273 104 4MB
German Pages [801] Year 2012
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke
Reihe B: Darstellungen Band 55
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André Fischer
Zwischen Zeugnis und Zeitgeist Die politische Theologie von Paul Althaus in der Weimarer Republik
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55786-0 ISBN 978-3-647-55786-1 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Die Weimarer Zeit als Krisenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. „Mein Böses verführt andere, nimmt ihnen Hemmungen, gibt ihnen das ersehnte gute Gewissen, schafft Atmosphäre, Hausgeist, Volksgeist, Zeitgeist.“ – Vorab ein Vor-Urteil über Paul Althaus . . . . 27 3. „…daß der Mitmensch und der theologische Mitmensch ganz besonders, immer noch ein wenig komplizierter ist, als man angenommen hatte“ – Die Ambivalenz von Paul Althaus . . 34 Kapitel I: Die entscheidenden Weichenstellungen während des Krieges – Paul Althaus, der Weltkrieg und die Auslandsdeutschen . . . . . . . . . . . . 47 1. „Die Entdeckung des Deutschtums im ehemaligen Mittelpolen“ – Paul Althaus und die deutsche Minderheit in Polen vor dem Hintergrund seines volksmissionarischen Anliegens . . . . . . . . . . . . . 49 2. „… wir haben uns unseren Volksbrüdern … zur Verfügung gestellt“ – Althaus’ Einsatz für die Deutschen in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Paul Althaus und Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Althaus’ pastoraltheologische Lehren aus dem Pfarrdienst im Krieg – Die methodische Grundlegung seiner volksmissionarischen Arbeit . 69 4.1 „Die Religion eines Volkes soll national und international zugleich sein“ – Althaus’ ambivalente Verhältnisbestimmung von „Glaube und Vaterlandsliebe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2 „Wie sollen wir den Männern predigen?“ – Pastoraltheologische Lehren aus der Arbeit im Krieg . . . . . . . . . 74 4.3 „Wann aber wird unser Geschlecht endlich das Erlebnis der Kirche machen?“ – Althaus’ Ruf zur kirchlichen Erweckung 83 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
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Kapitel II: Die frühe Verarbeitung der deutschen Niederlage und des Versailler Vertrages – Althaus zwischen Lodz und Rostock . . . . . . . 93 1. Die frühe Verarbeitung von Krieg und Niederlage . . . . . . . . . . . . . . 93 1.1 „Sind unsere Brüder vergeblich gestorben?“ – Die Frage nach dem Sinn der Kriegstoten . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1.2 „Unser gutes Gewissen und unsere Buße“ – Althaus’ frühe Ansichten zur Kriegsschuldfrage . . . . . . . . . . . . . 98 1.3 „Die deutsche Schmach in Polen“ oder: Die Rote Revolution und die Niederlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Der Schock von Versailles als Bürde für Weimarer Republik und Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Der Versailler Vertrag und die Frage nach dem Verhältnis von „Pazifismus und Christentum“ – Althaus’ frühe Geschichtstheologie in der Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus . . . . . . . 122 3.1 Paul Althaus, der Religiöse Sozialismus und die christlich-soziale Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.2 „Die lebendige Gerechtigkeit der Geschichte“ – Althaus’ frühe Geschichtstheologie und Sichtweise des Krieges . 128 3.3 Die Gerechtigkeit der deutschen Niederlage – Althaus’ Sichtweise von Niederlage, Friedensbedingungen und Völkerbund . . . . . . . 136 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Kapitel III: Geschichtstheologie als Krisenverarbeitung – Paul Althaus in Rostock 1919 bis 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Die Zeit politischer Krisen und theologischer Neuaufbrüche – Paul Althaus in Rostock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Paul Althaus in der Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus 157 2.1 Die prinzipielle Ablehnung des Religiösen Sozialismus bei positiver Aufnahme seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Anliegen . . . 158 2.2 Der Althaussche Gegenentwurf: Frühe ordnungstheologische Ansätze und politische Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Exkurs: Paul Althaus und die „Konservative Revolution“ . . . . . . 175 2.3 Das Zusammenleben der Völker und die Bedeutung des Krieges – Althaus’ Fortführung seiner geschichtstheologischen Spekulationen 180 2.3.1 Politik als Dienst an Gott und Volk – Der „Beruf “ eines Volkes und das nur begrenzte Recht von Völkerrecht und Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.3.2 Die Gerechtigkeit im Völkerleben und der Krieg . . . . . . . 186 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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3. Jesus Christus und die deutsche Jugend – Althaus’ volksmissionarisches Werben um die junge Generation . . . . . . . . . . 195 4. „Gott in der Geschichte“ – Althaus’ frühe geschichtstheologische Grundlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4.1 Die Grundlagen der frühen Althausschen Geschichtstheologie . 205 4.2 Die frühe Althaussche Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4.3 Gottes Anspruch in der Geschichte – Geschichtstheologie und Ethik 214 4.4 Die geschichtstheologische Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Exkurs: Säkulare Gesellschaft und Volksmission – Althaus und die Apologetische Centrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5. „Staatsgedanke und Reich Gottes“ – oder: Berufsgedanke und Reich Bismarcks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 5.1 Die theologische Antwort auf die Krise des deutschen Staatsgedankens und die Auseinandersetzung mit Karl Barth . . . 243 5.2 Der „Beruf“ des Volkes und das Verhältnis der Völker . . . . . . . . 251 5.3 Das Gott gegenüber „verantwortliche Führertum“ . . . . . . . . . . . 256 5.4 Bismarck als der vorbildhafte christliche, politische Führer . . . . 263 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Kapitel IV: Kirche, Volk und Staat – Paul Althaus in Erlangen 1925 bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Der Wechsel nach Erlangen und seine Lehrtätigkeit 1925 bis 1933 . 273 2. „Über dem Tore, durch das unser Geschlecht den Weg in die Kirche zurückfinden kann, steht geschrieben: communio, Gemeinschaft!“ – Paul Althaus über Kirche und Staat in der zweiten Hälfte der 20er Jahre 276 2.1 Communio sanctorum und Volksgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . 277 2.2 Una sancta – Die Gemeinschaft der Völker und Kirchen und Althaus’ Engagement in der Ökumenischen Bewegung . . . . . . . 280 2.3 Das Verhältnis von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2.3.1 Die Theonomie des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2.3.2 „Das Nebeneinander der beiden Gemeinschaftsordnungen“ – Das Verhältnis von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . 293 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 3. Volkstumsbewegung und völkische Bewegung als Herausforderung für Kirche und Theologie und Althaus’ Volkstumstheologie als Antwort 306 3.1 Das Volkstum als „umfassende Lebenswirklichkeit“ und ethischer Bezugspunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 307 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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3.2 Volkstum und Vaterland als ethische Bezugspunkte bei Paul Althaus – Die Dialektik der Althausschen Volkstumstheologie . 323 3.2.1 Das Volk in der Althausschen Theologie seit dem Weltkrieg – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 3.2.2 Die Althaussche Wesensbestimmung von Volk und Vaterland 329 3.2.3 Die „Vaterlandsliebe“ und die Verbundenheit mit „allem Menschentum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3.2.4 Althaus’ Haltung zu den „Rassen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Exkurs: Volkstumstheologie bei Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3.3 Althaus’ Positionierung zur Volkstumsbewegung und völkischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3.3.1 Volkstumsbewegung und völkische Bewegung in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zu Christentum und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 3.3.2 Paul Althaus und die Studentenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 369 3.3.3 „Protestantismus und deutsche Nationalerziehung“ – Althaus’ Vortrag vor der Fichte-Gesellschaft . . . . . . . . . . . 376 3.3.4 „Kirche und Volkstum“ – Althaus’ Vortrag auf dem Kirchentag in Königsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 3.3.5 „Ein befremdlicher Vortrag über Volkstum und Kirche“ – Völkische Angriffe auf Althaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 3.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 4. Reich Gottes, Staat und Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 4.1 Das Reich Gottes in der Althausschen Ethik und Kulturauffassung 425 4.2 „Der Staat im Lichte des Reiches Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 4.3 Der Staat als bedrohte Ordnung und das Recht auf Revolution . 434 4.4 Die Frage nach dem Staat und seiner Verfassung: Der Staat als Volksstaat und das Gott verantwortliche Führertum . . . . . . . 440 4.5 Die Weimarer Republik als „Notbau“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 4.6 Die politische Haltung von Paul Althaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 4.6.1 Die Frage nach einer evangelischen Partei – Althaus und der Christlich-Soziale Volksdienst . . . . . . . . 459 4.6.2 Althaus’ politische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 5. Paul Althaus und die „Judenfrage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 5.1 Jüdische Identität und Antisemitismus in Deutschland und Europa seit dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 5.2 Das Verhältnis von Christentum und Judentum bei Althaus . . . 486 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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5.2.1 Der heilsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Judentum und Christentum und die bleibenden Erwählung Israels . 486 5.2.2 Die Entscheidung der Juden gegen Christus und die Vorstellung der Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 5.2.3 Die eschatologische Bedeutung Israels unter den Völkern 498 5.2.4 Die Verteidigung des Alten Testaments gegen völkische Angriffe und seine Vereinnahmung gegenüber dem Judentum 503 5.3 Althaus und die „Judenfrage“ im Rahmen seiner kulturpessimistischen Kritik der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 5.4 „Die Frage des Evangeliums an das moderne Judentum“ – Althaus’ religionsphilosophischer Dialog mit dem Judentum . . . 522 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 6. Althaus und die Frage nach den internationalen Beziehungen der Völker: Die neue Haltung zu Völkerbund und Krieg und der Freiheitskampf gegen Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 6.1 Die Gemeinschaft der Völker und die neue Haltung zum Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 6.2 „Das ethische Ja zum Kriege“ und doch „kein Hindrängen mehr zum Krieg“ – Althaus’ ambivalente Kriegsauffassung in Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Exkurs: Die Auffassung vom Krieg bei Bonhoeffer und Barth . . 556 6.3 Deutsche Freiheit und Völkerversöhnung – Althaus und die Revision von Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 6.3.1 Weltwirtschaftskrise und Versailles im kirchlichen Diskurs in Deutschland und der Ökumene . . . . . . . . . . . 560 6.3.2 „Herr, mach uns frei!“ – Althaus’ Festrede zur Einweihung des Gefallenendenkmals der Erlanger Universität . . . . . . . 564 6.3.3 „Evangelische Kirche und Völkerverständigung“ – Die Hirsch-Althaussche Erklärung im Kontext des Kampfes gegen Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 6.3.4 Die Hirsch-Althaussche Erklärung und der „national‑ sozialistische Bazillus“ – Althaus’ Verteidigung seiner Kritik 584 6.3.5 Paul Althaus und der „Fall Dehn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 6.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 7. Paul Althaus und der Nationalsozialismus bis 1933 . . . . . . . . . . . . . 599 7.1 Die letzten Jahre der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 7.2 Althaus und die Herausforderung der erstarkenden völkische Bewegung und des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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7.2.1 Der Ruf zur Kirche gegen die Vergötzung der Politik – Althaus und die „christlich-deutsche Bewegung“ . . . . . . . 605 7.2.2 Althaus’ Neuakzentuierung seiner Volkstumstheologie im Krisenjahr 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Exkurs: Offenbarungslehre im Dienst missionarischer Anknüpfung – Althaus, die Ur-Offenbarung und die Schöpfungsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 7.2.3 Althaus’ Haltung zum Nationalsozialismus: Ja zur nationalen Freiheitsbewegung, nein zur rassistischen Parteiideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 7.3 Die nationalsozialistische „Machtergreifung“ und die Kirchen . . 637 7.4 Althaus und die „deutsche Stunde der Kirche“: Die missionarische Gelegenheit von 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 7.5 Althaus, Barth und „Das Ja der Kirche zur deutschen Wende“ . . 647 7.6 Mit der Lehre von der Ur-Offenbarung wider die theologischen Kurzschlüsse eines „SA-Christentums“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 7.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 7.8 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 Kapitel V: Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 1. Faktoren der Anfälligkeit für den Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . 681 2. Faktoren der Resistenz gegen den Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . 698 3. Zwischen Zeugnis und Zeitgeist: Paul Althaus in der Zeit der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 1. Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 2. Bibliographie von Paul Althaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 2.1 Monographien, Sammelbände, Aufsätze, Schriften und Artikel . . 712 2.2 Predigten und Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 2.3 Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 3. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 Personenregister/Biogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Vorwort
Diese Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner gleichnamigen Dissertation, die im Wintersemester 2010/11 vom Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Theologie angenommen wurde. Betreut wurde die Arbeit von Herrn Prof. Dr. Berndt Hamm. Ihm bin ich in zweierlei Hinsicht zu großem Dank verpflichtet. Zum einen für das Vertrauen, das er in mich gesetzt hat, als er mich auf dieses Thema ansetzte; zum anderen für die Freiheit, die er mir in der Bearbeitung des Themas gelassen hat. Herrn Prof. Dr. Gotthard Jasper danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Dankbar blicke ich auf den anregenden Austausch mit ihm zurück, der mich neben meinem kirchengeschichtlichen Lehrer Berndt Hamm für die Beschäf tigung mit Paul Althaus begeistert und mir so manchen Blick in dessen Zeit eröffnet hat. Bei meiner Danksagung nicht unerwähnt bleiben sollen die vielen hilfs bereiten Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Erlangen sowie des Landeskirchlichen Archivs Nürnberg. Eine Werkanalyse, zumal in Verbindung mit der Erstellung einer Bibliographie, kommt ohne deren Unterstützung nicht aus. Der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, insbesondere Herrn Prof. Dr. Siegfried Hermle und Herrn Prof. Dr. Harry Oelke, danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe sowie für die Unterstützung bei der Überarbeitung für den Druck – ein Dank, der auch den Mit arbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht gebührt, namentlich Herrn Christoph Spill. Darüber hinaus bedanke ich mich bei der Evangelisch-Lutherischen K irche in Bayern, ohne deren Promotionsstipendium sowie deren Druckkostenzuschuss das gesamte Projekt nicht möglich gewesen wäre. Für einen Druckkostenzuschuss danke ich darüber hinaus der Dorothea und Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung an der Universität Erlangen. In diesem Zusammenhang seien Herr Jürgen Hubert sowie Frau Prof. Dr. Carola Jäggi genannt. Gedankt sei zuletzt meinem Mentor im Vikariat, Pfarrer Martin Adel, für sein großes Verständnis für meine Doppelbelastung sowie meinen Eltern dafür, dass und wie sie mir meinen Weg ermöglicht haben.
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Einleitung
Theologie und Verkündigung ereignen sich nicht im luftleeren Raum. Politisch aufgeladene Zeiten bringen politische Theologien hervor. Paul Althaus war ein solcher politischer Theologe. In kirchenpolitische, aber auch allgemeinpolitische Fragen hat sich Althaus gemäß seines Verständnisses von Christentum und Kirche mit ihrem gesellschaftlichen Auftrag immer wieder eingemischt. Politische und theologische Aussagen sind bei Althaus nicht zu trennen. Seine jeweilige Haltung bezüglich Kirche und Gesellschaft gründet in klaren religiösen, aus Schrift und Bekenntnis abgeleiteten Überzeugungen. Leben ohne Glauben ist für ihn ebenso unvorstellbar wie Glaube ohne Leben. Beides ist für ihn untrennbar verzahnt. Seine zahllosen Predigten, Vorträge und Publikationen legen davon Zeugnis ab. Paul Althaus ist allein schon deshalb von besonderem Interesse, weil er wie kaum ein anderer wissenschaftlich-akademischer Theologe seiner Zeit in seinen unzähligen Schriften, Fachbüchern und Predigten – er war mehr als drei Jahrzehnte Universitätsprediger in Erlangen – ein breites Publikum in ganz Deutschland, aber auch darüber hinaus ansprach. Seine Werke zählten zu den Bestsellern, und seine Gottesdienste waren sehr gut besucht. Dazu kamen noch die vielfach überfüllten Hörsäle in Rostock und Erlangen. Seit Mitte der 20er Jahre bis Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts1 waren fast alle bayerischen evangelischen Pfarrer direkt oder indirekt mit Althaus und seiner Theologie in Berührung gekommen2. Man geht also kaum fehl, wenn man Althaus als einen der prägenden Theologen der jüngeren Vergangenheit bezeichnet. In einem auffälligen Missverhältnis zu dieser Bedeutung seiner Person steht nun aber die geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die seinem Leben und Werk bislang zuteilwurde. Einen Beitrag zur Erforschung dieses Mannes, der solch große theologische Wirkmächtigkeit besonders in Bayern entfaltet hat, möchte diese Arbeit leisten. Sie soll das Profil seines theologischen Denkens in seiner Kontinuität und Variabilität herausarbeiten und damit auch der Eigen 1 Wenn im Folgenden von 20er und 30er Jahren etc. die Rede ist, ist stillschweigend jeweils das 20. Jahrhundert gemeint. 2 Er lehrte in Erlangen seit 1925 bis über seine Emeritierung 1956 hinaus bis in sein Todesjahr 1966. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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dynamik einer derartigen Theologie in der Tradition des Luthertums gerecht werden. Es ist davon auszugehen, dass zwischen der Tatsache, dass Althaus in relative Vergessenheit geraten ist, und der vorwiegend nach 1945 umstrittenen theologisch-politischen Haltung, die er in den frühen 30er Jahren eingenommen hatte, ein Zusammenhang besteht. Auch die Althaus-Rezeption wurde von einer „Allianz aus Schuldvorwurf und Desinteresse an der Person“3 geprägt. Althaus war ein herausgehobener Vertreter einer Theologie, die sehr aufgeschlossen auf die Ideen und Ziele der politischen Volkstumsbewegung bzw. der völkischen Bewegung schon während des Ersten Weltkriegs zuging und diese Erfahrungen später in seinem theologischen Werk verarbeitete. Seine politische Theologie wies nicht nur theoretische Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus auf, seine Äußerungen 1933/34 lassen erkennen, welche praktischen Hoffnungen er auf die sogenannte „nationale Wende“ setzte. Die Aspekte einer solchen disponierenden Offenheit oder „Anfälligkeit“4 evangelischer Theologie für den Nationalsozialismus sollen untersucht werden und Faktoren für ihr Zustandekommen herausgearbeitet werden, die über Althaus hinausweisen. Dass dabei nicht nur die Frühphase der NS-Herrschaft von Interesse ist, sondern insbesondere die Zeit der Weimarer Republik, also die Zeit, in der auch der Nationalsozialismus seinen innenpolitischen Siegeszug antrat, versteht sich von selbst. „Es gilt den Blick […] in die Zeit vor 1933 zu richten, in welcher sich jene, auf bestimmte Züge des Nationalsozialismus zulaufenden Theologumena im Zusammenspiel mit den sozialen, mentalen und ideologischen Kontexten herausgebildet haben.“5 Roland Liebenberg hat unter diesem Gesichtspunkt Althaus’ Theologie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs untersucht, es ist nun konsequent, diese Studie für die Zeit danach fortzusetzen. Bei dieser Analyse von Gründen der Anfälligkeit gilt es, sowohl intrinsische als auch extrinsische, sowohl theologische als auch nicht-theologische Faktoren herauszufiltern, die in einem komplexen Wechselspiel einander bedingen. Aufgrund der Tatsache, dass es keine zwangsläufige, determinierte Geschichtsentwicklung gibt, ist besonders der Zeitraum unmittelbar vor der „Machtergreifung“ Hitlers von Bedeutung, denn hier werden wesentliche Weichen gestellt. Ein Blick in die bisherige Forschung über Althaus zeigt, dass eine ausführ liche, sowohl die gesamte Breite seiner Veröffentlichungen als auch die Tiefe seiner jeweiligen Schriften, Artikel, Bücher und Predigten umfassende Beschäftigung mit seiner politischen Theologie in der Zeit zwischen dem Ende des Ers 3 So Kunze, Heckel, 207 über die Rezeption des DEK-Auslandsbischofs Theodor Heckel. 4 Vgl. Hamm, Rückert, 273. 5 Liebenberg, Gott, 11, Anm. 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ten Weltkriegs und der sogenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten bislang ein Desiderat der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung geblieben ist. Was über Althaus bisher in erster Linie veröffentlicht wurde, sind entweder sehr allgemein gehaltene Charakteristiken seiner Theologie6 oder sehr spezielle, auf einen einzelnen theologischen Topos konzentrierte Studien7. Etwas ausführlicher und für die Frage nach einer Gesamtschau seiner politischen Theologie ertragreicher sind die beiden Arbeiten von Robert P. Ericksen und Walther Mann. Erstgenannter geht auf den ihm für die Person Althaus zur Verfügung stehenden Seiten seines 1986 auf Deutsch erschienenen Buches „Theologen unter Hitler“ sowohl auf Althaus’ politischen als auch auf seinen theologischen Standort ein. Zu einer verknüpfenden Sichtweise, die man für Althaus als einzig angemessene bezeichnen muss, kommt es bei ihm kaum. So zerfällt bei ihm Althaus’ Person nahezu in einen politischen und einen theologischen Part. Seine erkenntnisleitende Frage nach dem „Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus“ führt Ericksen daher folgerichtig nur zu recht oberflächlichen und pauschalen Antworten, die überdies kaum verallgemeinerbar sind. In die Tiefe z. B. von Althaus’ Verständnis vom Volk oder vom Staat dringt Ericksen nicht vor, auch konzentriert er sich zu sehr auf die Veröffentlichungen 1933 und in den Folgejahren, so dass er zur Frage nach dem Warum der Anfälligkeit von evangelischen Theologen für den Nationalsozialismus kaum Erkenntnisse bieten kann. Im Jahr darauf ging Walther Mann in seiner Monographie „Ordnungen der Allmacht“ auf das „Ordnungsproblem bei Paul Althaus“ ein, indem er dessen wichtigste Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex vor dem Hintergrund von Althaus’ Beteiligung an der ökumenischen Diskussion über „Kirche, Volk und Staat“ in den 30er Jahren theologisch untersucht. Auch wenn Mann es vermag, Entwicklungslinien in seinem theologischen Denken aufzuzeigen, und auch die Frage nach einer möglichen Nähe zu nationalsozialistischen Denkmustern anreißt, bleibt er doch bei einer rein theologischen Betrachtung stehen und kommt auf den politischen Althaus wenig zu sprechen. Auf kleinere Schriften und Artikel geht Mann ebenso wenig ein wie auf Althaus’ Predigten. Auch ist sein Fokus zu sehr auf die Ordnungstheologie gerichtet, um den ganzen Althaus in den Blick zu bekommen. In jüngster Zeit sind demgegenüber drei Arbeiten von besonderem Interesse, weil sie – mit jeweils eigener Schwerpunktsetzung – versuchen, dem Phänomen „Politische Theologie von Paul Althaus“ nachzugehen. An erster Stelle sei die
6 So zum Beispiel Grass, Theologie; Baur, Vermittlung; Sparn, Althaus. 7 So zum Beispiel Pöhlmann, Problem; Schäfer, Beurteilung; Kress, Allmacht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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2007 erschienenen Dissertation von Roland Kurz aus dem Jahr 2000 genannt8, in der der Verfasser neben Wilhelm Stapel und Otto Dibelius auch Paul Althaus als typischen Vertreter eines „nationalprotestantischen Denkens in der Weimarer Republik“ charakterisiert. Zwar geht er zu Anfang auf die „Voraussetzungen des nationalprotestantischen Denkens“ ein, die er in groben Zügen anhand der wichtigsten Merkmale nachzeichnet, und zeigt auf, inwiefern Althaus als „Vertreter eines akademischen Nationalprotestantismus“ bezeichnet werden kann, doch trägt diese Zuordnung Althaus’ unter einen derartigen Oberbegriff, der wohl auf mehr als 80 Prozent der damaligen evangelischen Theologen zutrifft, wenig zur genauen Charakterisierung seiner politischen Theologie bei. Zentral geht Kurz auf Althaus’ Geschichts- und Ordnungstheologie ein und befasst sich auch mit seinen „politischen Überlegungen“ und seiner „Einschätzung des Nationalsozialismus“, doch tut er dies vorwiegend anhand seiner größeren Veröffentlichungen, ohne auf seine zahlreichen kleineren Schriften oder gar seine Predigten – außer einer kleinen Auswahl von Kriegspredigten aus dem Ersten Weltkrieg – näher einzugehen. Die Theologie von Althaus macht nach dem Bild, das Kurz von ihr vermittelt, einen überaus statischen Eindruck, Entwicklungen, die gerade mit seinem sozialen Umfeld und den politischen Entwicklungen der Zeit zusammenhängen und auf seine politische Haltung Einfluss nahmen, können daher kaum nachvollzogen werden. Dabei sind gerade diese äußeren Eindrücke und Einflüsse wichtig bei Althaus und seiner politischen Theologie, der ja gerade als Theologe am Puls der Zeit sein wollte. Als zweites ist die unveröffentlichte Magisterarbeit von Ingmar Dette aus dem Jahr 2004 zu nennen, die Paul Althaus als Beispiel für „National-Protestantismus als deutsche Ziviltheologie“ herausgreift und sein geistiges Wirken ab 1914 bis Mitte der 20er Jahre untersucht. Althaus’ Theologie charakterisiert Dette „sowohl als politische Theologie (die die christliche Botschaft für politische, also immanente Zwecke funktionalisieren will), als auch als Zivil theologie“9, worunter er „eine in Sprachsymbolen ausgedrückte, bewußte, handlungsorientierende Erfahrungsauslegung dogmatischen (heißt: verpflichtenden) Charakters“10 versteht. Obwohl sich Dette der Tatsache bewusst ist, dass „bei einer Untersuchung sehr genau auf das Interdependenzverhältnis von Theologie, sowie der mentalen, ideologischen, kulturellen und sozialen Verfaßtheit der Zeit geachtet werden [muß], um die Spezifika des Althaus’schen Denkens deutlich herauszuarbeiten“11, will er seine Studie „nicht auf der sozio 8 Kurz, Denken. 9 Dette, National-Protestantismus, 6. 10 Ebd., 12. 11 Ebd., 4 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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logischen, sondern auf der anthropologischen Ebene“ führen12. Was er damit meint und bezweckt, bleibt im Unklaren. Über die Biographie Althaus’, über die Mentalität, über die soziale und politische Verfasstheit und über ideologische Strömungen der Zeit erfährt der Leser wenig, lediglich ein knappes Zwischenkapitel gibt einen „kurzen Überblick über die zeitgeschichtliche Situation als Orientierung zur Kontextualisierung seines Denkens“13. Die Darstellung und Wertung von Althaus’ Theologie verlässt daher die rein theologische Ebene nahezu nicht. Das Gemeinsame an allen bisher besprochenen Arbeiten ist zum einen eine ausgesprochen dürftige Beachtung des biographischen Hintergrunds der Person Paul Althaus. Zum anderen müssen sich alle Arbeiten den Vorwurf gefallen lassen, dass die vorhandenen Althaus-Quellen nur sehr eklektisch verwendet werden. Anders ist das bei der Untersuchung von Roland Liebenberg über die politische Theologie von Paul Althaus während des Ersten Weltkriegs, die 2006 als Dissertation eingereicht wurde und 2008 unter dem Titel „Der Gott der feldgrauen Männer“ erschien. In einem ersten Schritt untersucht er die mentalen und theologischen Prägungen und ideologischen Einflüsse auf den jungen Theologen, aber auch sein soziales Umfeld und seinen biographischen Hintergrund, die Althaus zu einer Persönlichkeit mit einer eigenen theologischen und politischen Haltung haben werden lassen. In einem zweiten Schritt untersucht er den Beginn seines öffentlichen Wirkens als Prediger im Weltkrieg und die ersten Ausformungen eines eigenen theologischen Ansatzes vor dem Hintergrund der ermittelten Prägungen und Einflüsse. Diese theologische Grundlage kennzeichnet Liebenberg als „theozentrische Erfahrungstheologie“, deren Schwerpunkt er in der Trias Gottesbild, Geschichtstheologie und Erlebnishermeneutik sieht. Liebenberg geht es in seiner Untersuchung nicht nur darum, uns den frühen Althaus näherzubringen, sondern er richtet gleichzeitig auch den Blick nach vorne, indem er schon an den frühen Althaus und seine Theologie die Frage nach der „Anfälligkeit für den Nationalsozialismus“ heranträgt. So verfolgt Liebenberg mit seiner Studie die Absicht, „die Ursprünge und Hintergründe der für Paul Althaus ausschlaggebenden Faktoren seines Votums für den NS-Staat aufzuzeigen“14. An die Untersuchungen Liebenbergs zu Althaus’ mentalen, sozialen, politischen und theologischen Prägungen gilt es anzuknüpfen. Um allerdings der Gefahr des Determinismus zu entgehen, die dem Versuch innewohnt, den Prä-
12 Ebd., 10. 13 Ebd., 6. 14 Liebenberg, Gott, 504. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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gungen in Kindheit und Jugend allzu viel zuzutrauen15, muss für die Frage nach der „Anfälligkeit für den Nationalsozialismus“ zusätzlich die unmittelbare „Vorgeschichte“ des „Dritten Reiches“, also die Zeit der Weimarer Republik, in den Blick genommen werden. Schließlich ist davon auszugehen, dass mentale Prägungen und Präferenzen – so wichtig sie für das ganze Leben auch sind – erst im Zusammenspiel mit konkreten, durch den jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext bestimmten Lebenssituationen und daraus sich bildende Lebenserfahrungen zu bestimmten individuellen Handlungen und Entscheidungen führen16. Dabei gilt es allerdings darauf zu achten, dass die Zeit der Weimarer Republik in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen und nicht nur als bloße „Vorgeschichte“ für das „Dritte Reich“ betrachtet wird17. Erst dadurch kann der Offenheit und der Kontingenz der Geschichte Rechnung getragen und einer perspektivischen Verkürzung der Geschichte gewehrt werden18. Definiert man Kirchengeschichte mit Martin Greschat als „das Bemühen um das Verstehen des kirchlichen Lebens, Denkens und Handelns im Kontext der allgemeinen politischen und sozialen, ökonomischen und geistigen und nicht zuletzt der religiös-kulturellen Sehnsüchte und Gegebenheiten, Hoffnungen und Zwänge einer Epoche“19, 15 Zu hinterfragen ist beispielsweise die von Liebenberg angenommene weltanschaulich und theologisch determinierende Prägekraft der Mitgliedschaft bei einer studentischen Korporation, die er unter der Bezeichnung „männerbündisches Erbe“ zusammenfasst (vgl. ebd., 111–159). Wenn man sich bewusst macht, dass auch so unterschiedliche politische und theologische Charaktere wie Ernst Troeltsch, Karl Barth oder Karl Steinbauer an diesem „männerbündischen Erbe“ teilhatten, so verliert dieser Faktor für eine „Anfälligkeit“ für den Nationalsozialismus an Plausibilität. 16 Auf diesen Zusammenhang macht uns nicht zuletzt die Sozialpsychologie aufmerksam: „In vielen Situation unterschätzen Menschen den Einfluß situativer Kräfte und machen fälschlicherweise Dispositionen der Akteure für beobachtetes Verhalten verantwortlich“, so Bierbrauer, Sozialpsychologie, 28; vgl. ebd., 35.39.119 f.130. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass auch Mentalitäten einen Menschen nicht determinieren. Sie hängen „aufs engste mit anderen sozialen und politischen Strukturen zusammen. Das bedeutet freilich auch umgekehrt: Wenn die vorgeprägten Antworten den Herausforderungen nicht mehr entsprechen, verändert sich die Mentalität“ (Greschat, Bedeutung, 95). 17 Nipperdey, Geschichte, 232 schreibt dazu: „Die Geschichte ist mehr als Vorgeschichte für unsere Gegenwart, jede Vergangenheit war auch sie selbst, sie hatte eine offene Zukunft, die wir, die Historiker, ihr zurückgeben müssen. Der noble Traum des Historikers bleibt es, eine Vergangenheit aus ihren eigenen Möglichkeiten zu begreifen und nicht aus unseren Möglichkeiten oder unseren Perspektiven.“ Vgl. ders., Kontinuität, 204. 18 Dementsprechend rät Graf, Kulturluthertum, 73 im Blick auf Althaus, „aus hermeneu tischen Gründen seine theologische Produktion vor der sogenannten nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘ zunächst in ihrer relativen Eigenständigkeit“ wahrzunehmen. Vgl. Jasper, Theologiestudium, 253. 19 Greschat, Bedeutung, 73. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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dann ist es schier unmöglich, einen Theologen und seine Theologie – zumal wenn es sich um eine derart dezidiert politische wie bei Althaus handelt – monokausal nur-theologisch zu beleuchten. Denn eine theologische Haltung und von dieser herkommend eine theologische Lehre bildet sich nicht im luftleeren Raum, aller gesellschaftlichen Realität enthoben; sie hat Voraussetzungen, die es offenzulegen gilt. Im Anschluss an Liebenberg20 gehe auch ich bei der Untersuchung der politischen Theologie von Althaus von einem Beziehungsgeflecht zwischen der theologischen Theoriebildung einerseits und dem biographischen Hintergrund, den mentalen Prägungen, dem sozialen Kontext, den ideologischen Einflüssen und politischen Ansichten andererseits aus. Erst dieses Ensemble von einzelnen, sich wechselseitig durchdringenden Faktoren lässt auf die Persönlichkeit „Paul Althaus“ mit ihrer theologischen und politischen Haltung schließen, wodurch wiederum seine „politische Theologie“ danach befragt werden kann, warum sie so ist, wie sie ist. Dieser Interdependenz der Faktoren entspricht beim Erforschen derselben folglich auch eine Interdependenz der Methoden. So müssen neben die Kirchen- und Theologiegeschichte im engeren Sinn die Sozial-, Mentalitäts- und Ideologiegeschichte treten, will man dem Forschungsgegenstand gerecht werden. Untersucht werden sollen seine Bücher, Monographien, Aufsätze, kleineren Schriften, Artikel und Rezensionen aus der Zeit von 1918 bis 193321, um die Entwicklung seiner theologischen und politischen Haltung in dieser Zeit nachzeichnen zu können. Althaus soll aber nicht nur als theologischer Lehrer in den Blick genommen werden, sondern – zumindest exemplarisch – auch als Prediger, d. h. als jemand, der seine eigene Theologie immer auch in der Praxis der Verkündigung anwendet. Für ihn stand fest, dass Theologie und Verkündigung unmittelbar aufeinander bezogen sein müssen. Auf die Unter suchung der Althausschen Briefkorrespondenz wird weitgehend verzichtet – zum einen aufgrund der Tatsache, dass dieses Material bislang noch nicht ediert wurde22, zum anderen weil ein solches Unternehmen den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Da es sich bei der vorliegenden Arbeit zur Althausschen Theologie in der Zeit der Weimarer Republik um eine kirchengeschichtliche und nicht um eine systematisch-theologische Untersuchung handelt, können letztgenannte Frage 20 Liebenberg, Gott, 20. 21 Manche Schriften werden aufgrund ihrer zentralen Bedeutung einzeln besprochen, andere werden kumulativ behandelt. 22 Eine Ausnahme stellen seine Studentenbriefe aus der Tübinger Zeit dar, abgedruckt in: Jasper, Theologiestudium. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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stellungen naturgemäß nur insofern in den Blick genommen werden, als sie zur Erhellung des historischen Gesamtzusammenhangs notwendig sind. Dass dies bei einem Systematiker wie Althaus vielfach der Fall sein wird, versteht sich von selbst. Dennoch kann diese Arbeit zentrale Topoi des Althausschen Werkes wie etwa die Geschichtstheologie, die Schöpfungsordnungstheologie sowie seine Lehre von der Ur-Offenbarung nicht eingehender betrachten, sondern muss sie angesichts der Vielzahl der Literatur über eben jene zentralen Themen bei Althaus entweder als bekannt voraussetzen oder sie der neuerlichen systematischtheologischen Forschung überlassen. Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung beschäftigt sich sowohl mit der Theologie selbst, als auch mit ihren historischen Voraussetzungen und ihrem zeitgeschichtlichen Kontext. Möge der Beitrag dieser Arbeit zunächst darin gesehen werden, eben jene Voraussetzungen des Althausschen Werkes und seinen Kontext in den Jahren 1918 bis 1933 zu erschließen, um von dort aus zu Person und Werk von Althaus vorzudringen. Um diesen auf die Spur zu kommen, ist eine differenzierte Kontextualisierung des Althausschen Schaffens vonnöten. Erreicht werden soll diese unter anderem durch ein komparatistisches Vorgehen. Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, gerade angesichts der dialektischen Argumentationsweise und der damit zusammenhängenden vielfachen Uneindeutigkeit und Ambivalenz der Haltung und des Verhaltens Althaus’ besonders in den 30er Jahren die Spannungen zwischen Intention und Rezeption seiner politisch-theologischen Aussagen herauszuarbeiten23. Wichtig ist dazu, Althaus selbst breit zu Wort kommen zu lassen und der Textpragmatik24 seiner Schriften nachzuspüren. Will man sich in die damalige Zeit hineinversetzen, um Verhalten und Haltung der Theologen und Kirchenmänner verstehen zu können, gilt es sowohl die Entstehungsverhältnisse der Texte, als auch den inneren Antrieb ihrer Verfasser sowie ihre Rezeption greifbar zu machen. Erst wenn diese verschiedenen Perspektiven zusammenkommen, lässt sich ein plastisches Bild früherer, zumal uns heute nicht ohne weiteres nachvollziehba 23 Schon Tödt, Komplizen, 231 warnte vor der „Suggestion des Schemas, aus einem post hoc ein propter hoc zu machen, aus einer zeitlichen Reihenfolge eine kausale“. Bezeichnenderweise illustriert er diese Warnung am Beispiel Althaus’. Für ihn ist „zu unterscheiden, ob es eine subjektive, beabsichtigte Offenheit zum Faschismus hin gab oder – auch wider Willen – eine objektive, also eine, die sich im praktischen Wirkungszusammenhang darstellte. Wenn zum Beispiel 1931 Paul Althaus bei dem diffamierenden Angriff auf die deutschen Ökumeniker […] die Nationalsozialisten verteidigte, so wollte er nach meiner Vermutung eigentlich nicht Hitlers Angriffen gegen den ‚Internationalismus‘ das Wort reden oder helfen, ihn an die Macht zu bringen. Objektiv aber hat sein Agieren fördernd und vorbereitend für den Sieg der Nationalsozialisten gewirkt.“ 24 Zur Textpragmatik vgl. Kocher, Pragmatik, 450. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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rer Zeiten zeichnen. Dazu ist auch eine, die herkömmliche Althaus-Interpretation teilweise hinter sich lassende Relektüre erforderlich. Um den Hintergründen für die Uneindeutigkeiten dieser Zeit auf die Spur zu kommen, ist es mit Notger Slenczka nötig, „die subjektive Wahrnehmung der Situation zu rekonstruieren, die die jeweilige Option als geforderte und gute zu bewerten gestattete.“ Sodann gelte es, „die jene Wahl ursprünglich leitenden Motive zu erfassen“, denn der „Versuch, diese Motive zu erheben, ist die Voraussetzung dafür, daß ein vergangenes Votum verständlich wird“25. So hält es auch Gunther Mai für eine „unzulässige Verkürzung“, als Historiker nur der „‚objektiven‘ Wirklichkeit“ nachzugehen, nicht aber „nach der ‚interpretierten‘ Wirklichkeit, das heißt, nach der Wahrnehmung und politischen Verarbeitung dieser Gegebenheiten, nach den Wertvorstellungen, nach den kollektiven Mentalitäten“ zu fragen26. Es ist somit eine genuine Aufgabe der Geschichtswissenschaften, die Maßstäbe von handelnden Personen der Geschichte deutlich zu machen, um die Nebenwirkungen späterer Zeit von den eigentlichen Intentionen zu trennen. Kontraproduktiv ist dabei die von Friedrich Wilhelm Graf festgestellte „Tendenz zur moralischen Distanznahme“27, die es erschwert, sich in die damalige Zeit hineinzuversetzen und so den inneren Beweggründen der handelnden Personen nachzuspüren. Der vorliegenden Arbeit ist eine erstmals vollständige, sämtliche Veröffent lichungen umfassende Bibliographie von Paul Althaus beigefügt.
25 Slenczka, Ende, 258 f. Für ihn steht fest, „daß ein Mensch das Böse als Böses will, ist ein relativ seltenes ethisches Phänomen. Daß ein Mensch Böses um eines vermeintlich guten Z weckes willen in Kauf nimmt, ist ein kommunes ethisches Motiv, dem sich kein politisch optierender Mensch wird entziehen können“. Diese Motive sind für ihn „gleichsam die mildernde Umstände, die eine im Blick auf die Folgen objektiv verwerfliche Tat wenigstens subjektiv verständlich machen.“ 26 Mai, Verteidigungskrieg, 583. Demgegenüber konnte im Jahr 1964 Wolfgang Tilgner im Rahmen seiner Beschäftigung mit der deutschen Volkstumstheologie in der Zeit der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ noch den programmatischen Satz formulieren: „Für den einer vergangenen theologischen Entwicklung nachgehenden Historiker kann es nun nicht darum gehen, die verborgenen und uneinsichtigen Absichten einzelner völkischer Theologen zu analysieren […]. Vielmehr muß er sich an deren öffentliche Publikationen halten, die geschichtlich faßbar und greifbar sind. Nicht das innere Wollen, sondern die zur Geschichte gewordene theologische Denkarbeit bildet hier den Gegenstand der Nachforschung.“ (Tilgner, Volksnomostheologie, 10). Über diese Haltung ist die kirchliche Zeitgeschichtsforschung mittlerweile hinausgeschritten. 27 Graf, Nation, 307. Er fährt fort: „An die Stelle einer analytisch-kritischen begrifflichen Bestimmung der spezifischen Faszinations- und Leistungskraft nationalreligiöser Symbolik und rassistischer Denkformen treten die Pathosformeln des ‚wie furchtbar‘.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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1. Die Weimarer Zeit als Krisenzeit „Viele unter uns stehen unter dem Eindrucke“, so schreibt Althaus „Zum Advent 1931“, „daß die Lebensnot nicht von heute auf morgen vorübergehen wird, daß wir uns für lange auf sie einrichten müssen. Immer deutlicher erkennen wir, daß die Not […] doch weithin nichts anderes als das notwendige Ergebnis unserer so hoch gepriesenen modernen Zivilisation, ihrer technischen und wirtschaftlichen Entwicklung ist. […] Der Zweifel, ob die sonst so oft bewährte Ratio, die vernünftige Organisationskraft des modernen Menschen auch dieses Mal des politischen und wirtschaftlichen Chaos der Welt Herr werde, schleicht wie ein lähmendes Gift durchs Land.“1
Wenn wir uns der deutschen Zwischenkriegszeit nach 1918 kirchengeschichtlich nähern wollen, gilt es, sich zunächst den wesentlichen Charakter dieser Jahre als Krisenzeit bewusst zu machen. Klaus Scholder bringt dies mit den Worten auf den Punkt: „Daß die Zeit aus den Fugen sei, daß sich in ihrem Schoße ein noch unbekanntes, gewaltiges Neues vorbereite, das die Misere des Weimarer Alltags mit einem Schlage beseitigen werde: diese Überzeugung beherrschte offenbar das Denken und Fühlen einer ganzen Generation.“2
Die Jahre zwischen 1918 und 1933 waren in Deutschland eine Zeit permanenter Krisenerfahrung. Der Erste Weltkrieg und sein Ausgang waren dabei zwar nicht der Auslöser der Krise, die bereits um die Jahrhundertwende mit dem rapiden Bevölkerungswachstum, der Industrialisierung, dem rasanten und bald den Alltag beherrschenden technischen Wandel und der Verstädterung einsetzte3, aber er war ein entscheidender Katalysator der Krise4. Paul Nolte 1 3113 Botschaft, 481. 2 Scholder, Geschichte, 78. Scholder nennt das Gefühl der Krise das „Grundgefühl der zwanziger Jahre überhaupt“. 3 Zum damaligen Leiden der Menschen an der Moderne vgl. Nolte, Ordnung, 107–111. 4 Für Nolte, ebd., 63 war der Weltkrieg „mindestens ebenso sehr eine Folge dieser Krise des beginnenden 20. Jahrhunderts, der erste Versuch einer Flucht aus ihr. Den zweiten Fluchtversuch markiert der 30. Januar 1933“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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spricht für die Kriegs- und Nachkriegszeit von einer „fundamentalen Verstörung und Verunsicherung der deutschen Gesellschaft“, einer „Zeit gebrochener Erfahrungen und zerbrochener Deutungsmuster, die jene erstaunliche Radikalisierung auslösten, deren Ergebnisse die Wahlerfolge der NSDAP und die Kanzlerschaft Adolf Hitlers waren.“5 Furcht vor der Moderne, Angst vor der Modernität angesichts einer fragmentierten und segmentierten Gesellschaft war die zentrale Zeiterscheinung6. Eine verzweifelte Sehnsucht und Suche nach Homogenität und Gemeinschaft, nach Verwurzelung und Integration, ein „Hunger nach Ganzheit“ (Peter Gay) bestimmte das geistige Leben. „Wir stehen in einer Epoche“, konstatiert der Soziologe Franz Jerusalem im Jahr 1930, „die vom Individualismus zum Kollektivismus, von der Betonung des Einzelnen und seiner Werte zur Betonung der Gemeinschaft und ihrer Werte überzugehen im Begriff ist.“7 „Das vorherrschende, sich aufgrund der Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit weiter steigernde Gefühl der Unordnung und Zerrissenheit, das breite Bevölkerungsschichten ebenso ergriff wie Wissenschaftler und Intellektuelle, gab Utopien der Harmonie und der Stabilität immer neue Nahrung“,
so Nolte8. Diese Sehnsucht und Suche wandte sich gegen alle Erscheinungen, die als Ursache für die so schmerzlich empfundene und erlittene Zerrissenheit des deutschen Gemeinwesens haftbar gemacht wurden: Säkularismus und Liberalismus, Pluralismus und Individualismus. Während diese Phänomene als „westliche Ideen“, als Ideen der Aufklärung identifiziert und als Zerfallserscheinungen der deutschen Kultur gebrandmarkt wurden, lehnte man die „östlichen Ideen“ des Bolschewismus, die mit dem Kampf gegen das Bürgertum und gegen die Religion identifiziert wurden, in gleichem Maße ab. Das Heilmittel gegen die Krise meinten viele Nationalkonservative in einem dritten Weg, einem spezifisch „deutschen Weg“, finden zu können. Dessen sozialer Leitbegriff lautete „Gemeinschaft“ im Gegensatz zur bloßen „Gesellschaft“, lautete „Volks gemeinschaft“ als gleichsam pleonastische Zuspitzung9.
5 Ebd., 64. 6 Vgl. bei Althaus dazu 3113 Botschaft, 481.484. 7 Jerusalem, Gemeinschaft und Staat, 5, zit. nach: Nolte, Ordnung, 167. 8 Nolte, ebd., 65. Als wirkmächtigste Utopie erwies sich diejenige, die aus dem sogenannten „Augusterlebnis 1914“ stammte und mit den „Ideen von 1914“ umschrieben wurde; vgl. ebd., 67–69. 9 Nach Nolte, ebd., 161 wird man „das Bewußtsein und die Überzeugung vieler Zeitgenossen ernst nehmen müssen, mit Ordnungsmodellen, die um […] die ‚Gemeinschaft‘ herum aufgebaut waren, eine tragfähige Antwort auf die Probleme des 20. Jahrhunderts gefunden zu haben“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Die Weimarer Zeit als Krisenzeit
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Für die Mehrzahl der evangelischen Theologen und Kirchenmänner war dieser „deutsche Weg“ ohne Frage ein dezidiert christlicher Weg aus der Krise, die von ihnen im Vergleich zu ihren nichtkirchlichen Volksgenossen als eine doppelte wahrgenommen wurde: nicht nur als Krise des deutschen Gemeinwesens, sondern auch als Krise kirchlicher Christlichkeit. Denn „gerade die Theologen hatten die Epoche der Auflösung der Einheitswelt durch Differenzierung der Gesellschaft, des Wissens und des Handelns in mehr oder weniger unabhängige Bereiche gerade auch als glaubensgefährdende Krise des Christentums und damit der Theologie erfahren.“10 „Hier zeigte sich kirchliche Überfremdungsangst vor Säkularisierungstendenzen, die sich im religionsneutralen Weimarer Staat durch pluralistische Tolerierung auch religionskritischer und kirchengegnerischer Tendenzen verstärkt geltend machten und kirchlicherseits kritisch beargwöhnt wurden.“11
Weitgehender Konsens herrschte unter den Theologen in der „These, daß die sozialen und politischen Probleme und Krisenphänomene der Zeit eine religiöse Dimension haben und deshalb nur von der Theologie angemessen bearbeitet werden können“12. Theologie tat sich auf diese Weise als Krisenhermeneutik hervor und meinte damit ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen zu können. „Eine derartige Definition der Krise als einer wesentlich geistigen erlaubt es ihnen dann auch, die Potenzen des eigenen Faches als wichtige Hilfe für die Suche nach Wegen aus der Krise ins Spiel zu bringen. […] Die Kulturkrise steht, in dieser Perspektive betrachtet, in einem Wechselverhältnis zur Krise der Religion, denn die Verdrängung und gesamtgesellschaftliche Marginalisierung der Religion wird interpretiert als Verlust an ethischer Orientierung und Sittlichkeit in der Gesamtkultur.“13
Ordnungstheologische Entwürfe waren eine mögliche und in damaliger Zeit als sehr plausibel erachtete Antwort auf die allgemeine Krisenmentalität. Die Überfremdungsangst vor dem Säkularismus, die weder spezifisch deutsch noch spezifisch protestantisch war, wurde nun allerdings protestantischerseits 10 Schneider, Spengler, 200. 11 Meier, Volkskirche, 12. 12 Tanner, Verstaatlichung, 64. 13 Ebd., 72. Tanner führt dazu aus: „Im Prozeß der Rationalisierung bzw. der Ausdifferenzierung relativ autonomer Kultursphären habe sich die einst durch die unbestrittene Geltung der religiösen Tradition gestiftete homogene Wertbasis zunehmend zersetzt und in jene ‚Anarchie der Werte‘ aufgelöst, die für das Individuum den Verlust an eindeutiger ethischer Orientierung mit sich bringe. So wird die Krise der Gegenwart […] als Folge der Modernisierung und Industrialisierung gedeutet.“ (ebd., 263). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
in Deutschland vielfach durch eine Überfremdungsangst vor dem als kulturell und politisch im Vorrücken begriffen interpretierten Katholizismus ergänzt. Nachdem man sich im untergegangenen Kaiserreich durchaus als so etwas wie eine deutsche Leitkultur verstehen konnte, vertraten in der Weimarer Republik viele Evangelische die Überzeugung, dass „der deutsche Protestantismus zu den Besiegten des Weltkrieges und der Revolution gehört“ (Rudolf Smend)14. Das evangelische Krisenbewusstsein sah sich in dieser Zeit des Weiteren von einem z. T. aggressiven christentumsfeindlichen „Neuheidentum“ bzw. vom Versuch einer germanisch-religiösen Transformation des Christentums herausgefordert, jeweils in erster Linie von völkischen Kreisen getragen, die eine „arteigene Religion“ suchten und forderten. Sofern sich die evange lische Kirche dieser Zeit außerdem, ohne aus dem eigenen Versagen bei der Auswanderung der Arbeiterschaft aus der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten ihre Lehren gezogen zu haben, weiterhin als bürgerliche und mit besonderer Vorliebe als bildungsbürgerliche Kirche betrachtete, war der kirchlich verfasste Protestantismus außerdem hineingezogen in die Krise des Bürgertums in den 20er und 30er Jahren überhaupt15. Auf dieses vielgestaltige Krisensyndrom seiner Zeit musste und wollte Althaus mit einem eigenen theologischen Ansatz reagieren.
14 Smend, Protestantismus, 300. 15 Nolte, Ordnung, 87 f. benennt drei Aspekte dieser Krise: den „materiellen Verlust des bürgerlichen und mittelständischen Besitzes in dieser Zeit“, die „Auflösung des Bürgertums als einer soziokulturellen Formation“ und die „Krise der bürgerlichen Ideologie“, die er als „schwindende Sicherheit des ideologischen, mentalen und sprachlichen Selbstverständnisses“ dieser Gruppe bezeichnet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
2. „Mein Böses verführt andere, nimmt ihnen Hemmungen, gibt ihnen das ersehnte gute Gewissen, schafft Atmosphäre, Hausgeist, Volksgeist, Zeitgeist.“ – Vorab ein Vor-Urteil über Paul Althaus1 Sich mit Paul Althaus vollkommen vorurteilsfrei zu beschäftigen, fällt aus zwei Gründen nicht ganz leicht: Zum einen aufgrund der von Althaus in der Frühphase der NS-Herrschaft gemachten Äußerungen, die zumindest für diese Zeit große Sympathien für die sogenannte „deutsche Wende“ erkennen lassen. Zum anderen angesichts der ihn behandelnden Literatur, wo er häufig in Folge einer perspektivischen Verkürzung der Geschichte ganz im Lichte der Ereignisse 1933/34 wahrgenommen wird. Um sich nun aber bei der Beschäftigung mit Althaus vor einer einseitigen „Hermeneutik des Verdachts“2 zu hüten, die hinter jeder seiner Aussagen vor 1933 eine Präfiguration einer möglichen NS-nahen Theologie vermutet, ist es notwendig, sich sowohl die Offenheit und Kontingenz von Geschichte, als auch die Veränderbarkeit gesellschaftlichnormativer Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen. Der erste Gedanke bewahrt vor jeder Art von geschichtlichem Determinismus, der zweite öffnet den Blick für die Dimensionen kollektiver Prägungen, aber auch Verstrickungen3. Um einer einseitigen „Hermeneutik des Verdachts“ zu entgehen, halte ich es für unabdingbar, sich die Ambivalenzen und Spannungen im Leben und Wirken von Althaus deutlich zu machen. Erst sie bewahren uns vor vorschnellen Wertungen und damit vor einem schwarzweißmalerischen Schubladendenken. Dass dieser Ansatz nicht das Ziel haben kann, einer wie auch immer gearteten Exkulpation von Althaus das Wort zu reden, wird im Verlauf der Arbeit deutlich werden. Darüber hinaus erlaube ich mir – unbeschadet der Bedenken gegenüber einer „Hermeneutik des Verdachts“ – vorab ein Vor-Urteil über Althaus und sein Wirken zwischen 1918 und 1933. Zu diesem Vor-Urteil fühle ich mich umso mehr berechtigt, als es nicht einfach unserem heutigen kritischen Urteil über ihn entspringt, sondern seinen eigenen, selbstkritischen Äußerungen entnommen ist.
1 Wertvolle Anregungen zu diesem Kapitel habe ich dem Vortrag von Berndt Hamm mit dem Titel „Kriterien für den Umgang mit der Kirchengeschichte zwischen 1900 und 1950“ auf dem Oberseminar im Juni 2007 in Erlangen entnommen. 2 Zur „Hermeneutik des Verdachts“ vgl. Hiller/Wesche, Verdacht, 631 f. Vgl. auch Weder, Kritik, 59 f.82 f. 3 Vgl. Hamm, Schuld. Kritisch gegenüber Hamm und dessen Anwendung der Schuldkategorie im Rahmen historischer Erkenntnisse äußert sich Kaufmann, Elert, 240. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
Althaus zeigte sich nämlich nach dem Ende des „Dritten Reichs“ durchaus bereit zu offener Kritik4. Im Dezember 1946 druckte die wissenschaftliche Zeitschrift „Prisma“5 einen Artikel von ihm mit dem Titel „Schuld“ ab, der in verschiedener Hinsicht bemerkenswert ist. Es handelt sich dabei um die deutlichste Auseinandersetzung von Althaus mit der Schuldthematik der vergangenen zwölf Jahre, sowohl in kollektiver als auch in ganz persönlicher Dimension. Gegen einen die Schuld relativierenden Determinismus – Althaus spricht von „naturalistischer Biologie […und] Soziologie“ – betont er: „Wir können uns unter Gottes Gebot nicht verstehen als bloßes Werk und Objekt des Schicksals, als Wirkung der Natur, als Ergebnis geschichtlicher Verhältnisse […]. Wir sind in unserem Sein und Tun wir selbst, Subjekt, Person, frei.“6 Dieses Person Sein geht für Althaus nicht auf im Gedanken der Wahlfreiheit, denn es gilt, „von Schuld ist auch da zu sprechen, wo ich selber nicht anders sein konnte als ich war.“7 Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass Althaus, der aufs Ende des Artikels zu mehr und mehr das ethische Moment der Verantwortung betont, schließlich auf die menschliche „Schuld-Gemeinschaft […] in den kleineren und größeren Lebensgemeinschaften“8 zu sprechen kommt. Auch wenn er aus erkenntnistheoretischen und theologischen Gründen – Gott allein schaut ins Herz – betont, dass diese Schuld vor Gott besteht, nicht aber von einer menschlichen Instanz durchschaut werden kann, so ist es sehr auffällig, dass er hier überhaupt von „Schuld-Gemeinschaft“ spricht – in einer Zeit Ende 1946, wo er als derartig populärer Theologe große Gefahr lief, als Kronzeuge der damals virulenten Kollektivschuld-These vereinnahmt zu werden, mit all den damals nicht abzuschätzenden politischen und existentiellen Folgen. Offenbar war ihm aber der Gedanke der gemeinsamen Mitschuld in diesem Aufsatz wichtiger als diese Gefahr. Daraus lässt sich schließen, wie wichtig ihm dieser 4 Aus einem Gesprächsprotokoll des Amerikaners Stewart W. Herman, der im Oktober 1945 „Interviews with leading Bavarian Churchmen“ führte, erfahren wir von einem Gespräch mit Althaus vom 14. Oktober: „He was very hopeful about the future, stating that Christians knew that a Hitler victory would bring an end to the church.“ Aus diesem Grund hält er vormals aktive Nazis für das Theologiestudium für inakzeptabel. Herman fährt fort: „Bavarians, Althaus says, […] are eager to participate in an open criticism of their past with an view to planning für their future.“ (zit. nach: Vollnhals, Kirche, 177). 5 4604 Schuld. Diese Zeitschrift erschien 1946–1948 in München. 6 Ebd., 6. Wie wichtig es Althaus war, wirkliche menschliche Schuld gegen eine Sichtweise des Menschen als „Objekt des Schicksals“ zu betonen, zeigte schon 1935 seine Auseinandersetzung mit Wilhelm Hauer „Die Frage nach der Schuld im Deutschglauben“ (3507): „Der Mensch […] bleibt […] in seiner Schuld Gotte verantwortlich, und kein Gedanke an Gottes Verhängnis in unserem Sündigsein kann das Gewicht der Schuld verringern.“ (ebd., 462). 7 Ebd. In die gleiche Richtung argumentiert auch Hamm, Schuld, 17 f. 8 Ebd., 7 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Gedanke der deutschen „Schuld-Gemeinschaft“ überhaupt war9. Sehr deutlich wird Althaus am Ende seines Aufsatzes: „Ich bin auch mit allen anderen verknüpft in der großen Gesamt- und Wechsel wirkung des persönlich Bösen aller. Mein Handeln und Unterlassen, meine Haltung wirkt auf die anderen, in die Nähe und in die Weite, in der Gegenwart und in die Zukunft. Mein Böses verführt andere, nimmt ihnen Hemmungen, gibt ihnen das ersehnte gute Gewissen, schafft Atmosphäre, Hausgeist, Volksgeist, Zeitgeist. Jeder von uns baut mit an dem Reiche des Bösen und hilft es erhalten – es führt andere in vielleicht viel schwerere Zuchtlosigkeit, als ich persönlich lebe, hinein. […] Mein Reden und mein Schweigen, mein Billigen und stillschweigendes Dulden, mein vielleicht sehr bescheidenes und zahmes Mich-gehen-lassen, mein Mitläufertum in dem Aufstand wider Gottes Gebote, alles das hat ungeahnte, ungewollte, aber nichtsdestoweniger höchst reale Fernwirkungen. Dieser Zusammenhang macht mich mitverantwortlich vor Gott, weit über meine persönliche Schuld hinaus. […] Nicht alle Schuld ist meine persönliche Schuld. Aber ich bin in aller Schuld mitschuldig.“10
Nicht nur in dieser wissenschaftlichen und damit nur wenige Leser erreichenden Zeitschrift hat Althaus im Jahr 1946 die deutsche Schuld klar beim Namen genannt, sondern auch als Prediger hat er diesen Gedanken ins Volk getragen. So predigte er an Weihnachten 1946 in der bis auf den letzten Platz gefüllten Neustädter Kirche in Erlangen: „Wollen wir, die einzelnen, die Christen, uns von der Schuld der Führung und des ganzen Volkes ausnehmen? Ist es nicht einfach wahr, daß wir mit allem unserem Christentum doch nicht rechtzeitig erkannt haben, welcher gottlose Geist unsere politische Führung beherrschte, was da an Unrecht und Unmenschlichkeit geschah – und dieses Nicht-Sehen, ist es nicht mehr oder weniger doch auch Schuld? Und wenn wir sahen – daß wir nicht mehr aufbegehrt, nicht entschlossener Widerstand geleistet, nicht geschrien haben: es ist nicht recht, es ist Sünde! – haben wir uns dessen nicht zu schämen? Sind wir damit nicht alle, so klug wir uns für unser Schweigen jeweils entschuldigen konnten, an Gott schuldig geworden?“11
Neu ist dieser Gedanke einer kollektiven Schuldverstrickung bei Althaus 1946 nicht. Schon in seiner Eschatologie sprach er 1926 über die „Gesamtschuld der Väter und der Brüder“ und über die „soziologischen Zusammenhänge unserer Leidenschaften und Verkehrtheiten“ und fuhr fort: „Wir erben sie, wir wachsen 9 Er ergibt sich folgerichtig aus Althaus’ Gedanken der Verantwortungs-Gemeinschaft, mit dem er schon 1936 das Volk in die Pflicht nahm: „Das Volk ist für seine Führung mitverantwortlich, vor Gott dem Herrn, angesichts der Sache, des Willens Gottes in bezug auf dieses Volk“ (3607 Obrigkeit, 49). 10 4604 Schuld, 8. 11 4614P Gnade, 53. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
in Geschlechts-, Familien-, Volks-, Zeitsünden hinein.“12 Wie wichtig Althaus das Thema deutscher und auch eigener Schuld am und im „Dritten Reich“ war, machen seine Predigten deutlich, in denen er über Jahrzehnte hinweg der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die nur allzu leicht über das unbequeme Thema hinwegging, immer wieder den Blick zurück auf das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte zumutete. So heißt es in seiner Buß- und Bettagspredigt am 16. November 1955: „Dabei können wir nun gar nicht anders als an die große Schuld jenes früheren deutschen Staates denken, an der wir so oder so wohl alle beteiligt sind, die als Bann auf unserem Volke liegt, für die wir gutstehen, die wir bezahlen müssen – die entsetzliche Blutschuld des dritten Reiches, durch deutsche Männer bewirkt, Blutschuld an den Völkern des Ostens, an dem jüdischen Volke.“13
Aus diesen Worten, die als Worte der Selbstkritik gelesen werden müssen, lässt sich folgern, dass Althaus daran gelegen war, gegen eine Relativierung von Schuld seine Stimme zu erheben und auch eigene Schuld beim Namen zu nennen14. Er war sich offensichtlich nach dem Krieg durchaus bewusst, wie sehr gerade er als Professor und Prediger über Jahre und Jahrzehnte an einem Zeitgeist mitgewirkt hatte, der derartig schreckliche Folgen zeitigen konnte. Schon 1921 hatte Althaus seine Fähigkeit zur Selbstkritik an eigener Zeitgeistverfallenheit bewiesen, als er schrieb: „Wir denken […] alle irgendwie in den Lieblingsgedanken unserer Zeit und sind ihren Stimmungen verfallen.“15 Dass „der Weltgeist mitten in der Kirche die Wahrheit des Evangeliums und damit zugleich die Wahrheit des Glaubens zu verfälschen droht“, machte Althaus auch den Teilnehmern des Festaktes in Augsburg anlässlich des 400. Jubiläums der Confessio Augustana im Jahr 1930 deutlich16. Dieser „Weltgeist“ nimmt für ihn immer wieder „die Kirche für große herrliche irdische Ziele in 12 2604 Dinge, 224. 234. Vgl. 2304 Lehre, 62, wo dieser Gedanke bei Althaus zum ersten Mal auftaucht. 13 5504P Feuer, 213. Ganz auf der Linie seiner eigenen Geschichtstheologie leitet Althaus von dieser Schuld Gottes Nein zur deutschen Wiedervereinigung ab. 14 Dass er das damals nicht offener und konkreter aussprach, dafür aber deutlich zwischen den Zeilen, erklärt sich aus den damaligen Zeitumständen. Einerseits besaßen seine Leser die durch die Umstände im „Dritten Reich“ bedingte Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Der Leserschaft dieser wissenschaftlichen Zeitschrift dürfte ebenso der hohe Abstraktionsgrad des Aufsatzes geschuldet sein. Andererseits versteht es sich nahezu von selbst, dass Althaus 1946 während der sogenannten Entnazifizierung mit all ihren großen Rechtsunsicherheiten und tatsächlichen bzw. empfundenen Ungerechtigkeiten nicht deutlicher und konkreter von eigener Schuld spricht – zumal diese Schuld für ihn in erster Linie vor Gott gilt. 15 2105 Kreuz, 28. 16 3006 Bekenntnis, 205. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Anspruch, völkische und internationale“, und stellt besonders für „ihre Führer und Lehrer“ eine Versuchung dar17. Wie wichtig Althaus der Hinweis auf diese Gefahr war, zeigt er auch in einem Aufsatz über „Die Stellung der evangelischen Gemeinde zur Christengemeinschaft“, ebenfalls 1930: „Es fragt sich auch, ob es nicht ein Eingehen auf den heutigen Menschen gibt, bei dem man die Sache, die man ihnen bringen will, vor lauter vermeintlicher Zeitgemäßheit verliert.“18 So fand Althaus auch in seiner Predigt anlässlich der Wiedereröffnung der Erlanger Universität am 4. März 1946 deutliche Worte über „die Schande des deutschen Namens in der Welt, die Schuld, die Menschen unseres Blutes aufgehäuft haben“19: „Wir müssen leider noch mehr bekennen: Wissenschaft, akademischer Geist hat nicht gehindert, daß in den Jahren, die hinter uns liegen, die Würde des Menschen schauerlich mißachtet und geschändet worden ist, daß man die Ehrfurcht vor der Menschen Existenz und ihrer Bestimmung furchtbar verletzte, die Ehrfurcht, die auch der Leiche eines Menschen noch gebührt. Ja Wissenschaft hat bei den entsetzlichen Attentaten wider die Würde des Mitmenschen selber Handlangerdienste getan!“20
Die Erinnerung an die deutsche Schuld am und im Zweiten Weltkrieg war für Althaus als Prediger nach 1945 ein Herzensanliegen. Bis Ende der 50er Jahre hat er immer wieder die Schuld der Deutschen thematisiert und damit immer wieder das damals, als man sich lieber auf das Wirtschaftswunder konzentrierte, äußerst unliebsame Kapitel deutscher Geschichte in Erinnerung gerufen. So heißt es in einer Predigt im Mai 1957 zur Semestereröffnung: „Wir sind als Volk vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus noch nicht ehrlich fertig geworden.“21 „Dieser Predigtsatz“, so Henry von Bose, 17 Ebd., 210 f. 18 3016 Stellung, 3. Auch in 2408 Kirche, 86 warnt Althaus davor, dass das „pflichtgemäße Eingehen auf Zeitgedanken und Philosophien zur Preisgabe der christlichen Wahrheit“ zu führen droht. 19 4601P Bild, 1. 20 Ebd., 3. 21 In dieser Predigt über 1Kor 16,13 ruft Althaus dazu auf, „daß wir uns klar darüber werden, was in unserer Geschichte Größe und was Versagen, Schuld und Schande war und ist. […] Wir sind als Volk vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus noch nicht ehrlich fertig geworden. Wie viele haben hier abgeblendet und wollen davon nichts mehr hören und sehen, als ginge es uns nichts an! […] Hitlers Versagen und Entartung war in ihrer Tiefe doch auch deutsche Entartung, deutsches Versagen, das seinen Grund auch in spezifisch deutschen Eigenschaften hatte – der Nationalsozialismus hat sich ihrer bedient, sie schlimm entfesselt und gesteigert. Wir müssen dem ins Auge sehen und wach werden zu strengster deutscher Selbstkritik.“ (5704P Losung, 236 f.). Die gesamte Predigt ist vom Duktus der (selbst-) kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit und der Abwehr von Verdrängung geprägt. Vgl. seine Bejahung der fortgesetzten Strafverfolgung von NS-Verbrechen in seiner Predigt am Buß- und Bettag 1961: 6103P Buß- und Bettag, 68 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen „kann wie ein Leitmotiv für Althaus’ Geschichtsbewußtsein in dieser Zeit angesehen werden. Der auch in den 50er Jahren akuten Gefahr der Verdrängung der Schuld und des Leids ungezählter Menschen während des ‚Dritten Reichs‘, des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit begegnet Althaus in seinen Predigten […] mit markanten Hinweisen auf die Not jener Jahre.“22
Dieses Geschichtsbewusstsein und dieser Wille zur Erinnerung speist sich bei Althaus – wie wir gesehen haben – aus dem selbstkritischen Wissen um eigenes Fehlverhalten in der Vergangenheit. Dass Althaus mit seinem Handeln und Unterlassen mithalf, Hemmungen abzubauen und einen gefährlichen Volksgeist aufzubauen, hat 1990 schon Berndt Hamm formuliert. Wie Althaus von einer „Schuld-Gemeinschaft“, so spricht auch Hamm von einer „überindividuellen-kollektiven Dimension“ von Schuld, die er als „schuldhafte Verstrickung“ näher charakterisiert23. Besonders problematisch sieht Hamm die Rolle vieler lutherischer Theologen, deren „Art von Politisierung und Naturalisierung der Theologie […] schon vor 1933 die Hemmungen gegenüber dem nationalsozialistischen Volkstums- und Rassedenken ab[baute]. Bei aller Distanz und Kritik, etwa bei den Erlangern Paul Althaus und Werner Elert, fanden diese Lutheraner doch viele wichtige Anliegen des Nationalsozialismus, die von der Kirche positiv aufzunehmen und zu läutern seien.“24
Im Blick auf das von Althaus und Elert im September 1933 entworfene Erlanger Arierparagraph-Gutachten25 schreibt Hamm, Althaus habe seinen Teil dazu beigetragen, „daß die mentale Hemmschwelle gegenüber den Verbrechen der Nationalsozialisten abgebaut und die Toleranzbereitschaft, auch die Bereitschaft zum Wegsehen und die unbewußte ‚Fähigkeit‘ des Nicht-Wahrnehmens, erhöht wurde.“26 Auch wenn eine derartig formulierte Aussage auf der Voraussetzung basiert, dass Verbrechen tatsächlich mehr oder minder schon vor 1945 im Volk bekannt waren, so findet sie doch prinzipiell ihre Bestätigung bei Althaus selbst, wie oben gezeigt wurde. Er ist sich selbstkritisch im Klaren darüber, dass er mithalf, Hemmungen gegenüber dem Nationalsozialismus abzubauen und dass er vielen Menschen mit seinen Äußerungen „das ersehnt gute Gewissen“ gab. Hamm nennt das „kollektive Verstrickungen, Verblendungen und Narkotisierungen, denen sich nur wenige Klarsichtige und Nüchterne völlig entziehen konnten.“27 22 Von Bose, Erwärmung, 252 f. 23 Hamm, Schuld, 22. 24 Ebd., 28 f. Für Althaus spielte allerdings das „Rassedenken“ keine Rolle; vgl. Kap. IV, 3.2.4. 25 3309 Gutachten. 26 Hamm, Schuld, 33 f. Heftig widersprochen wurde ihm darin von Beyschlag, Sachen. 27 Ebd., 20. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Dass Althaus nicht zu diesen wenigen Klarsichtigen gehörte, braucht kaum eigens erwähnt zu werden. Schließlich gilt auch für ihn das Diktum von Karl Barth aus einem Vortrag im Dezember 1938 in der Schweiz: „Es ist eben schon recht und brav, wenn uns jemand heute versichert, daß er schon damals alles gewußt und vorausgesehen habe.“28 In diesem Sinne bemerkenswert ist die Offenheit, mit der Barth in diesem Vortrag auf sein anfängliches Verhältnis zum Nationalsozialismus zurückblickt: „Dazu ist zunächst zu sagen, daß der Nationalsozialismus in der ersten Zeit seiner Macht in der Tat den Charakter eines politischen Experimentes wie andere hatte und daß die Kirche in Deutschland damals – das ist noch heute meine Überzeugung – das Recht und die Pflicht hatte, sich daran zu halten, ihm als einem politischen Experiment zunächst Zeit und Chance zu geben und also sich selbst zunächst wirklich neutral zu verhalten.“29
Wie Althaus in der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der NS-Herrschaft einerseits selbst – freilich nur auf dem Papier – politisch-theologisch experimentiert und theoretisiert hat und wie wenig er sich andererseits realen „politischen Experimenten“ gegenüber neutral verhalten hat, darum soll es in dieser Arbeit gehen.
