen Familienrecht. 157

155 156

Günther, ZAkDR 1937, S. 300, 302.

Löning, ZAkDR 1937, S. 303, 304. 157 Dies schließt einen Austausch zwischen dem Reichsgericht und dem Reichsjustizministerium in einzelnen Bereichen nicht aus (zumal Senatspräsident Martin Jonas 1937 aus dem Reichsjustizministerium zum Reichsgericht wechselte), wohl aber eine Reduzierung des Reichsgerichts auf ein bloßes Objekt bei Umsetzung der Vorgaben der Staats- und Parteiführung. Vgl. dazu auch Reichsgerichtsrat Härtung, SJZ 1949, S. 306, 314.

Privatautonomie und Bestandsschutz: die stillschweigende Erwerbung bzw. Bestellung von Grunddienstbarkeiten vor dem Reichsgericht Von Adrian Schmidt-Recla

I. Einleitung Das BGB unterwirft dingliche Rechte hinsichtlich ihrer Entstehung der Grundregel des § 873, der Einigung und Eintragung in das Grundbuch voraussetzt. Der aus dem gemeinen Recht und vielen Partikularrechten bekannte Tatbestand der erwerbenden Verjährung scheidet logisch aus. Es mag angesichts der Rechtsnatur der Einigung, die als Vertrag übereinstimmende Willenserklärungen voraussetzt, überraschen, dass BGB-Kommentare heute damit aufwarten, bei der Grundstücksveräußerung könne stillschweigend die Verpflichtung zur Bestellung einer Grunddienstbarkeit begründet werden. 1 Natürlich scheint diese Regel dem Satz, dass Schweigen keine Willenserklärung darstelle, zu widersprechen und dass sie die Privatautonomie in Gestalt der negativen Vertragsabschlussfreiheit tangiert, liegt auf der Hand. Demzufolge kann sie nur in Ausnahmesituationen angewendet werden, welche die Kommentarliteratur so beschreibt: der Rechtssatz spielt nur eine Rolle bei Grundstücken, die bisher in einer Hand waren 2 und bei denen wegen der Veräußerung eines der Grundstücke fraglich wird, ob der Erwerber in den Genuss einer Dienstbarkeit gelangt oder mit einer solchen belastet wird. Darüber hinaus ist erforderlich, dass auf dem dienenden Grundstück eine Anlage errichtet ist, die für die Nutzung des herrschenden Grundstücks unentbehrlich ist.3 Die Bei-

Der Autor ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig. Der Beitrag fußt auf Vorarbeiten, die in: ZOV 2003, S. 143-147 veröffentlicht sind. 1 Staudinger/Mayer, BGB, Neubearb. 2002, § 1018 Rdnr. 17; Soergel/Stürner, BGB, 13. Aufl., 2000, § 1018 Rdnr. 40. 2 Staudinger/Mayer, § 1018 Rdnr. 17; Soergel/Stürner, § 1018 Rdnr. 40. 3 Soergel/Stürner, § 1018 Rdnr. 40; MünchKomm/Falckenberg, 4. Aufl., 2004, §1018 Rdnr. 6. Anders noch Christian Meisner/Heinrich Stern/Fritz Hodes, Nachbar-

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träge des Schrifttums hierzu sind spärlich, 4 soweit sie dem 20. Jh. angehören.5 In der veröffentlichten Rechtsprechung klafft eine Lücke von mehr als 80 Jahren. Es ist vor allem diese Tatsache, die das Problem dogmatisch und rechtshistorisch so interessant macht, dass eine Befassung mit ihm auf einem Festkolloquium für das Reichsgericht erlaubt erscheint. Schon bei Betrachtung der Daten, zu denen die relevanten Entscheidungen ergingen, zeigt sich, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, das bei Rechtsordnungswechseln virulent wird. Das Reichsgericht hatte es mit der Umsetzung der Lösungen in den partikulären Rechten in das einheitliche bürgerliche Recht zu tun und vollzog diese Umsetzung bis 1912. Der BGH hatte 1999 noch die dogmatisch etwas anspruchslosere Frage zu entscheiden, ob die vom Reichsgericht vorgegebene Lösung auf das Geltungsgebiet des ZGB-DDR übertragbar ist oder nicht. Gehen wir also chronologisch vor.

II. Zur partikularrechtlichen Lehre und Gesetzgebung 1. Die deutsche privatrechtliche Lehre hat während der partikularrechtlichen Epoche zum Problem zwei grundsätzliche Denkmodelle entwickelt. a) Das erste sieht den stillschweigenden Erwerb von Servituten als eigenen Erwerbsgrund an, der drei Voraussetzungen hat: (1) beide Grundstücke müssen schon im Besitz des gleichen Eigentümers unterschiedliche Grundstücke gewesen sein, (2) ein Grundstück muss zum Vorteil des anderen benutzt worden sein - dies aber nicht nur, weil beide denselben Eigentümer hatten, sondern wegen eines wesentlichen Bedürfnisses des herrschenden Grundstücks und (3) der dienende Zustand und der Grund des Dienens müssen erkennbar gewesen

recht, 3. Aufl., 1956, § 35 II: die bisherige Benutzung müsse wegen eines wesentlichen Bedürfnisses eines Grundstückes erfolgt sein. Die Unterschiede sind graduell. 4 Kurz angesprochen wird er noch im Lehrbuch von Martin Wolff/Ludwig Raiser, Sachenrecht, 10. Bearb., 1957, § 108 I 1 e). Es existiert ein Aufsatz zum Thema von Christian Meisner, in: JW 1925, S. 2187-2189, der in das Lehrbuch von Meisner/Stern/Hodes, Nachbarrecht, § 35 II, S. 480-482 und § 36 I 4, S. 485-489 übernommen wurde. 5 Dass dies im 19. Jh. anders war, verdeutlicht ein Blick in das Handbuch von Curtius für Sachsen. Dort (Curtius, Handbuch des im Königreiche Sachsen geltenden Civilrechts, 2. Th., 3. Abt., 4. Aufl., 1849) heißt es bei § 1009 Fn. f), S. 111: „Überall kommt da, wo von tacita constitutio servitutis die Rede ist, eigentlich die Frage vor: ob, wenn zwei Grundstücke, die bisher in dem Eigenthum eines Einzigen sich befunden haben, in Folge der Verfügung des bisherigen Eigenthümers an zwei verschiedene Eigenthümer kommen, der Eigenthümer des einen Grundstücke an dem andern Rechte jure servitutis ausüben könne, welche der vorige Eigenthümer jure dominii ausgeübt hatte? Diese Frage, welche einige für Fälle, in welchen letztwillige Verfügung [...] vorliegt, bejahen, ist [...] im Allgemeinen zu verneinen."

Privatautonomie und Bestandsschutz

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sein.6 Wir finden diese Lösung z. B. in den Pandektenlehrbüchern von Heinrich Dernburg und Bernhard Windscheid.7 Liegen die Voraussetzungen vor, entsteht die Grunddienstbarkeit ipso facto, nicht auf Grund einer Vereinbarung. Es handelt sich um eine die Privatautonomie einschränkende Vertragsergänzung. 8 So meinte das BayObLG 1905, dass die Entstehung der Dienstbarkeit nicht davon abhinge, dass die Beteiligten sie wollten, sondern nur davon, dass die Voraussetzungen vorlägen, mit welchen das Gesetz diese Wirkung verknüpfte. 9 Das übergeordnete Prinzip, dem sich das Modell zuordnen lässt, ist der Bestandsschutz für hergebrachte Nutzungen. bezeichnet Im folgenden soll dies mit dem Begriff Vertragsergänzungstheorie werden. Es gab Territorien, in denen dies zum gesetzlichen Erwerbstatbestand wurde - so z. B. Sachsen.10 Rechtsprechung des Reichsgerichts hierzu war nicht möglich. 11 Geltungsbereich des SächsBGB und Gerichtsbezirk des einzigen königlich-sächsischen OLG Dresden waren deckungsgleich. b) Das Gegenmodell lehnt den Erwerb ipso facto ab. In diesem Falle muss aus logischen Gründen der Wille der Parteien bei Abschluss des Vertrages, mit dem die Grundstücke in verschiedene Hände übergehen, ausgelegt werden, um zur vertraglich bestellten Dienstbarkeit zu gelangen. Das hier herrschende Ordnungsprinzip ist demzufolge die Privatautonomie. Das preußische ALR scheint mit I, 4, § 60 1 2 ganz auf diesem Standpunkt zu stehen. Auch § 873 I BGB scheint für diese Lösung prädestiniert zu sein. Dieses Modell soll im Weiteren mit dem Terminus Auslegungstheorie bezeichnet werden. Das ALR war selbstverständlich revisibel, mehrere Entscheidungen sind hierzu ergangen.

6

Meisner, in: JW 1925, S. 2187. Meisner bezieht sich hierbei auf BayObLGE 11 (n. F.), S. 466, 467. S. a. Otto v. Gierke, Deutsches Privatrecht II, 1905, S. 643 f. 7 Vgl. Heinrich Dernburg, Pandekten I, 2. Aufl., Berlin 1888, § 251, Anm. 13, S. 601 f.; Bernhard Windscheid, Pandekten I, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1887, § 212, Anm. 13 f., S. 734; BayObLGE 11, S. 466, 467. 8 Meisner, in: JW 1925, S. 2187, 2188. Insofern vom „Gesetz" die Rede ist, müssen hinsichtlich des gemeinen Rechts die charakteristischen Einschränkungen gemacht werden, die sich daraus ergeben, dass das gemeine Recht eben keine Privatrechtskodifikation war. 9 BayObLGE 6, S. 670, 677 f. 10 § 575 SächsBGB: Eine stillschweigende vertragsmäßige oder letztwillige Bestellung einer Dienstbarkeit findet namentlich statt, wenn Jemand zwei Grundstücke eigentümlich besitzt, deren eines das andere durch eine Anlage oder Vorrichtung belästigt und das Eigenthum eines dieser Grundstücke auf einen Anderen, oder beider Grundstücke auf verschiedene Personen, ohne Beseitigung der Anlage oder Vorrichtung übergeht. 11 S. hierzu auch Cosima Möller und Werner Schubert in diesem Band. 12 Theil I, Titel 4, § 60 ALR: Wo die Gesetze eine ausdrückliche Erklärung zu der rechtsgültigen Form des Geschäftes erfordern, ist eine stillschweigende Willenserklärung unkräftig.

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2. Ein drittes Modell ist von den beiden in Deutschland auf dem Boden des römischen bzw. des einheimischen Rechts entwickelten zu unterscheiden - es ist das des Code Civil. 1 3 Nach Artt. 690, 14 692 15 Code Civil konnte eine Grunddienstbarkeit immerwährender und durch äußere Anlagen auffallender Art durch die Bestimmung des Eigentümers erworben werden. Dabei bildet die Bestimmung i. S. d. Art. 692 den für den Erwerb nach Art. 690 maßgeblichen Titel. Da der Erwerb sich aber erst im Moment der Trennung der Grundstücke vollziehen kann, arg. e Art. 693 16 f., stellt sich die Eigentümerbestimmung als aufschiebend bedingt dar. Folge hiervon ist, dass es auf den Willen der an der Teilung der Grundstücke beteiligten Personen bei Eintritt der Bedingung nicht mehr ankommt, Art. 694. 17 Dogmatisch entsteht die Grunddienstbarkeit also nicht bei der Grundstücksteilung, sie dauert nach der Teilung fort, obwohl sie erst in diesem Moment als Dienstbarkeit nach außen hervortritt. Diese elegante, von dem zwischen den an der Grundstücksteilung beteiligten Personen geschlossenen Verträgen abstrahierende Lösung ist theoretisch nur möglich, wenn dem Eigentümer auch die eigene Sache dienstbar sein kann, wenn der römische Satz nemini res sua servit nicht gilt. Diese Lösung erzeugt das Problem der Eigentümergrunddienstbarkeit, deren Existenz im deutschen Recht lange bestritten, schließlich aber anerkannt wurde. Doch dazu unten. Das

13

S. hierzu eingehend Schubert in diesem Band. Art. 690 CC: Les servitudes continues et apparentes s'acquièrent par titre, ou par la possession de trente ans - Fortwährende und ins Auge fallende Servituten erwirbt man durch Verleihung oder dreyßigjährigen Besitz. 14

15

Art. 692 CC: La destination du père de famille vaut titre à l'égard des servitudes continues et apparentes - In Hinsicht der fortwährenden und ins Auge fallenden Servituten hat die Bestimmung des Eigenthümers die Wirkung einer Verleihung. 16 Art. 693 CC: Il n'y a destination du père de famille que lorsqu'il est prouvé que les deux fonds actuellement divisés ont appartenu au même propriétaire, et que c'est par lui que les choses ont été mises dans l'état duquel résulte la servitude - Eine Bestimmung des Eigenthümers ist nur dann vorhanden, wenn es erwiesen ist, daß zwey gegenwärtig getrennte Grundstücke vorher einem Eigenthümer zugehört haben, und daß er dieselben in den Zustand versetzt hat, aus welchem die Servitut hervorgeht. 17 Art. 694 CC: Si le propriétaire de deux héritages entre lesquels il existe un signe apparent de servitude, dispose de l'un des héritages sans que le contrat contienne aucune convention relative à la servitude, elle continue d'exister activement ou passivement en faveur du fonds aliéné ou sur le fonds aliéné - Veräußert der Eigenthümer zweyer Grundstücke, worauf sich ein ins Auge fallendes Merkmal einer Servitut befindet, eins von beyden, ohne daß in dem Vertrage eine auf die Servitut sich beziehende Uebereinkunft enthalten ist: so dauert dieselbe aktiv oder passiv, zum Vortheile oder zur Belästigung des veräußerten Grundstückes, fort (Es liegt auf der Hand, dass die Praxis hier über die Frage der Offensichtlichkeit stritt).

Privatautonomie und Bestandsschutz

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französische Recht stand dem Revisionszug nach Leipzig offen, eine einschlägige Entscheidung ist bekannt, daneben einige obiter dicta des II. Zivilsenats. 1 8 3. Das Reichsgericht konnte zum A L R auch auf Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals 1 9 zurückgreifen, das der Vertragsergänzungstheorie aber in keiner veröffentlichten Entscheidung folgte, sondern in allen einschlägigen Entscheidungen den Vertrag auslegte und den Parteiwillen ermittelte. a) 1850 prüfte das Obertribunal, ob dem Vertrag zu entnehmen sei, dass der Zustand vor der Teilung fixiert werden sollte und eine Grunddienstbarkeit neu vereinbart wurde. 2 0 Der Vertrag enthielte nicht ohne weiteres diesen Sinn, vielmehr müsse die Lage der Sache den Schluss auf eine solche Absicht

rechtferti-

gen.21 b) 1852 war eine Servitut im Vertrag nicht ausdrücklich eingeräumt, 2 2 aber beabsichtigt worden. Zum Vorteil des herrschenden Grundstücks sei auf dem dienenden eine Anlage errichtet und erkennbar vorhanden gewesen. Deshalb sei, weil das Grundstück in Pausch und Bogen, mit allen damit Gerechtigkeiten

verbundenen

verkauft wurde, anzunehmen, dass es Absicht der Parteien ge-

wesen sei, die Nutzung fortbestehen zu lassen. 23 Die vom Obertribunal vorgenommene Auslegung der Pausch-und-Bogen-Klausel ergibt, dass der Erwerb sich nicht stillschweigend vollzog. 2 4 1 8 5 7 2 5 war im schriftlichen Vertrag ebenfalls eine zur Bestellung der Grunddienstbarkeit erforderliche Willenserklärung zu finden. Es sei nicht erforderlich, dass die Grundgerechtigkeit mit bestimmten Worten eingeräumt werde; es genüge, wenn dem Vertragsinhalt ein entsprechender W i l l e entnommen werden könne. 2 6

18 Urteil des II. Zivilsenats v. 14. März 1881, RGZ 4, S. 345 f., hier S. 346 (LG Trier, OLG Köln). Nicht relevant ist das Urteil des II. Zivilsenats v. 21. April 1885, RGZ 13, S. 304-306 (LG, OLG Köln). 19 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 1 (1851), S. 159-163; StriethorstsArch. 7 (1853), S. 228-233; StriethorstsArch. 26 (1858), S. 100-103; PreußOTrE 79, S. 277-283. 20 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 1 (1851), S. 159-163, 162. 21 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 1 (1851), S. 159-163, 163. 22 Urteil des II. Senats des PreußOTr v. 2. September 1852, in: StriethorstsArch. 7 (1853), S. 228-233, 232. 23 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 7 (1853), S. 228-233, 232 f. 24 Das hatte das erstinstanzliche Gericht noch angenommen; vgl. PreußOTr, in: StriethorstsArch. 7 (1853), S. 228-233, 229. 25 Urteil des II. Senats des PreußOTr v. 7. Juli 1857, in: StriethorstsArch. 26 (1858), S. 100-103. 26 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 26 (1858), S. 100-103, 102 f.

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c) Ganz deutlich wurde das Obertribunal aber endgültig 1877,27 als es festhielt: wenn aus der Absicht der Parteien und der Natur des Vertrages mittels Auslegung gefolgert werde, dass in dem schriftlichen Vertrag eine Wegegerechtigkeit aufgrund des darauf mitgerichteten Willens begründet worden sei, so werde nicht angenommen, dass die Servitut stillschweigend erworben sei, und es werde I, 22, § 13, 28 I, 5, § 135, 29 und I, 4, § 60 3 0 ALR nicht verletzt, sondern aus einer Willenserklärung eine tatsächliche Feststellung getroffen. 31

I I I . Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht hat sich in neun 32 veröffentlichten Entscheidungen zum Problem geäußert. Die Sachverhalte von sechs der im folgenden besprochenen neun Entscheidungen sind im Anhang wiedergegeben. 1. Die erste Entscheidung erging 1880.33 Der II. (der rheinische) Zivilsenat beurteilte französisches Recht. Er meint, dass die Widmung durch den gemeinsamen Alteigentümer nur dann als Erwerbstatbestand geeignet sei, wenn der Vertrag, mit dem eines der Grundstücke auf einen anderen Eigentümer übertragen werde, keine weitere Übereinkunft enthalte.34 Eine solche lag aber vor, so dass die Widmung durch den Alteigentümer vom Willen der bei Eigentumsübergang vertragsschließenden Teile verdrängt wurde. Art. 694 Code Civil konnte nicht angewendet werden. Deshalb ist das Urteil für die weitere Rechtsprechung auch nicht weiter relevant.

27

Urteil des II. Senats des PreußOTr v. 30. Januar 1877, in: PreußOTrE 79, S. 277-

283. 28 Theil I, Titel 22, § 13 ALR: Grundgerechtigkeiten können durch rechtsgültige Willenserklärungen eingeräumt, auch durch Verjährung erworben werden. 29 Theil I, Titel 5, § 135 ALR: Verträge und Erklärungen über Grundgerechtigkeiten, ingleichen über beständige persönliche Lasten und Pflichten, erfordern allemal eine schriftliche Abfassung. 30 Theil I, Titel 4, § 60 ALR: Wo die Gesetze eine ausdrückliche Erklärung zu der rechtsgültigen Form des Geschäftes erfordern, ist eine stillschweigende Willenserklärung unkräftig. 31 PreußOTrE 79, S. 277-283, 282. 32 Es gibt noch Urteile des V. Zivilsenats von 1883 und 1888, in: JW 1884, S. 61, Nr. 63 und JW 1888, S. 190, Nr. 43. Sie folgen RGZ 13, S. 249 ff. 33 Urteil des II. Zivilsenats v. 11. Mai 1880, in: RGZ 2, S. 360-362 (LG Mannheim, OLG Karlsruhe). 34 RGZ 2, S. 360, 362.