28 Barth, Frage, 83. 29 Ebd., 80 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
3. „…daß der Mitmensch und der theologische Mitmensch ganz besonders, immer noch ein wenig komplizierter ist, als man angenommen hatte“ – Die Ambivalenz von Paul Althaus Wer sich näher mit Leben und Werk von Paul Althaus beschäftigt, dem fällt – vor allem beim Fokus auf die Zeit des Dritten Reiches – eines auf: Sein Leben und Wirken, seine Veröffentlichungen und Äußerungen sind zum Teil von erheblichen Ambivalenzen1 und Spannungen geprägt2, die sich scheinbar kaum in ein und derselben Person miteinander vereinbaren lassen. Um aber sowohl seiner Person als auch der historischen Situation gerecht zu werden, kann man diese Ambivalenzen nicht nach der einen oder anderen Richtung aufzulösen versuchen, indem man Althaus entweder einseitig rechtfertigt oder aber aburteilt. Sie entspringen seinem vermittelnden Charakter und seinem theologischvolksmissionarischen Ansatz ebenso wie den Zeitumständen, wie sie damals herrschten bzw. mehrheitlich wahrgenommen wurden. Der oftmals dialektische Charakter seiner Argumentationen, seine Fähigkeit, sich empathisch in die Position seines Gegenübers oder auch Gegners hineinzuversetzen, das Positive bei ihm zu finden und daran seinerseits anzuknüpfen sowie seine oftmaligen Versuche, in strittigen Fragen Extrempositionen zu vermeiden und jeweils einen ausgleichenden Mittelweg zu beschreiten, führten zwangsläufig zu seiner typischen Ja-aber- bzw. Sowohl-als-auch-Haltung3. Liebenberg spricht bei Althaus von einer „dialektisch-polaren Lebensauffassung“4, angelehnt an Althaus’ eigenen Lebensbegriff: „Leben ist nur, wo Spannung ist, Spannung ist nur, wo Pole sind.“5 Ingmar Dette spricht im Blick auf Althaus von „Uneindeutigkeit“, „inhaltlicher Mehrdeutigkeit“ und „Polyvalenz“6. Diese Tatsache führte bereits bei seinen Zeitgenossen dazu, dass Althaus äußerst unterschiedlich wahrgenommen und eingeschätzt werden konnte. Galt er den einen, wie Karl Barth und der Dialektischen Theologie, theologisch als 1 Unter Ambivalenz wird im Folgenden das Nebeneinander zwiespältiger, mehrdeutiger und vielfältiger Haltungen, Äußerungen und Handlungen der Person Paul Althaus verstanden, die jeweils – zumindest potentiell – gegensätzliche Reaktionen bedingen. 2 Zu den „Spannungen in Althaus’ Denken“ vgl. auch Wimmer, Eschatologie, 31 f. 3 Zu Althaus’ „Position zwischen zwei Extremen“ vgl. auch Kurz, Denken, 482 f. 4 Liebenberg, Gott, 159. 5 1506 Einkehr, 100. 6 Dette, National-Protestantismus, 4. Zur Althausschen „Dialektik des Ja und Nein“ und zur daraus resultierenden Ambivalenz vgl. auch Grass, Theologie, 228 und Schäfer, Beurteilung, 65.110. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zu lutherisch, war er den Konfessionalisten wie Elert, Meiser oder Sasse nicht lutherisch genug7. Galt er kirchenpolitisch in der Regel als national-konservativ, war es Mitte der 20er Jahre dennoch möglich, ihn in großer Nähe zu den Religiösen Sozialisten zu verorten8. Wurde seine Theologie in der Regel als theozentrisch charakterisiert, so konnte er von Zeitgenossen zugleich als christozentrisch bezeichnet werden9. Wurde seine Eschatologie 1927 von biblizistischer Seite als defizitär angegriffen10, konnte er nur wenige Jahre später seinerseits einem „neueren Biblizismus“ zugerechnet werden11. Eine auffällige Spannung besteht zwischen seinem betont patriotischen und nationalen Habitus auf der einen Seite, für den Althaus weithin bekannt ist, und seinem für damalige Verhältnisse starken Interesse an ökumenischen Fragen und an einer internationalen Zusammenarbeit der Kirchen und Konfes sionen auf der anderen Seite, für die sich Althaus Zeit seines Lebens engagiert12. So sehr Althaus immer wieder deutlich die Volksverbundenheit des Luthertums und dessen Bedeutung für das Deutschtum betonte13, so sehr wehrte er sich gegen eine völkische Vereinnahmung des Reformators zu politischen Zwecken14 und so wenig ging ihm dabei das Bewusstsein für die weltweite Chris 7 Vgl. die Aussage Sasses in einem Schreiben an Martin Wittenberg im Mai 1944: „In Erlangen regiert jetzt Althaus als Dekan, damit ist die lutherische Zeit unserer Fakultät endgültig ab geschlossen.“ (zit. nach: Wittenberg, Sasse, 91, Anm. 31). Dass Althaus nicht den Konfessionalisten zuzurechnen ist, zeigt neben seinem für damalige Verhältnisse weiten ökumenischen Horizont auch sein theologisches Interesse für den Schweizer Reformatoren Johannes Calvin (1509–1564). Mit ihm beschäftigt sich bereits seine Dissertation über „Die Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik (1401), und auch später ist ihm Calvin immer wieder theologischer Gewährsmann (vgl. 2507 Christentum, 149; 2606 Wesen, 270). 8 So schreibt Otto Piper in einer Rezension zu Althaus’ „Die Krisis der Ethik und das Evangelium“ im Jahr 1925: „Der Unterschied zwischen religiösem Sozialismus und Althaus liegt heute nicht mehr auf prinzipiellem, sondern nur noch auf taktischem Gebiete“ (ThBl 4 [1925], Nr. 12 [Dez. 1925], 304). 9 So heißt es in einer Rezension zu Althaus’ „Theologischen Aufsätzen“ in der ThLZ 1930, Nr. 22, 524: „Man darf bei A[lthaus] von einer christozentrischen Theologie reden.“ 10 Eichhorn, Dinge. 11 Engelland, Gewißheit. 12 Vgl. Kap. Kap. IV, 2.2. 13 Vgl. 1706 Luther; 1710 Prophet (vgl. Liebenberg, Gott, 406–423); 2602 Protestantismus; u. ö. 14 Vgl. seine Schrift „Luther und das Deutschtum“ aus dem Jahr 1917, in der Althaus sehr zeitgemäß einen deutlich „deutschen Luther“ nachzeichnet, aber dennoch einer rein nationalen Vereinnahmung Luthers eine klare Absage erteilt. So schreibt er, Luthers „Gewissenserlebnis“ blieb „davor bewahrt, […] in nationaler Selbständigkeitsbewegung aufzugehen. Luther hat gewiß […] die nationalen Anliegen der Deutschen mit echter Leidenschaft vertreten. Aber er kannte mehr als dieses […]: die Not der erschrockenen Gewissen und den Jammer der irregeleiteten Gewissen – und das alte Evangelium, das beiden half.“ (1706 Luther, 12 f.). Den gleichen Gedanken vertritt Althaus auch in 2602 Protestantismus, 94 f. und in 3001 Bekenntnisse, 6. Auch und gerade wäh© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
tenheit verloren.15 Nicht zuletzt diesem Umstand verdankt es Althaus, dass er in den 20er Jahren in völkischen Kreisen als national nicht zuverlässig eingestuft und von dieser Seite mit Polemik überzogen wurde16 – ein Vorgang, der sich im „Dritten Reich“ wiederholen sollte. Diese oftmals uneindeutige Positionierung Althaus’ ließ gerade im Blick auf sein Verhalten im „Dritten Reich“ nach der Einschätzung von Günter Heidorn „keine konsequent antifaschistische Haltung zu; aber auch keine unbedingte Be jahung des Faschismus in all seinen Auswirkungen. Dieser Standpunkt führte zur Inkonsequenz und Zwiespältigkeit. Von ihm aus war eine immer weitere Annäherung an den Faschismus, aber auch eine ständig größere Distanzierung zu dessen anti humanen Politik möglich.“17
Es soll an dieser Stelle nur darum gehen, die wahrnehmbaren Spannungen schlaglichtartig zu benennen, die vor allem während der Zeit des „Dritten Reiches“ zutage treten. Erklärungsversuchen für sie und wertenden Konsequenzen daraus ist an anderer Stelle nachzugehen. Weithin bekannt ist von Althaus sein „Ja der Kirche zur deutschen Wende“18 von 1933, d. h. zur Wahl Hitlers zum Reichskanzler, auf den er nicht zuletzt infolge seiner Vorstellungen von einem „verantwortlichen Führertum“ große Hoffnungen für das damals als äußerst zerrissen empfundene Deutschland setzte. So groß seine Worte der freudigen Erwartung und des Dankes Gott gegenüber auch waren, den Weg in die NSDAP oder zu den „Deutschen Christen“, dem Brückenkopf der NS-Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche, hat er – anders als so mancher seiner Kollegen – nicht eingeschlagen19. So rend des „Dritten Reiches“ bleibt er dieser Linie treu. So schreibt er in einer Rezension 1938, „in einer Zeit vielfachen Mißbrauchs und peinlicher Verzeichnungen Luthers“: „Nicht völkisch, nicht politisch, nicht ‚protestantisch‘ oder kulturprotestantisch wird Luther hier gesehen, sondern – evangelisch, als der Zeuge des Evangeliums, und damit echt ‚lutherisch‘.“ (3802R Klein, 759). Vgl. die Rezensionen 3801R Elert, 69 und 4201R Ritter, 320. Dass Althaus über Jahrzehnte gegen eine völkische und politische Vereinnahmung Luthers vorgeht, zeigt, wie wichtig ihm der Punkt ist. Zum Topos „Luther und das Deutschtum“ vgl. Kurz, Denken, 215–217. 15 Vgl. dazu – um nur ein Beispiel unter vielen herauszugreifen – seine Äußerungen über das die natürlichen Volksgrenzen hinter sich lassende Gottesvolk in 1904 Erlebnis, 15.20.25. 16 Vgl. Kap. IV, 3.3.5. 17 Heidorn, Geschichte, 182. 18 So der Titel seines Aufsatzes 3312. 19 Zuweilen findet sich in der Literatur die Annahme, Althaus sei kurze Zeit bei den „Deutschen Christen“ gewesen; vgl. Meisiek, Theologiestudium, 287; Knitter, Uroffenbarungslehre, 152; Feige, Varieties, 261 f.; Sonne, Theologie, 14. Diese Annahme ist falsch, sie dürfte auf einen Verständnis- bzw. Übersetzungsfehler aus der amerikanischen Althaus-Forschung zurückzuführen sein, wo offenbar die „christlich-deutsche Bewegung“ (CdB), der Althaus 1931 bis 1933 angehörte (vgl. Kap. IV, 7.2.1), mit der „deutsch-christlichen Bewegung“ verwechselt wurde. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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nachdrücklich er am Anfang des „Dritten Reiches“ auf Hitler baute und dessen vagen Versprechungen an die Kirchen Glauben schenkte, so deutlich lehnte Althaus, der zeitweilig selbst als möglicher Reichsbischof gehandelt wurde20, andererseits den DC-Mann und Hitler-Vertrauten Ludwig Müller zuerst als Kandidat für das neu zu schaffende Amt21 und später als gewählten Reichs bischof ab22. Weniger eindeutig als der erste Anschein vermuten lässt, ist auch die Haltung von Althaus in der sogenannten „Judenfrage“, zumal im innerkirchlichen Bereich. Sprach er sich im zusammen mit Werner Elert verfassten „Theo logischen Gutachten über die Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu den Ämtern der deutschen evangelischen Kirche“ vom September 193323 im Hinblick und mit Rücksicht auf die Gegebenheiten und Empfindungen des (Kirchen-)Volkes für eine weitgehende zukünftige Zurückhaltung von Judenchristen bei der Ämterbesetzung aus, so hat er in der Folgezeit in der Praxis selbst durchaus anders handeln und sich noch 1943 für die Verwendung eines sogenannten „Judenchristen“ im kirchlichen Dienst einsetzen können24. 20 Vgl. den vertraulichen Bericht Theophil Wurms an die Dekanate vom 30.5.1933, in dem es heißt, er habe als potentielle Kandidaten für das Reichsbischofsamt „bisher an Namen wie Marahrens oder Althaus oder Rendtorff oder andere in der Theologie oder Kirchenleitung hervorgetretene Persönlichkeiten“ gedacht. Der Bericht ist abgedruckt in: Schäfer, Landeskirche, 106 ff., hier 107. 21 Seine Sympathie galt uneingeschränkt dem Gegenkandidaten von der Jungreformatorischen Bewegung Friedrich von Bodelschwingh; vgl. Scholder, Kirchen, 495 f.; und Baier, Christen, 48. Weiling, Bewegung, 311 sieht in der Reichsbischofsfrage den entscheidenden Anlass für die Spaltung der „christlich-deutschen Bewegung“ unter Heinrich Rendtorff: „Diejenigen, die ihm bittere Vorwürfe wegen seiner Kompromißbereitschaft gegenüber den ‚Deutschen Christen‘ machten, gingen zur kirchlichen Opposition.“ Zu dieser Opposition gegen die Deutschen Christen gehörte – mit Abstrichen – auch Althaus, der Ende Juni 1933 aus dem Herausgeberkreis der CdB-Zeitschrift „Glaube und Volk“ ausschied und durch den Deutschen Christen Hermann Wolfgang Beyer ersetzt wurde (ebd., 312); vgl. Kap. IV, 7.2.1. Becker, Euphorien, 42 sieht in der „Entscheidung für Friedrich von Bodelschwingh den „Versuch, einen Rest von Unabhängigkeit gegenüber dem Staat zu demonstrieren und vor allem der innerkirchlichen Konkurrenz der Deutschen Christen den allzu rasanten Aufstieg zu den Schalthebeln der Macht zu verbauen.“ 22 Vgl. die von Althaus mitunterzeichnete Rücktrittsforderung der deutschen theologischen Hochschullehrer vom 5.11.1934 (3422 Telegramm). 23 3309 Gutachten. 24 So schreibt der emeritierte Pfarrer Rolf Neumann 1992: „Einem mir gut bekannten Studienfreund, der einen jüdischen Vater gehabt hat, hat er [= Althaus] finanziell geholfen dadurch, daß er ihm zu einem Stipendium verholfen hat. Obwohl der Student nur als Gasthörer hören durfte, hat er ihn mehrere Semester zum Senior seines apologetischen Seminars gemacht, er hat ihm, als dieser in seinem letzten Studiensemester Anfang 1943 Schwierigkeiten mit der Gestapo bekam, dazu verholfen, daß die bayerische Landeskirche ihm das Examen abgenommen hat und daß er dann im Elsaß von der dortigen Kirche als Vikar übernommen wurde. Ich glaube, daß diese Hilfe zeigt, daß Prof. Althaus auch innerlich nicht mehr die Meinung des ‚Erlanger Gutachtens‘ vertreten hat.“ (DtPfrBl 92 [1992], H. 3 [März 1992], 107); vgl. Töllner, Frage, 65; und Fix, Glaubensgenossen, 61. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
Auch seine Unterstützung für wegen Hilfe für Juden angeklagte Lehrerinnen in Bremen im Mai 1942 spricht eine andere Sprache als sein neun Jahre zuvor abgegebenes Votum in der kirchlichen „Judenfrage“ oder als seine Apostrophierung des Judentums als „Fremdkörper“ in Deutschland in seinen EthikLehrbüchern ab Ende der 20er Jahre25. Mit diesen Vorgängen ist bereits das ambivalente Verhältnis Althaus’ zum Judentum überhaupt angesprochen. Anti semitische Äußerungen finden sich bei Althaus mehrfach, doch hat er hat nicht versucht, seine Ressentiments gegen Juden rassenideologisch zu begründen. So sehr er sich in fataler Weise gerade mit dem Arierparagraph-Gutachten dem Zeitgeist auch öffnete, dem damals allenthalben so sehr in Mode gekommenen Rassenantisemitismus konnte und wollte Althaus sich zu keinem Zeitpunkt anschließen26. Eine weitere Ambivalenz, die von seiner in aller Regel eingenommenen Mittelposition herrührt, findet sich in seinen theologischen und kirchenpolitischen Äußerungen im sogenannten „Kirchenkampf“. Auf der einen Seite bekämpfte er engagiert in Erklärungen, Aufsätzen und Monographien die kirchen- und christentumsfeindlichen Positionen von völkischer und nationalsozialistischer Bewegung27 sowie die radikalen Auswüchse der Deutschen Christen28, denen er Irrlehre und völkische Transformation des Christentums vorwarf29 und dafür beißende Polemik über sich ergehen lassen musste30. Auf der anderen Seite konnte und wollte er vor allem aus theologischen Gründen nicht die theologische Position der entschiedenen Bekennenden Kirche und ihres Spiritus Rector Barth teilen. Wie sehr sich gerade dieser der Uneindeutigkeit und Ambivalenz von Althaus und dessen Position bewusst war, zeigt ein Schreiben Barths an Althaus vom 3. August 1933, in dem er seine freudige Überraschung darüber zum Ausdruck brachte, dass sein Erlanger Antipode nicht auf die Seite der Deutschen Christen getreten ist. Unter anderem heißt es dort:
25 Vgl. Kap. IV, 5.3 und 5.5. 26 Vgl. seine Äußerungen in 3109 Bazillus; vgl. Kap. IV, 7.2.3. 27 Vgl. 3406 Christus; 3506 Liebe; 3703 Völker. Auch gegen Stapel und dessen Volksnomostheologie und gegen Gogarten argumentiert Althaus und wirft ihnen eine unchristliche Volkstumstheologie vor; vgl. 3212 Nomos; und 3505 Theologie, 34 ff. 28 Vgl. 3314 Volks-Geschichte; 3421 Rat; 3515 Christentum. 29 Vgl. 3406 Christus, 34, wo er schreibt: „Wir wollen keine Deutsch-Kirche, aber eine deutsche Kirche, die unter ihrem Volke nicht nur verkündigt, sondern mit ihm seine Geschichte lebt. Wir wollen keine völkische Kirche, die Gesetz und Evangelium nach der Mode einer völkischen Weltanschauung umbiegt und einschränkt; aber eine Volkskirche, die mit Liebe eingeht in ihres Volkes Leben und um immer neue Verdeutschung und Vergegenwärtigung der Botschaft ringt.“ 30 Vgl. Leutheuser/Fascher, Mißverständnis; und Oberheid, Christentum. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Es war mir eine rechte Erquickung, schon […] zu vernehmen, daß Sie sich den D[eutschen] Chr[isten] nicht angeschlossen hätten und also mit Hirsch vorläufig nicht mehr im Dualis gingen. Ich hätte Ihnen tatsächlich das Unrecht angetan, ohne weiteres anzunehmen, auch Sie würden ‚gleichschalten‘. Verzeihen Sie mir!“31
Barth spricht im Sommer 1933 im Blick auf Althaus sogar von „unvermuteten Zusammengehörigkeiten“32. So sehr Barth und Althaus sich als theologische Größen auch zum Teil polemisch gegenüberstanden und die Theologie des jeweils anderen bekämpften, so wusste es Althaus dennoch, zwischen der sach lichen und der menschlichen Seite zu unterscheiden33. Bemerkenswert ist es, dass Althaus auch ihm kritisch gegenüberstehende „Barthianer“ wie Walther von Loewenich, Helmut Thielicke und Werner Wiesner als Doktorvater betreute. So schreibt Thielicke in seiner Autobiographie: „Ich ging nicht zu Althaus, weil ich sein Schüler werden wollte – dazu hatte ich zu viele Vorbehalte – sondern weil er mir eine völlig freie Entfaltung der eigenen Entelechie gewähren würde. […] Und es machte ihm später auch kaum etwas aus, daß ich [in meiner Dissertation] eine durchaus polemische Haltung gegenüber seiner Theologie vertrat.“34 31 Das Zitat entnehme ich Knitter, Uroffenbarungslehre, 188 f. Im weiteren Verlauf schreibt Barth: „Du liebe Zeit, es sind in diesem merkwürdigen Sommer so Viele umgekippt, bei denen ich mich darüber wunderte, daß ich Ihnen den, wie ich dachte, kleinen Ruck in jener Richtung nicht einmal bes. übel genommen, sondern wohl nur mit einem grimmigen: ‚Natürlich!‘ vermerkt haben würde. Aber die allgemeine Katastrophe hat ja tatsächlich auch Überraschungen nach der anderen Seite gezeitigt. Wie sie überhaupt ungemein viel Verborgenes ans Licht gebracht hat, unvermutete Trennungen und unvermutete Zusammengehörigkeiten. Wie sollte ich mich nicht freuen, daß es zwischen Ihnen und mir diesmal das letztere war? Und wie sollte ich mir dadurch, daß meine Prognose in Bez. auf Sie so fehl ging, nicht sagen lassen, daß der Mitmensch und der theologische Mitmensch ganz besonders, immer noch ein wenig komplizierter ist, als man angenommen hatte“. Barth erhielt dieses Urteil über Althaus nicht sehr lange aufrecht, sondern wähnte ihn nach den weiteren Ereignissen 1934 mehr und mehr in der Nähe der Deutschen Christen; vgl. Barth, Nein, 8 f. 32 Dieser Umstand spricht einmal mehr dafür, für die Zeit des sogenannten „Kirchenkampfes“ deutlich zwischen theologischer, kirchenpolitischer und allgemeinpolitischer Position zu differenzieren, um zu einem klaren Urteil zu gelangen. 33 Für Meiser, Althaus, 83 ist „das Nichtverstehen zwischen Barth und Althaus […] ein Teil der Tragödie neuerer deutscher Kirchengeschichte.“ Freilich war das Verhältnis Althaus’ zur Dialektischen Theologie nicht zu jedem Zeitpunkt negativ. Nach von Loewenich, Althaus, 13 gab es „Zeiten, in denen A[lthaus] ihr sehr nahestand, am nächsten wohl in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre.“ Für ihn ist es „bezeichnend“, „daß damals A[lthaus] zusammen mit Karl Barth und Karl Heim im Chr. Kaiser-Verlag die ‚Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus‘ herausgab.“ Ein Brief Barths an Althaus vom 2.1.1933 bestätigt dies. Zentrale Passagen daraus zitiert Meiser, Althaus, 117. 34 Thielicke, Gast, 83. Ähnlich äußert sich von Loewenich, Theologie, 67; und ders., Fakultät, 643. Zu Wiesner vgl. Mann, Ordnungen, 71. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
Diese Aussagen decken sich mit dem Befund Cornelius H. Meisieks über „Evangelisches Theologiestudium im Dritten Reich“, der feststellt: „Für Theologiestudenten der Bekennenden Kirche wurde die Erlanger Fakultät […] vor dem Hintergrund der Zerstörung derjenigen Ev.-theol. Fakultäten, die in den Anfangsjahren des Dritten Reiches profilierte BK-Hochburgen gewesen waren, interessant.“35 Es wurde in Erlangen zwar „keine explizite BK-Theologie geboten, es bestanden im Gegenteil erhebliche Reserven gegen Barth und die Barmer Theologische Erklärung. Aber es gab dort eine vom nationalsozialistischen Anspruch weit gehend freie theol. Ausbildung.“36
Besonders hebt Meisiek den Umstand hervor, dass ausgerechnet Erlangen nach dem „Ansbacher Ratschlag“, der die Fakultät „in den Augen der Theologiestudenten der BK dauerhaft zu disqualifizieren“ schien37, gerade auch für solche Studenten, die andernorts aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen wurden, wieder zu einer ersten Adresse in Deutschland wurde38. Wie sehr sich Althaus mit seiner damaligen Haltung zwischen alle Stühle setzte, wird besonders deutlich anhand seiner Unterschrift unter den „Ans bacher Ratschlag“ vom Juni 193439 gegen die Barmer Theologische Erklärung, diesen mühsam ausgehandelten theologischen Kompromiss der 1. Reichs bekenntnissynode der Bekennenden Kirche, der eben vorwiegend von Barth formuliert wurde und daher in erster Linie dessen Theologie Rechnung trug. Während sich Althaus mit seiner Unterschrift bewusst theologisch von Barmen abgrenzen wollte40, wodurch er eine Schwächung der gemeinsamen Bekenntnisfront gegen die Deutschen Christen fahrlässig in Kauf nahm, rückte er gleichzeitig kirchenpolitisch zumindest kurzfristig in die Nähe der Deutschen 35 Meisiek, Theologiestudium, 288. 36 Ebd., 296. 37 Ebd., 288. 38 Zum theologischen Nachwuchs, den Althaus trotz unterschiedlicher theologischer und politischer Ausrichtung förderte, gehört auch Dietrich Bonhoeffer, dem er 1931 half, einen Verlag für seine Habilitationsschrift zu finden. Vgl. die beiden Dankesschreiben von Bonhoeffer an Althaus vom 28.1.1931 und 16.9.1931, abgedruckt in Bonhoeffer, Barcelona, 232 f.; und Ders., Ökumene, 23 f. Die beiden ließen sich in der kurzen Folgezeit gegenseitig ihre Schriften zukommen; vgl. ebd, 24.44. 39 3407 Ratschlag. 40 Dass es ihm beim Ansbacher Ratschlag nur um eine theologische Kritik an der Barmer theo logischen Erklärung gehe, er sich aber nach wie vor kirchenpolitisch „innerhalb der gemeisamen Barmer Front“ sehe, erklärte Althaus bei einer Aussprache in Erlangen Ende Juni 1934. Vgl. Frör, Wort, 311; vgl. die redaktionelle Anmerkung in: JK 2 (1934), H. 15 (4.8.1934), 637 und im Korrespondenzblatt Nr. 28 (9.7.1934), 318, wo es von Seiten der Schriftleitung heißt: „Wir freuen uns, daß Herr Professor D. Dr. Althaus […] seine Bedenken innerhalb der Sache der Barmer Bekenntnissynode erhebt.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Christen bzw. des NS-nahen „Ansbacher Kreises“ von bayerischen Pfarrern41. Den Ansbacher Ratschlag selbst kann man nur als ein Bekenntnis zum National sozialismus und zur Person Hitlers interpretieren. Als Althaus die Vereinnahmung seiner Person durch die Deutschen Christen klar wurde42, setzte er ein deutliches Zeichen für seine kirchenpolitische Position, die er damals durchaus auf Seiten der Bekennenden Kirche ansiedelte: Althaus trat – gemeinsam mit Elert – aus dem „Ansbacher Kreis“ aus43 und nahm als bayerischer Synodaler an der 2. Reichsbekenntnissynode der Bekennenden Kirche im Oktober 1934 in Dahlem teil, wo er öffentlich erklärte, seine Unterschrift unter dem Ansbacher Ratschlag zurückgezogen zu haben44. Kirchenpolitisch zählte sich Althaus stets zum Umfeld der Bekennenden Kirche, was sich freilich nach Außen kaum niederschlug45, was ihm aber auch Theologen der Bekennenden Kirche attestierten, die theologisch nicht mit ihm konform gingen46. So spricht Günther Koch 1958 von einem „heimliche[n] Kirchenkampf“, in dessen Geschichtsschreibung „auch einige wichtige Seiten über die Erlanger Fakultät zu finden sein werden.“47
41 Vgl. den Abdruck des Ansbacher Ratschlags in der DC-Presse unter dem Titel „Führende Theologen widerlegen Barmen. Der ‚Ansbacher Ratschlag‘ zu der Barmer ‚Theologischen Erklärung‘“ in: Evangelium im Dritten Reich. Die Kirchenzeitung der evangelischen Nationalsozialisten (Reichsausgabe) 3 (1934), Nr. 26 (1.7.1934), 331 f. 42 Dass er nicht mit den Deutschen Christen in einen Topf geworfen werden will, macht er gleich zu Beginn seiner „Bedenken zur ‚Theologischen Erklärung‘ der Barmer Bekenntnissynode“ deutlich: „Nicht um die Barmer Bekenntnis-Synode als solche geht es im Folgenden, sondern allein um die ‚Theologische Erklärung‘, die sie angenommen und erlassen hat. […] Mit der Gewaltherrschaft in der Kirche gibt es für uns keinen Frieden. Auch wir lassen hier nicht mit uns reden. Wer sich in dieser Hinsicht wegen unserer theologischen Kritik an der Barmer Erklärung etwa Hoffnungen auf uns machen sollte, der wird sich schwer enttäuschen.“ (3410 Bedenken, 318). 43 Vgl. AELKZ vom 21.9.1934, 908. 44 Vgl. Niemöller, Bekenntnissynode, 50. 45 Einen Hinweis darauf gibt der Umstand, dass Althaus Ende August 1933 neben Karl Barth, Adolf Schlatter, Hans Asmussen, Hermann Sasse und weiteren als vertrauenswürdig eingestuften Theologen gehörte, denen Friedrich von Bodelschwingh seinen ersten Entwurf für ein „Betheler Bekenntnis“ mit der „herzlichen Bitte um Prüfung und Mitarbeit“ zusendet; vgl. Ruhbach, Bekenntnis, 62 f. 46 Vgl. Koch, Wahrheit, 7 f. In Anmerkung 3 heißt es: „Auf mehreren ‚Evangelischen Wochen‘, die das Zeugnis der Bekennenden Kirche in volksmissionarischer Weise unter mannigfacher Bedrängnis durch die Gestapo auswerteten, übernahm D. Althaus Vorträge und wirkte auch weiterhin in der Ökumene, die sich eindeutig zur BK. gestellt hatte, mit.“ 47 Koch, Recht, 8. Er schreibt weiter: „So erfährt man jetzt, daß damals die Professoren Althaus und Elert in langen Telefongesprächen mit Berlin und München die Versuche Jägers abgelehnt haben, die Erlanger Fakultät vor den Wagen der Reichskirchenpolitik zu spannen und die Fakultät personell den Wünschen der Deutschen Christen entsprechend zu verändern. Das darf ruhig auch einmal öffentlich erzählt werden.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
Als Ironie der Geschichte bzw. als Hinweis auf die Ambivalenz von Althaus darf wohl folgende Episode gewertet werden: Just am 11. Juni 1934, dem Tag der Unterzeichnung des Ansbacher Ratschlags, der so sehr die Loyalität gegenüber der Obrigkeit in Form des NS-Staates betonte, geriet Althaus ins Visier der NS-Hetzpresse. Unter der Überschrift „Professor D. Althaus auf dem Kriegspfad“ warf ihm die von Julius Streicher herausgegebene „Fränkische Tageszeitung“ „Schmähungen des deutschen […] Geistes“ sowie „Volks- und Zeitfeindlichkeit“ vor48. Offenbar verfehlte der Althaussche Zeitgeist den herrschenden, nationalsozialistisch bestimmen „Geist der Zeit“. Schon relativ frühzeitig geriet Althaus mit dem restriktiven Vorgehen des NS-Regimes in Fragen der Freiheit der Wissenschaft und der persönlichen Meinung in Konflikt49. So erhielt er in Folge eines Vortrages mit dem Titel „‚Unwertes‘ Leben im Lichte christlichen Glaubens“, den er am 12. Juli 1933 in Erlangen hielt50, vom Innenministerium in München Rede- und Schreibverbot in Bezug auf sogenannte „rassenhygienische“ Fragen51. Dies hat Althaus allerdings nicht davon abgehalten, noch 1935 die Euthanasie, d. h. die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, vom christlichen Standpunkt aus öffentlich als Unmöglichkeit zu brandmarken52. Als Althaus im Sommer 1934 von Reichskirchenregierung und Reichserziehungsministerium umworben wurde, weigerte er sich nicht zuletzt auf Drängen des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser, mit seiner Zusammenarbeit mit Rechtswalter August Jäger und dem Reichskirchenausschuss (Verfassungsausschuss) einer weiteren Gleichschaltung der DEK Vorschub zu leisten. Tief enttäuscht über die Verweigerungshaltung warf Jäger Althaus und den anderen, die die Einladung ausschlugen, bloße Lippenbekenntnisse zum „Dritten Reich“ vor und rückte sie in die Nähe von Hoch- und Landesverrätern. Kurioserweise traf er damit gerade auch die staatstreuen Lutheraner, weshalb er wenig später seine Aussage dementieren musste.53 48 Fränkische Tageszeitung 2 (1934), Nr. 134 (11.6.1934), 2. Sowohl die Theologische Fachschaft als auch die Erlanger Studentenschaft, beide streng nationalsozialistisch, stellten sich daraufhin hinter ihren Professor; vgl. Fränkische Tageszeitung 2 (1934), Nr. 136 (13.6.1934); sowie PAA F 2/1 Nr. 2186 a. 49 Aufgrund einer persönlichen Meinungsäußerung Althaus’, in der er sich abfällig über den Hesselberg, den alljährlichen Veranstaltungsort der sogenannten „Frankentage“ des „Frankenführers“ Julius Streicher äußerte, wurde der Theologieprofessor im Juli 1935 zum Rektor der Erlanger Universi tät zitiert. Das Schreiben des Rektors an Althaus vom 5.7.35 findet sich in PAA, F 2/1 Nr. 2186 a. 50 3305 Leben. 51 Das Schreiben vom 4.8.1933 befindet sich in: NPA 13/4; vgl. seine diesbezügliche Äußerung aus der Nachkriegszeit in 5301 Ethik, 5. 52 Vgl. 3505 Theologie, 39. 53 Der Vorgang findet sich ausführlich bei Scholder, Kirchen, 307–309. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Wie wenig Althaus dem NS-Regime tatsächlich genehm war und er daher als politisch unzuverlässig eingestuft wurde, zeigen die Bemühungen der Berliner Fakultät in den Jahren 1937/38, ihn zur Aufbesserung des „wissenschaft liche[n] Ansehen[s] vor dem Inland und nicht minder vor dem Ausland“ auf den systematischen Lehrstuhl zu berufen. Einstimmig wurde Althaus vorgeschlagen, doch der Ruf scheiterte, weil nach der zeitgenössischen Einschätzung Hans Lietzmanns „weder der Dozentenführer noch das Braune Haus in München (d. h. Meyer-Erlach) Althaus zu genehmigen bereit waren.“54 Die politische Unzuverlässigkeit Althaus’ dokumentiert auch die Einordnung seiner Schrift „Christus und die deutsche Seele“ von 1934 als „Schrift gegen das nationalsozialistische Gedankengut“ durch den Sicherheitsdienst der SS im August 193555. Auch Althaus’ Aufruf „Wir müssen zueinander finden! Wünsche und Forderungen für Kirche und Volk“56 zum 1. Januar 1938, in dem er seiner nach wie vor bestehenden Hoffnung auf friedliche Koexistenz von Kirche und NS-Staat Ausdruck verlieh, traf auf Seiten des Regimes auf Widerstand. So teilt der Evangelische Pressedienst Althaus am 14. Februar 1938 in einem Schreiben mit, „dass ein unter Vorzensur stehendes Blatt Schwierigkeiten mit der Gestapo bekam, die dem Schriftleiter, als er die Manuskripte seines Blattes vorlegte, erklärte, wenn dieser Artikel erschiene, so müsse das Blatt beschlagnahmt werden.“57 Während das Regime also schon früh zumindest partiell sein wahres Gesicht zeigte, war es Althaus dennoch möglich, noch relativ lange dem „Dritten Reich“ positive Seiten abzugewinnen und dies auch öffentlich kundzutun. Noch 1936 preist er das „große Abwehr- und Erneuerungswerk des Nationalsozialismus“ in seiner Bedeutung für andere Völker, die sich in einer „ähnlichen politischen und sozialen Krise“ wie das deutsche Volk vor 1933 befinden58. Auch diese Spannung ist ein signifikantes Beispiel für die Tragik, die hinter dem Unvermögen der Erkenntnis des wahren Wesens des Nationalsozialismus und seines Staates steht, aber auch für die Unfähigkeit zur nötigen Kritik diesem gegenüber. Vielfältig sind auch die unterschiedlichen Kontakte, die Althaus während der Zeit des „Dritten Reiches“ unterhielt. Einerseits war er zu einer partiellen Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in kirchlichen Angelegenheiten bereit, wie seine Mitarbeit in der theologischen Kammer der DEK im Rahmen des Reichskirchenausschusses ab Oktober 1936 zeigt. Andererseits hatte er Kon 54 Lietzmann am 15.2.1938 an Kittel, in: Aland, Glanz, 916; vgl. Beyschlag, Theologie, 188 f. und von Loewenich, Theologie, 125 f. 55 Vgl. Boberach, Berichte, 100. 56 3802 Wünsche. 57 Das Schreiben befindet sich in: NPA 13/4. 58 3515 Christentum, 12. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Vorbemerkungen
takte zu Regimegegnern wie Jochen Klepper und Max Josef Metzger. Erstgenannten lud er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Luthergesellschaft auf die Tagung „Dichter und Theologen“ im September 1935 nach Wittenberg ein. Für den vom NS-Regime gemaßregelten war diese Einladung eine besondere Freude59, auch wenn er ihr aus politischen Gründen nicht Folge leisten konnte60. Der Kontakt zu Letztgenanntem ist bislang noch nicht näher erforscht61. Von der Ambivalenz in seinem Leben und in der Beurteilung seines Tuns durch andere zeugt auch sein Schicksal nach Kriegsende. Auf der einen Seite blieb Althaus über den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hinaus Dekan der Theologischen Fakultät Erlangen und wurde als solcher im Dezember 1945 durch die örtliche amerikanische Militärverwaltung zum Mitglied der vorübergehenden Universitätsverwaltung bestimmt. Zudem wurde er Ende Mai 1945 von den Amerikanern zum Vorsitzenden des universitären Entnazifizierungsausschusses ernannt und las im Sommersemester 1946 für die sogenannte „Aufbau-Abteilung“ der Erlanger Universität, deren Anliegen die Umerziehung der Studenten in demokratischem Sinne war und deren Veranstaltungen für Hörer aller Fakultäten verpflichtend waren62. Im Februar 1946 wurde er auch als Universitätsprediger wieder zugelassen. Bei all diesen Personalentscheidungen dürften sich die Amerikaner durchaus über die Haltung von Althaus in den vergangenen zwölf Jahren informiert haben. Auf der anderen Seite fand Althaus am 3. Februar 1947 seinen Namen auf einer Liste von entlassenen Professoren und Dozenten der Erlanger Universität wieder, die die amerikanische Militärverwaltung im Zuge der Entnazifizierung angelegt hatte. Da keine formale Belastung im Sinne des Befreiungsgesetzes festgestellt werden konnte, wurde das Verfahren gegen Althaus eingestellt und dieser im Frühjahr 1948 wieder vollständig rehabilitiert und mit Erlaubnis der Militärregierung als ordentlicher Professor wiedereingestellt. Althaus’ Aufnahme als ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Februar 1953 zeugt von der gro 59 In seinem Tagebuch notierte Klepper am 18./19.7.1935: „Zu meiner sehr großen Freude erhielt ich von Professor Paul Althaus-Erlangen für den 6.–9. September eine regelrechte Einladung, auf einer Tagung […] Gast der Luther-Gesellschaft in Wittenberg zu sein.“ Es handle sich um eine „gemeinsame Veranstaltung der Luther-Gesellschaft und des Eckart Kreises. Jede Freundlichkeit, die aus dieser Richtung kommt, tut mir in meiner gegenwärtigen Lage unendlich wohl. Denn dort erwünsche ich ja die Zugehörigkeit so sehr.“ (Klepper, Schatten, 269 f.). 60 Vgl. Düfel, Luther-Gesellschaft, 82 f. 61 Vgl. Mann, Leben, 82. Im Nachlass von Althaus finden sich Briefe von Metzger aus dem Jahr 1941 (NPA 10 bzw. 11). Zu Metzger und dem Verhältnis zwischen bayerischer Landeskirche und Una Sancta-Bewegung Anfang der 40er Jahre, bei deren Fühlungnahme auch Althaus eine Rolle spielte, vgl. Baier, Kirche, 93–96. 62 Zur „Aufbau-Abteilung“ vgl. das Vorlesungsverzeichnis der FAU für das SS 1946. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ßen Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde. Eine seltene Ehre wurde ihm schließlich im Februar 1963 zuteil, als ihm der Ehrendoktor der Wartburg Theological Seminary in Dubuque (USA) verliehen wurde. Diese wenigen Beispiele von Ambivalenzen und Spannungen im Leben, Wirken und Veröffentlichen von Althaus machen deutlich, dass uns vorschnelle Urteile über ihn und seine Theologie verwehrt sind. Dies betrifft sowohl die Einschätzung seiner politischen Haltung als auch die seiner Theologie. Er war ein Mensch seiner Zeit; einer Zeit, die gerade von Uneindeutigkeit und Zwiespältigkeit geprägt war. So spricht auch Klaus Scholder von „Merkwürdigkeiten, an denen diese Zeit so reich ist“63, und Friedrich Wilhelm Graf fordert die Kirchengeschichtschreibung des frühen 20. Jahrhunderts dazu auf, sowohl „dem subjektiven Bewußtsein der handelnden Individuen“ als auch „der Polyvalenz der Ereignisse und Strukturen“ gerecht zu werden64. Ziel einer personund sachgemäßen Betrachtung von Althaus muss es daher sein, seine Theologie und seine politische Haltung schärfer als bislang häufig geschehen zu konturieren, um sie angemessen in den damaligen Zeitkontext stellen zu können. Erst durch solche Klarheit können wir den damaligen Verlauf der Geschichte wirklich nachvollziehen und zu verstehen suchen.
63 Scholder, Geschichte, 85. Scholder macht die „Merkwürdigkeiten“ an der Person Barths fest, von dem er schreibt, dass er „in jenen Jahren, als die Republik geistig sturmreif geschossen wurde, jedenfalls im Bewußtsein der weiteren Öffentlichkeit, auf der Seite derer stand, die da mitschossen“ (ebd., 84 f.). Zu diesem Vorwurf an Barth vgl. auch Tanner, Verstaatlichung, 66. 64 Graf, Historie, 412. Vgl. Nipperdey, Kontinuität, 200: „Wir finden unsere Wertvorstellungen, wie im Leben so auch in der Geschichte, nicht auf einer Seite vereint: Die Guten tun Böses, die Bösen Gutes, und bei den meisten mischt sich das; was wir nicht mögen, taucht bei denen auf, in deren Tradition wir uns gerne stellen oder stellen würden – und umgekehrt. […] Die Wirklichkeit ist nicht so eindeutig, sie ist nicht […] sonderlich homogen; sie ist widersprüchlich und ambivalent, sie ist, um ein heute verfemtes Wort zu benutzen, tragisch, d. h. von unlösbaren Wider sprüchen erfüllt.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Kapitel I: Die entscheidenden Weichenstellungen während des Krieges – Paul Althaus, der Weltkrieg und die Auslandsdeutschen
Wer sich mit der Zeit der Weimarer Republik beschäftigt, kommt nicht umhin, sich mit den Kriegserfahrungen dieser Generationen auseinanderzusetzen. Denn für Althaus und die mit ihm betroffene Generation sollte die Erfahrung des Ersten Weltkrieges eine durch und durch prägende Wirkung entfalten. Von entscheidender Bedeutung ist zunächst der Ausbruch des Krieges. So heißt es bei Wolfgang J. Mommsen: „Vor allem die protestantische, aber auch die katholische Geistlichkeit wurde voll von jenem euphorischen Bewußtsein erfaßt, das gemeinhin als ‚Geist des August 1914‘ bezeichnet wird. Sie sahen in der durch die Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten symbolisierten Geschlossenheit der Nation bei Kriegsausbruch ein Werk Gottes und zugleich eine Chance, die Kirche wieder zu einer Volkskirche zu machen. Mehr noch, durch die nationale Aufbruchsstimmung, die breite Volksschichten, vor allem aber die Gebildeten erfaßte, bot sich – so schien es – die Möglichkeit, die christliche Botschaft gleichsam auf dem Rücken der nationalen Gesinnung zu neuer Geltung zu bringen. Die Aufbruchsstimmung des ‚August 1914‘1, die sich als eine Art von Selbstmobilisierung der Intellektuellen beschreiben läßt, 1 Dass es eine solche Aufbruchsstimmung, einen solchen „Geist des August 1914“ gegeben hat, ist Mehrheitsmeinung in der Geschichtswissenschaft, blieb aber nicht unwidersprochen; vgl. Verhey, Geist. Die Tatsache, dass man in der Mitte der 20er Jahre selbst in demokratisch-sozialistischen Kreisen wie der Neuwerkbewegung, die ansonsten jeglichem nationalprotestantischen Pathos kritisch gegenüberstand, Erinnerungen an dieses Phänomen pflegte, spricht deutlich für die Annahme der Historizität. So schreibt der Religiöse Sozialist Gustav von Rohden 1925 in der Zeitschrift der Bewegung: „Die Begeisterung unseres Volkes, der Augustgeist 1914 war herrlich und erhebend. Der Aufschwung riß alles mit und führte zu den glorreichsten Kriegstaten.“ (von Rohden, Politik, 418). Ebenso wurde – zur Verteidigung gegen völkische Angriffe – unter den deutschen Juden in den 20er Jahren das „Augusterlebnis 1914“ tradiert. So schreibt Goldstein 1926 vom „Gemeinschaftserlebnis der Augusttage 1914“: „Volk wandelte sich zur Volksgemeinschaft.“ (Goldstein, Kritik, 231; vgl. Ders., Antisemitismus, 21). Aus diesem Grund ist Nolte, Ordnung, 72 zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Vision von der im Kriegserlebnis erreichten sozialen Gemeinschaft war […] mehr als bloße Propaganda, mehr als ein rasch zu ent tarnendes ‚falsches Bewußtsein‘; sie entfaltete eine große Wirkung als Deutungsmuster der sozialen Realität“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Die entscheidenden Weichenstellungen während des Krieges hatte ein Pendant in der Haltung der Theologen und Pfarrer beider Konfessionen bei Kriegsausbruch. […] Nationales Sendungsbewußtsein und christlicher Glaube gingen gerade in der Anfangsphase des Krieges eine Symbiose ein.“2 Die im Feld gemachten Erfahrungen schienen den Theologen recht zu geben: „Der Zulauf zu kirchlichen Veranstaltungen war groß, und auch die Soldaten hinter der Front und in den Lazaretten, denen freilich vielfach die Teilnahme an den Feldgottesdiensten befohlen wurde, waren für die christliche Botschaft, die ihnen die Furcht vor dem Kommenden zu nehmen versprach, durchaus empfänglich. […] Die große Resonanz der christlichen Lehre in den ersten Monaten des Krieges gab Anlaß zu der Erwartung, daß man am Anfang der Entstehung einer die ganze Nation umfassenden Volkskirche stehe, welche die atheistischen und materialistischen Strömungen der Vorkriegsjahre kraft der neuerwachten Sensibilität für Gemeinsinn, Opferbereitschaft und Hilfsbereitschaft überwinden werde. Der Krieg sei, so meinte man, ein Gottesgericht, das sich gegen den sittlichen Niedergang der Vorkriegszeit richte und eine neue Art unmittelbarer Gotteserfahrung hervorgebracht habe.“3
Inwiefern gerade Althaus ein typisches Beispiel für diese Haltung deutscher protestantischer Theologen im Weltkrieg ist, wird der folgende Rückblick auf seine Lodzer Zeit erweisen.
2 Mommsen, Umdeutung, 249 f. In ähnlicher Weise äußert sich auch Blessing, Weltkrieg, 204 zum kirchlichen Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg: „Man beschwor die ‚Burgfrieden‘-Gemeinschaft, die eine religiös-sittliche Erneuerung des Volkes als inneren Gewinn des Krieges auszu drücken schien“. 3 Ebd., 254. Vgl. die zeitgenössische Einschätzungen bei Foerster, Krieg, 1316. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
1. „Die Entdeckung des Deutschtums im ehemaligen Mittelpolen“ – Paul Althaus und die deutsche Minderheit in Polen vor dem Hintergrund seines volksmissionarischen Anliegens Wie prägend die Erfahrungen des Weltkrieges und die Arbeit im Heeresdienst an der östlichen Front, zunächst ein halbes Jahr als freiwilliger Krankenpfleger, dann als Lazarettpfarrer und schließlich 1915 bis 1918 als Militär- und Gouvernementspfarrer in Lodz für Althaus als junger Mann im Alter zwischen 26 und 30 Jahren waren, lässt sich heute nur noch erahnen. „Wie für viele Theologen seiner Altersgruppe bedeutete der Erste Weltkrieg auch für Althaus einen tiefen lebensgeschichtlichen Bruch, die Katastrophe von 1918 ein Trauma.“ Besonders „durch die Bedrohung des Deutschtums im Osten während und am Ende des Krieges“ sieht Walter Sparn bei ihm eine „Zäsur“1 gelegt. Bei seinem Eintrag ins Goldene Buch der Universität Erlangen im Jahr 1927 erinnert sich Althaus äußerst positiv an diese Zeit zurück: „Diese Jahre empfinde ich bis heute als Höhe meines Lebens. Die Predigtarbeit bes[onders] in Lodz, die Mitarbeit an der deutschen Volksbewegung, die seit 1915 durch das Deutschtum Polens ging, sind mir große Erinnerungen. In dem Deutschtum Polens fand ich auch meine Lebensgefährtin, Dorothea Zielke aus Warschau, mit der ich mich 1917 verlobte, 1918 verheiratete. Den Greuel des Zusammenbruchs haben wir gemeinsam, 4 Wochen vor der Geburt unseres ersten Kindes, erlebt.“2
Ein Vierteljahrhundert nach seiner Zeit in Lodz denkt Althaus noch immer sehr lebhaft an die einschneidenden Erlebnisse zurück, die ihn und sein Fühlen und Denken als junger Theologe nachhaltig beeinflussten. Im Jahr 1942 schrieb er einen Aufsatz mit dem Titel „Die Entdeckung des Deutschtums im ehemaligen Mittelpolen“3, der aus autobiographischer Sicht nicht unbedeutend für seine Lodzer Zeit und seine Arbeit dort als Pfarrer, aber auch für seine Tätigkeit im dortigen „Deutschen Verein“ ist. Der Titel ist dabei mehrdeutig verstehbar: Zum einen geht es darum, wie die deutsche Minderheit im russisch verwalteten Polen, bedrängt von polnischer und russischer Seite, sich zu
1 Sparn, Althaus, 4. 2 2709 Eintrag, 584. 3 4201 Entdeckung. Der Sammelband „Deutschtum im Aufbruch. Vom Volkstumskampf der Deutschen im östlichen Wartheland“, in den der Aufsatz erschienen ist, ist Adolf Eichler, dem ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Vereins in Lodz, zum 65. Geburtstag gewidmet. Dadurch erklärt sich auch die relativ ausführliche Würdigung seiner Person in Althaus’ Aufsatz. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Beginn des Krieges ihres Volkstums bewusst wird, also ihr Deutschtum „entdeckt“. Zum anderen geht es aber aus der Sicht Althaus’ auch darum, wie er selbst vor diesem Hintergrund das Deutschtum als solches für sich und in der Folge für seine Theologie entdeckt, nachdem er selbst dieser Auslandsdeutschen gewahr wurde4. Althaus war in Kindheit, Jugend und Studienzeit mit Studentenverbindung im Kaiserreich sehr patriotisch geprägt worden, ihm war die Vaterlandsliebe sozusagen in die Wiege gelegt worden5. Während seiner Zeit in Lodz kommen bei dem jungen Militärpfarrer Althaus nun die eigenen Prägungen und die nachhaltigen Eindrücke der Kriegserlebnisse zusammen. Dass Althaus in dieser besonderen Kriegssituation in Polen das Deutschtum „entdeckt“, d. h. dass sich ihm in Polen ein volksbewusstes Deutschtum präsentiert6, erklärt Althaus bereits am 24. Oktober 1915 in seinem ersten Artikel in der „Deutschen Post“, dem Organ der Lodzer Volkstumsbewegung, mit dem Titel „Ihr und wir“: „Wir [d. h. die Reichsdeutschen] müssen uns erst besinnen, ehe wir fühlen, wie hinter und mit den Grenzen, die deutsche Kraft schirmt, unsere altererbte Art, unser Glaube, unsere Sprache, unsere Zukunft geschützt wird. Ihr aber spürt unmittelbarer, wofür ihr kämpft: Glaube, Sprache, Herzensart. Viele unter euch haben es auch bei sich selbst erst wieder erkämpfen müssen. Dafür preisen wir euch glücklich. Denn das, wofür Menschen kämpfen mußten in sich selbst, ist ihnen dann zehnfach ans Herz gewachsen. So ist es kein Zufall, wenn wir in euren Worten eine noch heißere, leidenschaftlichere Liebe zu deutscher Art, deutschem Liede, deutscher Sprache durchbrechen zu hören meinen als bei uns. Es ist die Liebe des Kindes zu dem bedrohten Vaterhause […]. Eure Seele hängt bewußter und darum noch innerlicher an dem innersten Heiligtum deutschen Volkstumes als die unsere.“7 4 Vgl. 3004 Verpflichtung, 289; und 3607 Obrigkeit, 37 f. 5 Vgl. Liebenberg, Gott, 25–159. 6 Siegmund-Schultze, der Vorreiter der ökumenischen und pazifistischen Bewegung in Deutschland, kommt 1937/38 im Blick auf die evangelische Kirche in Polen zu dem Schluss: „Sowohl geschichtlich wie zahlenmäßig ist die Gleichsetzung von deutsch und evangelisch nur allzu verständlich. […] Tatsache ist, daß schon vor dem Weltkriege im russischen Polen die Gleichsetzung von lutherisch und deutsch allgemein üblich war“ (ders., Ekklesia, 14 f.). Über die Frage der nationalen Identität der Lutheraner in Polen herrschte mindestens seit dem Ersten Weltkrieg bis hinein in den Zweiten ein tiefer Streit zwischen polnisch und deutsch gesinnten Lutheranern. Unterstellt man einem Mann wie Siegmund-Schultze ein gewisses Maß an Objektivität in dieser stark polarisierenden Frage, so findet man bei ihm eine einfühlsame Beschreibung der damaligen verfahrenen Situation; vgl. ebd. 14–19. 7 1510 Ihr, 20. Selbstverständlich will Althaus in seinem ersten Beitrag seinen Lesern mit einer Captatio Benevolentiae begegnen, doch nachdem sich diese Aussagen durchaus mit denen aus dem Rückblick von 1942 decken, wo es keine „polnischen Deutschen“ mehr zu gewinnen gilt, dürfte er seine damalige Gefühlslage wohl authentisch geschildert haben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Aufgewachsen im Kaiserreich, wo man sich nach seiner Wahrnehmung für Fragen des deutschen Volkstums weitgehend nur am Rande interessierte8, wusste Althaus – wie er selber zugibt – nur sehr wenig „von der Gefährdung und von den ernsten völkischen Kämpfen der Deutschen in Kongreßpolen“9. Die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa allgemein aufheizende nationalistische Stimmung spürten mehr und mehr auch die Deutschen, die im russisch verwalteten Polen lebten. Obwohl sich nach Althaus die Mehrzahl der dort lebenden Deutschen als treue Untertanen des russischen Zaren verstanden, wurden sie schon vor dem Krieg infolge panslawistischer Bestrebungen des Zarenreiches als politisch unzuverlässig eingestuft und im Krieg schließlich Repressionen ausgesetzt und in großer Zahl deportiert10. „Diese bitteren Erlebnisse rissen das bisher ganz unpolitische, ja völkisch noch nicht bewußte Deutschtum hart in die entscheidungsschwere Stunde der politischen Geschichte hinein“11, weiß Althaus zu berichten. Viele begannen, sich nun – verdächtigt und bedroht von Russen und Polen – bewusst als Deutsche zu verstehen12. So fassen auch Alfred Kleindienst und Oskar Wagner zusammen: „Der Verlauf des Ersten Weltkrieges, die Verfolgungsmaßnahmen der russischen Regierung einerseits, steigender polnischer Nationalismus betont katholischer Grundhaltung, verbunden mit dem Streben nach eigener Staatlichkeit andererseits, hatten im deutschen Bevölkerungsteil Kongreßpolens zu unvorhergesehenen Auswirkungen geführt: die Deutschen wurden sich in der Masse ihrer eigenen Nationalität bewußt.“13 8 Vgl. 4201 Entdeckung, 192, wo Althaus schreibt: „Im Reiche aber kümmerte man sich […] kaum um die deutsche Volksgruppe in Mittelpolen. Unser Denken war ‚etatistisch‘, wesentlich am Staate orientiert. Wohl sprachen wir vom deutschen Volke. Aber in Wahrheit war es als Gesamtvolk noch nicht entdeckt.“ Vgl. 3607 Obrigkeit, 37 f. 9 4201 Entdeckung, 192. 10 Zur Situation der deutschen Minderheit im russisch besetzten Polen im Jahr 1914/15 vgl. Kleindienst/Wagner, Protestantismus, 28 ff.; und Kneifel, Geschichte, 188 ff. 11 4201 Entdeckung, 193. Viele Deutsche in Polen dürften sich durch die Anfeindungen von Russen und Polen, die die Deutschen aufgrund ihres Deutschseins beargwöhnten, erst wieder dieser Tatsache bewusst geworden sein. Aus welcher Motivation heraus die deutsche Minderheit angegriffen wurde, kann hier nicht näher untersucht werden. Hier soll die Tatsache an sich thematisiert werden, sofern sie eine Auswirkung auf das Volksbewusstsein der Deutschen in Polen hatte. 12 So schreibt auch der polnisch gesinnte evangelische Bischof von Warschau Julius Bursche im Jahr 1937 über die damaligen Verhältnisse: „Schon lange vor dem Kriege wurden in der chauvinistischen polnischen Presse oftmals gehässig besonders gegen unsere deutschen Kolonisten gehetzt, sie seien von der preußischen Regierung angesiedelt worden zu militärischen Zwecken“ (Bursche, Kirche, 67). 13 Kleindienst/Wagner, Protestantismus, 35. Ob diese Bewusstwerdung tatsächlich „in der Masse“ vonstattenging, darf zwar mit Krebs, Identität, 8 f., der eine solche überhaupt für unwahrscheinlich hält, kritisch hinterfragt werden. Halten wir uns an die um Objektivität bemühte Schilderung von Althaus (vgl. z. B. 1601 Kriegsbüchlein, Vorwort 3), so ist jedenfalls davon auszugehen, dass eine solche Bewusstwerdung tatsächlich – wenn wohl auch nicht „in der Masse“ – vor sich ging. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Es verwundert daher nicht, dass viele Angehörige der deutschen Minderheit die siegreichen deutschen Soldaten als Befreier von dieser Last und als Retter vor der Deportation verstanden14. Mit diesen deutschen Soldaten kam auch der junge Militärgeistliche Althaus und wusste die Situation zunächst kaum einzuschätzen und stand „dieser seltsamen Tatsache ‚deutschsprechender Russen‘ oder ‚Polen‘ recht hilflos gegenüber. Es hat sehr lange gedauert, bis man die Deutschen in Kongreßpolen als Volksbrüder erkannte und anerkannte. Es fehlten in unserem reichsdeutschen Denken eben alle Voraussetzungen dafür. […] Es hat allerlei Mühe gekostet, bis man umlernte und auch die praktischen Folgerungen daraus zog.“15
Das Umlernen bei Althaus, das sich als „Entdeckung des Deutschtums“ vollzog, entwickelte sich als Erfahrungslernen anhand seiner Erlebnisse mit den Verhältnissen vor Ort: „Unvergeßlich bleibt mir die erste Begegnung mit den Volksgenossen […]. Es ist nicht zufällig: wir begegneten uns zuerst in Gottesdiensten, als Glaubensgenossen, die sich dabei auch als Volksgenossen erkannten. Wo immer die deutschen Heere ins Land kamen und mit ihnen deutsche Feldgottesdienste, da drängten sich bald die lutherischen deutschen Bauern herzu. Um die im offenen Viereck aufgestellte Soldatengemeinde herum sammelten sich die einheimischen Deutschen, die Frauen mit ihren kleinen Kindern auf den Armen; entsprechend in den kleinen und großen Städten, in denen wir mit den Soldatengottesdiensten in die evangelischen Kirchen zogen. Dieses gemeinsame Erleben der Gottesdienste wurde gewiß nicht der einzige, aber einer der ersten und wichtigsten Wege zueinander.“16 „Tausende strömten im Frühjahr und Sommer 1915 Sonntag für Sonntag in die Militärgottesdienste“17.
Was Mommsen für die Allgemeinheit der protestantischen Geistlichkeit konstatiert, gilt also auch für den jungen Militärpfarrer Althaus. Der enorme Zulauf zu seinen Gottesdiensten, dieses Erlebnis der überfüllten Gotteshäuser an 14 Vgl. Kleindienst/Wagner, Protestantismus, 29 ff. Dass nicht alle Deutschen in Polen diesen Jubel teilten, weiß auch Althaus: „Wohl standen manche Kreise beiseite und hielten sich ängstlich von der Begegnung mit uns Feldgrauen zurück, wo es nur möglich war. Einige hatten ihre Häuser schon mehr oder weniger der Polonisierung geöffnet. Andere dachten materiell und rein geschäftlich“ und wollten daher „entschlossen unpolitisch bleiben“ (4201 Entdeckung, 194). Als weitere Gründe nennt Althaus 1916 die „Angst vor dem Schicksal […] bei einer Rückkehr der Russen“ und das „Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem alten Staate“ und kann sogar Verständnis für diese Einstellung aufbringen: „Vor Männern und Frauen solcher Art, deren Zurückhaltung gegen die deutsche Sache durch ideale Gründe mitbestimmt wird, werden wir als deutsche und lutherische Christen stets rückhaltlose Achtung haben.“ (1605 Geschichte, 13). 15 4201 Entdeckung, 192. 16 Ebd., 192 f. 17 Ebd., 194; vgl. 1903 Abschied, 165 f.; 1603 Heimat, Vorwort; und 1501 Kommt, Vorwort. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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lässlich seiner Predigten ist auch für ihn „Anlaß zu der Erwartung, daß man am Anfang der Entstehung einer die ganze Nation umfassenden Volkskirche stehe, welche die atheistischen und materialistischen Strömungen der Vorkriegsjahre […] überwinden werde.“18 Auch er kann hier so etwas wie einen „Geist von 1914“ am Werke sehen, den es volksmissionarisch fruchtbar zu machen gilt19. Von Elternhaus, Studium und Predigerseminar tief kirchlich und nationalprotestantisch sozialisiert und geprägt, „entdeckt“ Althaus nun im Kontakt mit den sich ihres Volkstums bewusst werdenden Auslandsdeutschen in Polen seinerseits diese wichtige Dimension „Volkstum“ für sein Denken, Fühlen und Handeln20. In seiner Zeit in Polen macht sein überkommener Patriotismus unter dem Eindruck der Situation der dort lebenden Deutschen, zumal angesichts der allgemeinen Bedrohungslage im Krieg, eine Entwicklung durch21. Sein Bewusstsein für das eigene Volkstum erhöht sich, er wird sensibler für die Fragen des Volkes und in ihm reift die Idee einer positiven Anknüpfung von religiös-christlicher Erfahrung an die Erfahrung des Volkstums. Nachdem er gerade in der Auslands- und doppelten Diasporasituation die enge Verbindung von Luthertum und Volkstum bei der deutschen Minderheit erfährt, sieht er als Konsequenz daraus mit dem Volkstum auch das Luthertum gefährdet. Angeregt durch die persönlichen Erfahrungen, die er in Polen macht, will er ab sofort Christentum und Volkstum, Kirchlichkeit und Volksverbundenheit aufeinander beziehen und gegenseitig fruchtbar machen. Hier in Wlozlawek, Brzeziny und Lodz entsteht seine volksmissionarische Vision von kirchenverbundenem Volk und volksverbundener Kirche, die er in der Folge konzeptionell ausarbeiten sollte. Zu Recht nennt Liebenberg Althaus’ „sehnlichst erwartete Hinwendung des religiös erwachten deutschen Volkes zu einem persönlichen Gottesglauben christlich-lutherischer Provenienz“ die „grundlegende Absicht“ des Militärpfarrers22. 18 Mommsen, Umdeutung, 254. 19 Vgl. Pressel, Kriegspredigt, 340. 20 Zu diesem Urteil kommt auch Fischer, Systematische Theologie, 316, wenn er schreibt: „Im Ersten Weltkrieg als Gouvernements-Pfarrer in Lodz in besonderer Weise mit den Problemen konfessioneller und nationaler Diaspora konfrontiert, entdeckt der Göttinger Privatdozent das Phänomen ‚Volk‘.“ Ebenso schreibt von Loewenich, Theologie, 125: „Die Begegnung mit dem bedrohten deutschen Volkstum im Osten ist nicht ohne Einfluß auf seine politische Ethik geblieben.“ Zur Entdeckung des Volks als neuer ethischer Bezugspunkt bei jungen lutherischen Theologen während des Weltkrieges vgl. auch Scholder, Kirchen, 148. 21 Für eine solche Entwicklung spricht auch Liebenbergs Befund über eine mögliche „völkische Weltanschauung“ bei Althaus vor 1914: „Tatsächlich lassen sich über seine völkischen Gemeinschaftsvorstellungen im bündischen Publikationsspektrum vor dem Ersten Weltkrieg keine direkten Auskünfte finden.“ (ders., Gott, 138, Anm. 146). 22 Liebenberg, Gott, 293. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Schon von Jugend an hat Althaus, biographisch beeinflusst, ein starkes Interesse am Thema Mission bzw. Volksmission23. Auch im Theologiestudium und in seiner christlich orientierten Studentenverbindung ließ ihn dieses Thema nicht mehr los, auf den christlichen Studentenweltbund setzt er diesbezüglich große Hoffnungen24. So spricht Liebenberg davon, dass sich Althaus dem Ziel der „religiöse[n] Wiedergeburt des deutschen Volkes“ „seit seiner Studienzeit verschrieben“ hatte25. Als Student und später während seiner Zeit im Predigerseminar nahm er regen Anteil an der internationalen Studentenmissionsbewegung, an der deutschen christlichen Studentenvereinigung (DCSV), mit der er in „persönlichem Austausch“ stand26, und auch am christlichen Studentenweltbund. Seinen Bundesbrüdern im Schwarzburgbund (SB) legte er in drei Beiträgen in den „Blättern des Schwarzburgbundes“ der Jahre 1912 und 1913 „mit warmer Sympathie und ernstlichem Willen zur Mitarbeit“ die interna tionale christliche Studentenbewegung ans Herz27. Mehr noch: Er wünscht sich „im Interesse der Sache des Christentums auf den Universitäten“ „eine stärkere Berührung“ zwischen DCSV und SB. Dadurch könne „der wachsenden Entchristlichung der großen Masse der Studentenschaft“ entgegengewirkt werden28. Bereits diesen Äußerungen lässt sich entnehmen, dass für Althaus die äußere Mission von der inneren nicht zu trennen ist; Weltmission und Volksmission sollen parallel in Angriff genommen werden. Maßgebliche Impulse für die internationale Studentenmissionsbewegung und damit auch für Althaus gingen von der ersten Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh aus. „Evangelisation der Welt in dieser Generation“ lautete hier das hoffnungsvolle und euphorische Motto. Als Althaus im Herbst 1914 seinen Militärdienst antritt, ist er nicht nur von vaterländischer Gesinnung, sondern auch von der Begeisterung für Weltund Volksmission durchdrungen. Hier sah er ein breites Betätigungsfeld nicht nur im Hinblick auf seine feldgraue Gemeinde, sondern zunehmend auch für die lutherische deutsche Diasporakirche in Polen. Noch während des Krieges und insbesondere danach ändert sich Althaus’ optimistische Sichtweise. Der Weltkrieg, der die christlichen Nationen sich ge 23 Bereits sein Großvater und sein Vater nahmen regen Anteil an Fragen der Mission, sein Onkel Gerhard Althaus wirkte als Missionar in Ostafrika; zu seinem Onkel vgl. Fleisch, Mission, 268–280. Jasper, Theologiestudium, 254 spricht in diesem Zusammenhang von „lebendigen familiären Wurzeln“, aus denen sich Althaus’ Missionsinteresse speiste; vgl. seine biographische Aufzeichnungen über seinen Vater in 2801 Leben, 81 f.182. 24 Vgl. 1401R Niedermeyer. 25 Liebenberg, Gott, 191. 26 1204 Studentenbewegung, 109. 27 1301 Studentenbewegung, 78. 28 1204 Studentenbewegung, 123. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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genseitig bekriegen ließ, brachte in Sachen Weltmission eine herbe Ernüchterung für die Christenheit. Nicht nur der feindselige Umgang der Sieger mit den Missionaren der besiegten Staaten vor Ort in Afrika und anderswo hinterließ in den Kirchen der Besiegten einen fahlen Beigeschmack, die Tatsache des Krieges überhaupt wurde als „Bankerott der Christenheit“ (Martin Rade) gesehen. Für Althaus war der Krieg in Sachen Mission ein herber Rückschlag. So predigt er seinen Soldaten am 6. Januar 1915 von seinen enttäuschten Hoffnungen: „Das Feld schien uns weiß zur Ernte. Alles schien vor allem daran zu liegen, daß die christlichen Völker einig ihre Kräfte auf den großen Kampf Jesu mit dem Islam zusammenschlossen, Deutsche und Engländer und Amerikaner Hand in Hand. Und nun kam dieser furchtbare Krieg. […] Christliche Völker mit dem Islam verbündet […] kämpfen gegen christliche Völker, verbündet mit dem heidnischen Japan […]. Und meint ihr nicht, daß es der Mission einen schmerzlichen Stoß gibt, wenn die Heiden jetzt Christen wider Christen aufstehen sehen, wenn in Südafrika die Engländer Schwarze gegen die deutschen Christenbrüder schicken, wenn wir genötigt sind, in Ostafrika unsere schwarzen Truppen gegen die Eindringlinge aus dem christlichen Missionslande England kämpfen zu lassen, wenn in Indien deutsche Missionare gefangengesetzt werden?“29
Diese Niedergeschlagenheit paart sich bei Althaus allmählich mit neuer Hoffnung für die Mission, wenn er 1925 auf der Weltmissionskonferenz in Stockholm predigt, „die Heidenkirchen in Afrika und Asien haben das Ärgernis des Weltkrieges als Schande der Christenheit erlebt – und sind nicht an Gottes Wort irre geworden, an der Christenheit Europas vielleicht, aber nicht an Christus! Sie messen das Evangelium nicht an Europa, sondern verurteilen Europa vom Evangelium aus.“30
Angesichts dieses nüchternen Blicks auf die äußere Mission, verlagerte Althaus nach dem Krieg seine Hoffnungen mehr auf die innere Mission, auf die Volksmission. Dabei hatte er, wie schon vor dem Krieg, zuerst sein eigenes akademisches Umfeld, sprich die Studentenschaft im Blick31.
29 1501P Losung, 42 f. 30 2510P Freiheit, 378. Zu Althaus’ Teilnahme an der Weltmissionskonferenz vgl. Kap. IV, 2.2. 31 Christlicher Studentenbewegung und studentischer Missionsbewegung blieb Althaus nicht zuletzt dadurch verbunden, dass er sich als Professor als Referent und Prediger zur Verfügung stellte, wovon seine Schriften „Das Kreuz Christi als Maßstab aller Religion“ (1921), „Die Krisis der Ethik und das Evangelium“ (1925), „Das Kreuz Christi“ (1929), sowie die Predigt „Ströme lebendigen Wassers“ (1922) zeugen, die alle in der Reihe „Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung“ erschienen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
2. „… wir haben uns unseren Volksbrüdern … zur Verfügung gestellt“ – Althaus’ Einsatz für die Deutschen in Polen Mit seinem volksmissionarischen Anliegen im Hinterkopf nimmt der junge Militärgeistliche Althaus seine Arbeit in Polen auf und zeigt sich begeistert von den übervollen Militärgottesdiensten, in denen deutsche Soldaten und einheimische evangelische und damit zugleich deutsche Bevölkerung den Weg zur Kirche finden. Beinahe schwärmerisch spricht Althaus Anfang August 1916 über die „Stellung der Kirche im Volksleben“ und erachtet dabei die Situation für sein volksmissionarisches Anliegen als günstig, sofern die Kirche bewusst volkstumsbezogen arbeitet: „Wo es sich um ein Heiliges und eine tiefste Gewissenssache wie bei der Treue gegen unser Volkstum handelt, da möchte man die Kirche stark interessiert sehen. Sie sollte die Wächterin an jenem heiligen Feuer sein. Wie würde das ihre Wurzeln wundervoll tief in den Boden unseres polnischen Deutschtums legen!“1
Deutlich fällt hier bereits auf, wie Althaus den Begriff des Volkstums religiös als „Heiliges“ auflädt und daher Volkstreue zur „Gewissenssache“ macht. Warum er gerade beim Volkstumsbewusstsein bzw. bei der Volkstumsbewegung anknüpfen will, wenn es ihm um eine Vertiefung von christlicher Religion geht, macht er einige Absätze später deutlich, wenn er den volkstumsbewussten Deutschen besonderen Idealismus und Charakterstärke attestiert: „Sagt die Kirche nichts dazu, daß bei dem Prozesse der Entdeutschung dauernd heimliche mahnende Stimmen des eigenen Volkstumes verleugnet und überhört werden zu gunsten gesellschaftlicher Geltung und Bequemlichkeit? Meint man, daß das an dem Charakter auf die Dauer spurlos vorübergehen und das zarte Leben der Seele in Treue und Hingabe, das wir Religion nennen, unberührt lassen könne? Eine Treue erleichtert die andere und eine Flatterhaftigkeit erleichtert die andere. Gleichgiltigkeit gegen ideale Ansprüche an einem Punkte läßt auch die anderen Stellen gegen die Stimmen aus der Welt des Unsichtbaren harthörig werden. […] Ich denke, die Achtsamkeit und die Welt des Idealen und jener tiefste Charakter des Herzens, an unsichtbaren Gütern auch wider alle Bequemlichkeit, auch unter schweren Verhältnissen festzuhalten, ist heutzutage wahrhaftig nicht so häufig und ist andererseits für die Religion so grundlegend wichtig, daß wir Vertreter des Christentums dringenden Anlaß haben, charaktervolle Art zu pflegen, wo man sie findet. […] Völkische 1 1606 Stellung, 29. Den Aufsatz verstand Althaus als „Wort zur allgemeinen Pastorenkonferenz des Warschauer Konsistorialbezirks am 8. und 9. August 1916“. Deutlich wirft er hier so manchem Pastor vor, der „Polonisierung“ der Deutschen in Polen durch Gleichgültigkeit dem eigenen Volkstum gegenüber Vorschub geleistet zu haben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Selbstbesinnung ist schon ein Aufwachen aus der Stumpfheit rein materiell-bestimmten Dahinlebens, ist schon ein Hineinwachsen in eine Welt sittlicher, unsichtbarer Verpflichtungen und kann dann sicherlich der Vorhof zum Heiligtum der Religion werden.“2
Das sittliche Moment steht bei Althaus’ Religionsbegriff hier ganz im Mittelpunkt, inhaltlich wird er kaum greifbar, wenn er auch bewusst anti-materialistisch ist. Dass Althaus gerade den patriotischen, volkstumsbewussten Deutschen in Polen eine hohe Sittlichkeit und Idealismus nachsagt, erklärt sich aus seiner eigenen Weltanschauung und seinen eigenen Wertvorstellungen, in denen „Treue und Hingabe“ einen hohen Stellenwert einnehmen3. Man kann die Verve, mit der sich Althaus in Lodz für die evangelische Kirche und für die deutsche Volkstumsbewegung einsetzt, schwerlich nachvollziehen, wenn man sich nicht die doppelte Minderheitensituation bewusst macht, in der sich die Deutschen, die zum größten Teil evangelisch waren, im streng katholischen Polen befanden. Hinter seiner Betonung der von ihm wahrgenommenen Zusammengehörigkeit von Deutschtum und Luthertum in Polen und seiner Ablehnung einer „Polonisierung“ der deutschen Bevölkerung, d. h. der Assimilierung an das katholische polnische Volk4, verbirgt sich nicht zuletzt die Sorge um den Fortbestand der evangelischen Kirche in Polen5. So schreibt er 1916, das Beispiel der Warschauer Gemeinde, wo er die „Polonisierung“ schon am weitesten fortgeschritten sieht, zeige, „daß mit dem Deutschtum ein starker Wall gegen den Katholizismus zu zerbröckeln beginnt. Die Warschauer Gemeinde ist zwar im Ganzen noch bewußt evange 2 1606 Stellung, 34 f. 3 Vgl. Liebenberg, Gott, 156–159. Einen vergleichbaren Vorgang finden wir im theologischkirchlichen Raum zur gleichen Zeit bei den religiösen Sozialisten, die aus ihrer eigenen Weltanschauung und aus eigenen politischen Vorstellungen und Präferenzen heraus kirchlich-theologisch und volksmissionarisch beim Sozialismus anknüpfen wollen und daher den Sozialisten hohen Idealismus und Sittlichkeit attestierten. 4 Warum es gerade in den Städten zu einer „Polonisierung“ der Deutschen kommt, kann Althaus als Akademiker nachvollziehen, auch wenn er sie als „schmerzliche Vorgänge“ verurteilt. Einen Grund sieht er in der intellektuellen Verflachung großer Teile des polnischen Deutschtums: „Die Deutschen haben zwar die materielle Kultur Polens begründet, aber […] nie ein reges geistiges Leben geführt. Vielmehr ist ihm [dem Deutschtum] das städtische Polentum an geistiger Bildung und Schöpferkraft weit überlegen. So erklärt es sich, daß die deutsche Intelligenz, die aus dem Mittelstande emporstieg, […] geistig anregenden Verkehr in erster Linie bei den polnischen Gebildeten ihres Dorfes oder der Stadt suchten und fanden.“ (1605 Geschichte, 15). Um das zu vermeiden, setzt sich Althaus für ein starkes deutsches Bildungswesen in Polen ein. 5 So schreibt Siegmund-Schultze zwanzig Jahre später vom „tertius gaudens eines machthungrigen Katholizismus, der jetzt schon im Gebiete Kongreßpolens die Früchte des innerprotestantischen Nationalitätenkonflikts pflückt“ (ders., Ekklesia, 19). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Die entscheidenden Weichenstellungen während des Krieges lisch, aber sie geht dauernd zahlenmäßig zurück und wird nur noch durch den Zuzug Reichsdeutscher immer wieder vor dem Tode bewahrt. In unzähligen Fällen hat die Polonisierung der Evangelischen eine Mischehe begünstigt und auch sonst konfessionelle Gleichgültigkeit im Gefolge gehabt. 60 % aller Ehen in der dortigen evangelischen Gemeinde sind Mischehen. Die Mehrzahl geht der evangelischen Kirche verloren.“6
Für Althaus steht fest: Die Erhaltung des Deutschtums in Polen trägt entscheidend bei zur Erhaltung der evangelischen Kirche in Polen. „Es bleibt in Polen nun einmal dabei, daß das Deutschtum einen Schutzwall um die evangelische Kirche darstellt“, klärt er 1917 seine deutschen Leser auf7. „Glaube und Volkstum“ gehören in seiner Wahrnehmung der Lage in Polen zusammen8. Fragt man nach Althaus’ Volkstumsverständnis in dieser Zeit, so zeigt sich, dass er im Jahr 1915 Volkstum nicht primär – wie in völkischen Kreisen üblich – über „Blut und Boden“ definiert, sondern in erster Linie die kulturellen Faktoren Sprache, Sitte und Geschichte, vor allem aber den (lutherischen) Glauben als das „geheime Band“ zwischen Reichsdeutschen und Auslandsdeutschen hervorhebt. Dabei gibt er allerdings sogleich zu bedenken: „Wir wollen freilich nicht engherzig Luthertum und Deutschtum in eins setzen; auch in Schweden und Norwegen, auch in Frankreich gibt es Lutheraner.“9 Dass die Sorge um den Fortbestand der lutherischen deutschen Kirche in Polen in ihrer doppelten Diasporasituation nicht nur dem nationalprotestan 6 1605 Geschichte, 17. Das Phänomen, dass der eigene Glaube und damit auch die eigene Identität als stark gefährdet betrachtet wird durch eine besonders durch Mischehen begünstigte Assimilierung an die benachbarten Völker und deren Kultur, findet sich bereits bei den Israeliten zur Zeit des Alten Testaments; vgl. Gen 24,3; 28,1.6–9; Esr 9,1–15; 10,1–17; Neh 13,23–28. Die gleichen Befürchtungen, wie sie Althaus für die deutsche Minderheit in Polen hegt, gibt es zur Zeit der Weimarer Republik auch innerhalb der jüdischen Minderheit in Deutschland. So wird von kritischen Stimmen die Mischehe als größte Gefahr für das Judentum betrachtet, der es mit Treue gegenüber der eigenen Gemeinschaft zu begegnen gelte. Vgl. Salzberger, Mischehe, 20 f., der für die Mischehen-Verbote in biblischen Zeiten von „nationalen Motiven“ ausgeht, die als tieferen Grund „das Religiöse im Auge“ haben“. 7 1708 Kirche, 83. Im gleichen Aufsatz berichtet er: „Wo die Kolonisten nicht ganz zersprengt unter Polen, sondern in geschlossenen Siedelungen wohnen, da haben sie sich die deutsche Muttersprache […], deutsche Sitte und den lutherischen Glauben bis heute treu bewahrt.“ (ebd., 81). 8 Althaus zeigt sich noch 1937 überzeugt, dass sie „sich gegenseitig schützten, daß also die Gefährdung des völkischen Bestandes zugleich auch den kirchlichen Bestand bedrohte, daß die Zukunft des Luthertums in Polen in bestimmtem Maße an der Zukunft des deutschen Volkstums hing.“ (3701 Glaube, 67). 9 1511 Deutschtum, 23. Althaus betont auch hier – wie schon der Titel des kurzen Artikels vom Oktober 1915 vermuten lässt – die Verbundenheit von Luthertum und Deutschtum angesichts der besonderen Lage in Polen, wo „strengster Katholizismus und Polentum miteinander verschwistert“ sind und die evangelische Minderheit, die sich hauptsächlich aus der deutschen Minderheit rekrutiert, daher „aufs Schwerste gefährdet“ ist. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tischen Denken von Althaus entsprang, sondern dass er sich auch von den Erfahrungen vor Ort, vor allem mit der Landbevölkerung, leiten ließ, macht er mehrfach deutlich. So lässt er im Frühjahr 1915 seine Leser in der Heimat wissen: „Diese Leute hier oben [auf dem Land] können polnisch und russisch nur stümpern, die Kinder gar reden nur deutsch. Mit ihrem Pfarrherrn, der stark polnische Neigungen und polnische Verwandtschaft hat, sind sie gar nicht zufrieden.“10 Rückblickend schreibt Althaus 1919: „Wir erkannten bald die die besondere Lage der deutschsprechenden Mehrheit in der polnischen Landeskirche: deutsche Bauerngemeinden, in denen deutsche Sprache, Sitte und Lied herrscht – aber an ihrer Spitze vielfach Seelsorger, deren Häuser keine deutsch-lutherischen Pfarrhäuser mehr sind, sondern polnische Häuser mit polnischer Sprache und Kultur.“ In dieser besonderen Situation sah Althaus die Gefahr, „daß dadurch das enge Vertrauensverhältnis zu den Gemeinden in dem gleichen Maße Krisen entgegengehen mußte, als die deutschsprechenden Bürger Polens sich auf ihre Zugehörigkeit zu dem großen deutschen Gesamtvolke besannen.“11
Das Problem für die deutsche lutherische Kirche in Polen, das schließlich während des Krieges zur Zerreißprobe führen sollte12, bestand vor allem in einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Situation durch die jeweiligen Pastoren. Die sich mehr und mehr assimilierenden – Althaus spricht von „polonisierten“ – Pfarrer in der Stadt sehen die Zukunft der lutherischen Kirche Polens in einer Öffnung zum Polentum hin, was in ihren Augen schließlich missionarische Impulse unter den katholischen Polen freisetzen soll13. Althaus und viele 10 1507 Frühling, 149. Zur Situation der deutschen Landbevölkerung in Polen vgl. Krebs, Identität, 6. 11 1903 Abschied, 165. Eine solche deutsche Besinnung habe bereits vor dem Krieg, nämlich nach der Revolution von 1905–1907 in Lodz eingesetzt. Ein gesteigertes polnisches und ein gesteigertes deutsches Nationalgefühl bedingten sich in dieser Zeit gegenseitig. 12 Vgl. Althaus’ apologetisch gehaltenen Rückblick 1903 Abschied, 165–179. Die Auseinandersetzung kann hier nicht nachgezeichnet werden, ich verweise auf die Darstellung von Liebenberg, Gott, 241–263. Für die Position von Althaus sei auf seine programmatische Rede „Die Stellung der Kirche im Volksleben. Ein Wort zur allgemeinen Pastorenkonferenz des Warschauer Konsistorialbezirkes am 8. und 9. August“ (1606) hingewiesen. 13 Im Jahr 1937, also zwanzig Jahre nach den damaligen Vorgängen, beschreibt Althaus das Anliegen dieser Pfarrer so: Sie sahen „in der völkischen Entwicklung die Möglichkeit gegeben, daß die deutsche lutherische Diasporakirche zu einer polnischen lutherischen Missionskirche würde und damit ihren evangelischen Zeugenberuf an dem polnischen Volke erfüllte.“ Nun könne man deutlich sehen, dass diese Hoffnung eine Fehleinschätzung gewesen sei. Als Althaus im Herbst 1935 auf Einladung des Konsistoriums der evangelisch-augsburgischen Kirche in Polen Lodz besucht (Vgl. die entsprechende Pressemeldung in der „Freien Presse Lodz“ vom 22.4.35 im PAA F 2/1 Nr. 2186 a), kann er sich selbst ein Bild von der Entwicklung machen. So schreibt er 1937 weiter: „Die Polonisierung der Kirche hat Fortschritte gemacht […]. Aber von den Wirkungen, die [man sich] erhoffte, bemerken wir nichts. Die lutherische Predigt in den entdeutschten Gemeinden hat © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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seiner reichsdeutschen und damit nationalprotestantisch geprägten Amtsbrüder, die wie er kriegsbedingt ins Land kamen, sehen genau dadurch die deutsche und damit lutherische Identität der Kirche in Gefahr, wogegen nur eine intensivierte Volkstumsarbeit helfe. Beiden kirchlichen „Parteien“ geht es aus jeweils ihrer Warte um nichts weniger als um die Zukunft der evangelischen Kirche in Polen, daher prallen die Gegensätze so unerbittlich aufeinander14. Althaus bemüht sich in der nicht immer sachlich geführten Auseinandersetzung immerhin darum, auch die Motivation der Gegenseite zu verstehen und will ihnen auch „Ernst“ und „Idealismus“ nicht absprechen15. Zur Althausschen Sachlichkeit, gepaart mit seinem vermittelnden Wesen, gehört es auch, dem Unverständnis der sogenannten „polonisierten“ Pfarrer gegenüber den nationalen Anliegen des „Deutschen Vereins“ mit Nachsicht zu begegnen. So hält er es für „nicht gerecht, den deutschen Pastoren in Polen die Vaterlandslosigkeit ihrer Predigten besonders zum Vorwurf zu machen. Die Vaterlandslosigkeit des evangelischen Christentums in Polen ist nicht Schuld, sondern Schicksal“, weil „Vaterlandsliebe für die Deutschen hierzulande infolge ihrer ganzen Geschichte eine innere Unmöglichkeit“ ist16. Diese Althaussche Nachsicht missionarischen Einfluß auf das katholische Polentum offenbar nicht üben können. Im Gegenteil: die polonisierten Gemeinden […] erleiden ständig große Verluste durch konfessionelle Mischehen. Die assimilierten deutschen Lutheraner heiraten in polnische Familien, ihre Häuser gehen allermeist dem evangelischen Glauben verloren. Das ist die nüchterne Wirklichkeit der ‚polnischen Missionskirche‘. Der polnische Geist ist römisch-katholisch.“ (3701 Glaube, 68 f.). 14 Im Rückblick urteilt Althaus sehr kritisch über den damaligen Höhepunkt der Auseinandersetzung: „Die Synode des Oktobers 1917 gehört zu den unglücklichsten Momenten der deutschen Kriegsarbeit in Polen.“ Die einheimischen Geistlichen „fühlten sich von der deutschen Verwaltung beiseite gesetzt und nicht mehr verstanden.“ (1903 Abschied, 169). So sehr er sich hier, nach dem Krieg, in die Lage der einheimischen Geistlichen versetzten kann, so wenig Verständnis äußert er für die kompromisslose Haltung des reichsdeutsch geleiteten Konsistoriums, das nur auf die deutschen Interessen blickte, ohne sich in die besondere Lage in Polen zu versetzten. Dass Althaus diese Einsicht erst nach dem Krieg gewann, ist sehr wahrscheinlich, wenn man sich seine eigenen Äußerungen unmittelbar vor dieser Synode betrachtet, in der es um die zukünftige Verfassung der „deutsch-lutherischen Kirche im Königreich Polen“ gehen sollte; vgl. 1708 Kirche, 84. Immerhin gelangte er nach dem Krieg zu dieser Einsicht, was auf ein gewisses Umdenken bei Althaus schließen lässt. 15 1511 Deutschtum, 23. Dort schreibt er: „Wir würdigen den Ernst und den evangelischen Idealismus solcher Männer tief und aufrichtig. Aber die bisherigen Erfahrungen, so scheint uns, sprechen gegen sie.“ 16 1602 Vaterlandsliebe I, 1. Dort schreibt Althaus über die polnischen Deutschen: „Als die Ahnen Deutschland verließen, da schieden sie aus dem in Kleinstaaten zersetzten deutschen Volke. Sie kamen nicht als Deutsche. […] Sie haben die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre, das heißt also, die Geburt des deutschen Nationalstandes, nicht mit durcherlebt. […] Die deutsche Kirche in Polen hat […] die Lehrzeit der deutschen Befreiungszeit nicht mit durchgemacht. […] Die Vaterlandslosigkeit der evangelischen Frömmigkeit in Polen ist gewiß Schicksal, und nicht – wie der Unverstand meint – Schuld Einzelner, etwa der Pastoren.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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mit den Pastoren in Polen fordert die Einheimischen zu zwiespältigen Reaktion heraus: In einem Leserbrief unter dem Titel „Schuld oder Schicksal“ als „Entgegnung“ zu Althaus’ Artikel hält man dem Militärpfarrer entgegen, zu leichtfertig die „Vaterlandslosigkeit der Lodzer evangelischen Frömmigkeit“ zu entschuldigen und das schuldhafte Moment gänzlich zu übersehen17. Demgegenüber zeigt die Schriftleitung ihrerseits Verständnis für die Althaussche Nachsicht mit den Pastoren: „Herrn Gouvernementspfarrer Lic. Althaus, der sich bemüht, die gespaltene Seele der Deutschen in Polen zu verstehen und als Anwalt für unsere Pastorenschaft auftritt, muß für sein Streben, die vorgeschrittenen deutschbewußten Kreise mit den noch zaudernden Pastoren zu versöhnen, warmer Dank ausgesprochen werden.“18
Die praktischen Folgerungen aus seiner Annahme einer lebenswichtigen Zusammengehörigkeit von lutherischem Glauben und dem Festhalten an deutschem Volk und Kultur sollte Althaus schon recht schnell ziehen, sowohl in seinem Amt als Gouvernementspfarrer, als auch bei seiner Nebentätigkeit für den „Deutschen Verein“ in Lodz: „Man rief uns Feldgraue zu Vorträgen über deutsches Wesen, über Männer und Frauen der deutschen Geschichte. Es war ein unvergeßlicher Volks-Frühling in Lodsch. […] Nun kam alles darauf an, diesen Strom neuen deutschen Fühlens und Wollens in ein Bett zu leiten, auf daß er nicht wirkungslos verlief, sondern die unsichere und bedrohte politische Zukunft der deutschen Volksgruppe in Polen zu gestalten vermochte.“19
Dieser Wille zur Gestaltung rief förmlich nach einer Institutionalisierung des „völkischen Erwachens“20 derer, die sich von ihm betroffen fühlten. Rückblickend schreibt Althaus: „Schon in den Jahren vor dem Kriege hatte eine aktivistische Gruppe deutscher Männer den Abwehrkampf gegen die Gefahr der Polonisierung begonnen, die Selbständigkeit der deutschen Schule gesichert, eine bewußt-deutsche Tageszeitung und Monatsschrift begründet.“21
17 Grüner, Schuld, 1. 18 DPLo 2 (1916), Nr. 11 (12.3.1916), 3. 19 4201 Entdeckung, 194. 20 Ebd., 195. 21 Ebd. In seinem Rückblick von 1937 betont Althaus außerdem: „Es muß gegenüber polnischen Darstellungen immer wieder festgestellt werden, daß die neue deutsche Bewegung unter den Lutheranern Polens ohne Zutun der Reichsdeutschen […] entstanden ist und von Einheimischen geführt wurde.“ (3701 Glaube, 70). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Diesen „Lodzer Aktivisten“ mit dem Kaufmann Adolf Eichler an der Spitze schloss sich Althaus im Herbst 1915 an und kommentierte diesen Schritt in seinem „Lodzer Kriegsbüchlein“: „Eine machtvolle deutsch-völkische Bewegung ist in Lodz und Pabianice und anderswo entstanden und sammelt sich in deutschen Vereinen, unsere Brüder drängen und bitten und rufen uns, sie begehren uns als Männer ihres Vertrauens, sie rechnen auf unsere Hilfe. Wer in Lodz und Umgebung als Feldgrauer arbeitet und sich über die Enge seiner nächsten Berufspflichten hinaus noch Auge und Herz für die großen Bewegungen, die jetzt überall im Gange sind, bewahrt hat, der wird hier in die Deutschtumsarbeit einfach hineingerissen. Sollten wir kaltherzig an alledem vorbeigehen? Wir haben es nicht fertiggebracht“22.
Althaus wurde zu Vorträgen gerufen, und dieser Ruf ereilte einen bereitwilligen Vortragenden, der sich der großen volksmissionarischen Gelegenheit für sein Amt als Pfarrer, aber auch für seine Tätigkeit im „Deutschen Verein“ bewusst war. So wurde er schnell zu einem gefragten Redner, der zu kirchlichen und vaterländischen Anlässen sprach23. Noch weiteres Publikum erreichte er mit seinen wöchentlichen „Sonntagsbetrachtungen“ in der örtlichen deutschen Presse und seinen regelmäßig abgedruckten Artikeln und Ansprachen24. Mehr und mehr nahm dabei seine Vision einer intensivierten Kirchlichkeit in Verbindung mit einem intensivierten Volksbewusstsein Konturen an25. Man geht kaum fehl, wenn man bei der Tätigkeit von Althaus in Lodz von einer Symbiose zwi 22 1601 Kriegsbüchlein, 4. Zu dieser Mitarbeit vgl. Liebenberg, Gott, 173 f. 23 So schreibt Günther, Schulwesen, 172 im Jahr 1942 über Althaus und andere: „Wertvolle Stützen des erwachten Deutschtums waren die reichsdeutschen Geistlichen, in Lodsch der Divisionspfarrer Willigmann, sein Nachfolger, der Lic. Paul Althaus und der katholische Gouvernementspfarrer Brettle. Alle drei waren ausgezeichnete Prediger. Wo und wann sie Gottesdienste hielten, waren die Kirchen überfüllt. Mit Feuereifer stellten sie sich in den Dienst der Bestrebungen, die im Deutschen Verein verkörpert waren. Ihre zündenden Ansprachen, z. B. bei den ‚Deutschen Abenden‘ entfachten aufflammende Begeisterung.“ Dieses Zitat macht noch einmal deutlich, welch „wertvolle Stütze“ Althaus für die „deutsche Volksbewegung“ in Polen war. Andererseits darf sein Einfluss bzw. seine Tätigkeit im „Deutschen Verein“ auch nicht überschätzt werden. So findet Althaus z. B. im Aufsatz über die Jugendarbeit im „Deutschen Verein“ keinerlei Erwähnung, obwohl er sich während des Krieges in der dortigen Jugendabteilung sehr engagierte (vgl. Liebenberg, Gott, 385–392). 24 Kneifel, Eichler, 20 f. schreibt 1942: „Althaus […] hat in seiner Lodscher Zeit in hervor ragender Weise an der Wiedererweckung und Stärkung des Deutschtums mitgearbeitet. Seine geistvollen Predigten, Vorträge, schriftstellerischen Arbeiten waren […] von nachhaltiger Wirkung. Die Erinnerung an ihn und seine erfolgreiche Tätigkeit lebt in vielen dankbaren Herzen weiter!“ 25 Titel wie „Deutschtum und lutherische Kirche in Polen“, „Vaterlandsliebe und Frömmigkeit“, „Die Stellung der Kirche im Volksleben“, „Volkssitten und Volksfeste“, „Luther und das Deutschtum“ oder „Glaube und Vaterland“ sprechen eine deutliche Sprache; vgl. die Bibliographie aus den Jahren 1915–1918. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schen den „Lodzer Aktivisten“ bzw. dem „Deutschen Verein“ um Adolf Eichler, die sich um reichsdeutsche Unterstützung für ihre Volkstumsarbeit bemühten, und dem jungen Militärpfarrer spricht, der seine volksmissionarischen Anliegen in die Tat umsetzen wollte und konnte26. Beides, sowohl der Wunsch nach kirchenverbundenem Volk, als auch der nach einer volksverbundenen Kirche, waren ihm Herzensangelegenheiten, wobei für ihn trotz manch verschwommener Grenzziehung zwischen Volkstumsarbeit und kirchlichem Dienst letztgenannter stets der gewichtigere blieb. Sein kirchlich-volksmissionarisches An liegen opferte Althaus nicht dem politisch-weltanschaulichen. Welches theologische und politische Problembewusstsein und welche seelsorgerlichen Fähigkeiten nötig sind, um der schwierigen Lage einer Gemeinde in doppelter Diasporasituation als Minderheit im Ausland gerecht zu werden, bringt Karl Barth 1933 in einem Brief an einen verunsicherten deutschen Pfarrer in Brasilien zum Ausdruck, wo er schreibt: „Sie können und sollen sich über das irdische Grunddatum Ihres Gemeindelebens: daß Ihre Leute Deutsche sind und daß der berechtigte Wunsch besteht, daß ihnen ihr Deutschtum erhalten bleibt – Sie können und sollen sich darüber keinen Augenblick hinwegsetzen. […] Aber es ist klar, daß die Versuchung dort draußen, wo die Kirche zugleich die wichtigste oder gar die einzige deutsche Institution ist, noch größer ist: das irdische datum mit dem himmlischen dandum zu verwechseln oder es ihm als einen Faktor von gleicher Würde zu koordinieren. […] Ihre besondere Schwierigkeit besteht darin, daß Sie sozus[agen] in Personalunion Vertreter des Deutschtums und Vertreter des Evangeliums sein müssen.“27
Barth schärft dem Pfarrer den „Primat des einen einzigen Wortes Gottes“ ein und rät ihm abschließend: „Und also … hinein denn in Ihre nun einmal nötige Deutschtums-Arbeit, pecca, pecca fortiter!“28
26 Wie sehr eine solche Symbiose seiner eigenen Konzeption entsprach, macht Althaus indirekt in einer Rezension zu „Fichte und Deutschlands Not“ (2001R Fichte) deutlich, die Anfang 1920 veröffentlicht wurde: Das Buch „rüttelt auf zu dem vaterländischen Werke, an dem die Christenheit heute neben ihrer grössten Aufgabe vor anderen mit zu arbeiten berufen ist, bei dem sie ohne Scheu auch mit Fernstehenden in Arbeitsgemeinschaft treten soll.“ 27 Barth, Kirche, 22 f. Der Barth-Brief ist vom 19.11.1933 datiert. Er weist eingangs auf seine eigenen ähnlichen Erfahrungen als „Hilfsprediger an der deutschen reformierten Gemeinde in Genf“ hin. 28 Ebd., 24. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
3. Paul Althaus und Polen Trotz des offensichtlichen Anliegens von Althaus, in Polen Volkstumsarbeit zu leisten, sich also durchaus nicht nur theologisch-kirchlich, sondern auch kulturell-politisch zu betätigen, fällt sowohl damals 1916, als auch in seinem Rückblick von 1942 auf, wie wenig er sich im engeren Sinne nationalpolitisch äußert. Die in Polen lebenden Deutschen sollen sich zum einen als gute Lutheraner und zum anderen als gute Deutsche verstehen und fühlen1. So sehr sich Althaus um das Auslandsdeutschtum, um die deutsche Minderheit in Polen auch bemüht, weitere, wirklich politische Ziele verfolgt er offensichtlich nicht. So schreibt er 1916: „Mit alledem haben wir von der politischen Zukunft des polnischen Landes, in dem wir jetzt arbeiten, gänzlich abgesehen. […] Diese Frage […] ist auch für unsere deutsch-völkische Frage vielleicht zuletzt doch nicht das Wichtigste. Mag die politische Gestaltung der Dinge hier im Osten künftig sein wie sie will: Die Deutschen in Polen dürfen wir nie wieder vergessen.“2
Außer an einer vertiefenden Bewusstmachung des eigenen Volkstums der Deutschen in Polen und an einer Erinnerung der Reichsdeutschen an die Volksdeutschen im Ausland ist er offenbar nicht interessiert. Am Status quo der in Polen lebenden Deutschen als eben im Ausland lebende Deutsche rüttelt er nicht. Stets spricht er 1916 von „polnischem Deutschtum“ oder vom „Deutschtum in Polen“ – auch wenn ein eigenständiger polnischer Staat zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existiert. Noch auffälliger ist der gleiche Befund für den rückblickenden Aufsatz von 1942, also drei Jahre nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen zur Eroberung von sogenanntem „Lebensraum im Osten“. Auch hier ist die Rede von den „Deutschen Polens“, vom „Deutschtum Russisch-Polens“ oder von der „deutschen Volksgruppe in Polen“. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich Althaus hier der Lebensraum-Phrase des NS-Regimes enthält, ist die Tatsache, dass er in diesem Aufsatz 1942 weiterhin den polnischen 1 Im August 1916 kommt Althaus ablehnend auf völkisch-rassistische Positionen zu sprechen, die – so muss man sich wohl ergänzen – die angebliche „Überlegenheit der deutschen Art“ als Argument für Gebietsansprüche ins Feld führen: „Wir halten an unserem Deutschtum nicht deshalb fest, weil wir uns etwa als die Edelrasse der Menschheit, als das auserwählte Volk fühlen, sondern weil wir Deutsche sind und unsere Eigenart in jedem Falle als Gottes besondere Gabe heilig halten sollen.“ (1606 Stellung, 32 f.). Dieses Zitat ist zugleich ein Beispiel für die Ambivalenz von Althaus’ Volksverständnis: Einerseits religiöse Überhöhung als Gottesgabe, andererseits Absage an eine völkisch-rassistische Metaphysik der Völkerungleichheit. 2 1601 Kriegsbüchlein, Vorwort, 4. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Ortsnamen Lodz, wenn auch in der eingedeutschten Schreibweise „Lodsch“, verwendet, während der offizielle, von Staatsseite befohlene Ortsname schon seit April 1940 Litzmannstadt lautete. Auf den schon während des Krieges gegen die reichsdeutschen Pastoren in Polen erhobenen Vorwurf nationalistisch-alldeutscher Betätigung reagiert Althaus im Juni 1919 in seinem Aufsatz „Abschied von Polen“, der eine sehr emotionsgeladene Verteidigungsschrift gegen Angriffe und Verunglimpfungen derjenigen Pastoren in Polen darstellt, denen er seinerseits während des Krieges den Vorwurf gemacht hatte, der „Polonisierung“ der Deutschen in Polen Vorschub zu leisten3: „Man hat mündlich und literarisch immer wieder behauptet, wir feldgrauen Pfarrer hätten als ‚alldeutsche Sendboten‘ das verzehrende und zerstörende Feuer nationalistischer Leidenschaft nach Polen gebracht. In Wirklichkeit kam niemand ahnungsloser, weniger ‚alldeutsch‘ nach Polen als wir. Wir wußten kaum, daß es im Lande Deutsche in erheblicher Zahl gab. Nur unseren Soldaten wollten wir dienen. Aber dann geschah das Unerwartete, das Unvergeßliche: die Deutschen in Polen kamen zu uns, strömten in unsere Militärgottesdienste, begehrten Rat und Hilfe und bezeugten einmal über das andere ihre Freude, daß die deutschen Brüder ins Land gekommen waren und sie von der russischen Gefahr errettet hatten. Nicht alldeutsche Hetzer, sondern die gewichtigen Tatsachen der Kriegsgeschichte von 1914 und 1915 ließen diese deutschsprechenden Lutheraner an der Weichsel und in Lodz ihr deutsches 3 Den „Abschied von Polen“, der Althaus und seinen reichsdeutschen Amtsbrüdern von den einheimischen Geistlichen bereitet wurde, kommentiert er tief emotional: „Daß die einheimischen Pastoren aufatmeten, als wir anderen gingen […], konnte nach allem Geschilderten nicht überraschen. […] Wir gingen als schwer getroffene Männer: unser Vaterland in die Knie und in den Staub gesunken, unsere Gemeinden in Polen vielleicht dem Hasse der Polen preisgegeben, unserer ernsten Arbeit Erfolg in Frage gestellt. Wir waren schwer getroffen genug – warum schwieg man nicht? Nein, die Peitschenschläge lauter Worte vor der Öffentlichkeit sind hinter uns dreingeknallt – und sie schmerzen tief.“ (1903 Abschied, 174). Er schreibt über „deutliche Worte gegen die Militärpfarrer, absprechende hochfahrende Urteile über ihr Predigen“ und über „Schmähartikel gegen die ‚deutsche Religion‘ der feldgrauen Pfarrer“. Tief getroffen zeigte sich Althaus vor allem auch durch die Erklärung, dass die Kirchenzeitung der letzten Jahre einer regelrechten Damnatio anheimfiel, die er mit den Worten zitiert: „Unsere evangelisch-lutherische Kirche bekennt sich nicht zu den 10., 11., und 12. Jahrgängen ‚Unsere Kirche‘…, sie schaltet diese Jahrgänge als Fremdkörper aus.“ (Ebd., 176). Hatten er und seine reichsdeutschen Kollegen, die eine volkstumsbezogene Erweckungsarbeit verfolgten, während des Krieges die einheimischen Pfarrer öffentlich kritisiert, so drehten diese nun den Spieß um und revanchierten sich ebenfalls vor der Öffentlichkeit. Hatte er während seiner Arbeit in Polen wenig Rücksichten auf die sich polnisch fühlenden Gemeindemitglieder genommen, so nahm man nun wenig Rücksicht auf die deutsch empfindenden. Wenn Althaus das nun seinen Gegnern zum Vorwurf macht, misst er offenbar mit zweierlei Maß: „Warum konnte man jetzt nicht vor den Gemeinden, die mit Liebe und Verehrung zu den reichsdeutschen Pastoren aufblickten, schweigen, warum mußte man der Bitterkeit freien Lauf lassen?“ (Ebd., 177). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Die entscheidenden Weichenstellungen während des Krieges Herz und die Liebe zur Heimat ihrer Großväter entdecken.“4 Und einige Seiten weiter schreibt er: „Will man es uns verdenken, daß wir im deutschen Daseinskampfe die Brüder, die uns Häuser und Herzen auftaten, als Deutsche grüßten? Niemand von uns dachte daran, sie für Reichsdeutschland in Anspruch zu nehmen. Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit schieden wir streng und haben es den Deutschen Polens oft zugerufen, daß es ihre Pflicht sei, loyale und treue Bürger des neuen polnischen Staates zu sein. Aber allerdings: dazu daß sie auch auf dem Boden des neuen Staates ihre deutsche Eigenart, Schule, Kirchensprache und wirtschaftliche Stellung wahren können, dazu haben wir ihnen, in unserem Gewissen gebunden zu solchem Bruderdienste, mithelfen wollen und dürfen.“5
Es ist ein problematischer Spagat, den Althaus den Deutschen in Polen nahelegt: In ihrer konfessionellen und volkstumsbezogenen Minderheitensituation sollen sie einerseits ihrem deutschen Volkstum und damit ihrem Glauben und andererseits dem polnischen Staatswesen gegenüber die Treue erweisen. Dass eine solche Haltung durch einen Nationalismus, der das eigene Volk – sei es das deutsche oder das polnische – absolut setzte, zum Scheitern verurteilt wäre, ist sich Althaus offenbar bewußt, wenn er sich zumindest rückblickend von radikalen kirchenpolitischen Forderungen des „Deutschen Vereins“ distanziert und zugleich den einheimischen Pastoren polnisch-nationalistische Töne vorwirft6. 4 1903 Abschied, 165 f. 5 Ebd., 172. 6 Ebd., 173.175. Das Nationalitätenproblem unter den Evangelischen in Polen sollte auch und gerade nach dem Krieg eine bleibende Rolle spielen. So sah sich zu Beginn der 20er Jahre auch die Ökumenische Bewegung für Praktisches Christentum zu einem Eingreifen genötigt und lud für März 1921 zu einer Polenkonferenz nach Uppsala ein. Wie schon Althaus während des Krieges, so ist nach Kerner, Luthertum, 57 f. auch der schwedische Bischof Nathan Söderblom nach dem Krieg der Meinung, „der Superintendent von Warschau J. Bursche vergesse über seiner nationalpolnischen Agitation seine Bruderpflicht gegenüber den evangelischen Gemeinden in Posen“. Zur Unterdrückung der deutschen, aber auch der ukrainischen Minderheit in Polen in der Zeit zwischen den Weltkriegen vgl. Isberg, Kyrkopolitik, 150–175. Er geht besonders darauf ein, wie infolge der Entrechtung und Unterdrückung der Deutschen allgemein und der evangelischen Kirche im Besonderen deren Mitgliederzahl durch eine starke Auswanderung, aber auch durch Ausweisungen und Ausbürgerungen stetig schrumpfte. Den polnisch-nationalistischen Homogenisierungsbestrebungen waren auch die polnischen Juden ein Dorn im Auge. Im Kampf um die polnische Unabhängigkeit kam es 1918/19 an vielen Orten Polens zu Pogromen mit Hunderten von jüdischen Opfern. In der Zwischenkriegszeit wanderten Zehntausende polnischer Juden nach Palästina aus. Zum problematischen deutsch-polnischen Verhältnis in der Zwischenkriegszeit schreibt Siegmund-Schultze 1931: „Der bedrohteste Punkt des Weltfriedens ist offenbar das deutsch-polnische Verhältnis.“ Nachdem er nationalistische Übergriffe in Deutschland auf die polnische Minderheit verurteilt, beschreibt er die Situation in Polen mit den Worten „die polnischen Terrorakte haben jedes Maß von Einzelaktionen überschritten“. Besonders erwähnt er die „Gewalttätigkeiten gegen die evangelisch-deutschen Kirchen“. Die entscheidende Lösung sieht Siegmund-Schultz in der Revision des Versailler Vertrages (ders., Verständigung, 2 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Auch wenn diese Aussagen 1919 in apologetischer Absicht getan wurden und nicht ohne weiteres die Situation während des Krieges objektiv wiedergeben, so ist doch die hier verwendete und schon für 1915 nachgewiesene Wortwahl Althaus’, der 1915 wie 1919 von „Deutschen Polens“ und „polnischen Deutschen“ spricht, zumindest ein Indiz dafür, dass es ihm mit dieser Trennung von Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit ernst ist. Es war sein Anliegen, das kriegsbedingt erwachende Volkstumsbewusstsein der Deutschen in Polen zu fördern und zu fordern, ohne sie in nationalpolitischer Weise zu vereinnahmen. Eine evangelisch-kirchliche Vereinnahmung war allerdings durchaus im Sinne der von ihm propagierten Zusammengehörigkeit von Deutschtum und Luthertum von ihm beabsichtigt. So schreiben auch Alfred Kleindienst und Oskar Wagner 1985 rückblickend auf das Wirken Althaus’ in Lodz: „Sein theologisches und geistliches Wirken war ganz auf die geistliche Erneuerung des Lebens des Einzelnen und der Gemeinde aus dem Evangelium ausgerichtet, wobei er die Diasporasituation der evangelischen Gemeinden in Kongreßpolen ebensowenig unberücksichtigt gelassen hat wie die Fragen der sprachlichen und nationalen Identität der Gemeindeglieder. […] Wenn Althaus die Deutschen in Polen mahnte, am Evangelium und an ihrem deutschen Volkstum festzuhalten, so um der Zukunft der evangelischen Kirche in der Diasporasituation dieses Landes willen“7.