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2. Das zweite Urteil folgte fünf Jahre später, diesmal zum ALR. 3 5 Es hätte nahegelegen, dass der V. Zivilsenat sich der Rechtsprechung des Obertribunals anschloss, doch völlig überraschend tritt das Gegenteil ein. Ausgangspunkt für den V. Senat bei seiner Beurteilung des Problems ist die römische Lehre nemini res sua servit, 36 die der Lösung der gemeinrechtlichen Doktrin zugrunde liegt: „Als Regel geht [...] das Allgemeine Landrecht davon aus, daß die Grundgerechtigkeit ein Recht an einer fremden Sache ist [...]. Man muß [...] davon ausgehen, daß der Eigentümer zweier Grundstücke, wenn er das eine in der Weise nutzt, daß es den Zwecken des anderen dient, nur das ihm als Eigentümer zustehende Gebrauchsrecht ausübt. Wenn [...] in solchem Falle das dienende Grundstück in andere Hände übergeht, so nimmt die [...] Judikatur sowohl des gemeinen als des preußischen Rechtes an, daß es eines neuen Aktes behufs der Begründung einer Grundgerechtigkeit nicht bedarf, sofern der Veräußerer und der Erwerber gewollt haben, daß die bisherige Benutzungsart [...] fortbestehen sollte. Das [...] thatsächliche Verhältnis verwandelt sich [...] in ein rechtliches, der Gebrauch des Eigentümers geht in eine Grundgerechtigkeit über" und weiter: „Einer besonderen Manifestierung des Willens bei dem Vertragsschlusse [...] bedurfte es nicht. War der Wille des Eigentümers beider Grundstücke, daß die [dienende] Parzelle zu Gunsten [des herrschenden ...] Grundstückes die [Anlage] aufnehmen sollte, [...] früher gefaßt und bethätigt, und war eine Änderung bis zu der [Veräußerung ...] nicht eingetreten, [...] ging das Grundstück des Klägers mit derjenigen Beschränkung, welcher es bisher thatsächlich unterworfen war, nunmehr als Grundgerechtigkeit belastet [...] über." 37 Der Sachverhalt erfüllt die Bedingungen der Vertragsergänzungstheorie: die Nutzung des „herrschenden" Grundstückes in seiner spezifischen Nutzungsart ist nur möglich, wenn das hineinragende Grundstück geschnitten wird - die problematische Anlage dient einem wesentlichen Bedürfnis. Ob die Anlage erkennbar war, erschien bedeutungslos.38 Dieses dritte Erfordernis der Vertragsergänzungslehre wurde also 1885 bereits aufgegeben.

35

Urteil des V. Zivilsenats v. 15. April 1885, in: RGZ 13, S. 249-253 (LG Berlin, KG). Zum Sachverhalt vgl. den Anhang Nr. 1. 36 Im Beschluss v. 26. Januar 1901, in: RGZ 47, S. 202-210 (LG, OLG Hamburg), 208 bekräftigt der V. Senat diesen Satz unter Bezug auf sein Urteil von 1885. Er meint, das allein entspreche der Rechtslogik - niemand könne einem seiner Grundstücke eine Grunddienstbarkeit an dem anderen einräumen, weil die Servitut begrifflich ein Recht an fremder Sache sei - und zitiert hierfür Windscheid, Pandekten I, § 200. 37 RGZ 13, S. 249, 251 f. 38 RGZ 13, S. 249, 252.

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Die Auslegung des Vertrages erachtet der V. Senat expressis verbis für unwichtig. Die im Urteil vorkommende Wendung „sofern der Ver äußer er und der Erwerber gewollt haben, daß die bisherige Benutzungsart fortbestehen sollte " wird durch die anschließende eindeutige Erklärung, dass es auf die Manifestierung dieses Willens beim Vertragsschluss nicht mehr ankomme, vollständig derogiert. Immerhin ist dem Senat vorzuwerfen, dass es nicht gerade überzeugt, wenn er sich dazu auf die Rechtsprechung des Obertribunals 39 beruft, das immer bemüht war, den Parteiwillen zu ermitteln. Der V. Senat hat so das ALR fortgebildet, die Vertragsergänzungslehre auch für dieses anerkannt und so gemeines und preußisches Recht einander angeglichen. 1911 argumentiert das BayObLG dann auch konsequent unter Bezug auf das gegenständliche Urteil, dass der ipso-facto-Erwerb einer Dienstbarkeit nicht nur eine Einrichtung des gemeinen Rechts sei, sondern auch der Rechtsübung im Gebiete des ALR nicht fremd sei. 40 Die zweite wesentliche Wertungsebene erhält dieses Urteil dadurch, dass die betreffenden Grundstücke nicht freiwillig, sondern durch Zwangsversteigerung in unterschiedliche Hände gelangt sind. Dies rechtfertigt dem Reichsgericht zufolge jedoch keine andere Beurteilung, was auch konsequent ist, wenn die Vertragsergänzungstheorie zugrunde gelegt wird. 3. In der dritten, wieder zum ALR ergangenen Entscheidung behält der V. Zivilsenat den 1885 formulierten Rechtssatz ausdrücklich bei und zitiert ihn ausführlich, 41 ohne noch auf die Vorschriften des ALR zu verweisen. Auch hier meint er, eine Grunddienstbarkeit sei stillschweigend entstanden. Ebenso wie 1885 liegen zwei Besonderheiten vor: erstens ist die Nutzung des herrschenden Grundstücks nur möglich, wenn die streitigen baulichen Anlagen über das dienende Grundstück geführt werden. Die Erfordernisse der Bestandsschutzdoktrin waren erfüllt. Es ging dem V. Senat auch hier um eine vom Willen der Parteien unabhängige Vertragsergänzung. Zweitens erfolgt auch hier der Übergang der Grundstücke in verschiedene Hände durch Zwangsversteigerung. 4. Eine Entscheidung von 1895 kommt zum gegenteiligen Ergebnis: 42 Eine Grunddienstbarkeit war nicht entstanden. Der V. Senat urteilt, es fehle der 39 RGZ 13, S. 249, 252 unten. Dort zitiert das RG die Entscheidungen PreußOTrE 79, S. 277-283 und PreußOTr, in: StriethorstsArch. 7 (1853), S. 228-233. 40 BayObLGE 11, S. 455, 467 unter Berufung auf das Urteil des V. Senates des RG. 41 Urteil des V. Zivilsenats v. 25. Februar 1891, in: GruchotsBeitr. 35 (1891), S. 1031-1036 (OLG Stettin), 1033. Zum Sachverhalt vgl. den Anhang Nr. 2. Der V. Zivilsenat zitiert die 1885er Leitentscheidung schon 1888; vgl. RG, in: JW 1888, S. 190. In einem weiteren Urteil v. 2. Dezember 1896, in: RGZ 38, S. 286-289 (LG Halle/S., OLG Naumburg) bekräftigt der V. Senat den genannten Grundsatz fast wortgleich. Wegen der Vergleichbarkeit der Sachverhalte werden diese Entscheidungen hier nicht ausgebreitet. 42 Urteil des V. Zivilsenats v. 30. März 1895, in: JW 1895, S. 233, Nr. 33.

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Nachweis, dass der Eigentümer es auf eine dauerhafte Dienstbarmachung seines Grundstückes abgesehen habe. Darüber hinaus könne ohne zwingende Gründe nicht angenommen werden, dass an eine dauernde Dienstbarkeit, die sich vermeiden ließ, gedacht worden sei. In solcher Situation fehle auch der Nachweis, dass ein Dienstbarkeitsverhältnis von Veräußerer und Erwerber des dienenden Grundstücks festgehalten worden sei. 43 Die Abweichung dieses Sachverhalts von den ersten beiden Entscheidungen des V. Senats liegt darin, dass die Dienstbarkeit nicht aufgrund der Tatsachen zwingend erforderlich war, um das potenziell herrschende Grundstück zu nutzen. Damit blieb Raum zur Willensbildung. 5. Ab 189844 wird Dissens zwischen den Reichsgerichtssenaten deutlich. Der III. Zivilsenat stellt zum gemeinen Recht klar, dass er die stillschweigende Bestellung nicht allgemein als Erwerbsgrund für Grunddienstbarkeiten anerkennen wolle. Er meint, die Absicht zur stillschweigenden Bestellung einer Servitut ergebe sich nach der Rechtsprechung zum gemeinen Recht auch für den Fall der freiwilligen Veräußerung eines von zwei Grundstücken desselben Eigentümers nicht allgemein schon daraus, dass der bisherige Eigentümer die beiden Grundstücke bisher tatsächlich so benutzt habe, als ob das eine zu Gunsten des anderen mit einer Servitut belastet sei. Für eine solche Auslegung seien Umstände erforderlich, die einen dahin gehenden Willen der Vertragsparteien ergäben. Hierfür konkludent seien die Unentbehrlichkeit der Fortsetzung des bisherigen Gebrauches für das herrschende Grundstück und das Bestehen besonderer Einrichtungen oder Anlagen auf dem dienenden, wenn diese trotz der Veräußerung bestehen blieben. 45 Der III. Senat folgt mithin erkennbar der Auslegungstheorie und meint weiter, dass diese Auslegungsregel für die Zwangsversteigerung nicht zutreffe. 46 Auch hiermit distanziert er sich vom V. Senat, welcher, der Vertragsergänzungslehre folgend, den Servitutenerwerb trotz Zwangsversteigerung bejaht hatte. 6. Der Dissens zwischen den Senaten geht aber noch weiter: 1901 hatte der wird so VII. Zivilsenat 47 das ALR zugrunde zu legen. Der ipso-facto-Evv/erb verneint: „Wenn es [...] auch im Interesse [...] des Verkehrs [...] wünschenswert ist, daß bei Veräußerung eines von mehreren Grundstücken desselben Ei-

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RG, in: JW 1895, S. 233. Urteil des III. Zivilsenats v. 29. November 1898, in: RGZ 42, S. 158-161 (LG, OLG Kiel). 45 RGZ 42, S. 158, 160. 46 RGZ 42, S. 158, 160. 47 Urteil des VII. Zivilsenats v. 10. Mai 1901, in: RGZ 49, S. 236-241 (LG, OLG Breslau). Zum Sachverhalt vgl. den Anhang Nr. 3. 44

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gentümers in den zwischen ihnen herrschenden Verhältnissen eine Änderung [...] unterbleibe, so genügt dies doch nicht zur Rechtfertigung der Annahme, daß bei einem jeden Grundstücksverkauf der Wille der Parteien dahingehe, daß, sollte noch ein benachbartes Grundstück desselben Eigentümers vorhanden sein, und sollte das verkaufte Grundstück zu diesem in einem Verhältnisse thatsächlichen Dienens gestanden haben, dieses aufrecht erhalten werden solle, mochte auch der Käufer weder von dem einen noch von dem anderen Kenntnis gehabt haben, und mochte ihm aus seiner Nichtkenntnis ein genügender Vorwurf nicht gemacht werden können." 48 Der VII. ist wie der III. Senat bemüht, entgegen dem V. Senat am Grundsatz der vertraglichen Bestellung festzuhalten. Die Willensübereinstimmung hat der VII. Senat freilich nicht feststellen können. Immerhin, so ließe sich einwenden, fehlt dem Sachverhalt ein Kriterium: es ist nicht vorgetragen worden, dass die streitige Anlage zur Nutzung des „herrschenden Grundstücks" aufgrund der Umstände zwingend erforderlich sei. Statt dessen wird diskutiert, ob es relevant sei, dass dem Kläger die Anlage unbekannt geblieben sei, als er in der Zwangsversteigerung den Zuschlag erhalten hatte. Der Senat meint, die Kenntnis sei keine Bedingung für die Annahme eines auf Fortdauer des bisherigen Zustandes gerichteten Willens, denn zwar gebe es Fälle, in denen es als Vertragsgrundlage anerkannt werden müsse, dass der Käufer sich über die Grundstücksverhältnisse zu unterrichten, etwa eine Besichtigung vorzunehmen habe, bei der er Anlagen bemerkt haben würde, die auf eine Dienstbarkeit schließen ließen. Unterlasse er das, müsse er sich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben so behandeln lassen, als hätte er Kenntnis gehabt.49 Ein solcher Fall sei die Zwangsversteigerung aber nicht. Es kommt also bei Zweifeln über die Willensübereinstimmung nicht auf Kenntnis oder Nichtkenntnis des Erwerbers, sondern auf die Umstände an, die eine Dienstbarkeit erzwingen können, indem sie die Willensübereinstimmung diktieren. 7. 190750 liegt der Ball wieder beim V. Senat, der jetzt den Eintragungszwang beachten muss. Schwierig war das nicht: der Eintragungszwang kann berücksichtigt werden, indem seit 1900 zu fragen ist, ob ein (obligatorischer) Vertrag geschlossen worden ist, der den Anspruch auf Bestellung der Dienst-

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RGZ 49, S. 236, 239. RGZ 49, S. 236, 240. 50 Urteil des V. Zivilsenats v. 20. März 1907, in: RGZ 65, 361-364 (LG Elberfeld, OLG Köln). Zum Sachverhalt vgl. den Anhang Nr. 5. 49

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barkeit begründet, 51 während vor 1900 zu prüfen war, ob die Grunddienstbarkeit durch den Vertragsschluss bereits entstanden ist. 52 Der V. Senat zitiert seine, vom III. und VII. Senat missbilligte Rechtsprechung kurz und stellt fest, dass ein Anspruch auf Bestellung nicht entstanden sei, da der Beklagte sein Grundstück nicht durch Rechtsgeschäft, sondern durch Zuschlag in der Zwangsversteigerung erworben habe, dieser Erwerb aber keinen Raum für die Annahme und Betätigung eines rechtswirksam auf Entstehung einer Grunddienstbarkeit gerichteten Willens der Beteiligten lasse.53 Er argumentiert, dass bei einem nicht freiwilligen Übergang der Grundstücke in fremde Hände nicht von einer § 873 I BGB genügenden Einigung der Parteien über die Bestellung einer Grunddienstbarkeit ausgegangen werden könne. 54 Damit wendet er sich klar von seinen beiden 1885 und 1891 ergangenen Entscheidungen ab, in denen der Erwerb trotz Zwangsversteigerung wegen der Vertragsergänzungslösung noch ausdrücklich bejaht worden war. Wie beeindruckt der V. Senat von der Rechtsprechung des III. und des VII. war, lässt sich nicht eruieren. Schwerer wird gewogen haben, dass das BGB die stillschweigende Bestellung nicht ausdrücklich anerkannte, sondern mit § 873 I das Vertragsmodell auf alle dinglichen Rechte erstreckte. Andererseits wird auch der Weg deutlich, auf dem der V. dem III. und VII. Senat folgen konnte: Entscheidungserheblich war 1885 und 1891 weniger die Frage der Freiwilligkeit, sondern die Tatsache, dass die Umstände die Grunddienstbarkeit erzwangen. Fällt dieses Kriterium weg, dann bleibt Raum für die freie Willensbetätigung. Hier liegt denn auch der wahre Kern des stillschweigenden Erwerbs ungeachtet seiner rechtlichen Konstruktion. 8. Zwei Jahre später musste der V. Senat dasselbe Problem und das französische Modell erneut beurteilen. Der Sachverhalt 1909 war davon gekennzeichnet, dass der Alteigentümer der Grundstücke eines der beiden 1897 überbaut hatte. 1905 wurden dann beide gesondert zwangsversteigert. 55 Der Senat referiert das Regelungsmodell der Artt. 690-694 Code Civil. Dessen Außerkrafttreten sei wegen Art. 184 EGBGB unschädlich, auch wenn die Trennung der Grundstücke erst nach 1900 erfolgt sei. Die das französische Modell beherrschende Bedingung könne auch noch nach Inkrafttreten des BGB eintreten und

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Meisner/Stern/Hodes, Nachbarrecht, § 35 I 1, S. 476; Wolff/Raiser, Sachenrecht, § 1081 1 e), S. 443. 52 Ist die Grunddienstbarkeit nach 1900 vertraglich bestellt, aber nicht eingetragen worden, so kann deshalb Verjährung eingetreten sein. 53 RGZ 65, S. 361,363. 54 RGZ 65, S. 361,363. 55 Urteil des V. Zivilsenats v. 8. Dezember 1909, in: RGZ 72, S. 269-274 (LG Elberfeld, OLG Düsseldorf).

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die Servitut fortbestehen lassen.56 Und der Senat geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: es sei unbeachtlich, ob die Trennung der Grundstücke durch freiwillige Verfügung oder durch (unfreiwillige) Zwangsversteigerung erfolgt sei, da es auf den Willen der Beteiligten gar nicht mehr ankam. 51

Exkurs: das Problem der Eigentümergrunddienstbarkeit An dieser Stelle soll ein Exkurs sich dem aus dem französischen Recht folgenden Problem der Eigentümergrunddienstbarkeit zuwenden. Eine Analyse der Rechtsprechung zum stillschweigenden Erwerb wäre unvollständig, würde sie nicht auch betrachten, wie dieses Problem gelöst wurde. Auch dies fiel dem V. Senat zu. a) Es wurde bereits erwähnt, dass der V. Senat der Eigentümerservitut für das gemeine und das preußische Recht lange ablehnend gegenüberstand. Dies manifestierte sich in der Anlehnung an die nemini res sua servit-Regel und ist im Urteil von 1885 für das A L R 5 8 und in einem Beschluss von 1901 für das gemeine Recht klar und unmissverständlich ausgesprochen: „Nach alledem muß angenommen werden, daß für das gemeine Recht der [...] allein der Rechtslogik entsprechende Grundsatz galt, niemand könne einem seiner Grundstücke an dem anderen eine Grunddienstbarkeit einräumen, weil die Servitut begrifflich ein Recht an einer fremden Sache ist [...] und weil niemand mit sich selbst einen Vertrag schließen kann. Der gleiche Grundsatz ist vom erkennenden Senate für das in den hier in Betracht kommenden Beziehungen nicht abweichende preußische Recht aufgestellt worden." 59 b) Literatur und Instanzgerichte griffen dies solange an, bis der V. Senat 1933 seine Ansicht auf Vorlage des Kammergerichts ausdrücklich änderte: „Der beschließende Senat tritt dem Kammergericht bei und gibt die in seinem Beschluss vom 26. Januar 1901 niedergelegte abweichende Ansicht auf." 60 Der Beschluss enthält eine umfangreiche Literaturübersicht. 61 Der Senat bildet eine Analogie zu anderen, dem BGB bekannten dinglichen Rechten an eigenen Sachen und verweist insbesondere auf § 889 und § 1196 BGB, erkennt speziell in 56

RGZ 72, S. 269, 273. RGZ 72, S. 269, 273. 58 RGZ 13, S. 249-253, hier unter Nr. (2). 59 Beschluss v. 26. Januar 1901, in: RGZ 47, S. 202, 208 (LG, OLG Hamburg). 60 Beschluss v. 14. November 1933, in: RGZ 142, S. 231, 234 (LG Altona, KG). 61 RGZ 142, S. 231, 233. Bejahend danach im Jahre 1933: Enneccerus/Wolff, Heck, Regelsberger, Dernburg, Kohler. J. v. Gierke, Hedemann und Huber; verneinend dagegen: Planck/Strecker, RGRK, Staudinger/Kober, Biermann, Güthe/Triebel, Predari, Turnau/Förster, O. v. Gierke, Endemann, Oberneck, Junker und Schmidt-Rimpler. 57

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§ 889 Auswirkungen des deutschrechtlichen Grundsatzes der Teilbarkeit des Eigentums dem Inhalt nach und meint, die Regel nemini res sua servit gelte im heutigen bürgerlichen Recht der Dienstbarkeiten nicht mehr. 62 Die meiste Mühe verwendet der Senat auf die Lösung der Frage, wie bei der Bestellung der Eigentümergrunddienstbarkeit dem Erfordernis der Einigung in § 873 I BGB Rechnung getragen werden kann, der von einer Einigung zwischen verschiedenen Personen ausgeht, sofern nicht das Gesetz etwas anderes vorschreibt - wobei ein Ausnahmetatbestand im Dienstbarkeitenrecht anders als z. B. bei der Eigentümergrundschuld eben gerade nicht gegeben ist. 63 Der Senat hält es für hervorhebenswert, dass dieses Problem angesichts der dem Richter gebotenen Gesetzestreue nicht allein damit gelöst werden könne, dass auch die einseitige Erklärung den Zweck des § 873 I BGB erfülle. 64 Dass der Senat im November 1933 das Kriterium der dem Richter gebotenen Gesetzestreue für argumentativ so wichtig hält, dass er seine Lösung daran misst, ist immerhin bemerkenswert. Der Senat löst das Problem damit, dass das Wesentliche an einer Grunddienstbarkeit die Beziehungen der Grundstücke zueinander seien. Wenn beide Grundstücke zu dem Zeitpunkt, in dem das eine nach einer bestimmten Nutzung verlange, gewissermaßen zufällig in der Hand eines Eigentümers seien, entspräche es nicht dem Zweck des Gesetzes, wenn dieser zufällige Umstand einer zweckmäßig erscheinenden Regelung der Beziehungen der Grundstücke zueinander hinderlich sein solle. Der Senat schließt mit der Überlegung, überhaupt entspreche eine Verselbstständigung der Rechtsverhältnisse eines Grundstücks als einer Sondervermögensmasse den Gedanken des alten deutschen Rechts.65 Diese Behauptung stützt der Senat aber in keiner Weise durch Nachweise. Das alte deutsche Recht eignete sich als nicht erörterungswürdiger Blankettbegriff also schon im November 1933, die dem Richter gebotene Gesetzestreue zu derogieren. Wir finden mithin in einem Urteil, verteilt über wenige Sätze, das ganze methodische Spannungsfeld angelegt, das das Recht im Nationalsozialismus kennzeichnet. c) Interessant ist weiter folgender Befund. Schon aus dem Jahre 1883 existiert nämlich eine Entscheidung des V. Senats, in der dieser zu dem Schluss gekommen war, dass ein Eigentümer zweier Grundstücke zwar für das eine auf dem anderen eine Servitut bestellen könne, dass diese aber erst bei Auflösung

62 63 64 65

RGZ 142, S. 231,235. Zugrunde liegt das Argumentationsmuster des beredten Schweigens des Gesetzes. RGZ 142, S. 231,237. RGZ 142, S. 231,238.

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der Personalunion ins Leben trete. 66 Leider eignet sich das in der JW nur ganz knapp mitgeteilte Urteil nicht zur Analyse, es ist noch nicht einmal klar, welches Recht angewendet werden musste. In dieser 1883er Entscheidung beruft sich der Senat auf ein von 1861 stammendes Urteil des Obertribunals, 67 das in der Tat für das ALR eine Ergänzung der nemini res sua servit-Regel angenommen und die Bestellung einer Servitut am eigenen Grundstück für zulässig erachtet hatte: der Eigentümer zweier benachbarter Grundstücke sei befugt, dem einen zugunsten des andern eine Servitut mit der Wirkung aufzulegen, dass sie als solche nach der Trennung der Personalunion in die Rechtssphäre trete. 68 Es ist aber festzuhalten, dass dieses Ergebnis für einen Sachverhalt gefunden wurde, in dem der betreffende Eigentümer eines seiner Grundstücke das dienende - in eine Gesellschaft eingebracht hatte, der er selbst angehörte und insofern nicht unbedingt verallgemeinerbar gewesen sein dürfte. Das entscheidende Argument für das Obertribunal war denn auch die Überlegung, dass sich an einer gemeinschaftlichen Sache insofern eine Servitut erwerben lasse, als der eine Teilhaber den anderen Teilhabern ein besonderes Recht an der gemeinschaftlichen Sache einräume, welches er sonst vermöge der Gemeinschaft nicht gehabt hätte, die in Übereinstimmung mit dem ALR stehe.69 Der V. Senat des Reichsgerichts hatte jedenfalls 1883 keine Bedenken, diese Überlegung zu verallgemeinern. Später - 1885 und 1901 - erwähnt der V. Senat diese seine eigene Entscheidung von 1883 und auch das 1861er Urteil des Obertribunals jedoch mit keinem Wort mehr. Wir haben es mithin mit einer doppelten Kehrtwende ein und desselben V. Senats zu tun, welche bei der ersten Wendung 1885 verschwiegen wurde und vielleicht deshalb bei der zweiten Wendung 1933 nicht mehr bekannt war. d) Und ein weiterer Befund verdient Aufmerksamkeit. Das französische Modell hat für die Anerkennung der Eigentümergrunddienstbarkeit im Jahre 1933 nicht Pate gestanden. 1933 hat der V. Senat nicht einmal andeutungsweise auf die Lösung der Artt. 690-694 Code Civil hingewiesen. Angesichts der eigenen Entscheidung von 1909 hätte der V. Senat diese Lösung 1933 zweifelsohne kennen können. Stattdessen löste der V. Senat das Problem wie dargestellt mit einem Rückgriff auf das alte deutsche Recht, das er freilich nicht näher belegt hat (oder nicht näher belegen konnte).

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Vgl. RG, in: JW 1884, S. 61. Entscheidung des II. Zivilsenats des PreußOTr v. 11. Dezember 1860, in: StriethorstsArch. 39 (1861), S. 283-290 (KreisG Hagen, AppG Hamm). 68 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 39 (1861), S. 283, 288. 69 PreußOTr, in: StriethorstsArch. 39 (1861), S. 283, 288. Bezug genommen wird auf Theil I, Titel 17, § 3 f.; Theil I, Titel 2, § 125 und Theil I, Titel 17, § 12 ALR. 67

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e) Ergänzt sei noch, dass die Zulässigkeit der Eigentümergrunddienstbarkeit heute - ohne wörtlichen Bezug auf das alte deutsche Recht - meist aus einer Analogie zu § 1196 II BGB hergeleitet wird, 7 0 wobei sich heute auch niemand mehr, anders als noch im November 1933, durch den Ruf nach der dem Richter gebotenen Gesetzestreue schrecken lässt. Das Reichsgericht war so das letzte Höchstgericht, das sich hiervon immerhin hat beunruhigen lassen. Insonderheit der V. Senat des BGH zitiert die 1933 ergangene Entscheidung des Reichsgerichts in seinen einschlägigen Entscheidungen aus den Jahren 1964 und 1988 völlig unkommentiert 71 und macht sich damit in den Augen besonders kritischer Beobachter auch die Begründung der Eigentümergrunddienstbarkeit aus dem „alten deutschen" Recht zu eigen. 72 Doch kehren wir zum nichtfranzösischen Recht zurück. 9. Die neunte Entscheidung des Reichsgerichts zum stillschweigenden Erwerb von Grunddienstbarkeiten erging 1912.73 Die Quelle nennt den entscheidenden Senat nicht. Auch hier hatte das Reichsgericht den Eintragungszwang zu berücksichtigen: „Eine stillschweigende Bestellung der Grunddienstbarkeit, wie sie beim Vorhandensein einer Anlage, [...], nach dem früheren Recht bei abgesonderter Veräußerung des berechtigten und belasteten Grundstücks angenommen wurde [...], kommt [...] nicht in Frage, weil die Veräußerungen unter der Herrschaft des neuen Rechts vorgenommen worden sind und dieses zur Bestellung von Grunddienstbarkeiten die Eintragung im Grundbuch erfordert (§ 873 BGB)." 7 4 Trotzdem kommt das Reichsgericht zu dem Ergebnis, ein Vertrag zur Bestellung einer Grunddienstbarkeit sei geschlossen worden. Zwar sei den Parteien möglicherweise nicht bewusst gewesen, dass sie einen solchen Vertrag schlossen, gleichwohl ist der Wille aller Beteiligten, den bisherigen Zustand aufrecht zu erhalten, festgestellt worden und gleichzeitig der Wille, alles zu dieser Aufrechterhaltung Erforderliche zu tun. 75 Die Vertragsergänzung ist aufgegeben. Dem lag eine Vereinbarung zugrunde, in der es hieß: „etwaige Grunddienstbarkeiten, welche auf der Besitzung lasten möchten, gelten als bekannt und gehen [...] auf den Käufer über." Es liegt auf der Hand, dass bei einer solchen vertraglichen Verabredung keine Rede davon sein konnte, dass ein 70

MünchKomm/Falckenberg,

§ 1018 Rdnr. 59; Staudinger/Mayer,

§ 1018 Rdnrn. 19,

48. 71 Urteil v. 11. März 1964 - V ZR 78/62, in: BGHZ 41, S. 209, 210; Urteil v. 8. April 1988 - V ZR 120/87, in: NJW 1988, S. 2362, 2363. 72 Ich will das Thema der jurisdiktionellen Tradition, die zwischen dem BGH und dem RG besteht, hier aber nicht weiter vertiefen. 73 RG, in: JW 1912, S. 361 f. 74 RG, in: JW 1912, S. 362. 75 RG, in: JW 1912, S. 362.

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Bestellungsanspruch stillschweigend entstanden war. Deshalb war nicht zu prüfen, ob die Umstände die Willensübereinstimmung erzwangen.

IV. Weiterentwicklung 1. Später wurden Stellungnahmen zum Problem selten. Ein mitunter zitiertes Urteil des BGH aus dem Jahre 197476 ist thematisch nicht einschlägig. 1962 meint das OLG Stuttgart, 77 dass die Parteien sich nicht über die Bestellung einer Grunddienstbarkeit hätten absprechen müssen, sondern dass die Beklagten mit dem Erwerb eines plangemäß dienenden Grundstücks ihr Einverständnis zum Abschluss eines auf Bestellung einer Grunddienstbarkeit gerichteten Vertrages kundgetan hätten.78 Bevor das OLG auf die eine Dienstbarkeit erzwingenden Umstände zurückgreifen musste, konnte es den Parteiwillen bestimmen. 2. Das Inkrafttreten des ZGB-DDR am 1.1.1976 stellt keine Zäsur dar. Mitbenutzungsrechte nach § 321 ZGB-DDR bedurften der vertraglichen Vereinbarung. Dauernde Mitbenutzung musste schriftlich vereinbart werden. Die Grundbucheintragung war nicht erforderlich. Hinsichtlich des Bestellungsvertrages sind Mitbenutzungsrechte und Grunddienstbarkeiten derselben Auslegung zugänglich. So konnte (wieder) der V. Zivilsenat des BGH 1999 schließen, dass der Grundsatz der stillschweigenden Bestellung auch in den Geltungsbereich des ZGB-DDR übertragen werden könne. 79 Der BGH zitiert hierfür die Entscheidung des Reichsgerichts von 1912 - die jedenfalls inhaltlich unpassendste aus den vorhandenen neun Entscheidungen - war es doch bei dieser Entscheidung gerade nicht um ein stillschweigendes Entstehen eines Bestellungsanspruches gegangen. Entscheidend für den BGH waren die Umstände, die die Annahme einer Willensübereinstimmung der Parteien bei der Verfügung über das an die Kl. übergehende, herrschende Grundstück als einzig mögliche Vertragsgrundlage geradezu aufzwangen. Es war keine andere vernünftige Willensbildung der Parteien vorstellbar. Vergleichbar ist der Fall daher mit dem des Reichsgerichts von 1891.80 Leider erklärt der BGH nicht, ob er die stillschweigende Bestellung als Auslegungsregel oder als Vertragsergänzung ansehe. Zwar meint er, es ließe sich annehmen, dass die Vertragsparteien des Vertrages (mit dem die

76

BGH, in: NJW 1974, S. 2123 f. OLG Stuttgart, in: ZMR 1965, S. 122 f. 78 OLG Stuttgart, in: ZMR 1965, S. 122, 123. 79 Urteil v. 12. Mai 1999 - V ZR 183/98, in: VIZ 1999, S. 489. Zum Sachverhalt vgl. den Anhang Nr. 6. 80 RG, in: GruchotsBeitr. 35 (1891), S. 1031-1036. 77

Privatautonomie und Bestandsschutz

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Grundstücke in unterschiedliche Hände übergingen) stillschweigend ein Mitbenutzungsrecht vereinbart hätten.81 Dies scheint wohl eher als Anlehnung an die Auslegungstheorie zu verstehen sein - zwingend ist dieser Schluss aber nicht. Wegen der strukturellen Probleme hätte der BGH zweifellos Anlass gehabt, zu verdeutlichen, welche Ansicht er mehr als 80 Jahre nach der letzten Entscheidung des Reichsgerichts zu unserem Problem vertritt und wie er sich eine eventuelle stillschweigende Vereinbarung vorstellt. Unklar ist auch, wie der BGH zur doppelten Kehrtwende des Reichsgerichts zur Eigentümergrunddienstbarkeit steht.

V. Zusammenfassung Willensdogma und Privatautonomie setzten sich erfolgreich gegen den zeitweise favorisierten Bestandsschutz durch. Während sich das Reichsgericht im 19. Jh. der Vertragsergänzungslösung (teilweise gesetzlicher Natur) anschloss und so gemeines und preußisches Recht harmonisierte, wurde diese Lösung (dem ALR folgend) bis 1912 verworfen. Das Reichsgericht hielt jedoch für das französische Recht bis einschließlich 1909 an dessen Sonderlösung fest, ohne diese, was möglich gewesen wäre, argumentativ weiter - z. B. bei der Anerkennung der Eigentümergrunddienstbarkeit - nutzbar zu machen. Der stillschweigende Servitutenerwerb ist demnach eine Auslegungs- und Aus dem Verhalten der Parteien bei Vertragskeine Vertragsergänzungsregel. schluss und aus den Umständen kann in Ausnahmefällen gefolgert werden, dass eine andere Willensbetätigung als die Fortdauer eines Dienstbarkeitsverhältnisses nicht vorstellbar ist: konkludent ist nur ein Verhalten, das keine andere Deutung zulässt, als dass dadurch ein bestimmter Wille kundgetan werden soll. 82 Das einzige Kriterium für den Ausschluss anderer Deutungen ist die reale Unentbehrlichkeit des Dienens eines Grundstückes. Dies lässt sich auch umkehren: Sobald ein übereinstimmender Wille im Veräußerungsvertrag nicht angedeutet ist und eine andere Nutzung als die bestehende vernünftig erscheint, ist die Regel unanwendbar. Dies betrifft vor allem Fälle, in denen die Grundstücke unfreiwillig in verschiedene Hände gelangt sind - insbesondere Enteignungen und Zwangsverkäufen zu Bedingungen, die der Eigentümer nicht beeinflussen konnte.

81

BGH, in: VIZ 1999, S. 489 f. Meisner/Stern/Hodes, Nachbarrecht, § 35 II, S. 480 = Meisner, in: JW 1925, S. 2187, 2188 f; Staudinger/Mayer, § 1018 Rdnr. 17. 82

232

Adrian Schmidt-Recla

VI. Anhang 1. RGZ 13, S. 249 /

(1885): A u f dem Grundstück des Brauereibesitzers E befin-

den sich ein Brunnen und, von diesem entfernt, das Brauhaus mit Pumpe zur Beförderung des Wassers. Die Strecke zwischen Brunnen und Brauhaus ist mit einer Rohrleitung zu überwinden. Diese muss so geführt werden, dass ein in das Brauereigrundstück hineinragendes anderes Grundstück geschnitten wird. E führt die Leitung heimlich unter diesem hindurch. Später erwirbt E auch dieses Grundstück, beide befinden sich in einer Hand. E nutzt das dienende Grundstück zu Zwecken seiner Brauerei, indem er die Leitung belässt. Beide Grundstücke werden an P aufgelassen. Gegen diesen wird die Zwangsversteigerung betrieben und das dienende Grundstück an den Kl. und das herrschende Brauereigrundstück an den Bekl. versteigert und aufgelassen. Als Kl. einen eigenen Brunnen graben will, stößt er auf die Leitung. 2. RG, in: Gruchots

Beitr.

35, S. 1031 f

(1891):

E ist Eigentümer zweier

Grundstücke A und B. A liegt an der öffentlichen Straße, B dahinter - ohne Straßenanschluss. E erbaut auf B einen Zirkus. Er errichtet dazu auf A eine Pflasterstraße inkl. zweier Bürgersteige und unterirdische Leitungsrohre für Wasser und Gas. Damit schließt er den Zirkus an die Straße an. Zirkusgrundstück B wird an den Kl. zwangsversteigert, E bleibt zunächst Eigentümer von A. Später gelangt es an den Bekl. 3. RGZ 49, S. 236, 237 (1901):

E ist Eigentümer zweier Grundstücke C und D,

die ursprünglich Bestandteil eines Gutes waren und später durch Teilung des Gutes entstanden. Aus E's Nachlass ist C durch Zwangsvollstreckung in das Eigentum des Kl. übergegangen, D wurde dem Bekl. aufgelassen. A u f D stehen Fabrikgebäude. Deren Abwasserleitung führt auch über C hinweg. Sie war angelegt worden, als beide Grundstücke noch Bestandteil des Gutes waren. Der Bekl. meint, die Leitung aufgrund einer Grunddienstbarkeit benutzen zu dürfen, der Kl. bestreitet das Entstehen der Dienstbarkeit und hat negative Feststellungsklage erhoben. 4. RGZ 42, S. 158 (1898) und 5. RGZ 65, S. 361 (1907): Der Eigentümer zweier benachbarter Grundstücke baut vor 1896 (RGZ 42) bzw. 1903/04 (RGZ 65) einen Neubau über die gemeinsame Grenze. Der spätere Erwerber des überbauten Grundstücks, der dieses durch Zuschlag in der Zwangsversteigerung erworben hat, meint, er sei nicht verpflichtet, den Überbau zu dulden, ein servitutarisches Verhältnis bestehe nicht. 5. BGH, in: VIZ 1999, S. 489: E ist Eigentümer eines märkischen Seeufergrundstücks (S) und mehrerer angrenzender Nachbargrundstücke. Auf S hat er ein Ferienhaus errichtet, das nur über die Nachbargrundstücke erreicht und erschlossen werden kann. S ist seit 1983 an die Kl. verpachtet, 1990 verkauft und übereignet E es an die Kl. Die Nachbargrundstücke werden 1995 an Dritte verkauft; bevor deren Eintragung im Grundbuch stattfindet, verlangen die Kl. von E die Bewilligung und Eintragung eines Wegeund Durchleitungsrechts.