Völkisch-alldeutsche Vorstellungen und Interessen hatte Althaus nicht. Das Recht auf einen eigenen Staat, in dem eben auch „polnische Deutsche“ als selbstbewusste Minderheit leben, spricht er den Polen daher auch nicht ab8. Dass dieser neue Staat sich in Abhängigkeit vom Deutschen Reich bildet – die Alternative wäre eine Abhängigkeit vom Zarenreich –, ist für Althaus allein schon kriegsbedingt eine Selbstverständlichkeit. Wenn Althaus in Lodz sich neben seiner Tätigkeit als Militärpfarrer engagiert um die Belange der deutschen Minderheit kümmert und eine aktive Volkstumsarbeit fördert und fordert, dann hat er als ethnisches Gegenüber die polnische Bevölkerungsmehrheit im Blick, in deren Land die „polnischen Deutschen“ als Minderheit leben – auch wenn zum damaligen Zeitpunkt kein 7 Kleindienst/Wagner, Protestantismus, 40 f. 8 Nach dem verlorenen Krieg und seinen umfangreichen Gebietsabtretungen infolge des Versailler Vertrages spielen im politischen Denken der Mehrzahl der Deutschen und so auch bei Althaus die an Polen verlorenen deutschen Ostgebiete eine große Rolle. Einem in völkischen Kreisen undifferenziert-simplifizierend propagierten „geschichtlichen Recht“ der Deutschen auf diese nunmehr polnischen Westgebiete redet Althaus, der um die Tatsache des Großteils von Polen an der dortigen Bevölkerung weiß, allerdings nicht das Wort. Für ihn steht in dieser Frage vielmehr „geschichtliches Recht gegen geschichtliches Recht“ (2104 Sozialismus, 67), d. h. Deutsche und Polen können nach seiner Meinung gleichermaßen Anspruch auf diese Gebiete erheben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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polnischer Staat existierte9. Immer wieder warnt er in seinen Veröffentlichungen vor einem Aufgehen des „Deutschtums in Polen“ im Polentum, vor einer „Polonisierung“ der Deutschen. Ihm geht es darum, dass sie auch im katho lischen Polen ihre Identität als Deutsche, und zwar als evangelische Deutsche bewahren sollen. Für ihn gehört Deutschtum und Luthertum zusammen10. Vor diesem Hintergrund kritisiert er seine einheimischen Amtsbrüder, die sich in seinen Augen für das evangelische Bekenntnis gefährlich weit an das Polentum assimiliert haben. Für diese wie überhaupt für die in seinen Augen „polonisierte“ deutsche Stadtbevölkerung hat Althaus wenig übrig, wesentlich lieber ist ihm die deutsche Landbevölkerung, die sich auch als Minderheit im Ausland ihre angestammte Sprache und Kultur erhalten hat11. Damit die deutsche Minderheit in Polen ihre volkliche und damit auch konfessionelle Identität bewahrt, gilt es für ihn, einer Assimilierung ans Polentum, einer „Polonisierung“, zu wehren. Vorbild für eine wechselseitige Stützung von Volkstum und Religion ist für ihn das polnische Volk selbst: „Mit Bewunderung sehen wir bei dem polnischen Volke die völlige Durchdringung von Polentum und Katholizismus: eine echte und wahrhafte Volksreligion! Patriotismus und Frömmigkeit ziehen aus ihrem Bunde gleichermaßen gewaltige Kraft. Das moderne Polentum bietet den überzeugenden Beweis. Könnte es in Deutschland nicht ähnlich sein?“12
9 Erst am 5.11.1916 erfolgte die „Proklamation über die Errichtung des Königtums Polen“; vgl. Liebenberg, Gott, 335. 10 Die Althaussche Überzeugung dieser Zusammengehörigkeit speiste sich aus dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen pastoralen Selbstbewusstsein, das aus der „ideellen Verschmelzung von evangelischer Tradition, bürgerlichem Selbstverständnis und nationaler Geschichtskonstruktion“ erwuchs. Für Kuhlemann, Pastorennationalismus, 553 „lebte der Protestantismus vom Selbstverständnis einer historisch überlegenen, zunehmend national gefärbten protestantischen Kultur“. 11 Vgl. 1507 Frühling, 149; und 1605 Geschichte, 10.15. 12 1602 Vaterlandsliebe II, 2. Dass Althaus bei dieser Hoffnung für Deutschland nicht an eine deutsche Nationalreligion oder an eine deutsche Nationalkirche denkt, macht er im gleichen Aufsatz deutlich; vgl. ebd., 1; u. ö. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
4. Althaus’ pastoraltheologische Lehren aus dem Pfarrdienst im Krieg – Die methodische Grundlegung seiner volksmissionarischen Arbeit Während es bisher darum ging, die politische Haltung von Althaus während seiner Zeit als Militärpfarrer in Polen zu beleuchten, soll es nun auch um seine pastoraltheologischen Lehren aus der Arbeit im Krieg gehen, die für seine politische Theologie und ihren sowohl praktischen als auch systematischen Ansatz von großer Bedeutung sind. Ausgangspunkt für seinen pastoraltheologischen Ansatz ist seine Verhältnisbestimmung von religiösem und nationalem Moment, von „Glaube und Vaterlandsliebe“. 4.1 „Die Religion eines Volkes soll national und international zugleich sein“ – Althaus’ ambivalente Verhältnisbestimmung von „Glaube und Vaterlandsliebe“ Die für Althaus charakteristische Überordnung des Kirchlich-Religiösen gegenüber dem Politisch-Nationalen kommt in seiner ambivalenten Haltung zu Glaube und Vaterlandsliebe zum Ausdruck. Am eindrücklichsten formuliert findet sie sich in den Althaus-Aufsätzen „Vaterlandsliebe und Frömmigkeit“ vom Februar 1916 und „Glaube und Vaterland“ vom September 1917. Bereits den Titeln lässt sich unschwer entnehmen, dass es Althaus – und das entspricht seinem gesamten Denken, Fühlen und Glauben – um die untrennbare Verbindung beider Aspekte geht. Liest sich der erste Aufsatz als Apologie des reichsdeutschen Militärpfarrers gegen Vorwürfe, „die Kanzel zu rein nationalen Gedankengängen und politischen Predigten“ zu missbrauchen1, so ist der zweite in erster Linie die Zurückweisung einer nationalisierten „deutschen Religion“. Beiden Artikeln gemeinsam ist zunächst die Sakralisierung des Vaterlandes als neben dem Glauben „höchsten Gut“ und „Heiligtum“2 und die Stilisierung der „Hingabe an das Vaterland“ als „Gottesdienst“3. Es klingt bereits so etwas wie eine frühe Althaussche Schöpfungsordnungstheologie an, wenn er schreibt: „Der Ruf des Vaterlandes war für uns alle, die Gottes Willen in allen sittlichen Gemeinschaftsformen ehren, ein Ruf Gottes. Die Vaterlandsliebe empfinden wir mehr denn je heute in Kriegszeiten als Er 1 1602 Vaterlandsliebe I, 1. 2 1707 Glaube, 5. 3 1602 Vaterlandsliebe I, 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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füllung des Willens Gottes.“4 Durch diese theologische Aufladung des Vaterlandsbegriffs, bei dem das Volkstum immer schon mitschwingt5, wird dieser für Althaus aber nicht nur zum Gegenstand ethischen Handelns, sondern auch zum „Gegenstand des Glaubens“: „Der Glaube an des eigenen Volkes Sendung gewinnt religiösen Glanz.“6 Diesem deutschen Sendungsbewusstsein dient Althaus der „Glaube an Israels Sendung“, wie er ihn im Alten Testament vorfindet, zum Vorbild. So wie das Volk Israel „einst der ganzen Welt zum Segen sein und sie zu Gott führen“ darf7, so sieht er auch Deutschland „bestimmt die ganze Welt zu segnen“8. Dieser „idealistische Glaube an den Weltberuf des deutschen Volkes und seiner Kultur“, dieser Glaube, „in allem Guten, Wahren und Schönen die Ersten in der Welt zu sein“9, dieser Glaube, „daß das deutsche Volk für die Zukunft der Völker ganz besondere Bedeutung hat“, hat für Althaus nichts zu tun mit „politischer Weltherrschaft“, „politisch-imperialistischem Sinne“ oder „chauvinistischer Enge“: „Nicht Weltherrschaft, sondern Weltdienst ohnegleichen – das ist heute unser Glaube.“ Er sieht die Deutschen gerade deshalb dafür prädestiniert, weil er von der „stärkste[n] Aufgeschlossenheit deutschen Wesens für Eigenart und Kultur aller anderen Völker“ ausgeht10. Bei all diesem Sendungsbewusstsein auf der einen Seite, das Althaus dem deutschen Volk theologisch verbrämt, erteilt er auf der anderen Seite der „nationale[n] Eitelkeit“ und ihrer Rede vom „deutschen Gott“ und vom „auserwählten Volk“ eine klare Absage11. „‚Es soll am deutschen Wesen noch einmal die Welt gene 4 Ebd., 3. 5 An anderer Stelle nennt Althaus das Volk explizit eine Gottesordnung, so z. B. in 1706 Luther, 16. 6 1707, Glaube, 8. Vaterland und Volkstum sind für Althaus „wie alle irdischen Güter“ „in das Licht des Gotteserlebnisses“ zu rücken. Religion soll demzufolge „in den besonderen Anlagen des eigenen Volkes Gottes Gedanken und in der Geschichte des Volkes Gottes Handeln“ ablesen. 7 Ebd., 8. 8 Ebd., 9. Ebenfalls dem Alten Testament entnimmt Althaus das Bild der anderen Völker, die eines Tages „zu Füßen der deutschen Lehrer, der deutschen Dichter, der deutschen Propheten und Priester sitzen“ werden (ebd., 11). Der nationalen Überheblichkeit in diesem Bild ist sich Althaus durchaus bewusst, weshalb er sogleich ergänzt: „Reden wir nicht viel davon – um der anderen willen, die uns doch mißverstehen, und um unserer selbst willen: nichts ist häßlicher als nationale Eitelkeit.“ 9 Ebd., 12. Die idealistische Vorstellung, dem deutschen Volk falle die Aufgabe zu, „den Kulturzustand der Menschheit zu retten“, formulierte bereits Schleiermacher; vgl. Kurz, Denken, 30–34. 10 Ebd., 10. Auf diese Weise meint Althaus auch dem Weltkrieg einen Sinn zu verleihen: „Wofür kämpfen wir denn letztlich? Für Ehre, für wirtschaftliche Möglichkeiten, für Wachstum – das alles sind schließlich doch nur Voraussetzungen für das Letzte: für Deutschlands Beruf an Geist und Seele der anderen Völker. Das ist das Höchste.“ 11 Ebd., 11. So schreibt er: „Es ist nicht gut, wenn wir auf Deutschland irgendwie die Prädikate des ‚auserwählten Volkes‘ anwenden“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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sen‘ – ist es wirklich deutsch, dieses abgehetzte Dichterwort immer wieder klingen zu lassen?“, fragt er sich und seine Leser daher12. Mit dieser Spannung in dem von Althaus vertretenen deutschen Sendungsbewusstsein ist zugleich die Spannung in seiner Verhältnisbestimmung von Glaube und Vaterlandsliebe überhaupt angesprochen. Denn neben seiner fortwährenden Sakralisierung von Volk und Vaterland kommt Althaus stets zugleich auf die Gefahr des Nationalismus und der Nationalisierung der Religion zu sprechen: „Es besteht die Gefahr, daß der Glaube das Vaterland oder das Vaterland den Glauben vergewaltige. Die erste Gefahr ist die eines übernationalen Kosmopolitismus, eines vaterlandslosen religiösen Internationalismus, die zweite Gefahr ist die einer nationalisierten, irgendwie zur Sklavin des Patriotismus herabgedrückten Religion.“13
Althaus’ kritischer Blick auf die national aufgeladene Stimmung während des Krieges – er spricht von „Krankheitszeiten“, denn „als solche werden wir unsere Zeiten des fieberhaft gereizten Nationalgefühls einmal werten“14 – lässt ihn die erste Gefahr als sehr gering einstufen. Stattdessen gilt: „Der Nationalismus, völkisches Sondergefühl und völkische Exklusivität haben die Herrschaft angetreten, und die internationalen Gefühle, deren Hüter in würdigen und unwürdigen Formen stets besonders die Deutschen waren, sind in unserer Fieberperiode des Nationalgefühls fast gänzlich ertötet. Kein Wunder, daß auch die Religion davon angekränkelt wird.“15
Dieser nationalistischen Überformung, dieser „Erkrankung“ der Religion, setzt Althaus entgegen: „Das Auflösen der Religion im Patriotismus ist für uns eine Unmöglichkeit. Daß die Religion nur eine Verbrämung des ‚deutschen Gedankens‘, eine besondere Gestalt des Patriotismus sein könnte, ist ausgeschlos sen.“16 Denn die „Verquickung von Religion und Patriotismus“ stellt für ihn einen „Rückschritt gegenüber dem jüdisch-christlichen Individualismus“ dar17. Seine Zurückweisung der auf den Gedanken Paul de Lagardes18 fußenden Forderung nach einem „deutschen Glauben“ und einer „deutschen Religion“, die 12 Ebd., 12. 13 1707 Glaube, 6; vgl. 1602 Vaterlandsliebe II, 1. 14 Ebd., 17. 15 Ebd., 6. 16 Ebd., 8. 17 Ebd., 7. So hält er den Verfechtern einer solchen Transformation des christlichen Glaubens entgegen: „Der Patriotismus als Religion – das ist nicht eine besonders vorgeschrittene, sondern eine besonders primitive Erscheinung der Religionsgeschichte.“ 18 Zu Lagardes Idee einer „deutschen Religion“ vgl. Kurz, Denken, 92 ff. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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dem „angeblich undeutsche[n] Christentum“19 den Kampf angesagt hat und „zurück vom jüdischen Christentum zu germanischer Religion“ will20, ist Althaus’ Bekenntnis zu eben jener jüdisch-christlichen, das Abendland prägenden Gottesvorstellung. Dies lässt ihn auch die auf Ernst Moritz Arndt zurückgehende, für ihn zur Zeit der Befreiungskriege ursprünglich einmal „ehrwürdige“ Rede vom „deutschen Gott“ mittlerweile als bedenklich und nationalistisch „entwürdigt“ erscheinen21. Für Althaus ist „die Sehnsucht nach deutscher Religion erst dann ernst zu nehmen, wenn sie Sehnsucht nach deutschem Christentum ist.“22 Eine solche „Erfassung und Behauptung der deutschen Eigenart auch auf dem Gebiete der Religion“23 ist für Althaus deshalb möglich, weil durch eine „mehr als tausendjährige Geschichte […] Christentum und Deutschtum ineinander verwurzelt“ sind24. Deshalb verspürt auch er, wie die Vertreter einer „deutschen Religion“, den „Wunsch, daß die Eigenart deutschen Geistes in unserem Christentum stärker zur Geltung komme“ und das „Verlangen, daß das ganze deutsche Volk sich zum Christentum zurückfinde“25. Wie die Forderung nach „deutscher Religion“ und die Rede vom „deutschen Gott“ für Althaus unmöglich sind, so lehnt er auch Forderungen nach einer die deutsche konfessionelle Spaltung überwindende Nationalkirche als „wirklichkeitsfremde Schwärmerei“ ab26. Für ihn steckt im Ringen der Konfessionen das Ringen nach christlicher Wahrheit, und eine Unterordnung kirchlich-religiöser Belange zugunsten nationaler kommt nicht in Frage:
19 1707 Glaube, 13. 20 Ebd., 12. 21 Ebd., 11. So schreibt er schon 1916: „Die Rede vom ‚deutschen Gott‘ könnte nur zu schnell, wie es ja schon heute geschehen ist, zum Kleide nationalen Dünkels und maßlosen Chauvinismus werden und das Bewußtsein um das Reich Gottes, in dem alle Völker Raum haben, töten.“ (1602 Vaterlandsliebe III, 1). Im gleichen Aufsatz schreibt er dazu: „Die Rede von dem ‚deutschen Gott‘ ist weithin üblich geworden. In Wirklichkeit glaubt man oft genug nicht an Gott, sondern nur an das Vaterland, nicht an Gottes Gerechtigkeit, sondern nur an Deutschlands gerechte Sache. […] Oft genug hat die Religion keine andere Stellung mehr, als daß sie dem Patriotismus ihren Wortschatz und ihr Pathos leiht.“ (ebd. II, 1); zur Ablehnung der Vorstellung eines „deutschen Gottes“ bei Althaus vgl. auch 1505P Furcht, 79. Zu Arndts Rede vom „deutschen Gott“ vgl. Kurz, Denken, 46–50. 22 Ebd., 13; Hervorhebung von Althaus. 23 Ebd., 14. 24 Ebd., 13. Als Beispiele zieht Althaus die „echt-deutschen Beziehungen zwischen Lehnsherren und Mannen“, die dem Verhältnis von Christus und den Gläubigen entsprechen soll, ebenso heran wie die deutsche Mystik, die für ihn dem „deutsche[n] Gemüt“ und der „deutsche[n] Innerlichkeit“ entspricht. Höhepunkt ist für ihn der Glaube Martin Luthers, der den „entscheidenden Durchbruch deutscher Seele in der Erfassung des Evangeliums“ darstellt (ebd., 13–15). 25 1602 Vaterlandsliebe III, 1. 26 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Deutsch, gerade echt-deutsch ist die unbedingte Gewissenstreue, die nicht um noch so großer Güter wie der Volkseinheit willen das Weiterschreiten in dem, was sich einem jeden innerlich als Wahrheit aufdrängt, aufgibt. Eine Union aus vaterländischen Gründen – das wäre so undeutsch wie möglich. […] Wenn sich die Konfessionen finden, dann werden sie sich im gemeinsamen Verständnis Christi, also in Christus, finden, aber nicht im vaterländischen Gedanken. […] Dazu ist die Religion eine viel zu zarte, selbständige Sache, die sich nicht in patriotische Programme und Zielbestimmungen fesseln läßt.“27
Neben dieser abzulehnenden Unterordnung der Kirche unter nationale Belange sieht Althaus in einer deutschen Nationalkirche „in starkem Maße die Gefahr einer Nationalisierung der Religion“. Wenn das der Fall wäre, könnte die Kirche in Bezug auf Volk und Vaterland ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Diese sind für Althaus „als stärkste Gabe an das Vaterland“ „die in den Tiefen des Gottesglaubens und der Erkenntnis des sittlichen Gesetzes begründete Kritik, der Ruf zur nationalen Buße“ und die Aufgabe, „die internationalen Gefühle zu pflegen.“28 Eine Nationalkirche hingegen wird für Althaus „leicht Sklavin des nationalen Willens, wo sie Erzieher sein sollte, Dienerin nationaler Enge, wo sie ihren geschichtlich anvertrauten Beruf als Hüterin des rechten Internationalismus ausüben sollte.“29 Gerade im Krieg sieht Althaus der Kirche diese Aufgabe gestellt: Sie muss „durch Krankheitszeiten“ wie „unsere Zeiten des fieberhaft gereizten Nationalgefühls“ die „internationalen Gefühle hindurchretten“ und „das Gefühl der Bruderschaft aller Menschen“ verkündigen30. Seine Forderung lautet daher: „Die Religion eines Volkes soll national und international zugleich sein.“31 Doch bei bloßer Verkündigung soll es nicht bleiben, sondern die Kirchen sollen ihre internationalen Arbeitsgemeinschaften in den Dienst der Völkerversöhnung stellen: 27 1707 Glaube, 15 f. 28 Ebd., 16. Für Althaus steht fest: „Zu beidem würde eine Nationalkirche wohl weniger fähig sein, als die Kirchen in ihrer jetzigen, über die Nationen übergreifenden Weltweite.“ (ebd., 16 f.). 29 Ebd., 17; Hervorhebung von Althaus. Schon 1916 schreibt Althaus über die von Seiten des Nationalismus drohenden Gefahren einer deutschen Nationalkirche: „Allzuleicht würde die Frömmigkeit der Nation dann selber nationalisiert werden, das heißt: ihre über die Völker übergreifende Weite, ihren völkerverbindenden Charakter verlieren. […] Allzuleicht möchte eine deutsche Na tionalkirche in Friedenszeiten Sklavin der vaterländischen Leidenschaft werden und nicht mehr die Macht haben, vaterländisches Gewissen zu sein.“ (1602 Vaterlandsliebe III, 1). 30 Ebd. Althaus zitiert an dieser Stelle das Pauluswort von Gal 3,28: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, sondern sie sind allzumal einer in Christus.“ 31 1602 Vaterlandsliebe IV, 2; zur Aufgabe der Kirche, „internationales Gefühl“ zu pflegen vgl. ebd. III, 1 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Die entscheidenden Weichenstellungen während des Krieges „Die ersten internationalen Arbeitsgemeinschaften im 19. Jahrhundert sind christ liche gewesen, die ersten internationalen Organisationen waren die Kirchen […]. Sie haben freilich den Krieg nicht verhindern können, aber sie können viel Unwürdiges in der Haltung der Völker zueinander hindern und mindern und sie können, wenn der Friede kommt, mehr als andere dahin wirken, daß er nicht nur ein Waffenstillstand, sondern wirklich ein Friede wird.“32
Mit dieser Haltung will Althaus einen Mittelweg beschreiten zwischen kirchlichem Internationalismus und kirchlichem Nationalismus, die er beide als Extreme ablehnt33. Dieser Mittelweg ist für ihn die richtige Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Vaterlandsliebe. 4.2 „Wie sollen wir den Männern predigen?“ – Pastoraltheologische Lehren aus der Arbeit im Krieg Noch im letzten Kriegsjahr stellte der Militär- und Gouvernements-Pfarrer Althaus pastoraltheologische „Leitsätze“ auf, die sich mit folgenden Fragen beschäftigten: „Welche Aufgaben stellen uns Militär-Geistlichen die religiös-sittliche und vaterländische Not gegenüber unseren Gemeinden? Und wie ist ihre Lösung in Angriff zu nehmen?“34 Basierend auf diesen „Leitsätzen“ zur pastoraltheologischen Arbeit im Krieg veröffentlichte Althaus kurz nach Kriegsende im Dezember 1918 seine „Kriegslehren für unsere Wortverkündigung“ unter dem Titel „Wie sollen wir den Männern predigen?“35. Dabei ging es ihm darum, den Weltkrieg als missionarische Gelegenheit insbesondere in der kirchlichen Männerarbeit und damit als „Gottes Stunde“ zu begreifen. Nötig ist in seinen Augen dafür ein gezieltes methodisches Vorgehen, das mit einem Zweischritt der Anknüpfung von theozentrischer zu soteriologischer Predigt arbeitet und die christliche Verkündigung direkt auf die Erfahrungen der Menschen bezieht. „Vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis“ sieht Althaus den missionarischen Weg verlaufen. Dass eine Anknüpfung bei nationaler Euphorie, wie er sie im August 1914 selbst miterlebte, ihre Grenzen darin finden muss, Nationalismus und Chauvinismus zu wehren, macht Althaus in 32 1707 Glaube, 17. 33 Auch Kurz, Denken, 476 versteht „Althaus’ nationalprotestantisches Denken während seiner Zeit als Garnisonspfarrer in Lodz“ als „Korrektiv zum reinen Nationalismus“. 34 Die Fragen sind zugleich der Titel des vierseitigen Manuskripts von 1918, das ich im Nachlass von Althaus entdeckte (NPA 13/4); Seitenangaben fehlen. 35 1808 Männern; vgl. Liebenberg, Gott, 475–486. Mit Liebenberg, 475, Anm. 528 ist wohl von einer Abfassung kurz vor Kriegende auszugehen, wenn Althaus im ersten Satz schreibt: „Je länger wir hier draußen an unseren feldgrauen Männergemeinden arbeiten…“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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seinem nüchtern-selbstkritischen Rückblick auf seine eigenen Kriegspredigten deutlich. Das besondere Charakteristikum seiner Arbeit im Krieg war für Althaus die Tatsache, dass er es ausschließlich mit Männern zu tun hatte, einer speziellen Zielgruppe für das kirchliche Handeln also, die unter normalen Umständen in Friedenszeiten schwer zugänglich war. Der Krieg hat für das Verhältnis der Kirche zu den Männern die Situation grundlegend verändert, er hat eine „ganz einzigartige und nicht genug zu preisende“ missionarische Gelegenheit gebracht. „In dieser Beziehung bedeutet der Krieg für die Kirche eine Gnade Gottes“, kann es Althaus auch formulieren. „Er gab ihr wieder den Zutritt zu Kreisen und Massen, die ihr vielleicht sonst für immer unzugänglich geblieben wären.“36 Trägheit, Hemmungen und Vorurteile gegenüber der Kirche, die in der Friedenszeit besonders unter den Arbeitern herrschen, fallen unter der besonderen Situation weg, die Althaus als „Gottes Stunde“ unbedingt für die missionarisch-kirchliche Arbeit nutzen will. Die Forderung Friedrich SiegmundSchultzes, die Kirche bedürfe zur Bildung neuen Vertrauens eines gemeinsamen „Lebenszusammenhanges“ mit den ihr entfremdeten Arbeitern, sah Althaus durch seinen „feldgrauen Lebenszusammenhang“ mit seiner Soldatengemeinde erfüllt. Wenn das Vertrauen in die Pfarrer erst wieder gegeben ist, dann erwartet Althaus auch „die Stunde […] da wir mit unserer Predigt wieder ein offenes Ohr finden“ – auch bei Großstädtern, Sozialdemokraten und Sozialisten. Daher legt Althaus der Kirche für die Zeit nach dem Krieg auch besonders die Männerarbeit nahe: „Es ist ein unbedingtes Erfordernis, daß der Pastor jeder größeren Gemeinde hinfort Männerabende halte. Die Leute werden kommen, wenn wir die Sache nur richtig anfangen“37. Für einen solchen richtigen Anfang, der die Männer wieder mehr ins kirchliche Leben zu integrieren weiß, stellt Althaus im Blick auf die Wortverkündigung Forderungen auf: Erstens solle Wortverkündigung mehr Apologetik, Ethik und Dogmatik enthalten. „Mehr Denken und Erkenntnis in unseren Predigten!“38 lautet daher seine Devise; gegen den häufig sozialistisch gefärbten Materialismus und 36 1808 Männern, 604. 37 1808 Männern, 606. 38 1808 Männern, 607. Althaus geht 1922 im Blick auf den wissenschaftlichen Betrieb so weit, das Erkenntnismoment gegen ein einseitiges Erlebnismoment ins Feld zu führen: „Unsere Studenten haben im Kriege und durch den Einfluß christlicher und freideutscher Gedanken die Bedeutung des Erlebens, überhaupt des Lebens neben und über dem Erkennen neu erfaßt. Diese an sich überaus erfreuliche Wendung drückt sich nun aber vielfach in einer heimlichen oder offenen Geringwertung der strengen, sachlichen Erkenntnisarbeit aus, die sehr bedenklich werden kann. Viele wollen nicht mehr Erkenntnis, sondern nur noch ‚Erleben‘, nicht mehr Erkennen, sondern Be kennen.“ (2205R Mahrholz, 91 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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aturalismus solle offensiv vorgegangen und Vorurteile abgebaut werden. DaN für brauche es „ein geschlossenes christliches System“, und dieses sei „mit kühner Offensive als das überlegene [zu] erweisen.“39 Dass durch Apologetik niemand zum Glauben kommt, ist sich Althaus bewusst40, aber immerhin werde dadurch „ein gutes intellektuelles Gewissen“ und „bei den bisher Gleichgültigen eine Atmosphäre des Zutrauens, der Willigkeit und Empfänglichkeit für die Welt des Glaubens“ hergestellt. Darüber hinaus solle die christliche Gemeinde „ihr hohes Gut, die Erkenntnis des Willens Gottes, mehr unter das Volk“ bringen, „ganze Lebensgebiete“ sollten „in das scharfe Licht des christlichen Ethos“ gerückt werden41. Was den Inhalt der Predigten betrifft, so fordert Althaus mehr Eschatologie – gerade „in dieser Zeit des großen Sterbens“42 – und mehr Soteriologie. Die zweite Forderung für die Wortverkündigung ist die nach mehr theozentrischer Predigt. Es war „die Gotteserfahrung, die wir in den Kriegsjahren gemacht haben“, die Althaus diese Forderung aufstellen lässt: „Von nichts hat der Krieg eindringlicher und unvergeßlicher gezeugt als von der Herrenmajestät Gottes. Von dem Gott, dessen Gedanken höher sind als unsere Gedanken, der größer ist als unser Herz, der unseren schweigenden Gehorsam und unser ganzes Opfer begehrt“43. Es war seine „theozentrische Erfahrungstheologie“, die Althaus schon in seinem Studium geprägt hat44 und die sich für ihn im Kriegserlebnis bewährt hat45, die er nun auch für die Wortverkündigung nach dem Krieg fruchtbar machen will. Mit den „großen Ergebnissen der neuesten Lutherforschung“, die „den theozentrischen Grundcharakter der Theologie Luthers wieder klar gemacht hat“46, weiß er sich dabei in Übereinstimmung. Hintergrund einer solchen Annahme der „Gotteserfahrung“ ist das Althaussche, von Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto geprägte theozentrische Religions 39 Ebd., 610. In diesen Worten kündigt sich bereits das Aufstreben der Systematischen Theo logie an, die in den 20er Jahren einen wahren Siegeszug innerhalb der evangelischen Theologie erleben sollte. Was Althaus unter „kühner Offensive“ versteht, macht er sogleich deutlich, wenn er den Grundsatz aufstellt: „Lieber einmal in gründlicher Gedankenführung ein wenig zu hoch als in traditioneller Art ein wenig zu niedrig predigen!“ (ebd.) Wenn man sich die Schriften und Predigten Althaus’ durchschaut, ist ihm schwerlich der Vorwurf zu machen, daß er diesem Grundsatz in seiner Erfahrungstheologie, aber auch seiner Geschichtstheologie, untreu geworden wäre. 40 Althaus ist sich sicher: „Glaube wächst nur da, wo ein Mensch persönliche Erlebnisse macht“ (ebd.). 41 Ebd., 611. 42 Ebd., 615. 43 Ebd., 622. 44 Vgl. Liebenberg, Gott, 51–110. 45 Ebd., 201–221. 46 1808 Männern, 621. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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und Gottesverständnis. So steht für ihn fest: „Religion entsteht ganz selbständig als Unterwerfung unter eine Macht, die mich gänzlich beansprucht, und als Erfahrung des Geborgenseins durch diese Macht.“47 Was Althaus ablehnt, sind alle auf das menschliche Glücksbegehren abzielenden psychologischen Anknüpfungsversuche der bisherigen Predigt, weil sie in seinen Augen nicht die wahre Gefühlslage der Männer treffen. „Schneidiges Mannestum“48 vermeint Althaus in der Männerwelt zu spüren, und diesem solle dann auch ein schneidiger Gott entsprechen, ein Gott der „Schützengrabenreligion“, der Dienst, Gehorsam und „Mannestreue der Gefolgschaft bis in den Tod“49 fordert. Diese Wirklichkeit Gottes ist nach Althaus den Männern zu verkündigen, ihnen ist „zu der Gewißheit Gottes des Lebendigen zu helfen“. Daher stellt er die Forderung nach Theozentrik auf und beruft sich dabei auf seinen Lehrer Schlatter und dessen „Gottesbeweis“, nämlich „den Nachweis der unverkennbaren Spuren Gottes, in unserem Leben, in unserem Gewissen, in unserer Welt, in der Erscheinung Jesu und der Heilsgeschichte.“50 Althaus bleibt nicht bei einer rein theozentrischen Predigt stehen, sie ist für ihn nur der Ausgangspunkt für das eigentliche Anliegen, für das „Aller heiligste“, wie er es nennt. Seine theozentrische Erfahrungstheologie entspricht und entspringt sowohl seinem eigenen Gottesbild, das sich für ihn in seinem Studium und in seinem Erlebnis des Weltkrieges herauskristallisiert hat, als auch der Lebenswelt seiner Predigtgemeinde bzw. später seiner Hörer in den Vorlesungen, an die er in der Wortverkündigung anknüpfen will. Damit will er in volksmissionarischer Absicht in den von Siegmund-Schultze geforderten „Lebenszusammenhang“ mit seiner Gemeinde treten. Ob diese Lebenswelt und damit die Grundbefindlichkeit seiner Gemeinde, wie er sie sich vorstellt, tatsächlich so „feldgrau“ war, oder ob er eigene Vorstellungen und Präferenzen in diese Lebenswelt projiziert, lässt sich heute kaum mehr nachvollziehen. Fakt ist, wie Liebenberg herausgearbeitet hat51, dass Althaus’ Vorstellungshorizont vor allem die ihm vertraute Lebenswelt der akademischen, bürgerlichen und vielfach kriegsfreiwilligen Jugend umfasst, was Auswirkungen auf den von ihm angenommenen „feldgrauen Lebenszusammenhang“ hat.
47 1707 Glaube, 7. 48 1808 Männern, 627. 49 Ebd., 628. 50 Ebd., 625. Frühe Spuren des Phänomens, das Althaus später als „Uroffenbarung“ bezeichnen wird, lassen sich hier bereits finden. In diesem Sinne liest sich auch auf 618: „Jesus der Brief Gottes in Person, der lebendige Brief, mit dem Gott sein Schweigen vollends bricht und sein sonstiges Reden (Gewissen, Geschichte, Natur) uns glaubhaft und überführend macht“. 51 Vgl. Liebenberg, Gott, 130–159.194–221. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Inwiefern für Althaus das theozentrische Reden nur der Ausgangspunkt sein kann, an den es mit der eigentlichen Wortverkündigung anzuknüpfen gilt, wird deutlich, wenn er die christlich-theologischen Defizite schildert, die er in der Lebenswelt seiner Gemeinde feststellt: „Sie glauben an Gott für Deutschland, aber sie stehen nicht in individueller persönlicher Beziehung zu Gott als ihrem Gott. Das reformatorische Christentum persön licher Gewißheit und bewußter persönlicher Gemeinschaft mit Gott ist erschreckend selten. Von der Front abgesehen wird wohl nur ganz wenig gebetet von unseren Männern“52.
Daher bedarf es eines weiteren Schrittes, der eng auf den ersten bezogen ist: „Theozentrische Predigtart gibt unserem Worte bis in den Ton hinein Sieghaftigkeit, Überlegenheit im guten Sinne. Sie macht gerade auf unsere besten Männer tiefen, nachhaltigen Eindruck: Gott und Gottes Recht auf sie wird ihnen das unbedingt Gewisse. Dann aber öffnet sich für die Ernstesten gar bald das Tor zum Allerheiligsten: ihre innere Stellung zu dem Herrn, dem sie gehören sollten, wird ihnen zum Problem. Die Bahn wird frei für soteriologische Predigten.“53
Es ist somit ein Zweischritt, den Althaus anstrebt: Die theozentrische Predigt dient der Vorbereitung auf die eigentliche, die soteriologische bzw. christo logische Predigt. Nur in einem Zweischritt der Anknüpfung konnte sich Althaus sein Anliegen, die Menschen mit lutherisch fundierter Wortverkündigung zu erreichen, vorstellen: „Bei theozentrischem Ansatze unseres Zeugnisses wird endlich wieder verstanden werden, was Schuld heißt. Damit aber öffnet sich erst der Weg zum Verständnis der Rechtfertigung. So hängt eines an dem anderen.“54 Das besondere Anliegen von Althaus ist es stets, die Jugend – zumal die männliche akademische Jugend – zu erreichen und für das kirchliche Christentum zu gewinnen. So ist ihm schon der christliche und vor allem lutherische Charakter seiner Studentenverbindung ein großes Anliegen55, er nimmt regen Anteil an der christlichen Studentenmission und er setzt sich bei seiner Tätigkeit als Gouvernementspfarrer in Lodz, wo er in der Jugendabteilung des „Deutschen Vereins“ mitarbeitet, sehr für die Jugend ein56. Seine großen Hoffnungen für eine christliche Wiedergeburt Deutschlands ruhen auf der deut 52 1808 Männern, 626. 53 Ebd., 629 f. 54 Ebd., 630 f. 55 Vgl. 1402 Gespensterfurcht; oder 1506 Einkehr. Vgl. Liebenberg, Gott, 111–159. 56 Vgl. Liebenberg, Gott, 385–392. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schen Jugend. Nach dem verlorenen Krieg verknüpft sich diese Hoffnung eng mit der auf eine nationale Wiedergeburt Deutschlands. Wie und warum er gerade diese beiden Komplexe – christliche und nationale Wiedergeburt – zu einer großen Erwartung zusammenbringt, erklärt sich zum einen aus seinen eigenen Prägungen: Christliche und nationale Themen standen für ihn im nationalprotestantisch geprägten Elternhaus, in Schule und Studium stets ganz oben auf der Tagesordnung. Das nationale Element steigert sich bei ihm während des Krieges und der dort gemachten Erfahrungen mit der Minderheitensituation des mehrheitlich evangelischen Auslandsdeutschtums. Zum anderen erklärt sich der Konnex bei Althaus aus seiner in Kriegszeiten entwickelten Erfahrungstheologie57, die eine strukturelle Analogie von intensivierter Vaterlandsbegeisterung bzw. Volkstumsbewusstsein und gesteigerter Religiosität bzw. Kirchlichkeit auszumachen meint. Das inhaltliche Scharnier dieser strukturellen Analogie bildet seine Geschichtstheologie, die Gott als Herrn über die Völker und ihre Geschicke erscheinen lässt, sowie seine Pflichtethik, die den Gehorsam gegenüber Gott mit einem Gehorsam gegenüber dem eigenen Volk verknüpfte. Inwiefern Althaus von einer solchen strukturellen Analogie ausgeht, wird deutlich, wenn er im Rückblick auf das Kriegserlebnis erklärt: „Wie oft ging es uns durch den Sinn: warum wird diese Jugend von der Sache Jesu nicht so gepackt wie von der Sache des Vaterlandes?“ Und seine zentrale Antwort lautet: „Wir haben der männlichen Jugend Gott und seine Sache nicht groß genug gemacht. […] Volk und Vaterland – das alles hat unsere Jugend mitgerissen […]. Und das Christentum im Leben unserer männlichen Jugend? Es packte nicht, weil wir es zu sehr als Sache der einzelnen Menschenseele, zu wenig als Sache Gottes und seines hereinbrechenden Reiches predigten und vertraten.“ Daher erklärt er unmissverständlich: „Man muß vor allem aus der Art, wie das Vaterlandserlebnis die Jugend gepackt hat, lernen.“58
Diesem Lernprozess, den Althaus im Krieg durchgemacht hat, entspringt sein Modell des Zweischritts der Anknüpfung, bei dem der theozentrischen Vorarbeit eine so zentrale Rolle zukommt. Besonders für die christliche Begeisterung der Jugend hält Althaus sein Konzept geeignet, war diese doch – zumindest nach seiner Erfahrung – in besonderem Maße „zu glühender Hingabe und willentlichem Opfer“59 bereit gewesen. Daher ist sich Althaus gewiss: „Die Jugend sucht ihren Herrn, sie sucht einen rechten Dienst, eine hohe Sache. Dieses Christophorus-Verlangen, dem Stärksten zu dienen, ist edelste Mannessehn 57 Vgl. ebd., 160–501. 58 1808 Männern, 631 f. 59 Ebd., 631. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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sucht überhaupt.“ Denn „nicht Glück, sondern Dienst und Verantwortung an wichtigem Posten ist das Verlangen männlicher Jugend“, weiß Althaus zu berichten, und „das Vaterlandserlebnis des August 1914“ dient ihm als Beweis dafür60. So fasst er sein Konzept der Anknüpfung zusammen mit den Worten: „Vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis – das wird für viele der Weg sein.“61 Es sind volksmissionarische Absichten, die Althaus von seinem Einsatz im Krieg in die Heimat mitbringt62. Ihm geht es um „die Stellung der Kirche im Gesamtleben des deutschen Volkes“. Daher fordert er von der Kirche: „Mehr Angriffsgeist in unserer Truppe! Wir haben etwas zu sagen – wahrhaftig!“63 Schon hier sieht er die Kirche ganz eng auf das Volk bezogen, sie hat für ihn „eine seelsorgerische Mission auch im öffentlichen Leben unseres Volkes“, sie hat das „Volksgewissen“ zu sein und ihr ist die „Reinigung des Volkslebens“ befohlen. Die Kirche ruft Althaus daher zu mehr „Volksseelsorge“ auf, sie bedürfe dazu „des Willens zur Reinigung des Volkslebens, des Willens zur Führung“. Als vorbildlich stellt er die Äußerungen der katholischen Kirche, aber auch der Religiösen Sozialisten hin: „Wenn wir eins von den Schweizer Religiös-So zialen, voran von Hermann Kutter in Zürich, lernen können, so ist es der Mut, in den sozialen Fragen nachdrücklicher als bisher den Willen Gottes und das Wort Jesu zur Geltung zu bringen.“64 Doch all das könne sie nach Althaus nur leisten, wenn sie sich von der herkömmlichen Weise der Wortverkündigung, die mit der Anthropologie beim Menschen einsetze, verabschiede und zu einer neuen Wortverkündigung gelange, die auf dem Zweischritt der Anknüpfung von der theozentrischen hin zur soteriologischen Predigt basiere. Noch ganz 60 Ebd., 632. Wie sehr sich Althaus in seiner eigenen Wahrnehmung der Kriegswirklichkeit von der literarischen Welt des Dichters Walter Flex beeinflussen lässt, zeigt Liebenberg, Gott, 442–445. Bei seinen Überlegungen, wie der Jugend christlicher Glaube nahe gebracht werden kann, ist Althaus nicht nur von einem deutschen, nationalen und kriegsbegeisterten Pathos bewegt, sondern auch vom Pathos und der Aufbruchsstimmung der internationalen Studentenbewegung. Als Vorbild dient ihm der damalige Generalsekretär des christlichen Studentenweltbundes John Mott, den Althaus in einem Artikel 1913 mit den Worten zitiert: „In Jesus ist in die Erscheinung getreten, was an den Heroismus der Menschen appelliert und von ihnen ihr großes Streben verlangt“. Der junge Militärpfarrer Althaus ist voller Bewunderung für den amerikanischen Generalsekretär: „Er weiß die Studenten an einem Punkte zu fassen, den die kirchlich-lutherische Verkündigung allezeit hat zu kurz kommen lassen: er ruft zum Heroismus der jugendlichen Kräfte im Dienste des größten Königs“ (1301 Studentenbewegung, 61). 61 1808 Männern, 633. 62 Diese volksmissionarische Absicht findet Liebenberg, Gott, 191 bereits in Althaus’ Kriegspredigten, die er als „christlich-patriotische Predigt zur religiösen Erneuerung des deutschen Volkes“ charakterisiert. 63 1808 Männern, 637. Die folgenden Zitate finden sich ebd., 635 f. 64 Ebd., 636. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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von seinen eigenen Kriegserlebnissen geprägt, sieht er dabei den Weg erfahrungstheologisch vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis verlaufen. Dieser Kriegseindruck, den Althaus mit seinem Vater teilt65, lässt ihn in diesem Aufsatz den Fokus ganz auf die Männerwelt und speziell auf die männliche Jugend richten, ihrer vermeintlichen Gefühlswelt ist auch der noch ganz kriegerische Sprachduktus geschuldet, der auch Gott und die Kirche „im Kampf“ sieht, im Kampf um den Glauben, der nach Althaus da wächst, „wo ein Mensch persönliche Erlebnisse macht und diese zu lesen, zu deuten versteht“66. Was in diesem konzeptionellen Aufsatz von Althaus auffällt, ist die Tatsache, dass die kirchliche Aufgabe gegenüber der „vaterländischen Not“, die er noch in seinen pastoraltheologischen „Leitsätzen“ während des Krieges für so wichtig erachtet hat, nun offenbar keine Rolle mehr spielt. Es ist hier keine Rede mehr davon, den „zuversichtlichen Glauben an die Lebenskraft und den Beruf unseres Volkes zu wecken, den Willen zum Neubau zu stärken und die Freude am Vaterland durch diese Zeit der Enttäuschung hindurchzuretten“67. Dies verwundert umso mehr, als die „vaterländische Not“ mittlerweile durch die sich abzeichnende Kriegsniederlage noch mehr verschärft wurde. Eine besonders nationale politische Predigt, die über den ohnehin üblichen nationalprotestantischen Duktus hinausgeht, liegt offenbar nicht im Konzept von Althaus für die Zeit nach dem Krieg. Er ist sich offenbar der Tatsache durchaus bewusst, dass es sich bei seinen eigenen Kriegspredigten, in denen ein „lebhaftes deutsches Empfinden regiert, ohne daß das Deutschtum dem Christentum gefährlich wird“68, um sehr zeitgebundene Wortverkündigung handelte, die nur eine relativ kurze Halbwertszeit vorweisen konnte. Diese Vermutung findet ihre Bestätigung in einer Rezension, die Althaus Ende März 1919 über eine Predigtsammlung von Gerhard Heinzelmann mit 65 In seiner Konzeption dürfte Althaus nicht zuletzt von seinem Vater, dem Leipziger Systematiker, beeinflusst worden sein. Dieser findet im Sommer 1915 geradezu euphorische Worte für den Krieg und spricht sogar vom „Segen des Krieges auf religiös-sittlichem Gebiete“ (Althaus d. Ä., Krieg, 607). Schon im Hinblick auf die Geschichte Israels meint er zu erkennen, „wie gerade unter den Notzeiten der Kriege die Frömmigkeit immer wieder eine wunderbare Steigerung, Reinigung und Neubelebung empfangen hat“ (ebd., 604). Althaus d. Ä. fährt fort: „Wie ist in den ersten unermeßlichen Tagen des August 1914 der religiöse Glaube in der Seele unseres deutschen Volkes leuchtend aufgeflammt, in allen Schichten und Ständen!“ Und dieser Eindruck setzte sich bei ihm fort, denn „was uns aus den Schützengräben und Bereitschaftsstellungen, von den Schlachtfeldern und aus den Lazaretten berichtet wird, deutet auf eine starke religiöse Ergriffenheit unseres Volkes hin“ (ebd., 605 f.). 66 1808 Männern, 610. 67 Althaus, Welche Aufgaben stellt uns Militär-Geistlichen die religiös-sittliche und vaterländische Not gegenüber unseren Gemeinden? 68 So Martin Schian in seiner Rezension von Althaus’ beiden „Lodzer Kriegsbüchlein“ (1601 und 1701) in der ThLZ 43 (1918), Nr. 4/5, 67. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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dem Titel „Vom Bürgertum im Himmel. Fünfzehn Predigten aus den Jahren 1917 und 1918“ verfasst69. Bei diesen Predigten handelt es sich um Kriegspredigten, die der deutsche Theologieprofessor in Basel, also vor neutraler Gemeinde, gehalten hat. Das macht für Althaus den besonderen Charakter der Predigten aus, und darum kann er ihn auch ein wenig „beneiden“: „Wir anderen sind auch im Gotteshause mit unserem Volke alle Wege, die es geführt wurde, gegangen. Wir haben mit ihm gebangt und gebetet um unseren Sieg, gehofft und gedankt, aber vielfach auch in unseren Gedanken geirrt und gefehlt70 – und darum tragen unsere Zeitpredigten stark die Spuren der Vergänglichkeit. Heinzelmann mußte, konnte, durfte übernational sein […] und ohne Auseinandersetzung mit dem nationalen Erleben lediglich die Anliegen des Reiches Gottes predigen. Darin hatte er es leichter als wir, und eben dadurch gehören seine Predigten zu den Kriegspredigten, die bleiben werden.“
Deutlicher hätte Althaus’ Selbstkritik an seinen eigenen, durchwegs national eingefärbten Kriegspredigten kaum ausfallen können. Gerade dieses Bewusstsein der „Spuren der Vergänglichkeit“ der eigenen „Zeitpredigten“ war es auch, das Althaus davon abhielt, in seinem pastoraltheologischen bzw. homiletischen Konzept Ende 1918 eine dezidiert nationale Wortverkündigung einzufordern – wohlgemerkt dezidierte, denn den üblichen nationalprotestantischen Duktus sollte Althaus in seinen Predigten – mal mehr, mal weniger betont – für Jahrzehnte beibehalten. Die gleiche Haltung – national ja, nationalistisch nein71 – nimmt Althaus auch im Zweiten Weltkrieg in Bezug auf die Kriegspredigt ein. In einer Rezension vom Sommer 1941 zu neu veröffentlichten Kriegspredigten Hermann 69 1902R Heinzelmann. Ähnlich selbstkritisch äußert sich Althaus in seiner Rezension von Hermann von Bezzels „Erinnerungen aus Berufsreisen an die Front März und August 1916“ (1804R), die im Juli 1918 erscheint: „Und wir feldgrauen Pfarrer allzumal wollen ernster Selbstprüfung nicht ausweichen, wenn wir lesen: ‚Ich fürchte, spätere Zeiten werden über die Predigtliteratur des Krieges ein hartes Urteil fällen‘ […]; ‚unsere Feldgeistlichen haben gewiß in großer Zahl ihr Bestes geboten, ob es bei der öfter sich zeigenden Betonung des Subjektiven und dem Bestreben, modern zu predigen, immer das Beste war, steht dahin‘“. 70 Was Althaus unter Verirrungen und Verfehlungen in der Predigt während des Krieges versteht, macht er nach dem Krieg in einer Predigt Anfang 1921 deutlich: „Wir wurden eitel und schwatzten gerne von dem deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle. Und als dann der Krieg und die Not hereinbrach: allzu vertraulich riefen wir den Heiligen zu uns herab“ (2101P Weg, 29). Diese Kritik an der chauvinistischen Rede vom „deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle“, erhebt Althaus nicht erst unter dem Eindruck der deutschen Niederlage, sondern bereits während des Krieges; vgl. 1707 Glaube, 12. 71 Vgl. 1602 Vaterlandsliebe II, 1, wo er schreibt: „Neben der vaterlandslosen Frömmigkeit steht die im nationalen Gedanken aufgegangene oder doch wenigstens nationalisierte Religion als entgegengesetzte Entartung.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Bezzels aus den Anfangsjahren des Ersten Weltkriegs lobt Althaus einerseits die darin enthaltene, für ihn selbstverständliche „Liebe zum Vaterlande, das Miterleben seines schweren Kampfes“; allerdings werde andererseits „gegenüber allem religiösen Nationalismus“ gerade „kein ‚deutscher Gott‘“ gepredigt: „Dieser Prediger erliegt nicht der Versuchung, in der die evangelische Kriegspredigt bisweilen versagt hat.“72 Dieses Versagen hält Althaus den Kriegspredigten auch und gerade in der nationalen Euphorie des Jahres 1933, in die er selbst einstimmt, vor. Ein Dorn im Auge ist ihm insbesondere die Vereinnahmung des Kreuzestodes Jesu Christi zur parallelisierenden Verherrlichung des Soldatentodes: „Der Opfertod Jesu als Sterben für uns Sünder hat keine Entsprechung und duldet keine Nachfolge; er ist […] kein heldisches Sterben […]. Die Verkündigung der Pfarrer an den Gräbern derer, die im Kampfe fielen, sollte das deutlicher hören lassen und des Herrn Kreuz nicht als Vorbild, sondern als Erlösung unseres Kampfes und Opfers predigen.73 Mit Joh. 15,13, dem Worte des Herrn: ‚Niemand hat größere Liebe, denn daß er sein Leben läßt für seine Freunde‘ hätte man schon im Kriege und seither sparsamer umgehen sollen. […] Das Kreuz auf den Gräbern unserer Gefallenen soll nicht ihr Mannesopfer falsch verchristlichen, sondern Christi Tod bezeugen als Trost, Halt, Erlösung in unserem Tod, der auch als ‚süßer Tod der Freien‘ (E. M. Arndt) ohne Christus immerdar bitteres Sterben, voll Rätsel und Fluch bleibt.“74
4.3 „Wann aber wird unser Geschlecht endlich das Erlebnis der Kirche machen?“ – Althaus’ Ruf zur kirchlichen Erweckung Nachdem für Althaus, geprägt von seinen kirchlichen Erfahrungen in Polen, durch den Krieg die Zeit für volksmissionarische Arbeit günstig schien, macht er ein knappes Jahr nach Kriegsende sein Plädoyer für eine intensivierte Kirchlichkeit im deutschen Volk in seinem Aufsatz „Das Erlebnis der Kirche“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich75. Die Schrift ist eine Wesensbestimmung 72 4103R Bezzel, 226. Die Predigten wurden 1939, also noch vor dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben. 73 Schon 1919 hatte Althaus klargestellt, dass Jesus Christus „nicht der Heros, die herrlichste Blüte der Menschheit, sondern Gottes Gabe, Gottes Wunder“ ist (1904 Erlebnis, 22). 74 3313 Volks-Erlebnis, 14; Hervorhebung von Althaus. Vgl. seine ebenfalls im Jahr 1933 ausgesprochene Kritik an den politischen „Mißgriffe[n] der Kriegspredigt“ (3314 Volks-Geschichte, 17). 75 Der Aufsatz erschien im Herbst 1919 in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung und wenig später als Sonderdruck. Er gibt Vorträge von Althaus wieder, die dieser im Sommer 1919 „vor gebildeter weiblicher Jugend“ und „vor Göttinger Studenten“ gehalten hat (vgl. 2407 Erlebnis, Vorwort zur 2. Auflage); er fällt also zeitlich in seine kurze Zeit als aktiver Privatdozent in Göttingen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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der Kirche und zugleich eine Verteidigung kirchlich gebundener Religiosität gegen einen religiösen Individualismus, der den Gemeinschaftsaspekt von Kirche zu vergessen droht76. Sie ist zugleich Althaus’ erste praktisch-theologische Umsetzung seines im Jahr zuvor programmatisch formulierten volksmissionarischen Anknüpfungskonzeptes „vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis.“ Schon zu Kriegszeiten hat Althaus den „Mangel […] an kirchlichem Gemeinschaftsgefühl, an Sinn für die Kirche“ als „schwerste Last“ gekennzeichnet und daraus den Schluss gezogen: „einer der Haupterträge des Krieges wird für uns heimkehrende Theologen die klare Erkenntnis sein: Erziehung zur Kirche, von der individualistischen Religiosität zur Kirchlichkeit tut uns Evangelischen bitter not!“77 Althaus erinnert seine Leser an das „Vaterlandserlebnis des August 1914“, in dessen Folge ihm ein „volksloser Individualismus und ein übervölkischer Kosmopolitismus seither einfach unmöglich“ erscheint, weil nach seinem Verständnis „Volkstum eine geschichtliche Macht und Wirklichkeit [darstellt], die ein Recht auf uns hat“78. Neben dieser nationalen Erweckung, auf die Althaus seine Hoffnungen setzt und für die er auch in der Folgezeit seinen Beitrag leisten will und wird, fragt er nun nach der kirchlichen Erweckung und leitet damit zum eigentlichen Thema des Aufsatzes über: „Wann aber wird unser Geschlecht endlich das Erlebnis der Kirche machen?“ „Unser Volk weiß nicht mehr, was Kirche ist“, stellt Althaus fest, und doch meint er, eines „grenzenlosen Hungers nach Gemeinschaft“, einer „unbewußten Sehnsucht nach ‚Kirche‘, nach ‚Gemeinde‘“ gewahr zu sein. 76 Althaus gibt sich diesbezüglich optimistisch, wenn er in einer Rezension 1922 schreibt: „Der Individualismus, der jedes Bekenntnis als Zwang ablehnt, stirbt aus, neues Verständnis für die Kirche als Gemeinschaft religiöser Erfahrungen kommt auf“ (2202R Stange, 58). 77 So in seiner Rezension von Hermann von Bezzels „Erinnerungen aus Berufsreisen an die Front März und August 1916“ aus dem Jahr 1917, die im Juli 1918 in den Theologischen Literaturblättern erschien (1804R Bezzel). Auch in seiner Schrift „Luther und das Deutschtum“, in der er sich mit der individualistisch konzipierten sogenannten „deutschen Frömmigkeit“ auseinandersetzte, wandte er sich gegen ebendiesen Individualismus: Der „Wille zum eigenen Leben, zur In dividualität“ ist hier für ihn „unseres Volkes Adel und Krankheit zugleich“. Den „Weg von der Religiosität zur Kirchlichkeit, von der individuellen Wahrhaftigkeit zur Freude an der Gemeinsamkeit innersten Besitzes findet der Deutsche schwerer als andere Völker.“ (1706 Luther, 10). 78 1904 Erlebnis, 3. Dort schreibt er auch, „der harten Zeit“ danke man es: „seit dem August 1914 wissen wir, was ein Volk ist und daß wir zu einem Volk gehören.“ Dieses „Vaterlandserlebnis“ sieht er zwar in der Gegenwart „völlig verschüttet“, er wartet allerdings hoffnungsvoll „auf die Stunde“, da „die Worte ‚Volk‘ und ‚Vaterland‘ und ‚deutsche Geschichte‘ wieder vielen im Herzen brennen wie im ersten Kriegsjahre.“ Die Gründe für dieses Verschüttet-Sein und für den „unmäßige[n] Individualismus“ sind für Althaus durchaus nachvollziehbar. Für ihn liegen sie in der „jahrelange[n] Einzwängung in den Mechanismus des großen Heeres“ oder in der „Drangabe des eigenen Willens und der persönlichen Lebenswünsche im militärischen Gehorsam“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Gerade die gegenwärtige Zeit, wo das „Vaterland […] zerschlagen und geschändet, die Volksgemeinschaft […] für lange hinaus leid und bitter“ geworden ist, hält Althaus für das „Erlebnis der Kirche“ besonders geeignet. Denn „unwillkürlich sammeln unsere Gedanken sich auf jene andere Volksgemeinschaft der Heiligen, die nicht durch diese Zeit befleckt und zerrissen wurde“79. So kann Althaus, anders als mancher seiner Zeitgenossen, der deutschen Katastrophe der Niederlage, dem Zusammenbruch der alten Welt und ihrer Ordnung, etwas Positives abgewinnen, nämlich eine hervorragende Chance auf einen kirchlichen Neubeginn: „Alles was bisher die Kirche mittrug und hielt, das ist dahingesunken und zerbrochen: die Verbindung mit dem Staate, die feste kirchliche Volkssitte, die hergebrachte Achtung. In aller Armut, in Knechtsgestalt geht unsre Kirche in die neue Zeit.“ Diese „neue Zeit“, diese „Zeitenwende“ ist für Althaus nicht weniger als der „Beginn eines geistlichen Frühlings“, die „neue Stunde der Kirche“, und er will „einem heimlichen Jubeln nicht wehren“80. Denn für ihn steht fest: „die Landeskirchen werden frei vom Staate und dürfen endlich, endlich, zum ersten Male zeigen, was an heiligem Geist und heiliger Kraft zu leben und zu bauen und zu führen in ihnen webt.“81 Diese „neue Stunde der Kirche“ bedeutet für Althaus eine christologisch orientierte Rückkehr der Kirche „in ihr Jugendbildnis aus den großen Anfangszeiten“. Die zukünftige Bedeutung der Kirche gewinnt diese für ihn nicht aus weltlich-bürgerlichen Voraussetzungen, die Gesellschaft und Staat ihr zukommen lassen, sondern „einzig und allein durch das überwältigende Leben Christi, das von ihr ausgeht […], wenn sie nur mit unverrückter Hingabe und Treue an dem Einen hängt, der ihr König und Herr ist“82. Neben dieser christologischen Grundlegung der Kirche behandelt Althaus das Phänomen „Kirche“ vor allem in seiner soziologischen und theologischen Dimension. Soziologisch erläutert er das Verhältnis des einzelnen Christen zur Kirche in Analogie zum Verhältnis des Einzelnen zu seinem Volk, bei beiden betont er den Gemeinschaftscharakter. Gemäß seinen Vorbehalten gegenüber
79 Ebd., 4. 80 Ebd., 28. 81 Ebd., 4. Schon in 1902 Pazifismus, 446 kritisiert Althaus den alten Zustand der Kirchen vor 1918/19: „Die evangelischen Kirchen Deutschlands in ihrer staatlichen Gebundenheit und weithin herrschenden lutherisch-konservativen Art haben im ganzen wohl nie an jener zweiten [Gefahr der „Aktivität“ und „Vielgeschäftigkeit“], wohl aber an jener ersten Gefahr [der „Innerlichkeit, welche gern die konkreten Verhältnisse als gottgewollt hinnimmt“] gekrankt.“ 82 Ebd., 28. So ruft er die Evangelischen auf zu neuem Tatendrang: „Wir sind die Kirche. Wir warten nicht auf irgend jemanden, auf staatliche Behörden, auf das Kirchenregiment, auf die Pastoren, als wären sie ‚die Kirche‘. Wir greifen das Werk an unserer Stelle an; wir stellen uns zu Dienst, da, wo die Not der Kirche offenkundig ist.“ (ebd.; Hervorhebung von Althaus). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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individualistischen Tendenzen lehnt er die soziologische Größe des „Einzelnen“ als „ganz wirklichkeitsfremde Abstraktion“ ab. „Es gibt im Grunde keinen Einzelnen“, kann es Althaus daher, Herdersche Gedanken aufgreifend83, auch formulieren, weil für ihn jeder einzelne „nur als Glied des Volkes“, nur als in „Gemeinschaftsverhältnissen“ sich befindlich vorstellbar ist: Jeder ist, „ob er sie bejaht oder nicht, nur durch sie und nur in ihnen gesetzt.“ Für ihn gilt: „Das Volk ist vor dem Einzelnen da, zeitlich und wesentlich. […] Was ich bin und habe, habe und bin ich aus den Quellen meines Volkes. Ehe wir Volk und Vaterland und Staat mit eigenem Bewußtsein und Willen erfassen und zu einem Werte unseres Lebens erheben, gehören wir zu ihm und gehören wir ihm.“84
Diese „ganz ursprüngliche Verwurzelung und Verpflichtung unseres Daseins in Leben und Geschichte des Volkes“85 ist für ihn etwas unmittelbar Erfahrbares und Erlebbares, wobei in diesem Erleben die Tatsache zum Tragen kommt, „daß ein Volk etwas anderes ist als der Zweckverband der Einzelnen“. Zu dieser ontologischen Überhöhung des Volkes im Gegenüber zum Einzelnen kommt für Althaus untrennbar die sittliche Forderung des Volkes an seine einzelnen Glieder hinzu, die für ihn vor allem im Kriegserlebnis, genauer gesagt im sogenannten „August-Erlebnis“ erfahrbar wurde: „Wir spürten im August 1914 das heilige Recht des Volkes auf uns als mächtige Wirklichkeit, der keiner von uns ausweichen konnte.“ Nach dieser kurzen Erörterung des Verhältnisses des Einzelnen zum Volk kommt Althaus nun auf das „Erlebnis der Kirche“ zu sprechen, welches er in Analogie zum Erlebnis des Volkes beschreibt: „Das alles gilt nun ähnlich auch von dem Verhältnis des Frommen zur Gemeinde oder ‚Kirche‘. […] Wie das Volk den Einzelnen in seinem natürlichen Leben erzeugt, so erzeugt die Gemeinde uns als Christen. ‚Der einzelne Fromme‘ bedeutet wiederum eine ganz unwahre Abstraktion.“
Auch wenn der einzelne Christ persönlich sein „Ja“ zum Glauben und damit zur Gemeinde sprechen muss, so gilt dennoch in Analogie zum Volk: „Die Gemeinde ist vor dem Einzelnen da. […] Die Kirche ist […] der Mutterschoß, 83 Zum Gedanken des „organischen Auf-einander-bezogen-Seins“, und zur Idee, der Mensch werde „in die Gesellschaft hineingeboren“ und könne sich „nur als Angehöriger eines Volkes völlig verwirklichen“ vgl. Sundhaussen, Einfluß, 26. 84 1904 Erlebnis, 7. Althaus grenzt sich damit auch von einer durch die Aufklärung geprägten Staatslehre ab, die vom Einzelnen ausgeht und die „den Staat als entstanden aus einem Vertrage der Einzelnen“ begreift (ebd., 6). Dem setzte er einen organischen Volks- bzw. Staatsbegriff entgegen. 85 Ebd., 7 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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in den der Heilige Geist uns legt.“86 Und ebenso analog zum Volk und dessen angeblichen Anrecht auf den Einzelnen spricht Althaus von einem „Recht der Kirche auf uns“87 und von einer „Pflicht zur Kirche“. In Bezug auf diesen organischen Zusammenhang von Einzelchrist und Gemeinde bzw. Kirche „erkennt“ für Althaus „der Glaube in dem soziologischen Gesetze Gottes Heilsordnung“. Damit beginnt nach der soziologischen Betrachtung für ihn die religiöse, die „die Kirche als das eine große Gnadenmittel Gottes“ versteht, „durch das er den Einzelnen für sich erfaßt, bereitet, heiligt.“88 Doch Kirche bedeutet für Althaus noch mehr: „Wir begreifen die Gemeinde nicht nur als das Mittel, sondern auch als das eigentliche Ziel der Gnade, ja als Gottes Weltziel.“89 Folgerichtig ist für ihn „die Gemeinde, die Kirche […] die Vollendung aller persönlichen Gemeinschaft.“90 Eine frühe Formulierung dessen, was Althaus später in seiner Lehre von der „Ur-Offenbarung“ explizieren wird, findet sich hier bereits bei seiner Beschreibung der Kirche als Zeichen der Herrlichkeit Gottes: „Gottes Reichtum und Herrlichkeit erlebe ich in ihrer ganzen Größe erst dann, wenn er als der Herr der Gemeinde vor mir steht, der nicht nur mich berief, sondern sich ein ganzes Volk schuf. Wir sind es gewohnt, Gottes Fülle an dem unendlichen Reichtum der Natur staunend zu messen und Gottes Herrenmajestät in der Geschichte zu finden, darin, daß er Völker kommen und gehen, geboren werden und sterben heißt. Aber daran erst spüren wir seinen ganzen Reichtum, daß ihm ein Volk aus allen Jahrhunderten und Nationen dient, die vielen, denen er in Christus das Herz abgewann.“91
Was Althaus später als Anknüpfung und Überbietung der „Selbstbezeugung Gottes in der Wirklichkeit des Menschen und der Welt“ durch die Christusoffenbarung beschreiben wird92, hat hier seine Präfiguration in der Überbietung des Reichtums Gottes in Natur und Geschichte durch seine Herrlichkeit, der der Gläubige im „Erlebnis der Kirche“ begegnet. Die zeit-, raum- und völker 86 Ebd., 8. Diesen „Mutterboden“ expliziert Althaus näher: „Was wären wir überhaupt ohne das geistige Erbe der großen Väter unserer Kirche, das uns von klein auf belebt, trägt, umfängt!“ (ebd.) Einmal mehr ist für ihn das Kriegserlebnis der praktische Nachweis seines theoretischen Gedankenganges, wenn er schreibt, „bewährt hat sich da draußen gerade das ‚Kirchliche‘. […] Wahrhaftig, wir haben draußen mehr denn je begriffen, was die Kirche für unser eigenes religiöses Leben wert ist.“ (ebd., 9 f.). 87 Ebd., 10 f. 88 Ebd., 11. 89 Ebd., 12. 90 Ebd., 14. 91 Ebd., 15. 92 2911 Dogmatik, 10. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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übergreifende Dimension des Gottesvolks macht dabei das Besondere an Gottes Reichtum aus, in Christus werden die Grenzen der zeitlichen Gebundenheit und der Volkszugehörigkeit relativiert und aufgehoben93. Es geht Althaus darum, das von ihm eingeforderte „Erlebnis der Kirche“ als Gemeinschaftserlebnis zu beschreiben, das alle menschlich-weltlichen Erfahrungen von Gemeinschaft – auch die der Volksgemeinschaft, die er illustrativ als Vergleich anführt – übersteigt und überbietet. Um die ganze Tiefe dieser Gemeinschaft deutlich zu machen, verwendet er den Ausdruck der „Blutsbruderschaft“ zwischen allen Christen aus allen Völkern und Nationen94, die er zudem in einem engen Zusammenhang mit dem „Gottesvolk des Alten Bundes“ sieht, was den „Reichtum der Heilsgeschichte Gottes“ für ihn ausmacht95: „Auch heute erleben wir die Kirche als Wirklichkeit: das eine Volk Gottes in allen Völkern und Kirchen, die eine, überall durch Generationen, Nationen und Konfes sionen verstreute Gemeinde derer, denen Gott durch seine Offenbarung in Jesus Christus das Herz abgewonnen hat.“96
Für Althaus’ Volks- und Kirchenbegriff gilt es folgendes festzuhalten: Indem Althaus den Gemeinschaftscharakter betont, wird das Volk bei ihm zu einer organischen Größe, die vor den Individuen und ihnen gegenüber existiert. 93 Vgl. 1902 Pazifismus, 476. 94 Die Beschreibung der Gemeinschaft des Volkes Gottes über die Grenzen von Kirchen und Völkerschaften hinweg mit „Blutsbruderschaft“ verwendet er auch für die kirchliche Gemeinschaft als zeitlich entgrenzte, wenn er den hohen Stellenwert der Kirchenlieder für das Gemeinschafts erlebnis hervorhebt: „Im Singen erleben wir nicht nur die gegenwärtige Gemeinde, sondern auch die Blutsverbundenheit mit den Vätern, die unsere Lieder dichteten und zuerst sangen, mit den Unzähligen, die an ihnen seither sich erquickten“ (1904 Erlebnis, 21). Die beiden Begriffe „Blutsverbundenheit“ und „Blutsbruderschaft“ verwendet Althaus, um die tiefe und grundlegende Verbundenheit aller Christen untereinander zu betonen, die Wesensverwandtschaft und Gleichartigkeit, die im tiefen Ergriffensein durch das „Erlebnis der Kirche“ gemacht werden kann. Die Vorsilbe „Bluts-“ soll dabei eine Verstärkung des Phänomens der Verbundenheit zum Ausdruck bringen, sie soll das Grundlegende und Elementare daran akzentuieren. Schon die Tatsache, dass Althaus diese „Blutsbruderschaft“ betontermaßen auf die Christen aus allen Völkern bezieht und auch die Nähe zum Judentum anklingen lässt, zeigt deutlich, dass wir es hier bei der Verwendung des Blutsbegriffs nicht mit einem wie auch immer gearteten Rassedenken zu tun haben. 95 1904 Erlebnis, 19. 96 Ebd., 20. Die Mitte des kirchlichen Gemeinschaftserlebnisses stellt für Althaus der Gottesdienst dar. Für eine besondere Erfahrung der christlichen Gemeinschaft sorgen für ihn die gemeinsame Liturgie, in der er vor allem das Gebet betont, das Singen der Gemeindelieder, das gemeinsame Sprechen des apostolischen Glaubensbekenntnisses gerade als Ausdruck ökumenischer Verbundenheit und die gemeinsame Feier des Abendmahls als stärksten Ausdruck für das Erlebnis der Gemeinschaft: „Unter dem Abendmahlsvaterunser wie unter den Einsetzungsworten können wir nie vergessen, daß wir in diesem Augenblick zu Tische sitzen als Jesu Gäste mit den Glaubenden aller Geschlechter, mit allen gegenwärtigen Christen, mag auch die Christenheit durch Völkerkrieg und Konfessionsgrenzen noch so zerrissen sein.“ (Ebd., 25). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Das Volk wird dabei zum Inbegriff des den einzelnen Volkszugehörigen über geordneten Ganzen. Weil der Einzelne sein Leben diesem Ganzen verdankt, ist er ihm gegenüber zugleich verpflichtet. Der Einzelne ist somit wesentlich ein Teil der Gemeinschaft, der liberale Individualismus ist überwunden. Indem Althaus proklamiert, das Verhältnis des einzelnen Christen zur Kirche unterliege den gleichen Gesetzen wie das Verhältnis des einzelnen Volkszugehörigen zum Volksganzen, ergibt sich für ihn folgerichtig eine Affinität von kirchlicher und volklicher Gemeinschaft. Diese Affinität wird dadurch problematisch, dass Althaus eine Berufung zur Gemeinschaft der Kirche mit einer Berufung zur Gemeinschaft des Volkes parallelsetzt und dadurch letztere zumindest unterschwellig eine religiöse Weihe erhält. Gleichzeitig betont Althaus aber auch die Unterscheidung zwischen beiden Größen, wodurch die Kirche bleibend als von anderer und höherer Art als das Volk beschrieben wird. Der das eigene Volk transzendierende Kirchengedanke gehört zum Althausschen Gemeinschaftsgedanken immer schon dazu. So bleibt er trotz der beschriebenen Problematik als christlicher Theologe erkennbar97. Deutlich wird, dass auch hier Althaus seinem im Weltkrieg entwickelten volksmissionarischen Konzept eines anknüpfenden Zweischritts „vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis“ treu bleibt: Das „Erlebnis der Kirche“ soll auf dem „Vaterlandserlebnis“ aufbauen und dieses überbieten. Den eigentlichen Anknüpfungspunkt bildet dabei die Gemeinschaftserfahrung, in deren Folge sowohl ein „volksloser Individualismus“ als auch ein kirchenloser Individualismus für ihn unmöglich ist. Somit ist die ganze Schrift ein einziges Plädoyer für ein kirchengebundenes Christentum, für das er nun, im Sommer 1919, den „Beginn eines geistlichen Frühlings“ gekommen sieht.
97 Zu diesem Schluss kommt auch Scholder, Kirchen, 151, wenn er zu dieser Althaus-Schrift schreibt, es ist „deutlich, daß Althaus keinen Augenblick daran denkt, diese völkische Gemeinschaft etwa an die Stelle der kirchlichen Gemeinschaft oder gar darüber zu setzen.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
5. Zusammenfassung Die Erlebnisse, die der junge Althaus während des Krieges in Lodz bei seiner Arbeit als Militärpfarrer mit seiner feldgrauen Soldatengemeinde und als Gouvernementspfarrer mit der deutschen Auslandsgemeinde in Polen hat, prägen ihn ebenso nachhaltig wie seine Volkstumsarbeit für den Lodzer „Deutschen Verein“. Gerade die Erfahrung der doppelten Diasporasituation der deutschen Minderheit im vormals russisch besetzten Polen machen auf den von Hause aus nationalprotestantisch und deutsch-national Geprägten großen Eindruck. Seine „Entdeckung des Deutschtums in Polen“ ist somit eine entscheidende Wegmarke auf dem Weg zu einer sowohl theologischen als auch politischen normativen Zentrierung auf das Volkstum hin. Zwanzig Jahre nach seinen Erlebnissen in Polen schreibt Althaus rückblickend über „das Verhältnis der nationalen Volksbewegung und des christlichen Glaubens“: „Dieses Thema ist auch das meine, seit ich von 1915 an die deutsche Volksbewegung in Polen erlebte und in ihr mithandelte.“1 In dieser besonderen Kriegs- und Auslandserfahrung reift in dem stark an aktueller Wortverkündigung interessierten Theologen eine Vision von volkstumsbezogener Kirche und kirchenbezogenem Volk. Glaube und Volkstum gehören für Althaus fortan untrennbar zusammen2. Sie gehen in seinem Denken eine Symbiose ein, die sich auch in seinem Engagement für Kirche und Volkstum niederschlägt. Hintergrund und Motivation dieser Symbiose von Glauben und Volkstum sind Althaus’ volksmissionarische Erwartungen, die sich von einer intensivierten kirchlichen Arbeit eine christliche Wiedergeburt Deutschlands erhoffen. Parallel dazu und in Abhängigkeit davon erwartet Althaus eine vaterländisch-volksbezogene Wiedergeburt Deutschlands, deren erste Anfänge er im gemeinschaftsbezogenen, alle bisherigen Ständeschranken überwindenden „Augusterlebnis von 1914“ zu verspüren meint und dessen „Geist“ er darum immer wieder beschwört. Ein solches „Volkserlebnis“ bildet in seiner volksmissionarisch motivierten Theorie den Anknüpfungspunkt für eine gesteigerte Christlichkeit und Kirchlichkeit, für das „Erlebnis der Kirche“, an dem es erfahrungstheologisch und sozialethisch anzusetzen gilt. Darum kann Althaus auch „Erziehung zur Volkstreue“ und Evangeliumsverkündigung in einem Atemzug als Aufgaben der Kirche benennen.
1 3515 Christentum, 2. 2 Ähnlich formuliert es Kurz, Denken, 429: „Echter deutscher Patriotismus war für Althaus christlich, und echtes Christentum patriotisch.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Zusammenfassung
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Seine besonderen Hoffnungen für eine christliche und nationale Wiedergeburt Deutschlands und der Deutschen setzt Althaus auf die junge, begeisterungsfähige Generation3, ihr wird Althaus in Zukunft ein besonderes Augenmerk bei seinem Schaffen widmen. Während ein Anknüpfungspunkt für kirchliche Verkündigung bei klarem christlichen Profil noch nicht zwangsläufig problematisch sein muss, erfährt Althaus’ Theorie eine problematische Zuspitzung dergestalt, dass aus dem einen Anknüpfungspunkt – unter vielen möglichen – gemäß seinen eigenen weltanschaulichen Prägungen und Präferenzen unter der Hand gleichsam eine notwendige Vorbedingung wird. Demzufolge kann sich Althaus eine Kirche, die nicht an den Fragen des Volkstums „stark interessiert“ ist, gar nicht mehr vorstellen. Volk und Vaterland werden bei diesem Vorgang nicht nur hervorgehobene Kategorien seines politischen Weltbildes, sondern auch seines theologischen Denkens, wobei sie bei Althaus in ambivalenter Weise zur Sprache kommen. So werden die Begriffe „Volkstum“ und „Vaterland“ einerseits zu volksmissionarischen Argumentationszwecken verstärkt, andererseits aber auch zur Abwehr von Radikalisierungen abgeschwächt. Eine Verstärkung nach innen erfahren sie, indem sie von Althaus sittlich und religiös aufgeladen werden. Sie werden durch ihre Charakterisierung als Gottesgabe nicht nur in einen religiösen Kontext gestellt, sondern in die Nähe von Glaubens-Gegenständen gerückt, denen ein „Recht auf uns“ zueignet. Auf diese Weise werden Volkstum und Vaterland zum ethischen Bezugspunkt seiner Theologie und nehmen die Kirche in besonderer Weise in die Verantwortung. Eine Abschwächung nach außen erfahren sie, indem Althaus völkisch-rassistische, radikale Positionen ablehnt, die von einer metaphysischen Völkerungleichheit ausgehen. Wem der Sinn lediglich „nach religiöser Verbrämung seiner Vaterlandsliebe“4 steht, dem erteilt Althaus eine Absage. Auch geht der Althaussche Ethnozentrismus nicht so weit, dass er nicht auch Kritik an der deutschen Besatzungspolitik in Polen oder an seinen eigenen zeitbedingten nationalen Kriegspredigten zulässt.5
3 Noch immer begeistert schreibt Althaus in seinem Rückblick von 1942 über seine Erlebnisse in Lodz: „Die Jugend erwachte durch das Erleben des deutschen Heeres und der deutschen Siege zum Volksbewußtsein, zu glühender Begeisterung für Deutschland, für seine Geschichte und seine Helden. […] Die deutsche Jugend in Lodsch und ringsum entdeckte mit heißem Hunger ein Stück nach dem anderen aus dem Schatze deutschen Erbes.“ (4201 Entdeckung, 194). 4 1517B Christusglaube, 42; vgl. 1707 Glaube, 16, wo er sich gegen „eine ganz verkehrte Versklavung der Religion an den vaterländischen Gedanken“ ausspricht. 5 Zum Ethnozentrismus vgl. Bierbrauer, Sozialpsychologie, 176–178. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Kapitel II: Die frühe Verarbeitung der deutschen Niederlage und des Versailler Vertrages – Althaus zwischen Lodz und Rostock
Bereits in seinen letzten Wochen in Polen – er kehrte erst im Dezember 1918 nach Deutschland zurück – und noch vor dem Ende der Kampfhandlungen am 11. November 1918 beginnt Paul Althaus, die deutsche Niederlage politisch und theologisch zu verarbeiten. Als Leiter des hannoverschen Predigerseminars auf der Erichsburg und als Privatdozent in Göttingen befasst er sich 1919 weiterhin intensiv mit diesem Thema, das sich mittlerweile mehr und mehr zu einer Verarbeitung der alliierten Friedensbedingungen entwickelte.