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht Von Ulrike Rau

Das Reichsarbeitsgericht war die oberste Instanz der im Jahre 1927 neu errichteten Arbeitsgerichtsbarkeit. Seine Entstehung geht auf das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 19261 zurück, welches am 1. Juli 1927 in Kraft trat. Mit diesem Gesetz wurde ein dreistufiger Instanzenzug geschaffen, bestehend aus Arbeitsgerichten, Landesarbeitsgerichten und dem Reichsarbeitsgericht. Bis zum Inkrafttreten des Arbeitsgerichtsgesetzes waren für arbeitsgerichtliche Entscheidungen eine Vielzahl von Stellen zuständig: Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, Innungen, Innungsschiedsgerichte, weitere sondergerichtliche Einrichtungen sowie ordentliche Gerichte. Es bot sich ein Bild stark zersplitterter Zuständigkeiten. Außerdem fehlte eine oberste Instanz, die für Rechtseinheit sorgen konnte. Die Errichtung des Reichsarbeitsgerichts im Jahr 1927 wurde daher als ein denkwürdiges Ereignis gefeiert.

I. Organisation und Aufgaben des Reichsarbeitsgerichts 1. 1927 bis 1932 Um die Organisation der neuen Arbeitsgerichtsbarkeit wurde zuvor heftig gestritten. Es standen sich im wesentlichen zwei Positionen gegenüber: Auf der einen Seite wurde die Eingliederung der Arbeitsgerichtsbarkeit in die ordentliche Gerichtsbarkeit gefordert, auf der anderen Seite die völlige Selbständigkeit der Gerichtsbarkeit. Das Arbeitsgerichtsgesetz bildete eine Kompromißlösung: Die Arbeitsgerichte wurden selbständige Gerichte, die Landesarbeitsgerichte

1

RGBl. I 1926, S. 507. Zur Entstehungsgeschichte: Thomas Bohle, Einheitliches Arbeitsrecht in der Weimarer Republik: Bemühungen um ein deutsches Arbeitsgesetzbuch, Tübingen 1990, S. 89ff; Günter Graf, Das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926: Weimarer Verfassungsvollzug auf justizpolitischen Irrwegen des Kaiserreichs?, Goldbach 1993, S. 146, 147f.; Sabine Hanna Leich/Andre Lundt, Zur Geschichte der Berliner Arbeitsgerichte, in: 60 Jahre Berliner Arbeitsgerichtsbarkeit: 1927-1987, hrsg. vom Gesamtrichterrat der Berliner Gerichte für Arbeitssachen, Berlin 1987, S. 39ff.

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Ulrike Rau

wurden bei dem Landgericht und das Reichsarbeitsgericht bei dem Reichsgericht angesiedelt. Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit erstreckte sich auf individualund kollektivarbeitsrechtliche Streitigkeiten, die sich aus dem Katalog des § 2 ArbGG ergaben. Das Reichsarbeitsgericht entschied über Revisionen gegen Beruflingsurteile der Landesarbeitsgerichte, ausnahmsweise auch gegen Urteile der Arbeitsgerichte erster Instanz im Fall der Sprungrevision. Weiterhin urteilte es über Revisionsbeschwerden sowie über Rechtsbeschwerden in besonderen Fällen. Das Reichsarbeitsgericht sollte Rechtseinheit auf dem Gebiet des Arbeitsrechts gewährleisten. Das Reichsarbeitsgericht setzte sich aus richterlichen und nichtrichterlichen Mitgliedern zusammen. Die richterlichen Mitglieder waren Richter des Reichsgerichts. Von ihnen wurden besondere Kenntnisse und Erfahrungen „auf arbeitsrechtlichem und sozialem Gebiet" verlangt. Ihre Bestellung gehörte zu den Angelegenheiten der Geschäftsverteilung beim Reichsgericht. Als nichtrichterliche Mitglieder wirkten je zur Hälfte Beisitzer aus den Kreisen der Arbeitgeber (Unternehmer) und der Arbeitnehmer (Beschäftigten) mit. Sie wurden vom Reichsarbeitsminister im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Justiz auf die Dauer von drei Jahren berufen. Das Gericht verhandelte mit einem Vorsitzenden, zwei richterlichen Mitgliedern und je einem Beisitzer der Arbeitgeberund der Arbeitnehmerseite. Durch Beschluß des Präsidiums 2 des Reichsgerichts wurde das Reichsarbeitsgericht dem III. Zivilsenat angegliedert. Diese Entscheidung beruhte darauf, daß der III. Zivilsenat bereits das gesamte Recht des Dienstvertrages i. S. d. BGB, des HGB und der Gewerbeordnung zu bearbeiten hatte und daher der sachnächste Senat war. Die Geschäftsstelle des Reichsarbeitsgerichts wurde mit der des III. Zivilsenats verbunden. Infolgedessen war das Reichsarbeitsgericht auch im Gebäude des Reichsgerichts untergebracht. Das Reichsarbeitsgericht bestand bis 1945 aus nur einem Senat. Zum Vorsitzenden dieses Senats wurde Friedrich Oegg bestellt,3 der zugleich als Präsident des III. Zivilsenats fungierte. Auch der Stellvertreter sowie drei weitere Richter wurden dem III. Zivilsenat entnommen.4 Grundsätzlich gehörten die richterli2 Beschluß v. 30. Juni 1927, BArch R 3002, Personalia 664, Bl. 28; auszugsweise mitgeteilt von Ehrlich, DRiZ 1927, S. 285. 3 Vita bei Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts (1927-1945), Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 373; Herrmann August Ludwig Degener (Hrsg.), Wer ist's?, X. Ausgabe, Berlin 1935, S. 1158. 4 Zur personellen Besetzung des RAG: Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 353ff.

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

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chen Mitglieder nicht allein dem Senat des Reichsarbeitsgerichts an, sondern waren zugleich auch einem Zivil- oder Strafsenat beim Reichsgericht - mehrheitlich dem III. Zivilsenat - zugeteilt. Als nichtrichterliche Mitglieder 5 wurden 19 Personen aus den Kreisen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer berufen. Das Reichsarbeitsgericht nahm seine Tätigkeit am 1. Oktober 1927 auf. 6 Seine feierliche Eröffnung fand wegen Terminschwierigkeiten erst am 19. November 1927 statt.7 Unter der damaligen Festgesellschaft fanden sich neben den Mitgliedern des Reichsarbeitsgerichts der Reichsjustizminister Oskar Hergt, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns sowie der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Karl Rothe. Eingeladen waren auch bekannte Vertreter der Arbeitsrechtswissenschaft, nämlich die Mitglieder des arbeitsrechtlichen Instituts der Universität Leipzig, Professor Erwin Jacobi, Professor Lutz Richter und Professor Erich Molitor. Anfänglich war das Reichsarbeitsgericht mit vergleichsweise wenig Revisionen befaßt, da für alte Verfahren die ordentlichen Gerichte zuständig blieben. Bis Ende Dezember 1927 gingen nur 123 Revisionen ein.8 Wegen des geringen Geschäftsanfalls fanden die Sitzungen somit zunächst nur alle zwei Wochen statt. Ab Januar 1928 nahm dann die Geschäftsbelastung zu, so daß monatlich drei bis vier Sitzungen, dann je eine Sitzung in der Woche abgehalten wurden. 9 Der starke Eingang an Revisionen — 1928 waren es 762 — führte schließlich zu einer außerordentlichen Häufung der unerledigten Revisionen. Zwischen Berufungsurteil und Revisionsurteil lagen vier bis fünf und noch mehr Monate. 10 Weil diese Situation der angestrebten Beschleunigung in arbeitsgerichtlichen Verfahren widersprach, wurde schon 1928 die Forderung laut, das Reichsarbeitsgericht auszubauen. Einem Zeitungsbericht zufolge war wegen der Arbeitsbelastung eine Abspaltung des Reichsarbeitsgerichts vom III. Zivilsenat geplant.11 Dieses Vorhaben wurde allerdings nicht umgesetzt. Statt dessen wurde seit November 1928 die Zahl der Sitzungen von wöchentlich ei5

Die Liste ist abgedruckt bei Ehrlich, DRiZ 1927, S. 285. Die erste öffentliche Sitzung des Reichsarbeitsgerichts fand am 26. Oktober 1927 statt, anläßlich derer Senatspräsident Oegg eine Eröffnungsansprache hielt (abgedruckt in DRiZ 1927, S. 440f.). 7 Adolf Lobe, Die äußere Geschichte des Reichsgerichts, in: Adolf Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, Berlin u. Leipzig 1929, S. 1, 16f. Ansprachen sowie Verlauf der Veranstaltung mitgeteilt von Reichert, DRiZ 1927, 485f.; BArch R 3001, 2219. 8 Friedrich Oegg, Das Reichsarbeitsgericht, in: Adolf Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht S. 116, 128; Marc Linder, The Supreme Labor Court in Nazi Germany: a jurisprudential analysis, Frankfurt a. M. 1987, S. 72. 9 Friedrich Oegg, Das Reichsarbeitsgericht, in: Adolf Lobe (Hrsg,), Fünfzig Jahre Reichsgericht, S. 116, 128. 10 Jadesohn, in: Vossische Zeitung v. 12.7.1928. 11 Der Abend, Spätausgabe des „Vorwärts" v. 25.9.1928, Nr. 454. 6

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Ulrike Rau

ner auf zwei erhöht. 12 Im Gegenzug wurde der III. Zivilsenat von einem Teil seiner Geschäfte (Miet- und Pachtsachen) entlastet. Dadurch wurde es möglich, die dem Reichsarbeitsgericht angehörenden Mitglieder des III. Senats verstärkt zu den Sitzungen des Reichsarbeitsgerichts heranzuziehen. 1931 hatte das Reichsarbeitsgericht den höchsten Eingang an Revisionen (982) zu verzeich-

2. 1933 bis 1945 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieb die Arbeitsgerichtsbarkeit in ihrer Form bestehen. Der Wegfall der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften sowie die Umgestaltung des Arbeitsrechts durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 (AOG) 1 4 machten jedoch einige Veränderungen der Arbeitsgerichtsbarkeit notwendig,15 denen durch die Neufassung des ArbGG vom 10. April 193416 Rechnung getragen wurde. Für das Reichsarbeitsgericht ergaben sich vor allem Änderungen bei der Zuständigkeit und der Beisitzerberufung. So entfiel die politisch interessante Zuständigkeit in kollektiven Streitangelegenheiten. Die Vorschläge für die Berufung der Laienbeisitzer zum Reichsarbeitsgericht erfolgten nunmehr durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF), die an die Stelle der Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen getreten war. Die Mitglieder des Reichsarbeitsgerichts wurden nach Abschaffimg des Präsidiums 1937 durch den Präsidenten des Reichsgerichts bestimmt. 17 Von späteren Änderungen, die die Gerichte während des Krieges erfuhren, war das Reichsarbeitsgericht kaum betroffen. Bei der Rechtsprechung waren durchgehend Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeisitzer beteiligt, im Gegensatz zu den Arbeitsgerichten erster Instanz, die seit 1939 ohne Beisitzer entschieden. 18 Auch die Zahl der richterlichen Mitglieder am Reichsarbeitsgericht blieb gleich; im Unterschied zu den Zivilsenaten des Reichsgerichts, die ab 1944 an12 Friedrich Oegg, Das Reichsarbeitsgericht, in: Adolf Lobe (Hrsg,), Fünfzig Jahre Reichsgericht, S. 116, 128. 13 Marc Linder , The Supreme Labor Court in Nazi Germany: a jurisprudential analysis, S. 72. 14 RGBl. I 1934, S. 45. 15 Andreas Kranig , Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983, S. 190, 193ff. 16 RGBl. I 1934, S. 319. 17 Gesetz über die Geschäftsverteilung bei den Gerichten v. 24. November 1937, RGBl. I 1937, S. 1286. 18 Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege v. 1. September 1939, RGBl. I 1939, S. 1658.

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

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statt mit fünf nur noch mit drei Richtern entscheiden mußten. Lediglich die Möglichkeit von Revisionen gegen arbeitsgerichtliche Urteile wurde eingeschränkt. 19 Die Geschäftsbelastung am Reichsarbeitsgericht nahm seit 1933 deutlich ab. 20 Trotz einer stark steigenden Anzahl der Beschäftigten hatte sich die Anzahl eingehender Revisionen zwischen 1932 und 1933 nahezu halbiert. Auch in der Folgezeit gingen die Revisionen zurück. Für diesen starken zahlenmäßigen Rückgang werden in der Literatur verschiedene Gründe ausgemacht.21 Ein Grund ist in der veränderten Arbeitsmarktlage zu sehen. Weiterhin dürfte die DAF zur außergerichtlichen Streitbeilegung beigetragen haben. Arbeitsgerichtsprozesse entsprachen schließlich nicht dem Ideal einer konfliktfreien Betriebsgemeinschaft. Die DAF könnte die Prozeßzahlen auch dadurch verringert haben, daß sie die Gewährung von Rechtsschutz in Fällen versagte, die aus politisch oder sonstigen Gründen unerwünscht waren. 1933 war das Reichsarbeitsgericht auch von personellen Veränderungen betroffen. Bereits im Mai wurde ein Gesetz erlassen, das es ermöglichte, die im Amt befindlichen nichtrichterlichen Beisitzer des Reichsarbeitsgerichts durch andere zu ersetzen. 22 Von den zwölf richterlichen Mitgliedern des Reichsarbeitsgerichts wurden zwei Reichsgerichtsräte entfernt. Einer von ihnen war Reichsgerichtsrat Hermann Großmann, der als Mitglied der SPD offen seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bekundet hatte. Er wurde noch vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mit sofortiger Wirkung in den Ruhestand geschickt. Großmann soll das einzige Mitglied des Reichsgerichts gewesen sein, das wegen seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus aus dem Dienst ausscheiden mußte.23 Vermutlich wurde weiterhin mit Reichsgerichtsrat Curt Citron ein Richter freimosaischer Konfes19

Verordnung über außerordentliche Maßnahmen auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, der bürgerlichen Rechtspflege und des Kostenrechts aus Anlaß des totalen Krieges (Zweite Kriegsmaßnahmenverordnung) v. 27. September 1944, RGBl. I 1944, S. 229. 20 Zur Statistik: Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, S. 202; Marc Linder, The Supreme Labor Court in Nazi Germany: a jurisprudential analysis, S. 72; Statistisches Handbuch von Deutschland, 1928-1944, hrsg. vom Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, München 1949, S. 638. 21 Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, S. 20Iff. 22 Vgl. Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, S. 196. 23 Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Band IV, Berlin 1971, S. 54; Großmann scheint jedoch ab 1937 wieder als Senatspräsident am Reichsgericht tätig gewesen zu sein, vgl. Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 367.

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Ulrike Rau

sion aus dem Dienst entfernt. 24 Von den übrigen richterlichen Mitgliedern des Reichsarbeitsgerichts gehörte bis 1936 keiner der NSDAP an. Aufgrund personeller Veränderungen und durch den Parteieintritt einiger im Amt befindlicher Richter waren 1938 unter den zehn Reichsgerichtsräten sechs Mitglieder der NSDAP. Einer von ihnen hieß Josef Altstötter, 25 der während seiner Tätigkeit am Reichsarbeitsgericht bereits bis zum Hauptsturmfuhrer der SS aufstieg. Senatspräsident Oegg 26 war nie Parteimitglied. Den neuen Verhältnissen stand er jedoch nicht abgeneigt gegenüber. Anläßlich des Deutschen Juristentages in Leipzig am 1. Oktober 1933 hielt Oegg in seiner Eigenschaft als Reichsgerichtsvizepräsident eine Ansprache, in der er versicherte, daß sich das Reichsgericht rückhaltlos zur nationalen Erhebung, zur nationalen Rechtserhebung bekenne.27 Bis zu seinem planmäßigen Ruhestand im Jahr 1937 behielt Oegg den Vorsitz beim Reichsarbeitsgericht. 1940 kehrte er nochmals als stellvertretender Vorsitzender an das Reichsarbeitsgericht zurück. Nachfolger im Amt des Vorsitzenden wurde Senatspräsident Rudolf Hagemann,28 der wie Oegg kein NSDAP-Mitglied war. Erst 1943 wurde mit Senatspräsident Karl Schräder 29 ein Mitglied der Partei zum Vorsitzenden des Reichsarbeitsgerichts ernannt. Das Nachkriegsschicksal der richterlichen Mitglieder ist weitgehend unbekannt. Einige Richter sind während ihres Aufenthaltes in den sowjetischen Vernichtungslagern Mühlberg/Elbe und Buchenwald gestorben. 30 Hans Roppert, der bis zum Kriegsende Mitglied des Reichsarbeitsgerichts war, wurde 1955 aus dem Zuchthaus Waldheim freigelassen. 31 Der bereits erwähnte Josef

24 Curt Citron war bei seiner Versetzung in den Ruhestand am 1.8.1933 erst 55 Jahre alt. Vgl. Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 365. 25 Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, Baden-Baden 1996, S. 220f.; Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 360f. 26 Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 373. 27 Rudolf Schraut (Hrsg.), Deutscher Juristentag 1933, 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen e. V., Berlin 1933, S. 41. 28 Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 367. 29 Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, 376f. 30 August Schaefer, Das große Sterben am Reichsgericht, DRiZ 1957, S. 249, 250. 31 August Schaefer, Das große Sterben am Reichsgericht, DRiZ 1957, S. 249, 250.

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

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Altstötter, der nach seiner Tätigkeit am Reichsarbeitsgericht noch hohe Ränge bei der SS bekleidete, wurde 1947 im Nürnberger Juristen-Prozeß zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Haftentlassung 1951 arbeitete er in Nürnberg als Rechtsanwalt.32 Emil Lersch, Mitglied des Reichsarbeitsgerichts von 1934 bis 1945, war von 1950 bis 1952 Bundesrichter am Bundesgerichtshof. 33 Johannes Denecke, der zwischen 1939 und 1945 Mitglied am Reichsarbeitsgericht war, wirkte von 1954 bis 1956 als Bundesrichter beim Bundesarbeitsgericht. 34

II. Die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Individualarbeitsrechts 1. 1927 bis 1933 Der Vorsitzende des Reichsarbeitsgerichts, Senatspräsident Friedrich Oegg, sah die Aufgabe des Reichsarbeitsgerichts darin, „einheitliche Grundsätze zu entwickeln, die den unteren Instanzen als Richtschnur dienen können und eine gleichmäßige Rechtsanwendung ermöglichen". 35 Er verwies dabei auf die bereits langjährige Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Dienstvertrag. „Leitstern dieser ganzen Rechtsprechung ist stets gewesen, das Gesetz mit den Bedürfnissen des Lebens in Einklang zu bringen. Nicht der Buchstabe soll herrschen, sondern Sinn und Zweck des Gesetzes." Für das Reichsarbeitsgericht gelte es „nicht nur die einzelnen Vorschriften anzuwenden, sondern auch die gemeinsamen Rechtsgedanken herauszuholen und so zugleich - in Fühlung mit der arbeitsrechtlichen Wissenschaft, die schon so wertvolle Arbeit, gerade auch in Leipzig, geleistet hat, - eine sichere Grundlage zu schaffen für ein künftiges einheitliches Arbeitsrecht".