1. Die frühe Verarbeitung von Krieg und Niederlage 1.1 „Sind unsere Brüder vergeblich gestorben?“ – Die Frage nach dem Sinn der Kriegstoten Althaus’ erste Auseinandersetzung mit der Kriegsniederlage geschieht bereits vor dem formalen Ende der Kampfhandlungen, am 26. Oktober 1918 in seinem Aufsatz „Sind unsere Brüder vergeblich gestorben?“, der Mitte November in der Zeitschrift „Die Reformation. Deutsche evangelische Kirchenzeitung für die Gemeinde“ abgedruckt wird. Die Frage stellt sich für Althaus nicht nur allgemein-abstrakt, sondern ebenso auch persönlich-biographisch: Zwei seiner jüngeren Brüder sind im Krieg gefallen, Wilhelm im Herbst 1916 und Gerhard im Sommer 1917. Nicht zuletzt auch ihrem Sterben galt es nun nach der Niederlage einen Sinn zu verleihen. Die Frage nach einem Sinn der Kriegs toten drängt Althaus angesichts der deutschen Katastrophe umso mehr, als er zu Kriegszeiten selbst den Topos vom „Opfer für Deutschlands Zukunft“ kolportiert hat1. Wenn diese erhoffte und herbeigepredigte Zukunft nun durch die Niederlage verspielt war, dann drohten damit zugleich auch die Opfer der Sinnlosigkeit anheim zu fallen. Wie eine böse Vorahnung der kommenden 1 Vgl. Liebenberg, Gott, 317–334. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Ereignisse klingt es, wenn er schreibt: „Wir ahnen, daß noch vieles an den Tag kommen wird, wovon niemand von uns wußte, und daß manches zusammenbrechen wird, was uns gewiß schien.“2 Die in diesen Tagen angesichts der drohenden und vorauszusehenden Niederlage von Deutschen so häufig gestellte Frage nach der möglichen Vergeblichkeit der vielen Opfer in diesem Krieg greift Althaus auf, indem er dieser „Volksfrage“, wie er sie nennt, eine kirchliche „Volksseelsorge“ gegenüberstellt. Die Kirche sieht er dazu aufgefordert, auf die kriegsbedingten und nun niederlagebedingten Sorgen der Menschen einzugehen, denn „ein innerer Zusammenbruch ohnegleichen“ drohe dem deutschen Volk. Deshalb kann es für ihn nur eine Antwort auf die Frage geben: „‚Waren unsere Opfer vergeblich?‘ Tausendmal nein!“ Der ersten Grund für die negative Antwort sieht Althaus in der Bewahrung Deutschlands vor den immensen Kriegsschäden, die andere Länder wie Frankreich oder Polen an ihren Städten und ihren Landschaften erleiden mussten. Sehr bescheiden klingt es angesichts der Niederlage, wenn Althaus hier von den ursprünglichen Kriegszielen spricht: „Unser erstes und einziges Kriegsziel war die Verteidigung der Heimat. Die großen Siege haben uns verwöhnt und uns die heiße Dankbarkeit für die Behütung der Heimat vergessen lassen. Unsere stolzen deutschen Gedanken sind auf den Fittichen der herrlichen militärischen Siege ins Weite und Große geflogen.“ Hierbei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Kriegsbegeisterung 1914 in Deutschland und den anderen kriegführenden Staaten vor allem deshalb so groß war und von der jeweiligen nationalen Propaganda großgemacht werden konnte, weil den Bevölkerungen von der jeweiligen Staatsführung die feste Überzeugung vermittelt wurde, sich in einem Verteidigungskrieg zu befinden. Diese Überzeugung teilte auch Althaus, für den ein rein mit expansionistischen Absichten geführter Angriffskrieg sich jenseits des sittlich Erlaubten befand3. Zu Althaus’ Konzept einer „Volksseelsorge“ gehörte es, den verstörten Menschen „Dankbarkeit über das große Wunder der gnädigen Bewahrung“ zu lehren: „Zeigt unserem Volke in diesen müden Tagen erst einmal wieder das große ‚deutsche Wunder‘, das Gotteswunder der Behütung unseres Landes! Wahrhaftig, unsere geliebten Brüder und Freunde draußen haben nicht vergeblich geblutet.“ Geschichtstheologisch geht Althaus hier den Trost der Menschen an: Sie sollen erkennen, dass Gottes gnädige Zuwendung es war, die Deutsch 2 1807 Brüder, 354. Da der Aufsatz nur zweiseitig ist, wird auf die Seitenangaben der Zitate verzichtet. 3 Zum Phänomen „Verteidigungskrieg“ vgl. Mommsen, Urkatastrophe, 35 ff.; und Berghahn, Weltkrieg, 64. Zu Althaus und seiner Ablehnung eines solchen Angriffskrieges vgl. 1902 Pazifismus, 454 f. Die Überzeugung, Deutschland führe einen reinen Verteidigungskrieg, findet Althaus nicht zuletzt bei seinem Vater vor; vgl. Althaus d. Ä., Krieg, 602. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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lands Bewahrung zu diesem Zeitpunkt wie ein Wunder bewirkte. Eine solche Interpretation mochte den Menschen in Kombination mit der Erinnerung an nunmehr so minimalistische Kriegsziele tatsächlich Trost zugesprochen und den deutschen Kriegsopfern einen gewissen Sinn verliehen haben. Doch Althaus bleibt nicht bei dieser ersten Antwort stehen, denn er weiß: „Man muß die Opfer einmal im Lichte der Ewigkeit betrachten“. Dies tut er und kommt dabei zu erstaunlichen, aber die Angehörigen von Kriegstoten wohl kaum tröstenden Erkenntnissen: „Der Wert des Opfers liegt in ihm selbst und in der inneren Erlösung derer, die da opfern. […] Jede wirkliche Hingabe hat ihren Segen zunächst in sich selbst.“ Sich zu opfern bedeutet für ihn eine Erlösung von der Selbstsucht, eine „Erhöhung über unsere gemeine Menschenart“ und ein „Wurzelfassen in dem Boden der Ewigkeit“. Verdächtig unevangelisch klingen diese Worte über den Wert des Opfers und der Hingabe, erinnern sie doch sehr an eine Selbsterlösung des Menschen, die nach christlicher Lehre vollkommen ausgeschlossen ist. Mit diesen Äußerungen bleibt Althaus ganz auf der Linie seiner Kriegspredigten, in denen er von Opfer und Hingabe sprach. Und auch sein Gottesbild ist hier ganz von einer majestätischen, Gehorsam und Opfer gebietenden Wirklichkeit Gottes geprägt, die „ja eitel Hingabe und Dienst ist“, was in den Ohren von Hinterbliebenen auch leicht zynisch klingen konnte, wenn er fragt: „War es nicht Gnade Gottes, daß er den Mann zum großen Opfer berief?“ Für ihn jedenfalls, der im Krieg zwei seiner drei Brüder verlor und darum genau gewusst haben dürfte, wovon er spricht, scheinen diese Gedanken tröstlich gewesen zu sein. Denn für ihn steht fest: „Manches Opfer mag nach Menschenurteil ‚vergeblich‘ sein und in der irdischen Geschichte keine Wirkung haben. Aber im Lichte der Ewigkeit war es nicht vergeblich, in der Geschichte Gottes mit dem einzelnen Menschenherzen bedeutete es eine Epoche. In einem wirklichen Opfer lebt der Opfernde Gottes Leben.“
Für Althaus besitzen wahre Opfer aber nicht nur einen Sinn im Hinblick auf die Ewigkeit, sondern auch schon in dieser Welt, nämlich als Ansporn zu Dienst und Hingabe für andere, vor allem für die Jugend. Für ihn steht fest, die Opferkreuze der gefallenen Soldaten predigen: „Das ferne Grabkreuz redet von bitterer Verarmung eines einst so frohen Hauses. Aber ist das Opferkreuz für die Angehörigen nur Armut, bedeutet es nicht auch Reichtum, geheime Kraft zum Guten, ja eine Art Erlösung zu gleicher Gesinnung der Hingabe?“ Dass die Grabkreuze zu Althaus selbst derartig „reden“, darf angenommen werden, aber ob die von ihm angesprochenen Hinterbliebenen den Soldatentod ihres Angehörigen wirklich als „Reichtum“ empfinden können, darf bezweifelt werden. Dass seine Aussagen über den Sinn der Kriegstoten hochspekulativ und daher nicht jedermann einsichtig sind, ist sich Althaus offenbar bewusst, wenn © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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er zugleich bekenntnishaft an den Willen der Deutschen appelliert: „So ist schließlich die Frage: ‚Sind unsere Brüder vergeblich gestorben?‘ nicht nur ein Problem des nach Sinn in der Geschichte suchenden Verstandes, sondern vielmehr eine Gewissensfrage an den Willen. Und das entschlossene Nein!, das wir sprechen, bedeutet mehr als eine Erkenntnis des Denkens, es ist ein Gelübde unseres Herzens. […] Nein, unsere Brüder sollen nicht vergeblich gestorben sein – wir wollen es nicht!“ Mit diesen beschwörenden Worten gibt Althaus am Ende seiner Ausführungen offenkundig zu, dass zwischen einem möglichen tatsächlichen Sinn der Kriegstoten und einem bekenntnishaft eingebildeten Sinn nur ein schmaler Grat besteht. Tatsache ist, dass er unter allen Umständen verhindern will, dass die mögliche Antwort auf die von ihm aufgegriffene Frage negativ ist, denn das käme einem „inneren Zusammenbruch“ Deutschlands gleich, der den drohenden äußeren noch weitaus fataler werden ließe. Unweigerlich kommt Althaus in diesem Zusammenhang auch auf das Vermächtnis des Krieges und damit den Auftrag für die Zeit danach zu sprechen: „Wir wollen das Feuer des August-Pfingsten 19144, das Feuer starken Dienemutes und selbstverständlicher Hingabe, ernstlich hüten und einst weitertragen in die Schulen und Jugendvereine, auf die Universitäten, in das öffentliche Leben. Dienst, Brüderlichkeit, Hingabe, Selbstvergessenheit, – das soll hinfort als Adel unter Deutschen gelten.“
Wenn es also gelänge, dieses vermeintliche Erbe der Frontgeneration zu bewahren und an die Jugend weiterzugeben, dann sind nach Althaus die Kriegsopfer nicht sinnlos und vergebens5. Dass gerade Althaus in der Folgezeit auf seinem Posten, an der Universität, das Feuer ernstlich gehütet hat, wird bald deutlich werden. In diesem Aufsatz geht es ihm im Oktober 1918 zunächst darum, dem Soldatentod der Millionen deutschen Gefallenen einen Sinn zu verleihen und damit den Hinterbliebenen Trost zuzusprechen. Dies tut er, indem er zum einen auf die Bewahrung deutschen Bodens hinweist und zum anderen seine eigene „Opfertheologie“ in Grundzügen entfaltet. Alles in allem geht es ihm darum, einen „inneren Zusammenbruch“ Deutschlands verhindern zu helfen. 4 Die motivische Verknüpfung von biblischem Pfingsterlebnis und Heiligem Geist mit dem Augusterlebnis 1914 und dem nationalen „Geist“ ist ein gängiger Topos christlicher Kriegspredigt im Ersten Weltkrieg. Noch in seiner Pfingstpredigt 1934 hält es Althaus rückblickend nicht für „Lästerung“, dass „man von einem August-Pfingsten zu reden wagte“: „War der Opfergeist der Jugend von 1914 nicht Werk Gottes selbst […]?“ Doch an dieser Stelle hält er der allzu simplen Gleichung entgegen: „Und doch: Heiliger Geist im Sinne der christlichen Pfingstbotschaft ist etwas anderes.“ (3404P Pfingsten, 26 f.). 5 Auf die Instrumentalisierung der Kriegstoten für das eigene Anliegen der „völkisch-reli giösen Erneuerung des geschlagene deutschen Volkes“ in diesem Aufsatz weist Liebenberg, Gott, 439–445 hin. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Wie lebenswichtig es für das im innen- und außenpolitischen Chaos der Nachkriegszeit unterzugehen drohende Deutschland war, den Millionen von eigenen Kriegstoten trotz des katastrophalen Kriegsausgangs einen Sinn und einen Wert abzugewinnen, kann man sich heute nur schwerlich bewusst machen. Wie weit oben dieses Thema gerade in akademischen Kreisen auf der Tagesordnung stand, lässt sich anhand der Äußerungen des ausgesprochenen Friedensaktivisten Friedrich Siegmund-Schultze machen, der 1920 ein Buch mit dem Titel „Ver Sacrum. Was die im Kriege gefallenen Mitarbeiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft dem deutschen Volk zu sagen haben“ herausgab. In unmittelbarer Nähe zur Unterzeichnung des Deutschland demütigenden Versailler Vertrages schreibt er im Sommer 1919 im Vorwort: „Ist nicht gerade das jetzige Deutschland dieses Opfers [= der deutschen Gefallenen] unwert? Müssen nicht jetzt die Gedanken der Mütter an ihre gefallenen Söhne in Tränen ersticken? Deshalb nicht, weil unsere Besten nie für das sichtbare, sondern für ein unsichtbares Deutschland gekämpft haben. Weil das tiefste Opfer der Seele Deutschlands galt. Aber ist Deutschlands Seele nicht zugleich mit dem Leibe gestorben? Gibt es noch ein inneres Leben ohne Ehre? ohne Treue? Eben dafür, daß Treue und Ehre in dem großen Zusammenbruch nicht für immer untergehen, dafür sind unsere Brüder gefallen. Ein heiliger Frühling, dessen Früchte der Herbst bringen muß. […] Wahre Volksgemeinschaft ist kein Erzeugnis des Kriegshandwerks, sondern eine Frucht der Friedensarbeit.“
Insofern appelliert Siegmund-Schultze im Kampf „für den inneren Frieden des Volkes“ an die „Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Opfertodes“, die im Vertrauen fußt, „daß die Gefallenen ihre ganze Liebe und Treue in dies Werk für ein einiges neues Deutschland hineingelegt haben“.6 Mit seinem Aufruf zur inneren Einheit des als zerrissen empfundenen Deutschland traf Siegmund-Schultze sowohl den Nerv der Zeit als auch die ungeteilte Zustimmung von Althaus. In einer Rezension schreibt dieser, der sich schon seit längerem mit der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft“ verbunden weiß, im Sommer 1920: „Das, was diese ‚Arbeiterfreunde‘ wollten und taten, war nicht eigentlich Kriegsarbeit, sondern Friedensarbeit. Ihr Motiv war nicht Haß der Feinde, sondern Liebe zu den Brüdern. Ihr Ziel war nicht Vernichtung des Gegners, sondern Gewinnung des Nächsten. Ihnen schwebte nicht ein äußerlich größeres, sondern ein innerlich reicheres, ein wahrhaft neues Deutschland vor. – Wenn wir Aufzeichnungen und Briefe dieser Mitarbeiter am inneren Frieden unseres Volkes herausgeben, so tun wir es im Bewußtsein der tiefen Verpflichtung, die uns der Opfertod dieser Freunde auferlegt.“7 6 Siegmund-Schultze, Ver Sacrum, Vorwort. 7 2006R Siegmund-Schultze. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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1.2 „Unser gutes Gewissen und unsere Buße“ – Althaus’ frühe Ansichten zur Kriegsschuldfrage Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Polen befasst sich Althaus an Weihnachten 1918 erstmals mit der Frage nach der deutschen Schuld am Krieg8. Als „Worte eines Heimgekehrten“ veröffentlicht „Die Reformation. Deutsche Evangelische Kirchenzeitung für die Gemeinde“ im Januar/Februar 1919 seinen Aufsatz unter dem Titel „Unser gutes Gewissen und unsere Buße“. Dieser Text erscheint in seiner Ambivalenz als nahezu typisch für Althaus, was sich ja bereits im Titel andeutet: Einerseits will er den Deutschen ein „gutes Gewissen“ nahelegen, andererseits ruft er sie zur „Buße“ auf; einerseits wehrt er sich vehement gegen den gegen Deutschland erhobenen Vorwurf der Alleinschuld am Krieg, andererseits spricht er von deutscher Mit-Schuld am Krieg und benennt deutlich das Versagen der deutschen Führung. „Unter allem Furchtbaren, das uns in diesen Wochen mit Fäusten schlägt“, beginnt Althaus seine Ausführungen, „bleibt mit das Schwerste, daß man unser Volk auf die Anklagebank gesetzt hat. […] Das eigentlich Furchtbare, das Unerträgliche ist ihre [d. h. der Sieger] Richtergebärde, das moralische Pathos, in das sie sich uns gegenüber hineingesteigert haben. […] Ausgerechnet die größten und rücksichtslosesten Machtvölker der Erde klagen uns des Machthungers und Weltfriedensbruches an, gerade sie wollen uns im Namen des ‚Rechtes‘ dafür züchtigen.“9
Gerade dieses „moralische Pathos“ ist es, das nach Althaus eine „ungeheure Weltlüge“ darstelle und daher auch und gerade im Namen Gottes nicht sein dürfe. Dieser Lüge der deutschen Alleinschuld am Krieg, die bereits im deutschen Volk selbst Fuß fasse („Ein ekles Schauspiel der Würdelosigkeit!“)10, sollten gerade die Christen „ein entschlossenes Halt zurufen“. „Wir evangelischen Christen […] selber wollen ehrlich mit unserem Volke Buße tun“, doch zwischen richtiger und falscher Buße sei zu unterscheiden: „Buße ist Selbstgericht vor Gott, aber nicht Selbstpreisgabe vor den Menschen. Buße ist Unterwerfung 8 Dass der Aufsatz an Weihnachten 1918 geschrieben wurde, lässt sich seinen rückblickenden Äußerungen dazu aus dem Jahr 1933 entnehmen (3314 Volks-Geschichte, 18): „Zu Weihnachten 1918 schrieb ich, kaum aus Polen heimgekehrt, angeekelt von der schamlosen Selbstpreisgabe der Deutschen, von der Beschuldigung der Führer, von dem würdelosen Bekenntnis der deutschen Schuld am Kriege“. Dass er aber in dem Aufsatz 1918 tatsächlich selbst die deutsche Mit-Schuld am Krieg betont und das Versagen der deutschen Führung benennt, verschweigt er 1933. 9 1809 Gewissen, 27. 10 Der gegen das eigene Volk gerichtete Vorwurf der Würdelosigkeit im Tragen der deutschen Niederlage war ein gängiger Topos in diesen Tagen; vgl. die Äußerungen von Althaus’ akademischem Lehrers Karl Holl, abgedruckt in: Assel, Aufbruch, 121. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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unter die bittere Wahrheit, aber nicht feige, schlaffe, würdelose Verleugnung der klaren Wahrheit.“ Diese bittere Wahrheit, die Buße verlangt, nennt Althaus auch sogleich beim Namen, wenn er schreibt, daß „mehr, als wir gedacht und gehofft hatten, von deutscher Seite sprunghaft, ungeschickt, willkürlich, zweideutig gesprochen und gehandelt worden ist, vor dem Kriege und in dem Kriege“. Weiter schreibt er, „niemand darf verschweigen, daß auch unser Volk und unsere Regierung Schuld in diesem Kriege auf sich geladen haben: Schuld in Belgien und Schuld in Polen, Schuld gegen die Wahrheit und Schuld gegen die Sauberkeit“.11 Zu diesem kritischen Einerseits – „Unsere Mitschuld will niemand leug nen“12, schreibt Althaus weiter – tritt nun das apologetische Andererseits hinzu. Wie die überwiegende Mehrzahl der Deutschen und der Menschen in den anderen kriegführenden Staaten war auch Althaus von der vermeintlichen Tatsache des aufgezwungenen Verteidigungskrieges überzeugt. Folglich ging er auch in diesem Aufsatz davon aus, „die ehrliche letzte Absicht, der Friedenswille unserer Verantwortlichen, war und ist nicht anzutasten. Das wollen wir bezeugen, solange uns die Stimme geschenkt ist“. Diesem deutschen Friedenswillen stellt Althaus nun die englische und französische Hetzpropaganda gegen Deutschland gegenüber: „Haben wir es schon vergessen, wie man jenseits der Vogesen seit Jahrzehnten gegen uns gehetzt, wie man dort in den letzten Jahren vor dem Kriege Deutsche behandelt hat?“ Ein gegenseitiges Aufrechnen der Schuld kann für ihn nur zu dem Ergebnis führen, dass keiner ohne Schuld am und im Krieg ist: „Darum allein geht die Frage, ob unsere Feinde das Recht sich anmaßen dürfen, im Namen einer blutenden Menschheit und des geschändeten Sittengesetzes über uns zu Gericht zu sitzen.“ Auch wenn sich Althaus dessen bewusst ist, dass es den Siegern obliegt, nicht zuletzt mit ihrer militärischen Macht Recht zu setzen, so ruft er doch dazu auf, sich dagegen „innerlich zu stemmen, daß man in unerhörter Selbstüberhebung und Verleugnung der hellen Wahrheit jetzt unser Volk zu den Weltbanditen stempelt, die gezüchtigt werden müssen.“ Dieser Einsatz für die Wahrheit und gegen die „ungeheure Weltlüge“ der deutschen Alleinschuld, erhält von Althaus eine religiöse Dimension, indem er an den „heilige[n] Ingrimm“ appelliert und dieses Aufbegehren als „Luthertat“ bezeichnet, die „jetzt von unserem guten deutschen Gewissen gefordert“13 wird: „Gewiß ist die Volksbuße heute wie in den Siegestagen von 1914 die erste Tat, die Gott von uns fordert. Aber ihr zur Seite steht die andere: das Trotzen auf unser gutes 11 1809 Gewissen, 27. 12 Ebd., 28. 13 Ebd., 27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Gewissen […]. Es ist auch ein Stück der tiefverstandenen Gottesfurcht und gehört zur Erfüllung des ersten Gebotes, daß ein gutes Gewissen ganz einsam gegen das Lärmen der Mehrheit und gegen allen falschen Schein der Verhältnisse trotze und sich durch keine Gewalt und keine Abstimmung des Völkerschiedsgerichtes imponieren lasse. Nicht um zu neuem Hasse der Völker zu hetzen, sondern um dem Gehorsam gegen die Wahrheit zu dienen“14.
Dem simplifizierend-undifferenziert gegen Deutschland erhobenen Vorwurf der Alleinschuld am Krieg begegnet Althaus in gleicher Weise mit der angeblich „klaren Tatsache eines feindlichen Kriegswillens, der seit einem Jahrzehnt bestand“. Dieser Aporie ist sich Althaus offenbar bewusst, wenn er zur Zusammenarbeit der verfeindeten Länder bei der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit aufruft, um gemeinsam die „Abrüstung der Großmacht Lüge“ voranzubringen und den „Tempel des Weltfriedens“ zu errichten: „Ein edler, wahrer Friede kann nicht auf Lüge gebaut sein, auch nicht auf die Lüge von der deutschen Hauptblutschuld. […] Daß doch endlich die Wahrheit unter den Völkern wieder durchbräche!“ Das Ziel ist für ihn die Aussöhnung der Völker: „Wir können nicht als eine Menschheit weiterleben, wir können keine gemeinsame Geschichte mehr haben, bis nicht die Wahrheit über die schreckliche Katastrophe, über alle Schuld und alle Fehler und alles unvermeidbare Schicksal sich durch die Drahthindernisse der Verhetzung und nationalen Leidenschaftlichkeit hindurch Bahn bricht. […] Gegen die ungeheure Lüge untereinander, die das Vertrauen völlig zerfraß und uns gegenseitig alle Ehre und alle Menschlichkeit absprechen ließ, müssen die Völker gemeinsam kämpfen.“
Dieser gemeinsame Kampf für die Wahrheit kann nach Althaus nur durch die „Zwiesprache ernster Männer guten Willens am Verhandlungstische“ gelingen: „Wir Deutschen bilden uns weniger denn je ein, Alleinpächter der Wahrheit zu sein. Oeffnet die Archive allesamt – auch die in Paris und London!! Laßt uns Auge in Auge und Stirn gegen Stirn männlich-offen miteinander reden! O komm herauf du großer Tag der Wahrheit. […] Wir werden als Menschen wieder aufatmen. Die Menschheit wird sich tief schämen – und zugleich aufjauchzen. Denn die Wahrheit macht immer frei, auch wenn sie wehtut.“ Gerade weil nun aber „das Haus der Menschheit“ nur auf der Wahrheit dauerhaft gebaut sein kann, „wollen wir Deutschen uns mit heiliger Entschlossenheit gegen den Platz auf der Anklagebank, gegen die einseitige, vor aller ernstlichen Aussprache geschehene Verurteilung unseres Volkes und seiner Führer 14 Ebd., 28. Den Ruf der Kirche „zur nationalen Buße“ hat Althaus bereits während des Krieges als Aufgabe der Kirche angesichts der „Gefahr einer Nationalisierung der Religion“ gefordert; vgl. 1707 Glaube, 16. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wehren. Denn sie ist nicht auf der sorglich und mit heiligem Ernste prüfenden Gerechtigkeit, sondern aus dem Hasse geboren. Sie bedeutet nichts anderes, als eine frevelhafte Verewigung der Kriegslüge und damit das Fortschleppen des Krieges in den ‚Frieden‘ hinein.“15
Erneut begründet Althaus den gebotenen Kampf gegen die einseitige Verurteilung des Deutschen Reiches theologisch: „Gott gab uns unsere Ehre – und die Ehre wegwerfen, das ist Sünde wider Gott. […] Trauern wollen wir Deutschen alle, tief und schmerzlich. Aber vor unseren Feinden uns schämen – nein, niemals!! Gott behüte uns vor aller Würdelosigkeit! Ob wir uns einmal mit ihnen schämen werden über die Weltschande des Völkerhasses – das ist ein anderes. Und vollends: vor dem heiligen Gott stehen wir als Deutsche in großer Demut und haben ihm vieles zu beichten an Volkssünde und Schande, an grenzenloser Selbstsucht und entsetzlicher Leichtfertigkeit. Gottes Vergebung brauchen wir – aber das gehört zwischen Gott und uns allein – vor niemandes Augen.“16
Gott gegenüber die Buße, den Feinden gegenüber, die von deutscher Alleinschuld am Krieg sprechen, aber das gute Gewissen; das ist es, was Althaus den Deutschen ans Herz legen will. Diese Buße muss von der Kirche gepredigt werden als „Frage nach den Gründen der Niederlage und des Zusammenbruches“. Hier setzt Althaus’ Geschichtstheologie ein: „Man wird die Fehler und Sünden unseres Volkes, aus denen nach den göttlichen Geschichtsgesetzen organisch die Katastrophe erwachsen mußte, aufsuchen.“ Vor drei Irrwegen und falschen Antworten warnt Althaus zunächst: 1. Vor einem nach alttestamentlichem Muster gestalteten Tun-Ergehens-Zusammenhang: „Unsere Not braucht nicht in jedem Falle Maß und Folge unserer Schuld zu sein“; 2. Vor einer Interpretation der Niederlage als Gericht Gottes: „Seit wann hat Gott denn verheißen, daß er eine gerechte Sache unter allen Umständen triumphieren lassen will? Gott bindet sich nicht. […] Sowenig der Sieg ein Siegel auf unsere Vortrefflichkeit und Gottgefälligkeit gewesen wäre, sowenig ist die Niederlage und Demütigung als solche ein Beweis für unsere besondere Unzulänglichkeit vor Gott. Die Gerechtigkeit Gottes in der Weltgeschichte ist nicht so einfach“; 3. Vor der Erklärung, das deutsche Volk habe zu wenig gebetet: „Aber hätte Gott uns den
15 Ebd. Hervorhebungen von Althaus. Dass für ihn ein Frieden, der auf einer „Kriegsschuldlüge“ basiert, kein wirklicher Frieden ist, macht er hier durch die Verwendung von Anführungszeichen deutlich. Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages war es in Deutschland nicht unüblich, den Friedensbegriff in Anführungszeichen zu setzen. Mai, Kapitalismuskritik, 420, Anm. 17 macht darauf aufmerksam, dass selbst der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) noch 1923 so verfuhr. 16 Ebd., 28 f. Hervorhebungen von Althaus. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Sieg nicht auch dann versagen können, wenn das ganze Volk ernster und reiner gebetet hätte […]?“17 Ziel dieser Abgrenzungen ist der Nachweis der absoluten Souveränität und Herrenmajestät Gottes, der Herr bleibt auch über die von Althaus selbst identifizierten, angeblichen „Lebensgesetze“ des göttlichen „Herrn der Geschichte“, die der Durchsetzung seiner „lebendigen Gerechtigkeit“ dienen18. Althaus ist sich sicher: „Wer heute Buße predigen will, der muß sich vor jeder Allgemeinheit hüten. […] Nicht jeder Sieg ist ohne weiteres ein Gnadenerweis Gottes, und nicht entfernt jede politisch-geschichtliche Niederlage ist als Strafe zu deuten. […] Unsere Predigt muß sich von der geistlichen Alleswisserei entschlossen fernhalten und muß in dem, was wir zurzeit erleben, auch das dunkle Rätsel schauen“19.
Während Althaus also von „geistlicher Alleswisserei“ abrät, macht er sich auf die Suche nach historischen Gründen „allgemein-politischer Art“ für die Nieder lage, die er in „organischen Geschichtszusammenhänge[n]“ zu erkennen meint: „Es ist das Versagen unserer Politik seit Bismarcks Abgang, der Dilettantismus und die Führerlosigkeit unseres politisch kinderhaften Volkes, die Täuschung über die Bundesgenossen, die Unfähigkeit […] zu neuen Kombinationen. Das alles sind Fehler des politischen Vermögens, Dinge, die mit Herz und Gewissen und Glaube und Gott nichts zu tun haben. […] Das deutsche Volk hat vor dem Kriege und in dem Kriege politisch versagt – das ist der Hintergrund für das jetzige Elend.“20
Für die nötige Bußpredigt sei es zu einfach, die Gründe für das Versagen nur in der Vergangenheit und nur bei der deutschen Führung zu suchen, sondern „bei dem ganzen Volke […] suchen wir die Schuld.“ Als solche Gründe führt er an: die allgemeine Uneinigkeit, den Parteienzank, die „Begehrlichkeit […] bei Besitzenden und Aufstrebenden“, die „Genußsucht“, die selbstsüchtige Unfähigkeit, fürs Vaterland zu leben, die „Beamtenwillkür“ in den besetzten Gebieten, die „Treulosigkeit in den Ehen“ sowie die „Gottvergessenheit und Gottlosigkeit unseres Geschlechtes“. 17 Ebd., 34. 18 Vgl. Liebenberg, Gott, 452–474. Althaus’ Hinweis darauf, dass der Sieg der Feinde nicht notwendig auch deren Gerechtigkeit vor Gott impliziere, ist dabei kein Reflex auf die unerwartete deutsche Niederlage, sondern basiert auf seiner bereits im November 1917 ausgesprochenen Erkenntnis, „daß die Weltgeschichte nicht das Weltgericht sei“ (1750B) – zu einem Zeitpunkt also, als Althaus noch fest mit einem deutschen Sieg rechnete. 19 1809 Gewissen, 34. Schon sein Vater vertritt 1915 die Auffassung: „Unser Gottesglaube ist nicht von äußeren Kriegserfolgen abhängig. Und der Sieg als solcher ist kein ‚Gottesurteil‘.“ (Althaus d. Ä., Krieg, 631). 20 1809 Gewissen, 34. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Bei all diesen Gründen, die Althaus aufzählt, handelt es sich um damals weitverbreitete kulturpessimistische Gemeinplätze. Ein Punkt aus Althaus’ Aufzählung ist allerdings besonders bemerkenswert, weil er durch seine Kritik deutlich aus dem Rahmen fällt: „unsere maßlose deutsche Eitelkeit (wie hat man zum Ueberdruß zitiert: ‚Es soll am deutschen Wesen noch einmal die Welt genesen!‘)“21. Althaus bezeichnet hier ein deutsches Sendungsbewusstsein, das vor und im Krieg allenthalben anzutreffen war, als „maßlose Eitelkeit“ und distanziert sich davon. Auffällig am Althausschen Versuch, die deutsche Niederlage zu erklären, ist die Bemühung um eine für damalige Verhältnisse differenzierte Sichtweise. Althaus hebt sich damit ab von einseitigen Erklärungen im völkischen Lager, die allein davon ausgehen, das „wilhelminische Reich sei nicht fähig gewesen, das nötige Maß an nationaler Energie aufzubringen, das zum Festhalten des Sieges notwendig gewesen sei.“22 Am Ende seiner Ausführungen kommt Althaus gemäß seines volksmissionarischen Anknüpfungskonzepts auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Denn es könne „die gegenwärtige Stunde nicht restlos als Folge deutscher Sünde“ begriffen werden, sondern müsse „zuletzt als schweres, rätselhaftes Schicksal“ hingenommen werden. An diesem Punkt ist für ihn „die sittliche Geschichtsbetrachtung […] am Ende, die religiöse setzt ein.“23 Diese religiöse Geschichtsbetrachtung ist eine geschichtstheologische, die Gottes souveräne Herrenmajestät in den Mittelpunkt stellt: „Wir sind auf das übergeschichtliche gewiesen, auf die Hand, die durch Menschenfehler und Menschengenialität hindurch souverän unsere Geschichte regiert. Und so lautet schließlich unsere Antwort auf die Frage: Warum diese Niederlage?: Gott hat es so gewollt.“
„Seinem heimlichen Willen schweigend sich zu unterwerfen“, ist für Althaus daher das Gebot der Stunde, es gelte, Gott wieder fürchten zu lernen. Denn für Althaus sucht Gott nicht nur „unsere Sünde“ heim, sondern er zerbricht auch „unsere guten Gedanken“; er straft nicht nur das Unrecht und die Lüge, sondern er lässt auch eine „gerechte Sache“ scheitern. Was Althaus unter „unseren guten Gedanken“ und unter der „gerechten Sache“ versteht, macht er sogleich deutlich:
21 Ebd., 35. Vgl. seine selbstkritischen Äußerungen zu den eigenen Kriegspredigten; vgl. Kap. I, 4.3. 22 Leisen, Ausbreitung, 196. Althaus’ Kritik am Patriotismus der Kaiserzeit ist ein ähnlicher; vgl. 4201 Entdeckung, 192. 23 1809 Gewissen, 35. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Das deutsche Volk als von Gott „herrlich hinausgeführt und an den ersten Platz der Weltgeschichte gestellt […], nicht zu einer Weltherrschaft ohnegleichen, aber zu einem Weltdienste ohnegleichen“; „den Sieg und die Größe unseres Volkes nicht nur als Geschenk der freien Gnade Gottes, sondern auch als die Konsequenz alles dessen, was er bisher treu an unserem Volke getan“; „den Tag unseres Volkes, den Gott heraufbringen würde“; „deutsche Weltmissionsverantwortung nach dem deutschen Siege, deutsche Weltfriedensgarantie nach dem Erfolge – das waren die Gedanken unserer Besten! Wir schämen uns ihrer nicht.“24
Indem Althaus den beabsichtigten deutschen „Weltdienst“ in idealistischer Weise als deutschen Beitrag für den Weltfrieden und für die Verchristlichung der Welt interpretiert, ist dieser für ihn damit auch theologisch legitimiert. Andererseits ist die missionarische Motivation Althaus’ vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie durchaus ernst zu nehmen25. Bereits zu Kriegszeiten zählte er zu denjenigen Predigern, denen Wilhelm Pressel attestiert, dass sie „die deutsche Sendung ehrlich in den Dienst der Ausbreitung des Evangeliums in der Welt zu stellen versuchten“26. Wie passt nun aber Althaus’ oben angeführte Kritik an „unsere[r] maßlose[n] deutsche[n] Eitelkeit“ zu seinen eigenen Äußerungen über deutschen „Weltdienst“ und den „ersten Platz der Weltgeschichte“, deren er sich auch nach der Niederlage nicht „schämt“? Das entscheidende Wort ist in diesem Zusammenhang „maßlos“. Althaus gibt sich hier – wie schon früher, z. B. bei seiner Abgrenzung von radikal-alldeutschen Vorstellungen – als Mensch zu erkennen, dem die Extreme unangenehm sind und der darum keine radikale Position vertreten mag, als politischer Theologe, der mit Vorliebe den vermeintlichen Mittelweg einschlägt27. Vor dem Hintergrund seiner eigenen nationalprotestantischen Prägungen und seiner eigenen Erfahrungen hat Althaus ganz selbstverständlich ein deutsches kulturelles und christlich-missionarisches Sendungsbewusstsein, ganz selbstverständlich wünscht er sich deutschen „Weltdienst“28. Was ihn aber abstößt, ist eine Radikalisierung dieses Gedankens: 24 Ebd. Den Gedanken, nicht „Weltherrschaft“, sondern „Weltdienst“ hat Althaus auch schon während des Krieges vertreten; vgl. 1707 Glaube, 10. 25 Zu Althaus’ Missionserwartungen vgl. Kap I, 2. 26 Pressel, Kriegspredigt, 114. 27 Zu diesem Charakterzug Althaus’ schreibt Ericksen, Theologen, 119: „Althaus wehrte sich absolut dagegen, radikal zu sein. Er verfügte über ein starkes Empfinden für eine Position der Mitte, und genau da wollte er sich aufhalten, da fühlte er sich wohl. […] Auch in der Politik suchte Althaus einen Standort in der Mitte. Allerdings definierte er diese Mitte vom Standpunkt seines Milieus aus, in dem es ein Links-von-der-Mitte kaum gab.“ Innerhalb seines Milieus blieb er nach Ericksen „moderat“ (ebd., 140). 28 Zu der Vorstellung eines deutschen Sendungsbewusstseins bei Althaus während des Krieges vgl. Schäfer, Beurteilung, 39 ff. Wie verbreitet die Vorstellung eines „deutschen Weltdienstes“ in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Wir schämen uns dieser Gedanken nicht – sie waren nicht chauvinistisch und nicht imperialistisch. […] Wir wollten nicht herrschen, nicht nur verdienen, sondern dienen. […] Wir deutsch-evangelischen Christen wollten nicht die anderen versklaven, sondern heben als Lichtträger, als Christusträger.“29
Zwei Aspekte machen nach Althaus eine abzulehnende „maßlose deutsche Eitelkeit“ aus: Zum einen eine chauvinistische Absolutsetzung des eigenen Volkes bei gleichzeitiger Verachtung anderer Völker; zum anderen ein deutsches Sendungsbewusstsein, das seine Sendung anders als christlich definiert und gründet. Das deutsche Volk soll sich nach Althaus’ Vorstellung an Gott und an Christus gebunden wissen und von ihm seinen Auftrag zum „Weltdienst“ empfangen. Beide Aspekte gehören bei Althaus untrennbar zusammen. Wenn er schreibt, „auch unser Volk ist Gottes Werkzeug“30, so gibt er damit zu verstehen, dass der christliche Gott eine Geschichte mit allen Völkern eingeht bzw. jedes Volk „in seiner Weltgeschichte“ „gebrauchen“ will gemäß seinem „Majestätsgeheimnis“. Eine Rede vom sogenannten „deutschen Gott“ ist daher für Althaus ausgeschlossen31. Abschließend verleiht Althaus seiner Hoffnung Ausdruck, dass den wahrhaften Deutschen, d. h. denjenigen, die unter der Not ihres Volkes leiden32, der damaligen Zeit war, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass auch Karl Barth diesen Gedanken kolportierte, wenn er 1911 schrieb: „Es ist von jeher die Rolle der Deutschen im geistigen Leben der Menschheit gewesen, daß sie für die anderen das ardere, die Verinnerlichung und Vertiefung der Positionen und Fragen gerade in den höchsten Dingen übernommen haben.“ (Barth, Mott, 283; Hervorhebung von Barth). 29 1809 Gewissen, 35. Diesen Gedanken eines christlich motivierten und orientierten deutschen „Weltdienstes“ hat schon Althaus d. Ä., Krieg, 631 vertreten und damit auf seinen Sohn gewirkt: „Wohl hoffen wir zuversichtlich auf einen siegreichen Ausgang dieses blutigen Krieges – aber nicht deshalb, weil wir uns so viel besser und vortrefflicher dünken als andere Völker, sondern weil wir die Gewißheit hegen dürfen, daß Gott mit unserem reichbegabten und hoch begnadigten deutschen Volke, wenn anders es sich zu ihm zurückführen läßt, noch etwas Großes im Sinne hat für die Förderung seines Reiches auf Erden.“ 30 1809 Gewissen, 35. Hervorhebung von mir. 31 In die gleiche Richtung weist auch seine für die damalige Zeit auffällige und zumindest auf deutscher Seite ungewöhnliche Betonung der „einen Menschheit“ und des „Haus[es] der Menschheit“, das nur auf dem Fundament der Wahrheit Bestand haben könne. Für diese Wahrheit sollen die Völker „gemeinsam kämpfen“ (ebd., 28). Dass Althaus schon während des Krieges gegen den Trend der Zeit die Rede von einem „deutschen Gott“ ablehnte, zeigt Kurz, Denken, 426 ff. Zur Ablehnung eines „deutschen Gottes“ bei Althaus vgl. auch 2704 Volkstum, 122. 32 Von diesen wahrhaften Deutschen grenzt Althaus die „unwürdigen Glieder unseres Volkes“ ab. Er verweist dabei in erster Linie auf die Großstädte und die dortigen „Massen, denen alle Autorität zerbrach, denen die Not ihres Volkes nichts bedeutet, die allen niederen Trieben schnödester Begehrlichkeit und Selbstsucht schändlich bei sich Raum geben, unter denen furchtbare Gleichgültigkeit gegen den Glauben der Väter und bewußte Gottlosigkeit umgeht“. Sein Fazit lautet lapidar: „sie sind nicht unser Volk.“ (1809 Gewissen, 35 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„der heilige Gott eine Zukunft bereiten dürfte und wollte“. Denn „das, was wir jetzt mit tiefen Schmerzen durch unsere Feinde erleben, kann und wird nicht das Letzte sein. Wir warten – auf Gottes Stunde für uns. Wir können nicht anders, als seiner harren, daß er dem heimlichen, schweigenden deutschen Volke […] noch selber einmal Recht schaffe vor der Welt. Wie könnten wir als Glieder unseres Volkes es aus halten ohne diesen harrenden Glauben?“33
Trost ist es, den Althaus seinen Lesern Ende 1918/Anfang 1919 angesichts der zurückliegenden katastrophalen Niederlage, angesichts einer Gegenwart, die im Chaos zu versinken droht und angesichts einer von Seiten der Siegermächte nichts Gutes verheißenden Zukunft zusprechen will. Im Blick auf die massiven Vorwürfe der Feindstaaten spricht er von einem guten Gewissen, das die Deutschen gegenüber der Anklage wegen einer Alleinschuld am Krieg haben sollen. Seine eigenen Landsleute hingegen ruft er zur Buße auf und spricht von deutschem politischen Versagen von Führung und Volk im Vorfeld und während des Krieges und von deutscher Mitschuld am Krieg. Als Mann der Kirche fühlt sich Althaus aber auch dazu verpflichtet, die Katastrophe theologisch zu interpretieren. Er warnt vor Deutungen, die die Niederlage mit dem Gericht Gottes in Verbindung bringen, und verweist auf den letztlich unerforschlichen Willen von Gottes „Herrenmajestät“. Allem Anschein zum Trotz darf auf „Gottes Stunde“ für Deutschland gehofft werden. Der Aufsatz mit seinen Spannungen und teilweise auch Widersprüchen ist ein gutes Beispiel für Althaus’ charakteristische Vorgehensweise, auch sehr unterschiedliche und schwer miteinander zu vereinbarende Wesenszüge eines Tatbestandes zusammenzudenken und vorzutragen.
1.3 „Die deutsche Schmach in Polen“ oder: Die Rote Revolution und die Niederlage Während Althaus im Juni 1919 als „Abschied von Polen“ sein pastorales Handeln als Militärpfarrer im besetzten Polen verteidigt und den kirchenpolitischen Streit in der dortigen evangelischen Kirche aus seiner Sicht schildert, berichtet er im Februar 1919 den Lesern der „Täglichen Rundschau“34 in ebenfalls sehr emotionsgeladenem Ton vom jüngsten Kapitel der deutsch-polnischen Ge 33 Ebd., 36. 34 Die „Tägliche Rundschau. Unabhängige Zeitung für nationale Politik“ erschien seit 1880 in Berlin. Zur Zeit der Weimarer Republik unterstützte sie die Partei Gustav Stresemanns, die Deutsche Volkspartei (DVP), die von 1920 bis 1931 an fast allen Reichsregierungen beteiligt war. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schichte: das Ende der deutschen Besetzung Polens35. „Die deutsche Schmach in Polen“ ist der Artikel betitelt36, was sich weniger auf die Tatsache des Endes an sich bezieht, als vielmehr auf die Art und Weise, wie er vonstattenging: „Unsere Niederlage ist nicht das schlimmste. Aber daß wir nicht mit den Zähnen knirschen […], daß man so wenig Tränen um Deutschland weint, daß wir uns wie feige Hunde schlagen lassen und die Seele unseres Volkes sich nicht mehr aufbäumt, daß wir so jammervoll stumpf geworden sind – das ist Deutschlands tiefste Erniedrigung.“
Der Anlass für den Artikel erschließt sich aus dem geschichtlichen Kontext, auf den Althaus gleich im ersten Satz hinweist: „Heute ermessen wir erst ganz, was der Zusammenbruch des deutschen Heeres in Polen am 10. und 11. November 1918 bedeutet und gewirkt hat.“ Abgedruckt wird Althaus’ Rückblick auf „die deutsche Schmach in Polen“ am 20. Februar 1919, vier Tage nachdem die Siegermächte am 16. Februar den vorläufigen Grenzverlauf zwischen dem Deutschen Reich und Polen festgelegt haben, der zunächst Posen zum neuen pol nischen Staat schlägt. Für den „widerwärtigen Anblick deutscher Würdelosigkeit und Selbstentmannung“ macht Althaus den revolutionären Geist verantwortlich37, der sich am 10. und 11. November 1918 unter den deutschen Soldaten, die sich in Soldatenräten organisierten, breit machte und der sie in seinen Augen nationales Ehrgefühl vergessen machte: „Deutsche Offiziere und Landsturmleute [mußten] sich von halbwüchsigen Bengeln entwaffnen lassen. Und das Furchtbarste: die große Masse unserer Leute schien kein Empfinden für die grenzenlose Schande unserer Selbstentmannung zu haben.“ Dass das in seinen Augen ehrlose Verhalten der deutschen Truppen half, weiteres Blutvergießen zu ver hindern, lässt Althaus nicht gelten: Für ihn hat es dazu beigetragen, dass „wir durch Preisgabe Polens, insonderheit der Bahnlinien, unsere Ukrainekameraden in schändlichster Selbstsucht im Stiche ließen; daß ungeheuere deutsche Werte an Material aller Art verlorenging; daß heute ein polnisches Heer in deutschen Uniformen […] mit deutschen Gewehren […] in unser Land einbricht38; daß unseres Volksheeres Ehre im Osten unauslöschlich besudelt wurde.“ 35 Auffällig für Althaus ist, dass diesem Artikel ein religiös-theologischer Einschlag völlig abgeht. Es handelt sich um einen national aufgeladenen Rückblick auf den Zusammenbruch der deutschen Besatzung in Polen. 36 1901 Schmach. Den bislang unbekannten einseitigen Artikel entdeckte ich im AlthausNachlass (NPA 13/4). 37 So schreibt Althaus, „unser Volk tanzt…und streikt…und berauscht sich an hohen, eitlen Worten von ‚Revolution‘ und ‚Freiheit‘ und ‚neuer Zeit‘“. 38 Althaus’ Aussage dürfte sich auf den polnischen Einmarsch in der Provinz Posen Ende 1918 im Zuge des sogenannten „großpolnischen Aufstands“ 1918/19 beziehen, der ohne nennenswerte deutsche Gegenwehr erfolgte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Für einen würdevollen Abzug aus Polen wären nach Althaus auch weitere Opfer nicht vergeblich gewesen: „‚Ohne Blutvergießen!!‘ Ist das denn – um alles in der Welt – das Höchste? Und wenn nun wirklich noch einmal Blut geflossen und der deutsche Soldat in Ehren aus Polen gezogen wäre? Ist die deutsche Ehre, ist der blanke Schild eines großen, in herrlicher Geschichte bewährten Volkes kein Blut mehr wert?“
Wie schon bei seiner Predigttätigkeit in Polen39, so geht auch hier Althaus gegen die in seinen Augen „schändliche Selbstsucht“ derjenigen an, die nur an sich und ihr Leben denken, ohne für höhere Ideale zu kämpfen40. Kriegs verdrossenheit und Sorge um das nackte Überleben, die sicherlich bei vielen Soldaten als wahre Motivation hinter der „Revolution“ standen, konnte sich Althaus offenbar gar nicht vorstellen. Der Seelsorger und Militärpfarrer Althaus dürfte damit kaum die Grundbefindlichkeit seiner Soldatengemeinde getroffen haben. Nationale Ehre und Einsatz dafür bis zum größten Opfer ist für ihn in diesem Artikel „das Höchste“. Die Art und Weise des Zusammenbruchs ist für Althaus besonders im Blick auf die polnischen Deutschen verheerend: „Nichts hat mir so weh getan wie der Eindruck, den unsere Schmach vom 10. und 11. November auf das eingesessene Deutschtum in Polen machte. Nie kann ich die bestürzten, fragenden Augen unserer deutschen Gymnasiasten in Lodz und ihrer Familien vergessen. Das war eine deutsche Jugend, begeistert für deutsche Geschichte und deutsches Lied, für deutsche Pfadfinderei und deutsches Wandern. Wie hatten wir ihnen von der Herrlichkeit des großen Vaterlandes […] erzählen können und sie gelehrt, stolz und aufrecht als Deutsche auch im fremden Staate einherzugehen, sich ihrer deutschen Sprache und Art nie zu schämen. […] Diese Jugend mußte den 11. November erleben, sie mußte sehen, wie die rote Freiheit der revolutionären Soldatenräte zur elendesten, unwilligsten Demütigung vor den Polen wurde“.
Vor dem Hintergrund seiner eigenen Volkstumsarbeit in Polen, bei der er vor allem der deutschen Jugend, auf die er große Zukunftshoffnungen setzte41, das Bewusstsein für das Deutschtum erwecken wollte, muss Althaus der ungeordnete Abzug der deutschen Truppen besonders tragisch erscheinen. „Dürfen wir von den Auslandsdeutschen heute noch Stolz auf ihr Vaterland erwarten?“, fragt er daher seine Leser in Deutschland. 39 Vgl. Liebenberg, Gott, 266–270. 40 Dass es sich bei dieser Verächtlichmachung um einen kriegstheologischen Gemeinplatz handelt, lässt sich Graf, Nation, 309 entnehmen: „Wer sich der Einordnung in die kriegführende Nation verweigert, gilt als ein Sünder, der sich in seiner amor sui bzw. in der Fixierung auf sein partikulares Ich als unfähig zur Nächstenliebe und Hingabe an die Nation erweist.“ 41 Vgl. Liebenberg, Gott, 385–392. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Die frühe Verarbeitung von Krieg und Niederlage
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Dieser Text, der mit seinen drastischen Formulierungen aus dem Rahmen des üblichen Schreibstils von Althaus herausfällt, macht deutlich, welch zentrale Rolle das nationale Bewusstsein im Denken und Empfinden des dreißigjährigen Althaus spielt. Mit der Forderung nach dem Einsatz fürs Vaterland bis hin zum Opfer des eigenen Lebens noch am Ende des Krieges unterstreicht er den sittlichen Wert, den er einem solchen Einsatz beimisst. Als Gegenbild dazu schildert er ein in seinen Augen selbstsüchtiges, rücksichtsloses und vaterlandsvergessenes Verhalten, wie es die „rote Freiheit der revolutionären Soldatenräte“ verkörpere. Diesen Ungeist der Revolution macht er verantwortlich dafür, dass Deutschland, das er vormals so hoch in Ehren sah, nun außenpolitisch „tief im Staube“ liegt und zum Gespött seiner östlichen Nachbarn wird, was sich nach seiner Vorhersage negativ auf die Situation der Auslandsdeutschen auswirken kann. Wenn Althaus hier also der roten Revolution anlastet, verantwortlich für den Zusammenbruch des deutschen Heeres und damit für den „widerwärtigen Anblick deutscher Würdelosigkeit und Selbstentmannung“ zu sein, dann gibt er sich damit schon vor dem formalen Kriegsende als „Verfechter der Dolchstoßlegende“ zu erkennen42. Auf die sich ebenfalls im Februar 1919 konstituierende erste deutsche Republik, die Zeit ihres Bestehens den von der Mehrheit der Deutschen empfundenen negativ behafteten Zusammenhang mit der roten Revolution nicht los bekommen sollte, warf das von Beginn an ein äußerst negatives Licht43.
42 Ericksen, Theologen, 120. „Der Sache nach“, so Liebenberg, Gott, 449, Anm. 450, „vertrat Althaus […] schon seit dem 10. Februar 1918 die sogenannte ‚Dolchstoßlegende‘“. Bei dieser handelte es sich um eine von führenden Vertretern der deutschen Obersten Heeresleitung (OHL) kolportierte Verschwörungstheorie, die die Schuld an der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches vor allem auf die Sozialdemokraten und Kommunisten abwälzen sollte. Angesichts der Tatsache, dass im Krieg kein feindlicher Soldat deutschen Boden betreten hat, besagte sie, das deutsche Heer sei im Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und habe erst durch oppositionelle „vaterlandslose“ Zivilisten aus der Heimat einen „Dolchstoß von hinten“ erhalten. Diese Legende diente deutschnationalen und völkischen Gruppen und Parteien zur Propaganda gegen die rote Novemberrevolution, die Auflagen des Versailler Vertrags, die Linksparteien und gegen die Weimarer Republik überhaupt. Sie gilt in der Geschichtsforschung als bewusst konstruierte Fälschung und Rechtfertigungsideologie der militärischen und nationalkonservativen Eliten des Kaiserreichs. Wirsching, Die paradoxe Revolution, 8 schreibt dazu: „Für alle national denkenden Deutschen stellte es wohl eine kognitive Überforderung dar, sich nüchtern mit der Kriegslage auseinanderzusetzen. […] Gegenüber der undurchschaubaren Komplexität des Kriegs geschehens versprachen die Elemente der ‚Dolchstoßlegende‘ leicht fassbare ‚Erklärungen‘ für das Unerklärliche.“ 43 Vermittelt bekam Althaus diese Sichtweise nicht zuletzt auch durch seinen Vater, über den er 1928 rückblickend schreibt: „Ihn ekelte der würdelose Verrat der deutschen Ehre, die Herrlichkeit der roten Soldatenräte, die Herrschaft der demokratischen Phrase in dem versklavten Volke.“ (2801 Leben, 107). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
2. Der Schock von Versailles als Bürde für Weimarer Republik und Völkerbund Für die Zeitgenossen, so Manfred Funke, war die Weimarer Republik „nicht Vorspiel zu Hitler, sondern Nachkriegszeit, die nicht vergehen wollte. Zwar schwiegen die Kanonen, aber es gab keinen Frieden. Wühlende Ruhelosigkeit, revisionistische Aggressivität, geistige Bruchzonen bewiesen, daß mit dem Versailler Vertrag die Kunst des Friedensschlusses verlorengegangen war, sich innere und äußere Belagerung auflud, das Leiden sich nicht läuterte zur Annahme der Republik als geistig-politischer Verantwortungsraum einer Nation, der eine Sturzgeburt vom Obrigkeitsstaat in schimmernder Wehr hin zur brodelnden Moderne zugemutet wurde.“1
Der Vertrag von Versailles und seine Bestimmungen versetzte Deutschland in einen Schock. Dass Althaus ebenfalls von diesem Schock erfasst wurde, ist vor dem Hintergrund seiner mentalen und politischen Prägungen, seiner Hochschätzung von Volk und Vaterland, aber auch angesichts seiner geschichtsphilosophischen Konzeption nicht verwunderlich2. Zum endgültigen Ergebnis des Ende Juni 1919 unterzeichneten Vertragswerks äußert er sich nicht direkt, er hat dem Friedensvertrag selbst auch keine Schrift gewidmet. Er sah sich als Theologe dazu nicht veranlasst. Dennoch nimmt er an den seit dem 18. Januar in Versailles stattfindenden Verhandlungen der Siegermächte regen Anteil und kommentiert in seinen Schriften zumindest en passant die sich abzeichnenden Ergebnisse. Als diese schließlich festgeschrieben sind, sind sie für Althaus ganz selbstverständlich das negative Vorzeichen der neuen Zeit nach der Katastrophe von 1918 und damit Inbegriff einer Krisen- und Übergangszeit. Unter dem Eindruck des erfolglosen und verzweifelten Ruhrkampfes gegen die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets 1923 spricht Althaus in einer Predigt am 11. November 1923, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Waffenstillstands, von „jenem schwarzen 28. Juni 1919“ – dem Tag der erzwungenen Unterzeichnung des Versailler Vertrages –, „als deutsche Männer, von uns beauftragt, ihren Namen unter das nichtswürdige Friedensinstrument setzten, unter das verlogene Bekenntnis der alleinigen Schuld Deutschlands“3.
1 Funke, Republik, 11. 2 In einer Sonntagsbetrachtung vom Februar 1917 hatte Althaus seine „Sehnsucht nach gemeinsamer, edler Menschheitsarbeit“ zum Ausdruck gebracht und sich für einen „Frieden ohne Tyrannei über die anderen“ ausgesprochen (1706B). Umso enttäuschender musste der Versailler Vertrag auf ihn gewirkt haben. 3 2309P Weg, 200. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Versailles als Bürde für Weimarer Republik und Völkerbund
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Rückblickend spricht Althaus Ende 1932 von der mit Niederlage und Versailles begonnenen Zeit als derjenigen, als „das Elend und die Schande des deutschen Zusammenbruchs uns würgte, als die Throne gestürzt, als die Grenzdeutschen preisgegeben, als deutsches Werk und deutsche Macht über See zerbrochen waren, als die Ohnmacht und der Hader und der kleine Sinn, der Schmutz und der Verrat im entwaffneten, betrogenen und sich selbst betrügenden und wegwerfenden deutschen Volke unser Schicksal und unsere Schuld wurden“4.
Man kann sich die Verve, mit der Althaus und andere Theologen und mit ihnen der Großteil der deutschen Bevölkerung gegen den Versailler Vertrag und den Völkerbund und damit auch gegen die Weimarer Republik polemisierten, nicht erklären, wenn man sich nicht die durch den Versailler Vertrag geschaffenen Fakten und die daraus resultierenden Konsequenzen klarmacht, die das Bild von beiden in der deutschen Öffentlichkeit bestimmte. Sowohl was seine tatsächlichen Bestimmungen als auch was seine Folge wirkung auf Seiten der Kriegsverlierer betraf, stellte der Versailler Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 unterschrieben wurde und damit den Ersten Weltkrieg formell beendete, ein Novum in der an Kriegserfahrungen so reichen europäischen Geschichte der Neuzeit dar. So resümiert Friedrich Wintzer: „Der Erste Weltkrieg hatte noch als ein Krieg des alten Europäischen Konzerts begonnen, er endete als der erste europäische Krieg im Massenzeitalter.“5 Der Vertrag, der einseitig und „ohne Rücksicht auf die innenpolitischen Gegebenheiten und außenpolitischen Interessen des Verlierers“6 durchgesetzt wurde, stieß in Deutschland von Beginn an einstimmig auf Ablehnung. Schon der nach Versailles delegierte Sozialdemokrat Otto Landsberg erklärt 1919 repräsentativ für Viele in Deutschland: „Dieser Friede ist ein langsamer Mord des deutschen Vol 4 3218 Reich, 162. 5 Wintzer, Deutschland, 61. Er betont besonders zwei Neuerungen: Zum einen die Eingriffe der Sieger in die Souveränität der Verliererstaaten, zum anderen die Tatsache, dass „nicht zwischen allen kriegführenden Mächten verhandelt wurde“ (ebd.). Als weiteren Punkt, der auf die Singularität von Versailles verweist, nennt Winston Churchill im Rückblick die alliierten Reparationsforderungen: „Reparationszahlen wurden festgesetzt […] die keine wie auch immer geartete Beziehung zu irgendeinem existierenden oder ausdenkbaren Vorgang hatten“ (ders., Zeitgenossen, 307). Der in der Geschichtswissenschaft zuweilen unternommene Versuch, die Bestimmungen des Versailler Vertrages durch den Hinweis auf die harten deutschen Friedensbedingungen gegenüber Russland im Vertrag von Brest-Litowsk vom 3.3.1918 zu relativieren, übersieht die ungeheure psychologische Wirkung durch die Alleinschulderklärung Deutschlands im berüchtigten Kriegsschuldartikel 231 von Versailles durch die westlichen Siegermächte. Der von Deutschland diktierte Frieden von Brest-Litowsk kam ohne diese Moralisierung von Seiten der Sieger aus. 6 Ebd., 63. Wintzer schreibt weiter: „Die Deutschen wurden zwangsweise zu einer ‚Erfüllungsgemeinschaft‘ zusammengeschweißt, als ob die Träger der Novemberrevolution dasselbe innenund außenpolitische Programm wie Vaterlandspartei vertreten hätten.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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kes, die Nichtunterzeichnung ist der Selbstmord.“7 Auch der weltweit renommierte und in der Weimarer Republik als Vernunftrepublikaner politisch engagierte Theologe Ernst Troeltsch sprach von einem den Deutschen oktroyierten „Schulddogma“, das dem in Versailles über den Verlierer gesprochenen Gerichtsurteil zugrunde liege8. Die heftigste Reaktion in Deutschland rief der Kriegsschuldartikel 231 hervor, mit dem die Entente-Mächte allein dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten die Verantwortung für den Weltkrieg zuwiesen9. Er bedeutete zunächst eine Isolation des Deutschen Reiches, das sich als Sündenbock für die eigenen Verfehlungen der anderen europäischen Staaten vor dem Weltkrieg sah. Darüber hinaus sollte das Deutsche Reich finanziell für die Schäden an Land und Menschen haftbar gemacht werden, welche seine Truppen insbesondere in Frankreich angerichtet hatten. Der Vertrag von Versailles bildete daher auch die Basis für die immensen Reparationsforderungen an das Deutsche Reich, deren Höhe allerdings zunächst nicht festgelegt wurde. Äußerst umfangreich waren die Gebietsverluste, die Deutschland hinnehmen mußte. Insgesamt verlor das Reich dreizehn Prozent seines vorherigen Gebietes und zehn Prozent seiner Bevölkerung10. Seine großen Ströme wurden internationalisiert, das Rheinland mit den Brückenköpfen Köln, Koblenz, Mainz und Kehl wurden als Bürgschaft besetzt, um die gewaltigen Sachlieferungen jederzeit erzwingen zu können. Damit wurde Deutschland als größter Konkurrent Englands und Frankreichs vor dem Krieg wirtschaftlich deklassiert11. Zu guter Letzt 7 Das Zitat findet sich bei Wintzer, Deutschland, 156. 8 Vgl. Troeltsch, Schulddogma. Diesen Artikel veröffentlichte er am 19.6.1919 unter seinem Pseudonym „Spektator“. Der Begriff „Schulddogma“ kehrt bei Troeltsch bis zu dessen Tod wieder, so z. B. 1923 in ders., Naturrecht, 493. 9 Die deutsche Forderung nach einer internationalen, möglichst neutralen Schuldfragenkommission wurde zurückgewiesen, in der Schuldfrage waren somit Kläger und Richter identisch. Zur Kriegsschuldfrage vgl. Eksteins, Deutschland, 5. 10 Im Einzelnen ging Nordschleswig an Dänemark, der Großteil der Provinzen Westpreußen und Posen sowie das oberschlesische Kohlerevier und kleinere Grenzgebiete Schlesiens und Ostpreußens an Polen. Außerdem ging das Hultschiner Ländchen an die neu gebildete Tschechoslowakei. Im Westen ging Elsaß-Lothringen an Frankreich, und Belgien erhielt das Gebiet Eupen-Malmedy mit einer überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung. Darüber hinaus wurde der gesamte reichsdeutsche Kolonialbesitz sowie Danzig und das Saargebiet, das wirtschaftlich zu Frankreich geschlagen wurde, dem neugegründeten Völkerbund unterstellt. Der von Rest-Österreich mit dem Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker angestrebte Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich wurde im Vertrag von Saint-Germain untersagt. 11 „Die Gebietsabtretungen führten zu einem Verlust von 50 Prozent der Eisenerzversorgung, 25 Prozent der Steinkohleförderung, 17 Prozent der Kartoffel- und 13 Prozent der Weizenernte. […] Sofort waren 60 Prozent der deutschen Kohleförderung abzuliefern, und zwar zehn Jahre lang, des weiteren 90 Prozent der deutschen Handelsflotte, fast alle modernen Lokomotiven und vieles anderes mehr.“ (Michalka, Außenpolitik, 306). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wurde Deutschland angesichts hochgerüsteter Nachbarstaaten militärisch praktisch wehrlos gemacht12. Die deutsche Erwartung, die eigene Entwaffnung sei als Anfang einer allgemeinen internationalen Rüstungsbeschränkung zu sehen, wurde bitter enttäuscht13. Indem das Deutsche Reich, das am 11. November 1918 seine bedingungslose Kapitulation unterschrieben hatte und dem ultimativ mit der kompletten militärischen Besetzung durch die Siegerstaaten gedroht wurde, zur Unterschrift unter das Vertragswerk, zu dem es selbst keinen Beitrag leisten durfte und nicht gehört wurde, gezwungen wurde, begab es sich selbst notgedrungen in die militärische, finanzielle und vor allem moralische Abhängigkeit von den Siegermächten14. Gerade im Blick auf die vergangenen Friedensschlüsse nach europäischen Kriegen musste der den Deutschen oktroyierte Versailler Vertrag als etwas vollkommen Neues vorkommen15, konnte dieser Friede somit auch – in Abwandlung des bekannten Clausewitz-Zitats16 – vielen in Deutschland als eine bloße Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erscheinen17. Sich mit den zur 12 Nur zu recht hatte der damalige britische Premierminister David Lloyd George, als er in seinem Memorandum zum Versailler Vertrag am 25.3.1919 prophezeite: „Man mag Deutschland seiner Kolonien berauben, seine Rüstung auf eine bloße Polizeitruppe und seine Flotte auf die Stärke einer Macht fünften Ranges herabdrücken; dennoch wird Deutschland zuletzt, wenn es das Gefühl hat, daß es im Frieden von 1919 ungerecht behandelt worden ist, Mittel finden um seine Überwinder zur Rückerstattung zu zwingen.“ (zit. nach Schwabe, Quellen, 156 f.). 13 Vgl. den „Bericht über die Jahresversammlung der Deutschen Vereinigung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen in Hamburg vom 1. bis 3. Juni 1931“, in dem es heißt, „wie schwer es ist, nach 12jähriger Wartezeit in steter wachsender Volksnot immer wieder Rücksicht nehmen zu sollen auf ein Ausland, das soviel versprochen und so wenig gehalten. Das gilt im besonderen von der Frage der Abrüstung.“ Der Bericht ist abgedruckt in: Die Eiche 19 (1931), Nr. 3, 335. 14 Zu den Umständen der Verhandlungen und der erzwungenen deutschen Unterschrift resümiert Wintzer, Deutschland, 70: „Den Anspruch auf Fairneß und Gerechtigkeit, den die Sieger für sich in Anspruch nahmen, stellten sie durch ihre Verhandlungsführung selbst in Frage.“ 15 So zitiert Althaus 1923 den Theologen Johannes Lepsius mit den Worten: „Angesichts des zweiten Versailles überkommt den Leser der deutschen Akten zum Frankfurter Frieden die schmerzliche Überzeugung, daß Courtoisie und Ritterlichkeit von Siegern gegenüber Besiegten romantische Vorstellungen eines untergegangenen Abendlandes sind.“ (2305 Staatsgedanke, 45 f., Anm. 1). Kurz, Denken, 52 verweist beim Sieg über Frankreich 1871 auf die deutsche „Achtung vor dem (geschlagenen) Gegner“, dem „zumindest verbal Respekt gezollt“ wurde. 16 Carl von Clausewitz war preußischer General und Militärtheoretiker, seine Definition von Krieg lautete: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (ders., Kriege, 1. Kap.). 17 Vgl. Funke, Republik, 12; und Michalka, Außenpolitik, 307. Diese Auffassung wurde auch in deutschen Kirchenkreisen – unabhängig von der politischen Haltung des Einzelnen – von einer Mehrheit vertreten. So schreibt der Religiöse Sozialist Gustav von Rohden 1925: „Die große Kriegslüge von der alleinigen Schuld Deutschlands an dem Zusammenprall, dies besonders wirk© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Verfügung stehenden Mitteln dagegen zur Wehr zu setzen, erschien als erste Bürgerpflicht. Die bei vielen Deutschen vorherrschende und vor und während des Krieges durch fortwährende Regierungspropaganda vertiefte Überzeugung, das Deutsche Reich und sein zum „Friedenskaiser“ hochstilisierter Monarch Wilhelm II. führe einen reinen Verteidigungskrieg gegen eine Welt von kriegs- und annexionslüsternen Feinden18, konnte durch die Art und Weise, wie die Entente-Mächte mit dem Deutschen Reich Frieden schlossen nur noch mehr gestärkt werden19. Zu einer nüchternen Selbstkritik der eigenen aggressiven und risikobereiten Machtpolitik der deutschen Regierung vor und bei Ausbruch des Krieges trug der Versailler Vertrag dadurch wenig bei20. Ein Übriges taten die unübersehbaren Folgen der britischen Seeblockade gegen Deutschland, die im November 1914 völkerrechtswidrig begonnen wurde, nach dem Waffenstillstand im November 1918 aber nicht beendet, sondern bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages im Sommer 1919 fortgesetzt same Kriegsmittel der Gegner, darf nicht dauernd einen ehrlichen Frieden aufhalten, sich nicht in der Völkergeschichte durchsetzen“ (ders., Politik, 414 f.). Althaus schreibt dazu: „Die einseitige, vor aller ernstlichen Aussprache geschehene Verurteilung unseres Volkes und seiner Führer […] bedeutet nichts anderes, als eine frevelhafte Verewigung und Kriegslüge und damit das Fortschleppen des Krieges in den ‚Frieden‘ hinein.“ (1809 Gewissen, 28). 18 Dazu schreibt Mommsen, Urkatastrophe, 35 f.: „Die loyale Haltung der breiten Schichten der Bevölkerung, einschließlich auch der Industriearbeiterschaft, ging nicht zuletzt auf die geschickte Strategie der Reichsleitung zurück, die in der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt hatte, daß das friedliebende Deutsche Reich von Rußland und Frankreich überraschend mit Krieg überzogen worden war, nur weil es sich in der serbischen Frage loyal hinter seinen Bundesgenossen gestellt habe. Diese Auffassung verfestigte sich noch mehr, als dann am 4. August auch Großbritannien in den Krieg eintrat […]. Die Parole vom aufgezwungenen Verteidigungskrieg erleichterte die Mobilisierung aller Schichten der Bevölkerung, unter Einschluß auch der Arbeiterschaft. […] Die Sozialdemokratie stimmte den Kriegskrediten am 4. August 1914 unter dem Vorbehalt zu, daß das Deutsche Reich einen Verteidigungskrieg führe, der beende werden müsse, sobald ‚das Ziel der Sicherung erreicht‘ sei.“ Das gleiche Phänomen beschreibt Berghahn, Weltkrieg, 64: „Erstens glaubten sie alle – gleich welcher Nation sie auch angehörten –, daß ihr Land das angegriffene war. Selbst wenn wir heute wissen, daß die Eskalation der Krise bis zum Weltkrieg in erster Linie von den Entscheidungsträgern in Wien und Berlin ausging, waren die Deutschen und Österreich-Ungarn durchweg überzeugt, von den anderen Großmächten in einen Verteidigungskrieg gestürzt worden zu sein. Diese Überzeugung dominierte mutatis mutandis auch die Einstellung der Franzosen, Russen und Engländer.“ 19 Zum Verhältnis der deutschen Sozialdemokratie zum Versailler Vertrag schreibt Ruppert, Nationalismus, 192 f.: „Die Mehrheitssozialdemokraten sahen die stark umstrittene Bewilligung der Kriegskredite und ihre Burgfriedenspolitik gerechtfertigt, da es nun offenbar sei, daß Deutschland einen Verteidigungskrieg gegen den Vernichtungswillen seiner Feinde geführt habe.“ 20 So urteilt Schäfer, Beurteilung, 13 f.: „Die sachliche Friedensbemühung und Ursachenerklärung trat also auf alliierter Seite hinter der moralischen Verurteilung zurück. […] Und so erhielten die Forderungen nicht einfach Schadensersatzfunktion, sondern bekamen ausgesprochenen Strafcharakter, gegen den sich Deutschland moralisch empörte.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wurde21. Dass Deutsche noch nach den Kampfhandlungen an den Folgen der nicht beendeten alliierten Blockade gegen die deutsche Zivilbevölkerung sterben mussten, steigerte die Verbitterung in Deutschland noch zusätzlich. Dass der Versailler Vertrag eine ungeheure Ungerechtigkeit gegenüber den Kriegsverlierern implizierte und dadurch die Bezeichnung „Friedensvertrag“ nicht ohne weiteres verdient, wurde im Lauf der Zeit auch von alliierter Seite zugegeben. Einen großen Beitrag zur Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner hat die ökumenische Bewegung geleistet. So bezieht die Weltkirchenkonferenz von Oxford im Juli 1937 in ihrer „Botschaft an die christlichen Kirchen“ in deutlichen Worten Stellung gegen den Versailler Vertrag, der als „Scheinfrieden, der in Wirklichkeit ein kaum verhüllter Kriegszustand ist“ bezeichnet wird.22 Es nimmt wenig Wunder, dass der sogenannte „Diktatfrieden von Ver sailles“23 in bislang nicht gekannter Einigkeit von allen politischen Gruppierungen im Reich, von ganz rechts bis ganz links, radikal abgelehnt wurde24. Eine auf Revision – wohlgemerkt: nicht Revanche – gerichtete Außenpolitik war Grundkonsens der systemstabilisierenden Parteien der Weimarer Republik25. 21 Obwohl Lieferungen an die wirtschaftlich importabhängigen Mittelmächte nie ganz unterdrückt werden konnten, war die Seeblockade sehr wirksam und führte im Deutschen Reich zu bedrohlichem Rohstoffmangel und Lebensmittelknappheit. Aufgrund der Aussichtslosigkeit, die britische Sperre im offenen Seekrieg zu bekämpfen, forderte die deutsche Marineleitung bald den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Die wirtschaftliche Kriegführung wurde damit von beiden Seiten gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, um den militärischen Erfolg zu erzwingen. Insgesamt erwies sich die britische Seeblockade dabei als sehr wirksame und dauerhafte Waffe gegen die deutsche Wirtschaft und gegen die notleidende Bevölkerung, für die sie zur „Hunger blockade“ wurde. Die Blockade wurde nach dem Krieg noch dadurch verschärft, dass das Deutsche Reich seine Handelsflotte ausliefern musste. Im Krieg und danach starben in Deutschland rund 750.000 Menschen an Unterernährung und an deren Folgen. 22 Zit. nach Greschat/Krumwiede, Zeitalter, 139. 23 Diese Wortwahl hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im Ausland eingebürgert; vgl. Barth, Kooyman, 120. Im gleichen Brief führt Barth den Nationalsozialismus überhaupt auf die Fehler von Versailles zurück: „Die Schuld daran, daß soetwas wie der Hitlerismus mitten in Europa möglich und wirklich geworden ist, ist gewiß eine gemeinsame Schuld aller europäischen Völker, Menschen und Regierungen. Und es ist wiederum wahr, daß diese gemeinsame Schuld die primäre Ursache des gegenwärtigen Krieges ist.“ (ebd., 119). 24 Über die Ablehnung von Seiten der extremen Linken schreibt Heidorn, Geschichte, 208: „Seit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages forderte die KPD seine Annullierung. […] Lenin charakterisierte den Versailler Vertrag wiederholt als Raubfrieden und Ausdruck schlimmster imperialistischer Machtpolitik. Er wies nach, daß der Vertrag die nationale Unterdrückung eines ganzen Volkes bedeutete.“ 25 Zu diesem Grundkonsens und zur Revisionspolitik der Weimarer Koalitionen vgl. Ruppert, Nationalismus, 191–211. Über SPD und Zentrum schreibt er: „So wenig wie alle anderen wollten sich die beiden Parteien mit diesem ‚brutalen Diktat‘ abfinden, dem noch nicht einmal die links liberalen Pazifisten zuzustimmen gedachten, da sie in ihm eine dauernde Quelle des Völkerhasses erblickten“ (ebd., 194). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Verarbeitung der deutschen Niederlage und des Versailler Vertrages
Auch in der evangelischen Kirche war die Ablehnung des Vertragswerks einhellig26. Mehr noch als bei der Kriegsbegeisterung im August 1914 herrschte nun nahezu vollkommene Ablehnung der Friedensbestimmungen, die Deutschland in Versailles oktroyiert worden waren. Während sich die Eliten des Reiches zu Beginn des Krieges zu einem „Burgfrieden“ verpflichtet hatten, der aber in der Frage nach einem Sieg- oder Verständigungsfrieden während des Krieges aufbrach, wusste man sich nach dem Krieg in der Ablehnung des Versailler Vertrages wieder in einer gemeinsamen Phalanx. Der Kampf gegen Versailles, gegen „Kriegsschuldlüge“ und Ausbeutung war gleichsam die „Integrationsklammer der politischen Kultur Weimars“27. Die Folge davon war, dass man den neuen Staat der Weimarer Republik bzw. seine Staatsform der parlamentarischen Demokratie in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung als „Ausgeburt“ des Versailler Vertrages betrachtete und der jungen deutschen Demokratie damit Zeit ihres Lebens dieser gravierende Makel anhaftete, den sich schließlich die nationalsozialistische Bewegung zu Nutze machen sollte. Nicht die Repräsentanten des besiegten deutschen Kaiserreichs waren 1919 gezwungen, das Friedensdiktat zu unterzeichnen, sondern die Vertreter des neuen Deutschlands. Nachdem die „unrealistische Annahme, dass einer parlamentarischen Regierung ein Wilson’scher Friede zuteil werden würde, […] die Demokratisierung Deutschlands wesentlich begünstigt“ hatte28, war das Entsetzen in Deutschland darüber, dass auch einer deutschen parlamentarischen Demokratie nach westlichem Muster ein solcher „Schandfrieden“ diktiert wurde, umso größer und nachhaltiger. Fatal für die junge deutsche Republik sollte sich auch die von alliierter Seite bewusst offen gehaltene Reparationsfrage auswirken, so Albert Schäfer: „Die dreizehn Jahre anhaltende außenpolitische Auseinandersetzung um die Reparations-Frage hatte im Innern zur Folge, daß ständig wieder die Niederlage ins Gedächtnis gerufen und das Freund-Feind-Schema vor allem bei der rechten nationalen Opposition wachgehalten wurde, mit der innenpolitischen Komponente des Kampfes gegen die sogenannte Erfüllungspolitik.“29 26 Zu den bei den mehrheitlich nationalprotestantisch geprägten Kirchenmännern kaum verwunderlichen politischen Gründen trat zusätzlich noch eine aus reinen Kircheninteressen sich speisende Ablehnung der Versailler Bestimmungen. So betrafen die umfangreichen Gebietsverluste große Territorien der altpreußischen Unionskirche; zudem wurde die deutsche christliche Mission in Afrika und Asien durch den sogenannten „Missionsparagraphen“, d. h. Artikel 438 des Versailler Vertrages, erheblichen Einschränkungen unterworfen und von den Siegermächten abhängig; vgl. Bormuth, Kirchentage, 200. 27 Heinemann, Last, 385. 28 Lüdicke, Staatenwelt, 28. 29 Schäfer, Beurteilung, 21. Auch nach Funke, Republik, 13 säte besonders die Reparationspolitik der Sieger Zwietracht unter die Deutschen, „spaltete sie in Verweigerer- und sogenannte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Versailles als Bürde für Weimarer Republik und Völkerbund
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Diesen Kampf führten die rechten und rechtsradikalen Kreise mit allen Mitteln, die Revision des Versailler Vertrages war ihr Hauptanliegen. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war die Überwindung von Versailles ihre außenpolitische Maxime, die schließlich 1939 in einen zweiten Weltkrieg gipfeln sollte30. Abgesehen von den psychologischen Folgen für die gedemütigten Deutschen hatte die Reparationspolitik der Siegermächte heute kaum vorstellbare volkswirtschaftliche Auswirkungen auf das besiegte Deutsche Reich und seine Bevölkerung: Ein gegen Deutschland verhängter Exportboykott, verbunden mit hohen Importzöllen der westlichen Länder und der Enteignung der deutschen Handelsflotte, machte es dem Verlierer unmöglich, seine Reparationsleistungen mit Hilfe von Außenhandelsüberschüssen zu finanzieren; Auslandskredite mit hohen Zinssätzen mussten aufgenommen werden. Dies alles erschwerte die strukturelle Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft in Deutschland erheblich. Zusätzlich wurde die demütigende Abhängigkeit Deutschlands von den Alliierten durch die Überwachung der Reichsbank durch einen ausländischen Notenkommissar offenbar31. Zu guter Letzt wurden die deutsche Wirtschaft und damit auch das vorhandene bescheidene soziale Netz dadurch ruiniert, dass die deutsche Regierung als Teil ihrer „Erfüllungspolitik“ – gerade im Zuge des passiven Widerstands gegen die Ruhrbesetzung 1923 – durch eine „wilde Betätigung der Notenpresse“ bewusst eine Hyperinflation in Kauf nahm, „welche die wirtschaftliche Basis breiter Schichten des Bürgertums vernichtete und die man – gleichsam als zweite Niederlage – ebenfalls dem neuen ‚System‘, wie die Weimarer Republik von ihren Gegnern verächtlich genannt
Erfüllungspolitiker.“ Er spricht davon, dass der „Versailler Vertrag und seine problematische Umsetzung […] den Ersten Weltkrieg allgegenwärtig“ machten (ebd., 11). „Die Entente schien ohne Gespür für die sich aufbauende Protestgewalt in Deutschland und trieb ihre Politik der Nadelstiche und Demütigungen weiter.“ (ebd., 14). Im März 1921 besetzten französische Truppen „wegen ausstehender Lieferungen Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort. Es war ein Vorgeschmack auf die zu erwartenden Sanktionen, wenn Deutschland die am 27. April in London von der Reparationskommission festgesetzte Schuldsumme von 132 Milliarden Goldmark nicht akzeptieren sollte. […] Am 28. März 1922 mußte Deutschland den Hapag-Dampfer ‚Bismarck‘, das damals […] größte Schiff der Welt, an England übergeben“, nachdem es bereits Luftschiffe an Frankreich und Italien liefern mußte (ebd.). 30 So schreibt Barth im Dezember 1939: „Die Ursachen des gegenwärtigen Krieges liegen in den internationalen Entscheidungen von 1919.“ (Barth, Frankreich, 109; vgl. ebd., 110.114). 31 Vgl. Funke, Republik, 14. Dazu schreibt Churchill, Zeitgenossen, 308 im Rückblick 1935: Eine „Interalliierte Kontrollkommission“ überwachte „mehrere Jahre hindurch Deutschlands innere Finanzen, was die furchtbare Verbitterung im Herzen des besiegten Volks wachhielt und verewigte.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wurde, in Rechnung stellte.“32 „Die Präsenz der Sieger auf deutschem Boden, die ökonomische Knebelung durch Reparationen und antideutsche Importsperren, die Bezahlung deutscher Schulden mit von den Gläubigern fortwährend geliehenem Geld führten zu einer inneren Frontbildung gegen die jeweilige deutsche Regierung“33 und damit gegen die Weimarer Republik als Ganze. Für zusätzliches Konfliktpotential sorgte im Verhältnis zwischen Deutschem Reich und Siegerstaaten die unklare Rolle des neugegründeten „Völkerbunds“, dessen Satzung Teil des Versailler Vertrages war und der im Januar 1920 seine Arbeit aufnahm. Bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Deutschland und dem Völkerbund, genauer zwischen deutscher Außenpolitik und deutscher Öffentlichkeit einerseits und dem Völkerbund als Versuch einer friedenssichernden Neuordnung der Welt nach dem verheerenden Weltkrieg andererseits, fällt eine große Problematik sofort ins Auge: die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen dem beabsichtigten Ideal und der tatsächlichen Realität. Das Ideal, wie es der amerikanische Präsident und maßgebliche Initiator des Völkerbunds in Genf, Woodrow Wilson, in seinem 14-Punkte-Programm im Januar 1918 formuliert hatte, sah ein Zusammenleben der Völker auf den völkerrechtlichen Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Anerkennung der Souveränität der Staaten, Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit vor. In der Realität jedoch setzten die Siegerstaaten des Weltkriegs als Weltmächte einseitig ihre Interessen auf Kosten der Verliererstaaten durch34, und dem Deutschen Reich blieb der Beitritt zum Völkerbund und damit ein internationales Forum für seine Interessen jahrelang verwehrt35. Dazu heißt es bei Wintzer: „Die Mehrheit der Deutschen begrüßte 1918/19 Wilsons Vision einer Friedensordnung aufrichtig. Die Gründung eines Völkerbundes versprach einen solidarischen 32 Funke, Republik, 14. Er gibt zu bedenken, dass die Währungssanierung mittels der Rentenmark und die Annahme des Dawes-Planes über die vorläufige Regelung der Reparationsfrage ab 1924 zwar „eine ökonomische Scheinblüte“ erbrachte, „aber keine Befreiung von der Vormundschaft der Sieger“, weil die deutsche Reichbank weiterhin von einem ausländischen Notenkommissar kontrolliert wurde. 33 Ebd., 15. 34 Zur Einseitigkeit in der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Siegerstaaten, wie sie vor allem in Südtirol, Österreich, Oberschlesien und dem Sudentenland offenbar wurde, vgl. Ruppert, Nationalismus, 183–185; und Lüdicke, Staatenwelt, 29 f. 35 Lüdicke, Staatenwelt, 27 f. stellt dazu fest: „Dass Deutschland – wie seine ehemaligen Verbündeten auch – nicht von Beginn an beteiligt wurde, war ein schwerwiegender Geburtsfehler, denn diese Diskriminierung kam gewissermaßen einer Verlängerung der in Sieger und Besiegte gespaltenen Nachkriegsordnung in jenes Gremium gleich, das doch seiner Grundidee nach die gleichberechtigte Beteiligung aller Staaten an internationalen Entscheidungen vorsah. Die Verletzung, ja Selbstwiderlegung des universalen Prinzips zeigte das Grundproblem des Völkerbunds.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas, die gleichberechtigte Integration Deutschlands in das internationale System, die Legitimierung des Übergangs von der Monarchie zur Republik sowie die Gewißheit, die eigene historische Erinnerung über den Sinn des Weltkrieges in die gemeinsame Erinnerung der Weltkriegsteilnehmer einbringen zu dürfen. Indem die Sieger die deutsche Demokratie von den Verhandlungen ausschlossen und die Aufnahme in den Völkerbund verweigerten, fielen diese Vorteile weg. Die Haltung zum Völkerbund schlug von Euphorie in Aversion und Distanz um.“36
Betrachtet man die in dieser Zeit in Deutschland herrschende Meinung über den Völkerbund, so muss man sich bewusstmachen, dass die deutsche Öffentlichkeit in ihrer katastrophalen innen- und außenpolitischen und wirtschaft lichen Lage nicht das Ideal, sondern die Realität vor Augen hatte. Dass eine aus nahezu allen politischen Lagern kommende, vernichtende Meinungsbildung alles tat, um die Situation so schwarz wie möglich zu malen, bedarf kaum einer Erwähnung37. Strukturell ausgedrückt, handelt es sich bei diesem Gegensatz zwischen Ideal und Realität um die Unvereinbarkeit zwischen „Genfer System“ und „Versailler System“38. Das „Versailler System“ stellte die de facto von den Siegermächten des Weltkriegs aufgrund ihrer Machtstellung mit dem Versailler Vertrag inaugurierte neue Weltordnung dar, die in der Folgezeit das kommunistische und deswegen zu isolierende Russland vollkommen außen vor ließ und das besiegte Deutschland als zu bestrafenden und unschädlich zu machenden Feindstaat betrachtete. „Die Geltungsgründe, nach denen Macht und Einfluß im Versailler System legi timerweise ausgeübt wurden, waren der Glaube der Sieger an die zivilisatorische Überlegenheit gegenüber dem rückständigen, ‚barbarischen‘ Deutschland, die deutsche Kriegsschuld und das Siegerrecht. Diese Siegermentalität ließ kaum Raum für 36 Wintzer, Deutschland, 563 f.; vgl. ebd., 143–148. 37 Aus nationalen Gründen, die auch Althaus vertritt, lehnten rechte und rechtsradikale Kreise und Parteien den Völkerbund ab; aus internationalen Gründen lehnten linke und linksradikale Kreise und Parteien wie SPD und USPD ihn als „Weltfriedensidee des Imperialismus“ ab (vgl. Mai, Kapitalismuskritik, 250–253). 38 Ich übernehme die Begriffe von Wintzer, Deutschland. Für das Folgende vgl. ebd., 60–73. Dass diese Unvereinbarkeit auch schon damals im neutralen Ausland so gesehen wurde, zeigt eine rückblickende Äußerung Barths aus dem Jahr 1940, wo er einem niederländischen Pfarrer im Hinblick auf den neuerlichen Krieg erklärt, dass er 1920 bei der Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund aufgrund des „Diktatfriedens“ von Versailles mit Nein votierte: „An jenem Diktatfrieden als solchem und also an der Kriegsursache [für den Zweiten Weltkrieg] […] war aber die Schweiz […] nicht beteiligt. Man hat uns nicht um unsern Rat gefragt und wir wurden auch hinsichtlich des ganz an jenem Friedensdiktat orientierten Völkerbund vor ein fait accompli gestellt (ich bin darum auch 1920 in der Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz in den Völkerbund gegen diese Sache gewesen).“ (Barth, Kooyman, 120). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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öffentlich artikulierte Selbstzweifel, insbesondere da nationalistische Koalitionen in Frankreich und Großbritannien die sozialistische Opposition (auch) mit einem antideutschen Wahlkampfprogramm in Wahlen besiegt hatten. Problematisch an dieser Mentalität war, daß die Sieger von den Verlierern erwarteten, daß sie die Bestimmungen des Friedensvertrages als gerecht und fair anerkannten. Den Verlierern wurde das Recht abgesprochen, sich als ‚Opfer‘ wahrzunehmen.“39
Das „Genfer System“ konstituierten die oben genannten idealistischen Prinzipien der Völkerbundsatzung, die integraler Bestandteil des Versailler Vertrages und der anderen Friedensverträge waren. Der Völkerbund hatte somit die Funktion, diese auszuführen, das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Nationen zu fördern und den Krieg als Mittel der Politik zu ächten. Große Bedeutung für das Deutsche Reich gewann der Völkerbund in den ersten Nachkriegsjahren vor allem durch Territorialbestimmungen des Versailler Vertrags. Er übernahm die formale Verantwortung der ehemaligen deutschen Kolonien, des von Frankreich verwalteten Saargebiets und Oberschlesiens sowie die Aufsicht über die Freie Stadt Danzig. Die Arbeits- und Durchsetzungsfähigkeit des Völkerbunds wurde allerdings dauerhaft dadurch geschwächt, dass Deutschland als unterlegenem Feindesland der Beitritt auf Jahre verwehrt wurde und die USA niemals beitraten. „Die Prinzipien des Genfer Systems waren unter den gegebenen Umständen weitaus schwieriger gegen die tragenden Methoden und Normen des Versailler Systems durchzusetzen. […] Die Vermischung von Genfer und Versailler Prinzipien in der Praxis des Völkerbundes schützte die Alliierten vor dem sofortigen moralischen Zusammenbruch der Friedensordnung.“40
Untergraben wurde die Arbeit des Völkerbundes zudem dadurch, dass die alliierten Siegerstaaten die Völkerbundprinzipien mittels ihrer während des Krieges geschaffenen Institutionen, dem Obersten Rat, der Botschafterkonferenz, sowie den alliierten Kommissionen zum Versailler Vertrag zu umgehen wussten41. Setzte die deutsche Kritik am Völkerbund schon 1919 mit der Bekannt 39 Wintzer, Deutschland, 62 f. 40 Ebd., 71. Im Hinblick auf diese Vermischung macht Wintzer hier zudem geltend: „Solange die Ungleichheit und Diskriminierung der Verliererstaaten anhielt, konnten die Mittel- und Kleinstaaten des Völkerbundes niemals sicher sein, ob die Sieger nicht auch dieselben Methoden gegen sie selbst anwenden würden“. 41 Diese Institutionen hatten nach Wintzer gemeinsam, „daß darin, im Unterschied zu dem auf Universalität angelegten Völkerbund, nur die ‚Principal Allied Powers‘ vertreten waren und es keine Möglichkeit für Deutschland gab, ihnen beizutreten. […] Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung der Friedensverträge konnten im kleinen Kreis und ohne Berücksichtigung der Interessen der Staatenwelt und der Verlierer beigelegt werden“ (ebd., 65). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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gabe der Bestimmungen des Versailler Vertrags ein, so trug die Tätigkeit des Völkerbunds in den Folgejahren „nicht dazu bei, das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Weltorganisation zu wecken. Die stillschweigende Hinnahme der fragwürdigen Begleitumstände der ‚consultation populaire‘ in Eupen-Malmédy, die Teilungsentscheidung über Oberschlesien, die den französischen Interessen untergeordnete Verwaltungstätigkeit der Regierungs kommission im Saargebiet und die Untätigkeit bei deutschen Vermittlungsersuchen hätte auch in anderen Ländern den Völkerbund unpopulär gemacht. Die deutsche Kritik am Völkerbund war immer auch eine Kritik am Versailler System. […] Der Völkerbund als Instrument zur Friedenssicherung war in diesen Jahren von geringem Interesse. Solange fremde Truppen auf deutschem Boden standen, der Völkerbund aber trotz der Bemühungen der Reichsregierung nicht als Schiedsinstanz gegen die französische Vertragsinterpretation angerufen werden konnte, schien er seine vornehmste Aufgabe nicht erfüllen zu können.“42
Erst ab 1925 begannen die Siegermächte „fünf Jahre zuvor verweigerte Friedens verhandlungen“ „unter (gleichberechtigter) Beteiligung Deutschlands“ nachzuholen43, was schließlich 1926 in den deutschen Völkerbundbeitritt mündete und die außenpolitische Lage verbesserte. Von all dem blieb der politisch interessierte Theologe Althaus nicht unberührt. Das sich abzeichnende, für Deutschland nichts Gutes versprechende Ergebnis der Friedenskonferenz von Versailles bildet den historischen Hintergrund von Althaus’ früher Darlegung seiner Geschichtstheologie, die er in Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus und dem damit zusammenhängenden religiösen Pazifismus entwickelt.