32 Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 361. 33 Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 369f.; Gerda Krüger-Nieland (Hrsg.), 25 Jahre Bundesgerichtshof, München 1975, S. 361. 34 Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 366; Hartmut Oetker u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, München 2004, S. 1410; Franz Gamillscheg u.a (Hrsg.), 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, München 1979, S. 773. 35 Eröffnungsrede zur ersten öffentlichen Sitzung des RAG am 26.10.1927, abgedruckt in DRiZ 1927, S. 440, 441; vgl. auch die Rede zur feierlichen Eröffnung des Reichsarbeitsgerichts am 19.11.1927, abgedruckt in DRiZ 1927, S. 486.

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In so beschriebener Weise entschied das Reichsarbeitsgericht beispielsweise über das Betriebsrisiko, welches die Frage betrifft, ob der Arbeitgeber zur Lohnzahlung verpflichtet ist, wenn er die arbeitswilligen Arbeitnehmer aufgrund einer Betriebsstörung nicht beschäftigen kann. Bereits der III. Zivilsenat des Reichsgerichts hatte in der berühmten Teilstreik-Entscheidung von 1923 36 eine von den bürgerlichrechtlichen Vorschriften abweichende Risikoaufteilung vertreten. Diese Rechtsprechung wurde vom Reichsarbeitsgericht aufgegriffen und fortentwickelt. 37 Das Reichsarbeitsgericht war der Ansicht, daß „die Lösung dieser Frage nicht allein und auch nicht in erster Linie aus den §§ 323 und 615 BGB., sondern aus dem modernen Arbeitsrecht und den modernen Arbeitsverhältnissen zu entnehmen ist. Der zur Zeit der Entstehung des BGB. für Dienstverhältnisse maßgebend gewesene individualistische Standpunkt kann für die heutige Zeit nicht mehr die Bedeutung beanspruchen, die er damals gehabt hat, da inzwischen der Gedanke der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Gesetzgebung anerkannt und festgelegt worden ist ... Das gemeinsame Zusammenwirken von Unternehmer und Arbeiterschaft bildet heute die Grundlage des Betriebes ..." 38 Von diesem Gedanken geleitet entwickelte das Reichsarbeitsgericht die sog. Sphärentheorie. Demnach hatte jeder Teil nicht nur sein Verschulden zu vertreten, „sondern auch alles, was in den Kreis der von ihm zu tragenden Gefahr fällt. 39 Ob diese dem einen oder beiden Teilen zur Last zu legen ist, wird in letzter Linie ... aus § 242 BGB. zu entscheiden sein." Zwischen 1927 und 1933 nahm das Reichsarbeitsgericht maßgeblich an der Fortentwicklung des Arbeitsrechts teil. Dagegen hatte der Gesetzgeber die in Art. 157 WRV vorgesehene Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts nicht verwirklichen können. Das Gericht verschaffte sich - trotz vieler Kritik im einzelnen - allgemeine Anerkennung, vor allem auch in der Arbeitnehmerschaft. 40 In der arbeitsrechtlichen Literatur stieß die Rechsprechung des Reichsarbeitsgerichts auf großes Interesse, wie die viel zitierten Monographien von Otto KahnFreund 41 und Franz Neumann 42 belegen. Das Reichsarbeitsgericht selbst ließ

36

Urt. des III. Zivilsenats v. 6.2.1923, RGZ 106, S. 272. RAG, Urt. v. 20.6.1928, Bensheimer Sammlung 3, S. 116. 38 RAG, Bensheimer Sammlung 3, S. 116, 120. 39 RAG, Bensheimer Sammlung 3, S. 116, 121. 40 Andreas Kranig , Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, S. 208f.; Franz Neumann, Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Berlin 1929, S. 36. 41 Otto Kahn-Freund , Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, Mannheim u. a. 1931. 42 Franz Neumann, Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Berlin 11929. 37

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

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dagegen eine genügende Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Schrifttum vermissen. 43

2. 1933 bis 1945 Nach 1933 fand die Fortschreibung des Individualarbeitsrechts zum großen Teil wieder in der Rechtsprechung statt. 44 In den Mittelpunkt der Auslegung rückte das im Jahr 1934 verabschiedete Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG). Dieses Gesetz formulierte die obersten Grundsätze der nationalsozialistischen Arbeitsordnung: den Gemeinschaftsgedanken, das Führerprinzip, die Wertung jeder Arbeit als Dienst an Volk und Staat sowie die wechselseitige Treue- und Fürsorgepflicht zwischen Betriebsführer und Gefolgschaft. Der Fortführung der bisherigen Rechtsprechung standen diese Vorschriften nicht zwingend entgegen. Insbesondere die „Treue- und Fürsorgepflicht" und die „soziale Arbeits- und Betriebsgemeinschaft" knüpften an Ideen aus der Weimarer Zeit an. 45 Senatspräsident Oegg legte in seiner bereits erwähnten Rede anläßlich des Deutschen Juristentages 1933 dar, daß besonders das Reichsarbeitsgericht mit der Entwicklung des Gedankens der Betriebsgemeinschaft der Gemeinschaftsidee gerecht zu werden suchte.46 Auch Reichsgerichtsrat Friedrich Brodführer schrieb 1935 in einem Aufsatz über „Die nationalsozialistischen Gedanken in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts" 4 7 : „Dieser Geist ist nicht in allen Stücken neu. Er knüpft vielfach bewußt an altes verschüttetes durch die vorangegangene Herrschaft liberalistischindividualistischer Auffassungen unterdrücktes Gedankengut an und bringt es zu lebendiger Geltung. So manche Gedanken, die jetzt,amtliche 4 Anerkennung gefunden haben, sind schon bisher vom Reichsarbeitsgericht vertreten worden. Seine neueren Entscheidungen setzen hier nur den schon seither begangenen Weg mit den durch den Sieg des Nationalsozialismus gewonnenen neuen Stützen fort." 48

43

Jadesohn, in: Vossische Zeitung v. 12. Juli 1928. Theo Mayer-Maly, Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, in: Ausgewählte Schriften zum Arbeitsrecht, Wien u. a. 1991 (= RdA 1989, S. 233), S. 111, 122. 45 Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, S. 193; vgl. auch Theo Mayer-Maly, Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, S. 111, 120f.; Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis. Während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 320ff. 46 Rudolf Schraut (Hrsg.), Deutscher Juristentag 1933, S. 40. 47 Friedrich Brodführer, Die nationalsozialistischen Gedanken in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, DAR 1935, S. 281. 48 Friedrich Brodführer, Die nationalsozialistischen Gedanken in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, DAR 1935, S. 281, 282. 44

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a) Das Arbeitsverhältnis Unter der Geltung des AOG wandelte sich die Auffassung des Reichsarbeitsgerichts über das Wesen des Arbeitsverhältnisses, welches nicht mehr als schuldrechtliches Austauschverhältnis, sondern als ein vorwiegend durch Treue- und Fürsorgepflicht geprägtes personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis verstanden wurde. 49

b) Das Betriebsrisiko Ebenso rückte das Reichsarbeitsgericht 50 in der Frage des Betriebsrisikos von seiner Rechtsprechung ab, da die Bildung von Gefahrenkreisen, wie sie der Sphärentheorie der bisherigen Rechsprechung zugrunde lag, mit der „Anschauung über das Arbeitsverhältnis als ein zwischen dem Unternehmer und den Gefolgschaftsmitgliedern bestehendes, durch das Band der Treue und Fürsorge zusammengeschlossenes Gemeinschaftsverhältnis" 51 nicht mehr vereinbar war. Aus der umfassenden Entscheidungsbefugnis und der Fürsorgepflicht des Unternehmers leitete das Reichsarbeitsgericht vielmehr ab, daß grundsätzlich der Unternehmer allein das Betriebsrisiko zu tragen habe. Allerdings könnten besondere Umstände, insbesondere eine Gefährdung des Bestandes des Betriebes die Gefolgschaftsmitglieder verpflichten, auf ihr Arbeitsentgelt ganz oder teilweise zu verzichten. 52 Diese Beschränkung sollte jedoch nicht im Verhältnis zwischen „arischen Gefolgschaftsangehörigen" zu ihrem Jüdischen Unternehmer" gelten; dieser hatte nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts die aus der Betriebsgefahr fließenden nachteiligen Rechtsfolgen allein zu tragen. 53

49 RAG, Urt. v. 19.1.1938, ARS 33, S. 172, 175f.; RAG, Urt. v. 23.3.1935, ARS 23, S. 170, 173; RAG, Urt. v. 13.9.1939, ARS 37, S. 230, 236; vgl. auch Alfred Hueck/ Hans Carl Nipperdey/ Rolf Dietz , Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, Kommentar, 3. Auflage, München u. Berlin 1943, § 2 Rn. 16f. 50 RAG, Urt. v. 26.11.1940, ARS 41, S. 43. Das Reichsarbeitsgericht hatte bereits in früheren Entscheidungen die Frage aufgeworfen, ob an den entwickelten Grundsätzen festzuhalten ist, eine Stellungnahme jedoch vermieden und zunächst die bisherigen Grundsätze fortgeführt (RAG, Urt. v. 27.3.1935, ARS 23, S. 219, 226; RAG, Urt. v. 12.6.1940, ARS 39, S. 407,410). 51 RAG, ARS 41, S. 43,49. 52 RAG, ARS 41, S. 43,50. 53 RAG, Urt. v. 16.9.1941, ARS 43, S. 167, 171. Das Gericht entschied hier über die Lohnansprüche des „arischen Personals" gegen den Jüdischen Inhaber" einer in der Reichskristallnacht zerstörten Gastwirtschaft.

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

c) Der arbeitsrechtliche

243

Gleichbehandlungsgrundsatz

Während in der Weimarer Zeit für einen Anspruch auf Pensionen oder Gratifikationen zumindest eine stillschweigende Vereinbarung gefordert wurde, erkannte das Reichsarbeitsgericht nunmehr den Anspruch auch aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes an. 54 Der Gleichbehandlungsgrundsatz galt im Nationalsozialismus als „notwendiges Gebot der Betriebsgemeinschaft, wenn in ihr der Geist wahrer und wirklicher Gemeinschaft herrschen soll" 5 5 . Das Reichsarbeitsgericht stützte den Anspruch auf die „konkrete Ordnung des Betriebs" 56 , die es als eine Art betriebliches Gewohnheitsrecht verstand. Bei regelmäßiger Gewährung bestimmter Leistungen sollte das Recht des Arbeitnehmers auf Gleichbehandlung sich daraus ergeben, daß „aus dem Gemeinschaftsleben im einzelnen Betriebe, aus der darin wurzelnden gegenseitigen Treue- und Fürsorgepflicht des Betriebsführers bereits konkrete Ordnungen erwachsen sind, mögen sie sich auch nur in einer feststehenden tatsächlichen Handhabung äußern, ohne die Gestalt bestimmter Einrichtungen oder geschriebener Satzungen angenommen zu haben" 57 .

d) Die Haftungserleichterung

für Arbeitnehmer

Bemerkenswert ist weiterhin die Entwicklung der Rechtsprechung zur Haftung eines Arbeitnehmers bei gefahrgeneigter Arbeit. Den Gedanken der Haftungserleichterung griff das Reichsarbeitsgericht erstmals 1937 auf, als es über die Schadensersatzpflicht eines Zivilkraftfahrzeugfahrers der Wehrmacht zu befinden hatte.58 Nach Auffassung des Reichsarbeitsgericht seien die Umstände des Falles entscheidend, insbesondere die Höhe der Vergütung des Angestellten, die Schwierigkeit des Dienstes und die Größe der dadurch begründeten Gefahr, durch eine leichte Unachtsamkeit ersatzpflichtig zu werden. Wenn dem Angestellten eine Verrichtung zugewiesen werde, die eine Gefährdung anderer 54

Grundlegend RAG, Urt. v. 19.1.1938, ARS 33, S. 172 (Ruhegeld); weiterhin RAG, Urt. v. 23.11.1938, ARS 35, S. 101; RAG, Urt. v. 29.3.1939, ARS 36, S. 12; RAG, Urt. v. 12.11.1943, ARS 47, S. 112. Weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei Alfred Hueck/ Hans Carl Nipperdey/ Rolf Dietz, Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, § 2 Rn. 17aa, 17baf; Alfred Hueck/Hans Carl Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Auflage, Mannheim u. a. 1959, 1. Band, § 48 Fn. 100. 55 Alfred Hueck/ Hans Carl Nipperdey/ Rolf Dietz, Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, § 2 Rn. 17aa. 56 Zur „konkreten Ordnung des Betriebs" in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts vgl. Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung: zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 5. Auflage, Heidelberg 1997, S. 397f. 57 RAG, ARS 33, S. 172, 176. 58 RAG, Urt. v. 12.6.1937, ARS 30, S. 3.

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mit sich bringt und nicht zu vermeiden ist, die sie auch in ganz besonderer Weise der Gefahr aussetzt, durch leichtes Verschulden anderen oder der Wehrmacht Schaden zuzufügen, so könne es nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte unter Umständen unbillig erscheinen, sie für den bei solchen Anlässen verursachten Schaden auf Ersatz in Anspruch zu nehmen. 59 Auch in einer weiteren Entscheidung meinte das Gericht, die Inanspruchnahme eines Angestellten durch den Dienstherrn bei leichter Fahrlässigkeit könne gegen Treu und Glauben verstoßen; dem Angestellten stehe dann die Einrede der unrichtigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) zu. 60 In späterer Zeit leitete das Reichsgericht den Grundsatz der Haftungserleichterung aus dem Treueund Fürsorgegedanken her. 61 Das Reichsarbeitsgericht legte zunächst dar, daß die Eigenart gewisser Dienste es mit sich bringe, daß auch einem gewissenhaften Dienstverpflichteten Fehlgriffe unterlaufen, die zwar für sich allein betrachtet jedesmal vermeidbar seien, mit denen aber angesichts der menschlichen Unzulänglichkeit erfahrungsgemäß gerechnet werde. 62 Zwar könne die Treue- und Fürsorgepflicht des Betriebsführers nicht schon als solche die Quelle für besondere Ansprüche des Gefolgsmannes sein, sondern erst die Verknüpfung mit bestimmten Notwendigkeiten, welche sich aus der konkreten Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ergäben. 63 Der Arbeitgeber könne dem angestellten Kraftfahrer den Schutz nicht verweigern, da die auf praktisch unvermeidbaren leichten Versehen beruhenden Schadensfälle eine seinem Betrieb eigentümliche Gefahr bilden, deren Risiko er unmöglich auf seinen Angestellten allein abwälzen könne. Vom Standpunkt des „gegenseitigen Treueverhältnisses" aus müsse der Haftungsgrundsatz des § 276 BGB durchbrochen werden.

e) Die außerordentliche

Kündigung von Arbeitnehmern

In einer Vielzahl von Entscheidungen hatte sich das Reichsarbeitsgericht mit politisch motivierten Kündigungen zu beschäftigen. Den betroffenen Arbeitnehmern stand der Rechtsweg dabei nur mit Einschränkungen offen. War eine Kündigung nicht auf § 626 BGB, sondern auf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums gestützt, fand eine Nachprüfung durch die Gerichte

59

RAG, Urt. v. 12.6.1937, ARS 30, S. 3, 6. RAG, Urt. v. 23.11.1938, ARS 34, S. 358, 360. 61 RAG, Urt. v. 18.12.1940, ARS 41, S. 55, 60; RAG, Urt. v. 14.1.1941, ARS 41, S. 259, 264. Vgl. Alfred Hueck/ Hans Carl Nipperdey/ Rolf Dietz, Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, § 2 Rn. 26. 62 RAG, Urt. v. 18.12.1940, ARS 41, S. 55, 58. 63 RAG, Urt. v. 18.12.1940, ARS 41, S. 55, 60. 60

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grundsätzlich nicht statt. 64 Im Falle der Kündigung eines Jüdischen" Arbeitnehmers war es weiterhin ab 1941 generell ausgeschlossen, eine Revisionsentscheidung herbeizuführen. 65 Den „wichtigen Grund" als wichtigste Voraussetzung einer außerordentlichen Kündigung umschrieb das Reichsarbeitsgericht seit 1927 wie folgt: „Ein wichtiger Grund liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Reichsarbeitsgerichts vor, wenn Umstände vorliegen, die nach verständigem Ermessen dem einen oder anderen Teil die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht mehr zumutbar erscheinen lassen, da durch sie das Interesse des einen Teils in unbilliger Weise geschädigt würde. Ist dies der Fall, so ist die fristlose Kündigung auch dann berechtigt, wenn ein Verschulden einer Partei nicht vorliegt." 66 Nach Auffassung des Reichsarbeitsgerichts konnte staatsfeindliche Einstellung einen wichtigen Grund zur fristlosen Entlassung abgeben. 1937 bestätigte das Reichsarbeitsgericht die fristlose Entlassung eines Angestellten der Industrie- und Handelskammer Leipzig. 67 Dieser hatte bei der Versammlung der Gefolgschaft zum 2. Jahrestag der Machtergreifung eine lässige Körperhaltung eingenommen, beim Horst-Wessel-Lied statt des rechten den linken Arm erhoben und nach einer Zurredestellung seine Ablehnung gegenüber dem Staat geäußert. Weiterhin sprach das Reichsarbeitsgericht wiederholt aus, daß die „Weigerung eines Angestellten, sich am Winterhilfswerk zu beteiligen, trotz der grundsätzlichen Freiwilligkeit einer Beteiligung je nach den Umständen des Einzelfalles ... einen wichtigen Grund" zur fristlosen Kündigung abgeben könne. 68 1940 entschied das Reichsarbeitsgericht über den Fall eines leitenden Angestellten, dem 1938 gekündigt wurde, nachdem bekannt geworden war, daß er Einkäufe seiner Ehefrau in jüdischen Geschäften geduldet hatte. Das Reichsarbeitsgericht meinte, ein leitender Angestellter habe in dienstlicher und außerdienstlicher Hinsicht eine für die ihm unterstellten Dienstverpflichteten vorbild-

64 § 5 V 1 Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums v. 4. Mai 1933 (RGBl. I 1933, S. 233). Vgl. Theo Mayer-Maly, Die Arbeitsgerichtsbarkeit und der Nationalsozialismus, in: Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes, Neuwied u. a. 1994, S. 89, 91 f. 65 § 10 Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Beschäftigung von Juden v. 31. Oktober 1941, RGBl. I 1941, S. 681. 66 Vgl. Michaela Thiele, Die Auflösung von Arbeitsverhältnissen aufgrund Anfechtung und außerordentlicher Kündigung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, S. 135 Fn. 294. 67 RAG, Urt. v. 26.5.1937, ARS 30, S. 127. 68 So RAG, Urt. v. 27.11.1942, ARS 46, S. 24, 29; siehe auch RAG, Urt. v. 27.10.1937, ARS 31, S. 229; RAG, Urt. v. 15.6.1938, ARS 34, S. 205.