42 Wintzer, Deutschland, 564. Er schreibt weiter: „Die Versuche der deutschen Völkerbundpolitik zwischen 1919 und 1921, den Völkerbund als Schiedsrichter in den Streitigkeiten mit den Alliierten über die Auslegung des Friedensvertrages und andere Streitfragen einzuschalten, scheiterten am französischen Widerstand“ (ebd., 566). 43 Ebd., 63. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
3. Der Versailler Vertrag und die Frage nach dem Verhältnis von „Pazifismus und Christentum“ – Althaus’ frühe Geschichtstheologie in der Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus
Versailler Vertrag und das Verhältnis von „Pazifismus und Christentum“
Die theologische Arbeit von Paul Althaus, deren späterer Schwerpunkt auf der Apologetik liegen sollte, ist häufig durch Abgrenzungsbemühungen und Auseinandersetzungen mit inner- und außertheologischen Parteiungen, Strömungen und Weltanschauungen motiviert1. Hat er sich während des Krieges mit der sogenannten „Deutschen Frömmigkeit“ auseinandergesetzt2, liegt sein Hauptaugenmerk nach dem Weltkrieg auf dem Religiösen Sozialismus, und zwar zunächst auf dessen pazifistischem Impetus. Bereits während des letzten Kriegsjahres hat sich Althaus in seinen „Leitsätzen zu den Aufgaben des Militär-Geistlichen“ mit der Thematik „Pazifismus und Christentum“ auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen: „Die gegenwärtige pazifistische Bewegung wollen wir nicht bekämpfen, aber auch nicht im Namen des Christentums begrüßen.“ Nun im Februar 1919 befasst er sich ausführlich mit dem Thema „Pazifismus und Christentum“ und schreibt „eine kritische Studie“3 dazu, die in erster Linie der Frage nachgeht, „ob der Christ als Christ zur Mitarbeit bei dem Versuche, die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern zu beseitigen, verpflichtet ist oder nicht“4. Daran schließt sich die Frage an, ob die Kirche aus christlichen Motiven für den Gedanken eines Völkerbundes und für die pazifistische Bewegung eintreten solle. Den Anlass zur Beschäftigung mit solchen Fragen sah Althaus schon 1917 mit der bekannten Friedenserklärung der Berliner Pfarrer gegeben5. Jetzt nach dem Krieg will er 1 Über dieses Phänomen, das Althaus’ methodische Vorgehensweise charakterisiert und damit zum Verständnis gerade seiner politischen Theologie beitragen kann, äußert Tilgner, Volksnomostheologie, 182: „Althaus entwickelt seine theologischen Thesen in der ständigen Abwehr gegnerischer Positionen, nimmt deren Thematik jedoch in einem neutralisierten und entschärften Zustand in seine eigene Theologie auf. Daher gewinnt das theologische Denken bei Althaus das Aussehen einer irenischen, die Extreme versöhnenden Haltung, allerdings mit der Folge, daß seine eigene Auffassung dem theologischen Radikalismus oft zu unkritisch gegenübergetreten ist.“ 2 Vgl. Liebenberg, Gott, 363–367. 3 So der Untertitel von 1902 Pazifismus. Der Aufsatz wurde zwar erst im September 1919 in der „Neuen Kirchlichen Zeitschrift“ veröffentlicht, geschrieben wurde er aber nach eigenen An gaben (ebd., 478) bereits im Februar, also noch vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages. 4 1902 Pazifismus, 430. Hervorhebung von mir. 5 So schreibt er im Februar 1919 im Rückblick über die pazifistische Erklärung, die am 17.10.1917 fünf Berliner Pastoren um Karl Aner unterzeichneten: „Ihnen schlossen sich viele Hunderte von Pastoren und Laien in ganz Deutschland an. Es darf nicht übersehen werden, daß viele Laien, sowohl im Felde wie in der Heimat, diese Erklärung mit tiefem Aufatmen begrüßt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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dem Problem intensiver nachgehen, weil für ihn der Pazifismus eine ernsthafte Herausforderung an Theologie und Kirche darstellt: „Wir werden in den nächsten Jahren mit einer starken pazifistischen Bewegung im deutschen Volke zu rechnen haben. Auch an die evangelische Kirche wird man immer wieder herantreten und sie für das Ideal des Weltfriedensreiches beanspruchen. Es mag eine schwere Stunde der Entscheidung für uns sein, denn die Volkstümlichkeit der Kirche würde durch ihr Eintreten für die pazifistische Losung gewaltig steigen. Damit wir guten Gewissens unsere Stellung einnehmen können, ist klare prinzipielle Besinnung heute eine drängende Pflicht.“6
Dieser Pflicht stellt sich Althaus 1919 mit seinem Aufsatz, der seine Grundgedanken zu dem Thema entfaltet, die er bereits im März 1919 als Leiter des Predigerseminars auf der Erichsburg in Form von Rezensionen veröffentlicht hat.7 Der Text ist in mancherlei Hinsicht aufschlussreich, werden doch hier viele unterschiedliche Themen in der Frühphase von Althaus’ Schaffen angesprochen, die später noch von Bedeutung sein werden. Zunächst handelt es sich – neben der Verarbeitung der Kriegsniederlage – um eine Auseinandersetzung mit dem religiösen Pazifismus sowie mit dem Religiösen Sozialismus. Es findet sich eine erste größere Darlegung seiner Geschichtsphilosophie bzw. -theologie ebenso wie erste, noch unscharfe Ansätze einer Ordnungstheologie. 3.1 Paul Althaus, der Religiöse Sozialismus und die christlich-soziale Bewegung Wenn sich Althaus mit dem ab der Jahrhundertwende besonders in der Schweiz beheimateten Religiösen Sozialismus – Althaus schreibt anfangs von den „Religiös-Sozialen“ – beschäftigt, so hat er in erster Linie den Schweizer Theologen Hermann Kutter8 und dessen Theologie im Blick, dem er „einen aggressiven aben als ein längst erwartetes und schmerzlich vermißtes Wort im Namen des Christentums.“ h (1902 Pazifismus, 431). Die „Erklärung von fünf Berliner Pfarrern“ ist abgedruckt in: Greschat/ Krumwiede, Zeitalter, 9. 6 1908R Hirsch, 111. 7 Vgl. 1905R Kutter; 1906R Kremers; 1907R Cordes; 1908R Hirsch. 8 Kutter war neben Leonhard Ragaz der Begründer des dortigen religiösen Sozialismus. Unter dem Eindruck der Zusammenschau von christlicher Reichgotteserwartung, zeitgenössischer Lebensphilosophie, sozialistischen Zukunftsglaubens sowie der Philosophie des deutschen Idealismus kam er zu einer dynamischen Gottesvorstellung: Gott, der in Christus Mensch und Welt „in unendlicher Realität durchdringt“, ist die „einzige Lebensrealität“. Mit dieser „theozentrischen Theologie“ hat Kutter der Dialektischen Theologie vorgearbeitet. In der Geschichte der Menschheit vollzieht sich für ihn „die Rückkehr zum unmittelbaren Leben“, wofür ihm auch der Sozialismus © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Idealismus der Praxis“9 attestiert, der im Namen von Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe dem Götzendienst von Mammonismus und Nationalismus den Kampf ansage. Mit Hilfe von Sozialismus bzw. Sozialdemokratie wolle er dem Reich Gottes auf Erden als der neuen Wirklichkeit zum Durchbruch verhelfen. Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus sind Althaus’ Vorbehalte gegenüber einem auf die Sittlichkeit bezogenen Fortschrittsoptimismus, den er als eine „vom Entwicklungsgedanken beherrschte Geschichtsphilosophie“ ablehnt10. Wie schon in früheren Schriften angedeutet11, hat Althaus eine differenzierte Sichtweise auf die religiös-sozialistische bzw. religiös-soziale Bewegung. Lehnt er sie im Großen und Ganzen und insbesondere in der pazifistischen Frage als „Schwärmertum“ ab12, so kann er sie andererseits in der sozialen Frage als vorbildhaft bezeichnen. So zeigt sich Althaus zunächst überzeugt davon, dass auch lutherische Christen „von Kutter manches lernen könnten: Der gute und fromme lutherische Respekt vor der Wirklichkeit, in die Gott uns gestellt und an die er uns gewiesen hat, ist manchmal zu einem trägen Konservatismus oder ‚Fatalismus‘ entartet, der die konkreten Institutionen und Verhältnisse des Weltlebens, auch die offenkundig durch Sünde und Unrecht verderbten, hinnimmt wie sie sind – als starre Unabänderlichkeit. Kutters Buch und manche andere Schrift der Religiös-Sozialen kann auch uns kirchlichen Christen einen Dienst tun: die bitteren Anklagen gegen die herrschende Sachen- und Mammonskultur können uns für viele Dinge den Blick kritischer, das Gewissen unruhiger und den Willen zur christlichen Tat drängender machen.“13
Indem Althaus diese Punkte, die vor allem den Problemkreis der sozialen Frage betreffen, anerkennend hervorhebt, gibt er selbst seine eigene Fähigkeit zur ein Zeichen ist. Diese Rückkehr zur Unmittelbarkeit ist aber für Kutter zugleich Sinn und Ziel des Christentums. Die Sozialdemokraten sind für ihn Werkzeuge des lebendigen Gottes; „sie müssen“ im Dienste Gottes, ohne daß sie es selbst wissen, der Welt das Gericht und die große Wende verkündigen (nach Dienst, Kutter). 9 1902 Pazifismus, 432. 10 1902 Pazifismus, 469. Schwarke, Althaus, 141 führt diese Vorbehalte auf „die Erfahrung des verlorenen Krieges“ zurück, die ihn „wie viele andere […] von der Identifikation der Weltgeschichte mit Gottes Willen fortgeführt“ habe, und folgert daraus: „Jeder ethisch motivierte Fortschrittsgedanke ist Althaus von da an suspekt.“ 11 Vgl. 1808 Männern, 636. 12 So wirft er ihnen vor, sie suchten „den Sinn des Evangeliums und die Nachfolge Jesu darin, diese Welt in allen ihren Verhältnissen zum Reiche Gottes umzugestalten“ (1902 Pazifismus, 431). 13 1902 Pazifismus, 434. Vgl. seine Rezension zu Kutter (1905R Kutter). Das Althaussche Lernen von Kutter schlägt sich bis in seine Sprache nieder, wenn er die Kritik an der „Sachenkultur“ übernimmt. So heißt es in einer Althausrede 1929: „Wir Menschen des 20. Jahrhunderts spüren irgendwie alle, daß die Sachen stärker werden wollen als wir“ (2917 Christentum, 135). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Kritik einer scheinbaren Eigengesetzlichkeit der Welt und ihrer „konkreten Institutionen und Verhältnisse“ – man könnte auch sagen: Ordnungen – zu erkennen. Auch an der Staatskritik von Kutter findet Althaus Gefallen: „Seine treffliche Polemik gegen die moderne Überschätzung des Staates und der Bureaukratie wollen wir gerade als Christen ihm danken: ‚der Mensch ist größer als der Staat‘.“14 Nach diesem Lob für die Kritik Kutters an einer Überbetonung des alten Äons und seiner scheinbaren Eigengesetzlichkeiten geht Althaus sogleich zur Kritik über und klagt Kutter und dessen Überbetonung des neuen Äons nun seinerseits „des mangelnden Wirklichkeitssinnes“ an: „Aber der ethische Idealismus wird zur Schwärmerei, wenn er seine Welt baut ohne den Gehorsam gegen die Wirklichkeit, in die Gott uns gestellt hat, ohne Rücksicht auf die Grundgesetze und harten Notwendigkeiten unseres geschichtlichen Lebens.“
Ohne mit seinem eigenen obigen Vorschlag, von Kutter zu lernen, ernst zu machen, schreibt er, „die natürlich-materiellen Bedingtheiten unserer Existenz stellen uns unter Gesetze, die ihr eigenes Recht neben der sittlichen Liebesregel fordern“, d. h. hier gelte „der gegen Gottes Ordnung demütige Respekt“15. Diese frühen Anklänge einer Ordnungstheologie werden schließlich mit Martin Luther und seiner Zwei-Reiche-Lehre begründet. Der Begriff selbst taucht hier zwar noch nicht auf, faktisch geht es aber darum, wenn Althaus mit Luther betont, der Mensch sei „auf Erden […] Bürger zweier Reiche, der rechtlich verfaßten, bürgerlichen, staatlichen Welt mit ihren Eigengesetzen – und des Gottesreiches der Liebe und Freiheit.“16 Dieser „Dualismus unseres Lebens“ werde niemals überwunden werden können und „lebenslänglich als Rätsel“ bestehen bleiben. Es ist ein ambivalentes Verhältnis zum Religiösen Sozialismus, das Althaus hier an den Tag legt. Einerseits solle man auch als Lutheraner von ihm lernen, scheinbare Eigengesetzlichkeiten im Hinblick auf die Sündhaftigkeit irdischer Ordnungen zu hinterfragen. Andererseits dürfe man nicht deren Schwärmertum verfallen, das mit politischer Theologie bzw. theologisch legitimierter Politik das Reich Gottes auf Erden durchsetzen wolle. Strukturell hat Althaus mit seinem Ansatz politischer Theologie eine analoge Vorgehensweise wie die Religiösen Sozialisten, der große inhaltliche Unterschied zwischen beiden liegt im jeweiligen politisch-weltanschaulichen Vorzeichen. Während die einen ihre politische Theologie sozialistisch-international grundieren und ihre christ 14 Ebd., 437. Diesen frühen staatskritischen Zug Althaus’ gilt es zu bedenken, wenn er sich in den 30er Jahren gegen den „totalen Staat“ ausspricht. 15 Ebd., 435. 16 Ebd., 436. Vgl. Schwarke, Althaus, 141 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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lichen Hoffnungen auf die sozialistische Bewegung setzen, hat Althaus’ politische Theologie eine konservativ-nationale Ausrichtung, die ihre christliche Hoffnung auf die nationale Bewegung setzt. Weniger kritisch als die Religiösen Sozialisten beurteilt Althaus die Christlich-Sozialen. Dem Anliegen der christlich-sozialen Bewegung weist Althaus einen Ort jenseits von Schwärmertum und Quietismus zu. Anders als die Religiösen Sozialisten laufe man nicht Gefahr einer „Verwechslung des Reiches Gottes und des Weltfriedensreiches, der unbefugten Inanspruchnahme Jesu und des Neuen Testamentes für den Pazifismus“. Andererseits stellt er fest: „Die Innerlichkeit des Reiches Gottes gibt der Christenheit niemals ein Recht zur Gleichgültigkeit gegen die objektiven Ordnungen und die äußeren Weltverhältnisse.“ Aus diesem Grund betont er den „sozialen Beruf der Christenheit“. Denn die „Innerlichkeit des Reiches Gottes und die klare Einsicht in die Eigengesetzlichkeit der ‚weltlichen‘ Ordnungen“ darf nach Althaus nicht zur Folge haben, „daß der Christ die Verhältnisse des sozialen, staatlichen und Völkerlebens hinnimmt wie sie sind“. Gerade angesichts der realistischen Kenntnisnahme einer „auch durch die Sünde verderbten göttlichen Weltordnung“ erinnert er an den „revolutionären Geist des Christentums“17. Zum ersten Mal verwendet Althaus hier das Wort „Eigengesetzlichkeit“ und zeigt dabei einen differenzierten Gebrauch dieses Begriffs. Einerseits steht für ihn eine Eigengesetzlichkeit der vorfindlichen Ordnungen fest, deren „weltlichen“ Charakter er allerdings durch die Verwendung der Anführungszeichen in Frage stellt. Friedrich Wilhelm Graf zufolge dient der Begriff bei Althaus „als analytische Kategorie für die spezifisch moderne Ausdifferenzierung relativ autonomer Kultursphären.“18 Andererseits kann es für Althaus eine absolute, jeglicher Kritik entzogene Eigengesetzlichkeit nicht geben. Dafür sieht er die Ordnungen zu sehr von Sünde „verderbt“. Vor dem Hintergrund des „Dualismus unseres Lebens“, der daher rührt, dass der Christ, „solange er auf Erden lebt, Bürger zweier Reiche ist“19, kann es für Althaus demzufolge nur eine relative Eigengesetzlichkeit geben, nämlich eine solche, die vom „revolutionären Geist des Christentums“ grundsätzlich hinterfragbar bleiben muss20. Es ge 17 Ebd., 444 f. 18 Graf, Kulturluthertum, 73 f. 19 1902 Pazifismus, 436. An dieser Stelle spricht Althaus von der „rechtlich verfaßten, bürger lichen, staatlichen Welt mit ihren Eigengesetzen“, der er die Welt „des Gottesreiches der Liebe und Freiheit“ gegenüberstellt. 20 Die von Ernst Wolf und anderen geübte Fundamentalkritik an neulutherischer Sozialethik, diese habe einem Quietismus Vorschub geleistet und daher die „Preisgabe des Politischen an die Dämonien“ zu verantworten (Wolf, Selbstkritik, 102), trifft auf Althaus somit nicht zu; vgl. Tanner, Verstaatlichung, X–XV. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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hört gerade zur Ambivalenz Althaus’, dass er sich dieser Tatsache zwar durchaus bewusst ist und sie auch zu Papier bringt, dass er in der Folge allerdings daraus keine nennenswerten Konsequenzen zieht, was an der Frage nach Krieg und Frieden noch deutlich wird21. Christliche Existenz vollzieht sich nach Althaus „in lebendiger Spannung: auf der einen Seite die religiöse Innerlichkeit und Überweltlichkeit des Christen […] – auf der anderen Seite der Wille zur Aktivität auch gegen festgewordene Verhältnisse und eingewurzelte Ordnungen.“22 Diese Spannung im christ lichen Leben sieht Althaus konstituiert durch einen konservativen und einen revolutionären Pol: „Konservatismus und ein ‚revolutionärer Geist‘ im Sinne christlich-sozialer Arbeit liegen darum in gleicher Weise in der Frömmigkeit begründet. Unser Christentum ist gesund nur solange als das Leben des einzelnen und der Kirche sich zwischen diesen beiden Polen bewegt. Jeder Standort für sich allein genommen gefährdet und verzerrt die christliche Art. Jene Innerlichkeit, welche gern die konkreten Verhältnisse als gottgewollt hinnimmt, wird leicht lieblos gegen andere; […] sie übersieht die Organisationskraft der Sünde und ihre Verfestigung in Sitten, Ordnungen, Verhältnissen […]. Jener Geist der Aktivität dagegen hat andere Gefahren: ‚geht er auf in äußerer Vielgeschäftigkeit […], meint er gar […] das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen, so verflacht er unrettbar und wird zur religiös gefärbten Humanität‘“23 Während Althaus in der Frage nach der christlichen Existenz und nach dem sozialen Engagement des Christentums mit den Christlich-Sozialen weitgehend konform geht, trennen sich die Wege in der Frage nach der Friedensarbeit. Während die Christlich-Sozialen „die pazifistische Aufgabe der Christenheit auf gleicher Linie mit der christlich-sozialen, deren Pflichtmäßigkeit außer Frage steht“, sehen, lehnt Althaus an diesem Punkt jegliche Analogie ab. Das Eintreten des Christen für die staatliche Rechtsordnung ist für ihn etwas vollkommen anderes als das Engagement für eine zwischenstaatliche Rechtsordnung. Warum ein solches pazifistisches Engagement, das sich für den Frieden zwischen den Völkern einsetzt, aus Althaus’ Sicht keine christliche Handlungs 21 So hat Graf, Kulturluthertum, 74 mit seiner Einschätzung der genannten Althausschen Textpassage recht, wenn er schreibt: „Dies ist kein theologischer Legitimismus, sondern dessen potentiell revolutionäres Gegenteil.“ Allerdings belässt es Althaus hier bei einer rein theoretischen Möglichkeit. 22 Ebd., 445. Dass Althaus’ Lebensbegriff von Spannung geprägt ist, hat er schon früher zum Ausdruck gebracht: „Leben ist nur, wo Spannung ist, Spannung ist nur, wo Pole sind.“ (1506 Einkehr, 100). 23 Ebd., 445 f. Im letzten Satz zitiert Althaus den christlich-sozialen Theologen Johann Gottlieb Cordes, Pazifismus und christliche Ethik, Leipzig 1918. Zu Cordes vgl. Althaus’ Rezension 1907R. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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option darstellt, wird schnell deutlich, wenn man sich seine Geschichtsphilo sophie bzw. -theologie betrachtet. 3.2 „Die lebendige Gerechtigkeit der Geschichte“ – Althaus’ frühe Geschichtstheologie und Sichtweise des Krieges Das Herzstück der Althausschen Auseinandersetzung mit dem Pazifismus, wie ihn die Religiös-Sozialen bzw. die Religiösen Sozialisten vertreten, ist seine geschichtsphilosophische bzw. -theologische Sichtweise des Krieges24. Nachdem Althaus konstatiert, dass man „die Forderungen der Privatmoral nicht einfach auf das Staatsleben anwenden kann“, gilt es für ihn, „die Norm der ‚Gerechtigkeit‘ für das Völkerleben erst aufzufinden“25. Die beiden bisher üblichen Antworten, „die naturrechtliche Denkweise“ und „der konservative Rechtsgedanke“, hält er für unbrauchbar, denn sie „versagen gegenüber der lebendigen Geschichte.“26 Demgegenüber will Althaus nun seine eigene organologische, lebensphilosophisch beeinflusste Geschichtsphilosophie zur Geltung bringen will: „Alles ist im Werden und Wandel, im Steigen und Fallen. Völker kommen und gehen, wachsen und verkümmern, sind jung und altern, verweichlichen oder ermannen sich. Junges bricht sich Bahn unter Altem, Unfähiges wird von Lebenskräftigem zurückgedrängt, wachsendes Leben kommt, indem es die für die Entfaltung seiner Kräfte notwendigen Lebensbedingungen sucht, in Konflikt mit bestehendem älteren Leben. Was ist bei dieser beständigen Bewegung, diesem Geschiebe der Völker und Kulturen […] ‚Recht‘?“27
Der Tatsache, dass Geschichte „lebendig“ ist, muss nach Althaus auch der Gerechtigkeitsbegriff entsprechen: 24 Zu seiner frühen Sichtweise des Themas vgl. auch 1810R Schrörs; und 1903 Abschied, 173. 25 1902 Pazifismus, 448. 26 Ebd., 449. 27 Ebd. Die Metapher von den organischen Lebensaltern von Völkern, die ihr jeweiliges Lebensrecht begründen bzw. entziehen, führt Liebenberg, Gott, 462, Anm. 490 auf Herder, Ranke und Treitschke zurück. Liebenberg weist vor allem auf Althaus’ Ranke-Lektüre während des Studiums hin, die ihn beeinflusst haben dürfte. Zu Herders zyklischer Vorstellung von der Geschichte eines Volkes vgl. Sundhaussen, Einfluß, 37. Hinzuweisen ist auch auf den Einfluss von Oswald Spengler, der nach Sparn, Religion, 25 den „Geschichtsverlauf […] im Horizont des organologischen Lebensbegriffes mit quasi-naturalen Notwendigkeiten“ ausstattete. Freilich wird die Wirkmächtigkeit der geschichtsphilosophischen Metapher von den organischen Lebensaltern der Völker erst nachvollziehbar aus ihrer Deutekraft im Kontext des außen- und kolonialpolitischen Selbstverständnisses des jungen deutschen Kaiserreichs im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts angesichts einer im Zeichen des europäischen Imperialismus bereits weitgehend aufgeteilten Welt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Das wirkliche Recht in der Weltgeschichte ist ein lebendiges und ein Recht des Lebendigen. Der konservative und demokratische Rechtsbegriff sind durch einen ‚organischen‘, entsprechend dem organischen Prozesse der Lebensentwicklung in der Völkergeschichte, zu ersetzen. Mit den Völkern wird ihr Recht geboren, wächst, mindert sich, stirbt.“28
Mit einem „Recht des Tüchtigen“, das sich in der Völkergeschichte mit ihrem Auf und Ab durchsetzt, meint Althaus, den Vorgang adäquat beschreiben zu können, wobei „zur geschichtlichen ‚Tüchtigkeit‘ in hohem Maße auch geistig-sittliche Kräfte gehören: Die Hingabe eines Volkes an seine anerkannte geschichtliche Aufgabe, Verantwortungsbewußtsein, Opferwille, Zucht, Arbeitswille. Und die Gesundheit an Körper und Wille, die Arbeitskraft, die Unverbrauchtheit, Zeugungskraft und Fruchtbarkeit an Leib und Seele“29.
Nach Althaus begünstigt „die lebendige Gerechtigkeit in der Geschichte“ nun aber keinesfalls immer die „Guten“ oder die „gerechte Sache“, „sondern das Junge, Wachsende steigt über das Alternde, Satte empor, das Gesunde über das Morsche, der Wille über die Trägheit.“ An dieser Stelle nimmt Althaus’ Geschichtsphilosophie, mit der er das Zusammenleben der Völker beschreiben will, deutlich lebensphilosophische und sozialdarwinistische30 Züge an. Auffallend zurückhaltend ist er in seinen Ausführungen über weite Strecken in Bezug auf eine religiös-theologische Interpre 28 1902 Pazifismus, 452. Zum lebensphilosophischen Einschlag bei Althaus schreibt Liebenberg, Gott, 466 f.: „Althaus hatte sich bis zum Ende des Krieges dem lebensphilosophischen Trend der Zeit angeschlossen, für den sich die protestantische Theologie im Gefolge einer weitverbreiteten antiintellektualistischen Kulturkritik als besonders empfänglich erwies.“ 29 „Dekadenz und Zersetzung“ eines Volkes werden nach Althaus bedingt durch die „Sünde gegen das sechste Gebot, de[n] Geburtenrückgang, die Alkoholseuche, das Versinken in verweichlichender Kultur und sattem Wohlleben“. Diese „sittlichen Schäden sind zugleich Sünden gegen die geschichtlichen Lebensgesetze, an denen ein Volk sterben kann“ (ebd., 453). Das biblische Wort „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute verderben“ (Spr 14,34) will Althaus als „ewig junge Wahrheit“ direkt auf die Weltgeschichte angewandt wissen. 30 Der Unschärfe des Begriffs „Sozialdarwinismus“ bin ich mir bewußt, in der Wissenschaft hat er sich dennoch durchgesetzt. Während Darwin in seiner Evolutionstheorie von einer zufälligen Selektion ausgeht, haben wir es beim „Sozialdarwinismus“ mit einer Ideologie zu tun, die demgegenüber eine zielgerichtete Evolution postuliert. Demzufolge besitzt der sogenannte „Sozialdarwinismus“ im Grunde stärker lamarcksche Züge. So formuliert auch Althaus: „Nicht der Zufall also herrscht in den großen Entscheidungen und Verschiebungen der Weltgeschichte […], sondern sehr bestimmte unverbrüchliche Lebensgesetze, die für das Steigen und Fallen […] der Völker gelten.“ (ebd., 453 f.). Mohler/Weissmann, Revolution, 44 f. machen auf die europaweite Verbreitung solcher sozialdarwinistischer Ideen vom angeblichen Kampf junger, lebendiger mit alten, sterbenden Völkern aufmerksam. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tation der von ihm beschriebenen Vorgänge. Er gibt zu, dass man seine „lebendige, organische Auffassung der Gerechtigkeit ‚biologisch‘ nennen“ könne31, aber gegen die Meinung, sie sei „nackt naturalistisch“ verteidigt er sich, indem er „eine Herrschaft der reinen Gewalt“ und ein Recht „auf Kampf aller gegen alle“ ablehnt: „Niemals ist es die brutale, massive, materielle Macht als solche, die auf die Dauer emporführt. Willkürliches, frivoles Zertreten fremden Lebens aus bloßer Machtgier und schrankenlosem Ausdehnungstrieb hat sich noch immer schwer gerächt. Eine innerlich unwahre Gewaltherrschaft, ohne den geschichtlichen Beruf und die sich bewährende ‚Tüchtigkeit‘ scheitert einmal. Das zeigt die Geschichte deutlich. Die Macht stirbt einmal an ihrem Unrecht“. „Schrankenloses Sich-Ausleben der Völker im Drange zu wachsen und zu herrschen“ ist für ihn „Entartung und Vergehen gegen die geschichtlichen Lebensgesetze.“32 Stattdessen sei „Rücksichtnahme auf die anderen Völker“ geboten und „Vertrauen, […] Kredit bei anderen“ für das Zusammen leben der Völker unerlässlich33.
Obgleich Althaus mit diesen Einschränkungen einmal mehr versucht, extreme Positionen zu vermeiden und für die damaligen Verhältnisse einen Mittelweg zwischen Pazifismus und Kriegstreiberei einzunehmen, indem er Krieg nur unter gewissen Umständen billigen mag, sind seine Bemühungen in diese Richtung als wertlos und unpraktikabel zu bewerten. Denn das große Problem liegt darin, dass er keine verallgemeinerbaren und von allen nachvollziehbare Kriterien an die Hand zu geben vermag: Ein „geschichtliches Lebensgesetz“ existiert nur in seiner eigenen Konstruktion, aus einer „lebendigen Geschichte“ ist es objektiv nicht ablesbar. Der „geschichtliche Beruf“ eines „aufstrebenden“ Volkes, der infolge seiner „Tüchtigkeit“ den „Ausdehnungstrieb“ und damit meistens notwendigerweise den Krieg legitimiert, ist anders als rein subjektiv nicht erhebbar34. Somit sind die Althausschen Begriffe, wenn sie auch in erster Linie kulturell und nicht rein machtbezogen gefüllt sind, für das geschichtliche
31 1902 Pazifismus, 452. 32 Ebd., 454 f. 33 Ebd., 454, Anm. 2. In seiner Rezension zu Schrörs „Kriegsziele und Moral“ formuliert es Althaus im September 1918 so: „Die Völkerbeziehungen gehen in den betonten organischen Verhältnissen nicht auf; der geistige Austausch und die zwischenstaatliche Kulturgemeinschaft fordern als Tatsache und Ideal Berücksichtigung; es wäre über die Pflicht, das Schwache zu schützen, oder über die im Interesse der gemeinsamen Kulturgüter notwendige Selbstbeschränkung zu reden. Für eine christliche Ethik ist Abgrenzung gegen den Naturalismus und machthungrigen Annexionismus selbstverständlich.“ (1810R Schrörs, 338). 34 So weiß auch Althaus: „Kein Volk tritt mit der Klarheit über seinen geschichtlichen Beruf in die Geschichte ein“ (1902 Pazifismus, 458). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Zusammenleben der Völker unbrauchbar, da sich mit ihrer Hilfe nahezu jeder Krieg subjektiv begründen ließe35. Althaus’ „Ehrfurcht vor der geschichtlichen Gerechtigkeit“36, die er gegen die „Ideen der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung“ in Feld führt, entpuppt sich als reiner Positivismus, der nahezu jegliche geschichtliche Entwicklung zu begründen bzw. zu sanktionieren vermag. Dass „Konflikte im Völkerleben“ nicht nur durch das Aufeinanderstoßen von Recht und Unrecht entstehen, lehrt nach Althaus die „schlichte Erkenntnis des Wirklichen“. Gerade darin bestehe „die Tragik der Menschengeschichte, daß auf unserer engen Erde auch Recht und Recht gegeneinander stoßen. […] Das Recht des wachsenden jungen Lebens bricht in das Recht des Bisherigen ein. Diese Zusammenstöße sind organisch bedingt und daher elementar. Wie kann hier je ein Schiedsgericht entscheiden und das ‚Recht‘ finden?“37
Diese Tragik, dass in der freien Entfaltung der Völker Recht auf Recht stößt, ist nach Althaus’ organisch-lebendiger Geschichtsauffassung nur folgerichtig. Dass in einem solchen Fall kein in seiner menschlichen Beschränktheit befangenes „Schiedsgericht“ urteilen und damit Recht setzen kann, da ihm die Einsichten in die „geschichtlichen Lebensgesetze“ fehlen, ist aus seiner Warte nur konsequent. Daher kann er auch nicht anders, als den Völkerbund, zumal als Zusammenschluss der Siegerstaaten, die mit ihrer militärisch begründeten Macht einseitig Recht setzen, abzulehnen38. Erst spät in diesem Aufsatz wandelt sich Althaus’ geschichtsphilosophische Betrachtungsweise über die „lebendige Gerechtigkeit in der Geschichte“ in eine geschichtstheologische, indem er deutlich macht, wer für ihn hinter dem von ihm postulierten „geschichtlichen Lebensgesetz“ steht. Die Geschichte eines 35 Dieses Problem scheint Althaus zumindest geahnt zu haben, wenn er vom „Sinn des Krieges in der Weltgeschichte“ schreibt: „Es handelt sich nicht um die Rechtfertigung aller oder auch nur der meisten Kriege. Wieviel willkürliche Kriege durch dynastische Herrschsucht und rohe Raubgier hervorgegangen sind, weiß jedermann.“ (ebd., 457). 36 Ebd., 455 f. 37 Ebd., 458. 38 Die herkömmliche Alternative „Macht oder Recht“ will Althaus aufgrund der vorhandenen „Wechselbeziehungen“ „in ihrer Ausschließlichkeit überwunden“ wissen: „Das Recht bedeutet nichts ohne Macht, aber es gibt auch keine wahre, dauerhafte Macht ohne ‚Recht‘ im tiefsten Sinne.“ Während er dabei Recht „nicht als starres, sondern als lebendiges, organisches versteht“, betont er das „charaktervoll, geistig-sittlich geleitete“ Wesen von Macht und die „Wechselbeziehung zwischen Macht und Vertrauen im Völkerleben“ (ebd., 457). Die Idee eines „Weltschiedsgerichts“ hatte Althaus bereits während des Krieges mit dem Hinweis auf die Unterscheidung der zwei Reiche abgelehnt (vgl. 1719B); vgl. Liebenberg, Gott, 452–457. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Volkes ist für ihn „ein Tasten und Wagen, welche Wege Gott gehen heißt und wo er die Grenze für eines Volkes Leben und Beruf zieht.“39 Gott ist also der Garant der geschichtlichen Gerechtigkeit, die sich für Althaus in letzter Konsequenz kriegerisch erweist und durchsetzt: „Dann faßt sich, was sonst im Wettstreite von Generationen ausgetragen würde, in das ungeheure Ringen eines geschichtlichen Momentes zusammen. Das ist der Krieg. Und die Entscheidung des Krieges ist gerecht. Die lebendige Gerechtigkeit der Geschichte setzt sich in ihm durch“ als eine „unverbrüchliche Gerechtigkeit, in der wir den Herrn der Geschichte selber gegenwärtig spüren.“40
Ebenfalls geschichtstheologisch begründet Althaus nun seine Ablehnung des Pazifismus, der für ihn „im Grunde Rationalismus“ ist und dem damit „die Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wirklichkeit und ihrer Gerechtigkeit, die da höher ist denn alle Vernunft“, fehle: „Wir aber wissen, daß in der Irrationalität der Völkergeschichte und ihrer Gegensätze der Herr der Geschichte selber spürbar wird, der die Völker kommen und gehen, steigen und fallen heißt nach seinem freien, schöpferischen Willen und seinen geschichtsimmanenten unverbrüchlichen Gesetzen.“
Daher zeigt sich Althaus „überzeugt, daß der Krieg kein Attentat auf die Geltung des Rechts unter den Völkern zu bedeuten braucht, sondern gerade dem Durchsetzen des in der Geschichte lebendigen Rechtes dienen kann.“41 Doch Althaus geht noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass er „in dem kraftvollen Eigenleben eines Volkes, in der Wahrung seiner Individualität und Selbständigkeit, das wertvollste Gut der Geschichte“ sieht und daher „das pazifistische Weltfriedensreich als eine Verflachung und Verarmung des geschichtlichen Lebens“ betrachtet. Für Althaus ist der Krieg in seiner Normalität ein bloßes Mittel der Kulturentwicklung, d. h. Krieg gehört zur menschlichen Kultur. „Kulturentwicklungen sind aber ethisch-neutral“, Kultur ist nach Althaus „ein außersittlicher Begriff“. Daher kann man seiner Meinung nach die Antwort auf die pazifistische Frage „nicht mit christlich-sittlichen Gründen stützen, sondern nur auf Grund allgemeiner kulturphilosophischer Gedanken und Voraussetzungen geben. Damit ist aber bewiesen, was wir beweisen wollten: daß das pazifistische Ideal ein außersittliches Wert
39 1902 Pazifismus, 458. 40 Ebd., 460. Mit dieser Meinung weiß sich Althaus in Übereinstimmung mit Reinhold Seebergs „Das sittliche Recht des Krieges“ (1914) und mit Hirschs „Der Pazifismus“ (1918). 41 Ebd., 462. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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urteil darstellt. Daher wehren wir uns mit der Klarheit lutherischer Ethik gegen jeden Versuch, im Namen der christlichen Sittlichkeit für die Mitarbeit am Pazifismus zu werben.“42
Althaus argumentiert hier ganz im Sinne der lebensphilosophischen Annahme, „daß das ‚Leben überhaupt‘ ein amoralisches Phänomen sei und nicht auf einen außerhalb seiner selbst liegenden Zweck und Sinn befragt werden kann: Es ist der Rechtfertigung nicht fähig, aber auch gar nicht bedürftig.“43 Indem Althaus aber so argumentiert, entzieht er die Frage nach Krieg und Frieden jeg lichem Urteil christlicher Ethik, er macht damit christliche Sozialethik an diesem Punkt unmündig. Oder doch nicht? Denn indem er den Krieg zur Kultur geschlagen hat, diese als objektiv außersittlich und damit ethisch nicht bewertbar gekennzeichnet hat, bleibt als einzig theologische Fragerichtung die nach den möglichen Gesetzmäßigkeiten der Kulturentwicklung übrig, die nun aber auf Gott als den Herrn über alle Geschichte und damit auch der Kultur geschichte verweist. Somit wird der Krieg von Althaus, indem er göttlichen Gesetzen gemäß erscheint, seinerseits eben doch christlich-sittlich und nicht nur kulturphilosophisch bewertet und für gut befunden. Wenn Althaus auch nachgewiesen haben will, dass man sich als Christ nicht aus christlichen Motiven für die pazifistische Bewegung einsetzen könne, so ist er dennoch der Überzeugung, die Christen hätten „inmitten der nationalen Gegensätze, der Völkerkonkurrenz, der Spannungen und Entladungen eine große Aufgabe – die nur sie erfüllen können“: Sie sind nach Althaus „das Gewissen ihres Volkes“ gegen den „brutalen Mammonsgeiste in ihrem Lande“, gegen den „frevelhafte[n] Ehrgeiz oder eitle kapitalistische oder dynastische Machtgier“, die „frivol und ohne Not den Frieden brechen will“44; gegen „Rachsucht und […] Glut blinder Leidenschaften“, auf dass „der Krieg sachlich geführt werden kann“; gegen „den Siegerübermut, der den anderen zertreten will und jeden Blick verlor für die Grenzen des eigenen geschichtlichen Berufs“; im Frieden gegen „die durchtriebene Unlauterkeit im politischen Kampfe der Völker“45.
Was Althaus hier sehr vage und zurückhaltend formuliert, sind zumindest Ansätze eines christlich motivierten Widerstandsrechts, das den „revolutionären 42 Ebd., 472 f. Althaus folgt damit einer damals nicht unüblichen Herangehensweise an das Phänomen „Krieg“, wie sie stellvertretend der Systematiker Wilhelm Herrmann vertrat: „Der Krieg ist an sich weder christlich noch unchristlich, weder sittlich noch unsittlich. Er ist in einer bestimmten geschichtlichen Lage die unabweisbare Äußerung der in der Kulturbewegung entwickelten Menschennatur.“ (ders., Ethik, 189). 43 So Sparn, Religion, 24. 44 1902 Pazifismus, 474. 45 Ebd., 476 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Geist des Christentums“ und den „Wille[n] zur Aktivität auch gegen festgewordene Verhältnisse und eingewurzelte Ordnungen“46 herauskehrt. Vor allem geht es bei der Aufgabe der Christen darum, aus seiner Sicht ungerechtfertigte, da dem „Beruf“ eines Volkes nicht entsprechende, Kriege verhindern zu helfen und vermeidbare Härten in einem unvermeidlichen Krieg zu bekämpfen. Ungerechtfertigte Kriege sind für Althaus aber solche, die seinem national gefärbten Weltbild nicht entsprechen, in erster Linie also diejenigen, die einen „brutalen Mammonsgeiste“ oder „eitle kapitalistische […] Machtgier“ zum Anlass haben. In einem im obigen Sinne gerechtfertigten Krieg aber haben die Christen auf ihrem Posten zu sein: „Wenn die unentrinnbaren Notwendigkeiten und Entscheidungsstunden der Geschichte ihr Volk in den Kampf mit anderen führen, dann stehen sie in völliger Opferbereitschaft treu zu ihrem Lande und wissen sich eben darin als Jünger Jesu […]. Die Christen beugen sich mit männlichem Ernste unter jene Geschichtsgesetze wie unter eine Gottesordnung – und durchleben sie doch in ihren Auswirkungen zugleich mit dem Gefühle, daß die furchtbaren Mächte des Widergöttlichen in ihr am Werke sind. Über diese ungeheure Spannung wachsen sie nie hinaus.“47
Ist der Krieg also einmal als „Gottesordnung“ erkannt – wie das in Abgrenzung von einem der „Gottesordnung“ widersprechenden Krieg geschehen soll, bleibt offen –, dann gilt für Christen völlige Treue und Opferbereitschaft, gemäß Althaus’ Diktum: „Wer sich seinem Volke im Lebenskampf versagte, wäre kein Christ.“48 Das von Althaus angenommene „Durchleben“ des Krieges in seiner Ambivalenz als „Gottesordnung“ und zugleich als Auswirkung des „Widergöttlichen“49 entspricht und entspringt seiner eigenen Sichtweise auf die „ungeheure Spannung“, in der sich der Christ als Bürger zweier Reiche befindet: 46 Ebd., 445. An dieser Stelle spricht er auch der Christenheit das „Recht zur Gleichgültigkeit gegen die objektiven Ordnungen und die äußeren Weltverhältnisse“ ab. 47 Ebd., 474 f. Von dieser Spannung ging Althaus schon 1916 in seiner Rezension zu Paul Wernles „Antimilitarismus und Evangelium“ aus, wenn er schreibt: „Jedenfalls besteht die Antinomie des Krieges darin, daß wir ihn einerseits als notwendiges Ergebnis der irdischen Staatenbildung und damit als im Willen Gottes begründet, andererseits von der Norm des Reiches Gottes aus als furchtbare Sünde beurteilen.“ (1602R Wernle). 48 Ebd., 475. Zum Krieg als „Gottesordnung“ und zum „Lebensgesetz“ des Kampfes bei Althaus während des Krieges vgl. Liebenberg, Gott, 452–474. 49 Wie schwer sich Althaus bei der theologischen Beurteilung des Krieges tut, zeigt auch seine Rezension zu Johann Gottlieb Cordes’ „Pazifismus und christliche Ethik“, wo er schreibt, „wir gehören zwar nicht zu den Leuten, ‚die im Namen des Christentums den Krieg als für alle Erdenzeit gottgewollte Ordnung preisen‘ […]; aber wir halten es auch für eine Unklarheit, die Beteiligung an der pazifistischen Arbeit zu einer Christenpflicht zu stempeln, wie Cordes es tut“ (1907R Cordes, 110; Hervorhebungen von Althaus). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Niemals können die Christen nur Glieder ihres Volkes sein. Sie sind zugleich Bürger des Gottesreiches, in dem der Friede miteinander herrscht und die Gemeinschaft bewahrt wird.“ „Auch in den Tagen furchtbarster Zerrissenheit der Völker glauben sie an das eine heilige Volk Gottes, das seine Glieder in allen Nationen hat.“ Unbeschadet des Wissens der Christen, „daß ein Kampf ganz durchgekämpft werden muß“, und unbeschadet ihrer Treue und Opferbereitschaft „in selbstverständlicher Verbundenheit mit ihrem Volke, um dessen Zukunft es geht“, kann „die Bruderhand des Vertrauens […] auch im Kriege über die Schützengräben hin gereicht werden“. „Dieses Vertrauen kann dann zu einer internationalen christlichen Arbeitsgemeinschaft mitten im Kriege führen, zu dem Werke, die entsetzliche Not der Gefangenen und Verwundeten zu lindern, aber auch zu dem ehrlichen gemeinsamen Versuche, […] in jedem Lager für die unbedingte Sachlichkeit des Ringens, gegen Lüge, Gemeinheit, schamlose Verhetzung und Fanatismus zu arbeiten. In alledem dürfen die Christen auch in Zeiten schärfster nationaler Gegensätze die übernationale communio sanctorum als Wirklichkeit erleben“50.
Bei Althaus’ geschichtsphilosophischen und -theologischen Spekulationen über das Zusammenleben und das Ringen der Völker, die deutlich lebensphilosophische und sozialdarwinistische Züge zeigen und die letztlich auf eine religiöse Legitimation von kriegerischen Auseinandersetzungen hinauslaufen, spielen seine Prägungen und Erfahrungen im wilhelminischen Kaiserreich eine große Rolle. Gerade im bürgerlichen Milieu spielten Kriege in der Erinnerungskultur und damit im kulturellen und politischen Gedächtnis eine herausgehobene und nahezu durchwegs positive Rolle51. Durch die Befreiungskriege hatte man 1813 die französische Fremdherrschaft über Deutschland abgeschüttelt, sich also nach außen verteidigt und damit ein deutsches Nationalgefühl hervorgebracht. Mit Hilfe der Einigungskriege war es dem Protagonisten Bismarck über die Stationen 1864, 1866 und 1870/71 gelungen, ein kleindeutsches Kaiserreich für die „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner) der Deutschen nach innen und außen zu konstituieren. Nachdem es sich bei all diesen militärischen Konflikten um zeitlich und räumlich – verglichen mit früheren – sehr begrenzte Kriege mit relativ überschaubaren Opferzahlen, dafür aber umso größeren Erfolgen handelte, konnte im Rückblick ein positives Licht auch auf den
50 1902 Pazifismus, 475 f. Den Gedanken einer solchen Arbeitsgemeinschaft vertrat er bereits während des Krieges; vgl. 1707 Glaube, 17. 51 Großen Einfluss auf Althaus’ Haltung zum Krieg dürfte auch die Einstellung seines Vaters gehabt haben, von dem er 1928 rückblickend schreibt: „Den Krieg selber bejahte Althaus bewußt. Er war von warmem vaterländischen Empfinden und verfolgte mit Spannung und starker Bewegung den Fortgang des Krieges. Auch als der Druck schwerer wurde und im Kollegenkreise schon düstere Zukunftsgedanken laut wurden, behielt Althaus die Zuversicht auf einen ehrenvollen Abschluß des Ringens.“ (2801 Leben, 106). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Krieg als solchen fallen52. Vor diesem Hintergrund wurde im Kaiserreich Althaus’ Einstellung als junger Mann zum Krieg geprägt53, und als der Weltkrieg sämtliche oben genannten „erträglichen“ Seiten der Kriege mit deutscher Beteiligung im 19. Jahrhundert zur Gänze konterkariert, sieht sich Althaus dennoch nicht in der Lage, seine Einstellung zum Krieg grundlegend zu überdenken. Vielmehr sucht er nach anderen Wegen, um sich und seinen Lesern zu erklären, warum aus diesem großen, für so entscheidend gehaltenen Krieg Deutschland wider Erwarten nicht als Sieger hervorging. Eine für ihn plausible Antwort ließ sich anhand seiner Geschichtsspekulation geben: Deutschlands Niederlage ist für ihn gerecht, weil Deutschland – zumindest noch – nicht die nötige sittlich-kulturelle „Tüchtigkeit“ besitzt. 3.3 Die Gerechtigkeit der deutschen Niederlage – Althaus’ Sichtweise von Niederlage, Friedensbedingungen und Völkerbund Hatte Althaus schon Ende 1918 das „Versagen unserer Politik seit Bismarcks Abgang, de[n] Dilettantismus und die Führerlosigkeit unseres politisch kinderhaften Volkes“54 als Gründe für die deutsche Katastrophe identifiziert, so wurde er hier noch einmal deutlicher, wenn er äußert: „Unsere Niederlage ist geschichtlich gerecht.“55 Nach seiner eigenen geschichtsphilosophischen und -theologischen Sichtweise der Weltgeschichte, in der er die „lebendige Gerech 52 Vgl. 2504 Beziehungen, 53, wo Althaus schreibt: „Ich glaube, daß sich trotz allem durch die Kriege von 1864 an etwas Wesensnotwendiges vollzogen hat.“ Denn „es können sich in der Geschichte auch echte Berufsfragen treffen, ohne daß dabei die Sünde den Blick getrübt hat. Es geht in der Geschichte um etwas Edleres als um den Kampf um Futterplätze und Märkte. Man denke an den Kampf gegen Napoleon oder den Krieg mit Österreich 1866. Es geht in der Geschichte um das Vorrecht, ein Stück Leben zu gestalten. Bismarck hat klar erkannt, daß es sich im Kampf mit Österreich einfach um die Frage handelte, welches Volk berufen sei, die deutsche Frage zu lösen.“ (ebd., 44). So stellt auch Ramm, Deutschen, 36 fest: „Wie überall war der Krieg auch in Deutschland ein Mittel zur Einheitsstiftung. Dies gilt für den Krieg von 1813/14 als Kampf gegen die Fremdherrschaft und den Krieg von 1870/71 als Fortsetzung, denn er wehrte Frankreichs Anspruch auf Einmischung in die deutschen Verhältnisse ab. Als Einigungskrieg, der die süddeutschen Fürsten zur Aufgabe ihrer Souveränitätsideologie zwang und von ihrer Rheinbundmentalität löste, war er ein Schritt der deutschen Kulturnation zur Staatsnation, und dies auch noch in anderer Hinsicht: als Wiedergutmachung des von Ludwig XIV. begangenen historischen Unrechts, denn das Elsass gehörte zur deutschen Kulturnation.“ 53 Explizit wird Althaus’ diesbezügliche Haltung zum Krieg in 2305 Staatsgedanke, 31 f.40, wo er mehrfach die Bismarcksche Kriegs- und später Friedenspolitik als positives Beispiel hervorhebt. 54 1809 Gewissen, 34; vgl. Kap. II, 1.2. 55 1902 Pazifismus, 461, Anm. 2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tigkeit“ sich durchzusetzen vermeint, kann Althaus konsequenterweise auch gar nicht anders urteilen: „Daß die Entscheidung, die der Krieg gibt, gerecht ist, vertreten wir auch angesichts der deutschen Niederlage im Weltkriege.“ Eines steht für Althaus mit dem Ausgang des Krieges fest: Der „Krieg hat zutage gebracht, daß uns Deutschen die Fähigkeit zur Weltpolitik und wichtige, für ein führendes Volk unentbehrliche Eigenschaften fehlen, jedenfalls noch fehlen. […] Unsere eigene Unreife und Unzulänglichkeit schließen uns durch die Entscheidung des Krieges vorerst aus der Reihe der führenden Völker aus.“56
Als Althaus den Aufsatz im Februar 1919 verfasst, tagen bereits seit dem 18. Januar 1919 die Siegermächte auf dem Friedenskongress in Versailles, um über Deutschlands Schicksal zu beraten. Dass es ihnen sowohl darum geht, das Deutsche Reich zu bestrafen und für den eigenen Wiederaufbau nach dem Krieg finanziell in die Verantwortung zu nehmen, als auch darum, sich politisch und militärisch vor Deutschland zu schützen, wurde den Deutschen schnell bewusst. Auch über die Härte der Friedensbedingungen machte man sich kaum Illusionen, wenn auch die letztlich beschlossenen Bestimmungen des Versailler Vertrages für die Deutschen jenseits des Vorstellbaren liegen sollten57. Ganz auf der Linie seiner geschichtsphilosophischen Betrachtungen über Krieg und Frieden und über das Zusammenleben der Völker, das ein „willkürliches, frivoles Zertreten fremden Lebens aus bloßer Machtgier und schrankenlosem Ausdehnungstrieb“ als der „lebendigen Gerechtigkeit der Geschichte“ widersprechend ausschließt, prophezeit Althaus über das absehbare Ergebnis des Friedenskongresses: „Kraft unerbittlicher, geschichtlicher Lebensgesetze wird sich die furchtbare und brutale Vergewaltigung Deutschlands durch seine Feinde an ihnen rächen. Sie ist geschichtliche Schuld.“58 Aus diesen Worten spricht zum einen der Zorn des Patrioten, der wie alle Deutschen abwarten muss, was die Sieger in Versailles über Deutschlands Schicksal entscheiden, ohne dass man von deutscher Seite darauf Einfluss nehmen kann. Zum anderen spricht aus ihnen aber auch die Hoffnung des Patrioten, der sich nicht damit abfinden will, dass das aus Versailles zu erwartende Urteil über Deutschland das letzte Wort sein soll. 56 Ebd. Als Belege für die „Unreife“ führt er hier an: „Das völlige Versagen der deutschen Politik seit 1890, […] die Zwiespältigkeit und Unstetigkeit unseres politischen Wollens“. Auch hat Althaus Deutschland im Blick, wenn er schreibt: „Oder eine Nation lebt über ihre Verhältnisse und über ihre Kraft, tritt etwa durch eigenen Ehrgeiz und Willen […] in die Weltpolitik ein mit ungenügender Begabung und unzureichender politischer Kraft – sie muß den Fehlgriff und Irrweg in harten Erfahrungen büßen“ (ebd., 454). 57 Vgl. Kap II, 2. 58 1902 Pazifismus, 454 f., Anm. 2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Doch Althaus geht noch einen Schritt über diese Hoffnung hinaus. Denn er legt seinen Landsleuten nahe, das deutsche Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und gegen den alliierten Siegfrieden vorzugehen: „Ein großes Volk, das nicht mit entschlossenem Willen und aller Kraft hinter seinem geschichtlichen Rechte steht, sondern sein ‚Recht‘ von der Gerechtigkeit anderer würdelos erwartet, verwirkt eben damit seine geschichtlichen Rechte und hat den Gewaltfrieden, mit dem man es in Fesseln schlägt, nur verdient. Das ist die harte, aber gesunde und männliche Gerechtigkeit der Geschichte.“59
Damit ist für ihn der Grundstein für eine Revision des kommenden, in seinen Augen nur sogenannten „Friedensvertrags“ gelegt, was zugleich die außenpolitische Hauptaufgabe der kommenden Jahrzehnte bedeuten soll. Das Recht, das die Sieger mit ihrer Macht setzen und dem Deutschen Reich oktroyieren werden, ist in Althaus’ Augen kein wirkliches Recht, da es aus einem „Gewalt frieden“ hervorgeht. Folgerichtig mit der Ablehnung des Versailler Vertrages als Abkommen, das allein die Siegerstaaten aushandeln, lehnt Althaus auch den geplanten Völkerbund – er nennt ihn mit der alten Bezeichnung „Schiedsgericht“ – als Instrument der Sieger zur Unterdrückung ihrer Feinde ab. Doch auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichtsphilosophie und -theologie und damit seiner Überzeugung davon, wie sich eine „lebendige Gerechtigkeit in der Geschichte“ auf organische, irrationale Weise herauskristallisiert, kann er die Idee eines Völkerschiedsgerichts, die dem idealistischen Pazifismus entspringt, nur ablehnen. Wenn er die „Zusammenstöße“ der Völker als „organisch bedingt und daher elementar“ betrachtet und definiert, muss er dieser Idee entgegenhalten: „Wie kann hier je ein Schiedsgericht entscheiden und das ‚Recht‘ finden?“ Oder anders formuliert: „Darf ein Volk in solcher Stunde die Entscheidung über seinen geschichtlichen Beruf in die Hände eines Schiedsgerichts legen?“60 Seine Antwort lautet, eine Entscheidungsfindung mit Hilfe eines Schiedsgerichts bedeute „ja in der Tat nichts anderes als eine Vergewaltigung des lebendigen Rechtes, das sich in der Geschichte durchsetzt.“61 Noch schwererer Geschütze gegen den Gedanken eines Völkerbundes führt Althaus mit einem geschichtstheologischen Zitat von Emanuel Hirsch ins Feld: „Sein Leben und seine Zukunft kann kein gesund empfindendes Volk von menschlichem Schiedsspruch abhängig machen. Die letzte Entscheidung
59 Ebd., 456, Anm. 2. 60 Ebd., 458. 61 Ebd., 460. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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über sein Geschick soll und darf es empfangen wollen aus den Händen des Herrn der Geschichte selbst.“62 Indem Gott als Garant der „lebendigen Gerechtigkeit in der Geschichte“ dient, ist das menschliche Unterfangen eines internationalen Völkerschiedsgerichts endgültig als unchristlich und unsittlich desavouiert. Und doch erkennt Althaus bei alledem auch die gute Absicht an, die viele Pazifisten leitet: „Wir zweifeln nicht daran, daß unter den amerikanischen Pazifisten viele Männer von so unbedingt lauterem Wollen und inniger Jesushingabe sind, die wirklich glauben, als Pazifisten sein Reich zu bauen. – Auch bei Wilson ist der Ton hohen Idealismus und echten Glaubens unverkennbar.“63 „Dem Präsidenten Wilson und vielen bedeutenden Männern in den feindlichen und neutralen Ländern, vielen unserer deutschen Demokraten […] ist die Aufrichtung der Herrschaft des Rechts unter den Völkern eine Sache des sittlichen Gewissens und ehrlichen begeisterten Glaubens.“64
Und so kann Althaus dem Völkerbund doch auch ein begrenztes Recht zu billigen: „In untergeordneten Dingen, bei manchen Interessengegensätzen mag ein Völkerschiedsgericht durch billigen Ausgleich Konflikte verhindern und auch sonst durch Beseitigung von Mißverständnissen viel unnötige Gereiztheit und Erbitterung im Keime ersticken können.“65
In den „großen Wende- und Wetterstunden in dem Leben der Völker“ allerdings versagen menschliche Vernunft und Rationalismus. Denn Althaus zeigt sich davon überzeugt: „Es ist für die großen Völker unmöglich, in ernsten Streitfragen, die irgendwie ihre eigenen Interessen berühren, sich gleichsam über die Dinge zu stellen.“ „Ein Völkerschiedsgericht würde nicht nach Recht und Gerechtigkeit entscheiden. Unsere deutschen Schwärmer für den Völkerbund und Schiedsspruch erhalten in dieser Beziehung jetzt einen furchtbaren Anschauungsunterricht.“66 62 Ebd., 461. Das Zitat stammt aus Hirsch, Pazifismus, 13. Dass Althaus in seiner geschichtsphilosophischen und -theologischen Spekulation über den tieferen Sinn des Krieges von Hirsch und dessen Sichtweise vom legitimen Krieg als schöpferischem Mittel geschichtlicher Staatenbildung beeinflusst ist, äußert er selbst: „Mit Hirsch berühren sich meine Gedanken über Geschichte, Gerechtigkeit und Pazifismus weithin. In vielem einzelnen hat Hirsch an meiner Auffassung mitgearbeitet.“ (1902 Pazifismus, 459, Anm. 1). 63 1902 Pazifismus, 464 f., Anm. 1. 64 Ebd., 463. 65 Ebd., 459. 66 Ebd., 466. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Was er damit konkret meint, macht er deutlich, wenn er schreibt, „daß man den Völkerbund heute auf die Vergewaltigung Deutschlands aufbaut, daß er bisher nur wie eine Verewigung des Entente-Bündnisses erscheint.“67 Somit kann nach Althaus „in dem Schiedsgerichte nicht eine über den Dingen stehende Gerechtigkeit das Wort führen, sondern […] die Interessen des mächtigsten Staates oder Staatenblocks, der über die größte wirtschaftliche und kulturelle Einflußkraft verfügt, werden den Ausschlag geben. Die Gewalt wird herrschen – aber im Namen des Rechts. Schwerlich wird man darin ein sittliches Ideal sehen können.“68
Wenn also Althaus zwar zugibt, dass „die internationale Organisation der Völker eine Forderung der politischen Zweckmäßigkeit im Augenblick sein mag“ und er einen solchen „Zweckverband der europäisch-amerikanischen Völker zur Verhütung von Kriegen und zur Lösung bestimmter gemeinsamer Auf gaben [für] durchaus möglich“ hält, so bleibt er dennoch dem Gedanken gegenüber kritisch-ablehnend: „Der Völkerbund mag das Werk einer richtigen politischen Berechnung sein, eine sittliche Tat und eine weithin leuchtende sittliche Wirklichkeit bedeutet er nicht, trotz alles Idealismus seiner Propheten. Die christliche Sittlichkeit hat mit der Arbeit für den Völkerbund nichts zu tun. Sie wendet sich vielmehr von dem Mißbrauch, der mit dem hohen Worte Gerechtigkeit getrieben wird, empört ab.“69
67 Ebd., 469. 68 Ebd., 467. Einmal mehr beruft sich Althaus mit dieser Einschätzung auf Hirsch, Pazifismus, 7, wo es heißt: „Und der ganze erreichte sittliche Fortschritt der Menschheit besteht darin, daß sie [= die neue Herrschaft des Rechts] es besser lernt zu lügen. Wenn der Sieger dem Besiegten gegenüber das Recht der Eroberung geltend macht, so redet er ehrlich. Wenn er sich dagegen das, was er begehrt, durch angeblichen unparteiischen Spruch solcher, die ihm zu willen sein müssen, geben läßt, so mißbraucht er heilige Begriffe.“ 69 Ebd., 468. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
4. Zusammenfassung Für Althaus wie für das gesamte nationalkonservative deutsche Luthertum stellte die Kriegsniederlage 1918 und damit verbunden die Bedingungen des Versailler Vertrages eine heute kaum mehr nachvollziehbare politische und geschichtsphilosophische bzw. geschichtstheologische Herausforderung dar. Diese Katastrophe galt es politisch und theologisch zu verarbeiten. Das Nächstliegende ist für ihn als familiär Betroffenen erst einmal die Frage nach dem Sinn der Kriegstoten, deren Sterben er unter allen Umständen der Vergeblichkeit zu entreißen trachtet. Die Gefallenen sind kaum beweint, da gilt es bereits den nächsten Schicksalsschlag für Deutschland zu verarbeiten: den Versailler Vertrag mit seinen als äußerste Entwürdigung empfundenen und mit militärischer Übermacht erzwungenen Friedensbedingungen. Althaus reagiert differenziert darauf. Einerseits legt er den Deutschen ein „gutes Gewissen“ nahe, andererseits ruft er sie zur „Buße“ auf; einerseits wehrt er sich vehement gegen den gegen Deutschland erhobenen Vorwurf der Alleinschuld am Krieg, andererseits spricht er von deutscher Mit-Schuld am Krieg und benennt deutlich das Versagen der deutschen Führung. Diese Differenzierungsleistung hält Althaus dennoch nicht davon ab, angesichts seiner Erlebnisse an der zusammenbrechenden Ostfront in Polen die in der damaligen Zeit so virulente „Dolchstoßlegende“ in sein Weltbild zu übernehmen. Von immens nationalem Interesse ist für Althaus zudem die Frage nach dem tieferen Grund für die deutsche Katastrophe. Die Antwort liegt für ihn in der harten, aber gerechten geschichtlichen Tatsache begründet, dass Deutschland noch nicht die nötige sittlich-kulturelle „Tüchtigkeit“ besitzt. Folgerichtig ist es das Althaussche Bestreben in den kommenden Jahrzehnten, Deutschland sittlich und kulturell, d. h. für ihn aber wesentlich religiös-christlich zu ertüchtigen. Nicht zuletzt auf seinen Erfahrungen der Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte des Weltkrieges beruht Althaus’ geschichtstheologische Konzeption einer „lebendigen Gerechtigkeit in der Geschichte“, die sich gemäß göttlicher „Lebensgesetze“ durchsetzt. Wenn er darin betont, dass in der Geschichte der Völker immer wieder „Recht auf Recht“ stößt, so lässt sich darin ein Reflex auf den Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages erblicken, mit dem das unterlegene Deutschland zum Zwecke der politisch-wirtschaft lichen Abhängigkeit moralisch bloßgestellt werden sollte1. Bereits im Februar
1 In einer Rezension schreibt Althaus 1928 dementsprechend von der „verlogenen englischen Kriegsideologie“ (2805R Scott, 142). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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1917 hatte Althaus demgegenüber in einer Sonntagsbetrachtung seine „Sehnsucht nach gemeinsamer, edler Menschheitsarbeit“ zum Ausdruck gebracht und sich für einen „Frieden ohne Tyrannei über die anderen“ ausgesprochen2. Vor diesem Hintergrund musste das Urteil von Versailles für ihn umso ent täuschender sein. Dass Althaus den oktroyierten Versailler Vertrag wie nahezu alle Deutschen kategorisch ablehnte, kann nicht verwundern. Dieses negative Vorzeichen sollte die junge deutsche Republik auch in seinen Augen nicht wieder losbekommen. Der Kampf gegen das als entwürdigend, ungerecht und unklug empfundene Versailler Urteil sollte eine Grundkonstante seiner politischen Haltung für die Zeit bis 1933 bilden. Von dieser negativen Erfahrung her erklärt sich auch seine ablehnende Haltung gegenüber dem Völkerbund, der zwar mit hehren Zielen angetreten war, aber in der Realität kaum anders denn als Bund der Sieger angesehen werden konnte, dem es zumindest in den ersten, die öffentliche Meinung in Deutschland maßgeblich prägenden Jahren vielfach um ein Kurzhalten Deutschlands zu tun war. Althaus’ geschichtsphilosophischer bzw. -theologischer Gedankengang ist einfach und problematisch zugleich: Indem sich einerseits in der Geschichte eine „lebendige Gerechtigkeit“ im für ihn naturhaften, oftmals kriegerischen Ringen der Völker herauskristallisiert, andererseits aber Gott als betonter „Herr der Geschichte“ über die „geschichtlichen Lebensgesetze“ wacht, ergibt sich als Conclusio konsequenterweise nur der Kurzschluss: Krieg liegt in Gottes Willen begründet, den er mit den Völkern hat. Oder anders formuliert: Gott gibt einem Volk seinen „Weltberuf“, diesem muss es nicht zuletzt auf kriegerische Weise nachkommen. Althaus’ Geschichtsphilosophie und -theologie kann, ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regeln folgend, nicht anders, als den Krieg positiv zu bewerten. Die „Klarheit lutherischer Ethik“ vermag diesen fatalen Kurzschluss offensichtlich nicht zu verhindern. Wenn Althaus den Vertretern des Pazifismus vorwirft, „das Christentum für den […] Weltfriedensgedanken in Anspruch zu nehmen“, sei ein „offenkundige[r] Mißbrauch der christlichen Ethik“3¸ so ist selbiges seiner eigenen Inanspruchnahme Gottes für den Kriegsgedanken entgegenzuhalten. Bei seinem Blick auf die besondere Rolle der Christen in Krieg und Frieden gibt Althaus einmal mehr ein Paradebeispiel für seine ambivalente Sichtweise, die in diesem Fall einerseits den Kriegsgedanken theologisch verstärken und zementieren, andererseits aber auch begrenzen und humanisieren kann, z. B. durch die Idee einer „internationale christliche
2 1706B. 3 1902 Pazifismus, 476. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Zusammenfassung
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Arbeitsgemeinschaft“. Es ist eine eigentümliche Ambivalenz in Althaus’ Aus sagen zum Thema „Christentum und Krieg“, die aus der Spannung herrührt, in der sich die christliche Existenz für ihn vollzieht: Einerseits sollen die Christen für den gottgegebenen „Beruf“ ihres Volkes in der Welt entschlossen und opferbereit kämpfen bis zur Entscheidung durch die „lebendige Gerechtigkeit in der Geschichte“, in der Gott der Herr über diese Wirklichkeit ist. Andererseits sollen sie das „Widergöttliche“ am Krieg wahrnehmen und sich der göttlichen „Wirklichkeit, die über allen Gegensätzen steht“, und damit der „übernationalen communio sanctorum“ bewusst sein. Indem Althaus also von zwei Gotteswirklichkeiten ausgeht, die miteinander in Spannung stehen, wird diese Spannung in das Gottesbild selbst hineingetragen. Beide Realitäten erscheinen in seiner Konstruktion als gleichberechtigt. Daher kann auch die Wirklichkeit der communio sanctorum den Kriegsgedanken nicht relativieren, während umgekehrt die „herben Gesetze der Menschengeschichte“ und damit der Krieg nicht diese communio aufheben können4. Eingebettet ist Althaus’ Zurückweisung eines christlichen Pazifismus und seine Darlegung der eigenen Geschichtstheologie als Antwort darauf in seine Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus bzw. mit der christlichsozialen Bewegung. Mit den Christlich-Sozialen weiß sich Althaus in vielen Punkten, z. B. im Hinterfragen scheinbarer „Eigengesetzlichkeiten“, einig. Indem er sich von den beiden Extremen „Quietismus“, der die Weltverhältnisse hinnimmt, wie sie sind, und „Schwärmertum“, das die Welt in Gottes Reich umwandeln will, distanziert, nimmt er aus seiner Warte eine Position der Mitte ein. Lebendige christliche Existenz vollzieht sich für ihn zwischen den beiden Polen „Konservatismus“ und „Revolution“. Was es allerdings jeweils zu bewahren und wogegen es jeweils zu revoltieren gilt, das geben die eigenen politischweltanschaulichen Prägungen und Präferenzen vor. Soziale und wirtschaftliche Eigengesetzlichkeiten bzw. Ordnungen werden von ihm durchaus in Frage gestellt („Mammonismus“), hierbei empfiehlt er seinen Lesern auch und gerade ein Lernen von den Religiösen Sozialisten5. Wenn es allerdings um nationale 4 Aufgehoben wird diese Spannung auch nicht durch Althaus’ eschatologischen Ausblick auf das „Kommen seines Reiches“, mit dem er die „christliche[n] Völker, die von Gottes Weltziel wissen“, in die Pflicht nimmt: „Das Bewußtsein darum, daß alle Macht nur dann ihr Recht behält, wenn sie zuletzt nicht Ausbeutung der anderen, sondern schließlich irgendwie Menschheitsdienst in Richtung auf das Kommen des Reiches Gottes sein will – dieses Bewußtsein in den Völkern lebendig zu erhalten ist nicht die geringste Aufgabe der Christen“ (ebd., 478). 5 Einen „revolutionären Geist“ kann Althaus auch der Kirche anempfehlen, wenn es um soziale Fragen geht. So äußert er in einer Rezension zu Max Greiners Schrift „Die Kirche vor die Front. Ein Wort über die Mitarbeit der Kirche und des Pfarrerstandes an der Heimstätten- und Kriegerheimbewegung“: „Die künftige Stellung der Kirche im Volksleben [wird] ganz entscheidend davon © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Belange geht, dann zeigt sich Althaus als Konservativer, der die herkömmlichen und festgefahrenen Wege nicht zu verlassen vermag, wie seine Rechtfertigung kriegerischer Auseinandersetzungen deutlich zeigt.