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liehe Haltung zu zeigen. 69 Gute fachliche Arbeit allein genüge zumal in dem vom Nationalsozialismus beherrschten Deutschland nicht. Erforderlich sei auch die richtige Einstellung zur nationalsozialistischen Idee und jedenfalls das ernste Bemühen danach. Das Gericht verwies dabei auf den Rassegedanken und die Forderung, nicht in jüdischen Geschäften und Kaufhäusern zu kaufen. Mit Recht habe das Berufungsgericht von einem Mann in leitender Stellung verlangt, in dieser Richtung auf seine Familienangehörigen einzuwirken. Das Reichsarbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, daß das Bekanntwerden der Einkäufe der Ehefrau und deren Duldung eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Betriebsführung unmöglich machen mußte. Auch über Kündigungen wegen „jüdischer" Abstammung hatte das Reichsarbeitsgericht zu befinden. Die nichtarische Abstammung eines Arbeitnehmers stellte in der Privatwirtschaft anfänglich nicht ohne weiteres einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung dar. Vielmehr sollte es auf die Umstände des Einzelfalls ankommen, insbesondere, ob bei einer Weiterbeschäftigung wirtschaftliche Nachteile zu befürchten waren. 70 In der Rechsprechung zeigt sich jedoch deutlich die Tendenz, in Anlehnung an die politischen Entwicklungen die Rechtslage Jüdischer" Arbeitnehmer zu verschlechtern. 71 Seit 193872 wurde die Frage des wichtigen Grundes einer außerordentlichen Kündigung nicht mehr danach beurteilt, welche schädlichen Folgen die Weiterbeschäftigung für den Arbeitgeber haben konnte. Vielmehr sollte von nun an den rassepolitischen Anschauungen des Nationalsozialismus' ein viel stärkeres Gewicht beigemessen werden.

I I I . Schluß Das Reichsarbeitsgericht war stets bemüht, das unvollständig geregelte Arbeitsrecht auf der Grundlage von Generalklauseln wie Treu und Glauben (§ 242 BGB) weiter zu entwickeln. Der erklärte Zielgedanke des Reichsarbeitsgerichts war es, das Gesetz mit den Bedürfnissen des Lebens in Einklang zu bringen. Als Folge einer gemeinschaftsorientierten Interpretation des Betriebslebens sah das Reichsarbeitsgericht im Arbeitsverhältnis eine soziale Arbeits- und Be-

69 RAG, Urt. v. 23.1.1940, ARS 38, S. 226, 231f. Vgl. auch RAG, Urt. v. 22.9.1937, ARS 31, S. 125. 70 RAG, Urt. v. 28.10.1933, ARS 19, S. 207, 208; RAG, Urt. v. 25.11.1933, ARS 19, S. 214. 71 Vgl. Theo Mayer-Maly, Die Arbeitsgerichtsbarkeit und der Nationalsozialismus, in: Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes, S. 89, 95ff. RAG, Urt. . . 1 9 , ARS , S. , 6.

Das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht

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triebsgemeinschaft und knüpfte damit an die Rechtsprechung des Reichsgerichts an. Später führte die besondere Hervorhebung der Treue- und Fürsorgepflichten zur Auffassung vom personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis. Ausgehend von diesen Wertungen fand das Reichsarbeitsgericht die Lösung der Frage des Betriebsrisikos außerhalb der Leistungsstörungsregelungen des BGB. Das Reichsarbeitsgericht prägte weiterhin den flexiblen Begriff der „konkreten Betriebsordnung", mit dem Ansprüche wie der auf arbeitsrechtliche Gleichbehandlung begründet wurden. Die starke Betonung von Treu und Glauben sowie offene Tatbestände wie § 626 BGB waren es schließlich, die der nationalsozialistischen Ideenlehre auch im Rahmen der Entscheidungen zur außerordentlichen Kündigung zum Durchbruch verhalfen.

Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg Von Kai Müller

Am 4. Juni 1921 fand im vollbesetzten Großen Sitzungssaal des Reichsgerichts der fünfte Prozess gegen mutmaßliche deutsche Kriegsverbrecher des Ersten Weltkrieges statt. Nach nur zweistündiger Verhandlung wurde der deutsche Kapitänleutnant a. D. Karl Neumann vom zweiten Strafsenat vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung mit Überlegung (§211 RStGB) an sechs Menschen freigesprochen. Die Hauptverhandlung hatte ergeben, dass Neumann als Kommandant des Unterseebootes UC 67 am 26. Mai 1917 im Mittelmeer das britische Lazarettschiff „Dover Castle" torpediert und versenkt hatte, wobei sechs Besatzungsmitglieder ums Leben gekommen waren. Nach Ansicht des Reichsgerichts hatte Neumann einen für ihn bindenden Befehl der deutschen Seekriegsleitung vom März 1917 befolgt, wonach im Sperrgebiet des Mittelmeeres ab dem 8. April 1917 jedes nicht mindestens sechs Wochen zuvor angemeldete Lazarettschiff anzugreifen war, weil der Verdacht des Missbrauchs zu militärischen Zwecken bestand. Da der Kommandant den Befehl für rechtmäßig hielt so das Reichgericht weiter - könne nur der befehlende Vorgesetzte verantwortlich gemacht werden. Die ungewöhnliche und wohl bis dahin einmalige Konstellation, dass die Sieger des Krieges den Unterlegenen die Aburteilung ihrer eigenen Kriegsverbrechen überließen, war ein Kompromiss, dem ein zähes Ringen um die Auslieferung der mutmaßlichen deutschen Kriegsverbrecher an die alliierten Siegermächte zur Aburteilung vorausgegangen war und an deren Ende die Kriegsverbrecherverfahren vor dem Reichsgericht standen.

I. Entstehung und Ausgestaltung der reichsgerichtlichen Zuständigkeit Der von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges aufgesetzte Versailler Vertrag enthielt in Teil VII, Art. 227-230 Strafbestimmungen 1, die Wilhelm II. 1 Zur Entstehung der Strafbestimmungen des Versailler Vertrages Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, 1982, S. 71 ff.

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und andere der Kriegsverbrechen beschuldigte Deutsche unter Anklage stellten und zur Aburteilung Wilhelms II. einen internationalen Gerichtshof einsetzten sowie hinsichtlich der weiteren Kriegsverbrecher die deutsche Regierung verpflichteten, diese - auf Antrag der jeweiligen alliierten Macht - zur Aburteilung vor einem Militärgericht auszuliefern. Die deutsche Regierung war der Auffassung, dass die Beamtenschaft und insbesondere das Militär sich weigern würden, an der Auslieferung der mutmaßlichen Kriegsverbrecher mitzuwirken. Hinsichtlich des Militärs bestehe sogar die Gefahr einer möglichen Machtergreifung. Ein vollständiger Verzicht der Siegermächte auf die Aburteilung der deutschen Kriegsverbrecher war jedoch unrealistisch. Die deutsche Regierung versuchte daher, die Siegermächte unter Hinweis auf die mit einer Auslieferung verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren von einem Verzicht auf die Durchführung derselben bei gleichzeitiger Verfolgung der deutschen Kriegsverbrechen durch die deutsche Strafgerichtsbarkeit zu überzeugen.2 Zum Zeichen der Ernsthaftigkeit der deutschen Vorschläge wurde ein „Entwurf eines Gesetzes zur Aburteilung der während des Krieges im Auslande begangenen Straftaten" beschlossen. Für die Aburteilung sollte ein Senat des Reichsgerichts zuständig sein. Um den Alliierten eine Brücke für den Verzicht auf die Auslieferung zu bauen, schrieb der Entwurf die Mitwirkung der jeweils betroffenen Siegermacht fest. 3 Die zuvor im Kabinett diskutierte Möglichkeit einer Berufung an ein internationales Gericht oder die Aburteilung durch ein „gemischtes" Gericht 4 fanden in den Entwurf keinen Eingang. Man beabsichtigte offensichtlich, die Siegermächte nur soweit als notwendig an den Verfahren zu beteiligen und die gerichtliche Entscheidung ausschließlich in die Hände deutscher Richter zu legen. § 1 des Gesetzes, welches am 23. Dezember 1919 in Kraft trat, 5 begründete die ausschließliche Zuständigkeit des Reichsgerichts „bei Verbrechen oder Vergehen, die ein Deutscher im In- und Ausland während des Krieges bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat". Dabei war der Oberreichsanwalt nach § 2 verpflichtet, die Taten auch bei Begehung im Ausland zu verfolgen, sofern sie dort mit Strafe bedroht waren. Anzuwenden war stets deutsches Recht. Die Begründung des Gesetzentwurfs betonte die unter dem außenpolitischen Druck der Siegermächte entstandene Verpflichtung Deutschlands zur Verfol-

2 Hierzu ausfuhrlich Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 258 f f 3 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Reichsministeriums vom 8. Dezember 1919, BArch, R 43 I Nr. 340, Bl. 121. 4 BArch, R 43 I Nr. 340, Bl. 56. 5 RGBl. 1919, S. 2125.

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gung und Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher. Eine freiwillige deutsche Bereitschaft zur Verfolgung und Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher 6 sowie eine naheliegende Bezugnahme auf Art. 228 des Versailler Vertrages fand sich an keiner Stelle. Die ausschließliche Zuständigkeit des Oberreichsanwalts und des Reichsgerichts wurde mit der großen Bedeutung der Angelegenheit für die Beziehungen zum Ausland und mit dem „hohen Ansehen, welches das höchste deutsche Gericht in allen Kulturstaaten genießt", begründet.7 Zuständig für das Hauptverfahren war der 2. Strafsenat des Reichsgerichts 8 unter Vorsitz des Senatspräsidenten Schmidt. Die aufgrund der erst- und letztinstanzlichen Zuständigkeit des Reichsgerichts in Hoch- und Landesverratssachen (§ 136 GVG) bekannten Probleme, die in Anbetracht der hauptsächlich revisionsrechtlichen Tätigkeit des Reichsgerichts mit einer tatrichterliche Qualitäten erfordernden erstinstanzlichen Zuständigkeit verbunden waren, 9 sollten offenbar zugunsten des „hohen Ansehens" des Reichsgerichts bei den Siegermächten in Kauf genommen werden. Eine effiziente Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechern war bei der normierten Zuständigkeit nur eines Strafsenats für die Hauptverhandlung in Anbetracht der hohen Zahl drohender Verfahren kaum zu bewältigen. Das Gesetz war aus der Notlage einer drohenden zwangsweisen Auslieferung der mutmaßlichen deutschen Kriegsverbrecher zur Verhinderung derselben geboren und insoweit ein außenpolitisches Instrument der deutschen Regierung zur Lösung der Auslieferungsfrage. Eine tatsächliche Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechern wurde als ein notwendiges Übel in Kauf genommen, eine effiziente und möglichst vollständige Verfolgung und Aburteilung jedoch nicht geplant. Die Antwort der Siegermächte bestand zunächst in der Übergabe einer Auslieferungsliste, die etwa 900 Namen deutscher Staatsangehöriger enthielt. 10 Hierunter befanden sich mehrere Angehörige deutscher Herrscherhäuser, die im Weltkrieg als Truppenkommandeure eingesetzt waren, wie beispielsweise Kronprinz Wilhelm und Kronprinz Rupprecht von Bayern. Die namhaftesten 6 So auch Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 279. 7 Reichsrats-Drs. Nr. 270 vom 09.12.1919. 8 Der 1. Strafsenat war gem. § 138 i. V. m. § 72 Abs. 1 GVG für das Vorverfahren zuständig. Insgesamt bestanden seit April 1921 sechs Strafsenate. Im Jahre 1923 wurden zwei Strafsenate wieder aufgelöst. 9 Hierzu Kai Müller, Der Hüter des Rechts, 1997, S. 56 ff. Diese Probleme erkannte vor Beginn der Prozesse auch der Oberlandesgerichtsrat und spätere Reichsanwalt Albert Feisenberger, Die Verfolgung der Kriegsverbrechen und -vergehen, DJZ 1920, Sp. 20 ff. 10 Die Auslieferungslisten finden sich in BArch, R 3001/7691.

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Befehlshaber auf der Liste waren die Feldmarschalle Bülow, Hindenburg und Mackensen, General Ludendorff sowie Großadmiral Tirpitz. Eine Auslieferung wurde jedoch zunächst nicht gefordert. 11 Schließlich erklärten sich die Siegermächte mit der Durchführung von Kriegsverbrecherverfahren vor dem Reichsgericht einverstanden und verzichteten gleichzeitig auf jegliche Einflussnahme bei der Durchfuhrung der Verfahren, behielten sich dabei jedoch die Rechte aus Art. 228-230 des Friedensvertrages für den Fall einer „(un)gerechten Sühne" vor. 12 Dieser vorläufige Verzicht - der im Ergebnis ein endgültiger sein sollte war ein zwischen den Siegermächten nach langen Verhandlungen gefundener Kompromiss, der ihrer Befürchtung eines Sturzes der demokratischen deutschen Regierung i m Falle einer Auslieferung der Kriegsverbrecher Rechnung trug. Ebenso wie die Siegermächte die Undurchfuhrbarkeit der Auslieferung einsahen, erkannten sie auch, dass es Deutschland nicht möglich war, die in der Auslieferungsliste genannten namhaften Fürsten und Militärs vor ein deutsches Gericht zu stellen. Man einigte sich innerhalb der Alliierten auf eine neue Liste, die ausschließlich Namen von Offizieren und Soldaten enthielt, denen eindeutig strafwürdige Verbrechen zur Last gelegt wurden. Auf politisch motivierte oder juristisch strittige Beschuldigungen, wie beispielsweise die nach britischer Ansicht völkerrechtswidrige U-Bootkriegsfuhrung der deutschen Admiralität, wurde verzichtet. 13 Diese so genannte „Erste Liste" wurde der deutschen Regierung am 7. Mai 1920 übergeben. Es handelte sich um eine Probeliste, mit der die Siegermächte die Ernsthaftigkeit der Strafverfolgung durch die deutsche Justiz testen wollten. Sie enthielt insgesamt 46 Namen deutscher Offiziere und Soldaten. Hierunter befand sich keiner der noch auf der Auslieferungsliste vorhandenen namhaften Befehlshaber wie Hindenburg und Tirpitz. An Nr. 1 der Liste stand der Kommandant des Unterseebootes 86, Oberleutnant Helmut Patzig. Daneben befanden sich noch drei weitere U-Bootkommandanten auf der Liste. Einschließlich Patzig wurden drei von der britischen Regierung der Versenkung britischer Lazarettschiffe und einer von der italienischen Regierung der Torpedierung italienischer Schiffe beschuldigt. Ein Großteil der Beschuldigungen - insgesamt siebzehn - richtete sich gegen Kommandeure, Offiziere und Soldaten von Ge-

11 Abgedruckt in: Stenographische Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 341, S. 2390. 12 Stenographische Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 341, S. 2391 f. Die Note ist der deutschen Regierung unter dem 17. Februar 1920 übergeben worden. Zur Reaktion in Deutschland Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 316 ff. 13 Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 322 ff.

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fangenenlagern wegen unmenschlicher Behandlung bzw. Misshandlung und Tötung alliierter Kriegsgefangener. Die übrigen Beschuldigungen betrafen hauptsächlich Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung in Form der Erschießung von Zivilpersonen und des Inbrandsetzens von Gebäuden sowie Plünderun_

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gen. Im Ergebnis hatten die Siegermächte ihre ursprüngliche Absicht der Aburteilung aller, zumindest aber möglichst vieler deutscher Kriegsverbrecher durch alliierte Gerichte aus wirtschaftlichen und politischen Interessen aufgegeben und sich mit einer Verurteilung nur einiger weniger - in Anbetracht der Namen der Auslieferungsliste unbedeutender - Militärs durch ein deutsches Gericht zufriedengegeben. Der deutsche Preis für den Verzicht der Siegermächte auf die Auslieferung war das Ergänzungsgesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, 15 welches am 27. März 1920 in Kraft trat. 16 Das Ergänzungsgesetz erfasste nur Verfahren, die durch alliierte Beschuldigungen zustande gekommen waren (Art. 1). § 1 regelte das Vorverfahren neu: Er wies den Oberreichsanwalt für den Fall mangelnden Anlasses zur Erhebung der Klage an, unter Aktenvorlage die Einstellung des Verfahrens bei dem 1. Strafsenat zu beantragen. Der Einstellungsbeschluss des Strafsenats musste begründet werden. Für den Fall der Ablehnung des Einstellungsantrags wies der Senat den Oberreichsanwalt zur Erhebung der Klage an. Durch diese Vorschrift sollte jeglicher Verdacht der politischen Einflussnahme der deutschen Regierung über den Reichsjustizminister auf die seiner Weisung unterliegende Reichsanwaltschaft beseitigt und dadurch das Vertrauen der Siegermächte in die Objektivität der Strafverfolgung erreicht werden. 17 In § 2 wurde festgelegt, dass eine bereits gewährte Straffreiheit durch Amnestie oder Einzelbegnadigung, eine Verjährung der Strafverfolgung sowie ein bereits durchgeführtes früheres Verfahren - unabhängig davon, ob dieses mit Freispruch oder Verurteilung geendet hatte - dem reichsgerichtlichen Strafverfahren nicht entgegenstanden. In letzterem Fall erfolgte auf Antrag des Oberreichsanwalts durch das Reichsgericht eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Entkleidung strafrechtlicher Grundsätze - insbesondere des ne bis in idemSatzes - wurde bewusst in Kauf genommen, um das erreichte Ziel des Verzichts der Auslieferung nicht zu gefährden. Das Gesetz wurde fast durchweg 14 Die vollständige Liste findet sich bei Friedrich Karl Kaul, Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach dem ersten Weltkrieg, ZfG 1966, S. 19, 29 f, Anm. 30. 15 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 341, S. 2385 ff. 16 RGBl. 1920, S. 341 ff. 17 Vgl. hierzu die Erläuterungen des Berichterstatters des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung, Wilhelm Kahl, Das Ergänzungsgesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, DJZ 1920, Sp. 337 ff.