abhängen, welchen Anteil die Kirche an der sozialen Gesundung der Boden- und Wohnungsverhältnisse nimmt […]. Die Kirche wird damit rechnen müssen, daß sie durch mannhaftes Voranschreiten und Handanlegen in der Heimstättenfrage einflußreiche Kreise vor den Kopf stößt. Aber das soll ihr dann eine Ehre sein, und daß sich ihr manche Türen schließen, soll sie tapfer tragen. Denn sie tut sicher Gottes Willen, wenn sie den Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Bodenspekulation mit Entschlossenheit aufnimmt und auf diese Weise in breiten Schichten unserer Arbeiterschaft erst wieder die Vorbedingungen für gesundes sittliches und religiöses Leben weckt.“ (1803R Greiner). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Kapitel III: Geschichtstheologie als Krisenverarbeitung – Paul Althaus in Rostock 1919 bis 1925 1. Die Zeit politischer Krisen und theologischer Neuaufbrüche – Paul Althaus in Rostock Es waren in erster Linie die Krisenjahre der Republik, die Althaus in seiner Rostocker Zeit miterlebte. Besonders die Revolutionswirren hinterließen in Rostock ihre Spuren. In einem Rückblick 1935 nennt Althaus seine bewegte Rostocker Zeit eine „unruhige, schmerzvolle, von leidenschaftlichen Spannungen geladene Gegenwart“: „Die Tage nach dem Kapp-Putsch waren in Mecklenburg so düster wie kaum irgendwo sonst im Norden. Nicht zuletzt durch alte soziale Schuld hatten sich die politischen Gegensätze hier zu erschreckender Feindschaft verbittert. Unsere Studenten und die marxistisch-verhetzte Arbeiterschaft lagen sich mit der Waffe in der Hand gegenüber. Das Blutopfer der Universität […] erschütterte uns tief. Der Boden war heiß. Neue Geschichte drängte sich heran. Die Stunde des Nationalsozialismus kündigte sich in Mecklenburg früher und leidenschaftlicher als vielerorts an.“1
Problematischer kann man sich die äußeren Bedingungen eines Arbeitsbeginns kaum vorstellen. Das deutsche Kaiserreich war im November 1918 mit dem verlorenen Krieg restlos untergegangen, die Welt des „langen 19. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm) lag endgültig in Trümmern. Deutschland war als Folge dieses Untergangs materiell und ideell am Boden, mit dem oktroyierten Friedensvertrag von Versailles im Juni 1919 nunmehr auch moralisch. Die Siegermächte des Weltkriegs – allen voran Frankreich – ließen Deutschland spüren, wer den Krieg verloren hatte. Das von ihnen dazu geschaffene „Versailler System“ der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Abhängigkeit, welches eines ums andere Mal den hohen Idealen des gleichzeitigen „Genfer Systems“, das der Völkerbund repräsentieren und das den friedlichen Verkehr gleichberechtigter Völker in der Welt garantieren sollte, Hohn sprach, ließen für viele Deutsche den in ihren Augen nur sogenannten Frieden als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erscheinen. 1 3503 Mecklenburg, 229. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Die deutschen Regierungen, die sich wohl oder übel mit den politischen Realitäten zu arrangieren hatten, wurden von Beginn an dafür bekämpft. Die „Republik ohne Republikaner“ war von Beginn an zugleich eine „Republik der Friedlosigkeit“ (Manfred Funke), wofür äußere und innere Belastungsfaktoren verantwortlich zu machen sind2. Von Beginn an war die erste deutsche Republik, die sich offiziell mit dem Inkrafttreten der Reichsverfassung am 11. August 1919 konstituierte, Angriffen ausgesetzt, die sie in ihrem Bestand gefährdeten. Abgesehen von den militärischen Übergriffen seitens der Siegermächte von außen, versuchten besonders in den ersten Jahren ihres Bestehens links- und rechtsradikale Gruppierungen, den verhassten westlich-republikanischen Parlamentarismus mit Gewalt zu überwinden und neue staatliche Ordnungen an dessen Stelle zu errichten3. Überhaupt stand der Kampf an der politischen Tagesordnung. Während die von der Mehrzahl der Deutschen ungeliebte Republik unter enormem innenund außenpolitischen Druck stand, „bewirkte das Fiebrige der öffentlichen Verhältnisse eine wachsende Verrohung und Verwahrlosung.“4 Zwischen 1919 und 1923 wurde der Ausnahmezustand zur Regel. Als 1918/19 von linksradikaler Seite versucht wurde, die militärische Katastrophe des monarchistischen Deutschland zu nutzen, um auf deutschem Boden eine Räterepublik zu errichten, konnte nur eine Zusammenarbeit zwischen den Mehrheitssozialdemokraten mit der militärischen Führung die proletarische Revolution verhindern. Zwei für die erste deutsche Republik folgenschwere Konsequenzen hatte dieser Vorgang: Zum einen standen sich von nun an Sozialdemokratie, neben dem Zentrum die größte Stütze der Republik, und Kommunisten als erbitterte Todfeinde gegenüber. Zum anderen herrschte in Deutschland spätestens mit dem Bekanntwerden von russischen Finanzaktionen mit linksradikalen deutschen Gruppierungen und der Unterstützung der Spartakisten aus Moskau ein Klima der Verdächtigung gegen alles als kommunistisch Identifizierte zusammen mit der mehr oder minder berechtigten Furcht vor bolschewistischem Einfluss in Deutschland vor. Besonders in kirchlichen Kreisen wurden die Nachrichten über die brutale Verfolgung der Kirchen und der Christen in der Sowjetunion mit zunehmendem Entsetzen aufgenommen. Auch in der unmittelbaren Folgezeit setzten sich die Brutalisierung des politischen Umgangs und die Suche des politischen Heils in extremistischen Lösungen fort. Allein zwischen 1919 und 1923 gab es in Deutschland 354 politische Morde von rechts und 22 von 2 Zu den äußeren Belastungsfaktoren im Gefolge des Versailler Vertrages vgl. Kap. II, 2. 3 Mohler, Revolution, 40 spricht für die ersten fünf Jahre der Weimarer Republik von einer „Zeit des permanenten Bürgerkriegs“. Er zählt 18 Aufstandsversuche von links und drei von rechts. 4 Funke, Republik, 13. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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links5. Im Februar 1919 wurde der bayerische USPD-Ministerpräsident Kurt Eisner von einem Offizier ermordet, im November starb Hugo Hase, der Parteivorsitzende der linksradikalen USPD, nach einem Attentat. Die Furcht vor einer unsicheren Zukunft entlud sich besonders bei Berufssoldaten, denen die Bestimmungen des Versailler Vertrages die Arbeitslosigkeit bereitete, in aggressivem Hass auf die Republik. Im März 1920 putschen Reichwehr- und Freikorpsverbände um die Anführer Walther von Lüttwitz und Hermann Erhardt in Berlin, doch konnte die Bildung einer Gegenregierung unter Kapp durch einen Generalstreik abgewendet werden. Zeitgleich mit dem Aufstand von rechts in Berlin gingen andernorts die Linken gegen die Republik vor. Im März und April 1920 beendeten Reichswehrverbände gewaltsam Aufstände der „Roten Ruhrarmee“ in Essen, Elberfeld und Düsseldorf, und auch eine in Sachsen ausgerufene Räterepublik wurde in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen niedergeschlagen. Ein Jahr später kam es im März 1921 in Sachsen erneut zu Unruhen, ehe im August 1921 der Zentrumsabgeordnete und ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger, dem von rechtsradikalen Kreisen die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens im November 1918 angelastet wurde, ermordet wurde. Im Jahr darauf wurden im Juni 1922 sowohl der Außenminister Walther Rathenau, auf dem große Hoffnungen für die Republik lagen, von Rechtsradikalen ermordet, als auch auf den SPD-Politiker Philipp Scheidemann ein Blausäureattentat verübt. Das die erste deutsche Republik in ihrem Bestand nach außen und innen am meisten gefährdende Jahr 1923 setzte ein mit der mit Reparationszahlungsrückständen begründeten Besetzung des Ruhrgebiets als „produktives Pfand“ durch Franzosen und Belgier im Januar. Das Gefühl ungerechter Behandlung und eigener Ohnmacht, verbunden mit einem brutalen Vorgehen der Besatzer, rief auf deutscher Seite sowohl passiven als auch aktiven Widerstand hervor. Zu ersterem rief auch die Reichsregierung auf und wollte diesen mit Reichsmitteln finanzieren, was die Inflation erheblich anheizte. Im Juni 1923 stand die deutsche Wirtschaft vor dem völligen Kollaps, die Ernährungslage im Reich war katastrophal, so dass im September 1923 der sogenannte „Ruhrkampf“ schließlich abgebrochen werden musste6. Die national aufgeheizte Stimmung im Land nutzte am 1. Mai 1923 die NSDAP um ihren charismatischen Anführer Hitler zu einem großangelegten bewaffneten Aufmarsch, der allerdings von Polizei und Reichwehr kleingehalten wurde. Im Herbst 1923 kulminierte 5 Vgl. ebd., 17. 6 Für Michalka, Außenpolitik, 313 war der Ruhrkonflikt „gleichzeitig Höhepunkt und Abschluß einer Politik, der die kriegerische Auseinandersetzung des Ersten Weltkrieges mit poli tischen und wirtschaftlichen Mitteln fortsetzte.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schließlich die Zerreißprobe für das Deutsche Reich. Im Oktober kam es erneut zu kommunistischen Aufständen in Thüringen, Sachsen und Hamburg, die von Reichswehr und Polizei unterbunden werden konnten. Ebenfalls im Oktober 1923 flammten französisch unterstützte Separatistenunruhen im Rheingebiet auf7, ehe im November 1923 Hitler seinen Putschversuch unternahm und nach dem Vorbild Mussolinis von München aus nach Berlin marschieren wollte, was am Widerstand der bayerischen Polizei scheiterte. Dieser allgegenwärtigen Bedrohungslage für die Existenz der ersten deutschen Republik von Links, von außen und vor allem von rechts entsprach zugleich eine Zunahme der republikfeindlichen Kräfte in den Parlamenten von Wahl zu Wahl. „Die Verachtung von Kompromissen vervielfältigte die Tendenzen zur Polarisierung“, so dass sich bereits ab 1920 eine „Auszehrung der politischen Mitte“ abzeichnete. Nach Manfred Funke konnten auch die sogenannten „goldenen Zwanziger Jahre“ nach dem Ende der Inflation von 1924 bis 1928 diesen Trend nicht aufhalten und blieben damit letztlich eine „Übergangsphase, in welcher ein aktiver, geistiger, streitbarer Demokratieschutz ebenso wenig gelang wie die Verfassungssicherung mit den Mitteln des Rechts.“8 Freilich bedurfte es erst der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929, die Deutschland aufgrund seiner infolge der Reparationsverpflichtungen notwendigen ausländischen Kredite besonders hart trafen, um die Wähler in großen Scharen den radikalen Parolen von links und rechts nachlaufen zu lassen. So wurde die NSDAP in Bezug auf ihre Wählerstimmen erst bei der Reichstagswahl 1930 von einer der vielen rechtsradikalen Splitterparteien zu einer ernstzunehmenden politischen Größe, und auch die Kommunisten legten weiter zu. Auch die Lage von protestantischer Kirche und Theologie, vor allem lutherischer Ausprägung, sah in dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht besser aus. Konnte man in der Zeit der großen Koalition zwischen Thron und Altar im Protestantismus durchaus so etwas wie die Leitkultur der kaiserzeit lichen Gesellschaft sehen9, spürte die kirchlich-protestantische Elite nun ihren 7 Dazu schreibt Elz, Versailles und Weimar, 34f: „Das nach der Kapitulation im Rheinland faktisch isolierte und nicht weiter von der Notenpresse alimentierte Rheinland drohte verloren zu gehen: Der Separatismus rührte sich, und das kam der französischen Besatzungsmacht nicht ungelegen, die auf dem Umweg der Ablösung des Rheinlands vom Reich ihre Pläne von 1918/19 nachträglich realisieren wollte. Für einige Wochen hielten Separatisten das linksrheinische Gebiet unter Kontrolle, ehe ihnen aus der Mehrheit der Bevölkerung heraus – und mit geheimer Unterstützung von Reichsstellen – die Macht entrissen wurde.“ 8 Funke, Republik, 16. 9 Fesser, Die Kaiserzeit, 42.44 schreibt dazu: „Im Jahre 1910 gehörten 61,6 % der Bevölkerung des Kaiserreichs den evangelischen Landeskirchen und 36,7 % der römisch-katholischen Kirche an.“ „In den Jahren 1888 bis 1914 haben 90 Personen das Amt des Reichskanzlers und die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Einfluss durch kirchenfeindliche Kräfte von sozialistischer und sozialdemokratischer Seite einerseits und durch antiprotestantische Kräfte von Seiten des politischen Katholizismus andererseits bedroht10. „Mit der Revolutionserfahrung von 1918, die man sich nicht dramatisch genug vorstellen kann, fühlten sich große Teile des protestantischen Bürgertums, so wie sie ihren Nationalprotestantismus verstanden, nicht mehr nur in eine Welt gefährlich erodierenden Christentums, sondern in eine unchristliche, ja christentumsfeindliche Welt versetzt.“11
1919 wurde den konservativen Protestanten mit der Weimarer Koalition und der – freilich nicht konsequent durchgeführten – Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung ein Schock versetzt, von dem sich viele nicht mehr erholen sollten. Mit dieser Trennung von Staat und Kirche verlor die evangelische Kirche nicht nur ihre vormals herausragende, privilegierte und dominante Stellung in Staat und Gesellschaft, sie wurde nunmehr von der Verfassung unter die „Religionsgesellschaften“ subsumiert, wodurch die Religion vollkommen in den Bereich des Privaten abgedrängt zu werden drohte. Nicht ohne Grund spricht Matthias Pöhlmann daher von einem „schwindenden Positions- und Funktionsverlust der Kirche im religiösen und geistigen Pluralismus einer säkularisierten Massengesellschaft.“12 Die zahlreichen Kirchenaustritte ab 1919, unter anderem eine Folge der sogenannten „Gottlosenpropaganda“ des linken politischen Spektrums, taten ihr Übriges, um dieses negative Bild der Weimarer Republik in kirchlichen Kreisen zu festigen13. Maßgeblichen Einfluss auf das kirchliche Bild von der Weimarer Republik hatte dabei das Auftreten der bis 1930 stärksten und entscheidend staatstragenden Partei in Deutschland, der SPD. „Von ihren 152 Reichstagsabgeordneten waren im Jahr 1928 nur 20 Mitglieder einer Kirche“, so Jonathan Wright. „Laut dem Erfurter Programm vertrat die Sozialdemokratische Partei die Auffassung der Religion als ‚Privatsache‘ […]. Die sozialdemokratische Presse fand aus ihrer Sicht heraus häufig Anlaß zur Kritik an der evangelischen Kirche: sie spottete über kirchliche Feiern, beanstandete die staatlichen Zuwendungen für die Kirchen und deren Sozialarbeit und protestierte gegen Bekenntnisschulen. Unter diesen Umständen nahmen die Kirchenführer mit einigem Recht an, daß Ämter von Reichsstaatssekretären und preußischen Ministern bekleidet. Nur sieben von ihnen waren Katholiken.“ Adolf Stoecker sprach mit Blick auf das deutsche Kaiserreich sogar vom „Heiligen Evangelischen Reich deutscher Nation“. 10 Vgl. Bormuth, Kirchentage, 266. 11 Hardtwig, Religion, 155. 12 Pöhlmann, Kampf, 35. 13 Ebd., 54. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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die gemäßigte Politik der Sozialdemokraten gegenüber der Kirche auf den Druck der Zentrumspartei zurückzuführen war.“14
Die aus kirchlicher Sicht unbefriedigende Schulfrage, in der die Kirchen auf ein Reichsgesetz zugunsten der Bekenntnisschulen pochten, war ein wichtiger Aspekt in der kritischen Sichtweise auf die ohnehin nur widerwillig tolerierte Weimarer Republik: „Das Unvermögen der verschiedenen aufeinanderfolgenden Reichsregierungen, ein den grundsätzlichen Wünschen der Kirchenführer entsprechendes Reichsschulgesetz zu verabschieden, stand der Entwicklung guter Beziehungen zur Republik nachhaltig entgegen.“15
Doch auf kirchlicher Seite sah man nicht nur den eigenen Einfluss in der Gesellschaft schwinden, als Kehrseite dieser Medaille sah man die Gesellschaft der Weimarer Republik im Vergleich zu den verklärten Zeiten des Kaiserreichs in ein moralisches Chaos der Sittenlosigkeit abgleiten. Beim Blick in die „Kriminal- und Moralstatistik“ ließ man als Beleg dafür gerne die Zahlen sprechen16. Der Blick wurde gelenkt auf die steigende Kriminalität, insbesondere hinsichtlich „Straftaten gegen Staat, öffentliche Ordnung und Religion“ sowie „Sexual- und Sittlichkeitsverbrechen“, auf die steigende Zahl von Ehescheidungen, Abtreibungen, unehelichen Geburten und Selbstmorden sowie auf den steigenden Alkoholkonsum in Deutschland. Im Jahr 1927 konstatiert der kirchliche Statistiker Johannes Schneider: „Die sittlichen Anschauungen unserer Zeit sind durchaus angefault und dazu tragen Theater, Revuen und Kinos in stetem Wettbewerb bei.“17 Beide Aspekte, sowohl der aus dem Kaiserreich überkommene sittlich-kulturelle Hegemonialanspruch der evangelischen Kirche als auch das Gefühl, gegen die wahrgenommene „Zersetzung“ von Moral und Kultur vorgehen zu müssen, führte zu einer zunehmenden Politisierung evangelischer Theologen und Kirchenmänner in der Weimarer Republik. So schreibt Daniel Bormuth: 14 Wright, Parteien, 72 f. 15 Ebd., 77 f. Zur Schulfrage ebd., 77–81. 16 Vgl. die jeweils sehr ausführliche Rubrik „Aus der Kriminal- und Moralstatistik“ im „Kirch lichen Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands“ in der Zeit der Weimarer Republik, herausgegeben vom Berliner Oberkonsistorialrat Johannes Schneider. Zur ansteigenden Kriminalitätsrate in der Weimarer Republik vgl. auch Scholder, Kirchen, 62, Anm. 7. 17 Kirchliches Jahrbuch 1927, 253. Auch Althaus wurde nicht müde, diese Entwicklungen in seinen Schriften und Predigten anzuprangern. So spricht er in einer Predigt im Januar 1923 von „unserem kranken Volke“: „Das Zerbrechen der Sitte, das Sterben heilsamer Überlieferungen, das Leben in den Tag hinein; wie ehrbarer Handel und Wandel weithin zur Sage wird; mit welchen Instinkten des Volkes die Lichtspiele rechnen – das sind schmerzliche Dinge“ (2301P Losung, 116). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Der Verlust des für die Kaiserreichszeit charakteristischen protestantischen Sekuritätsgefühls führte besonders im Pfarrerstand zu einer erheblichen sozialen Positionsverunsicherung und einem tiefen Krisenbewusstsein, Vor diesem Hintergrund sahen sich die kirchlich-theologischen Akteure dazu herausgefordert, sich geschlossen zu formieren und politisch zu engagieren.“18
Zu dieser politischen Meinungsbildung fühlte sich auch Althaus heraus gefordert. Doch auch innerhalb der evangelischen Theologie galt es, einen Neuaufbruch zu wagen, indem man die bisherigen Engführungen von liberaler und biblizistischer Theologie hinter sich ließ und offen war gegenüber den Erkenntnissen von historisch-kritischer Schriftforschung und religionsgeschichtlicher Betrachtungsweise. Entscheidende Impulse für einen solchen Neuaufbruch gingen dabei von der mehr und mehr intensivierten Beschäftigung mit der Theologie Martin Luthers aus, die sich als regelrechte „Lutherrenaissance“ etablierte und deren Hauptvertreter Karl Holl und Carl Stange als akademische Lehrer in Tübingen bzw. Göttingen direkt auf Althaus gewirkt hatten. Von Göttingen herkommend und dort selbst mit der religionsgeschichtlichen Forschung in Kontakt gekommen, gehörte Althaus theologisch „zu jener junglutherischen Rostocker Gruppe, die das Luthertum erstmals mit den historisch-religionsgeschichtlichen Methoden zu verbinden suchte“19. Mit der Hinwendung zu Luther eng verbunden – zumindest für diese lutherischen Theologen – ist ein ganzer Paradigmenwechsel innerhalb der evangelischen Theologie. Im Geleitwort der ab 1923 von Carl Stange zusammen mit Paul Althaus, Emanuel Hirsch und Georg Wehrung herausgegebenen „Zeitschrift für systematische Theologie“ liest sich das folgendermaßen: „Die Fragen der Religion und der Weltanschauung sind unter dem Einfluß der Weltereignisse in überraschender Weise in den Vordergrund gerückt worden. In der Theologie hat das zur Folge gehabt, daß sich die systematische Theologie und die Geistesgeschichte einer Beachtung erfreuen, die ihnen seit langem nicht mehr zu teil geworden ist. Man empfindet wieder stärker, daß sich die Aufgabe der Theologie nicht in Philologie und Historie erschöpfen darf.“20
18 Bormuth, Kirchentage, 270. Er schreibt weiter: „Solange nämlich die Öffentlichkeit der Mehrheitsgesellschaft wie in der Kaiserreichszeit noch vorwiegend evangelisch geprägt war und in der staatlichen Administration gebildete protestantische Laien selbstverständlich die Interessen ihrer Kirche vertraten, bestand für eine Politisierung evangelischer Geistlicher oder führender Synodaler kein Anlass. In einem weltanschaulich neutralen Staat änderten sich diese gesellschaftspoli tischen Rahmenbedingungen.“ 19 Beyschlag, Theologie, 178, Anm. 352. 20 2301 Geleit, 3. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Im Rückblick schreibt Althaus 36 Jahre später: Schon der Titel der Zeitschrift „war bezeichnend für das neue Selbstbewußtsein der systematischen Theologie nach dem Zeitalter des theologischen Historismus, der den wissenschaftlichen Charakter der theologischen Systematik, vor allem der Dogmatik bestritten hatte. […] Das Interesse an den systematisch-theologischen Fragen stand in den zwanziger Jahren innerhalb der Theologie fraglos an erster Stelle.“21
Diesen Paradigmenwechsel weg von historistischen hin zu systematisch-dogmatischen Fragestellungen erlebte und prägte Althaus direkt mit. Er und seine theologischen Mitstreiter sahen dabei ihre Aufgabe in der religiösen „Erneuerung und Vertiefung des Lebens, deren unsere Zeit bedarf“. „Das Verständnis der Religion aber, welches für die Kultur der Gegenwart allein in Betracht kommen kann, ist das Verständnis der Religion, welches wir der Reformation zu verdanken haben.“ Auf dieser Basis ging es Althaus und den anderen darum, die christliche Wahrheit, der die Theologie zu dienen hat, in Auseinander setzung mit allem „ernste[n] Wahrheitsstreben außerhalb der Theologie“22 zur Geltung zu bringen. Althaus befand sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Göttingen mit seiner Promotion im November 1913 und seiner Habilitation im Januar 191423 auf dem besten Weg, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Ab Januar 1914 arbeitete er am homiletischen Seminar von Carl Stange, doch der Krieg riss ihn „aus dem glücklichen Dasein eines jungen Privatdozenten.“24 Seit August 1914 war Althaus im Heeresdienst im Osten, bis Ende 1914 als freiwilliger Krankenpfleger und ab 1915 als Lazarett-, Garnisons- und Gouvernementspfarrer in Brzeziny und vor allem in Lodz. Die praktische Tätigkeit als Prediger und Seelsorger sprach Althaus so sehr zu, dass er sie kurzzeitig sogar seiner wissenschaftlichen Karriere als Theologe vorziehen wollte. „Nach der Rückkehr aus meinem schönen Kriegsamte lockte mich zunächst die Universität nicht. Es zog mich, in der dunkelsten, wirren Zeit des Vaterlandes, ins städtische Pfarramt.“25 Der Krieg und sein Ausgang bedeuteten für ihn eine tiefe Erschütterung. „Als wir […] aus dem Kriege heimkehrten, fanden wir eine veränderte Welt und uns selbst gewandelt vor. Die
21 5902 Rückblick, 1 f. 22 2301 Geleit, 5. 23 Seine Dissertation bzw. Habilitation erschien 1914 unter dem Titel „Die Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik. Eine Untersuchung zur altprotestantischen Theologie“ (1401). 24 2709 Eintrag, 584. 25 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Kriegsjahre bedeuteten eine Zäsur, wie im allgemeinen Leben, so auch in der Geisteslage.“26 Im Dezember 1918 kehrte Althaus nach Deutschland zurück. Nachdem ihm die Hannoversche Landeskirche keine geeignete Pfarrstelle anbieten konnte, übernahm er Ende Januar 1919 die vorübergehende Leitung des Prediger seminars auf der Erichsburg27, wo er selbst als Kandidat 1911 bis 1913 unter dem damaligen Leiter August Marahrens, dem späteren Landesbischof, eine „überaus wertvoll[e]“ Zeit verbracht hatte28. Von seinem freundschaftlich verbundenen Mentor Carl Stange ermutigt, kehrte er im Sommer 1919 nochmals als Assistent ans homiletische Seminar nach Göttingen zurück, wo er ein „unvergeßliche[s] Sommersemester mit den feldgrauen Hörerscharen“29 erlebte. Schon vorher war man auch andernorts in Deutschland auf den jungen, vielversprechenden Privatdozenten aufmerksam geworden. Bereits im November 1918 fand sich sein Name bei den Berufungsvorschlägen der Rostocker Fakultät zur Nachfolge des Systematikers Hermann Mandel, allerdings „trotz seiner erheblichen und vielseitigen Begabung“ aufgrund seines jungen Alters erst an vierter Stelle30. Als der damals stattdessen berufene Robert Jelke die Rostocker Fakultät nach kaum einem halben Jahr wieder Richtung Heidelberg verließ, konnte man im Herbst 1919 Althaus dafür gewinnen, im Wintersemester 1919/20 die systematische Theologie in Rostock „auftragsweise zu verwalten“31. Rostock, wie andere kleine Universitäten in Deutschland auch, galt damals für eine Vielzahl junger Gelehrter als ein mögliches Sprungbrett für einen Ruf an eine bedeutendere Universität. Auch ein weitere Aspekt mochte Rostock für Althaus interessant gemacht haben: Durch langfristige gezielte Berufungspolitik besaß die Rostocker Fakultät eine bemerkenswerte theologische Einheitlichkeit in Forschung und Lehre. Der Lehrkörper rekrutierte sich ausnahmslos aus dem konservativen Flügel der lutherischen Kirche. Weil die Göttinger Fakultät jedoch ihr „Eigengewächs“ an ihrer Universität halten wollte, wurde dort die Errichtung einer außerordentlichen Professur für Althaus beantragt32. Als 26 6503 Lage, 746. 27 Die Bestellung zur Wahrnehmung der Geschäfte des Studiendirektors des Predigerseminars auf der Erichsburg durch das Landeskonsistorium erfolgte am 31.1.1919; vgl. das diesbezügliche Schreiben in: NPA 6/6. 28 2709 Eintrag, 584. Zu seiner Zeit auf der Erichsburg unter Marahrens vgl. 5202 Erichsburg. 29 2709 Eintrag, 585. Vgl. 2407 Erlebnis, Vorwort zur 2. Auflage. 30 Universitätsarchiv Rostock, Personalakte Paul Althaus, zit. nach: Pauli, Geschichte, 344, Anm. 29. 31 Ebd., 343. 32 Vgl. ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Reaktion darauf überzeugte die Rostocker Fakultät das Mecklenburgische Unterrichtsministerium, Althaus zum 1. Januar 1920 zum ordentlichen Professor für Systematische Theologie in Rostock zu berufen. Neben Vorlesungen und Seminaren in Dogmatik und Ethik, die einen gewissen Schwerpunkt in Eschatologie und Sozialethik erkennen lassen33, hielt Althaus auch Vorlesungen über den 1. Petrusbrief34. Die Berufung Althaus’ wirkte sich sehr positiv auf die Rostocker Fakultät aus. Sie bekam allmählich einen guten Ruf auch über die Grenzen Mecklenburgs hinaus, und die Zahlen der Theologiestudenten in Rostock stiegen an35. Schon frühzeitig wusste Althaus nicht nur als akademischer Lehrer, sondern auch als Mann der Praxis zu überzeugen. Ab dem Sommersemester 1920 war er neben dem Praktischen Theologen Gerhard Hilbert zweiter Universitätsprediger, und seine Gottesdienste erfreuten sich in Rostock „größten Zuspruchs“36. Drei Sammelbände mit Predigten, die in Althaus’ Rostocker Zeit entstanden, zeugen von seiner Ausstrahlungskraft auf der Kanzel37. Im Wintersemester 1921/22 und im Sommersemester 1922 war Althaus, damals dreiunddreißigjährig, Dekan der Theologischen Fakultät. Sechs Semester später war er es im Sommersemester 1925 erneut, ehe er am 1. August 1925 nach Erlangen berufen wurde. Bereits im Jahr 1921 hatte er den Ruf auf eine der damals renommiertesten deutschen Predigerstellen, die Michaeliskirche in Hamburg, abgelehnt38. Nun wollte er seinen Weg an der Universität weitergehen. Dass Althaus in Rostock einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte, zeigt allein schon die Tatsache, dass er 1930 als Nachfolger im Amt des Landesbischofs von Mecklenburg ins Gespräch gebracht wurde39. Doch auch fakultätspolitisch be-
33 1921 erscheint „Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik“, 1922 „Die letzten Dinge. Entwurf einer christlichen Eschatologie“ und 1923 „Staatsgedanke und Reich Gottes“. 34 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der theologischen Fakultät Rostock in dieser Zeit. 35 Wie beliebt und gutbesucht seine Seminare waren, zeigt die Tatsache, dass im Sommersemester 1924 etwa 75 Prozent der in Rostock eingeschriebenen Theologiestudenten an seinem Seminar über Eschatologie teilnahmen. Das waren so viele, dass das Seminar im Hörsaal abgehalten wurde; vgl. Pauli, Geschichte, 343. 36 Ebd., 325. 37 Im Jahr 1921 erscheint „Der Heilige. Rostocker Predigten“ (3. Auflage 1925), wobei der Titel in programmatischer Opposition zu Rudolf Ottos wirkmächtigem religionsphänomenologisches Buch „Das Heilige“ von 1917 zu verstehen ist. Gegen eine neutrale und neutralisierende Betrachtungsweise des Christentums und seines Gottes betont Althaus in seinen Predigten die Persönlichkeit Gottes, der für ihn nicht zuletzt in der Geschichte handelnd als gegenwärtig erfahrbar ist. 1924 folgt der Sammelband „Der Lebendige“ und 1926 „Das Heil Gottes. Letzte Rostocker Predigten“. 38 Vgl. das diesbezügliche Schreiben aus Hamburg vom 1.8.1921 (NPA 6/6). 39 Vgl. das Schreiben Friedrich Brunstäds an Althaus vom 11.4.1930 (NPA 10). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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saß er in Rostock offenbar großen Einfluss: „Er übte auch nach seiner Berufung an die Erlanger Universität über persönliche Kontakte zu den Rostocker Theologen Einfluß auf die Berufungspolitik aus.“40 Ein Wesenszug von Althaus und ein Charakteristikum seines Schaffens – neben seinem starken Streben danach, am Puls der Zeit zu sein – zeigte sich in Rostock von Beginn an: das Bemühen um die akademische Jugend, auf die er große Hoffnungen für eine christliche und nationale Wiedergeburt Deutschlands setzte. Schon in seiner Zeit in Lodz hatte dieses sich abgezeichnet, nun als akademischer Lehrer sollte es sich vollends entfalten. Wie wichtig und wertvoll dieser enge Kontakt sein konnte, wusste er selbst aus eigener Erfahrung als Student in Tübingen, wo er regelmäßig an den offenen Abenden im Hause seines Lehrers Adolf Schlatter teilgenommen hatte41. Entgegen kam ihm dabei zum einen sein junges Alter, war er doch mit 31 Jahren kaum älter als seine Studenten. Zum anderen erleichterte ihm die Mitgliedschaft in einer studentischen Verbindung den direkten Zugang zu den Studenten42. Er wollte sich seinen guten Kontakt zur akademischen Jugend in volksmissionarischem Sinn zu Nutze machen. Er besaß „das Ohr dieser Jugend“43, der „feldgrauen Hörerscharen“44, die ihm so besonders am Herzen lagen. „Unmittelbarer [hat er] zu keiner anderen Generation gesprochen, als zu der, die, 1919 aus dem Heeresdienst entlassen, noch bis 1923 den in das Zivile umgeschneiderten feldgrauen Rock tragen mußte, weil es in der Inflationszeit keine neue Kleidung zu kaufen gab. Mit dieser Jugend [hatte er] nationale Begeisterung und nationale Not der Kriegsjahre geteilt“ und war daher verbunden „mit dieser opferfreudigen, einer neuen Zukunft entgegenstürmenden Jugend.“45
40 Heidorn, Geschichte, 266 f. Ein Beleg findet sich dort allerdings nicht. 41 Vgl. Jasper, Theologiestudium, 256. 42 Seit Mai 1906 war Althaus Mitglied der Tübinger Schwarburgbund-Verbindung Nicaria (vgl. seinen Brief an den Vater vom 6.5.1906, abgedruckt in: Jasper, Theologiestudium, 263 ff.; vgl. 258 f. und Liebenberg, Gott, 111), mit der er sich auch nach seiner Tübinger Zeit noch eng verbunden wusste; vgl. 2703 Brief. Am Geschick des Schwarzburgbundes nahm Althaus noch bis ins hohe Alter hinein Anteil, was seine häufige Tätigkeit als Festredner und Verfasser von Artikeln in der Bundeszeitung dokumentiert; vgl. z. B. „Erbe und Auftrag. Rede bei dem Festakt zur 75-Jahrfeier des Schwarzburgbundes am 13. Juni 1962 in Bad Hersfeld“ (6205). In Rostock verkehrte Althaus wohl ab dem WS 1919/20 als Gast bei der dortigen SB-Verbindung Trotzburg, für die als 1918 neugegründeter Bund jede Unterstützung willkommen war (vgl. den Semesterbericht in: Die Schwarzburg 2 (1920), 14). Schon bald nahm er daher auch das Trotzburg-Band auf. Ein Artikel in der Verbandszeitung vom Januar 1924 (2402 Jahre) nennt Althaus als Mitglied von Trotzburg Rostock. 43 Maurer, Situation, 165. 44 2709 Eintrag, 585. 45 Maurer, Situation, 166. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Diese Jugend aber meinte Althaus am ehesten durch aktuelle Wortverkündigung in der Predigt und eine Theologie am Puls der Zeit zu erreichen. So schreibt er rückblickend 1927 ins Goldene Buch der Universität Erlangen: „Die Gegenstände meiner wissenschaftlichen Arbeit seit dem Kriege wurden mir durch die geistige Lage gegeben. So habe ich insonderheit über die Probleme des religiösen Sozialismus, des Verhältnisses von Evangelium und Sozialgestaltung bzw. Politik […] sowie über die Frage der ‚letzten Dinge‘ […] gearbeitet.“46
46 2709 Eintrag, 585. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
2. Paul Althaus in der Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus Seine erste Monographie als Rostocker Systematiker widmet Althaus den „Grundfragen der christlichen Sozialethik“, die 1921 unter dem Titel „Religiöser Sozialismus“ in Carl Stanges Reihe „Studien des apologetischen Seminars in Wernigerode“1 erscheint2. Inhaltlich schließt diese Veröffentlichung direkt an seinen zwei Jahre zuvor erschienenen Aufsatz „Pazifismus und Christentum“ an, in beiden Arbeiten befasst er sich mit der Frage nach den theologischen Voraussetzungen und den praktischen Forderungen der Religiösen Sozialisten und mit der Frage nach dem Pazifismus und nach dem Krieg als geschichtlicher Gegebenheit3. Bildeten bereits im Februar 1919 die revolutionären Zustände in Deutschland den Hintergrund für Althaus’ Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus, so entsteht seine neuerliche Abhandlung in der kirch licherseits zunehmend als Bedrohung für das Christentum empfundenen Lage weiterhin aufflammender Umsturzversuche von Links und einer starken sozialistischen Kraft in den deutschen Parlamenten zu Beginn der Weimarer Republik4. So schreibt Althaus 1921: „Die religiös-soziale Frage gehört zu den Problemen des Christentums, die immer wiederkehren, so oft die Zeit für sie wieder einmal erfüllt ist. Auch in Deutschland ist sie durch den Krieg, seinen Ausgang und die Revolution nicht erstmalig geweckt, aber emporgetragen und zur breiten Bewegung geworden.“5
Sehr treffend ist die Beurteilung der damaligen Situation, die Ingmar Dette vornimmt: 1 Zum „Apologetische Seminar in Wernigerode“ den Exkurs in Kap. III, 4.5. 2 In der Zeitschrift „Die Reformation“ (Nr. 8, 64) wird „Religiöser Sozialismus“ am 14.8.1921 als Neuerscheinung angezeigt, die Veröffentlichung der Schrift ist daher wohl im Sommer 1921 erfolgt. Auf dem Umschlag von 2201 Dinge kündigt der Verlag an, vom „Religiösen Sozialismus“ sei eine „neue Auflage in Vorbereitung“, allerdings ist es zu dieser nicht mehr gekommen. 3 Nach Mann, Ordnungen, 33 f. ist es „ein Charakteristikum für das Schaffen Paul Althaus’, dass sich neue Arbeiten wie Fortsetzungsbände an ältere anschliessen oder dass vorangegangene Schriften inhaltlich in neue Bücher einfliessen.“ 4 Seine Rezension über den „Religiösen Sozialismus“ beginnt der Tübinger Theologe Paul Wurster mit einer sehr düsteren Einschätzung der aktuellen Lage: „In Preußen stehen 6,5 Millionen sozialistische ungefähr gleich vielen bürgerlichen Stimmen gegenüber; Sachsen, Braunschweig, Thüringen, Mecklenburg haben eine rote Mehrheit. Wenn das noch einige Jahre so bleibt […] und wenn die bisherige Haltung der Sozialisten zu Christentum und Kirche, eine Skala von eiskalter Gleichgiltigkeit bis zum glühenden Haß, auch bleibt, dann ist es mit unserer Volkskirche zu Ende.“ (Monatsschrift für Pastoraltheologie 17 (1921), 320). 5 2104 Sozialismus, 13 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Althaus’ theoretische Ausgangssituation ist in der Auseinandersetzung mit den Religiös-Sozialen demnach die denkbar schlechteste. Während die religiösen Sozialisten nach dem Ende des wilhelminischen Reiches nun ihre Ordnungsvorstellungen offensiver zum Ausdruck bringen konnten, ging das lutherische Ordnungsdenken, das eben noch maßgeblich theologisch legitimierend zur Stabilisierung des politischen Systems beigetragen hatte, angeschlagen in den Ring.“6
Mit denjenigen Theologen, die theologisch und praktisch eine Synthese von Sozialismus und Christentum anstreben bzw. volksmissionarisch an den Sozialismus anknüpfen wollen, setzt sich Althaus hier auseinander. Dies tut er wiederum in differenzierter Weise. Gegenüber „Pazifismus und Christentum“ ist trotz der kurzen Zeitspanne eine Entwicklung erkennbar: Vielfach argumentiert er deutlicher, an manchen Punkten, z. B. bei der Frage nach dem Krieg, äußert er sich vorsichtiger und differenzierter. Die problematischen Aporien gerade bei diesem Thema kann Althaus auch jetzt nicht lösen. 2.1 Die prinzipielle Ablehnung des Religiösen Sozialismus bei positiver Aufnahme seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Anliegen Dass man „mit dem Beiworte ‚religiös-sozial‘ das Christentum überhaupt kennzeichnen“ könne7, insofern nämlich das Christentum Liebes- und Aktions gemeinschaft sei, schickt Althaus seinen Ausführungen vorweg. Das sei auch der Grund, weshalb nach dem Krieg die religiös-soziale Frage „nicht zuletzt für die gebildete christliche Jugend“ von großem Interesse sei und weshalb er sich mit einer theologischen Kritik am Religiösen Sozialismus schwer tue8. Über den vorhandenen praktischen Fragen der Christenheit dürften allerdings nicht die theoretischen, d. h. die theologischen, vergessen werden: „In Wahrheit führt das religiös-soziale Problem tief in die Glaubensfragen
6 Dette, National-Protestantismus, 69. 7 2104 Sozialismus, 7. 8 Althaus schreibt dazu: „Nicht gern treten wir in eine theologische Kritik der ReligiösSozialen ein. […] Durch die Herzen geht die Sehnsucht nach einer erlösenden Tat der Gemeinde. Nach christlicher Tat ins Große dürstet weithin die Jugend. Die messianische, chiliastische Wucht der religiös-sozialen Auffassung des Christentums hat es ihr angetan. Herrschaft Christi auf allen Lebensgebieten – das ist ein großer Gedanke, wie die christliche Jugend ihn braucht. Endlich, so scheint es, Männer der Tat – und die zünftigen Theologen fallen ihnen in den Arm! […] Eine neue herrliche Stunde für die Kirche scheint gekommen. Wie rückt das religiös-sozial verstandenen Evangelium […] mitten ins Volksleben, der tiefsten Sehnsucht der Massen entgegen!“ (ebd., 31). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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hinein.“9 Daher bedarf es nach Althaus einer theologischen Kritik der religiössozialen Bewegung, nicht zuletzt weil deren Anliegen und Theologie einen Angriff auf evangelisch-kirchliche, speziell lutherische Theologie und Sozialethik darstelle10. Luther werde dabei vorgeworfen, er habe „dem wirtschaft lichen und politischen Leben […] den verhängnisvollen Freibrief der Eigengesetzlichkeit gegeben.“11 Auch wenn Althaus nicht alle Religiösen Sozialisten in einen Topf werfen will12, so sieht er deren gemeinsames Hauptmerkmal im Evolutionismus, der ein reales, diesseitiges Reich Gottes als Ziel der geschichtlichen Entwicklung betrachtet. Die Normen für die Aufrichtung dieses weltimmanenten Gottesreichs entnehmen die religiös-sozialen Theologen der Bergpredigt13. Als problematisch erkennt Althaus vor allem das Verhältnis der religiössozialen Theologen zum politischen Sozialismus, das die Grenzen zwischen Theologie und politischer Ideologie verschwimmen lässt. Den aus seiner Sicht abzulehnenden Pazifismus stellt er in den gleichen Zusammenhang. „Man entdeckte die innere Verwandtschaft des echten Christentums mit den sozialistischen und pazifistischen Idealen. Sozialistische und urchristlich-chiliastische Zukunftserwartung rücken nahe zusammen.“14 Er ist demgegenüber der Überzeugung: „Wir dürfen es auch nicht unwidersprochen lassen, wenn biblische Kerngedanken wie das Reich Gottes und die Erlösung entstellt und mit fremden Inhalten gefüllt werden.“15 Zur Illustration dessen, was er damit meint, führt Althaus einige aussagekräftige Zitate des Religiösen Sozialisten Eberhard 9 Ebd., 7. 10 An anderer Stelle, in einer Rezension zu Georg Wünschs „Die Bergpredigt bei Luther“, schreibt Althaus: „Der Kampf um die Sozialethik des Christentums wird weithin zum Kampf um Luther“ (2210R Wünsch, 81). 11 2104 Sozialismus, 13. 12 Er spricht von einer „Fülle verschiedener Töne“, was gerade den „‚Bewegungs‘-Charakter“ des Religiösen Sozialismus ausmache (2104 Sozialismus, 9). 13 Es gehört zur differenzierten Sichtweise von Althaus, wenn er an dieser Stelle Karl Barth – gemeint ist sein „bedeutender und tiefer Tambacher Vortrag“ – attestiert, dieser habe „viel tiefer in die schwere Problematik des religiös-sozialen Gedankens hineingeschaut und einerseits die Überweltlichkeit des Christentums als Religion, andererseits die weitgehende Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen und politischen Lebens begriffen“ (ebd., 12). Im Gegenzug schreibt Barth 1922 in seiner „Auseinandersetzung mit Paul Althaus“: „Wir können uns nur freuen über die Tatsache, daß er [= Althaus] sich auf einen Boden gestellt hat, auf dem wir mit ihm verhandeln können und wollen.“ (ders., Grundfragen der christlichen Sozialethik, 42). Trotz aller deutlichen Kritik an Althaus kann Barth am Ende resümieren: „Das Buch bleibt eine sympathische Erscheinung, weil es gerade in seiner gewissen inneren Brüchigkeit ein Beweis ist, daß das Eis am Schmelzen ist.“ (ebd., 57). 14 2104 Sozialismus, 14. 15 Ebd., 32. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Arnold an, die die sozialistische Transformation christlicher Inhalte vor Augen führen16. Zweierlei theologisch motivierte Absichten verfolgt Althaus mit seiner Zurückweisung des Religiösen Sozialismus: Zum einen geht es ihm darum, einer sozialistischen Transformation christlicher Glaubensinhalte zu wehren; zum anderen darum, „die Selbständigkeit und Überweltlichkeit des ‚Heiligen‘ […] gegenüber aller Auflösung in wirtschaftlich-politische Heils- und Erlösungs geschichte“ zu bewahren17. Außerdem – und dahinter verbirgt sich bei ihm in erster Linie eine weltanschaulich-politische Motivation – darf man es nach Althaus „nicht einfach geschehen lassen, daß der neue christliche Radikalismus im Namen Jesu und der Bergpredigt die Gewissen gegenüber Recht, Vaterland, Staat, Kriegsdienst verwirrt.“18 Gegenüber den radikalen Religiösen Sozialisten, d. h. gegenüber der „krank hafte[n] Abneigung der entschlossensten Religiös-Sozialen gegen Macht und Staat“19 bringt er die Notwendigkeit von Recht und Staat zu Geltung, indem er darlegt, dass die „Liebe als einzige Weltverfassung“20 undenkbar ist, weil die „Welt […] mit dem Evangelium nicht regiert werden“ kann. Die Unmöglichkeit des Verzichts auf Ordnung zugunsten eines christlichen „Anarchismus“, der nur mit der Liebe auszukommen vermeint, begründet Althaus zunächst kulturell: Für ihn ist „höheres Leben in der menschlichen Gesellschaft“ an die Bedingung gebunden, dass die „Regelung der menschlichen Beziehungen durch feste, verbindliche Ordnungen, die eine Berechenbarkeit und Stetigkeit des geschichtlichen Daseins in bestimmten Grenzen begründen“ gewährleistet ist, die verhindert, dass das menschliche Leben „auf einer kindlichen Lebensstufe der Planlosigkeit“ verharrt. In einem weiteren Schritt stellt Althaus die menschliche Freiheit als Bindeglied zwischen notwendiger Rechtsordnung und dem Walten der Liebe heraus: „Wir bedürfen einer gewissen Freiheit vonein 16 So äußert sich Arnold nach Althaus folgendermaßen: „Da wir eine Neuordnung der Welt ersehnen, ist es ganz natürlich, daß wir uns zu den radikalen politischen Parteien hingezogen fühlen. Wir sehen in der Sozialdemokratie […] den Versuch dessen, was wir wollen. […] In der Weltrevolution ist derselbe Geist wirksam, der die Urgemeinde zusammengebracht hat.“ (2104 Sozialismus, 14). Althaus gibt als Literaturangabe lediglich „Arnold 1920“ an, eine genaue Zuordnung zu einer Veröffentlichung von Arnold ist daher nicht möglich. Friedrich Rittelmeyer gibt Althaus mit der Äußerung wieder, Christus komme heute in der Verhüllung des Sozialismus (ebd., 15). 17 Ebd., 32. Auch an dieser Stelle nimmt Althaus Barth positiv aus der Kritik heraus, indem er betont, dieser wisse, „daß das Göttliche ‚etwas […] der Art nach Neues, Verschiedenes gegenüber der ‚Welt‘ ist und warnt vor den schnellen Bindestrichen ‚christlich-sozial‘, ‚evangelisch-sozial‘, ‚religiös-sozial‘“ (ebd., Anm. 1). 18 Ebd. 19 Ebd., 37. 20 Ebd., 34. Die folgenden Zitate finden sich ebd., 35–37. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus
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ander, um füreinander da sein zu können. […] So fordert gerade die Liebe eine Rechtsordnung […], weil nur sie die Freiheit zu eigenem Leben und damit die Möglichkeit der Liebe sichert.“ Für Althaus ist es außerdem die natürliche Verschiedenheit der Menschen, die eine staatliche Ordnung für das Zusammenleben dieser Menschen unabdingbar macht: „Der Anarchismus aber ist unmöglich, weil […] wir von Natur als individuelle Menschen verschiedene Einsicht und verschiedene Willensziele haben.“21 Die Sündhaftigkeit des Menschen, mit der vor allem Luther sozialethisch argumentierte, zieht Althaus schließlich als Steigerung heran: „Diese Notwendigkeit von Recht und Staat wird verstärkt durch die Tatsache, daß in der Menschheit von Natur Selbstsucht und zügellose Willkür die bestimmenden Mächte sind.“ Neben einem völligen Verzicht auf eine menschliche Rechtsordnung hält Althaus aber auch die Verwirklichung einer Ordnung der Menschheit nach den Regeln der Liebe für undenkbar. Die Wirtschaftsordnung der Liebe soll dann der Sozialismus bzw. Kommunismus sein, „die politische Verfassung der Liebe ist der Völkerbund, das Weltfriedensreich“22. Althaus argumentiert gegen diese gemäßigte religiös-sozialistische Position zunächst formal mit der Gegenüberstellung von Liebe und Recht, bzw. Reich Gottes und Rechtsordnung, indem er betont, dass auch eine Ordnung nach den Grundsätzen der Liebe eine Ordnung bleibt und darum letztlich ohne Zwang nicht auskommt. Damit aber sieht er sie im Gegensatz zum Reich Gottes23: „Die kommunistische Wirtschaftsordnung als solche […] wäre niemals Reich Gottes, der christliche Völkerbund als solcher ebensowenig, denn beide können das Moment des Verbindlichen, also des Rechtes und damit des Zwanges nicht entbehren. […] Auch ein Weltfriedensreich bleibt ‚Welt‘.“24 Althaus kommt zu dem prägnanten Schluss: „Das Reich Gottes kann niemals Weltordnung […], eine Weltordnung als solche kann niemals das Reich Gottes sein.“25 21 Diese Einsicht in die Verschiedenheit der Menschen lässt Althaus auch zu einem bedingten Recht des Parteiwesens gelangen: „Daß es Parteien in den Volksgemeinden gibt, stammt nicht aus der Sünde, sondern aus der natürlichen Differenzierung der Menschheit. Über den Parteien muß ein Wille sein. Sonst stehen wir im Chaos.“ Diesen Willen sieht Althaus im Staat verkörpert. 22 Ebd., 38. 23 Er führt dazu aus: „Eine Organisation nach den Grundsätzen der Liebe ist nicht Reich Gottes und ist nicht Walten der Liebe, denn sie ist ja Organisation, und Organisation zwingt auch die, die nicht wollen. Das Reich Gottes ist die Herrschaft des Evangeliums in den Herzen. Das Evangelium zwingt aber niemanden. Was nicht aus voller freier Hingabe geht, ist nicht Reich Gottes, sondern Sünde. Daher ist das Reich Gottes als Institution undenkbar.“ (ebd., 38 f.). 24 Ebd., 39. 25 Ebd. Auch inhaltlich argumentiert Althaus mit dem Gegensatz von Recht und Liebe und lehnt daher eine sogenannte „christliche Politik“, die das Reich Gottes institutionalisieren will, als unmöglich ab: „Jedes Rechtsverhältnis trägt den Charakter der Gegenseitigkeit von Rechten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Wenn Althaus auch die „übergeschichtliche Wirklichkeit“ des Reiches Gottes in Unterscheidung von der „geschichtliche[n] Lebensordnung der Menschheit“ hervorhebt und damit lutherische Gedanken über die zwei Reiche bzw. Regimente zur Anwendung bringt, so ist er dabei nicht der Auffassung, dass das Reich Gottes keinerlei Auswirkungen auf die Menschen hätte. Vielmehr interpretiert er Gottes Reich als „seine Herrschaft in freier Hingabe und Gemeinschaft der Gewissen.“26 Das in Freiheit gehorchende Gewissen des Einzelnen ist bei Althaus die vermittelnde Instanz zwischen dem Willen Gottes und der Welt27: Im „sittlichen Leben des Christen“ kommt es für ihn zu einer „spannungsvollen Einheit“28, weil hier geschichtliche und übergeschichtliche Wirklichkeit zu einer „Doppelbeziehung“ – nicht aber zu einem Dualismus – zusammenkommen. Die „den Menschen in seiner Tiefe beherrschende Bestimmtheit des Gewissens“ trifft hier auf die menschliche Erkenntnis der „geschichtliche[n] Lebensordnung der Menschheit“. Diese „spannungsvolle Einheit“, der zufolge sich der Christ „weder dem Leben in der Welt und ihren Ordnungen noch den unbedingten Forderungen artin der Bergpredigt entziehen“29 kann, findet Althaus bereits in der Lehre M Luthers vor, dessen Erkenntnis gelautet habe, „der Christ erfüllt mitten in seiner pflichtmäßigen Beteiligung an den Weltordnungen, ja gerade durch sie, Jesu Liebesgebot“30, denn es zielt „Jesu Wille nicht auf Weltordnungen, sondern auf die Tiefe der Gesinnung“. Wenn dieses synthetische Verständnis in der Realität auch eine „starke Spannung zwischen Gesinnung und Werk“ des Christen zur Folge haben kann, so ist für Althaus demgegenüber „in der Freiund Pflichten, Leistungen und Gegenleistungen. Das Reich der christlichen Liebe dagegen ist die Sphäre rückhaltlosen Gebens, freier, unberechnender Selbstlosigkeit. Das Recht bedeutet eine Rationalisierung unserer Beziehungen, die Liebe ist das Irrationale und Freie“ (ebd., 39 f.). 26 Ebd., 43. Dieser Gedanke steht auch hinter seiner Konzeption einer „axiologischen Eschatologie“ in 2201 Dinge. 27 Deutlich benennt Barth, Grundfragen, 55 das Problem und die Gefahr dieses Ansatzes: „Wer den Willen Gottes in so gefährliche Nähe des bißchen Herzens- und Gewissenserlebnisses der sogenannten Christen […] rücken kann, dem rückt er notwendig auch in die geradezu fatale Nähe von Geschichte, Natur und Schicksal: die psychologische Immanenz Gottes zieht die kosmische mit Notwendigkeit nach sich.“ 28 2104 Sozialismus, 43. 29 Ebd., 76. Diese „spannungsvolle Einheit“ kann Althaus an anderer Stelle auch als Ringen „um die Synthese von Realismus und Idealismus“ bezeichnen, „um den Einklang eines an Jesu größten Liebesworten entzündeten Lebens mit den Lebensnotwendigkeiten, die als solche auch ehrwürdig sind.“ (2106 Rede, 4). Die Gegenposition der Religiösen Sozialisten bezeichnet er als „billigen sozialethischen Idealismus“ (ebd., 3). 30 So heißt es bei Althaus: „Mitten in der Beteiligung an Recht und Eigentum, Staat und Gewalt kann er unter allen Umständen aus der selbstlosen Liebesgesinnung heraus und mit völliger innerer Freiheit handeln.“ (2104 Sozialismus, 76). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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heit und in der Liebe […] die Einheit und Christlichkeit unseres Lebens gewahrt.“ Denn für ihn gilt: „Erstens: der Christ erfüllt Jesu Gebot, wenn er im Besitze die innere Freiheit behauptet; […] Zweitens: der Christ erfüllt auch in der Teilnahme an der Rechts- und Staatsordnung allezeit das Liebesgebot, denn er vollzieht das Handeln in den welt lichen Ämtern aus Liebe.“31
Diesen Gedankengang, den Karl Barth in seiner Rezension zu „Religiöser Sozialismus“ als „paradoxe Lehre von den zwei Reichen“ bezeichnet32, benutzt Althaus hier als analytische Kategorie, um Welt Welt und Reich Gottes Reich Gottes sein zu lassen. In der Auseinandersetzung mit dem „Religiösen Sozialismus“ und dessen Neigung, aus ideologischen Gründen die Grenzen zwischen Welt und Reich Gottes verschwimmen zu lassen und damit politische Ideen theologisch zu sanktionieren, beharrt Althaus auf einer strengen Unterscheidung. 2.2 Der Althaussche Gegenentwurf: Frühe ordnungstheologische Ansätze und politische Überzeugungen Bereits mehrfach ist nun das Schlagwort der „Ordnungen“ gefallen. Mehr und mehr gewinnen diese Anfang der 20er Jahre bei Althaus und seiner sozialethischen Konzeption an Bedeutung. In „Religiöser Sozialismus“ geht Althaus einen wichtigen argumentativen Schritt auf diesem Weg und legt damit die Grundlagen seiner späteren Ordnungstheologie. Ausgehend von der Erkenntnis, „daß die geschichtliche Lebensordnung der Menschheit etwas anderes ist als Gottes Reich“, spricht er von einer „doppelten Verfassung der Menschheit“: Das Reich Gottes als übergeschichtliche Wirklichkeit bestimmt das Gewissen des Einzelnen, die innergeschichtliche Ordnung aber „regelt die äußeren Grundlagen alles höheren Lebens, ohne dieses selber erfassen zu können“33. Das Gewissen ist für Althaus somit der Ort, an dem der Dualismus von Reich Gottes und Welt aufgehoben ist und wo das Gottesreich sich in ethischem Sinne auf die Welt auswirkt. Im Anschluss an Luther ist für ihn die 31 Ebd., 84 f. Hinter dieser Vorstellung steht die in der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre zum Tragen kommende Erkenntnis, dass der Christ Bürger zweier Reiche ist. So kann Althaus sagen: „Der Ordnung des Rechts und des Staates, der Abhängigkeiten und der Gewalt gehört der Christ nur nach dem äußerlichen leiblichen Leben und Wesen an. Nach der Seele lebt er im Reiche Gottes oder Christi.“ (ebd., 80). 32 Barth, Grundfragen, 46. Der Begriff wird hier erstmals verwendet, stammt also aus der Barthschen Auseinandersetzung mit der neulutherischen Theologie. 33 2104 Sozialismus, 43. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„ganze natürlich-geschichtliche Lebensordnung des Rechts und Zwanges, der Ungleichheit und Abhängigkeiten […], der Gewalt und des Krieges […] Gottes Ord nung.“34 Diese „ist für das Bestehen der Welt und auch des Reiches Gottes um der Sünde willen notwendig, darum unaufhebbar. Sie stellt einen großen Organismus von ‚Ämtern‘ dar. Durch das Amt wird einem jeden Pflicht und Verantwortung zu gewiesen. In der Erfüllung dieses Berufes gehorcht der Mensch Gott.“35
Warum er von „spannungsvoller Einheit“ spricht und einem Dualismus von Welt und Reich Gottes unter allen Umständen wehren will36, erklärt sich dadurch, dass er allen im Gefolge fortschreitender Säkularisierung, gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und kultureller Pluralisierung aufkommenden Autonomisierungstendenzen des angeblich rein „Weltlichen“, die den von ihm geglaubten universellen Verpflichtungscharakter des göttlichen Willens zu relativieren oder aufzuheben drohen, eine klare Absage erteilt. Für ihn kann sich „Welt“ immer nur theonom verstehen, d. h. in Abhängigkeit von Gott, wie ihn der Erste Glaubensartikel bekennt. Daher besitzen die Welt bzw. welt lichen Ordnungen in seinen Augen immer nur eine relative „Eigengesetzlichkeit“, niemals aber eine absolute, d. h. von Gott gelöste37. So heißt es bei ihm 1921: „Die scharfe Unterscheidung von Reich Gottes und Weltordnung hat nun keineswegs den Sinn, als ob die wirtschaftliche und politische Verfassung der Menschheit jeder sittlichen Norm entnommen wäre.“38 Denn, so schreibt er weiter: „Es gibt vielmehr einen Willen Gottes auch über die Zustände, nicht nur über die Haltung der Seelen. Denn Gottes Wille hat es mit der ganzen Wirklichkeit zu tun und duldet keinen Bereich der völligen ‚Eigengesetzlichkeit‘.“39
Den Kritikern eines quietistischen Luthertums40 hält Althaus entgegen: „Man pflegt als lutherisch die Lehre von der ‚Eigengesetzlichkeit‘ der geschichtlichen Lebensordnungen hinzustellen. Der Ausdruck bezeichnet Luthers Standpunkt nicht 34 Ebd., 77. 35 Ebd. Dieses Berufshandeln ist für Althaus „unter allen Umständen Dienst an den Menschen und Gehorsam gegen Gott, der die Gesetze geschichtlichen Lebens gab“ (ebd., 89). 36 In einer Rezension zu Ernst Böhmes „Die pazifistische Bewegung im Lichte des Evangeliums und der christlichen Ethik“ vom März 1922 bezeichnet Althaus „die Unterscheidung des Reiches Gottes vom Reiche dieser Welt im Sinne einer Trennung von Politik und Moral, im Sinne des ‚Dualismus‘“ als „schlimmes Stück“ (2203R Böhme, 78). 37 Vgl. Graf, Kulturluthertum, 73. 38 2104 Sozialismus, 43. 39 Ebd., 44. 40 Bei diesen Kritikern handelt es sich nicht nur um die Religiösen Sozialisten. Einflussreicher war der „Troeltsch-Webersche Vorwurf einer sozialen, politischen und ökonomischen Unproduktivität des Luthertums im Vergleich zu dem weltgestaltenden Calvinismus“ (Kaufmann, Elert, 224). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ausreichend. Auch für das Gebiet des wirtschaftlichen und politischen Lebens kennt Luther eine sittliche Norm.“41
Im Gegenzug macht er einem quietistischen Luthertum, das solche Lehre tatsächlich vertritt, den gleichen Vorwurf: „Das Schweigen des Luthertums zu der Entwicklung des wirtschaftlichen und so zialen Lebens kann sich auf Luther nicht berufen. Da der Gemeinde der ganze Wille Gottes anvertraut ist, nicht nur das Evangelium, hat Luther es für seine Pflicht gehalten, den Ämtern ihr Verantwortungsbewußtsein zu schärfen und auf offenkundiges Unrecht den Finger zu legen.“42
Die „Herrschaft Gottes“ ist für Althaus eine doppelte: zum einen in den Seelen der Einzelnen vermittels des Gewissens, zum anderen „in einer bestimmten Gestaltung der Zustände und Ordnungen“43, was zu „engen Beziehungen zwischen der subjektiven Sittlichkeit des Willens und einer objektiven Sittlichkeit der Zustände“ führt44. Nach Althaus „können Ordnungen in Wirtschaft, Recht und Politik Ausdruck und Erzeugnis sittlichen oder unsittlichen Willens sein“45, außerdem „können objektive Ordnungen stark auf die persön liche sittliche Haltung derer, die in ihnen leben, einwirken.“46 So können sittliche Ordnungen das Reich Gottes zwar niemals darstellen, „aber sie können es in Menschenherzen, vor allem in der Breite eines Volkslebens vorbereiten helfen.“47 Die Aufgabe der christlichen Gemeinde sieht er darin, „den ganzen Willen Gottes zu vertreten und zur Geltung zu bringen.“ Darum hat sie für ihn eben 41 2104 Sozialismus, 78. An anderer Stelle schreibt Althaus, „Luthers positives Verhältnis zu den Weltordnungen“ sei zwar „tief in seinem Schöpfungsglauben begründet“, allerdings „nicht in dem Sinne, daß Luther die Ordnungen und Verhältnisse positivistisch, […], in Quietismus […], Resignation […] und Pessimismus […] so genommen hätte, ‚wie sie kommen‘.“ „Ordnungen und Berufe“ sollen nach Luther vielmehr „‚aus dem Gesetz der Liebe herquellen‘“ (2210R Wünsch, 85). 42 2104 Sozialismus, 78. Vgl. Althaus, Aufgabe: „Der Christenheit ist nicht nur die Predigt des Evangeliums, sondern auch das Eintreten für die Verwirklichung des Willens Gottes im geschichtlichen Leben überhaupt aufgetragen. Der Wille Gottes ist umfassender als das Evangelium.“ Und weiter heißt es: „Die schwerste Nachwirkung des lutherischen Staatskirchentums besteht in dem Mangel an Gemein-, Berufs- und Verantwortungsbewußtsein bei der deutschen Christenheit.“ 43 2104 Sozialismus, 78. 44 Ebd., 45. 45 So gibt es für ihn „Wirtschaftsformen, die als solche den unsittlichen Ausbeutungswillen in einer dauernden Ordnung verkörpert darstellen“ (ebd.). 46 Ebd. Dieses von ihm beschriebene Phänomen des Einwirkens knüpft Althaus an den „usus paedagogicus des Gesetzes“, indem er ausführt, „zum Gesetze gehören im weitesten Sinne auch die Zustände und Ordnungen der Gesellschaft“ (ebd.). 47 Ebd., 47. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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auch eine „religiös-soziale Aufgabe“, die darin besteht, „für die Schaffung solcher Zustände in Gesellschaft und Welt einzutreten und zu arbeiten, die objektiv den Willen Gottes verwirklichen oder ‚die Gerechtigkeit‘ darstellen.“48 In Bezug auf die soziale Frage berührt Althaus mit diesem Gedanken nach der Meinung von Friedrich Lohmann „die Frage der theologischen Legitimität einer Revolution“49, wenn er 1921 ausführt, dass zu den „Notwendigkeiten geschichtlichen Lebens, denen auch der Christ sich nicht entziehen darf, die wirtschaftlich-politische Bewegung eines gedrückten Standes zur Selbstbefreiung“ gehört50. Für Althaus ist es „auch ein ‚Amt‘ in Luthers Sinne, sich für das Recht und die Zukunft des eigenen Standes einzusetzen, – wenn es sein muß im Machtkampfe. In diesem Sinne handeln Arbeiterführer […] im ‚Amte‘“51. Zeitgenössisch erkennt auch Karl Barth hier bei Althaus „die relative Möglichkeit der Auflehnung gegen die bestehende Ordnung“ und hofft, dass dieser „denselben Gedanken auch auf den Pazifismus anzuwenden“ bereit wird und auch an diesem Punkt „auf die üble romantische Rechtfertigung des Gegebenen verzichtet“52.
Barths Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Dass Althaus aber die Möglichkeit einer Auflehnung gegen herrschende Zustände nicht nur im Blick auf die so ziale Frage für gegeben hält, sondern auch gegenüber der Obrigkeit geltend machen kann, deutet er zumindest an53. Die Althaussche Kombination der Kritik an einer „Eigengesetzlichkeit“ sich autonom verstehender Welt mit seiner Be-
48 Ebd., 44. Unbeschadet dieser Aufgabe gibt Althaus zu bedenken, dass das „Handeln in den geschichtlichen Lebensordnungen […] eine gefährliche und versuchliche Sache“ ist, weil der Mensch durch „persönliche Leidenschaft, Zügellosigkeit und unreines Begehren […] Gottes Ordnung mißbrauchen“ kann (ebd., 89). 49 Lohmann, Gott, 136. 50 2104 Sozialismus, 91. Noch 15 Jahre später erscheint Althaus diese Stelle wichtig, wenn er 1936 direkt darauf bezugnehmend schreibt: „Ich habe mich seit 1921 […] zu der Notwendigkeit bekannt, über das altlutherische Nein zu jeder Revolution hinauszuführen.“ (3607 Obrigkeit, 53, Anm. 1). Vgl. 2806 Leitsätze, 62 f. und 3108 Ethik, 106. Zu den Grenzen des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit vgl. 3510 Kirche, 12 f. 51 2104 Sozialismus, 92. Den gleichen Gedanken vertritt Althaus auch in seiner Darstellung von „Luthers Haltung im Bauernkriege“ und geht damit über den Reformator hinaus: „Wer überhaupt Geschichte und Staat bejaht, wie Luther, der muß in unserer Lage auch das Ringen eines Standes um Freiheit, Mitverantwortung im staatlichen Leben, Zukunft in seinem grundsätzlichen Rechte anerkennen: auch solche soziale und politische Bewegung kann ein Handeln in einem geschichtlichen ‚Amte‘ sein – Luthers Begriff des Amtes muß, entsprechend dem Geschichts gedanken, erweitert werden.“ (2502 Haltung, 157). 52 Barth, Grundfragen, 45. 53 Vgl. 2104 Sozialismus, 94, Anm. 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tonung der „religiös-sozialen Aufgabe“ der Christenheit ist ein Hinweis für die Notwendigkeit, den Vorwurf des Quietismus oder gar Legitimismus an Althaus differenziert heranzutragen54. Die „Anerkennung, daß wir auch das wirtschaftliche, soziale und politische Leben unter die Norm des Willens Gottes oder das Ideal der ‚Gerechtigkeit‘ stellen müssen“55, leitet für Althaus über zur Frage nach dem konkreten Inhalt dieses Willens bzw. dieses Ideals. Es nimmt nach dem bislang über Althaus Gesagten wenig Wunder, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen seinen politisch-weltanschaulichen Prägungen und Präferenzen und den politisch-theologischen Erkenntnissen, die er als Willen Gottes identifiziert. Gerade an diesem Punkt trennt sich daher auch folgerichtig sein Weg von der von ihm so bezeichneten „gemäßigten Richtung“ der Religiösen Sozialisten. Die Frage nach dem Inhalt des göttlichen Willens ist in der Althausschen Konzeption das Einfallstor für die eigenen ideologischen Vorstellungen, wenn er formuliert: „Um den jeweiligen Inhalt des Ideals der Gerechtigkeit muß die Gemeinde unter immer neuen Verhältnissen der lebendigen Geschichte stets aufs neue ringen.“ Aus der Einsicht in die „Notwendigkeit, überhaupt mit dem Begriff der Gerechtigkeit an Wirtschaft und Staat heranzutreten“56, gesteht er zunächst noch zu, „durch die Besinnung auf die Grundgedanken des Evangeliums […] bestimmte Maßstäbe für die gesellschaftlichen Ordnungen gewinnen“ zu können. Solche Maßstäbe „im Namen des Gotteswillens“ bedeuten für Althaus im Hinblick auf die Wirtschafts- und Sozialordnung, „daß in ihr die Achtung vor dem Eigenwerte und geistig-sittlichen Berufe jedes Menschen zum Ausdruck komme; […] daß der Schutz der Schwachen durch die Starken und die brüderlich-ritterliche Verantwortung auch in den sozialen und wirtschaft lichen Ordnungen objektiv sich verkörpere.“57
Wie schon in „Pazifismus und Christentum“ schreibt Althaus auch 1921 besonders den Lutheranern ins Heft, sich in wirtschaftspolitischen Fragen ein Beispiel an den Religiösen Sozialisten zu nehmen, die „die Frage nach der sittlichen Erträglichkeit des Kapitalismus so scharf gestellt haben.“58 Denn auch
54 Lohmann, Gott, 136 geht an dieser Stelle sogar so weit zu sagen: „Von dieser Äußerung führt ein direkter Weg zur Distanzierung vom NS-Führerstaat, wie sie Althaus 1936 formuliert hat.“ Er bezieht sich dabei auf 3607 Obrigkeit, 45 f. 55 2104 Sozialismus, 46. Zur Althausschen Überzeugung, dass es keine der sittlichen Norm des göttlichen Willens enthobenen „Eigengesetzlichkeiten“ geben kann, vgl. 2913 Bedeutung, 98. 56 Ebd., 79 f. Hervorhebung von Althaus. 57 Ebd., 46. Hervorhebung von Althaus. 58 Ebd., 50. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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für ihn steht fest – und damit übernimmt er ein Zitat von Paul Tillich und Carl Richard Wegener –, „‚das Christentum hat für gewisse Formen der Gesellschaftsordnung eine größere Affinität als für andere; die Ethik der Liebe trägt in jede Gesellschafts- und Wirtschaftsform ein Ferment der Kritik‘“59. So kann Althaus in dieser Frage eine Nähe zu sozialistischen Positionen propagieren: „Ohne Frage wird das christlich-sittliche Urteil weithin mit den sozialistischen Anklagen gegen den Kapitalismus in seiner heutigen Form parallel gehen.“60 Im Einzelnen wirft Althaus dem schrankenlosen Kapitalismus Eigengesetzlichkeit vor61; es handle sich um ein System, bei dem „nicht die sachlichen Interessen des Volkslebens und der Gesellschaft […] maß gebend“ sind, sondern „der Heißhunger des Kapitals nach Rentabilität, […] der Drang zur schrankenlosen Expansion, […] ein beispielloser Wille zur Macht, […] der starke Wille zur Verdrängung der Kleineren“.62 „Die großen Geldmächte sind ihrem Wesen nach international, amoralisch, zügellos.“
Außerdem wird nach Althaus „die Arbeit innerlich entwertet“, weil der Arbeitnehmer seine Arbeit kaum noch „als organischen Dienst am Ganzen empfinden“ kann. Wenn dadurch „Sklavengefühle in der Arbeiterschaft erzeugt“ werden, ist das für ihn ein Ausdruck für die „objektive Verletzung der Menschenwürde“ durch die „Herrschaft des Materiellen“63. Diese Form der Kapitalismuskritik ist bei Althaus verbunden mit einem konservativen Kulturpessimismus, der die Folgen von Industrialisierung und Kapitalismus als kulturelle Abwärtsentwicklung brandmarkt. So sind für ihn die 59 Ebd. Das Zitat stammt aus Tillich/Wegener, Sozialismus, 5. 60 Ebd., 51. Eine harsche Kapitalismusschelte ist bei Althaus nicht neu. Bereits während des Krieges führt er „die Menschenrechte der Arbeiter“ gegen das „Herrenmenschentum des Kapitalismus“ ins Feld, als er in Lodz die Rücksichtslosigkeit der Fabrikbesitzer gegenüber den Arbeitern anprangert (1607 Zukunft, 1). 61 „Das Kapital“, so Althaus, „stellt heute […] eine Macht dar, die nach eigenen Gesetzen wirkt.“ (2104 Sozialismus, 51). Diese Aussage ist ein weiterer Beleg dafür, wie Althaus den Eigengesetzlichkeits-Begriff differenziert und d. h. im Sinne seines Theonomie-Konzepts auch negativ verwendet. 62 Wenn Althaus solche Kapitalismuskritik übt, hat er weniger den Kapitalismus als solchen im Blick, sondern vielmehr den schrankenlosen Kapitalismus als sich verabsolutierendes Wirtschaftssystem. So schreibt er 1929 in einer Rezension zu Friedrich Brunstäds „Deutschland und der Sozialismus“: „Bedenklich ist nicht der Kapitalismus – im Gegenteil: er ist für die Wirtschaft unentbehrlich –, sondern ‚die sich isolierende, verabsolutierende Wirtschaft‘, das zum Selbstzweck gewordene Ertragsstreben, der Mammonismus“ (2905R Brunstäd, 139). Mit Brunstäd erblickt Althaus im Kapitalismus eine „Aufklärungserscheinung“ und somit ein Zeichen der „Kulturkrise“ (ebd.). 63 2104 Sozialismus, 51. Die Bedrohung der Menschenwürde durch die „Gesetze der kapitalistischen Produktion, die Eigengesetzlichkeit des Kapitals“ bleibt auch in späteren Jahren ein Thema für Althaus; vgl. 2917 Christentum, 135 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Massierung der Menschen in Großstädten“64, die „höchstgesteigerte Arbeitsteilung, steigende Expansion der Großbetriebe und Zerstörung des selbständigen Mittelstandes, die Entheimatung der Menschen mit allen ihren inneren Folgen“ vernehmbare Anzeichen einer „alternden Kultur“, das „unabwendbare Schicksal unserer abendländischen Spätzeit.“ Das wiederum, so folgert der Theologe, soll die Menschen „an ihre Erdgeborenheit und Vergänglichkeit erinnern“ und „vor Gott, dem allein Lebendigen und Freien, tief demütigen.“65 Der konservative Kulturpessimismus bleibt unverständlich, wenn man sich nicht das erste Viertel des 20. Jahrhunderts als Zeit des beschleunigten politischen, kulturellen und sozialen Umbruchs hin zu einer industriell-urbanen Massengesellschaft klar macht, der ganz Europa erfasste. Zeichen dieser Zeit waren Verstädterung, Landflucht, Fragmentierung und Segmentierung der Gesellschaft, die wiederum zu einer immensen sozialen und emotionalen Verunsicherung der Menschen führte.66 Um den negativen Auswirkungen von Industrialisierung, Kapitalismus, Bevölkerungswachstum und Verstädterung entgegenzuwirken, formierte sich Ende des 19. Jahrhunderts – angeregt von Ideen aus den USA – in Deutschland eine Bodenreformbewegung, die unterschiedliche Modelle zur allgemeinen Nutzung von Land, zur Verstaatlichung von Boden, aber auch zur Bildung von ländlichen Siedlungs- und Produk tionsgenossenschaften entwickelte, mit deren Hilfe eine allmähliche Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft erwirkt werden sollte. Dieser Bewegung, der in bescheidenem Maße sogar gelang, auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919 Einfluss zu nehmen, fühlte sich auch Althaus verbunden, wenn er 1918 64 Zeit seines Lebens hatte Althaus, der selbst in einem kleinen Dorf aufwuchs, Ressentiments gegen die in seinen Augen entseelten und entseelenden Großstädte. So schreibt er über das Leben seines Vaters und damit auch über sein eigenes in den ersten sechs Lebensjahren in Obershagen bei Burgdorf, südlich von Celle: „Das Leben in dem weltabgelegenen Dorfe mit seinen strohgedeckten Häusern zwischen hohen Eichen war ein Idyll.“ (2801 Leben, 37). Althaus’ Vorbehalte gegenüber dem großstädtischen Leben speiste sich auch aus seinen kirchlichen Erfahrungen als Militärgeistlicher in Polen, wo die Kirchentreue vielfach auf dem Land zu Hause war, die Menschen in den größeren Städten, allen voran Warschau, sich hingegen sich kaum noch zur Kirche hielten; vgl. 1605 Geschichte, 17. Zur kulturpessimistischen Ablehnung der Großstädte in Deutschland schreibt Stern, Kulturpessimismus, 19: „Das plötzliche Entstehen ungeheuer großer und häßlicher Städte schmerzte ein Volk, das sich schwärmerisch für die Natur begeisterte und an seinen alten Städten hing“. 65 2104 Sozialismus, 57. An anderer Stelle zeigt Althaus, dass er an diesem Punkt durchaus auch zu einer differenzierteren Wahrnehmung fähig ist: „Wir haben erlebt, daß Maschine, Großbetrieb, Großstadt nicht nur unerhörte Lebenssteigerung, sondern auf der Hinterseite schwerste Schatten des Todes gebracht haben; daß sie nicht nur Freiheit, sondern auch die Sklaverei unendlich gemehrt haben. Das Leben ist durch sie reich und arm geworden.“ (2409 Heilsgeschichte, 648). Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise steigert sich auch bei Althaus der Kulturpessimismus; vgl. 3113 Botschaft, 484. 66 Vgl. Mai, Verteidigungskrieg, 583 ff.; und Nolte, Ordnung, 107–111. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schreibt: „daß jeder von uns Bodenreformer ist, versteht sich von selbst“.67 Überhaupt verspricht sich Althaus im Blick auf die volksmissionarische Heimholung verlorengegangener Kreise zurück in die Kirche viel von einem sozialen Engagement der Kirche und der Pfarrer, denen er an gleicher Stelle empfiehlt, „mit einem Tropfen sozialen Öles gesalbt“ zu sein. Der Kulturpessimismus speist sich bei Althaus im Wesentlichen aus dem Bedauern über den Verlust religiöser Bindungen in der modernen Gesellschaft und den damit verbundenen Einflussverlust der Kirchen. Besonders in den Großstädten sieht Althaus die Gefahr der „Zersetzung“ von Religion und Moral, wogegen die Kirche gerade auch durch soziale Programme ankämpfen müsse68. Interesse an sozialen Fragestellungen und Engagement in der sozialen Frage ist für Althaus nichts Neues. Schon vor dem Krieg hatte er in der Zeitschrift seiner Studentenverbindung im Mai 1914 hervorgehoben, dass ihm „an der Aufrüttlung unserer Bundesbrüder zum Eintritt in gelegentliche soziale Arbeit“ gelegen ist und sprach in diesem Zusammenhang von „Beziehungen […] zu einem neuen Berliner Ausschusse […], der mit Lic. Siegmund-Schultze, seiner sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost und den akademisch sozialen Vereinen in Verbindung steht.“69 Gerade auch als Prediger macht Althaus aus seiner Kritik am Kapitalismus keinen Hehl und geht dabei sogar so weit, für einen „neuen christlichen Sozialismus“ zu plädieren. So spricht der Universitätsprediger am 1. Juli 1923 von der Rostocker Kanzel: „Wieviele deutsche Männer sind heute Sklaven ihres Unternehmens oder Geschäftes geworden, Knechte des Geldes, gewiß nicht im Sinne persönlicher Geldgier, aber doch Leibeigene der Produktionssteigerung, der Rentabilität, sich und andere verknechten sie unter die Mammonsgesetze, ohne es zu wollen.“70
67 1808 Männern, 607. 68 Der religiös motivierte Kulturpessimismus der Weimarer Zeit ist nicht nur ein christliches Phänomen. Diesbezügliche Aussagen finden sich auch im Judentum, dem es um die Aufrechterhaltung der religiösen Bindungen zu tun ist. So zeigt sich auch der liberale Frankfurter Rabbiner Georg Salzberger 1929 in einem Aufsatz gegen die Mischehe, die er als „Krankheitserscheinung“ brandmarkt, überzeugt, „daß das Großstadtleben wie auf die Moral so auch auf die Religion zersetzend wirkt“ (ders., Mischehe, 25 f.). 69 1402 Gespensterfurcht, 128. Auch gegenüber Gewerkschaften und Sozialdemokratie hat Althaus in der sozialen Frage keine Berührungsängste (vgl. ebd., 129). Dass er sich auch nach dem Krieg noch mit Friedrich-Schultze und seiner „Sozialen Arbeitsgemeinschaft“ verbunden weiß, macht er in einer Rezension zu dessen Buch „Ver sacrum“ deutlich (2006R SiegmundSchultze). 70 2307P Freiheit, 177. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Mit der Kirche geht Althaus in diesem Zusammenhang hart ins Gericht: „Hat die christliche Gemeinde nicht allzulange den sogenannten Notwendigkeiten der Produktion kritiklos und tatenlos zugesehen? Sie ließ es geschehen, daß unsere ganze Wirtschaft, statt dem Leben des Volkes zu dienen und nach diesem Gesetz geregelt zu werden, Selbstzweck wurde, ein Götze, der maßlose Opfer an Menschenglück und -freiheit gefordert hat […]. Wir müssen mit ganz anderem Ernste als bisher die prophetische Stimme des Zornes und der Klage erheben wider eine Kultur, die mehr Leben verzehrt als sie schafft. ‚Alles ist euer, ihr aber seid Christi‘, das muß das Leitwort einer christlichen Kulturkritik, eines neuen christlichen Sozialismus sein.“71
Schon in den Althausschen Kritikpunkten am Kapitalismus deutet sich an, wie er sich trotz aller Gemeinsamkeiten in der Kapitalismuskritik von den ReligiösSozialen unterscheidet, wenn er das „Interesse des Volkslebens“ ins Feld führt und dem Kapitalismus vorwirft, dieser sei „international“. Denn international ist der Sozialismus selbst, an einem „Volksleben“ hat er keinerlei Interesse. Wenn die sozialistische Kapitalismuskritik – vereinfacht ausgedrückt – eine Kritik von links ist, dann kommt die Althaussche Kritik demgegenüber von rechts72. Warum ihm als Kirchenmann das Problem des Kapitalismus überhaupt so wichtig ist, erklärt sich neben seiner politisch-theologischen Ablehnung einer kapitalistischen Eigengesetzlichkeit und seiner eigenen starken sozialen Gesinnung, vor allem auch mit seinem volksmissionarischen Anliegen, das Althaus von Beginn an hegt und das ihn auch deutliche Worte der Kritik gegenüber der Kirche finden lässt. Mit dem Versagen der Kirche in der sozialen Frage vor Augen spricht er von „schweren Versäumnissen der Christenheit“73 und unterzieht die bisherige Haltung der Kirche einer scharfen Kritik: „Die deutsche Christenheit hatte seit langem die kritische Kraft der Grundsätze des Evangeliums gegenüber dem Wirtschaftsleben verkannt, verschwiegen, erstickt. […] Den Kapitalismus als System nahm sie im wesentlichen hin.“74 Sein Urteil dazu lautet: „Das war die letzte von vielen verpaßten Schicksalsstunden.“75
71 Ebd., 181 f. 72 Althaus reiht sich mit seiner Kapitalismusschelte ein in den konservativen Antikapitalismus, den Tanner, Verstaatlichung, 77 als typisches Merkmal lutherischer Theologie in dieser Zeit herausarbeitet: „Kapitalismuskritik ist in den zwanziger Jahren keineswegs nur ein Thema politisch links orientierter Theologen. Auf dem Hintergrund jenes romantisch-organologischen Antikapitalismus, wie er für breite Strömungen in der lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts repräsentativ ist, formulieren in den zwanziger Jahren gerade auch solche Lutheraner eines scharfe Kapitalismuskritik.“ 73 2104 Sozialismus, 52. 74 Ebd., 50. 75 Ebd., 52. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Warum Althaus „aus der christlich-sittlichen Kritik des Kapitalismus“ nicht „notwendig die Entscheidung für die sozialistische Wirtschaftsform als die gerechte und den christlichen Grundsätzen entsprechende“76 fällen kann, hat volkswirtschaftliche, weltanschauliche und „sittliche“ Gründe77. Lebensphilosophisch fällt Althaus das Urteil über den Sozialismus als Wirtschaftsform: „Jede Lebensform erhält ihre Kritik von dem Leben selbst. […] Das sozialistische Wirtschaftsideal vergeht sich gegen grundlegende Lebensgesetze der Volkswirtschaft“. Denn zu den „entscheidenden sittlichen Idealen gehört neben der Brüderlichkeit“ und dem Bewusstsein der Gemeinschaft, das die Sozialisten dankenswerterweise so betonen, „die Selbständigkeit und freie Verantwortung des einzelnen“78, auf dass „die Fülle individuellen Lebens und Schaffens“ nicht beengt und erdrückt wird79.
So lautet Althaus’ Ausgleichsformel für die beiden abzulehnenden Extreme Kapitalismus und Sozialismus: „Das Christentum ist mit dem Individualismus des Freiheitsgedankens ebenso verwandt wie mit dem Sozialismus des Solidaritätsgedankens.“ Daraus folgert er: „Die Christenheit kann nur fordern, daß in einer neuen Wirtschaftsform der Gemeinschaftsgedanke ebenso kräftig zum Ausdruck komme wie die Selbständigkeit des einzelnen. Sie kehrt ihre Kritik ebenso gegen den ungebundenen Privatkapitalismus wie gegen den starren Sozialismus. […] Sie verlangt Eingrenzung und Einordnung des Kapitals in die Lebensnotwendigkeiten des Volksganzen, starke soziale und vaterländische Bindung der privatwirtschaftlichen Kräfte durch energisch gehandhabte Gesetze“80.
Gegenüber einem auf problematische Weise unkontrollierten Kapitalismus plädiert Althaus somit für einen starken Staat, der die Interessen des Volkes vertritt81. 76 Ebd. 77 Im Blick auf den Antikapitalismus im frühen 20. Jahrhundert schreibt Mai, Kapitalismuskritik, 244: „War der Antikapitalismus auf der Linken ökonomisch begründet, so definierte die Rechte diesen als ein national-ethisches Problem der ‚Weltanschauung‘, als ‚sittlich-religiöse‘ Gesinnungs-Frage“. 78 2104 Sozialismus, 53. 79 Ebd., 54. Vgl. seine Äußerungen in der Rezension zu Friedrich Brunstäds „Deutschland und der Sozialismus“ von 1929: „Mit Br[unstäd] bin ich darin einig, daß das sozialistische Wirtschaftssystem weder möglich noch ‚christlich‘ ist, daß unsere Kultur vielmehr den Kapitalismus in der Form des Privatkapitalismus nicht entbehren kann.“ (2905R Brunstäd, 140). 80 2104 Sozialismus, 53 f. 81 Vgl. seine Äußerungen in 2502 Haltung, 158 wo er schreibt: „Der Staat muß als eigener starker Wille zur Gerechtigkeit und Gesundheit sich über den Mächten geltend machen. […] Es bedarf eines für das Ganze des Volkes verantwortlichen Willens, jenseits des Spieles der Interessen und Gewalten.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Auch wenn der Begriff selbst hier nicht fällt, so macht Althaus mit seinen Ausführungen doch deutlich, dass auch er der damals weitverbreiteten Vorstellung eines „nationalen Sozialismus“ anhängt, die bereits vor dem Krieg, besonders aber während des Krieges viele Anhänger aller politischen Couleur fand. So empfand man im Krieg nach Gunther Mai: „individuelles und kollektives Überleben […] nur garantiert, wenn der ‚neutrale‘ […] Staat in der Lage war, den Interessenausgleich zwischen den Gruppen, das heißt die Überwindung des Klassenkampfes zugunsten einer solidarischen Produktions- und Lebensgemeinschaft, notfalls ebenso zu erzwingen wie die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums […]. In der autoritären […] Staatsräson verknüpften sich die Prin zipien von ‚Nation‘ und ‚Sozialismus‘.“82
Im Krieg sollten diese Prinzipien mit Hilfe der „Gemeinwirtschaft“ realisiert werden, die am Gemeinwohl – gemeint waren damit Volk und Staat – orientiert war. Allein schon durch das sogenannte „Augusterlebnis“ von 1914, das nationale Geschlossenheit und Solidarität zu verkörpern schien, fühlten sich die verantwortlichen Politiker dazu legitimiert und aufgerufen. „Als ideologische Unterfütterung und korrespondierende politische Verantwortungs ethik trat, in enger Verbindung mit dem außenpolitischen Verteidigungskonsens, auf allen Seiten des Parteienspektrums eine neue Formel in Erscheinung: die ‚Volks gemeinschaft‘“83.
Der Begriff der „Volksgemeinschaft“, der das nationale und das soziale Prinzip in sich vereinte, sollte in der Weimarer Zeit schon bald Hochkonjunktur haben. Er fand Eingang in SPD-Parteitagsresolutionen und klang sogar bei der KPD an84. Unter dem Eindruck von Niederlage und Versailles, später auch
82 Mai, Verteidigungskrieg, 591. Für Mai sind beispielsweise die christlichen Gewerkschaften „ein anschauliches Beispiel für die vor 1914 einsetzende Verknüpfung von Gemeinschafts-Idee und Sozialismus-Anspruch zu einer […] organologisch gegliederten statt klassenmäßig geschichteten, kapitalistisch leistungsorientierten, aber sozialpolitisch abgefederten, autoritären, aber nicht un bedingt monarchischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ (ebd., 601). Vgl. Schneider, Gewerkschaften, 544 ff.575 ff. 83 Ebd., 590. Zu diesem Begriff schreibt Mai, er sei „seit 1860/70 bei Antisemiten wie Zio nisten gleichermaßen nachweisbar.“ Vor allem die Jugendbewegung zählt er zu den eigentlichen Protagonisten der Volksgemeinschafts-Idee. 84 Vgl. ebd., 592 ff. Mai weist darauf hin, dass es trotz der semantischen Identität eine „fun damentale Differenz zwischen rechter und linker ‚Volksgemeinschafts‘-Vorstellung“ gab, je nachdem wie „Volk“ und „Gemeinschaft“ definiert wurden (ebd., 594). Zum Thema „SPD und Volksgemeinschaft“ vgl. Bechthold, Antikapitalismus, 90–96. Zum Volksgemeinschaftsbegriff und dessen weitverbreiteter Verwendung vgl. auch Nolte, Ordnung, 169–171. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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der Inflation, „wurde die ‚Volksgemeinschaft‘ kurzzeitig zu einer Art Gründungskonsens der Weimarer Republik.“85 Die Vorstellungen von „Volksgemeinschaft“ und „nationalem Sozialismus“ schwingen bei Althaus merklich mit, wenn er an den „Solidaritätsgedanken“ und den „Gemeinschaftsgedanken“ appelliert und den Kapitalismus an die Pflicht gegenüber vaterländischen Interessen erinnert, die das „Volksganze“ im Blick hat. „Zwei Grundinteressen alles höheren Lebens“ will Althaus zum Ausgleich bringen, den Freiheits- und den Gemeinschaftsgedanken. Doch dahinter verbirgt sich für ihn noch mehr: „Es kämpfen in allen Sozialfragen des Wirtschaftslebens miteinander die hohen Ideale der Menschenwürde und die harten Notwendigkeiten des Wirtschaftsprozesses selbst.“ So ist für ihn für alles rechte Entscheiden in wirtschaftlichen Fragen zweierlei vonnöten, „völlige Sachkunde und ein lebendiges Gewissen“86.
Die Sachkenntnis macht Althaus gegen diejenigen Religiös-Sozialen geltend, die er in der Gefahr sieht, „mit einem schnellen christlichen Dilettantismus in die schweren Fragen des wirtschaftlichen Lebens dreinzureden.“ Das „lebendige Gewissen“ macht er gegen diejenigen geltend, die meinen „die gerechte Gestaltung der Wirtschaft aus dem Evangelium ablesen“ zu können: „Diesem Nomismus gegenüber weisen wir auf die Notwendigkeit lebendiger Gewissensentscheidung inmitten des Wirtschaftslebens hin.“87 Den wirtschaftspolitischen Mittelweg, den Althaus hier seinem Naturell der Ablehnung der Extremen entsprechend favorisiert, ist nichts anderes als ein „dritter Weg“, ein „deutscher Sonderweg“ jenseits von westlichem Kapitalismus und östlichem Sozialismus bzw. Kommunismus. Dieser Sonderweg trägt einerseits deutliche Spuren einer Zuspitzung auf die eigenen nationalen Interessen, wenn er von den „Lebensnotwendigkeiten des Volksganzen“ oder von „vaterländischer Bindung“ spricht. Andererseits findet die sozialistische Fokussierung auf den Gemeinschafts- und Solidaritätsgedanken bei Althaus vor diesem Hintergrund des „Volksganzen“ großen Anklang. Dass Althaus hier Vorstellungen eines „nationalen Sozialismus“ zur Darstellung bringt, die dem Ideal der „Volksgemeinschaft“ Rechnung trägt, zeigt eine gewisse geistige Nähe Althaus’ zur „Konservativen Revolution“, in deren Kreisen der Diskurs über einen „nationalen Sozialismus“ ganz oben auf der Tages 85 Mai, Verteidigungskrieg, 593. 86 2104 Sozialismus, 55. 87 Ebd., 58 f. Was er damit meint, verdeutlicht er mit dem Satz: „Im Widerstreite von Leben und Arbeit, d. h. der Ansprüche, die aus der Berufung der Arbeitenden zu persönlichem Leben erwachsen, und der technischen Forderungen eines Wirtschaftsprozesses kann nur das sittliche Gewissen der Verantwortlichen und auf beiden Seiten Führenden den Weg finden.“ (ebd., 56). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ordnung stand. Sein Plädoyer für einen starken Staat spiegelt seine Erfahrungen mit der sozialen Not breiter Massen angesichts eines als schwach und den Mechanismen des ungezügelten Kapitalismus hilflos ausgeliefert empfundenen Weimarer Staates wider. Mit der konservativen Kapitalismuskritik verband sich daher auch bei Althaus die Ablehnung der Weimarer Republik. Exkurs: Paul Althaus und die „Konservative Revolution“ Althaus lässt in den frühen 20er Jahren in seiner politisch-weltanschaulichen Haltung eine gewisse strukturelle Nähe zur sogenannten „Konservativen Revolution“ erkennen88, einer politisch rechtsgerichteten geistigen Strömung der deutschen Zwischenkriegszeit. Der Begriff „Konservative Revolution“, der 1927 von Hugo von Hofmannsthal eingeführt wurde und der in vielen Punkten unterschiedliche und gegensätzliche politische Denker und Kreise auf einen Nenner zu bringen versucht, ist ein ausgesprochener Sammelbegriff. Das Paradoxon, das bereits in der Bezeichnung zum Ausdruck kommt, bringt Fritz Stern mit seiner Wesensbestimmung auf den Punkt: „Ihre Anhänger wollten die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit wiederzufinden.“89 Die „geistig Unzufriedenen“ waren es daher in seinen Augen, die sich der Konservativen Revolution zuwandten90. Die große Gemeinsamkeit bestand in dem Anliegen, auf die deutsche Katastrophe, die mit der Niederlage und dem Versailler Vertrag über das Deutsche Reich und das deutsche Volk hereingebrochen ist, mit genuin deutschen Antworten zu reagieren und Wege aus der radikalen Krise zu suchen. Einigkeit herrschte außerdem in der Ablehnung des gegenwärtigen deutschen Staatswesens der Weimarer Republik und des Versailler Systems: „Die Weimarer Republik war der von ihnen befürchtete liberale Staat – geteilt, wehrlos und besiegt, das Opfer selbstsüchtiger Interessen im Inneren und im Ausland.“91 Einigendes Band bei aller Heterogenität der Konservativen Revolution war in erster Linie der Antiliberalismus, den Arthur Moeller van den Bruck 1922 mit den Worten auf den Punkt brachte: „An Liberalismus gehen
88 Zur Konservativen Revolution vgl. Mohler, Revolution; und Dupeux, Intellektuellen. Dupeux rechnet auch Althaus zur Konservativen Revolution, ohne allerdings näher darauf einzugehen (ebd., 17). Zu Althaus’ Nähe zur Konservativen Revolution vgl. Kress, Allmacht, 75–87. 89 Stern, Kulturpessimismus, 6 f. Er macht in seiner Studie auf den „gesamteuropäischen Charakter“ der Konservativen Revolution aufmerksam (ebd., 5 f.). 90 Ebd., 7. 91 Ebd., 22. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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die Völker zugrunde.“92 Für die Stimmungslage vieler Menschen in der Epoche der Weimarer Republik stellt Manfred Funke fest: „Die Affektionen gegenüber dem westlichen Liberalismus und dem östlichen Bolschewismus legten ein republikanisches Verantwortungsvakuum bloß, das von den alten Kräften ebensowenig gefüllt werden konnte wie von der schwindenden Zahl der neuen Vernunft-Demokraten. Diese wurden schleichend überwältigt von neuen Verheißungen: ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ sollten weder im Sinne westlichbürgerlicher Individualität noch im Geiste des bolschewistischen Zentralismus Erfüllung finden, sondern in der ‚deutschen‘ Synthese aus Nationalismus, Sozialismus, völkischer Auffassung, von innerer Geschlossenheit und äußerer Stärke. Tat, Wille, Opfer, Leistung, Rassebewußtsein bildeten sozialromantische Stimulanzien für die Suche nach der ‚dritten Partei‘ jenseits des rüden rechtsradikalen Rabaukentums, parlamentarischer Selbstlähmung und eines revolutionären Universalismus. Diese ‚dritte Partei‘ als Chiffre einer kultischen Imperialität erhielt Anschauung in der propagandistischen Konzeption eines parteienfernen Machtsstaates als Gegensatz zum Parteienstaat, der zum Exponenten der Interessen und Stimmungen von Wählermassen verkommen sei.“93
Was war nun gerade für protestantische Theologen das Anziehende an den Ideen der Konservativen Revolution? Zunächst ist dabei an den Liberalismus als gemeinsamen Feind zu denken. Für viele Theologen und Kirchenmänner bestand eine manifeste geistige Verbindung zwischen Liberalismus und Liberaler Theologie und Säkularismus. Je mehr liberales Gedankengut nämlich für die allgemeine Geistigkeit und damit auch für Theologie und Kirche bestimmend wurden, desto mehr schritt in den Augen der Liberalismuskritiker der Niedergang des christlichen Glaubens und der christlichen Gesellschaft, also der Säkularismus voran. Für diese Menschen aber war „das Leben im nachchristlichen Zeitalter des Liberalismus unerträglich“94. Auf der Suche nach Antworten stieß man auch auf die politischen Philo sophen der Konservativen Revolution: „Schließlich sprachen diese Männer breite Schichten der deutschen Gesellschaft an, weil sie nicht nur idealistisch, sondern auch religiös waren.“ Für Fritz Stern fanden die konservativen Revolutionäre „bei religiös sentimentalen Menschen Anklang, aber auch bei jenen, in denen ein echtes religiöses Verlangen lebte.“95 92 Moeller van den Bruck, Liberalismus. Seine Liberalismuskritik gipfelt in der Aussage: „Liberalismus hat Kulturen untergraben. Er hat Religionen vernichtet. Er hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösung der Menschheit“ (ebd., 19). 93 Funke, Republik, 17 f. Der Begriff „dritte Partei“ stammt von Moeller van den Bruck; so wollte er ursprünglich sein Hauptwerk „Das dritte Reich“ nennen. 94 Stern, Kulturpessimismus, 9. 95 Ebd., 17. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Zu diesen Menschen zählte auch Althaus96. Zentrale Topoi konservativrevolutionären Denkens finden sich auch bei ihm, werden jedoch stets christlich-kirchlich unterlegt bzw. überformt. Die geschichtsphilosophische Gewichtung der Völker gemäß ihres „Alters“ und ihrer „Jugend“, eine organologische Gedankenfigur, die sowohl durch Oswald Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ von 1918/22, als auch durch Arthur Moeller van den Brucks Programmschrift gegen den Versailler Vertrag „Das Recht der jungen Völker“ von 1919 populär wird, findet sich auch in Althaus’ geschichtsphilosophischen Spekulationen über das Zusammenleben der Völker wieder97. Ebenso vertritt Althaus im Ansatz die wirtschafts- und sozialpolitische Idee eines „nationalen Sozialismus“ in doppelter Frontstellung gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung des westlich-kapitalistischen Liberalismus und des östlichmarxistischen Sozialismus. Diese Konzeption eines „dritten Weges“, der dem imaginierten Wesen der Deutschen entsprechen sollte, wurde ebenfalls von den beiden großen Vordenkern der Konservativen Revolution formuliert: Oswald Spengler in seinem Essay „Preußentum und Sozialismus“ von 1919 und Arthur Moeller van den Bruck in seinem vielfach rezipierten Hauptwerk „Das dritte Reich“ von 1923, der von einem „deutschen Sozialismus“ spricht. Aus der Einsicht, dass aus den „Grundgedanken des Evangeliums […] bestimmte Maßstäbe für die gesellschaftlichen Ordnungen“98 gewonnen werden können, sieht Althaus die Frage nach deren praktischer Umsetzung und Anwendung gestellt: „Die Religiös-Sozialen beantworten sie für den Aufbau der Gesellschaft durch den Hinweis auf die Demokratie, für die wirtschaftliche Verfassung durch die Forderung des Sozialismus als Wirtschaftssystem. Sie gewinnen also den Inhalt des Begriffs der Gerechtigkeit oder des Willens Gottes durch die Gleichsetzung oder doch Verknüpfung der Grundsätze des Evangeliums mit den Forderungen des Naturrechtes.“99 96 Zum verbreiteten Antiliberalismus der protestantischen Theologen in der Weimarer Republik, der sie in eine Nähe zur Konservativen Revolution brachte, vgl. Tanner, Verstaatlichung, 64–68. Für ihn stimmten die meisten Vertreter der damals jüngeren Generation, zu denen er gerade auch Barth zählt, „ihrer Herkunft aus unterschiedlichen theologischen bzw. kirchenpoli tischen Lagern zum Trotz, bereitwillig mit ein in den großen Chor einer zeitgeisttypischen Liberalismuskritik“ (ebd., 67). 97 Um nur ein Beispiel zu nennen: Moeller van den Bruck, Reich, 77 schreibt, die „Gerechtigkeit ist nicht starr, sondern fließend“, während Althaus die „lebendige Gerechtigkeit in der Geschichte“ betont. 98 2104 Sozialismus, 46. 99 Ebd., 47. Diese Verknüpfung ist für Althaus „auf calvinistischem Boden entstanden“ und bezieht sich „auf die ‚Menschenrechte‘, die in dem amerikanischen Freiheitskriege und in der französischen Revolution eine entscheidende Bedeutung gewannen. Sie ist besonders dem angel sächsischen Christentum eigen.“ Er charakterisiert sie so: „Die evangelische Gleichheit der Kinder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Demgegenüber ist für Althaus, der sich insbesondere daran stört, dass Vielen „die steigende Demokratisierung Deutschlands als ein christlicher Fortschritt“ erscheint, diese „Verbindung demokratischer Gleichheitsideale mit Jesus“ eine Entstellung des Evangeliums, weil für ihn gilt: „Die Liebe des Evangeliums ist Wille zur Gemeinschaft, aber nicht Wille zur Gleichheit.“100 Die Würde der Gotteskindschaft hat für ihn „mit staatsbürgerlicher Gleichheit nichts zu tun“. Demokratie und Parlamentarismus sind in seinen Augen von „abstrakten Gleichheits- und Menschheitsgedanken“ getragen, sie sind „einseitig individualistisch und unorganisch“ und lösen den Menschen „aus seinen Zusammenhängen und organischen Verhältnissen“101. Für ihn steht fest: „Zu einer sittlich richtigen politischen Entscheidung gehört ein von den kleinen Gesichtspunkten des Tages freies Auge für den geschichtlichen Beruf des Volkes“102. Ein solches „freies Auge“ spricht Althaus den Entscheidungsträgern in einem demokratischen Staatssystem ab, wenn er direkt im Anschluss die rhetorische Frage aufwirft: „Ist unser deutscher Massen- und Mehrheitsparlamentarismus nicht tief unsittlich?“ Politik ist für Althaus „in der Tiefe eine religiöse Sache“, „ein Handeln mit Gott und vor Gott“103, bei dem das Gewissen des einzelnen Staatsmanns die vermittelnde Instanz darstellt. Im Parlamentarismus mit seinen Eigengesetzlichkeiten des Parteiwesens und der demokratischen Entscheidungsfindung mit ihren Kompromissen und ihrem parteipolitischen Taktieren, das die Bedürfnisse des Souveräns, d. h. des Volkes, aus dem Blick zu verlieren droht, sieht Althaus offensichtlich das Einzelgewissen untergehen, so dass Politik für ihn auf diesem Wege unreligiös und damit unsittlich wird. Er lehnt es daher scharf ab, „wenn die Religiös-Sozialen dem demokratischen Staatsideal der Gleichheit, des Parlamentarismus usw. den religiösen Akzent des ‚Christlichen‘ oder des Willens Gottes aufsetzen.“ Denn für ihn ist dieses politische Ideal „nur eines unter mehreren, die im Kampfe stehen.“104 Gottes wird hier als Prinzip der Demokratie verstanden. […] Die Menschenwürde, die Gottes Erwählung jedem gibt, wird gleichgesetzt mit der bürgerlichen Menschenwürde, die jedes Hörigenverhältnis ausschließt, mit staatsbürgerlicher Gleichheit“ (ebd., 48). 100 Ebd., 48 f. 101 Anzeichen dafür sind für ihn „gleiches Wahlrecht“ und „Frauenstimmrecht“. Andererseits ist es für ihn eine Selbstverständlichkeit, daß es unterschiedliche Parteien gibt: „Daß es Parteien in den Volksgemeinde gibt, stammt […] aus der natürlichen Differenzierung der Menschheit.“ (ebd., 36). Um dem Chaos zu wehren, muss seiner Meinung nach über den Parteien allerdings „ein Wille“ sein, den er im starken Staat verkörpert sieht. 102 Ebd., 93. 103 Ebd., 65. 104 Ebd., 49. Diesen Kritikpunkt lässt auch Barth, Grundfragen, 44 gelten, wenn er schreibt, Althaus „ruft uns Religiös-Sozialen […] mit Recht in Erinnerung, daß das naturrechtlich-calvinisch-westliche Ideal der Demokratie und des Sozialismus nur ein Ideal neben anderen sei“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Demgegenüber macht Althaus deutlich, welches politische System er bevorzugt: „das organisch-aristokratische Staatsideal“, das er „tief in der deutschen Geschichte und deutschem ständischem Denken begründet“ sieht. Es ist „die Betonung des Organischen und der konkreten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, der organischen Differenzierungen und Abhängigkeiten“, die ihn für diese von ihm damit nur sehr vage umrissene Staatsform optieren lässt. Wie bei allen weltlich-geschichtlichen Fragen, so sieht Althaus auch die jeweilige Angemessenheit – er nennt es das „größere Recht“ – der einen oder anderen Staatsform sich in einem lebendigen Prozess in der Geschichte herauskristallisieren. Sie wird für ihn dadurch bestimmt, welches Staatsideal „der konkreten Eigenart und geschichtlichen Führung dieses bestimmten Volkes in diesem Zeitpunkte seiner Geschichte am besten entspricht, d. h. das Volk zu kraftvollem geschichtlichen Leben am besten befähigt.“ Als Konsequenz daraus folgert er: „Das Recht des Ideals ist demnach ein relatives. Sowohl das Recht wie auch die Verwirklichung des Ideals ist völkisch und geschichtlich bedingt.“105 Wo sieht Althaus dabei nun die Aufgabe der Christen in Staat und Politik? Im Blick auf die Religiösen Sozialisten mahnt er zur Sachlichkeit: „Christen können in beiden Lagern sein. Sie handeln dann kraft ihrer politischen Einsicht, dürfen aber ihre Ideale nicht im Namen des Christentums vertreten.“106 Was Althaus in Bezug auf wirtschaftliche und soziale Fragen sagt, gilt mutatis mutandis auch für die Frage nach der Staatsform: Für ihn kann die „religiös-soziale Tat der Christenheit […] nicht darin bestehen, daß die Gemeinde im Namen der Gerechtigkeit Gottes und der christlichen Liebe ein genaues Programm der Sozialpolitik aufstellt, auch nicht darin, daß sie der sozialistischen Bewegung den religiösen Akzent gibt und die Wucht eines heiligen Krieges Christi leiht. Das hieße – nach einem feinen Worte Karl Barths – Christus aufs neue säkularisieren.“107
In der von ihm formulierten „Aufgabe der Christenheit in Staat und Politik“ schreibt Althaus: „Die Christenheit vermag keine christliche Wirtschafts- oder Sozialordnung zu entwerfen, aber sie trägt durch ihre sittlichen Grundsätze in den Kampf zwischen Leben und Arbeit und in das Ringen zwischen Unternehmertum und Arbeitern die immer neue Unruhe lebendiger Gewissen hinein. Die Christenheit will und kann den so zialen und politischen Machtkampf nicht beseitigen. Aber sie dient der Eingrenzung, 105 2104 Sozialismus, 50. 106 Ebd., 49 f. 107 Ebd., 59. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Versachlichung und Veredelung des Ringens dadurch, daß sie die Streitenden auf ihrem Boden zur Gemeinschaft zusammenführt.“108
„Die wichtigste ‚religiös-soziale‘ Tat der Christenheit“ besteht nach Althaus demgegenüber darin, „daß sie wirkliche Gemeinden darstelle“109. Als solche ist ihr in seinen Augen dann auch das „öffentliche Gewissen“ aufgetragen. So besteht ihre Aufgabe darin, „Männer und Frauen eines durch Jesus gebildeten, an die Idee der Gerechtigkeit gebundenen Gewissens“ zu erziehen, „die hernach als Sozialpolitiker, Staatsmänner, Unternehmer, Arbeiterführer an ihrer Stelle, mit ihrer Sachkunde, tun, was sie können.“110 „Die Christenheit muß in diesen Dingen den Willen zur Macht haben.“ Und dazu soll sie alle Möglichkeiten der Einflußnahme nutzen, die zur Verfügung stehen: „durch eine christliche Presse“ und „Christen in den Parlamenten“111. 2.3 Das Zusammenleben der Völker und die Bedeutung des Krieges – Althaus’ Fortführung seiner geschichtstheologischen Spekulationen Gleich zu Beginn seiner Ausführungen über die Frage nach dem Zusammen leben der Völker und des Pazifismus blickt Althaus selbstkritisch auf seine Äußerungen zu diesem Thema zwei Jahre zuvor in „Pazifismus und Christentum“ zurück: „Dieser Aufsatz ist mehrfach scharf angegriffen. In der Sache vertrete ich seine Grundgedanken heute wie damals. Allerdings trat hinter einem geschichtsphilosophischen Versuche die akute sittliche Frage nach den Grundsätzen einer richtigen Politik zu sehr zurück […]. Auch habe ich damals die wirkliche Bedeutung des Völkerrechtes und der Schiedsgerichte über der Einsicht in die nahen Grenzen, die alle menschliche Rationalisierung des Völkerlebens an der Lebendigkeit der Geschichte selber findet, zu sehr verschwiegen.“112
Im Folgenden soll es nun darum gehen, inwiefern Althaus vor dem Hintergrund dieser selbstkritischen Einschätzung versucht, seine Gedanken zu diesem Thema differenzierter darzustellen113. 108 Althaus, Aufgabe. 109 2104 Sozialismus, 60. Hervorhebung von Althaus. 110 Ebd., 59. 111 Ebd., 60. 112 Ebd., 61, Anm. 1. 113 Diese Wandlung bei Althaus ist auch der zeitgenössischen Fachwelt nicht verborgen geblieben, vgl. Stephan, Theologie, 85 f., Anm. 3. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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2.3.1 Politik als Dienst an Gott und Volk – Der „Beruf “ eines Volkes und das nur begrenzte Recht von Völkerrecht und Völkerbund Althaus definiert Politik folgendermaßen: „Politik ist das Handeln eines Staates zur Behauptung und Entfaltung des in ihm sich zusammenfassenden nationalen Lebens innerhalb der Geschichte.“114 Nationalstaaten sind für ihn die Subjekte der Geschichte, die das Leben der Menschheit bestimmen115. Die Geschichte ist der Ermöglichungsrahmen des Völkerlebens. Grundlegend für seine Vorstellungen vom Zusammenleben der Völker ist Althaus’ organolo gische und lebensphilosophisch beeinflusste Geschichtsphilosophie, welche die Geschichte als „lebendige Bewegung“ mit ihren eigenen „organischen Gesetzen“ und einem ihr eigenen „Rhythmus“ zu bedenken trachtet116, die ihrerseits im Vollzug eine „lebendige Gerechtigkeit“ schafft. Was Althaus darunter konkret versteht, macht er deutlich, indem er auf die geschichtsphilosophische Spekulation über die Lebensalter der Völker zu sprechen kommt: „Nationen haben ihre Jugend, wachsen nach außen und innen, treten in die Periode mächtigster Schöpfer- und Gestaltungskraft, geben sich aus, altern, haben ihren Tag in der Geschichte hinter sich117. Völker steigen und fallen […]. Die Macht steigt empor. Nicht die rohe, massive, brutale Gewalt setzt sich auf die Dauer durch, sondern die Macht als Tüchtigkeit zu geschichtlichem Leben und geschichtlicher Herrschaft.“
Was die einzelnen Völker in „dieser Lebendigkeit mit ihrem ständigen, organischen Wandel der Lebens- und Machtbeziehungen zwischen den großen Völkern“ letztlich antreibt, ist für Althaus nicht einfach reines Machtstreben oder Expansionslust, sondern es ist für ihn der „geschichtliche Beruf eines großen Volkes“: „Jedes Volk hat seine Zeit, seine Kraft, seinen Beruf […] Er erschließt sich ihm selber nur allmählich durch Tasten und in der Geschichte selbst, im Miteinander und Widereinander von Willen und Schicksal.“118 Diesen von einem Volk „gespürten und bejahten geschichtlichen Beruf“ bezeichnet Althaus 114 2104 Sozialismus, 62. 115 So setzt Althaus voraus, „daß selbständige, zu eigenem Leben entschlossene Nationen als letzte Einheiten in der Geschichte gewollt sind.“ (ebd., 69 f.). 116 Ebd., 62. Oder mit anderen Worten: „In der lebendigen Geschichte walten strenge Gesetze und eine harte Gerechtigkeit“ (ebd., 66). 117 In der „Entwicklung zu übernationalen Verbänden“, wie sie die Pazifisten fordern, sieht Althaus „nur ein Erschöpfungssymptom und ein Zeichen für die Altersperiode unseres Kulturkreises.“ Junge Völker werden die alten ablösen. „Ein ethischer Sinn wohnt jeder Entwicklung nicht inne, sondern ein Ermüdungs- und Altersgesetz wirkt sich aus.“ (ebd., 70). 118 Ebd., 63 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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als „Frage von transzendenter Tiefe“, ihm eignet der Charakter des „doppelten Irrationalen: der irrationalen Setzung göttlicher Prädestination und der irra tionalen Tat des Willens, der jene erkennt und bejaht“. Dadurch „webt sich die Geschichte eines Volkes“ für Althaus119. Deutlich wird hier der Übergang von Geschichtsphilosophie zu Geschichtstheologie markiert, beiden gemeinsam ist das rein Spekulative. Kann Althaus an anderer Stelle in Bezug auf die „Lebensgesetze der Geschichte“ vom „Schicksal“ sprechen, macht er hier als Theologe deutlich, was es mit diesem Schicksal auf sich hat und wer hinter den von ihm propagierten Geschichtsgesetzen steht: Sie sind Ausdruck „göttlicher Prädestination“. Gott ist also der Garant der alles ordnenden „lebendigen Gerechtigkeit der Geschichte“120. Somit kann Althaus über ein Volk sagen: „Darum ist seine Politik in der Tiefe eine religiöse Sache, ein Handeln mit Gott und vor Gott“121. Wie kommt ein solcher Wille, der den Beruf des Volkes als göttlich gesetzt erkennt und danach handelt, wie kommt ein solcher Volks-Wille aber zustande? Diesen Willen projiziert Althaus auf die „führenden Staatsmänner“ eines Volkes, sie sind es, die den Beruf ihres Volkes erspüren und schließlich handelnd bejahen sollen. Was geeignete Politiker nach Althaus ausmacht, ist „größte Sachkunde, d. h. Blick für Geschichte, Art und Kräfte des Volkes, und ein lebendiges Gewissen, in dem die Selbstkritik eines Volkes Ausdruck findet“. Beides muss „sich durchdringen zum vollen Verantwortungsernste geschichtlichen Lebens. Niemand kann jenen Männern die Last der Entscheidung abnehmen, weder eine zufällige Parlamentsmehrheit noch ein internationaler Gerichtshof. Beides ist sittlich verwerflich.“122
Nationale Politik definiert Althaus als „Gehorsam gegen den geschichtlichen Beruf des eigenen Volkes“, der sich „oft nur fragend und tastend“ vollzieht, weil „den Beruf und die Aufgabe eines Volkes aus seiner Geschichte und Lebenskraft abzulesen […] oft schwer“ ist123. Politik ist für ihn dementsprechend „Dienst am Volke“, wobei es darum geht, „das Erbe einer opferreichen Vergangenheit 119 Ebd., 65. Er führt dazu weiter aus: „Die Kraft der Nation, ihre geschichtliche Stunde, die Ausmaße ihres Berufes sind Gabe und Setzung – und warten doch auf den Willen, der sie handelnd bejaht.“ 120 Ebd., 67. 121 Ebd., 65. 122 Ebd., 66. Schon 1922 äußert sich Barth, Grundfragen, 52 dazu sehr verwundert: „Nun wird der ‚ernstlich geprüfte geschichtliche Beruf eines Volkes‘ auf einmal zu einer wahrhaft mystischen Größe, irgendwie himmelhoch erhaben über die profanen Möglichkeiten, die da heißen ‚zufällige Parlamentsmehrheit‘ oder ‚internationaler Gerichtshof‘.“ 123 2104 Sozialismus, 93. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zu wahren und die Zukunft der kommenden Geschlechter zu bauen.“ Eng mit diesem Dienst-Charakter der staatsmännischen Aufgabe hängt für Althaus der Charakter eines „Amtes“ im Sinne Luthers zusammen. Bei einem solchen „Amt“ sieht Althaus schließlich auch immer die Gefahr des Missbrauchs gegeben, wenn z. B. nationale Politik zum „nackten Egoismus“ wird. Um dieser Gefahr zu wehren, fordert Althaus, darin seinem Lehrer Karl Holl folgend124: „Darum bedarf die Politik sittlicher Persönlichkeiten, die zu tiefer Sachlichkeit fähig sind. Hier liegt die Aufgabe der Christenheit.“125 Das heißt für ihn im Blick auf den Staatsmann: „Dieses ‚Amt‘ eines Volkes wartet gerade auf die Christen“126, weil sie ihre Aufgabe im „Gehorsam gegen den, der durch die Geschichte schreitet“ erfüllen. Nach Althaus ist „Politik in der Tiefe eine religiöse Sache“, „ein Handeln mit Gott und vor Gott“. Darum betont er auch in Bezug auf die Politik: „Alles ist auf die Gewissensentscheidung seiner führenden Staatsmänner gestellt. Das sind Entscheidungen von ungeheurer Schwere.“127 Das Gewissen ist für ihn die vermittelnde Instanz zwischen dem einzelnen Staatsmann und Gott, hier ist der Ort der Verantwortlichkeit vor Gott. So wie Glaube ein Geschehen zwischen Gott und dem Einzelnen ist, so ist auch ein vor Gott verantwortliches Handeln für Althaus nur in der Ich-Du-Relation zwischen Gott und Staatsmann denkbar. Kann sich Althaus rechte Politik nur als „Wollen und Handeln vor Gott“ vorstellen, so führt ihn dieser Gedanke auch „zu der Ehrfurcht und Verantwortung vor der Idee der Gerechtigkeit in der Politik.“128 Ein konkreter Inhalt dieser Idee ist für ihn allerdings – im Gegensatz zu den Religiösen Sozialisten und Pazifisten – „nicht einfach aus der Bergpredigt oder aus dem Naturrechte“ ablesbar. Seine Lösung lautet demgegenüber: „Die Gerechtigkeit in der Politik ist eine Synthese allgemeiner sittlicher Grundsätze und der besonderen Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens – eine Synthese, die nur als Tat in Freiheit vom verantwortlichen Gewissen vollzogen werden kann.“129
124 Zu Holl vgl. Assel, Aufbruch, 135 f. 125 2104 Sozialismus, 93 f. 126 Ebd., 93. 127 Ebd., 65. Als Probleme bei der Entscheidung nennt er: „Wo ein echter Beruf gegeben ist und wo nur sinnloser Machthunger und Expansionsdrang treibt; […] wo nur sträfliche Hybris, die sich rächen muß, in seinem [= des Volkes] Vorwärtsdrängen waltet und wo tiefe Lebensnotwendigkeit und jugendliche Kraft zur Herrschaft und zum Gestalten der Geschichte […] – das sind die gewaltigen Fragen, mit denen die verantwortlichen Führer immer wieder aufs neue ringen müssen“. 128 Ebd., 70. Hervorhebung von Althaus. 129 Ebd., 70 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Doch Althaus geht noch einen Schritt weiter: „Jede große Entscheidung“ hat für ihn „etwas Irrationales, Undurchschaubares“, ist für ihn „schöpferische Tat“130. In diesem Gedanken der „schöpferischen Tat“, die theologisch gesehen Gott vorbehalten ist, kommt ebenfalls Althaus’ Charakterisierung der Politik als „religiöse Sache“ zum Tragen, hier nämlich das „Handeln mit Gott“, indem der Staatsmann gleichsam mitschöpferisch tätig wird. In der Art und Weise, wie Althaus Politik charakterisiert, wird einmal mehr seine Ambivalenz deutlich: Mit dem Gedanken des Handelns vor Gott will er den führenden Staatsmännern ihre Verantwortlichkeit bewusst machen und damit letztlich einer Absolutsetzung des „Weltlichen“ wehren, indem er es relativiert, nämlich in Beziehung bzw. in Abhängigkeit von Gott als oberster, insbesondere sittlicher Instanz setzt. Mit dem Gedanken des Handelns mit Gott allerdings erreicht er nahezu das Gegenteil, nämlich eine Sakra lisierung der Politik. Politisches Handeln wird so von ihm religiös aufgeladen. Gegenüber früherem oder auch biblischem Verständnis von Geschichtstheologie ergibt sich dadurch sogar noch eine Steigerung: Konnten sich Staatsmänner bzw. Fürsten vormals als Werkzeuge Gottes sehen, werden sie nun durch ihr direkt schöpferisches Handeln religiös wesentlich aufgewertet. Gerade eine Abkopplung des zweiten Gedankens vom ersten musste fatale Folgen haben. Althaus selbst konnte sich eine solche Abkopplung nicht vorstellen, für ihn hingen beide Momente des politischen Handelns als „religiöse Sache“ untrennbar zusammen. In der politischen Realität allerdings war es nur noch eine Frage der Zeit, wann es zu einer solchen Abkopplung kommen sollte. Eine merkliche Entwicklung nimmt Althaus in der Frage nach Völkerrecht und Völkerbund. Hat er bereits in „Pazifismus und Christentum“ dem Völkerbund zumindest ein begrenztes Recht zugebilligt131, so geht er nun einen Schritt weiter und hebt auch die „wirkliche Bedeutung des Völkerrechtes und der Schiedsgerichte“ hervor und bezeichnet das „Eintreten für Völkerrecht und Schiedsgerichte“ als „ernste Pflicht der Christenheit“132: „Die überstaatliche Rechtsordnung und das Schiedsgericht werden ihre Bedeutung in vielen Fällen haben. Nicht jeder Widerstreit der Interessen berührt eine Lebensfrage für die Staaten. Die Christenheit setzt sich daher für die Schaffung und den Ausbau der Schiedsgerichte kräftig mit ein, sie fördert den Willen zum billigen Ausgleich und zur Verständigung, sie bekämpft die nervöse nationale Gereiztheit und nutzlosen
130 Ebd., 66. 131 Vgl. 1902 Pazifismus, 459. 132 2104 Sozialismus, 66. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Eigensinn – was sie so mit sittlichen Gründen fordert, verlangt auch schon die Klugheit wirklicher Realpolitik.“133
Bei der Frage nach einem konkreten Inhalt für die Norm der Gerechtigkeit gesteht Althaus zu, man könne „aus allgemeinen sittlichen Erwägungen heraus eine Reihe von Grundsätzen des ‚Naturrechts‘ gewinnen wie Gleichberechtigung der Nationen, Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes, Schutz der kleinen und unmündigen Völker, Verwerfung aller Ausbeutung (Kolonialfrage), Schutz völkischer Minderheiten, Freiheit der Meere, Sicherung der dringenden wirtschaftlichen Lebensbedürfnisse für jedes Volk, eigener Zugang zur See, Öffentlichkeit aller besonderen Verträge wie überhaupt der auswärtigen Politik usw. Solche Sätze können die Grundlage eines Völkerrechtes bilden, die Politik im allgemeinen regeln und einem Schiedsgerichte in manchen Streitfällen eine klare Entscheidung ermöglichen.“134
Auch wenn Althaus hier immerhin von einer möglichen allgemeinen Norm der Gerechtigkeit im Völkerleben spricht135, so macht er doch sehr schnell deutlich, dass sie für ihn keinesfalls hinreichend ist, sondern im Gegenteil eine sehr begrenzte Reichweite hat. So schreibt er gleich im Anschluss an den eben zitierten Abschnitt: „Aber das ist die Frage, ob sie ausreichen, um der auswärtigen Politik ihren Weg zu zeigen, oder ob sie nicht vielmehr eines Grenze ihres Rechts und ihrer Verwirklichungsmöglichkeit an dem Leben der Geschichte selber finden.“ Schon in „Pazifismus und Christentum“ hat Althaus dem Gedanken des Völkerrechts und des Völkerbunds entgegengehalten, dass in den „großen Wendeund Wetterstunden in dem Leben der Völker“ menschliche Vernunft und Rationalismus versagen müssen136. Und so heißt es auch jetzt bei ihm: „Für die großen Lebensfragen und Entscheidungsstunden eines Volkes muß jede äußere Instanz versagen. Kein Dritter, keine von außen anwendbare allgemeine Norm der Gerechtigkeit kann sich zwischen ein Volk und den von ihm gespürten und bejahten geschichtlichen Beruf eindrängen.“137
Unbeschadet des von ihm zugestandenen tatsächlichen Sinns von Völkerbund und Völkerrecht ist Althaus der Überzeugung,
133 Ebd., 64. 134 Ebd., 62. 135 So heißt es an anderer Stelle, er denke nicht daran, „die Geltung sittlicher Normen für die Politik zu leugnen“ (ebd., 70). 136 1902 Pazifismus, 466. 137 2104 Sozialismus, 65. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„daß die entscheidende Instanz im Leben der Völker niemals ein überstaatliches Schiedsgericht […] sein kann (von der Frage nach der Vorurteilslosigkeit des Schiedsgerichtes ganz abgesehen).“138 Denn: „Die Möglichkeit ethischer Rationalisierung des geschichtlichen Lebens nach menschlichen Maßstäben der Gerechtigkeit findet ihre Grenze […] an dem Irrationalen des Lebens selber.“139
Hinter diesem Irrationalen aber sieht Althaus nichts weniger als die verborgenen Lebensgesetze der göttlichen Majestät140. Daher bleibt er nicht beim „Eintreten für Völkerrecht und Schiedsgerichte“ als „ernste Pflicht der Christenheit“ stehen, sondern diese hat für ihn noch einen weitergehenden Auftrag: „Die Christenheit kann daher nichts Größeres […] tun, als die Völker und ihre Staatsmänner zum Verantwortungsernste für das Leben in der Geschichte erziehen. Sie soll immer wieder verkündigen, daß die Macht bloß um der Macht willen unsittlich ist und daß alle Macht einen Beruf zum Dienst an der Menschheit bedeutet. Die Christenheit stellt ein Volk in seinem politischen Wollen und Handeln vor Gott.“141
Inhaltlich, aber auch an der Art der Formulierung lässt sich gegenüber seiner früheren Behandlung des Themas bei Althaus feststellen, dass er dem Völkerrecht und dem Völkerbund mehr zutraut und diese daher in seinem Urteil aufwertet. Dennoch macht er auch 1921 durch seine geschichtsphilosophische und -theologische Argumentation deutlich, dass diese für ihn nur sehr begrenzte Möglichkeiten besitzen, das Zusammenleben der Völker friedlich zu regeln. Die entscheidenden Fragen werden nach Althaus demgegenüber auf kriegerische Weise entschieden. 2.3.2 Die Gerechtigkeit im Völkerleben und der Krieg Es entspricht Althaus’ Geschichtsphilosophie und -theologie, die von einem „organischen Wandel der Lebens- und Machtbeziehungen zwischen den großen Völkern“ ausgeht und die auf die „harten Gesetze der Konkurrenz und Ver 138 Ebd., 64. Das Problem der „Vorurteilslosigkeit“ des Völkerbunds ist 1921 gerade in der oberschlesischen Frage virulent; vgl. Kap. II, 2. 139 Ebd., 71. 140 Insofern ist es konsequent, zeigt aber Althaus’ eigenes Ringen mit dieser Frage, wenn er an anderer Stelle das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ als „Rationalisierung der Geschichte und Säkularisierung des Willens Gottes“ ablehnt (3002 Friede, 118) – wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der schlechten Erfahrungen der Deutschen mit diesem völkerrechtlichen Ideal in der Behandlung durch die Siegermächte. 141 2104 Sozialismus, 70. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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drängung“ verweist142, wenn er davon spricht, dass die Völker „ihre ganze Kraft und Tüchtigkeit im Ringen um die Führerschaft und Zukunft zu mächtigem Sich-Messen einsetzen. Das ist der Krieg.“143 Für Althaus kann in der Folge des „Gehorsams gegen den ernstlich geprüften geschichtlichen Beruf des Volkes […] der Entschluß zu einem Kriege nicht unter allen Umständen der Beweis für eine unsittliche Politik sein. Er kann vielmehr Pflicht werden.“144 Althaus spricht folgerichtig nicht nur von der Möglichkeit, sondern auch von der „Notwendigkeit“ kriegerischer Konflikte als höchste „Probe auf die Tüchtigkeit eines Volkes zu geschichtlichem Leben“. Gerade weil im konkurrierenden geschichtlichen Leben der Völker häufig „nicht einfach Recht gegen Unrecht, sondern […] geschichtliches Recht gegen geschichtliches Recht“ steht, ist für Althaus ein Urteil der „lebendigen Gerechtigkeit der Geschichte“ nötig145. Allerdings schränkt Althaus zugleich ein: „Krieg darf der Staat nur in tiefer Sachlichkeit führen, im Gehorsam gegen seine Verantwortung für das Volk, nicht aus Expansionsgelüst, Ruhmsucht oder Raubgier.“146 Ein konkretes Beispiel dafür, wie Althaus sein Konzept einer „lebendigen Gerechtigkeit der Geschichte“ angewandt wissen will, gibt er selbst im Zusammenhang mit der „polnischen Frage“. Ohne zu beschönigen, geht er das damals hochaktuelle außenpolitische Problem an, indem er verkündet: „Eine Ausgleichsformel zwischen Deutschland und Polen, die den Widerstreit um die Gestaltung des deutschen Ostens beilegte, ist undenkbar. Hier steht (wir haben es lebendig durchlebt) nicht einfach Recht gegen Unrecht, sondern in gewissen Sinne geschichtliches Recht gegen geschichtliches Recht.“147 142 Ebd., 68. 143 Ebd., 67. 144 Ebd., 66 f. Freilich will Althaus hier den Zusatz „nicht unter allen Umständen“ betont wissen, denn auch für ihn steht fest: „Es gab und gibt auch Kriege ohne Würde, die nichts als brutales Zertreten und Vergewaltigen sind. Wir denken nicht daran, die Weltgeschichte zum Weltgericht zu machen und in allen Kriegsentscheidungen die Durchsetzung der lebendigen Gerechtigkeit der Geschichte zu sehen.“ (67 f.; Hervorhebung von Althaus). Kriterien für eine Einschätzung des jeweils konkreten Krieges a priori bleibt Althaus seinen Lesern wie schon zwei Jahre zuvor schuldig; vgl. Kap. II, 3.2. 145 Ebd., 67 f. 146 Ebd., 88. 147 Ebd., 67. Mit anderen Worten: Althaus erwartet über kurz oder lang einen Krieg zwischen Deutschland und Polen, der die Staatszugehörigkeit der umstrittenen Gebiete endgültig regeln sollte. Hintergrund dieser von Althaus angesprochenen „polnischen Frage“ waren die deutschen Gebietsabtretungen an den neuen polnischen Staat infolge der Bestimmungen des Versailler Vertrages. Unmittelbar nach dem verlorenen Krieg wurden bereits Westpreußen und Posen zu Polen geschlagen. Auf Beschluss der Siegermächte sollte über den Verbleib Oberschlesiens, das zwischenzeitlich unter alliierter Kontrolle stand, durch eine Volksabstimmung entschieden werden. Diese © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Zum Standpunkt der Religiösen Sozialisten, der Krieg sei „Ausgeburt und Verkörperung des ‚mörderischen Geistes‘“, stellt Althaus fest: „Das kann der Krieg bei unzähligen einzelnen, die ihn durchleben, ja für ein ganzes entartetes Volk sein (Gottes Ordnung, sagt Luther, kann mißbraucht werden), aber er muß es nicht sein.“148 Denn es gelte nicht zu vergessen: „Der Krieg will mit tiefer Sachlichkeit geführt sein, in tiefernstem Gehorsam gegen die harten Geschichtsgesetze, die Völker gegeneinanderstellen, ohne Haß und wilde Lüge und ekle Beschmutzung der anderen, mit reinem Herzen. Dazu ist der Christ fähig.“ Mehr noch, „nur der Christ kann in den geschichtlichen Lebensordnungen handelnd stehen, ohne sie zu mißbrauchen.“149
Althaus setzt voraus, die „Christenheit weiß mit tiefem Ernste, daß ein Volk durch den Gehorsam gegen seine geschichtliche Stellung und Aufgabe unter Umständen zu einem Kriege verpflichtet ist.“150 Der Hinweis, sie setze sich „gegen jede leichtfertige Kriegspolitik der Herausforderung, der Raubgier, des bloßen kapitalistischen oder nationalen Expansionsdranges ein“, vermag die von Althaus für einen wahrhaft notwendigen Krieg vorausgesetzten „Umstände“ nur äußerst ungenau zu benennen. Die von Althaus als einziges Kriterium genannte „Notwendigkeit“ erweist sich allein schon aus erkenntnistheoretischen Gründen als unbrauchbar. Immerhin weiß Althaus: „Nicht alle Kriege bestehen vor diesem Maßstabe.“ Wenn man einmal von diesem Kriterien-Problem absieht, fällt an der Althausschen Kriegskonzeption von 1921 auf, dass er bei aller Aufwertung des fand am 20.3.1921 statt, und rund 60 % der Einwohner dieses wichtigen Industriegebiets stimmen für den Verbleib beim Deutschen Reich. Entgegen diesem Votum der Bürger entschied sich der Völkerbundrat im Oktober 1921 dafür, dass Oberschlesien geteilt würde und der wertvollste Teil des Industriegebiets mit den meisten Bodenschätzen und Bergwerken an Polen gehen sollte. Die Verbitterung und das Gefühl der Machtlosigkeit und Demütigung in Deutschland waren immens, die Popularität des Völkerbunds war auf dem Tiefpunkt, eine innenpolitische Krise war mit dem Rücktritt der Regierung die Folge. „Die Empörung über den Beschluß des Völkerbundrates vereinheitlichte die öffentliche Meinung und schuf abermals eine gemeinsame Front von Pazifisten bis zu den Nationalisten“, so Wintzer, Deutschland, 245. In dieser Situation gibt Althaus seine Einschätzung der Lage wieder, die insofern interessant ist, als er keine einseitige Haltung in dieser Frage einnimmt, sondern auch den polnischen nationalen Interessen ein „geschichtliches Recht“ einräumt. Der Völkerbund hat für ihn durch seine einseitige antideutsche Entscheidung jegliche Entscheidungsbefugnis verloren, daher ist für ihn eine „Ausgleichsformel […] undenkbar“. Die Entscheidung sieht er auf dem Schlachtfeld kommen. „Der Zusammenhang der Kriegsauffassung mit der oberschlesischen Krisis steht ausser Zweifel“, stellt auch Mann, Ordnungen, 126 fest. 148 2104 Sozialismus, 95. 149 Ebd., 88. Hervorhebung durch Althaus. 150 Ebd., 94. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Krieges an sich im Blick auf die Aufgabe der Christen doch so etwas wie eine Notwendigkeit zum Widerstand gegen konkrete Kriege formuliert: „Wirklich zur Not wird die Lage der Christenheit erst dann, wenn sie die Politik ihres Staates verurteilen muß und eine getroffene Entscheidung nicht mehr hintanhalten kann, wenn sie z. B. mitten im Kriege sich von der Schuld des eigenen Volkes überzeugt.“151
Freilich überwiegt in Althaus’ Konzeption deutlich das Moment des Gehorsams der Christen gegen den als notwendig erkannten Krieg: „Die Aufgabe der Christenheit ist es nicht, gegen einen notwendigen Krieg zu protestieren oder sich ihm mit Leib oder Seele zu entziehen; wohl aber: über die Sachlichkeit des Krieges zu wachen.“152 Die „Aufgabe der Christenheit“ formuliert Althaus an anderer Stelle demgemäß so: „Die Politik bedarf der Christen, nicht damit es zu ‚christlicher Politik‘ komme, sondern damit das politische Handeln in der strengen Sachlichkeit sittlichen Gehorsams gegen die Gesetze der lebendigen Geschichte geschehe. Die Bildung einer christlichen Internationale und die Stärkung des Bewußtseins um einen gemeinsamen Beruf im politischen Leben ist Pflicht der Christenheit. Im politischen und internationalen Leben muß die Christenheit als Macht der Wahrheit wirken.“153
Auch wenn die Christen nach Althaus eine christliche Gesinnung der Liebe gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber dem gegnerischen christlichen Brudervolk haben, so hat diese Liebe doch auf die Gegebenheit des Krieges keinerlei Auswirkungen, sie bleibt eine rein innere Haltung ohne Konsequenzen für die mögliche Beurteilung der Notwendigkeit des Krieges überhaupt. Konsequenzen zeitigt die Liebesgesinnung lediglich in der von der Christenheit zu fordernden „Sachlichkeit“ des Krieges: „Sie duldet nicht das zügellose Rasen und die zuchtlose Sprache nationaler Leidenschaft, die des gemeinsamen Berufs aller Völker und der Zusammengehörigkeit vergißt.“154 Hat Althaus in „Pazifismus und Christentum“ den Krieg noch rein geschichtsphilosophisch und lebensphilosophisch begründet und es vermieden, den Krieg in irgendeinen Zusammenhang mit der Sünde zu bringen, so geht 151 Ebd., 94, Anm. 1. 152 Ebd., 95 f. 153 Althaus, Aufgabe. Zur Aufgabe der Christen als Macht der Wahrheit vgl. 3107 Völker verständigung. 154 2104 Sozialismus, 94. „Eine Politik der bloßen Rache vergeht sich tief gegen den strengen Sinn aller Politik; sie ist negativ, weil nicht aus dem Gehorsam gegen die positiven Notwendigkeiten der eigenen Geschichte geboren – und als tief unsachlich muß sie sich rächen.“ (ebd., 96). Der Bezug zum Versailler Vertrag ist evident. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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er hier in seiner theologischen Interpretation einen Schritt weiter, indem er die hamartiologische Dimension ins Spiel bringt: „Eine tiefe Ahnung sagt uns, daß diese Verfassung der Geschichte“ – gemeint ist die der Konkurrenz und Verdrängung – „im Zusammenhange steht mit der Lösung der Menschheit von Gott durch die Sünde“155. Daher ist für ihn „der Krieg […] als Schicksal zuletzt kein ethisches, sondern ein religiöses Problem“. Denn der Zusammenhang von Sünde und Krieg „kann ebenso wie derjenige des Todes mit der Sünde kein geschichtlicher, sondern nur ein übergeschichtlicher sein, wie denn auch die Urtat der Menschheit als geschichtlicher Akt nicht denkbar ist. Dann können wir aber diese übergeschichtlich begründeten Folgen der Sünde nicht durch eine geschichtliche Tat aufheben, ebensowenig wie den Tod. Beides, Konkurrenz und Tod gehört zu der Grundstruktur unserer Geschichte. Der Zorn Gottes […] hat im Zusammenhange mit der übergeschichtlichen Tat der Menschheit die Geschichte geformt und in ihren Gesetzen Gestalt gewonnen.“156
Den Zusammenhang von Krieg und Sünde, zu dem sich Althaus hier vorsichtig durchringen kann, hat sein Vater, Paul Althaus d. Ä., der ihn vielfach geprägt hat, schon während des Krieges vertreten. In seinem Aufsatz „Der Krieg und unser Gottesglaube“ schrieb er im Juli 1915: „Der Krieg kommt her aus dem Bösen, er wurzelt, wie alles Uebel in der Welt, in der Sünde. […] Damit erschließt sich uns der tiefste Sinn des Krieges. Im Kriege wirkt sich nicht nur die Sünde der Völker aus, sondern im Kriege ergehen zugleich Gottes Gerichte über die Sünde der Völker. […] Die Weltgeschichte ist das Welt gericht“157.
Indem sich Althaus hier zumindest am Rande zu einer hamartiologischen Sichtweise des Krieges durchringt, bewertet er den nicht mehr so einseitig positiv wie zuvor in seiner Schrift „Pazifismus und Christentum“. Einerseits wird der Krieg nun in die Nähe der Sünde gerückt, d. h. er selbst und seine Voraussetzungen werden zumindest vorsichtig als sündhaft bezeichnet. Andererseits 155 Ebd., 69. 156 Ebd. Den hamartiologischen Aspekt von Konkurrenz und Krieg betont Althaus auch vier Jahre später in 2502 Haltung, 156 f.: „Die ganze Welt unserer Auseinandersetzungen, Kämpfe und Verträge […] ist eine andere als das Reich Gottes. Wir könnten uns freilich das Leben nirgends ohne das Widereinander lebendiger Kräfte denken. Es beruft uns zum Einsatze und gibt darum der Geschichte auch ihre Größe. Aber wir spüren zugleich den Zusammenhang alles dieses Widereinander mit dem Todesgesetze der Geschichte, das für die Sünde geordnet ist. Gegenüber aller Verherrlichung der Geschichte will das streng festgehalten sein.“ 157 Althaus d. Ä., Krieg, 629 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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betreibt Althaus damit zugleich eine geschichtstheologische Rechtfertigung des Krieges, indem dieser als göttliche Konsequenz aus der menschlichen Sünde – parallel zum Tod – in dem zum Geschichtsgesetz gewordenen Zorn Gottes verortet wird. Krieg ist schließlich der Wille Gottes als Reaktion auf unsere Sünde, und diesem Willen gilt es, sich „demütig“ zu unterwerfen158. Durch die auch hier wieder deutlich hervortretende Althaussche Überbetonung des Alten Äons, auf den das Hereinbrechen des Neuen Äons innerweltlich kaum Auswirkungen hat, duldet Althaus auch hier wieder eine Entmündigung christlicher Ethik159. Das spricht er auch deutlich aus: „Die Aufhebung der Kriege ist ebenso wie das Abtun des Todes unter keinen Umständen Gegenstand der Ethik, sondern nur der Eschatologie des Glaubens.“160 Damit aber redet Althaus in Bezug auf Krieg als solchem einem Quietismus bzw. Fatalismus das Wort. 2.4 Zusammenfassung Bei Althaus’ erster großen Monographie „Religiöser Sozialismus“ handelt es sich um eine Weiterentwicklung früherer Gedanken und Schriften. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem religiösen Sozialismus, den Althaus wie schon zuvor differenziert betrachtet und durchaus bereit ist, sich von diesem Anregungen zu holen, formuliert er seine eigenen Gedanken zum sozialen Problem, zur Frage der Staatsform, zur Rolle des Christen im Bereich des Poltischen und zum Zusammenleben der Völker, insbesondere was das Problem des Krieges und des Völkerrechts betrifft. Die Schrift insgesamt ist eine Antwort auf die scharfe, grundsätzliche und viele Themen konkret benennende Kritik des Religiösen Sozialismus am deutschen Luthertum. An manchen Punkten argumentiert Althaus deutlicher und differenzierter: So erscheint der Gedanke des Völkerrechts und die Arbeit des Völkerbunds als 158 2104 Sozialismus, 69. Die Erlösungstat Christi hat Althaus zwar nicht aus den Augen verloren, sie hat für ihn in diesem Zusammenhang aber keine Auswirkungen auf die Geschichte und ihre „harten Gesetze“, denn sie ist übergeschichtliche Realität: „Im […] Kreuzesleiden Jesu […] und in seinem Auferstehen ist mitten in der Geschichte übergeschichtlich der Bann des Konkurrenzverhältnisses und Todesverhängnisses durchbrochen, aber wir werden dieser Befreiung nur dadurch teilhaftig, daß wir, der Geschichte entnommen, vor Gott leben. Inzwischen müssen wir die Konkurrenzverhältnisse durchleben und den Tod sterben.“ 159 Vgl. Kap. II, 3.2. 160 2104 Sozialismus, 69. In der Rezension zu Paul Fischers „Jesus und die Friedensfrage“ (2003R Fischer, 101) formuliert es Althaus so: „Die Erlösung von diesen harten und herben Gesetzen, unter denen wir mit der ganzen Naturwelt nach Gottes Willen stehen, erwarten wir erst von dem Tage Gottes, der alles neu macht“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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solcher insgesamt positiver konnotiert als in früheren Veröffentlichungen zu diesem Thema. Freilich vermögen es beide nach Althaus’ Geschichtsphilosophie und -theologie nicht, die großen „Lebensfragen“ der Völker im Verlauf der „lebendigen Geschichte“ zu lösen. Zwar rückt er den Krieg als solchen auch in die Nähe der Sünde, was ihn nicht mehr so deutlich positiv wie in „Pazifismus und Christentum“ erscheinen lässt doch bleibt Althaus andererseits im Großen und Ganzen seiner bisherigen Einschätzung treu, d. h. Krieg bleibt Ausdruck gottgewollter Geschichtsgesetze. Diese theologische Rechtfertigung des Krieges erfährt auch insofern nochmals eine Verstärkung, als Althaus den Krieg in seinen Formulierungen in eine große Nähe zu den von ihm angenommen Ordnungen bringt. Mit dieser positiven theologischen Einschätzung des Krieges hängt auch eine schärfere Zurückweisung des religiös-sozialistischen Pazifismus zusammen, den Althaus nun – im Gegensatz zu anderslautenden Äußerungen aus der Zeit des Krieges161 – bekämpft wissen will162. Wenn der Rostocker Systematiker sich in dieser Richtung äußert und zum Kampf gegen den Pazifismus aufruft, muss der vorausgehende Totalangriff des religiös-sozialistischen Pazifismus auf die kirchliche und vor allem lutherische Sozialethik in Rechnung gestellt werden163. An vielen Punkten kann Althaus auch in dieser Schrift die in seinem geschichtsphilosophischen und -theologischen Konzept angelegten Aporien nicht lösen. Weiterhin liefert er keine Maßstäbe für die angebliche Notwendigkeit von Kriegen. Der Verweis auf den „Beruf“ eines Volkes ist in der Praxis wertlos. Wie schon in „Pazifismus und Christentum“ enthält auch seine Konzeption von 1921 sowohl konservative als auch revolutionäre Züge. Auch hier verteilen sich diese deutlich auf nationale und soziale Fragen. Lehnt er einerseits Demokratie und Parlamentarismus mit dem Hinweis auf historische, politische 161 Vgl. Kap. I, 4.2. 162 Vom Pazifismus grenzt sich Althaus in seinen Thesen zur „Aufgabe der Christenheit in Staat und Politik“ scharf ab: „Vom Pazifismus bleibt die Aufgabe der Christenheit grundsätzlich streng geschieden. Der Pazifismus ist um der Verkennung der Grundgesetze geschichtlichen Lebens und um der rationalen Fassung der ‚Gerechtigkeit‘ willen zu bekämpfen.“ 163 So urteilt Schwarke, Anfänge, 8 im Blick auf die Diskussion um den Pazifismus der Religiös-Sozialen: „Mit dieser Diskussion verband sich primär das Interesse, die unmittelbare Vergangenheit des Krieges zu verarbeiten. Insofern tendierte der religiöse Pazifismus von Anfang an zu einer grundsätzlichen Kritik der theologischen Ethik. Denn eine Theologie, welche die verhängnisvolle Vergangenheit mitgetragen hatte, mußte selbst grundsätzlich defizitär erscheinen. Der Formel vom ‚Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung‘ (G. Wünsch) war Ausdruck dieser Generalisierung zu einer fundamentalethischen Debatte über die Bedingungen der Möglichkeit einer christlichen Sozialethik.“ In diese Debatte ist Althaus mit der vorliegenden Schrift eingestiegen und hat sich seitdem aktiv daran beteiligt; vgl. 2503 Krisis, 5. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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und theologische Gründe ab164, fordert er andererseits eine radikale Abkehr vom herrschenden Wirtschaftssystem des Kapitalismus und spart nicht mit Lob für sozialistische Auffassungen. Während seine eigene Vorstellung für eine den Deutschen angemessene Staatsform, die er als das „organisch-aristokratische Staatsideal“ bezeichnet, sehr vage bleibt, hat die von ihm bevorzugte Wirtschaftsform eine deutlich sozialistische Prägung. Allerdings unterscheidet sie sich von der der Sozialisten durch einen ausgesprochen nationalen Zuschnitt, der dem „organisch“ verstandenen „Ganzen“ des Volkes mit seinen Ansprüchen entsprechen soll. Der in der Zeit der Weimarer Republik gerade in den Kreisen der „Konservativen Revolution“ virulente Diskurs über einen „nationalen Sozialismus“ als angemessene Wirtschaftsform einer deutschen „Volksgemeinschaft“ spiegelt sich in den Althausschen Ausführungen wider. Sind in „Pazifismus und Christentum“ bereits frühe Anzeichen für eine sich abzeichnende Ordnungstheologie erkennbar, so baut Althaus dieses Theologumenon 1921 weiter aus. Einhergehend mit der sich bei ihm herausbildenden Zwei-Reiche-Lehre, die die Wirklichkeit des Reiches Gottes streng von der Wirklichkeit der Welt unterscheidet, ohne jedoch die innere Beziehung der beiden aufzugeben, beschreibt Althaus das Handeln des Menschen in der Welt als ein Handeln innerhalb göttlicher Ordnungen. Dieses Handeln hat für ihn Dienst-Charakter, es ist ein „Amt“, das den Menschen vor den Anspruch Gottes stellt. Indem der Mensch in diesem Amtshandeln die Gesinnung der Liebe lebt, erweist er sich nicht nur als Bürger der Welt, sondern auch als Bürger des Reiches Gottes. Ist das Reich Gottes die Verwirklichung idealer, wahrer Gemeinschaft, haben die irdischen Lebensbezüge des Menschen auf dieses Ideal ausgerichtet zu sein. Das menschliche Gewissen als Ort der Gotteserfahrung ist dabei die vermittelnde Instanz zwischen dem Willen Gottes und dem verantwortlichen Handeln des Menschen165. Durch den differenzierten Gebrauch des Begriffs der „Eigengesetzlichkeit“ macht Althaus sein Problembewusstsein in Bezug auf die Ordnungen deutlich. Einerseits stellen die Ordnungen göttliche Gabe und Aufgabe dar, andererseits besteht die Gefahr des menschlichen Missbrauchs dieser Ordnungen. Solange das Handeln in den Ordnungen als ein Handeln in Verantwortung vor Gott 164 Mit diesem politischen Votum folgt Althaus seinem theologischen Lehrer Holl, dem es um die „Differenz zwischen dem deutschen Ideal des nationalen Kulturstaates und dem Staats- und Kulturverständnis der westlichen Völker“ zu tun war (Tanner, Verstaatlichung, 207; zu Holls theologisch begründetem Staatsverständnis vgl. ebd., 205–211). 165 Auch mit dieser Konzeption liegt Althaus auf der Linie Holls, der von einer „Gewissensreligion“ Luthers ausgehend die Orientierung des sittlichen Handelns „ganz ausgerichtet an der Liebe als oberstem Leitprinzip und umfassend gemeinschaftsbezogen“ betrachtete; vgl. Tanner, Verstaatlichung, 213–220, hier 217. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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verstanden wird, besitzen die Ordnungen ihre eigene Würde, haben ihre eigene relative, d. h. auf Gott bezogene „Eigengesetzlichkeit“. Geht der Gottesbezug im Bewusstsein der Handelnden allerdings verloren, entwickelt der Begriff der „Eigengesetzlichkeit“ bei Althaus seine kritische Potenz. In einer Zeit fortschreitender Säkularisierung, gesellschaftlicher Differenzierung und kultureller Pluralisierung, in der der Protestantismus seine kaiserzeitlich zumindest imaginierte Stellung als Leitkultur deutlich eingebüßt hat, begegnet Althaus allen Autonomisierungstendenzen mit seinem Konzept einer theonomen Weltdeutung. Diese „monistische Interpretation der Wirklichkeit“166, die alles Weltgeschehen unter Gottes Willen subsummiert, ist seine Art, auf die Herausforderungen der Moderne zu reagieren. Das ist der Grund, warum er einem Dualismus von Reich Gottes und Welt unbedingt wehren will. Dadurch, dass weltliche Ordnungen und Gottesreich bzw. Wille Gottes bei ihm mehr oder minder eng aufeinander bezogen bleiben, wird es Althaus in der Folgezeit mehr und mehr möglich sein, von ihm aufgrund seiner persönlichen politisch-weltanschaulichen Prägungen und Präferenzen identifizierte Ordnungen mit dem göttlichen Willen zu verknüpfen bzw. als Gottes Willen auszugeben. Von hier verläuft eine theologische Linie zum Althausschen „Ja“ von 1933. Andererseits betont Althaus gerade im Gegenüber zum Religiösen Sozialismus die Unterschiedenheit von Reich Gottes, d. h. erlöstem Zustand, und vorfind licher Weltwirklichkeit, die er angesichts der Nachkriegsrealität als massiv krisenhaft und damit erlösungsbedürftig erlebt. Christian Schwarke folgert daraus: „In diesem Sinne verdankt sich der Rekurs auf die ‚zwei Reiche‘ also gerade jenem Krisenbewußtsein, in dessen Namen er später bekämpft wird.“167 Von hier verläuft die theologische Linie zum Althausschen „Nein“ vor, aber auch nach 1933. Kennzeichen des Althausschen Krisenbewusstseins ist „von Anfang an die Kritik des neuen Staates, der ihm in der sozialen Frage und in der nationalen Frage gleichermaßen zu versagen schien.“168 Von daher erklärt sich sowohl seine radikale Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem, das ihn in die Nähe sozialistischer Ordnungsvorstellungen brachte, als auch seine Ablehnung der westlich-demokratischen Staatsform, die ihn in die Nähe konservativ-revolutionärer Ordnungsvorstellungen brachte. Insgesamt lässt auch sein Hang zum Kulturpessimismus bzw. seine Kritik an der Moderne eine gewisse Nähe zur Konservativen Revolution erkennen. 166 Schwarke, Anfänge, 9. 167 Ebd., 13. Die „monistische Integration des Unterschiedenen in Gottes ‚Regiment‘“ hat demgegenüber für Schwarke ihren Ort in dem „Versuch, auch die Verfallsrealität noch als eine in Relation zu Gott stehende zu begreifen“. 168 Sparn, Althaus, 5. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
3. Jesus Christus und die deutsche Jugend – Althaus’ volksmissionarisches Werben um die junge Generation Zeit seines Lebens ist es für Althaus ein Herzensanliegen, als akademischer Lehrer einen engen Kontakt zur Jugend zu pflegen. Im Blick hat er dabei in erster Linie die männliche akademische Jugend an der Universität, aber auch darüber hinaus stellt er sich der christlichen Jugendarbeit zur Verfügung1. Er will gerade an die heranwachsende Generation seine volksmissionarischen Bestrebungen herantragen und sie für das kirchliche, lutherische Christentum gewinnen. Neben einer kirchlichen Apologetik will Althaus Evangelisationsarbeit betreiben. Seine Stimme im internen Diskurs seiner Studentenverbindung und seine Nähe zur deutschen christlichen Studentenvereinigung (DCSV), aber auch seine Tätigkeit als Militärpfarrer unter der deutschen Minderheit in Polen legen frühe Zeugnisse dieses Anliegens ab. Bereits 1912 ist für ihn die Sache der DCSV ein „wirklich großes Ziel: Deutschlands studierende Jugend für Jesus!“2 Eng verknüpft ist bei ihm von Beginn an eine theologisch-kirchliche Motivation mit einer politisch-nationalen. Seine Hoffnung für eine christliche Wiedergeburt Deutschlands ruht auf der deutschen Jugend. Nach dem verlorenen Krieg verknüpft sich diese Hoffnung bei ihm eng mit der auf eine nationale Wiedergeburt Deutschlands3. Schon Ende 1918 stellt sich Althaus im Rückblick auf sein eigenes Kriegserlebnis die Frage, „warum wird diese Jugend von der Sache Jesu nicht so gepackt wie von der Sache des Vaterlandes?“4 Dass die Jugend von der „Sache Jesu“ gepackt werde, daran arbeitet Althaus als junger Professor in Rostock durch Vorträge und Ansprachen. Auch in speziellen Jugend-Gottesdiensten wirkt er mit5. Es sind vor allem vier Vorträge aus den frühen 20er Jahren, die Althaus’ volksmissionarischen Einsatz für Jesus Christus und seine Kirche unter der Jugend zum Ausdruck bringen6. Aus dem Jahr 1920 stammt der Vortrag „Ewige Jugend“, der als „Flugschrift des Evangelischen Landesjugenddienstes Hannover“ in ganz Deutschland Verbrei 1 So hält er auch Vorträge „vor gebildeter weiblicher Jugend“ (2407 Erlebnis, Vorwort). 2 1204 Studentenbewegung II, 115. 3 Vgl. Kap. I, 4.3. 4 1808 Männern, 631. 5 So hält er am 1. Advent 1923 in einem Jugendgottesdienst in Rostock die Predigt; vgl. NPA 13/3. 6 Daneben hat er sich „aus der Not und der Sehnsucht der Jugend heraus“ auch der Abendmahlsthematik angenommen; vgl. 2508 Gemeinschaft. Das Zitat entstammt dem Vorwort des Herausgebers. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tung findet. Auch seine „Ansprache an die Jugend in der Marienkirche zu Rostock während der neudeutschen Woche 1921“ wird unter dem Titel „Feuer. Worte an die deutsche Jugend“ als „Flugschrift des mecklenburg-schwerinschen Landesjugenddienstes“ veröffentlicht. Aus dem gleichen Jahr stammt der Vortrag „Das Kreuz Christi als Maßstab aller Religion“. Der vierte Vortrag mit dem Titel „Jesus Christus“, den Althaus zu Ostern 1924 „auf einer religiösen Jugendtagung in Warnemünde“7 hält, wird sowohl als einzelne Flugschrift als auch im Sammelband „Jesus Christus und die Jugend“ veröffentlicht. Angesichts der vielfachen Erfahrung von Chaos, Unordnung, Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeit in den schweren Anfangsjahren der Weimarer Republik, unter denen vor allem die nach Vorbildern und Idealen suchende Jugend zu leiden hatte, ist Althaus am Puls der Zeit, wenn er dieser Jugend ein zeitloses Ideal vor Augen führt: Jesus Christus und „die große Sache unseres Gottes“8. Althaus malt in starken Worten ein düsteres Bild vom Zustand der Gesellschaft in der Weimarer Republik und von der Verfassung Deutschlands. „Schund und Schmutz“ nimmt er wahr, „tausendfache Unnatur, Verstellung und Lüge, die unsere Gesellschaft und Zeit vergiften“9, während Deutschland als Ganzes „in Staub und Schande liegt“10. Er spricht der Jugend – und natürlich sich selbst – aus dem Herzen, wenn er das Feuer beschwört11, das „in deutschen Landen das Tote und Unfruchtbare“ verzehren soll, „das Unwürdige, die Gier nach schaler Freude und die heimliche Unreinheit“, „den Schmutz und die Zersetzung und die Schande der Großstädte“, „den Verrat an der Not des Vaterlandes, die Gleichgiltigkeit und die ekle Selbstsucht“12. Vor dieser Negativfolie der aktuellen Situation in Deutschland, die Althaus hier beschreibt, kann sein Ausweg, den er seinen Zuhörern und Lesern vor Augen führt, umso klarer hervortreten: „Da tritt einer vor uns hin und bringt uns den einen großen Gedanken: ‚Vater, Dein Name werde geheiligt! Vater, Dein Reich komme! Vater, Dein Wille geschehe wie 7 Meyer, Jesus, 7. Auf der gleichen Tagung hält Althaus auch den Vortrag „Gott in der Geschichte“. 8 2001 Jugend, 9. 9 2103 Feuer, 3. 10 Ebd., 2. Dass gegen Deutschlands Schande etwas unternommen werde, beschwört Althaus Gott mit eindringenden Worten: „Zünde in die Seelen Feuer, und zünde Mut und Treue und Einfalt an, daß die Herzen brennen, daß ein neues Geschlecht wachse – bis einst die Stunde kommt, da die Feuer auf den Bergen lodern als Zeichen neuer deutscher Freiheit, bis die Ketten zerbrechen!“ (ebd., 1). 11 Auch wenn Althaus die Ansprache in der Marienkirche in Rostock hält, ist der unmittelbare Anlass der Rede das Entzünden des Sonnwendfeuers. Diesem verdanken sich auch der Titel seiner Rede und ihre motivische Ausgestaltung; vgl. ebd., 1, wo er vom „Sonnwendtage“ spricht. 12 Ebd., 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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im Himmel, also auch auf Erden!‘ Das ist es, was der Seele unseres Volkes fehlt, und das müssen wir ihr bringen, diesen einen großen Gedanken, diese eine Wirklichkeit, die nie enttäuscht“, denn sie „veraltet nicht: das ist die große Sache unseres Gottes. Völker und Staaten haben ihre Zeit und werden begraben, Kulturen werden überreif und alt; wer ihnen allein dient, kann an ihnen und mit ihnen müde werden. Aber Gottes Herrschaft ist die ewig junge, neue Wirklichkeit, das ewig junge, aktuelle Programm.“13
So sehr Althaus auch einem dem konservativ-revolutionären Gedankengut verwandten Kulturpessimismus das Wort redet und so sehr er auch politische Gründe, nicht zuletzt die Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte, ins Feld führt, sein Anliegen in dieser Rede ist nicht politischer, sondern theologisch-kirchlicher Art. Deutlich erklärt er seinen Hörern und Lesern, dass auch der Einsatz für Volk und Vaterland zuletzt keinen zeitlosen Wert hat. So ist er sich sicher: „Gott will zuletzt unseren Blick von uns und allem, was an uns zu sehen ist, weg auf ihn ganz allein richten“14. Deutlich wird dies auch in einer Predigt, die Althaus’ im November 1923 unmittelbar nach dem erfolglosen Ruhrkampf gegen die französisch-belgische Besetzung in Rostock hält: „Eine neue Jugend steht auf“, weiß Althaus seinen Predigthörern freudig zu berichten, „sie brennt darauf, diese Schuld [gemeint ist die deutsche Mitschuld an Ver sailles] abzutragen, ein Neues zu bauen und durch die Tat zu zeigen, daß Deutsche an ihrer Kraft und Freiheit nicht verderben müssen. […] Ein neuer Ernst weht durch die Jugendbewegung, immer bewußter, freudiger, entschlossener findet die christliche Jugend sich zusammen.“15
An diese von ihm wahrgenommene Begeisterung der Jugend für ein „neues Deutschland“, das zuletzt die Weimarer Republik hinter sich lassen muss, knüpft Althaus nun mit seiner eschatologischen Predigt an: „Aber jede Befreiung des Volkes aus seiner Gefangenschaft, jeder Wiederaufbau deutet auch voraus auf den großen Tag, wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird“, denn in „Gottes Ewigkeit erst ist das Verlangen nach Gemeinschaft des Lebens […] ganz erfüllt.“16 „Und würde es der herrlichste vaterländische Aufstieg, den wir denken können“, ruft Althaus gerade auch seinen studentischen Predigthörern entgegen, „so lange wir hier wallen, bleibt alles Bruchstück, alles befleckt, und auch 13 2001 Jugend, 9. 14 Ebd., 15. 15 2309P Weg, 201. Dort heißt es weiter: „Männer und Frauen drängen nach Taten der Liebe und der Seele, ringen um eine neue Volksgemeinschaft.“ 16 Ebd., 202. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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auf der Höhe des Lebens, in der Fülle der Kraft sind Völker und Menschen vom Tode gezeichnet. Alles, was wir an Liebe und heißem Verlangen in unsere Arbeit legen – wollte Gott, daß ihm Erfüllung schon hier geschenkt würde, in einem neuen Deutschland, befreit, entsühnt, gereinigt, – alles weist doch über jeden irdischen Staat hinaus auf die ewige Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. […] Da erst ist ganz die Heimat, das Vaterland, in dem die Seele wohnen kann.“17
Diesem anknüpfenden Ineinander von irdisch-politischer Erwartung und jenseitig-religiöser Hoffnung entspricht Althaus’ untrennbarer hoffnungsvoller Erwartung von nationaler und religiöser Wiedergeburt und Erneuerung Deutschlands, wobei dem Theologen die religiöse stets die eigentlich entscheidende bleibt: „Gott will noch eine Zukunft Jesu Christi in unserem Volke.“18 Was Althaus noch während des Krieges als pastoraltheologisches und volksmissionarisches Konzept mit besonderem Fokus auf die Jugend aufgestellt hat, setzt er nun nach dem Krieg in die Praxis um19. Er ist der Überzeugung, dass eine theozentrische Interpretation der Weltwirklichkeit den benötigten Anknüpfungspunkt für die eigentliche christologisch-soteriologische Verkündigung darstellt. Grundvoraussetzung dafür, dass dieser Vorgang gelingen kann, ist die übereinstimmende Interpretation der Gegenwart als andauernde Krise und Verfall zwischen ihm als Redner und seinen jugendlichen Zuhörern bzw. später Lesern. Der Detektor aller an diesem Geschehen Beteiligten, der anzeigt, was als Krise und Verfall erkannt wird, ist ganz selbstverständlich national protestantisch und wertkonservativ, antimodernistisch und kulturpessimistisch gepolt. Indem die theozentrische Weltbeschreibung zugleich eine monistische ist, gelingt es ihm, auch die in seinen Augen allenthalben anzutreffenden Verfallserscheinungen in Beziehung zu Gott zu bringen und damit seine eigene hermeneutische Kompetenz als Theologe herauszustellen. So will Althaus der Jugend angesichts einer derartig abgewerteten Weltwirklichkeit und gerade ihr 17 Ebd., 203. Althaus’ eschatologischer Vorbehalt gegenüber einer Sakralisierung des „neuen Deutschlands“ korrespondiert in dieser Predigt mit seiner Abgrenzung von „nationale[r] Phrase“: „Wir möchten den Heiligen doch nicht zum Diener unserer vaterländischen Wünsche und Leidenschaften machen“ (ebd., 199). 18 Ebd., 199. So heißt es in der Predigt weiter: „Hat unsere Kirche nicht noch eine Riesenschuld an das deutsche Volk? Der Name Luthers und das Evangelium der Reformation steht in unserer Geschichte noch wie eine unerfüllte Weissagung. Gott hat – wir wagen es zu sagen – sein letztes Wort über unser Volk und zu ihm noch nicht gesprochen.“ (ebd., 199 f.). Gerade die letzten Worte sind als seelsorgerlicher Trost angesichts der katastrophalen Situation Deutschlands und der verarmten Volksmassen nach dem erfolglosen Ruhrkampf und der Hyperinflation im Land zu begreifen. 19 Vgl. Kap. I, 4.3. Besonders deutlich ist der Althaussche Zweischritt der Anknüpfung am Aufbau von 2103 Feuer zu sehen, wo er zuerst die aktuelle Situation in Deutschland kritisch beleuchtet, um dann überzugehen zur alle Zeiten überdauernden Bedeutung Jesu Christi. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zum Trotz „die Gewißheit um den Heiligen, der uns berufen hat zu seinem wundersamen Lichte, der auch diese furchtbare Zeit in seinen Händen hat“20 nahebringen. Althaus ist überzeugt: „Die Jugend sucht ihren Herrn. Durch unsere Reihen geht die Sehnsucht nach Anbetung und Opfer und großem Dienst.“21 Zeitgleich schreibt er im „Religiösen Sozialismus“: „Herrschaft Christi auf allen Lebensgebieten – das ist ein großer Gedanke, wie die christliche Jugend ihn braucht.“22 Daher fordert er seine Zuhörer und Leser auf: „Die ihr getauft seid und zu einer christlichen Gemeinde gehört, wir alle haben den einen gleichen Beruf, nämlich die Quelle von Nazareth und Jerusalem, die uns Deutschen zu Wittenberg wieder klar aufgebrochen ist, weiterzuleiten in das junge Geschlecht hinein, über das dürre, dürstende Land unseres Volkslebens – jeder an seiner Stelle.“23
Althaus kommt auf Jesus Christus nicht nur als Antwort auf die Frage nach einem neuen Ideal für die deutsche Jugend angesichts einer als ideallos und krisenhaft erfahrenen Zeit zu sprechen, sondern auch als Antwort auf die Frage nach Gott. So fragt er in seinem Vortrag 1921: „Aber wo ist Gott? Wo begegnet er uns so nahe, daß seine Gestalt überwältigend die Seele trifft?“24 Die sich steigernden Antworten, die er seinen jugendlichen Zuhörern im Folgenden gibt, laufen auf Jesus Christus zu. Von seiner ersten, hier gegebenen Antwort geht bereits eine merkliche Linie zu seiner später ausformulierten Uroffenbarungslehre aus: „Gewiß, wir spüren ihn draußen […] in dem Zauber seiner Schöpfung. Wir ahnen ihn, wenn wir andächtig vor der Natur stehen, vor ihrer Lebenskraft, Fülle, Ordnung und Fruchtbarkeit. Wir fühlen seine Wirklichkeit, wenn wir die Geschichte der Menschheit durchgehen, wie die Geschlechter aufkommen und sterben, die Völker steigen und fallen“25. Den Gedanken an Gottes Offenbarung in Natur und Geschichte kennzeich 20 2103 Feuer, 2. 21 Ebd., 4; vgl. 1808 Männern, 632. 22 2104 Sozialismus, 31. 23 2001 Jugend, 10. Den gleichen „Beruf“ schärft Althaus auch seinen studierenden Bundes brüdern in der Studentenverbindung als „höchste Aufgabe“ des Schwarzburgbundes ein, wenn er diese mit den Worten beschreibt: „Männer zu erziehen und zusammenzuhalten, die unserem Volke an ihrem Posten als ein christlicher Adel deutscher Nation untadelig dienen“ (2402 Jahre, 2). Die doppelte, und bei Althaus untrennbare Hoffnung auf christliche und nationale Wiedergeburt Deutschlands schwingt in diesen Worten spürbar mit. 24 2103 Feuer, 4 f. 25 Ebd., 5. Auch in 2404 Jesus, 47 spricht Althaus von der Erkennbarkeit Gottes in Natur und Geschichte: „In der Natur und in der Geschichte bezeugt sich die Wirklichkeit Gottes, aber nur einem hellen Auge und einem lebendigen Gewissen.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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net Althaus jedoch sogleich als ungenügend, denn er bleibt hier „der verborgene Gott“, „er bleibt im Schweigen“. Daher steht für ihn fest, Gott in Natur und Geschichte ist nur eine ungenügende Antwort: „Nein, wir fühlen es alle: das ist zu armselig.“26 Eine zweite Antwort kommt Gott seiner Meinung nach schon näher: das Zeugnis Gottes in der unsichtbaren, wahren Kirche. Dazu schreibt Althaus: „Ich weiß von einer großen Schar, aus allen Jahrhunderten, aus allen Völkern – […] hier ist der Heilige gegenwärtig; unter diesen Menschen ist er mir ganz nahe“, „unzählige Namenlose und Namhafte in allen Kirchen und Geschlechtern und Völkern – was für ein Chor derer, die von Gott zu reden wissen“27. „Ich sage euch: was die Menschen in der Natur draußen“ – zu ergänzen ist in Gedanken sicherlich auch: in der Geschichte – „gefunden haben wollen von Gottesschau, verschwindet wie ein armer Schatten vor der unerhörten, die Seele tief erregenden und befriedenden Wirklichkeit des Heiligen, deren du unter seiner Schar inne wirst!“
Doch erst die dritte Antwort ist es schließlich, die die Frage nach Gott wirklich löst: das Leben und Leiden Jesu Christi. „Vor dem Bilde halten wir den Atem an. Es wird uns zum Allerheiligsten auf Erden. Gott wird uns ganz groß durch diese Geschichte, gewaltig ernst und doch wieder überwältigend durch die unvergleichliche Liebe Jesu bis in den Tod. In dieser Geschichte spürt ihr den wirklichen Gott. Der Heilige, dessen ihr dort gewahr werdet, ist freilich viel ernster als alles, was die Menschen so leichthin von Gott schwatzen.“28
Jesus Christus ist es, den Althaus seinen jugendlichen Zuhörern als den Weg zu Gott aufzeigt. Alle anderen Wege über die Natur und die Geschichte erkennt er zwar an, doch sind sie für ihn nicht hinreichend, um Gott zu erfassen. Wenn Althaus der Jugend die Vorbildfunktion und die Heilsbedeutung Jesu Christi verkündigt, dann ist er sich dabei der Tatsache bewusst, dass es gerade der aktive Jesus der Tat ist, der es den Jugendlichen angetan hat29. Sein Anliegen ist es nun 1924, die Einheitlichkeit von Jesus als dem Christus zu betonen und dabei die soteriologische Dimension hervorzuheben. So formuliert er am Ende seiner Rede den programmatischen Satz: „Nur die werden Gottes Feuer durchs deutsche Land und in die deutsche Jugend tragen dürfen, die selber ge 26 Ebd. 27 Ebd., 6 f. 28 Ebd., 7. 29 2404 Jesus, 50 f. Diese Erkenntnis hat Althaus bereits in 2104 Sozialismus, 31 zum Ausdruck gebracht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zeichnet sind von Jesu Sterben.“30 Denn Althaus ist überzeugt: „Mächtiger als der Bergprediger, erschütternder als der Jesus der Gleichnisse zeugt der Gekreuzigte von Gott.“31 Erst hier wird für Althaus die ganze Majestät Gottes sichtbar, erst hier werden die Menschen „wirklich vor Gott selbst gestellt“32. Noch stärker stellt Althaus die Bedeutung des Gekreuzigten in seinem Vortrag „Das Kreuz Christi als Maßstab aller Religion“ heraus. Sein Anliegen, der Jugend die Heilsbedeutung Jesu Christi zu verkündigen, wird hier be sonders deutlich. Der Vortrag, den Althaus ursprünglich „auf den christlichen Studentenkonferenzen in Pappenheim und Hermannsburg Aug[ust] 1921“33 und später noch einmal auf der „30. Allgemeinen Deutschen Christlichen Studentenkonferenz“ der „Deutschen Christlichen Studentenvereinigung“34 gehalten hat, wird 1924 als eine von drei „Gegenüberstellungen mit der mystisch-idealistischen Zeitbewegung“ veröffentlicht. Er trägt also apologe tische Züge. Zunächst begrüßt Althaus die von ihm wahrgenommene allgemeine religiöse Sinnsuche, die „Welle religiösen Fragens und Ringens“, den „Willen[s] zur religiösen Vertiefung“, den er sowohl bei der sozialistischen als auch bei der idea listischen Jugendbewegung wahrnimmt. Doch sogleich erhebt er seine Vorbehalte, denn er sieht die „Gefahr, indem man sich an gegenwärtige Bewegungen hingibt, sich an sie zu verlieren.“ „In unseren verwirrten Tagen neuer Religionsmischung und Verwaschung des Echten gilt es, sich auf die Eigenart wirklichen Christentums zu besinnen.“ Um dieser Gefahr zu begegnen, steht für ihn fest: 30 Ebd., 65. 31 Ebd., 58. 32 Ebd. Der Althaussche Zweischritt der Anknüpfung vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis wird an dieser Stelle besonders explizit: „Das Wort ‚Gott‘ bleibt uns trotz vieler Predigten ein Wort, ein Schatten. So ging es vielen unter uns vor dem Kriege mit dem Worte ‚Vaterland‘. Es gab vaterländische Feste genug, und an hohen Worten wurde nicht gespart, aber es war allermeist kein Blut darin; darum wurden wir nicht wirklich gezündet. Aber als 1914 die ersten unserer Brüder ihr Leben dahingaben, als der Strom der Tränen deutscher Mütter zu rinnen begann, als wir die ersten Kreuze aufrichteten in Polen, Frankreich und Flandern, da trank das Wort Vaterland Blut und – wie in der griechischen Sage – der Schatten wurde eine uns ergreifende Wirklichkeit. Ebenso erscheint uns Gottes Majestät und Wirklichkeit ganz erst in dem Sterben seiner Knechte.“ 33 2706 Evangelium, 63, Anm. 1. 34 Zur „Deutschen Christlichen Studentenvereinigung“ (DCSV), einer um die Jahrhundertwende durch die angelsächsische Evangelisationsbewegung angeregten, pietistisch geprägten Erweckungsbewegung im akademisch-universitären Raum vgl. Hong, Studenten-Vereinigung. Dass Althaus selbst der DCSV und mit ihr der internationalen Studentenmissionsbewegung nahe steht, macht er bereits 1912/13 in seinen Beiträgen über „Die christliche Studentenbewegung“ in den „Blättern des Schwarzburgbundes“ deutlich; vgl. Kap. I, 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Aber das Ringen um die anderen muß sich zugleich im Kampfe wider sie vollziehen. […] Neben denen, die Brücken schlagen, müssen solche stehen, die Gräben ziehen. Wir können nicht nur Bindestriche ziehen, sondern müssen auch Trennungslinien legen.“35
Althaus selbst macht sich in dieser Zeit daran, „Trennungslinien“ zur idealis tischen Jugendbewegung und zur „deutschen Frömmigkeit“ zu ziehen36. Er zählt sich zu denen, „die im Frontkampfe der Kirche stehen und die Feinde sowie die Kampfeslage kennen müssen“37. Dafür bedarf es nach Althaus eines kritischen Maßstabes „für das, was echt christlich ist“: das „Wort vom Kreuz“38. Dieses gilt es zunächst selbstkritisch gegen sich selbst zu richten: „Wir denken […] alle irgendwie in den Lieblings gedanken unserer Zeit und sind ihren Stimmungen verfallen.“ Dagegen ist sich Althaus im Klaren: „Vom Kreuze Christi geht eine schneidende Kritik über alle menschliche Religion aus.“39 Indem Althaus den Nachweis führt, dass das Kreuz der „Ausdruck der tiefsten Geschichte der Menschheit“ ist, meint er, von ihm aus „den Maßstab für alle Gottesanschauung, alle Schätzung des Menschen, alle Weltbetrachtung“ zu gewinnen40. Das hat Konsequenzen für seine Auseinandersetzung mit der „mystisch-idealistischen Zeitbewegung“: „Zuerst für alle Gottesanschauung. Hier scheiden wir uns von der neuen Mystik, wie sie heute viele gewonnen hat. […] Um der Gotteserfahrung des Kreuzes willen 35 2105 Kreuz, 27; Hervorhebung von Althaus. Was er als einseitig ablehnt, formuliert er so: „Daher suchen viele unter uns heute die Sprache der anderen zu reden und in ihren Gedanken zu denken. Sie ziehen Bindestriche zwischen Jesus und dem Sozialismus, zwischen dem Evangelium und der idealistischen Jugendbewegung.“ (ebd.) Den Gedanken von der Problematik von „Bindestrichen“ zwischen christlichen und außerchristlichen Inhalten hat Althaus wohl von Barth übernommen; vgl. 2104 Sozialismus, 32, Anm. 1. 36 Vgl. seine Rezensionen zu Hans Blühers „In medias res“ (2201R Blüher) und Julius Bodes „Wodan und Jesus“ (2208R Bode). In 2403 Theologie, 77 bezeichnet Althaus die Mystik als „das zur Zeit brennendste Problem“ und brandmarkt die „Mystik als selbständige religiöse Lebensform“ als den „Todfeind biblisch-reformatorischen Christentums“ (ebd., 74; Hervorhebung von Althaus). Gerade Schuld und Vergebung sind in seinen Augen als Kennzeichen des reformatorischen Evangeliums „scharf gegen alle deutsch-idealistische oder neu-mystische Ausdeutung des Christentums“ zur Geltung zu bringen (2005R Fischer, 249). 37 2209R Grützmacher, 170. 38 2105 Kreuz, 28. 39 Ebd., 29. So predigt er auch am 5.11.1922: Das evangelische Bekenntnis zu Jesus Christus „ist unserer Väter Feldzeichen gewesen. Brüder, auch heute muß es Panier im Kampfe sein, zur Rechten und zur Linken. Als breite Welle kommt eine neue Religiosität empor. Mit ihr, nicht mit der Gottlosigkeit werden wir den schwersten Waffengang haben.“ (2206P Bekenntnis, 79). 40 2105 Kreuz, 38. Die Althaussche Kreuzestheologie kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden; vgl. ebd., 34–38. An anderer Stelle spricht Althaus auch von der „Christustatsache als Maß aller Gedanken von Gott und der Geschichte“ (2304 Sünde, 52). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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müssen wir uns von den religiösen Gedanken der idealistischen Jugend klar trennen. Denn nur der Gott des Kreuzes ist der ganze und der lebendige Gott.“41
Die Jugend mit Jesus Christus vertraut machen, Jesus Christus als Antwort auf die jugendlichen Gegenwartsfragen herausstellen, das ist das Anliegen des Rostocker Theologen in seinen vier Vorträgen Anfang der 20er Jahre, das ihm auch noch als Professor in Erlangen am Herzen liegen wird42. Althaus ist mit seinen Antworten am Puls der Zeit und hat ein aufmerksames Ohr für die Jugend, die er und mit ihm viele Männer der Kirche in einer Aufbruchsstimmung wähnt.43 Angesichts von Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die sich nicht zuletzt aus der Erfahrung der deutschen Republik als schwacher Staat ergibt, wird von Beginn an der Ruf nach Führung laut. So schreibt Bruno Meyer, der Herausgeber des Sammelbands „Jesus Christus und die Jugend“, 1925 in seinem Vorwort: „Immer mächtiger erhebt sich […] gerade im deutschen Jungvolk die Sehnsucht nach einem Führer, […] nach einem Menschen, der Fülle genug in sich trägt, alles Verlangen nach Leben zu stillen, und Klarheit genug, um aus der Wirrnis zu führen.“44 Als solcher Führer wird Jesus Christus erkannt. So wollen laut Meyer auch die Vorträge von Althaus „in aller Schlichtheit zeugen von dem Führer aller Führer, sie wollen von ihm Antwort holen 41 2105 Kreuz, 38 f. Althaus wirft hier der Gegenseite vor, ihre Gottesanschauung wisse weder vom Widerstreit zwischen Gott und Mensch, noch von der von der Güte Gottes umgriffenen personalen Beziehung zwischen Gott und Mensch. 42 So hält er am 7.11.1925 auf Einladung des CVJM im Redoutensaal in Erlangen einen Vortrag mit dem Titel „Christus und die Wirklichkeit“; vgl. Flugblatt des CVJM (Stadtarchiv Er langen, III. 50. A. 1). 43 So beschreibt Bruno Meyer im Vorwort seines Sammelbands „Jesus Christus und die Jugend“ die Haltung der Jugendlichen Folgendermaßen: „Wir stehen heute mitten in einer Zeit neuen Werdens und müssen die ganze ungeheure Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft als junge Menschen mit durchleben. […] Wir fühlen deutlich, daß in uns, daß in allen Lagern der deutschen Jugend ein Neues werden will.“ (Meyer, Jesus, 7). Das Gefühl, in einer Zwischenzeit zu leben, war immens in der damaligen Zeit, besonders unter den Jüngeren. Es betraf sowohl das politische Leben, was den neuen Staat der Weimarer Republik von Beginn an als schlechte Übergangslösung deklassierte, als auch das theologische und Geistesleben. Zeitschriftentitel aus damaliger Zeit legen ein beredtes Zeugnis davon ab: ob in konservativen Kreisen die „Zeitenwende“ oder im Lager der Dialektischen Theologie „Zwischen den Zeiten“; vgl. bei Althaus 2505R Seeberg, 439. 44 Meyer, Jesus, 7. Den gleichen Gedanken formuliert 1924 auch Hermann Weber, der Generalsekretär der DCSV, in seinem Geleitwort zum Sammelband „Die Gewißheit der Christus botschaft“, in dem auch Althaus’ Vortrag „Das Kreuz Christi als Maßstab aller Religion“ erscheint: „Wir suchen heute nach Führern, die dem Ausdruck zu geben vermögen, was in der Tiefe unserer Seele um Gestaltung ringt. […] Wir brauchen einen, der unsere Sehnsucht nicht nur deutet und verkörpert, sondern die Erfüllung in sich trägt. Das treibt in unseren Kreisen viele unbefriedigt von den menschlichen Führerpersönlichkeiten weg zu Christus […] Um die Wirklichkeit Christi geht es uns.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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auf das brennende Fragen unserer Zeit, und sie ringen vor allem um ein wirkliches Christentum der Tat und des Dienstes und um neue lebendige Gemeinschaft im Heiligtum.“45 Jesus Christus als Ideal der Jugend in idealloser Zeit, Jesus Christus als Wegweiser zu Gott, Jesus Christus als Führer46 – so viel Christuszentriertheit ragt aus dem ansonsten so dezidiert theozentrischen Werk von Althaus sichtlich heraus. Es gehört zur Ambivalenz von Althaus, dass er gegen die „Verwaschung wirklichen Christentums“, wie er sie von Seiten der deutschen Mystik bzw. des Idealismus, d. h. „von rechts“, kommen sieht, christozentrisch argumentiert, während er gegen die gleiche Gefahr von Seiten des Religiösen Sozialismus, d. h. „von links“, theozentrisch argumentiert. In beiden Fällen liegen ihm Extrempositionen fern. Die Ambivalenz ist dadurch bedingt, dass Althaus jeweils situationsabhängig und reaktiv handelt und schreibt. Wenn er in seiner politischen Ethik zukünftig vom Führergedanken spricht, wird der religiösethische Vorbildcharakter eines idealen Führers immer mit zu bedenken sein, der für ihn seine höchste Gestalt letztlich bleibend in Jesus Christus hat47.