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als ein politisches angesehen, dass nicht an Rechtsgrundsätzen zu bewerten sei. 18 Die praktische Bedeutung des § 2 muss jedoch mangels tatsächlich bereits durchgeführter „früherer Verfahren" als gering angesehen werden. 19 Auch dies dürfte die Annahme des Gesetzes für die Parlamentarier zumindest erleichtert haben. Einen Gegensatz zur Kompetenzverlagerung von der Reichsanwaltschaft auf das Reichsgericht bildete hingegen das zweite Ergänzungsgesetz vom 12. Mai 1921.20 Hierdurch erhielt der Oberreichsanwalt die Möglichkeit, auch in Fällen, in denen kein genügender Anlass zur Anklageerhebung bestand, d. h. ein hinreichender Tatverdacht nicht gegeben war, die Anberaumung einer Hauptverhandlung vor dem Reichsgericht zu beantragen. Somit bestand die Möglichkeit, statt einer Einstellung des Verfahrens mangels Tatverdachts eine Hauptverhandlung durchzufuhren und damit zwangsläufig einen Freispruch „erster Klasse" zu erwirken, was in dem oben beschriebenen Fall des Kapitänleutnants a. D. Neumann sowie in zwei weiteren Fällen auch praktiziert wurde. 21

II. Die Urteile des Reichsgerichts Die Prozesse gegen Angeklagte, die auf der „Ersten Liste" verzeichnet waren, begannen Ende Mai 1921. Um eine Einseitigkeit der Urteile und eine damit verbundene Kritik derselben im In- und Ausland zu verhindern, wurde zwischen dem Reichsjustizministerium und dem Reichswehrministerium vereinbart, dass sich Verfahren, bei denen ein Freispruch zu erwarten war, mit solchen, bei denen ein Strafausspruch wahrscheinlich war, abwechseln sollten. 22 Insgesamt wurden aufgrund der „Ersten Liste" bis Juni 1922 neun Verfahren gegen elf Angeklagte durchgeführt. Weitere drei Prozesse gegen insgesamt sechs Angeklagte kamen aufgrund von Anzeigen und Mitteilungen zustande. 18

Vgl. die zweite Beratung des Entwurfs im Plenum der Nationalversammlung, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 332, S. 4659 ff. 19 So Kahl, Das Ergänzungsgesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, DJZ 1920, Sp. 338. Kaul, Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach dem ersten Weltkrieg, ZfG 1966, S. 19, 27 bezieht sich auf den Fall des Unteroffiziers Heynen, der wegen grausamer Behandlung englischer Kriegsgefangener von einem deutschen Militärgericht zu zwei Wochen Arrest verurteilte wurde und den das Reichsgericht am 26. Mai 1921 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilte. Der von Kaul, ebd. aufgestellten Behauptung weiterer Fälle fehlt jeglicher Nachweis. 20 RGBl. 1921, S. 508. 21 Verfahren gegen Generalleutnant a. D. Stenger und gegen Oberleutnant Laule, Urteilsgründe abgedruckt in: Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2563 ff. u. 2572 f. 22 Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 346.

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Exemplarisch werden im Folgenden zwei Verfahren skizziert, denen eine größere politische und rechtliche Bedeutung zukam: 23 Das erste Verfahren war von französischer Seite veranlasst worden. Es richtete sich gegen den ehemaligen Befehlshaber des Infanterie-Regiments 112, Generalleutnant a. D. Stenger, und den ihm unterstellten Kompaniechef, Major a. D. Crusius, wegen Erschießung einer unbestimmten Anzahl französischer Verwundeter und Kriegsgefangener durch Angehörige des genannten Regiments anlässlich der Grenzschlachten in Lothringen im August 1914. Stenger wurde von der französischen Seite vorgeworfen, während der Grenzschlachten den Befehl gegeben zu haben, keine Gefangenen zu machen und hierbei auch selbst nach diesem Befehl gehandelt zu haben. Crusius sollte nach der Anklage diesen Befehl weitergegeben und infolge dessen den Tod einer unbestimmten Anzahl französischer Verwundeter und Kriegsgefangener herbeigeführt sowie selbständig französische Verwundete und Gefangene getötet haben. Während Stenger einen solchen Befehl bestritt und lediglich einräumte, eine beiläufige Bemerkung dahingehend getätigt zu haben, dass „hinterlistig angreifende, die Feindseligkeiten wieder aufnehmende Gegner" erschossen werden sollten, bekundete Crusius einen solchen „Brigadebefehl". Die vom Gericht gehörten Zeugen verneinten in der Mehrzahl die Erteilung eines solchen Befehls. Jedoch waren diese Aussagen teilweise widersprüchlich. So beispielsweise, wenn ein Zeuge in seinen Kriegstagebuchaufzeichnungen den erteilten Brigadebefehl ausdrücklich erwähnt hatte, einen solchen nunmehr jedoch mit dem Hinweis darauf bestritt, dass die Aufzeichnungen in seinem Kriegstagebuch nur „das Geschwätz von Kameraden" wiedergeben würden. 24 Das Reichsgericht hielt solche fragwürdigen Aussagen dagegen durchweg für glaubwürdig und kam zu dem Schluss, dass die Vorwürfe gegen Stenger nicht nur unerwiesen, sondern widerlegt seien. Stenger habe lediglich die von ihm selbst eingeräumte Bemerkung kundgetan, jedoch keinen „Brigadebefehl" gegeben. Folgerichtig sprach ihn das Reichsgericht, den Anträgen von Reichsanwaltschaft und Verteidigung folgend, frei. Dagegen wurde Crusius wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren Gefängnis und zum Verlust des Rechts zum Tragen der Uniform verurteilt. 25 Eine vorsätzliche Tötung lehnte das Reichsgericht ab. Zwar sah das Gericht offensicht-

23 Eine ausführliche Darstellung aller Verfahren findet sich bei Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse, 2003, S. 89 f f 24 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2566. 25 Der Oberreichsanwalt hatte eine Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis gefordert, Feisenberger, Zusammenstellung der bisher durch das Reichsgericht abgeurteilten Kriegsverbrecher, DJZ 1921, Sp. 263, 267.

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lieh die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes 26 des § 47 MStGB (Handeln auf Befehl) mangels tatsächlich erteilten Befehls als nicht erfüllt an. 27 Nach § 47 MStGB war für die in Ausfuhrung eines dienstlichen Befehls begangene Straftat allein der befehlende Vorgesetzte verantwortlich. Einzige Ausnahme war ein Überschreiten des erteilten Befehls oder die positive Kenntnis des Untergebenen, dass die Ausführung des Befehls ein Verbrechen darstellt. Jedoch habe Crusius - so das Reichsgericht weiter - die Rechtswidrigkeit eines solchen irrtümlich als erteilt angenommenen Befehls nicht erkannt. Ihm fehlte somit das nach der Vorsatztheorie für vorsätzliches Handeln notwendige Bewusstsein „rechtswidriger" Tatbestandsverwirklichung. 28 Konsequenterweise wurde Crusius nur wegen seines fahrlässigen Verhaltens in Bezug auf das Erkennen seines Irrtums verurteilt. Hierbei bezog das Reichsgericht auch erstmals Stellung zur Frage der Anwendbarkeit des Völkerrechts und führte aus, dass die Frage der Rechtswidrigkeit von Kriegshandlungen nach Völkerrecht zu beurteilen sei, sofern die Kriegsteilnehmer aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen sich gegenseitig verpflichtet hätten. Danach verstoße eine fahrlässige Tötung wehrloser Verwundeter - wie im Fall Crusius - gegen das Völkerrecht. Weiter ging das Reichsgericht auf diese Problematik jedoch nicht ein. So wurde eine rechtliche Norm - etwa aus der Haager Landkriegsordnung - nicht genannt. Bei der Strafzumessung ist das Bemühen des Reichsgerichts um den „tadellosen R u f des Militärs ersichtlich, wenn zu Lasten des Angeklagten die schweren Folgen „für das Ansehen und den guten Ruf des deutschen Heeres" angeführt wurden. 29

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Ausdrücklich vom Reichsgericht genannt im Urteil gegen Robert Neumann, Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2554. Zur Einordnung des Handelns auf Befehl als Entschuldigungsgrund nach heutiger Rechtslage Hans-Heinrich Jescheck/Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, S. 497 ff. 27 Das Urteil erwähnt § 47 nicht ausdrücklich, spricht jedoch vom Vorliegen der objektiven Rechtswidrigkeit über die „keine weiteren Darlegungen geboten erscheinen", Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2567. 28 Zur Vorsatztheorie vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 452 f. Nach heutiger Terminologie liegt ein sog. Doppelirrtum vor, da Crusius nach den Feststellungen des Reichsgerichts über den erteilten Befehl und über die „Strafrechtswidrigkeit" eines solchen Befehls irrte. Dieser Doppelirrtum ist nach den Regeln des eingeschränkten Verbotsirrtums zu lösen. Insofern ungenau Dirk von Seile, Prolog zu Nürnberg - Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht, ZNR 19 (1997), S. 193, 198, Anm. 34, der von einem Erlaubnistatbestandsirrtum spricht. 29 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2568 u. 2572.

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Der wohl das größte Aufsehen erregende Prozess fand vom 12. - 16. Juli 1921 vor dem Reichsgericht statt und richtete sich gegen die beiden Marineoffiziere Dithmar und Boldt. Ihnen wurde vorgeworfen, als Wachoffiziere des Unterseebootes 86 am 27. Juni 1918 ein britisches Lazarettschiff gemeinsam mit ihrem Kommandanten versenkt und anschließend eine unbestimmte Zahl von Schiffbrüchigen mit Überlegung getötet, d. h. ermordet zu haben (§211 RStGB), wobei insgesamt 234 Menschen zu Tode gekommen waren. Hierbei sollte die Torpedierung aufgrund einer im Ergebnis unzutreffenden Mutmaßung des Kommandanten erfolgt sein. Dieser habe vermutet, es handele sich um einen als Lazarettschiff getarnten Munitions- und Truppentransporter und daher beschlossen, diesen zu versenken. Durch Vernehmung mehrerer Schiffbrüchiger, die sich in die Beiboote gerettet hatten, habe sich jedoch der Irrtum herausgestellt. Um nunmehr seine Tat zu vertuschen, habe sich der Kommandant zur Versenkung aller Beiboote entschlossen. Mit Hilfe des Bordgeschützes seien zwei Beiboote versenkt worden, während ein drittes entkommen konnte. Der Kommandant, Oberleutnant zur See Helmut Patzig, stand auf Initiative der britischen Regierung als Nummer 1 auf der „Ersten Liste", während die beiden Wachoffiziere auf keiner Liste verzeichnet waren. Im Laufe der Ermittlungen des Oberreichsanwalts gegen den flüchtigen Patzig ergab sich aufgrund verschiedener Zeugenaussagen ein dringender Tatverdacht gegen die beiden Wachoffiziere, die infolgedessen verhaftet wurden. Die Beweisaufnahme, in der 12 englische und 25 deutsche Zeugen sowie ein militärischer Sachverständiger vernommen worden waren, bestätigte die Vorwürfe dahingehend, dass das Lazarettschiff durch einen Torpedoschuss versenkt und anschließend mit dem Bordgeschütz gefeuert worden war. Ein Zeugenbeweis eines gezielten Schießens auf die Rettungsboote war jedoch nicht vorhanden. Dies wurde von keinem der vier Augenzeugen bestätigt, da Patzig flüchtig, der Geschützführer tot und die beiden Angeklagten zur Aussage nicht bereit waren. Das Gericht gelangte insoweit ausschließlich durch Indizien zur Feststellung gezielter tödlicher Schüsse.30 Rechtlich wurde das Verhalten Patzigs jedoch nur als Totschlag und nicht als „überlegte Tötung" i. S. v. § 211 RStGB ausgelegt, da der Kommandant im Zustand großer Erregung gehandelt habe und daher gerade nicht überlegt vorgegangen sei. Dies kam auch den beiden angeklagten Wachoffizieren zugute, die nach Ansicht des Gerichts nur Gehilfen des Kommandanten waren. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beschränkten sich ihre Handlungen auf das Beobachten während des Schießens. Hierin sah das Reichsgericht einen ausreichenden Tatbeitrag, da die Angeklagten durch Meldungen über Standort, Ent-

30 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2582 ff.

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fernung etc. sowie Ausschau nach feindlichen Schiffen das Schießen gefördert und unterstützt hätten.31 Inwieweit die Angeklagten tatsächlich entsprechende Angaben gemacht und dadurch das Schießen gefördert hatten, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Offensichtlich hat das Reichsgericht dies einfach unterstellt oder aber schon die Möglichkeit im Sinne einer psychischen Beihilfe als ausreichend erachtet. 32 Während das Reichsgericht in dem Verfahren Stenger/Crusius lediglich pauschal auf die Verletzung von Völkerrecht hingewiesen hatte, sahen die Reichsrichter in dem Verhalten Patzigs und der Angeklagten eine „Überschreitung der völkerrechtlichen Grenzen", da im Seekrieg die Tötung von Schiffbrüchigen nicht gestattet sei. Mangels einer positiven Norm wurde zur Begründung auf Art. 23 c Haager Landkriegsordnung verwiesen, der das Erschießen wehrloser Feinde untersagt. Eine Rechtfertigung nach § 47 MStGB (Handeln auf Befehl), die das Gericht im Fall „Dover Castle" mangels positiver Kenntnis des U-Bootkommandanten hinsichtlich der völkerrechtlichen Unzulässigkeit der Versenkung angenommen hatte,33 lehnte das Reichsgericht ab, da das Verbot der Tötung wehrloser Schiffbrüchiger für jedermann und somit auch für die Angeklagten offenkundig gewesen sei. Bei der Strafzumessung wurde zugunsten der Angeklagten auf die besondere Situation auf dem U-Boot hingewiesen, die die nicht erfolgte Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Kommandanten verständlich mache, so dass nach Ansicht des Reichsgerichts nur ein minder schwerer Fall des Totschlags vorlag, der im Mindestmaß mit 6 Monaten Freiheitsstrafe bedroht war (§213 RStGB). Die in Anbetracht dessen verhängten hohen Freiheitsstrafen von jeweils 4 Jahren begründete das Gericht in befremdlicher Art und Weise damit, dass der Vorfall „einen dunklen Schatten wirft auf die deutsche Flotte, insbesondere die U-Bootwaffe, die im Kampfe für das Vaterland so Großes geleistet hat".

I I I . Die zeitgenössische Kritik der Urteile Die zeitgenössische Beurteilung der vor dem Reichsgericht durchgeführten Hauptverhandlungen war auf Seiten der Alliierten und der deutschen Presse unterschiedlich. Die britische Regierung war mit der Durchführung der Prozesse

31 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 368, Drs. Nr. 2584, S. 2585. 32 Zur zeitgenössischen juristischen Kritik dieser Konstruktion W. Hofacker, Die Leipziger Kriegsprozesse, ZStW 43 (1922), S. 649, 672. 33 Hierzu oben.

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insgesamt zufrieden, wobei die Urteile als annehmbar, keinesfalls jedoch als überzeugend hingenommen wurden. So erklärte der Leiter der englischen Delegation nach seiner Rückkehr aus Leipzig vor dem Unterhaus im August 1921, das Reichsgericht sei aufgrund seiner Verhandlungsführung fest entschlossen gewesen, „die Wahrheit ans Licht zu bringen" und insoweit „über jeden Zweifel (der Aufrichtigkeit) erhaben" - gleichgültig, ob die Urteile nach den Vorstellungen der Ankläger ausreichend seien oder nicht. 34 Ähnlich äußerte sich ein weiteres Mitglied der britischen Delegation, das von durchweg „fairen" Verfahren und dem Bemühen der Richter um Unparteilichkeit berichtete. 35 Die britische Haltung lässt sich wohl zum einen aus der Tatsache erklären, dass im für die britische Regierung wichtigen Fall Dithmar/Boldt Verurteilungen erfolgten und die britischen Fälle der „Ersten Liste", sofern man der Beschuldigten habhaft wurde, mit den durchgeführten Hauptverhandlungen erledigt wurden/ 6 Dagegen bezeichnete der französische Ministerpräsident die Verfahren - wohl insbesondere aufgrund des Freispruchs in dem französischen Fall Stenger - als „Komödie, Justizparodie und Skandal". Ähnlich äußerte sich der belgische Justizminister. Die französische Regierung hatte schon nach Beendigung des Verfahrens Stenger/Crusius demonstrativ ihre Beobachterdelegation aus Leipzig abgezogen. Die deutsche Regierung wies die französische Kritik unter Hinweis auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Reichsgerichts zurück. In der öffentlichen Meinung wurden die Urteile überwiegend als Siegerjustiz abgelehnt, teilweise aber auch als gerecht angenommen, wie beispielsweise im Falle Dithmar/Boldt. 37 Forderungen zur Aufstellungen einer „Gegenliste" wurden sowohl in der Tagespresse als auch von Verteidigern der Angeklagten immer wieder geäußert und an die Regierung herangetragen. 38 Diese wurde auch erstellt, jedoch aufgrund außenpolitischer Rücksichten von der Regierung nicht veröf-

34 Aufzeichnungen des Auswärtigen Amtes zur Kriegsbeschuldigtenfrage, BArch R 43 I Nr. 341, Bl. 120, 122; Vgl. auch Max Hachenburg, Juristische Rundschau, DJZ 1921, Sp. 674 und die bei A. Mendelssohn Bartholdy, Betrachtungen zu den Leipziger Prozessen gegen die Kriegsbeschuldigten, DJZ 1921, Sp. 441, 447 f. auszugsweise zitierten Times-Artikel. 35 Claud Mullins, The Leipzig Trials, London, 1921, S. 44. 36 BArch R 43 I Nr. 341, Bl. 120, 122; Hachenburg, Juristische Rundschau, DJZ 1921, Sp. 674; Bartholdy, Betrachtungen zu den Leipziger Prozessen gegen die Kriegsbeschuldigten, DJZ 1921, Sp. 441, 447 f. 37 Nachweise bei Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 353 ff. 38 Vgl. Eingabe der Verteidigung des Angeklagten Crusius, wiedergegeben in einem Bericht des Auswärtigen Amtes, BArch R 42 I Nr. 341, Bl. 17 ff. Hierzu auch Ernst Müller, Die Leipziger Prozesse und die Gegenrechung, DJZ 1921, Sp. 505 ff.

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fentlicht. 39 Die Heeresleitung war mit den Ergebnissen der Prozesse insgesamt zufrieden. Heftig kritisiert wurde von der Marineführung das Urteil gegen Dithmar und Boldt. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme oder aber eines Gnadenerweises wurde erwogen, erübrigte sich jedoch, nachdem den beiden Wachoffizieren die Flucht aus der Haftanstalt gelungen war. 40 Die weitgehende Akzeptanz der Urteile auf deutscher Seite liegt in dem Ergebnis derselben begründet. So endete von den wenigen tatsächlich verhandelten Fällen ein Großteil mit Freisprüchen und die in den verbliebenen Fällen ausgesprochenen Strafen waren in Anbetracht der Vorwürfe relativ milde ausgefallen. Eine auf Drängen der französischen und belgischen Regierungen im Januar 1922 eingesetzte Kommission der Siegermächte 41 kam einstimmig zu dem Schluss, dass das Reichsgericht in fast allen Fällen keine genügenden Anstrengungen zur Ergründung der Wahrheit unternommen habe und die Urteile im Ergebnis unzureichend seien. Sie empfahl, keine weiteren Fälle an das Reichsgericht zu überweisen, sondern nunmehr die Auslieferung der Beschuldigten zu verlangen. 42 Dieser Bewertung der Expertenkommission folgten die Siegermächte, indem sie noch im August 1922 ihre Unzufriedenheit über die Prozesse äußerten. Entgegen dem Vorschlag der Expertenkommission verzichteten sie jedoch abermals auf die Auslieferung 43 und behielten sich lediglich die Rechte aus Art. 228-230 des Friedensvertrages vor, wobei Frankreich und Belgien in der Folge sogenannte Abwesenheitsverfahren gegen mutmaßliche deutsche Kriegsverbrecher durchführten. 44 Daraufhin nahm der Oberreichsanwalt von weiteren Rechtshilfeersuchen gegenüber den Siegermächten Abstand. Ermittlungen wurden nunmehr nur noch im Inland durchgeführt. Als Folge fanden mit Ausnahme eines weiteren Ver39 Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 353 weist auf die politischen Ziele der Aufhebung der Sanktionen sowie die zur Entscheidung stehende Regelung der Oberschlesien-Frage hin. 40 Zur Flucht und deren Hintergründen ausführlich Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 464 ff. 41 Die Kommission bestand aus je zwei hohen staatsanwaltschaftlichen Beamten Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Belgiens, BArch R 43 I Nr. 341, Bl. 122. 42 Der Beschluss findet sich in einem Bericht des Auswärtigen Amtes, BArch R 43 I Nr. 341, Bl. 103 ff. 43 Belgien und Frankreich führten in der Folgezeit Verfahren gegen mutmaßliche deutsche Kriegsverbrecher in Abwesenheit der Angeklagten durch, die oftmals erst aus der Tagespresse über ihre Verurteilungen unterrichtet wurden. Hierzu Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfragen, S. 352. 44

Insgesamt wurden von August 1922 bis Ende 1925 in Frankreich 340 und in Belgien 153 Abwesenheitsverfahren durchgeführt. Hierzu Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 481 ff.

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fahrens gegen den von der französischen Regierung auf die „Erste Liste" gesetzten Militärarzt Michelsohn, 45 welcher vom Reichsgericht unter dem 3. Juni 1922 freigesprochen wurde, keine Prozesse mehr statt. 46 Alle weiteren Verfahren wurden im Laufe der folgenden Jahre eingestellt.47 Hierbei mag die seit August 1922 praktisch nicht mehr bestehende Gefahr der Auslieferungsforderungen mitentscheidend für das Schicksal der weiteren Verfahren gewesen sein. Ohne den außenpolitischen Druck der drohenden Auslieferungsforderung wich offenbar auf Seiten der deutschen Strafrechtspflege die Bereitschaft zur Verfolgung und Aburteilung ihrer Landsleute. Beispielhaft hierfür ist die Abwicklung des Falles Dithmar/Boldt: Nachdem sich der U-Bootkommandant Patzig im Jahre 1926 schriftlich aus dem Ausland zur Tat äußerte, wurde das Verfahren gegen Dithmar und Boldt wieder aufgenommen. Patzig hatte in seiner schriftlichen „Stellungnahme" die Versenkung des Lazarettschiffes sowie die Beschießung der Rettungsboote zugegeben, wobei er nach seinen Bekundungen zum Tatzeitpunkt glaubte, zur Versenkung der Rettungsboote berechtigt gewesen zu sein. Während der Geschützführer auf seinen Befehl hin auf die Rettungsboote geschossen habe, hätten die beiden Wachoffiziere Dithmar und Boldt ihre Tätigkeit als Ausgucks nach Dienstanweisung fortgeführt. 48 Nachdem das Reichsgericht Ende August 1926 mehrere Zeugen und Sachverständige angehört hatte, hob es am 4. Mai 1928 in nichtöffentlicher Sitzung das Urteil gegen Dithmar und Boldt auf und sprach beide frei. Zur Begründung wurde auf die Nichtbeteiligung der beiden Wachoffiziere an der Beschießung hingewiesen. Das Reichsgericht war aufgrund der „Stellungnahme" Patzigs und der Aussagen von Dithmar und Boldt sowie eines Sachverständigengutachtens zu der Feststellung gelangt, dass die beiden Wachoffiziere lediglich nach Dienstanweisung gehandelt hätten, die den Ausguck zur allgemeinen Sicherung des U-Bootes vorschrieb. Dieser Ausguck hätte auch bei nicht erfolgter Beschießung in derselben Art und Weise ausgeführt werden müssen. Insoweit hätten Dithmar und Boldt die Beschießung in keiner Weise gefördert oder unterstützt. Das Reichsgericht revidierte somit seine Ansicht, nach der die Wachtätigkeit der beiden Offiziere auch eine Förderung der Be-

45 Michelsohn stand als Nr. 16 auf der „Ersten Liste". Ihm wurde vorgeworfen, als Direktor des Lazarettes der 7. Armee zahlreiche ihm anvertraute Kranke und Verwundete durch systematische Misshandlungen getötet und diesen Nahrungsmittel sowie sonstiges Eigentum entwendet zu haben. Hierzu auch Hofacker, Die Leipziger Kriegsprozesse, ZStW 43 (1922), S. 660. 46 Aufzeichnungen zur Kriegsbeschuldigtenfrage des Auswärtigen Amtes, BArch R 43 1 Nr. 341, Bl. 117, 123. 47 Zu den Einstellungen ausführlich Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 97 ff. 48 Vgl. Bericht des Reichsjustizministeriums an die Reichskanzlei, BArch R 43 I Nr. 1242, Bl. 573 f.; zur rechtlichen Würdigung vgl. Bericht des Oberreichsanwalts vom 13. März 1928, BArch R 43 I Nr. 1243, Bl. 199 f.

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schießung im Sinne einer psychischen Beihilfe darstellte, 49 ohne dass sich die Sachverhaltsfeststellungen entscheidend geändert hatten.50

IV. Ergebnisse und Schlussüberlegungen Insgesamt waren ca. 900 Ermittlungsverfahren aufgrund der alliierten Auslieferungslisten und über 700 Verfahren, die auf Anzeigen und Mitteilungen beruhten, von der Reichsanwaltschaft betrieben worden. Im Ergebnis wurden lediglich die genannten zwölf Prozesse - alle innerhalb der ersten zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des sog. Kriegsverbrechergesetzes - gegen siebzehn Angeklagte durchgeführt, wobei unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Wiederaufnahmeverfahrens im Falle Dithmar/Boldt neun Freisprüche und acht Verurteilungen zu geringen Freiheitsstrafen erfolgten. Von einer konsequenten Verfolgung und Verurteilung der deutschen Kriegsverbrecher kann nicht gesprochen werden. Die deutsche Strafrechtspflege hat insoweit die Erwartungen der Siegermächte nicht erfüllt. Betrachtet man das Zustandekommen des Gesetzes als Mittel zur Verhinderung der drohenden Auslieferung, und gerade nicht als ernsthaften Versuch einer Ahndung deutscher Kriegsverbrechen, so ist die Nichtdurchführung weiterer Prozesse nach dem Wegfall der Auslieferungsgefahr konsequent gewesen. Diese Konsequenz geht konform mit der Haltung der für die Ermittlungen zuständigen Reichsanwaltschaft, die sich mit den Worten des damaligen Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer wie folgt charakterisieren lässt: „Die sogenannten Kriegsverbrecherprozesse bildeten den schmerzlichsten und traurigsten Teil meiner Tätigkeit als Oberreichsanwalt, ja meiner ganzen dienstlichen Laufbahn. Es ist mir heute noch unverständlich, daß wir im Versailler Vertrag die Verpflichtung übernahmen, diese Kriegsverbrecher ... in Deutschland und durch deutsche Gerichte verfolgen zu lassen. Wir hatten den Krieg verloren, wir mußten uns den harten, von Haß und Rache diktierten Bedingungen der Feinde fügen, wir mußten Opfer an Land und Geld bringen; das war unvermeidlich; nie und nimmer durften wir uns der entehrenden Bedingung fügen, unsere eigenen Landsleute wegen dieser sogenannten Kriegsverbrechen zu verfolgen, während es keinem der anderen

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So hatte das Reichsgericht in der Verurteilung ausdrücklich auf die Förderung des Beschießens durch die Sicherung des U-Bootes hingewiesen. 50 Das Verfahren gegen Patzig wurde schließlich vom Reichsgericht durch Beschluss am 20. März 1931 eingestellt. Grundlage war Art. 1 des Amnestiegesetzes vom 24. Oktober 1930, welches für vor dem 1. September 1924 aus politischen Beweggründen begangene Straftaten Straffreiheit gewährte (RGBl. 1930, S. 467). Vgl. auch das Gesetz über Straffreiheit vom 14. Juli 1928, RGBl. 1928, S. 195 f.

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am Kriege beteiligten Länder einfiel, eine solche Verpflichtung auf sich zu nehmen. Ein solches Zugeständnis ging an unsere Ehre." 51

Dass auch die zuständigen Richter des Reichsgerichts eine ähnliche Auffassung hatten, legt schon die Tatsache der personellen Tradition nahe: Ebermayer war bis März 1921 selbst Senatspräsident des Reichsgerichts. 52 Darüber hinaus sprechen für eine der Reichsanwaltschaft zumindest ähnliche Haltung der Reichsrichter die fast entschuldigenden Charakter annehmenden und das deutsche Militär als Institution schützenden Ausführungen innerhalb der Strafzumessung, bei denen das Reichsgericht stets um den „tadellosen Ruf 4 des Militärs bemüht war. Auch das in den Urteilsgründen oftmals zum Ausdruck kommende Misstrauen gegenüber den belastenden Aussagen alliierter Zeugen und der demgegenüber stets betonten Glaubwürdigkeit der Aussagen deutscher Entlastungszeugen ist ein weiteres Indiz für die genannte Haltung der Reichsrichter. 53 Dass zumindest teilweise eine politische Einflussnahme auf das weisungsabhängige Personal der Reichsanwaltschaft 54 - und damit mittelbar auf die Entscheidungen des Gerichts - erfolgte, hat hinsichtlich der Einstellungspraxis die nunmehr vorliegende, das - soweit ersichtlich - gesamte zugängliche Aktenmaterial auswertende Monographie von Gerd Hankel 55 überzeugend dargelegt. Inwieweit auch eine direkte Einflussnahme auf die vom Gesetz her unabhängigen 56 Reichsgerichtsräte erfolgte, lässt sich hingegen nicht sicher beurteilen. Dass aber deren Entscheidungen von dem Wegfall der drohenden Auslieferung und insofern von der außenpolitischen Situation mittelbar beeinflusst wurden, legen die massenhaften Verfahrenseinstellungen mit dem möglichen Ziel der stillschweigenden Erledigung der noch ausstehenden Verfahren zumindest nahe. Während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und seine Folgeprozesse prägend für die Entwicklung des Völkerstrafrechts waren, 57 war die Bedeutung desselben innerhalb der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse und inso-

51 Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht, Erinnerungen eines Juristen, Leipzig, Zürich, 1930, S. 190 f.; vgl. auch ders., Fünf Jahre Oberreichsanwalt, DJZ 1928, Sp. 33,34. 52 Vgl. das Verzeichnis der Senatspräsidenten bei Adolf Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht, Berlin und Leipzig, 1929, Anlage I., S. 340 ff. 53 Ähnlich zur Haltung der deutschen Justiz auch die Einschätzung von Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 518 f. 54 Hierzu K. Müller, Der Hüter des Rechts, S. 85 ff. 55 Hankel, Die Leipziger Prozesse. 56 K. Müller, Der Hüter des Rechts, S. 61 ff. u. 91 ff. 57 Nachweise bei Seile, ZNR 19 (1997), S. 202, Anm. 60 u. 63.

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weit auch die Bedeutung der Prozesse für das Völkerstrafrecht gering. 58 So wurde die Strafbarkeit unmittelbar dem deutschen Recht entnommen.59 Eine umfassende Klärung kriegs- und völkerrechtlicher Probleme - etwa der Frage der Völkerrechtwidrigkeit der U-Bootkriegsführung der deutschen Marine wurde von Beginn an ausgeklammert. Gleiches galt für die Verfolgung der obersten Befehlshaber des deutschen Militärs. Die Urteile dokumentieren insoweit lediglich den Grundsatz der Strafbarkeit von Kriegsverbrechen in Bezug auf eigene - hier deutsche - Soldaten.60 Ihre Bedeutung für Nürnberg liegt wohl eher in dem bis dahin einmaligen und im Ergebnis gescheiterten Versuch einer Verfolgung und Aburteilung der Kriegsverbrecher des unterlegenen Gegners durch die eigene Gerichtsbarkeit, aus dem die Alliierten für Nürnberg ihre Lehren zogen, was sich in den folgenden Worten des Hauptanklagevertreters der USA in Nürnberg (Justice Robert H. Jackson) anlässlich seiner Eröffnungsrede widerspiegelt: „Leider bedingt die Art der hier verhandelten Verbrechen, daß in Anklage und Urteil siegreiche Nationen über geschlagene Feinde zu Gericht sitzen. Die von diesen Männern verübten Angriffe, die eine ganze Welt umfaßten, haben nur wenige wirklich Neutrale hinterlassen. Entweder müssen also die Sieger die Geschlagenen richten, oder sie müssen es den Besiegten überlassen, selbst Recht zu sprechen. Nach dem ersten Weltkrieg haben wir erlebt, wie müßig das letztere Verfahren ist." 6 1

Im Ergebnis haben die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse gezeigt, dass die Ahndung von Kriegsverbrechen der im Krieg unterlegenen Nation durch ihre eigene Gerichtsbarkeit ein - um mit der Terminologie des Strafrechts zu sprechen - untaugliches Mittel ist.

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Dagegen Seile, ZNR 19 (1997), S. 205 ff. Nur die Rechtswidrigkeit wurde mit der Völkerrechtswidrigkeit begründet, vgl. auch Dietrich Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, S. 628. 60 So auch Seile, ZNR 19 (1997), S. 205 ff. allerdings mit anderer Gewichtung. 61 Abgedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (1947), Bd. II, S. 115, 118. 59

Schlußwort Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern

Sehr geehrte Damen und Herren, ich danke Ihnen sehr, daß Sie zwei Tage lang bei unserer Veranstaltung ausgeharrt haben und hoffe, daß sie Ihnen wichtige neue Erkenntnisse verschafft hat. Mein besonderer Dank gilt vor allem den Referenten, die sich sehr kurzfristig entschlossen haben, den Tag der Gründung des Reichsgerichts in würdiger Form zu begehen und dazu das Ihre beizutragen. Herrn Prof. Dr. Simon danke ich nochmals für die spontane Bereitschaft, die Tagungsbeiträge in einem Band der Rechtshistorischen Reihe zu veröffentlichen. Wenn wir gestern und heute vieles über die Organisation und die Arbeitsweise des Reichsgerichts erfahren haben, so ist auch klar, daß wir das Thema in keiner Weise erschöpft haben. Das gilt schon für die Entstehungsgeschichte, in der wir etwa das Vorgängergericht, das Bundes- bzw. das Reichsoberhandelsgericht nur gelegentlich gestreift haben. Auch haben wir, was die Personen betrifft, nur den ersten und den letzten Reichsgerichtspräsidenten in den Blick genommen. Dazwischen hat es aber noch einige Persönlichkeiten gegeben, die durchaus auch eine Betrachtung verdient hätten. Noch wichtiger ist aber wohl, daß auch die Arbeit des Gerichts nur punktuell dargestellt werden konnte. Das gilt insbesondere für das große Gebiet des Strafrechts, das nur mit einem Beitrag, der noch dazu sehr untypisch ist, vertreten war. Hier wäre noch viel zu leisten. Daß insoweit die größten Lücken bestehen, liegt sicherlich auch daran, daß es verhältnismäßig wenig Strafrechtshistoriker gibt und uns als Zivilrechtlern das Thema eher fern liegt. Entsprechendes gilt für die Arbeit des Reichsgerichts als Beamtendisziplinargericht und als Disziplinargericht für Rechtsanwälte. Auch den Staatsgerichtshof gilt es, in die Betrachtung miteinzubeziehen. Das Reichsarbeitsgericht ist keineswegs der einzige erwähnens- und erforschungswerte Ableger. Aber auch auf dem Gebiet des Zivilrechts bleibt noch viel zu tun. Mir lag insbesondere daran, die Arbeit der ersten einundzwanzig Jahre in den Blick zu bekommen. Für uns heute ist das Reichsgericht in Bezug auf Zivilsachen häufig

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Schlußwort

für die Auslegung des BGB von Bedeutung, aber nahezu ein Vierteljahrhundert der zivilrichterlichen Tätigkeit lag vor dem Inkrafttreten des BGB. Hier ist es uns gelungen, immerhin zwei wichtige Rechtsgebiete aufzunehmen, das Römische Recht und das Französische Recht. Neben dem Römischen Recht hätte jedoch auch das Deutsche Recht eine Betrachtung verdient 1 und sicherlich auch das Allgemeine Landrecht. Für die Spätzeit des Gerichts gilt entsprechendes für die Anwendung des Österreichischen ABGB im sogenannten Österreich-Senat des Reichsgerichts.2 Ganz am Anfang steht darüber hinaus die Beschäftigung mit bestimmten inhaltlichen Rechtsprechungslinien. Wir haben zwei Vorträge über Familienrecht (beschränkt auf das Dritte Reich) und Grunddienstbarkeiten gehört. Es gäbe aber auch hier noch eine unendliche Fülle von möglichen Themen. Ich selbst habe mich einmal mit der Geschichte des Schmerzensgeldes in der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs beschäftigt 3 und dabei ähnlich wie Herr Schmidt-Recla heute - erstaunliche Kontinuitäten bezüglich der Senate festgestellt, obwohl über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten keinerlei personelle Identitäten bestehen konnten. Das alles zeigt, daß wir bezüglich der Erforschung des Reichsgerichts erst am Anfang stehen. Es bleibt noch viel zu tun.

1 Vgl. dazu Hans Georg Mertens, Untersuchungen zur zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts vor dem Inkrafttreten des BGB, AcP 1974, S. 333ff. 2 Vgl. dazu den Beitrag von Hans Hermann Seiler, Das Reichsgericht und das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, der nachträglich in diesen Band aufgenommen wurde (S. 147-166). 3 Bernd-Rüdiger Kern, Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes - ein pönales Element im Schadensrecht?, AcP 1991, S. 246ff.

Autorenverzeichnis

Buschmann, Arno, o. Univ.-Prof. Dr. iur., em. Professor flir Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht und Bürgerliches Recht, Universität Salzburg Kern, Bernd-Rüdiger,

Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsge-

schichte und Arztrecht, Universität Leipzig Möller, Cosima, Prof. Dr. iur., Professorin für Bürgerliches Recht und Römisches Recht, Freie Universität Berlin Müller, Kai, Prof. Dr. iur., Professor für Strafrecht und Strafprozeßrecht, Fachhochschule Villingen-Schwenningen, Hochschule für Polizei Rau, Ulrike, wiss. Mitarbeiterin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht, Universität Leipzig Schmidt-Recla, Adrian, Dr. iur., wiss. Assistent, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht, Universität Leipzig Schroeder, Klaus-Peter,

Prof. Dr. iur. utr., außerordentlicher Professor für Rechtsge-

schichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Schriftleitung Juristische Schulung Frankfurt/M. Schubert, Werner,

Prof. Dr. iur., em. Professor für Bürgerliches Recht, Römisches

Recht, Europäische Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Rechtsvergleichung, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Schumann, Eva, Prof Dr. iur., Professorin für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen Seiler, Hans Hermann, Prof. Dr. iur., em. Professor für Römisches Recht und Bürgerliches Recht, Universität Hamburg Wadle, Elmar, Prof. Dr. iur., Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Universität des Saarlandes