45 Meyer, Jesus, 8. 46 Die missionarisch motivierte, christologische Anknüpfung an den Führergedanken findet sich bei Althaus, der dabei auf die politischen Hoffnungen und Erwartungen insbesondere der Jugend eingeht, auch in 2503 Krisis, 11 f. Jesus Christus soll für die deutsche Jugend der Führer sein. 47 Vgl. 2503 Krisis, 11, wo Althaus zunächst schreibt: „Der Herr der Geschichte erweckt nach seiner Freiheit den großen Führer und stellt ihn als emporführendes, lebenzeugendes Vorbild unter uns“, um dann fortzufahren: „Unter den emporführenden sittlichen Mächten der Geschichte hat die Peron Jesu ihre besondere Stelle.“ Freilich grenzt sich Althaus sogleich von einer liberalen Interpretation Jesu Christi ab. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
4. „Gott in der Geschichte“ – Althaus’ frühe geschichtstheologische Grundlegungen „Unverkennbar steht im Mittelpunkte alles zusammenfassenden geisteswissenschaftlichen Denkens unserer Zeit das große Thema der Geschichte. Das Verständnis der Geschichte und ihrer Bedeutung für die Erkenntnis letzter Dinge scheint unserer Generation als ihre besondere Aufgabe gestellt zu sein. […] Um das Verhältnis unserer Gottesbeziehung zur Geschichte ist der Kampf auf der ganzen Linie entbrannt.“1
So urteilt Althaus 1924 im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit dem Geschichtsverständnis der Dialektischen Theologie. Das zentrale Paradigma der Althausschen Geschichtstheologie in den 20er Jahren und darüber hinaus lautet: „Gott in der Geschichte“. Unbeschadet seiner gleichzeitigen Betonung der Christustatsache und der Christologie ist „Gott in der Geschichte“ gleichsam seine Geschichtstheologie in nuce. So beginnt Althaus seinen gleichnamigen Vortrag mit den Worten: „Gott in der Geschichte, das ist für viele heute ein unverständlicher Satz. […] Es ist kein Wunder, daß nach der Geschichte der letzten zehn Jahre die Frage uns bewegt: Ist die Geschichte nicht lauter Menschenwerk, nichts als Verhüllung Gottes? Was haben wir denn erlebt: eine Geschichte menschlichen Hassens und Kämpfens, zügelloser Leidenschaft und Lüge.“2
4.1 Die Grundlagen der frühen Althausschen Geschichtstheologie Auf die Einwände gegen eine geschichtstheologische Betrachtung reagiert Althaus im genannten Vortrag von 1924 – wie schon in seinem Vortrag „Das Kreuz Christi als Maßstab aller Religion“ von 1921 – mit der Vorstellung eines doppelten Blickwinkels auf die Geschichte: „Wir werden niemals über diese Skepsis hinauskommen, solange wir die Geschichte von außen betrachten.“ Blickt man aber auf die „Geschichte von innen“, so finden sich die „Spuren Gottes in der Geschichte“3. 1 2405 Geschichte, 741. 2 2403 Gott, 3. Er hielt den Vortrag „auf einer religiösen Jugendtagung in Warnemünde an Ostern 1924“. 3 Ebd., 4. Diese Spuren in der Geschichte überbieten bei weitem die göttlichen Spuren in der Natur, die laut Althaus gerade viele Jugendliche auszumachen meinen: „Die Natur offenbart von Gott doch nur ein Dürftiges. Wir ahnen wohl seine Macht, seine unerschöpfliche Lebensfülle und seine Schönheit, aber sein Herz bleibt uns verborgen. […] Wir können die Züge seines Antlitzes, die Sprache seines Herzens nicht erkennen. Ganz anders, wenn wir in die Geschichte kommen.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Zwei Blickwinkel nimmt Althaus ein, wenn er auf die „Menschheitsgeschichte“ zu sprechen kommt4. Zunächst betrachtet er die „Längendimension“ der Weltgeschichte, die er in eine politische und eine Geistesgeschichte unterscheidet. Diese Betrachtung ist für ihn eine „von außen“, sie blickt sowohl auf die „Geschichte fortschreitender Organisierung der Menschheit in Staat und Gesellschaft“ und wird für ihn „beherrscht vom Staatsgedanken“5, als auch auf die zunehmende „Bezwingung und Beherrschung der Wirklichkeit durch den Geist“6. Aufgrund der Tatsache, dass dem Einzelnen sich der Sinn der Geschichte, die Althaus als einen „gewaltigen Bau“ versteht, nicht erschließt, betont er die Bedeutung der ihm übergeordneten Sozietäten: „Die einzelnen Menschen und Geschlechter“ sind für ihn daher nicht „der Sinn dieser Geschichte, sondern ihres Volkes Staat und seine Zukunft oder die fortschreitende Kultur der Menschheit überhaupt.“7 Der zweite Blickwinkel auf die Geschichte ist nach Althaus der „von innen“, hierbei geht es um die „Tiefendimension“ der Weltgeschichte. Neben politischer und Geistesgeschichte öffnet sich hier der Blick für die von Althaus sogenannte „dritte Geschichte“, deren Grundform „nicht die Periodizität, sondern die Polarität“ ist8. In Abwandlung des berühmten Ausspruchs des Historikers Leopold von Ranke ist Althaus der Auffassung: „Jeder einzelne, jedes Lebens alter, jeder Tag ist unmittelbar zu Gott.“9 Daraus folgert er: „Die dritte Geschichte, in der wir uns erfassen als in jedem Augenblicke unmittelbar zur Ewigkeit, gibt jedem eine echte Würde, die Würde einer Gegenwart von ewiger Bedeutung, deren Sinn nicht darin liegt, Mittel für irgendeine Zukunft zu sein, sondern in ihr selbst.“10
Durch diesen Gedanken einer „dritten Geschichte“ meint Althaus den wirkmächtigen Relativismus von Oswald Spengler, der „vielen den Glauben an eine irgendwie bedeutsame Einheit der Menschheit“11 nimmt, zu überwinden: „Die 4 Zur „Menschheitsgeschichte“ bei Althaus vgl. 2409 Heilsgeschichte, 606 f. 5 2105 Kreuz, 30. 6 Ebd., 31. 7 Ebd., 30. 8 Ebd., 32. Die Vorstellung einer „dreifache[n] Geschichte der Menschheit“ entwickelte Althaus bereits in 1635B Pfingsten, 74; vgl. Liebenberg, Gott, 271–276. 9 Ebd. Von Ranke schrieb ursprünglich: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst“ (ders., Über die Epochen der neueren Geschichte, 1854). Dieses Rankewort wird von Althaus öfter herangezogen; vgl. 2409 Heilsgeschichte, 669. 10 Ebd., 32 f. Die „dritte Geschichte“ ist für ihn daher „übergeschichtlich“ und „allgegenwärtig“. 11 Ebd., 33. Althaus fährt fort: „Der Traum von einer einheitlichen Entwicklung, von einer Kulturgeschichte ist uns zerronnen.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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dritte Geschichte ist […] eine allen Menschen gemeinsame Geschichte.“ In ihr sieht er „die Einheit der Menschheit begründet. Wir treten hier jenseits von Spengler.“12 Entscheidend ist für ihn dabei die theologisch-anthropologische Komponente: „Die Einheit der Menschheit ist in der Gleichheit des menschlichen Herzens begründet. Wenn darum das Kreuz auf dem Boden der dritten Geschichte seinen Ort und entscheidende Bedeutung hat, dann gilt es der ganzen Menschheit.“13 Ganz selbstverständlich nimmt hier Althaus das seinerzeit „weithin vermiedene und in Verruf gebrachte Wort ‚Menschheit‘ in den Mund“ und tritt damit der „gängigen Entleerung des Begriffs der Menschheit“14 im Gegensatz zu dem des Volkes entgegen. Den Ausdruck der „dritten Geschichte“ verwendet Althaus in späteren Schriften nicht mehr, der Sache nach hält Althaus in seiner Geschichtsphilosophie aber daran fest. Mehr und mehr Gewicht bekommt in seiner Theologie der Reich-Gottes-Begriff. So spricht er 1931 vom Reich Gottes „mitten in unserer Welt“: „Durch alle Weltgeschichte hindurch, hinter und unter der Geschichte der Völker und Staaten, der Geschichte der Kultur und des Geistes, geht eine heimliche und verborgene Geschichte […]: die Geschichte des Ringens des lebendigen Gottes mit den Herzen der Menschen und Völker um seine Herrschaft. Das gewaltigste Zeugnis dieser Geschichte ist die Bibel.“15
„Was will Gott?“, fragt Althaus in einem anderen Text des gleichen Jahres im Blick auf den Sinn der Geschichte. „Gott will ein Reich; es ist Ende und Grenze der Geschichte. Um des Reichs willen ist die Geschichte da.“16
12 Ebd. Diesen Gedanken wiederholt Althaus auch in 2409 Heilsgeschichte, 672: „Der Begriff der ‚Menschheitsgeschichte‘ zerbricht uns nicht. Wir lösen die Geschichte nicht in ein Neben einander und Nacheinander wesentlich zusammenhangloser Kulturen auf. Bei Ranke stehen heißt noch nicht: zu Spengler halten. Die Völker, Kulturen, Zeiten wirken aufeinander.“ Bei der Ein arbeitung dieses Aufsatzes in die 3. Auflage der „Letzten Dinge“ verstärkt Althaus den Blick auf die Menschheit nochmals; vgl. 2604 Dinge, 178. 13 Ebd., 34. An dieser Stelle verknüpft Althaus den Gedanken der „dritten Geschichte“ mit dem oben beschriebenen vom „Kreuz Christi als Maßstab aller Religion“. Das Kreuz ist für ihn „eine Tatsache von übergeschichtlicher Gegenwärtigkeit. Der Wille, der das Kreuz aufrichtete, ist der in jedem Menschenherzen lebendige Wille.“ (ebd., 35). 14 Smid, Protestantismus, 293. 15 3113 Botschaft, 482. Althaus formulierte bereits 1924: „Die Geschichte hat ein tiefstes Thema: das Verhältnis Gottes zur Menschheit, den Kampf des Reiches Gottes um die Herrschaft.“ (2409 Heilsgeschichte, 606; Hervorhebung von Althaus). Weiter schreibt er, „innerhalb des Menschentums greift Gott erwählend ein und bereitet sich, in stufenweiser Erziehung, ein Volk, um in ihm die Höhe der Geschichte zu wirken“ (ebd., 607); vgl. 2403 Gott, 14. 16 3111 Gemeinschaften, 27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Betrachtet man diese enge Bezogenheit von menschlicher Geschichte und göttlicher Heilsgeschichte17 bei Althaus, so stellt sich damit zugleich die Frage nach dem Ort Jesu Christi innerhalb seiner Geschichtstheologie. Ist Jesus Christus die personifizierte Gegenwart Gottes in der menschlichen Geschichte, so hat dies auch Konsequenzen für die Althaussche Geschichtstheologie. So heißt es bei ihm: „Mitten in der Geschichte steht eine besondere Geschichte“: „Das ist Jesu Leben“, dessen ganze Bedeutung an Ostern zu Tage tritt: „Da wird Gottes Hand sichtbar, da tritt der tiefste Sinn der Geschichte heraus. Ostern ist darum der Angelpunkt der Weltgeschichte. Da bekommt es seinen Grund und seinen Sinn: ‚Gott in der Geschichte‘.“18 Von der Christologie her argumentierend, lautet für Althaus die „Formel für das Wesen der Christustatsache: Gott in der Geschichte! […] Gott ist in der Geschichte da und handelt“19. Bei der Beschäftigung mit Althaus’ Geschichtstheologie wird deutlich, dass es ihm letztlich um die Christustatsache geht. Theozentrische Geschichtstheologie hat für ihn keinen Selbstzweck, sondern hat einen Sinn, der über sie hinausweist. Dieser Sinn liegt für ihn in der Anknüpfung hin zur Christologie und Soteriologie. Deutlich wird das in seinem Vortrag „Der lebendige Gott“ von 1923, wo es gleich auf der ersten Seite heißt: „Nichts sind wir unserem Volke heute so sehr schuldig wie das Zeugnis von dem lebendigen Gott. […] Vielleicht fragt mancher uns: warum redest du nicht von Jesus Christus? Aber das muß in dieser Stunde offen ausgesprochen werden: unser Volk wird dem König Jesus Christus nicht eher wieder begegnen können, bis es eine Geschichte mit dem lebendigen Gott gehabt hat. Und nicht in jedem Augenblick einer Volksgeschichte ist die Stunde da, wo das Banner Jesu Christi entfaltet werden kann. […] Und darum glaube ich, daß nichts unserer Zeit so not tut, wie ein lebendiges Zeugnis von dem lebendigen Gott. Soll unser Volk einmal wieder rufen: Hosianna dem Sohne Davids!, dann muß es erst wieder etwas wissen von dem heiligen Gott, von seinem Ruf und seinem Ernste.“20
Was Althaus hier in seinem Vortrag 1923 umsetzt, ist seine bereits 1918 formulierte pastoraltheologische Konzeption, die aus theologischen und praktischen Erwägungen heraus einen Zweischritt der Anknüpfung von der Theozentrik 17 Der Gedanke der Heilsgeschichte ist für ihn die „Urform aller ernsthaften Geschichtsphilosophie“ (2409 Heilsgeschichte, 606). 18 2403 Gott, 15. An anderer Stelle formuliert Althaus: „Das Kreuz Christi ist darum der Höhepunkt der inneren Geschichte, die Gott mit jedem Menschen und mit der ganzen Menschheit hat“ (2303 Gott, 13); vgl. 2302 Kreuz, 4. 19 2201 Dinge, 60. Zur christologischen Herleitung der Eschatologie vgl. ebd., 39 ff. 20 2303 Gott, 3 f. So beginnt Althaus seine geschichtstheologischen Ausführungen mit den Worten: „Und nun laßt mich reden von dem Vater unseres Herrn Jesu Christi“ (ebd., 5). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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hin zum Christuszeugnis einfordert. Dass sich dahinter eine volksmissiona rische Motivation verbirgt, lässt sich den Zeilen unschwer entnehmen. In einem anderen Vortrag drückt Althaus seine intendierte Anknüpfung mit einer Frage aus: „Wo man nicht von der Offenbarung in der Geschichte bewegt ist, wie sollte man da Jesus Christus und seine Bedeutung für uns verstehen?“21 Einen historischen Beleg für die Richtigkeit seiner kerygmatischen Vorgehensweise meint Althaus in der Christusgeschichte selbst ausmachen zu können: „Es ist kein Zufall, daß Jesus Christus nur in Israel geboren werden konnte.“ Denn gerade darin sieht Althaus die „Bedeutung Israels und des Alten Testaments, daß hier Gott in der Geschichte erkannt worden ist.“22 Er schließt daraus: „Jesus wurde in ein Volk hineingeboren, das schon eine Geschichte mit Gott gehabt hat. Auch im Leben des Einzelnen gilt das Gleiche.“23 Die Betonung der Christustatsache ist für Althaus zugleich der Grund und die Möglichkeit, die Einheit der Menschheit und ihrer Geschichte trotz aller Betonung der einzelnen Völker und deren Geschichte herauszustellen: „Das Kreuz Christi ist darum der Höhepunkt der inneren Geschichte, die Gott mit jedem Menschen und mit der ganzen Menschheit hat.“24 „Das ist das Aller innerste und Allerernsteste in aller Menschengeschichte, die innerste, wichtigste Geschichte.“25 Auch wenn er in der frühen Entfaltung seiner Geschichtstheologie noch unterbestimmt bleibt, so ist für Althaus doch der Zusammenhang von Geschichte und Sünde von Anfang an grundlegend. In seinem Aufsatz „Zur Lehre von der Sünde“ macht Althaus 1923 in Abgrenzung zur Dialektischen Theologie deutlich, dass für ihn das „Gott in der Geschichte“ ohne eine Sündenlehre unmöglich ist. Gegen Barth führt er die „Christustatsache als Maß aller Gedanken von Gott und der Geschichte“ ins Feld und kommt zu dem Schluss: „Worin der unendliche Abstand zwischen Gott und dem Menschen besteht, das kann nicht durch abstrakte Dialektik im voraus festgelegt und als starres, lebentötendes Schema für die Dogmatik und Ethik ausgerufen werden, das will durch Versenkung in die konkrete Gotteserfahrung unseres Gewissens, zuhöchst an Jesus, erfaßt sein.“26 21 2403 Gott, 4. 22 Ebd. An dieser Stelle findet sich der früheste Beleg für die Althaussche Verteidigung des Alten Testaments gegen völkische Irrlehre: „Darum hat das Alte Testament Menschheitsbedeutung für alle, die zu Jesus Christus wollen. Es ist trostlose Kurzsichtigkeit unserer Völkischen, wenn sie im Namen der christlich-germanischen Weltanschauung das Alte Testament meinen ablehnen zu müssen.“ 23 2303 Gott, 4; vgl. 2302 Kreuz, 17 f. 24 2303 Gott, 13. 25 Ebd., 11. 26 2304 Sünde, 52. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Mit der Geschichtlichkeit der Christuswirklichkeit betont Althaus auch die Geschichtlichkeit der Sündenwirklichkeit: „Die Sünde des Menschen und der Menschheit ist eine geschichtliche, nur in der Geschichte faßbare Wirklich keit.“27 Für den göttlichen Willen im Verhältnis zum Menschen heißt das: „Gottes Wille an uns geht auf eine innerste Grundhaltung, aber so, daß er eben damit zur Erfüllung von Geschichtsmomenten durch die Tat ruft, und so, daß er den Menschen in der Geschichte, durch sein Handeln in Wechselwirkung mit dem Schicksal und mit den anderen, in jener Grundhaltung zum ‚Charakter‘ werden lassen will.“28
Im Blick auf die Sünde gilt von dieser Grundhaltung: „Erst wenn gezeigt wird, wie dieser Grundwille die Geschichte gestaltet und wie die Sünde selber in der Geschichte auch ein Werden bestimmt, […] haben wir die Sünde in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit ganz erfaßt.“29 Diese geschichtliche Wirklichkeit der Sünde ist für Althaus kein rein individuelles, persönliches Phänomen, sondern er spricht vom Aufeinanderbezogensein alles menschlichen Sündigens: „Die Soziologie der Sünde sieht auf die Wechselwirkung der sündigen Akte der vielen, zeigt, wie die so entstehende ‚Welt‘ des ‚Ärgernisses‘ durch Vorbild und Reiz zur Reaktion fortwährend neue Sünde als Akt hervorruft, wie Sünde System und Tradition wird und Geschlechter bestimmt. Man kann die wachsende Verhaftung ganzer Familien, Völker, ja Kulturen unter Mächte der Selbstsucht und Diesseitigkeit wahrnehmen. Es gibt, wie im Einzelleben, so im Gesamtleben ein Wachsen der Sünde, eine steigende Verfestigung, dort als Charakter, hier als Sitte, System, Tradition.“30
Indem Althaus einerseits den Zusammenhang zwischen göttlichem Willen und Geschichte stark macht, kann er andererseits auch den Sünden- und Schuldaspekt in der Geschichte betonen. Dass das menschliche Verhalten und die menschliche Gesinnung in der Geschichte vor dem Hintergrund des von ihm identifizierten Willens Gottes nicht nur in den Kategorien von Gehorsam und Schuld aufgehen, weiß Althaus. Er ist sich der Aporien einer solchen 27 Ebd., 53. Menschliches Wesen und Geschichte lassen sich für ihn im Blick auf die Wirklichkeit der Sünde dreifach aufeinander beziehen: „Erstens: in der Geschichte enthüllt sich das Menschenwesen. Zweitens: durch die menschlichen Taten, die Tatsachen schaffen, wird Geschichte. Drittens: in dieser Geschichte, in der seine Taten wirksam sind, wird der Mensch und die Menschheit.“ (ebd., 53 f.). 28 Ebd., 61; vgl. 2503 Krisis, 13. 29 Ebd., 61 f. 30 Ebd., 62. Diesen Gedanken betont Althaus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch deutlicher; vgl. 4604 Schuld, 8. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Geschichtstheologie, die nicht zuletzt mit der Theodizeeproblematik konfrontiert ist, durchaus bewusst, so dass er auch dem Deus absconditus in seinem Konzept Rechnung trägt. So heißt es bei ihm 1923: „Wir gewahren in der Weltgeschichte eine Geschichte des Dämonischen, des Frevelhaften, Niedrigen und Bösen. Wer in die Geschichte blickt, dem wird sie nicht nur zur Offenbarung Gottes, sondern auch zur Verhüllung Gottes. Man lernt angesichts der Geschichte nicht nur an Gott, sondern auch an den Satan glauben.“31
Freilich erscheint der Deus absconditus in Althaus’ Geschichtstheologie nur am Rande, im Zentrum steht der für ihn offenbare Gotteswille. 4.2 Die frühe Althaussche Eschatologie Entscheidend für Althaus’ geschichtsphilosophisches und -theologisches Grund verständnis ist seine Forschung auf eschatologischem Gebiet, die ihm schon als jungem Theologen deutschlandweit hohe Anerkennung verschaffte.32 Als Monographie erscheint ein Althausscher „Entwurf einer christlichen Eschatologie“ 1922 unter dem Titel „Die letzten Dinge“33. In der Einleitung hält Althaus es für „offenkundig“, dass „die letzten Dinge gerade jetzt einer neuen theologischen Bearbeitung bedürfen“, denn „wie seit langem nicht, bewegt die Frage nach dem Letzten unser Geschlecht. Das Massensterben im Kriege hat aufs neue zu dem uralten Problem des Jenseits der Seele gedrängt.“34
Ein Zurück zu den Antworten des Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts kann es für ihn nicht mehr geben: 31 2303 Gott, 10 f. 32 Von Beginn seines theologischen Schaffens an war die Eschatologie ein Hauptthema, dem er sich bereits 1913 als Fünfundzwanzigjähriger während seiner Zeit im Predigerseminar mit dem Aufsatz „Der Friedhof unserer Väter“ widmet, einer Art angewandter Eschatologie. Ungeahnte Aktualität erlangte dieses Thema schon ein Jahr später durch den Weltkrieg mit seinem massenhaften Sterben, das nach einer theologischen Reflexion rief. So erschien der mittlerweile erweiterte Aufsatz 1915 als „Gang durch die Sterbe- und Ewigkeitslieder der evangelischen Kirche“ erneut, diesmal als eigenes Heft. Die 2. Auflage erschien 1922, die dritte 1928, die vierte – durch den mittlerweile Zweiten Weltkrieg erneut hochaktuell – im Jahr 1948. 33 Erwachsen ist diese Schrift „ihren Grundgedanken nach […] den Übungen des Rostocker systematisch-theologischen Seminars während des Sommers 1921“ sowie der „Aussprache bei der Tagung des Apologetischen Seminars in Wernigerode im Oktober 1921“ (2201 Dinge, 9, Anm. 1). 34 Ebd., 9. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Aus der Lieblingseschatologie des letzten Menschenalters, dem Glauben an den Fortschritt ins Unendliche, an die ewige Weiterentwicklung des Geistes […] sind wir aufgeschreckt. Idealistischer Kultur- und Fortschrittsglaube zerbrachen den Ernsten.“35
„Unser Geschlecht liebt die Geschichtsphilosophie“36, zeigt sich Althaus überzeugt, und so wundert er sich nicht, dass die geschichtsphilosophische und eschatologische Frage von vielen Seiten Antwortversuche erhält: von Kommunisten und Sozialisten ebenso wie von Religiös-Sozialen, Pietisten und Sekten. Die „fortschreitende ‚Enteschatologisierung‘ (Albert Schweitzer) des Christentums, wie sie das Zeitalter der Aufklärung und der deutschen idealistischen Philo sophie sowie die von ihr beeinflußte Theologie […] kennzeichnete“37, ist nach Althaus überwunden. Nachdem der grundlegende Richtungswechsel in der neutestamentlichen Wissenschaft hin zu einer konsequenten Eschatologie vollzogen sei, gelte es nun auch in der Systematischen Theologie, die eschatologischen Defizite zu beheben. Einmal mehr weiß sich Althaus in dieser Zeit der frühen 20er Jahre und genau an diesem Punkt einig mit Barth, dessen theologischer Ansatz „eine völlige Krisis des üblichen Kulturprotestantismus und der ‚Diesseitsreligion‘“ bedeutet: „Mit der Transzendenz und dem Supranaturalismus bricht die Eschatologie sich neue Bahn.“38 Grundlegung der Eschatologie kann für Althaus nur die „Christustatsache“ sein, die ihrerseits auf Glaube und Hoffnung zielt. Dabei gilt es für ihn, „den Biblizismus abzulösen durch das lutherische Verhältnis zur Schrift in seiner ursprünglichen Kraft, Tiefe und Freiheit.“39 Mit anderen Worten: Weil das bibli 35 Ebd. Auch in seinem RGG-Artikel zum dogmengeschichtlichen Aspekt der Eschatologie schreibt Althaus 1928 von der „Wendung zur E[schatologie]“, die er „tief im Lebensgefühl“ ver ortet: „Der Krieg offenbarte die Dämonien der Kultur furchtbar und erschütterte den evolutionistischen Optimismus jedenfalls in Europa schwer. Das Erleben eines ‚Endes‘ und der tiefe Eindruck von der immanenten Sinnlosigkeit der Geschichte machten die Zeit reif für E[schatologie]“ (2816 Eschatologie, 353); vgl. 2909 Theologie, 130 f. 36 2201 Dinge, 9. 37 Ebd., 11 f. 38 Ebd., 11. So zitiert er aus Barths „Römerbrief“ den Satz: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.“ (ebd., 12, Anm. 2). Es wird schnell deutlich, dass Althaus die Barthsche Radikalität der vollkommenen Diastase zwischen Gott und Welt, die auch in diesem Satz steckt, nicht mitmacht. Dass Althaus und Barth hier in einer gemeinsamen Front stehen, bemerkt auch Kleffmann, Begriff, 361, Anm. 147, wenn er schreibt, dass Althaus gerade in seinem Aufsatz „Theologie und Geschichte“ neben starker Kritik am krisistheologischen Ansatz „auch ein gewisses sympathisierendes Verständnis für die dialektische Theologie in Frontstellung zur alten historistischen, liberalen Theologie zeigt“. Er bezieht sich in dem Althausaufsatz auf die Seiten 755 und 761; vgl. 2507 Christentum, 33 f.38 f. 39 2201 Dinge, 14. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zistische Verfahren nicht in Frage kommt, gründet Althaus seine Eschatologie „streng christozentrisch“40 auf der Tatsache des gekreuzigten und auferstandenen Christus und der dadurch begründeten christlichen Hoffnung. Was Althaus in seinen Schriften, die sich mit dem Religiösen Sozialismus auseinandersetzten, schon jeweils andeutete, bringt er in seinem „Entwurf einer christlichen Eschatologie“ von 1922 erneut zum Ausdruck: die Ablehnung einer endgeschichtlichen Eschatologie41. Besonders vor einer sozialistischen Transformation christlicher Inhalte warnt Althaus, wenn er feststellt, „daß der religiöse Sozialismus heute den Versuch machen kann, die sozialistische Erwartung religiös-urchristlich einzukleiden“. „Für die meisten Religiös-Sozialen fließen die Linien ‚biblischer‘ und marxistischer Erwartung ineinander zu dem Glauben an das auf Erden kommende Reich der Gerechtigkeit, des sozialen und Völker friedens, kurz der Christusherrschaft in den Herzen und Verhältnissen.“42
Die Vorstellungen eines Evolutionismus in der Menschheitsgeschichte lehnt Althaus, darin beeinflusst von Emanuel Hirsch43 und Oswald Spengler, mit dem Hinweis auf den „Begriff des Individuellen“ und auf den „biologische[n] Begriff der Entwicklung, wie Spengler ihn uns wieder gezeigt hat“ strikt ab: „‚Entwicklung‘ ist ein organischer Prozeß, seine Stadien sind Kindheit, Jugend, Reife, Alter. Wir wissen heute, daß die Geschichte eine Mehrzahl von ‚Entwicklungen‘ […] relativ selbständiger Kulturen oder auch Völker nebeneinander und nacheinander zeigt. Da die großen Kulturen als Individuen nebeneinanderstehen, ist es töricht, sie in eine Fortschrittsskala zu ordnen.“44 „Jugendzeiten sind Epochen der nationalen Zusammenfassung und der Kriege, das Unternehmen von Weltfriedensreichen bezeichnet das Altersstadium einer Völkergruppe. Solche Entwicklungen stellen keinen ethischen Fortschritt dar, sondern sie folgen aus einem Lebensgesetz. Somit fällt 40 Ebd., 54. 41 Eine weitere Abhandlung seiner Ablehnung der endgeschichtlichen Eschatologie gibt Althaus auch in 2409 Heilsgeschichte, 616–668. 42 2201 Dinge, 68 f. Wie schon in früheren Schriften kommt Althaus auch hier gegenüber seinen theologischen Gegnern auf die „harten Geschichtsgesetze“ zu sprechen: „Religiös-soziale Schwärmerei, die von der christlichen Sozialverfassung und dem Weltfriedensreiche der Liebe träumt, vergißt, daß soziales und nationales Ringen nur Spezialfälle eines Gesetzes der Antithese und Verdrängung sind, das zur wesenhaften Struktur geschichtlichen Daseins überhaupt gehört und demgemäß unser geistiges und sittliches Leben auch jenseits aller Politik als notwendige Form beherrscht.“ (ebd., 48). 43 Althaus spricht in diesem Zusammenhang von einer „Begriffsverwirrung“ und verweist auf Hirschs Studie „Deutschlands Schicksal“ von 1920 und klärt seine Leser darüber auf, daß er diesbezüglich „für die Kritik des Evolutionismus […] viel von ihm gelernt“ habe (2201 Dinge, 69, Anm. 1). 44 Ebd., 71. Eine „Übertragung der biologischen Ansicht auf die Gesamtgeschichte [der Mensch heit] hat keine wirklichen Gründe und bleibt höchst fragwürdig“ in Althaus’ Augen (ebd., 94). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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aber das Recht, die Menschheitsgeschichte als Aufstieg zu Zuständen immer größerer Vollkommenheit zu betrachten und in der Zukunft einen Idealzustand zu suchen, völlig dahin.“45
Neben diesen geschichtsphilosophischen Argumenten führt Althaus auch theologische gegen die Ansicht einer endgeschichtlichen Eschatologie ins Feld. Zu diesem Zweck kommt er auf die Heilsgeschichte zu sprechen, welche für ihn keine lineare Geschichte im eigentlichen Sinne darstellt, sondern Übergeschichte. Sie trifft als „Senkrechte“ auf die menschliche Geschichte und ist somit „allgegenwärtig“ als „Geschichte, in der der Mensch und die Menschheit zwischen Hingabe und Selbstbehauptung, Schuld und Verzeihung, Tod und Leben“ vor Gott stehen. Wie „jede Zeit dem Urstand und Sündenfall gleich nahe ist, so ist auch jede gleich unmittelbar zur Vollendung. Jede Zeit ist in diesem Sinne letzte Zeit.“46 Weil sich die Heilsgeschichte aber „in jedem Geschlechte vollenden“ will47, hält er den Gedanken des Evolutionismus als (end)zeitliche Vollendung für unmöglich. Aus dem bisher Gesagten kommt Althaus zu dem Schluss: „Die Eschatologie hat es demgemäß nicht mit der Endgeschichte oder mit dem Geschichtsende, sondern mit dem Jenseits der Geschichte zu tun. Sie ist keine Apokalyptik.“48 Das Ende der Geschichte ist für Althaus die Aufhebung der Geschichte in die Ewigkeit49. In dieser Ablehnung einer endgeschichtlichen Eschatologie weiß sich Althaus wiederum einig mit seinem Kollegen Barth50.
4.3 Gottes Anspruch in der Geschichte – Geschichtstheologie und Ethik Althaus geht in seiner Geschichtsphilosophie davon aus, dass die „ganze Geschichte der Kulturarbeit und Staatenbildung […] eine Innenseite“ hat. Diese Vorstellung vertritt er z. B. in seinem Vortrag „Der lebendige Gott“ von 1923, wo er schreibt: „Wir fangen wieder heimlich an, zu glauben, daß das Ziel Gottes nicht irgendwelche Dinge sind, sondern Menschen, die lebendigen Menschen selber. Er will nicht nur meine Tat, sondern mich! Er will eine Menschheit, die Menschheit Gottes! […] 45 Ebd., 72. 46 Ebd., 83 f. 47 Ebd., 86. 48 Ebd., 95. 49 Ebd., 98. 50 Vgl. 2501 Paulus, 24.101. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Gottes Handeln geht darauf hinaus, ein großes Reich persönlicher Geister zu schaffen […]. Das ist das Innerste in aller Geschichte.“51
Dieses „Innerste in aller Geschichte“ bestimmt Althaus in der Folgezeit mehr und mehr sozialethisch, als den vernehmbaren Willen und Anspruch Gottes zur Gemeinschaft in der Geschichte. So schreibt er 1924 in der Auseinandersetzung mit Barth: „In der sittlichen Erfahrung erschließt sich das Innenbild der Geschichte. Schaue ich sie als der Beteiligte und Handelnde an, so ist sie der Inbegriff meiner Verantwortungen und Bindungen.“52 „Im Gedanken der Geschichte (von ‚innen‘ her verstanden […]) ist der Ewigkeitsgedanke mit enthalten, positiv, nicht nur dialektisch.“53
Schon 1921 lässt Althaus seine Hörer und Leser wissen: „Wir leben in Beziehung auf die Ewigkeit. Das ist die dritte Geschichte. Wir spüren, daß allen unseren Handlungen eine zwiefache Schwere eignet: die zeitgeschichtliche, d. h. die Wirkung unseres Handelns in dem großen Miteinanderarbeiten der Menschen, und die Ewigkeitsschwere.“
„Jeder von uns“, so Althaus, „hat seinen Beruf an irgendeiner Stelle jener großen Werke der Menschheit.“ Diesen Beruf durchlebt jeder „unter dem Vor zeichen eines sittlichen Soll“, durch den er „in Beziehung zu einem Unbedingten“ tritt54. Für Althaus kann sich dieses Durchleben eines gottgegebenen Berufs zum einen alltäglich-allgemein vollziehen: „Von außen ganz nüchterne Alltagsarbeit auf einem vielleicht sehr bescheidenen Posten, von innen die Erfüllung eines unbedingten Soll durch Bewährung lauterer Hingabe, Treue, Selbstlosigkeit.“ Zum anderen aber auch einmalig-konkret, wenn er auf das Opfer der Soldaten im Krieg zu sprechen kommt und diesem einen religiös verklärten Sinn verleiht: „Unserer Brüder Todesgang ist in unzähligen Fällen innerhalb der deutschen Volksgeschichte ‚vergeblich‘ gewesen. Das quält und nagt immer wieder an uns. Aber wenn nur ihr schwerer Weg im völligen Gehorsam gegen die rufende Stimme ein Handeln in der dritten Geschichte, der Geschichte der Zeit mit der Ewigkeit, war! Wir wissen es von manchem Unvergeßlichen.“55 51 2303 Gott, 10. 52 2405 Geschichte, 747 f. 53 Ebd., 748. 54 2105 Kreuz, 32. 55 Ebd. Schon in 1807 Brüder hat Althaus diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht. Vgl. Kap. II, 1.1. Die gleiche Vorstellung vom „Opfer in der Geschichte“ vertritt Althaus auch in 2403 Gott, 6. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Die „dritte Geschichte“ als „Tiefendimension“ der Geschichte ist für Althaus somit der Anknüpfungspunkt zwischen Zeit und Ewigkeit: „Durch die Erfahrung des Soll, das mich unbedingt fordert, trete ich in die dritte Geschichte ein.“56 Mit dem ethisch angewandten Gedanken einer „dritten Geschichte“ arbeitet Althaus in der Folgezeit nicht mehr. Stattdessen führt er in seinem „Entwurf einer christlichen Eschatologie“ von 1922 in Anschluss an den Philosophen Wilhelm Windelband57 und den Theologen Ernst Troeltsch58 einen „axiologischen Begriff der letzten Dinge“ ein: „Die Gewißheit um letzte Dinge oder um das Ewige entsteht, wenn wir inmitten des Lebens der Norm begegnen.“59 Dabei zeigt sich Althaus überzeugt: „Nirgends wohl wird das Transzendenzerlebnis so lebendig, wie in der sittlichen Erfahrung.“60 Der Apologetiker Althaus nutzt nicht nur an dieser Stelle die Ethik, das „Sittliche“, als Gottesbeweis61. Der bereits 1921 formulierte Gedanke der „Ewigkeitsschwere“ in ganz alltäglichen Handlungen kehrt an dieser Stelle wieder: „In zeitgeschichtlich zufälligen Aufgaben, in der Begrenztheit und Bedingtheit eines bescheidenen Berufes […] erfaßt mich das unbedingte Soll mit einem mächtigen Entweder-Oder, dessen bis in die Tiefe der Gesinnung hinein fordernde Wucht durch die innergeschichtlichen Beziehungen meines Handelns nicht erklärbar wird.“
Erklärbar wird sie für Althaus nur durch die Beziehung auf das Ewige: „So nehmen wir mitten in der Geschichte an dem Übergeschichtlichen teil, werden überzeitlich durch die Hingabe an das Unbedingte.“62 Für Althaus ist der „axiologische Begriff der letzten Dinge“ jedoch nur der eine Aspekt der Eschatologie. Der andere ist für ihn der „teleologische Begriff“. Dieser leitet sich aus der Erfahrung der Zeit ab: 56 2105 Kreuz, 34. 57 Windelband vertrat als Neukantianer eine an allgemeingültigen Werten orientierte Philo sophie. Mehrfach stützt sich Althaus in seiner Schrift auf ihn. So schreibt er: „Es ist kein Zufall, daß gerade Windelbands Philosophie der Werte den Begriff des Ewigen verwendet. Das Ewige hat hier den Sinn des Unbedingten, auf das wir mitten in bedingten Beziehungen und durch sie bezogen sind, des Übergeschichtlichen mitten in der Geschichte.“ (2201 Dinge, 16 f.). Zum Einfluss Windelbands auf Althaus vgl. auch Liebenberg, Gott, 84–87. 58 Zum Einfluss von Troeltsch auf Althaus’ axiologischen Begriff der letzten Dinge vgl. 2604 Dinge, 16 f., Anm. 2; und 3307 Dinge, 18. 59 2201 Dinge, 16. 60 Ebd., 17. 61 Im Umkehrschluss ist für ihn das „strenge Verständnis des Sittlichen nur als religiöses möglich“: „Davon reden, daß der persönliche Wille gefordert wird, ganz und jetzt, das heißt von Gott reden.“ (2503 Krisis, 8). 62 2201 Dinge, 17. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Sie wird zur Geschichte, zur Bewegung auf ein Ziel hin, zur Stätte des Gehorsams oder Ungehorsams gegen das Unbedingte, also zum Orte der Tat, aber auch der Schuld“63. „Neben das Ewige als übergeschichtlich Gegenwärtiges treten hier die letzten Dinge als Ziel, in verschiedener Besonderung: als Ertrag, Vollendung, aber auch Krisis, Entscheidung“64.
Das Verhältnis von axiologischer und teleologischer Eschatologie und „das Verhältnis der Geschichte und der letzten Dinge“ ist nach Althaus „ein dialek tisches“: „die letzten Dinge als übergeschichtliche Gegenwartsbeziehung der Geschichte und die letzten Dinge als – irgendwie ‚endgeschichtlicher‘ – Ertrag der Geschichte. Dieser Art des Verhältnisses wird eine eigentümliche Polarität der seelischen Haltung, von ‚Erfahren‘ und ‚Hoffen‘ entsprechen müssen.“65
Während der axiologische Begriff der letzten Dinge den Zusammenhang zwischen kommender und jetziger Welt hervorhebt, ist für den teleologischen Begriff der Gegensatz von entscheidender Bedeutung. Althaus’ doppeltes Verständnis der letzten Dinge entspricht somit seinem zweifachen Begriff des Reiches Gottes, wie er ihn schon im „Religiösen Sozialismus“ dargelegt hat66: Einerseits ist es als „Bestimmtheit des Gewissens“ im Glauben bereits gegenwärtig, so dass Althaus davon sprechen kann, dass „das Reich Gottes nicht höchstes Gut über anderen Gütern, sondern die allgegenwärtige Verfassung der Gewissen ist.“67 Andererseits bleibt es als Ziel der Geschichte Gottes mit den Menschen jenseitig-übergeschichtlich. So schreibt Christian Schwarke: „Der axiologische Begriff begegnet in der Erfahrung des unbedingten Anspruchs, in welchem das Ewige als gegenwärtig wahrgenommen wird. Demgegenüber entsteht der teleologische Begriff der ‚letzten Dinge‘ in der Erfahrung des Dualismus von Gottesherrschaft und Weltdasein.“68
63 Ebd., 21. 64 Ebd., 22. „Neben die Eschatologie als Lehre von einer im axiologischen Sinne ‚letzten‘, übergeschichtlichen Wirklichkeit stellt sich die Eschatologie als Lehre von der ‚Vollendung‘ einer Geschichte“ (ebd.). Beide Aspekte werden von Althaus zunächst religionsphilosophisch begründet, weil christliche Eschatologie nicht beziehungslos zu anderen Ewigkeitsvorstellungen steht, sodann aber in einem zweiten Schritt christologisch gesichert und entfaltet. 65 Ebd., 26 f. 66 Vgl. Kap. III, 2.1. 67 2201 Dinge, 135. Oder mit anderen Worten: „Wir wissen, daß das Reich Gottes nicht ein gegenständliches Ziel neben und über den irdischen Zielen bedeutet, sondern eine Bestimmtheit und Haltung der Seele, mit der wir in alle irdische Arbeit hineingehen, frei von ihr und doch zugleich frei zur Hingabe an sie.“ (ebd., 134); vgl. 2210R Wünsch, 85. 68 Schwarke, Althaus, 143. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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So wie sich die beiden Pole Gegenwartsfreude und Heimweh als die zwei Dimensionen im Christenleben gegenseitig durchdringen sollen69, so sind für Althaus die axiologische und die teleologische Gewissheit letzter Dinge die „zwei notwendigen Pole alles Christenlebens“70. „Die Polarität der Ewigkeitsbeziehung des Christen stellt sich begrifflich als ein dialektisches Verhältnis von Ewigkeit und Geschichte dar. Die Ewigkeit ist einerseits ein in der Geschichte erlebtes Jenseits aller Geschichte (das Übergeschichtliche), andererseits eine in der Geschichte erharrte ‚Vollendung‘ aller Geschichte, ihre Aufhebung, die doch ihren Ertrag darstellt […]. In diesem paradoxen Verhältnis von Ewigkeit und Geschichte […] kehrt nun das eine Grundgeheimnis der Religion wieder: Gott und die Geschichte. […] Der von Ewigkeit zu Ewigkeit Herrschende setzt eine Geschichte, in der er um die Herrschaft ringt. Es ist das Geheimnis seiner Liebe“71.
Neben „dritter Geschichte“ und „axiologischer Eschatologie“ kennt Althaus in den frühen 20er Jahren noch eine dritte Begrifflichkeit, um aufzuzeigen, „wie uns in der Geschichte die Wirklichkeit und der Wille des lebendigen Gottes aufgeht.“ In seinem Vortrag „Gott in der Geschichte“ von 1924 ist dies „die Beziehung dreier Worte: Heute, Gestern, Morgen“72. „Heute“, so Althaus, „ist ein Wörtlein der Verantwortung“. „Heute bin ich gerufen zum Dienst, heute wird meine Tat gefordert.“ Von diesem Ruf, von dieser Verantwortlichkeit schließt Althaus nun zurück auf „die Wirklichkeit Gottes in der Geschichte“, die „aus der Enge und Eigensucht unseres Lebens herauszureißen und uns frei zum Dienst zu machen“ vermag73, zu „unbedingter Pflicht, völliger Bindung“74. Gott, „der in dem ‚Heute‘ der geschichtlichen Stunde hohe Verantwortung für uns begründet und unsere Tat will“, erfahren wir „als den Herrn der Geschichte“75. Als Beispiel und volksmissionarischen Anknüpfungspunkt im Sinne seines Zweischrittes „vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis“ kommt Althaus an dieser Stelle wieder einmal auf das „Augusterlebnis 1914“ zu sprechen: 69 2201 Dinge, 61. 70 Ebd., 59. 71 Ebd., 63. 72 2403 Gott, 4. 73 Ebd., 5. 74 Ebd., 6. 75 Ebd., 7. Diese Erfahrung Gottes anhand des „Heute“ – in späteren Schriften spricht Althaus von der „Stunde“ – erläutert er in seiner Eschatologie folgendermaßen: „Die Heiligkeit Gottes erfahren wir darin, daß er unser Handeln unter das Gesetz der Zeit stellt. Alles wird Vergangenheit. Das Heute mit seinen Möglichkeiten erstarrt uns unter den Händen zum unwiderruflichen Gestern. […] Wir erfahren seinen Zorn in dem Gesetz der versäumten Stunde, die für lange hinaus über unser Leben entscheidet“ (2201 Dinge, 105 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Das junge Geschlecht im Jahre 1914 hat etwas davon erlebt. Wir studierten und spielten, träumten und jubelten […] Dann kam die Not des Vaterlandes. Da erging, obwohl keines Menschen Stimme rief, an die hunderttausende junger Deutscher der Ruf zum freiwilligen Kampfe für das bedrohte Vaterland. Da gewann das Heute einen neuen Klang. […] Sie waren gerufen und hatten den Ruf gehört.“76
An diesem Beispiel lässt sich bereits eine Entwicklung in der Althausschen Anknüpfungskonzeption feststellen. Denn aus der Engführung des unmittelbaren „Vaterlandserlebnisses“ wird bei ihm mehr und mehr die allgemeine Erfahrung des sittlichen Anspruchs in der Geschichte, hier am Beispiel der „Not des Vaterlandes“. Die Anknüpfung soll demzufolge von der Anspruchserfahrung zur Gotteserfahrung geleistet werden. Explizit macht Althaus dies in seinem Vortrag „Die Krisis der Ethik und das Evangelium“ von 1925: Eine christliche, evangelische Ethik, die allein auf Gottes Liebe und Vergebung in Jesus Christus gründet, kann und soll nach Althaus, um sich den Menschen verständlich mitzuteilen, an „die sittlichen Kräfte des natürlichen Menschentums“ anknüpfen77. Eine solche Sittlichkeit meint Althaus im „Naturtrieb“ zu finden – er nennt als Beispiele die Mutterliebe, die Vaterlandsliebe und den Gemeinsinn –, in der Erziehung und im geschichtlichen Leben, wobei er die Person Jesu Christi als die herausragende „Erziehungs- und Lebensmacht“ herausstellt78. Indem Althaus nun die „Möglichkeiten der Natur und Geschichte auf ethischem Gebiete“ zwar hervorhebt, aber zugleich an ihre Grenzen erinnert – er dekliniert diese gerade am „Augusterlebnis von 1914“ durch79 –, kann er auf sein eigentliches Thema der christologisch begründeten Ethik zu sprechen kommen. Auf diese Weise bleibt Althaus seinem bereits im Krieg entwickelten Anknüpfungsschema von der theologisch gedeuteten Weltwirklichkeit zur Christologie und Soteriologie treu80. Indem nun nach Althaus alle Geschichte „ein Gefüge von Schicksal und Tat“ ist, „geht sein Werk allem unserem Tun voran“, denn Gott will „nicht nur unsere Tat, sondern er hat auch das Heute bereitet, das unsere Tat fordert.“81 So geht dem göttlichen „Soll“ das göttliche „Ist“ voraus, dem Imperativ der Indikativ: „Das Sittliche trägt mein Leben, ehe es mein Leben fordert. […] Wie unerschöpflich erscheint Gottes Reichtum in der Fülle der Gaben, Verantwortungsverhältnisse und Dienste, mit denen er uns bindet!“82 Der Sinn aller Ver 76 Ebd., 5; vgl. 2503 Krisis, 11.13. 77 2503 Krisis, 9. 78 Ebd., 9–12. 79 Ebd., 12 f. 80 Vgl. Kap. I, 4.3. 81 2403 Gott, 5. 82 Ebd., 7 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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antwortungen ist für Althaus „zuletzt Dienst“ und „Gemeinschaft von Herz zu Herz“: „Aus dem Chaos des Nebeneinander und Widereinander soll die Gotteswelt eines Miteinander und Füreinander werden. Der Wille Gottes an uns ist Wille zur Gemeinschaft.“ Darin zeigt sich die Liebe Gottes83. Eine „geheimnisvolle Beziehung“ sieht Althaus nun „zwischen dem Heute und dem Gestern“: „Das Gestern gibt dem Heute seinen Inhalt und seine Verantwortung. Wir sollen handeln als Menschen, die den Ertrag einer Geschichte zu wahren oder die Schuld einer Geschichte abzutragen haben.“ Nach Althaus gibt es in der Geschichte ein „Gesetz von Saat und Ernte“, das besagt: „Wir müssen heute auf dem Boden bauen, den das Gestern gelegt hat. Darin erfahren wir ebensowohl Gottes Zorn wie seinen Segen.“84 Aus dieser Zweiheit folgt nach Althaus gegenüber der Geschichte die Berufung „zu einer doppelten Haltung, zur Dankbarkeit und zur Kritik, zur Mitwirkung mit den Vätern, aber oft auch zur Gegenwirkung. […] So gilt es alte Schuld abzutragen, ein altes Erbe zu wahren.“ Gemäß seiner differenzierenden Grundeinstellung fasst Althaus zusammen: „Daher kann weder allgemeiner Konservatismus noch allgemeine Kritik des Bestehenden die Losung sein. Wir sind ebensosehr zur Treue wie zur Kritik berufen, und nebeneinander zur Pietät wie zur Ab- und Umkehr.“85 Da „die Sprache Gottes in der Geschichte“ sich nur einem „lebendigen Gewissen“ erschließt, „das sich tief in die Geschichte einlebt und prüft, was als Schuld und was als Segen der Väter gelten muß“, „kann kein Dritter mit einer schnellen allgemein-gültigen Lösung helfen.“86 Das Dritte, das zum „Heute“ und „Gestern“ hinzutritt, ist das „Morgen“. Zunächst wendet Althaus den Blick ganz auf die innerweltliche Dimension der Zukunft: „Mit dem, was wir heute tun, bereiten wir die Zukunft und das Los unserer Kinder. Das gibt allem unserem Handeln in vaterländischen Aufgaben heute den tiefen und besonderen Ernst.“87 Nach der innerweltlichen Dimension der Zukunft nimmt Althaus auch die eschatologische in den Blick: 83 2403 Gott, 8. 84 Ebd., 9. Für Althaus gibt es „nicht nur Erbsünde, sondern auch Erbsegen“ (ebd., 10). 85 Ebd., 10 f. 86 Ebd. An dieser Stelle übt Althaus einmal mehr Kritik an den Siegern des Weltkrieges. Er schreibt weiter: „Hier soll keine Theorie des Verstandes an die Stelle des lebendigen Ringens der Gewissen treten. Weder unsere Feinde haben das Recht, Deutschlands gegenwärtige Not als Gericht Gottes über uns zu bezeichnen, noch wir Deutsche selber dürfen uns durch die Schwere der geschichtlichen Stunde zu der allgemeinen Redensart vom Gericht Gottes über unsere Geschichte verleiten lassen“ (ebd., 11 f.). 87 Ebd., 12. Althaus bleibt in Bezug auf die innerweltliche Zukunft nicht bei der einzelnen Volksgeschichte stehen – so wichtig sie ihm auch ist –, sondern er schaut auch auf das Miteinander der Völker: Darin sieht er Gott „am Werke“, der will, „daß die Völker ihre Gaben entfalten, daß aus der Naturgebundenheit immer mehr Herrschaft des Geistes werde, daß wir im wirtschaft© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Die Sehnsucht und das Heimweh des Menschenherzens nach dem Ganzen und Unbedingten ist die Verheißung, daß Gott größer ist als die Geschichte und daß seine wahrhaftige Welt jenseits der Geschichte auf uns wartet. So stoßen wir auf die Ewigkeit. Jeder Aufbau in der Geschichte weist über sich hinaus auf die ewige Stadt.“ „Wir lernen ahnen, daß er der große Erzieher ist, der durch die Geschichte sich sein Volk schafft und das Gottesreich baut. Das ist das Geheimnis des ‚Morgen‘.“88
So steht das „Morgen“ in der Geschichte bei Althaus für die teleologische Dimension der Eschatologie. Zuletzt bedarf der für den Ethiker und Geschichtsphilosophen und -theologen Althaus so zentrale Begriff des „Berufes“ eines Menschen bzw. eines Volkes einer kurzen Betrachtung. Er entnimmt ihn zum einen der Ständelehre Martin Luthers89, zum anderen dem die lutherische Berufsethik auf den Volksgedanken anwendenden Berufsgedanken Schleiermachers90. Der Berufsgedanke, der bereits im „Religiösen Sozialismus“ eine zentrale Rolle spielte, wird von Althaus in seiner Geschichtsphilosophie und -theologie eschatologisch fundiert, und zwar sowohl im axiologischen als auch im teleologischen Sinne. Weil für ihn „das geschichtliche Wirken der Menschheit nach Gottes Willen nicht ohne Bedeutung für die Vollendung des Erkennens und Gestaltens in der Ewigkeit“ ist91, meint er „in dem Wirken selber aber, in dem Berufe zu ihm und der Hingabe, […] die Bedingung und Verheißung der ewigen Welt“ zu sehen. Dadurch fällt für ihn „auf alle ernste Wissenschaft, Kunst, Natur- und Sozialgestaltung, auf Technik und Politik […] ein Glanz ewigen Sinnes.“ „Daß wir guten Gewissens, pflichtmäßig an der Kulturarbeit teilnehmen, ist nach rückwärts in dem Schöpfungsglauben, nach vorwärts in der Gewißheit ewigen Sinnes des Welterkennens und Weltgestaltens begründet. Ethik und Eschatologie suchen einander.“92
Welche zentrale Rolle der Berufsgedanke für die evangelische, nicht nur lutherische Ethik der 20er Jahre spielte, lässt sich auch der Ethik-Vorlesung Karl lichen und sozialen Leben immer aufs neue das Chaos zügellosen Daseinskampfes zwingen zu echter, brüderlicher Gemeinschaft“ (ebd., 13). 88 Ebd., 14. Mit anderen Worten: „Wir werden als Werkzeuge benutzt, ohne das Werk zu schauen, wir werden an einem Plane beteiligt, den wir nicht kennen. […] Da spüren wir, daß ein anderer die Geschichte baut.“ (ebd., 13). 89 Vgl. 3108 Ethik, 67, wo sich Althaus wiederum auf Holl beruft und „Beruf im engeren Sinne“ als „das bestimmt umgrenzte Arbeitsgebiet des Einzelnen innerhalb des Organismus der ‚Gesellschaft‘ (d. h. der zur gemeinsamen Arbeit für Leben und Kultur verbundenen und gegliederten Menschheit)“ definiert. 90 Zu Schleiermacher vgl. Kurz, Denken, 30–34. Schon dieser verknüpft den Berufsgedanken, wie später Althaus, mit dem der Gewissensfreiheit. Zur Schleiermacherrezeption Althaus’ vgl. 3607 Obrigkeit, 22–28. 91 2201 Dinge, 136. 92 Ebd., 137. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Barths 1928 und 1930 entnehmen, der dem „Beruf“ einen eigenen Paragraphen widmet und ihn folgendermaßen definiert: „Unsere eigene Wirklichkeit in ihrer Bestimmtheit verstanden als solcher Hinweis auf Gottes Gebot – das ist der allgemeine ethische Sinn des Begriffes Beruf.“93 Dieses Gebot trifft nach Barth „mich immer an einem begrenzten Ort und als ein bestimmtes Werk seiner Schöpfung. In dieser meiner konkreten Berufung durch Gott den Schöpfer nimmt es mich in Anspruch und habe ich es zu hören.“94 Die Vermittlung des göttlichen Willens in der Geschichte geschieht – wie schon in früheren Schriften angedeutet – durch ein „immer unruhige[s], lebendige[s] Gewissen“95. Althaus ist sich der Problematik dieses Ansatzes bewusst, wenn er 1925 in der Auseinandersetzung mit Barths „Auferstehung der Toten“ einschränkend schreibt: „Die Geschichte ist gewiß als solche nie Offenbarung. Aber die Offenbarung geschieht in der Geschichte, an der Geschichte, nicht nur als Erkenntnis ihrer Grenze, sondern als Erfassung des übergeschichtlichen Sinnes, den der konkrete Geschichtsmoment trägt.“96
Die konkrete Geschichte ist und bleibt für Althaus der Ort, an dem der Mensch von Gott in Form von Anspruch und Zuspruch vermittels des Gewissens angesprochen wird und wo er sich in Verantwortung vor Gott zu bewähren hat. Bei der Frage nach Althaus’ geschichtstheologisch fundierter Sozialethik und nach der Ausgestaltung von „Welterkennen und Weltgestalten“ gilt es noch einmal das Problem der „Eigengesetzlichkeit“ im Zusammenhang seiner Theonomiekonzeption in den Blick zu nehmen. Wie schon in seinen früheren sozialethischen Schriften gesehen, kommt Althaus’ Ablehnung von weltlicher Autonomie und „Eigengesetzlichkeit“ gerade auch in seiner geschichtstheologischen Grundlegung zum Tragen. So macht er in seinem Aufsatz „Heils geschichte und Eschatologie“97, den er 1924 als Auseinandersetzung mit der in religiös-sozialistischen Kreisen verbreiteten Position einer endgeschichtlichen Eschatologie veröffentlicht, gegenüber theologischen Kurzschlüssen, die „die 93 Barth, Ethik, 298. 94 Ebd., 292. Im Rahmen seiner tendenziell ordnungstheologischen Ausführungen fällt das göttliche Gebot bei Barth mit dem Willen Gottes zusammen: „Wir haben es zu tun mit einem Willen, der unserem Willen begegnet der der Forderung, daß unser Wille sich vor ihm beuge, ihm untergeben sei, ihm konform werde.“ (ebd., 355). 95 2403 Gott, 7. An einer Stelle bringt Althaus dabei eine pneumatologische Komponente ins Spiel, wenn er schreibt: „Der Inhalt des Willens Gottes enthüllt sich uns in der Geschichte. Gewiß nur so, daß der Geist uns das Auge öffnet.“ (2405 Geschichte, 749). 96 2501 Paulus, 98; Hervorhebungen von Althaus. 97 2409 Heilsgeschichte. Den Aufsatz hat Althaus mit Änderungen auch in die 3. Auflage der „Letzten Dinge“ (2603), 83–185 eingearbeitet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Christlichkeit des Wirtschaftslebens mit der sozialistischen Wirtschaftsweise, die Christlichkeit der Staatsverfassung mit der Demokratie, die Christlichkeit der Völkerbeziehungen mit dem Völkerbunde und dem Weltfrieden“ gleichsetzen98, sein Verständnis der „christlich-sittlichen Aufgabe“ geltend: „Die christliche Gemeinde hat den hohen Beruf, das soziale Leben, die Wirtschaftssysteme, die Politik und die Beziehungen zwischen den Völkern unter der Kritik der sittlichen Normen zu halten und die Grundgedanken des Evangeliums vom Dienste und von der Gemeinschaft richtunggebend hineinzutragen. Dabei wird Kritik und Forderung keineswegs nur auf die ‚Gesinnung‘ der Männer des wirtschaftlichen und politischen Lebens sich beziehen, sondern auch den Formen und Ordnungen gelten. Christliche Sozialkritik wird die Herrschaft der Selbstsucht im Wirtschaftsleben, wie sie als Einzelwille oder als System erscheint, aufdecken. Sie weist auf die menschenund gemeinschaftsmörderische Wirkung einer ‚eigengesetzlichen‘ Wirtschaft hin“.99
An anderer Stelle schreibt er von der „versklavenden Eigengesetzlichkeit des natürlichen und kulturellen Lebens“, die er eng „mit der Sünde, mit den Mächten des Todes“ verknüpft sieht100. Wie bei allen Werten des menschlichen Lebens, so sieht Althaus auch in Bezug auf Staat und Politik die „Gefahr, daß sie von ihrem Grunde und Sinne in Gott losgerissen werden zu gottloser Autonomie. […] Die Werte werden absolut gesetzt, die Verantwortung und das Todesschicksal alles Geschichtlichen vergessen.“ Eine „selbstherrliche Autonomie des Individuums, das sich frech von allen Bindungen losreißt“, hat gemäß Althaus nicht selten eine „nationalistische oder ästhetische oder intellektualistische Gottlosigkeit“ zur Folge. Althaus’ fortwährendes Bestreben ist es hingegen, die von ihm wahrgenommene „Gottlosigkeit“ mit dem Hinweis auf die göttlichen Bindungen in der Welt zu überwinden und die menschliche Weltwahrnehmung „zu freier und neuer Theonomie des Lebens und der Kultur“ zu führen101. Demzufolge lehnt er eine absolute, autonome Eigengesetzlichkeit ab und spricht stattdessen von „relativer Eigengesetzlichkeit“102, also theonomer. Dies entspricht auch seiner Vor 98 2409 Heilsgeschichte, 643. Althaus weist hier auf den Umstand hin, dass „innerhalb des modernen religiösen Sozialismus, der mit Leidenschaft den bürgerlichen Kulturprotestantismus bekämpft“, genau diese kulturprotestantischen Gedanken wiederkehren: „Das ‚weltliche Christentum‘ des Ragaz-Kreises steht R. Rothe ‚kulturtheologisch‘ gar nicht sehr fern. […] Die Gleichsetzung des Gottesreiches mit dem christlichen Staatenorganismus findet sich bei Rothe und Ragaz.“ (ebd., 642). 99 Ebd., 643; Hervorhebungen von Althaus. 100 Ebd., 659 f. Mit seiner Kritik weiß sich Althaus hier in ausdrücklicher Übereinstimmung mit Barth. 101 Ebd., 649. 102 Ebd., 646.643. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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stellung des eschatologischen Vorbehalts alles Weltlichen, also der „Spannung zwischen dem ‚schon‘ und dem ‚noch nicht‘ der Erlösung.“103 Mit seiner Konzeption einer theonomen Weltdeutung liegt Althaus im Trend der Zeit, wie ihn Friedrich Wilhelm Graf beschreibt: „Mit dem Theonomiebegriff soll auch die komplexe Kulturgestalt der ‚neuen Zeit‘ oder ‚Neuzeit‘ als eine theologisch begreifbare Welt gedeutet werden können, d. h. als eine Welt sub specie Dei.“104 Auch auf die problematische Verknüpfung von Theonomiekonzeptionen mit eschatologischen Vorstellungen weist Graf hin. Er spricht von einer „Temporalisierung bzw. geschichtlichen Dynamisierung von Theonomie“, die „zum geschichtstheologischen Zielbegriff für eine zukünftig zu errichtende normative Ordnung der Gesamtwirklichkeit“ werden kann105. In diesem Zusammenhang zeigt er die Gefahr der „Ideologisierbarkeit“ der Theonomievorstellung auf: „Begriffe einer geschichtlichen Erwartung, deren Erfüllung noch aussteht, können unschwer mit subjektiven Wünschen und Hoffnungen erfüllt werden, sie unterliegen der Gefahr der Politisierung und weltanschaulichen Positivierung je nach der ‚Hintergrundperspektive‘ von Individuen oder sozialen Gruppen, und sie lassen sich unschwer für eigene Interessen instrumentalisieren.“106
Somit entspricht die Althaussche Theonomiekonzeption, die zum einen auf einer christlich-konservativen, nationalprotestantischen Weltwahrnehmung und -deutung fußt und zum anderen auf eine geschichtlich-dynamisch herzustellende, an den eigenen Normen und Erwartungen ausgerichtete Zukunft zielt und eschatologische Züge trägt, seiner tendenziell konservativ-revolutionären Grundeinstellung. Die Althaussche Vorstellung einer „relativen Eigengesetzlichkeit“ hat in diesem Konzept eine doppelte Konsequenz: Zum einen kann sie der Gefahr einer Absolutsetzung menschlicher Werte – z. B. des eigenen Volkes durch nationalistische Parolen – wehren107 und den Ordnungsbegriff problematisieren. Zum 103 Ebd., 646. 104 Graf, Theonomie, 232. Nach Graf beerbt der Theonomiebegriff der Funktion nach den altprotestantischen Gesetzesbegriff, der für ihn „traditionell der zentrale Vermittlungsbegriff protestantischer Theologie“ war: „im Gesetz soll die gegebene politisch-soziale Realität in theologischer Perspektive erschlossen werden.“ (ebd., 231). Zur Verwendung des Theonomiebegriffs bei Althaus vgl. ebd., 233 f. 105 Ebd., 236. 106 Ebd., 236 f. 107 In diese Richtung argumentiert Althaus, wenn er sowohl „Schillers kühnen Satz“, „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, aber der Tag des deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit“, als auch Fichtes Einschätzung, das deutsche Volk sei „auf der Höhe der Geschichtsentwicklung“, zurückweist (2409 Heilsgeschichte, 639). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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anderen bleibt auch eine „relative Eigengesetzlichkeit“ eine Eigengesetzlichkeit, die sich bei Althaus in Form von „Lebensgesetzen“ niederschlagen kann: „Die Lebensgesetze des Widerstreites, die zugleich Todesgesetze sind, gehören zum Wesen der Natur und der Geschichte.“108 Im Blick auf diese Eigengesetzlichkeit, die er außerhalb des menschlichen Gestaltungsspielraums sieht, sagt Althaus: „Liebe kann sich wohl innerhalb der Konkurrenz bewähren, aber diese nicht aufheben.“109 Blicken wir erneut auf Althaus’ theologische Ablehnung einer endgeschichtlichen Eschatologie, so schließt sich der argumentative Kreis: „Es gibt keine Erlösung durch die fortschreitende Geschichte, sondern die vollendete Erlösung ist Erlösung von der Geschichte.“110 Die von Althaus gemeinte „relative Eigengesetzlichkeit“ erhält ihren verpflichtenden Charakter gerade durch ihre Relation, durch ihre Bezogenheit auf Gott und seinen Willen. So können die von Althaus aufgrund seiner politischweltanschaulich Prägungen und Präferenzen identifizierten weltlichen Werte zwar in einem ersten Schritt ihre Eigenart als absoluter Letztwert verlieren, in einem zweiten Schritt werden sie jedoch wiederum überhöht und sakralisiert durch ihre Verknüpfung mit dem göttlichen Willen. So schreibt er 1924: „Wir sind zuletzt gar nicht an Menschenverhältnisse, -ordnungen, -einrichtungen, ja nicht einmal an das Vaterland, an die Nation gebunden, sondern an einen ewigen Willen, der uns in allem fordert.“111 Schon 1923 formulierte Althaus diesen Gedanken in der Auseinandersetzung mit Barth folgendermaßen: „Wir denken nicht daran, irgendwelche geschichtlichen Inhalte und Verhältnisse für sich religiös verklären zu wollen. […] Gott ist es, der uns bindet, darum sind wir zugleich an die geschichtlichen Aufgaben gebunden und von ihnen frei. […] Niemand darf sich einem Menschen oder einem geschichtlichen Werte opfern, sondern er opfert sich seiner Verantwortung und in ihr dem lebendigen Gott.“112
Dass Althaus andererseits aber durchaus ein Problembewusstsein für die Gefahr der Sakralisierung menschlicher Werte besitzt, macht er deutlich, wenn er schreibt, 108 2409 Heilsgeschichte, 658. Althaus äußert dazu im Blick auf religiöse Sozialisten und Pazi fisten: „Wer darauf hofft, daß diese Gesetze durch die Welt gewordene Liebesgemeinschaft des Reiches Gottes abgelöst werden, der hofft auf keinen geschichtlichen Tag, sondern auf die Aufhebung von Natur und Geschichte in Gottes neuer Welt. Die Welt des Völkerfriedens ist keine geschichtliche Welt mehr. Denn der Kampf der Völker gehört zu den Grundzügen geschichtlichen Lebens. Er ist von dem Begriffe der Geschichte genau so untrennbar wie das Geborenwerden und Sterben, wie die Folge der Geschlechter.“ 109 Ebd., 661. 110 Ebd., 646; Hervorhebungen von Althaus. 111 2403 Gott, 6. So überhöht Althaus an dieser Stelle das Opfer der Soldaten im Weltkrieg als zuletzt nicht dem Vaterland, sondern Gott dargebracht; vgl. Kap. II, 1.1. 112 2405 Geschichte, 748. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„daß wir keineswegs die gegebenen geschichtlichen Bindungen, etwa die vaterländische, unkritisch als Schöpfungsordnungen und damit als Willen Gottes hinnehmen, wie man der lutherischen Ethik gern vorwirft. Die Gefahr, menschliche Lieblingsgedanken und Werte unbefugt religiös zu verklären, ist auch uns bewußt.“113
Die oftmals zu konstatierende Althaussche Uneindeutigkeit ist gerade an diesem Punkt evident. Aufschlussreich für seine weitere Behandlung des Themas ist sein Aufsatz „Die Gestalt dieser Welt und die Sünde“ von 1931, den er als „Beitrag zur Theologie der Geschichte“ verstanden wissen will. Gemäß seiner dialektischen Vorgehensweise lehnt Althaus auch darin zunächst die beiden Extreme einer hamartiozentrischen Geschichtsauffassung, die die Geschichte und die Gestalt dieser Welt ausschließlich aus dem Sündenfalls ableitet114 – er spricht damit in erster Linie die Theologie Barths und Heims an –, und einer idealistischen Geschichtsauffassung, die den Entwicklungsgedanken von einer unvollkommenen Schöpfung hin zu ihrer Vervollkommnung in der Geschichte vertritt, ab. Indem er diese beiden Auffassungen als falsche Alternativen zurückweist, will er mit Hilfe ihrer Synthese als dritter Möglichkeit Geschichte sowohl von der Einsicht in die Sünde als auch vom Glauben an Gottes gute Schöpfung verstanden wissen115: „Unsere Welt ist die Welt des Falles, aber sie ist auch die Welt Jesu, die Welt, in der, durch die er vollendet worden ist, die Welt, die auf den Glauben und auf das Opfer hin geschaffen ist. Man darf das eine nicht denken und lehren, ohne in dem gleichen Atem auch das andere zu denken und zu lehren.“116
Geschichte ist nach Althaus somit zwar „nicht Gottes endgültiger Wille“, aber „sein ursprünglicher Wille“, sie ist nicht nur Abfall von Gott, sondern immer zugleich Ausdruck und Wirkung der Schöpfung Gottes. Mit dieser geschichtstheologischen Betrachtung der Schöpfung, die zugleich eine schöpfungstheologische Betrachtung der Geschichte ist, geraten nun auch die Schöpfungsordnungen in den Blick, wenn er schreibt: „Wir ergreifen in der Struktur dieser 113 Ebd., 749. 114 An anderer Stelle schreibt er zur Idee, die „Geschichte überhaupt als Folge des Sündenfalls“ zu erklären: „Das aber ist nicht mehr Theologie, sondern Gnosis, die mit der Bibel nichts mehr zu tun hat“ (3217 Luther, 51). 115 3110 Gestalt, 45–53. Zu dieser Synthese schreibt er: „Ich selber bin seit langem an der heute üblichen Ableitung der Geschichte und ihrer Gesetze aus dem Fall der Menschheit irregeworden […] und versuche in meinen dogmatischen Vorlesungen, die Theologie der Geschichte, des Kampfes und des Leidens so aus dem Schema der hamartiozentrischen Theologie zu befreien, daß ich dabei doch nicht der idealistischen Auffassung der Geschichte verfalle.“ (ebd., 53). 116 Ebd., 64. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Welt die Liebe des Schöpfers, der uns zum Glauben berufen hat und uns darin die Gemeinschaft mit sich gewähren will.“117 Wie bei der Geschichte, so spricht Althaus auch bei den Ordnungen stets von einem „Ineinander von Schöpfung und Sünde“118 und davon, dass „die gegebene Wirklichkeit niemals einfach die von Gott gewollte Wirklichkeit“ ist119: „Ob die Ordnungen der Geschichte, wie wir sie kennen, Ordnungen Gottes oder sündiges Menschengemächte sind, […] das ist an ihrem Gegebensein nicht einfach abzulesen. Das ist nur zu erkennen, wenn die Geschichte in das Licht der in Jesus Christus angebrochenen Wirklichkeit des Reiches Gottes tritt. Das Wissen um Sünde und Tod, Versöhnung und kommendes Reich macht geschichts-kritisch.“120
Geschichte kann nach Althaus immer nur im Deutehorizont des Glaubens in den Blick genommen werden. So fasst er seinen „Beitrag zur Theologie der Geschichte“ mit den Worten zusammen: „Die Theologie kann und soll nicht die Weltgeschichte erzählen und die gegenwärtige Weltgestalt metaphysisch erklären. Sie hat nichts anderes zu tun, als die gegenwärtige Welt und unsere Existenz in ihr von unserer Geschichte mit Gott aus, nach allen ihren Beziehungen, zu deuten.“121
Mit dieser Einschränkung entfernt sich Althaus bereits zu Beginn der 30er Jahre von seiner ungeschützten, unbefangenen und naiven Geschichtstheologie der Weltkriegs- und ersten Nachkriegszeit122. Nach einer erneuten situations bedingten Forcierung seiner Geschichtstheologie im Jahr 1933 kehrt die zunehmende Skepsis im Laufe der 30er Jahre wieder zurück, wenn er 1937 schreibt: „Der Sinn Gottes in seinem geschichtlichen Handeln ist uns verborgener, die Geschichte in dieser Hinsicht vieldeutiger geworden. Politische Geschichte hat eine Eigengesetzlichkeit, die sich weithin der Ausdeutung als Schuld, Gericht, Gnade entzieht.“123 117 Ebd., 61; Hervorhebungen von Althaus. 118 3111 Gemeinschaften, 28. Der gesamte Vortrag behandelt das Thema von „Schöpfung und Sünde in der Wirklichkeit der Lebensordnungen“. 119 3213 Dogmatik, 41. 120 3108 Ethik, 29. „Die Gefahr des Luthertums“, so Althaus, ist „der Verzicht auf Gestaltung der Geschichte, das Dulden des Bestehenden als gottgewollter Ordnung“ (2806 Leitsätze, 31). 121 3110 Gestalt, 64. An anderer Stelle schreibt er: „Es gibt keine ‚christliche‘ Naturwissenschaft, keine besondere ‚theologische‘ Methode der Historie, – aber die Theologie hat zu zeigen, wie die Begriffe Geschichte und Natur erst von der im Glauben vernommenen Offenbarung ihren eigentlichen Sinn empfangen, der jenseits aller empirischen Forschung liegt.“ (2706R Buch, 218 f.). 122 Sprach Althaus zuvor vielfach von „Geschichtsgesetzen“, nach denen die Geschichte ablaufe, ist in seinem „Grundriß der Dogmatik II“ von 1932 nun von „Geschichts-Tendenzen“ die Rede (3213 Dogmatik, 19). 123 3708 Kirche, 26. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Es ist bezeichnend für die christologische Rückbindung seiner Geschichtstheologie, dass Althaus besonders in seinen Weihnachtspredigten immer wieder die Uneindeutigkeit der Geschichte und die Unmöglichkeit letzter Rückschlüsse von ihr auf Gottes Wesen betont. Wer die „Werke Gottes“ aus der Geschichte abzulesen vermeint, wird schnell merken, so Althaus Weihnachten 1938, dass es sich dabei um eine „zweideutige, widerspruchsvolle Schrift“ handelt und nur in Jesus Christus Gott eindeutig erkannt werden kann124. 4.4 Die geschichtstheologische Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie Bereits an verschiedenen Stellen hat es sich gezeigt, dass Althaus in seinem systematisch-theologischen und apologetischen Schaffen häufig reaktiv vorgeht. Besonders lässt sich das an seiner Auseinandersetzung mit Karl Barth und der Dialektischen Theologie festmachen. So sehr Althaus in seiner Absetzbewegung von der kulturprotestantischen, liberalen Theologie mit Barth konform geht, so unterschiedlich sind doch auch die Neuansätze der beiden. So gelangt auch Franz Feige zu der Auffassung: „Like for Hirsch, Karl Barth and dialectical theology provided the foil for the unfolding of Althaus’s theology.“125 Nachdem sich Althaus schon in verschiedenen Schriften am Rande auch mit Barths Positionen befasst hatte, veröffentlicht er 1924 eine erste größere „Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie“ unter dem Titel „Theologie und Geschichte“ in der „Zeitschrift für systematische Theologie“126. Althaus kommt unumwunden auf den Punkt, wenn er schreibt, die „Geschichtsfrage bedeutet […] die Offenbarungsfrage, und die Offenbarungsfrage die Gottesfrage.“127 Um das „Verhältnis unserer Gottesbeziehung zur Geschichte“ sieht er den „Kampf auf der ganzen Linie entbrannt.“128 Damit ist der Gegner bereits identifiziert, und Althaus kann in medias res die Probleme, die er an der Barthschen Theologie sieht, benennen: 124 3810P Leben, 26 f.; vgl. 3511B Sonnenwende, 8 f.; und 3512P Heimat, 8 f. 125 Feige, Varieties, 254. 126 Althaus will den Aufsatz verstanden wissen als „Teilantwort auf Barths Besprechung meines Heftes ‚Religiöser Sozialismus‘ […] in der Zeitschrift ‚das neue Werk‘“ (2405 Geschichte, 742, Anm. 1). 127 Ebd., 741. 128 Ebd. Althaus schreibt weiter: „Der neue Gegensatz ist tief genug begründet, nämlich dort, wo alle ernsthaften theologischen Gegensätze ihren Grund haben, im Gottesgedanken; und er greift weit genug: durch alle Fragen des Glaubens hindurch und tief in die Ethik hinein. Die Auseinandersetzung z. B. über Christentum und Vaterland betrifft nur einen Sonderfall des großen Problems“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Die neue Losung von der völligen Transzendenz des göttlichen Lebens gegenüber der Geschichte macht sich ebensowohl in der Dogmatik, als Auflösung des geschichtlichen Offenbarungsgedankens, wie in der Ethik, als Aufhebung jeder konkreten theologischen Erkenntnis vom Willen Gottes und vom Berufe des Christen, also als Verzicht auf eine inhaltliche christliche Ethik und vollends Sozialethik geltend.“129
Althaus wirft Barth und dessen Lehre von der radikalen Diastase zwischen Gott und Welt vor, einer „rein skeptisch-relativistischen Betrachtung der Geschichte“130 das Wort zu reden und die Geschichte damit letztlich zu entwerten, was in seinen Augen fatale Konsequenzen für die Theologie hat: „Es wird bei Barth […] der Begriff der geschichtlichen Offenbarung Gottes überhaupt dialektisch aufgelöst. Damit aber verliert der Gottesgedanke seine Inhaltlichkeit.“131 „Die Offenbarungstheologie wird zur Theologie des unbekannten Gottes.“132 Somit wird bei Barth und dessen theologischen Weggefährten laut Althaus „alle, aber auch alle positive Gegenwart Gottes im religiösen Bewußtsein, in der sittlichen Erkenntnis, in Geschichte und Heilsgeschichte […] bestritten. Es gibt nur Negation göttlicher Offenbarung in der Welt“133 Den Schöpfungsglauben sieht Althaus infolgedessen „ganz im Schatten der Sündenlehre, das Schöpfungsverhältnis geht unter im dialektischen Verhältnis.“134 Aber nicht nur den Schöpfungsglauben sieht Althaus bei Barth bedroht, sondern er konstatiert zuletzt auch eine „Auflösung des biblisch-reformatorischen Christusglaubens“135: „Die Geschichte ist nicht der Ort des Göttlichen – dieser Satz wird auch auf Jesus angewandt. So wenig wie irgend eine andere geschichtliche Gegebenheit kommt Jesus direkt als Offenbarung Gottes in Betracht.“136 So heißt es bei Althaus an anderer Stelle: „Wir stehen heute in Gefahr, den geschichtlichen Zusammenhang für nichts zu achten und in dieser Beziehung einem neuen Doketismus zu verfallen.“137
129 Ebd. 130 Ebd., 746. 131 Ebd. Dazu schreibt er an späterer Stelle: „In Barths Theologie fehlt ein inhaltsvoller Gedanke der Liebe Gottes. Das Geheimnis des Personalismus in der Religion ist das Geheimnis der Liebe des ‚Absoluten‘.“ (ebd., 755). 132 Ebd., 743. In seinen Augen wird der Barthsche Gottesgedanke „durchaus aprioristisch gewonnen“: „Nicht dem Offenbarungszeugnis wird der Gottesgedanke entnommen, sondern umgekehrt: was ‚Offenbarung‘ bedeuten und nicht bedeuten kann, wird von einem vorausgegebenen, selbstsicheren Gottesgedanken aus entschieden.“ (ebd., 742). 133 Ebd., 752 f. 134 Ebd., 743. 135 Ebd., 768. 136 Ebd., 763. 137 2501 Paulus, 100. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Eine derartig charakterisierte Theologie lässt im Hinblick auf Althaus’ eigene Geschichtstheologie, die gerade auf den Spuren Gottes in der Welt – besonders in der Geschichte – fußt, nur eine Folgerung zu: Barth ist der regelrechte AntiAlthaus. So schreibt Althaus auch mit Blick auf sein eigenes geschichtstheologisches Paradigma über Barth: „Jede direkte religiöse Wertung der Geschichte fällt dahin. ‚Gott in der Geschichte‘ – das gibt es nicht. Alle Geschichte ist diesseitig und nur diesseitig.“138 Damit sieht er bei Barth auch sein pastoraltheologisches Konzept des anknüpfenden Zweischritts von der Theozentrik zur Christozentrik, vom Geschichtserlebnis zum Gotteserlebnis abgeurteilt, wenn dieser schreibt, das religiöse Erlebnis sei „in seiner Geschichtlichkeit, Dinglichkeit und Konkretheit immer der Verrat an Gott“139. Aus diesem Grund kommt Althaus gerade an dieser Stelle auf sein Anknüpfungskonzept zu sprechen. Zunächst gesteht er zu, dass er „mit Barth und Gogarten durchaus einig“ darin ist, „daß alle, ausnahmslos alle geschichtlichen Werte und Verhältnisse als geschichtliche zum Tode bestimmt sind und unter der Krisis der Ewigkeit stehen.“140 Aber damit ist ihr Verhältnis zur Ewigkeit für Althaus „nicht erschöpfend bestimmt“, denn es ist ein im Althausschen Sinne dialektisches, von dem auf der anderen Seite gilt, „sofern sie Verantwortungen bedeuten, geht uns an ihnen gerade die Ewigkeit auf.“141 Indem Althaus nun die Behauptung aufstellt, der „sittliche Begriff des Geschichtlichen enthält das Übergeschichtliche schon in sich“142, wird für ihn die Ethik zum „Schlüssel zur Geschichtsphilosophie“143. Diese ethisch ausgerichtete Geschichtsphilosophie aber bildet in seinem Konzept den Anknüpfungspunkt für den Gottesglauben: „Die Geschichte weist hin auf Gott, nicht nur als auf ihre Grenze, sondern als auf den Herrn, der Beruf und Stunde gibt und die Tat fordert. Indem wir in unserer Zeit 138 2405 Geschichte, 744. 139 Ebd. Althaus zitiert hier die 1. Auflage des „Römerbriefs“, 27. 140 Vgl. 2502 Haltung, 156 f., wo Althaus vor einer „Verherrlichung der Geschichte“ warnt. 141 2405 Geschichte, 748. 142 Ebd. 143 Ebd., 747. Demzufolge ist es für ihn unmöglich, von der Geschichte zu reden, „ohne der Geschichtsgegenwart Gottes im sittlichen Gebote zu gedenken“ (ebd.). Welche zentrale Rolle Althaus der Geschichtsphilosophie nicht nur in seiner eigenen Konzeption, sondern auch für Theologie und Kirche als Ganzes beimisst, macht er an anderer Stelle, in seinen Leitsätzen zur „Aufgabe der Christenheit in Staat und Politik“ deutlich, wenn er schreibt: „Die Christenheit hat die dringende Aufgabe, eine Geschichtsphilosophie und auf Grund deren Grundzüge einer politischen Ethik zu schaffen. Die Arbeit an der Lösung dieser z. T. prophetischen Aufgabe wird den Kampf um das Verständnis des Willens Gottes in der Geschichte in die Christenheit selber hineintragen. Aber sie darf diesem inneren Kampfe ebensowenig ausweichen wie dem Ringen um das Verständnis des Evangeliums.“ (Althaus, Aufgabe). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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vergänglicher, geringer, höchst diesseitiger Beziehungen doch Verantwortungen ent decken, auf denen der Ton unbedingter Bindung liegt, lernen wir an die Ewigkeit glauben. […] Weil die Geschichte voll des Willens Gottes ist, schenkt sie Erkenntnis Gottes. Diese Erkenntnis ist […] ‚Glaube‘.“144
So kann laut Althaus anhand der immanenten Bindungen und Verantwortungen auf einen transzendenten Urheber derselben rückgeschlossen werden, so dass für ihn feststeht, „uns sind die ethischen Normen selber schon Offen barung Gottes.“145 Ist der Gottesbezug der Geschichte einmal erkannt und geglaubt, dann hat der Christ eine doppelte Haltung einzunehmen: „stets wache Kritik an den eigenen Gedanken, Mißtrauen gegen uns selbst und Zuversicht zu Gott, der uns in seine Schule nimmt und seine Wege sehen lehrt, ständige Bereitschaft, unser Unternehmen als Ungehorsam preiszugeben, und Vertrauen, auf Gottes Ruf ein Werk anzugreifen, Gedanken zu denken, Ziele zu stecken.“146 „Auch wir wissen, daß Gott unsere jeweiligen Erkenntnisse und Ziele eines Tages als Trug erweisen kann. Aber dieser Vorbehalt gibt nicht das Recht zur Skepsis, sondern schärft die Pflicht zur Wachsamkeit und Treue im Horchen auf Gottes Ruf.“147
Dass seine eigene Geschichtstheologie sich nicht zuletzt der Absetzbewegung von Barth und der Dialektischen Theologie verdankt, deutet Althaus an verschiedenen Stellen an148. So schreibt er 1929 im Blick auf das Geschichtsverständnis der Dialektischen Theologie: „Die Folgen für die Theologie konnten nur verhängnisvolle sein: die völlige Entwertung der Geschichte als in jeder Hinsicht sinnlos und gottlos“. Damit aber, so folgert Althaus, „wird das innerste Heiligtum des Christenstandes, die Konkretheit und Personhaftigkeit der Geschichte Gottes mit dem Menschen, theologisch verleugnet.“149 Demgegenüber ist und bleibt es Althaus’ geschichtstheologisches Anliegen, der Ge-
144 2405 Geschichte, 748 f.; Hervorhebungen von Althaus. Der Dialektischen Theologie hält er demzufolge entgegen: „Dann ist es aber ein schwerer Fehler, über dem dialektischen das positive Verhältnis der Geschichte zur Ewigkeit zu vergessen und die Offenbarungsbedeutung der Geschichte im Namen der Jenseitigkeit Gottes und der Ewigkeit zu bestreiten.“ (ebd., 749). 145 Ebd., 750. Oder anders formuliert: „In den Verantwortungen ergreift uns die Verantwortung, in den sehr bedingten Aufgaben der unbedingte Herr, in dem Geschichtlichen das Ewige“ (ebd., 748). 146 Ebd., 784. 147 Ebd., 785. Demgegenüber charakterisiert er „die einzelnen Züge der ‚Ethik‘ Barths“ als „die Angst vor dem ‚guten Gewissen‘ in der Erkenntnis des Willens Gottes, die rein dialektische Behandlung des Sittlichen, der Verzicht darauf, bestimmte christliche Normen für das geschichtliche Leben zu gewinnen (und dabei doch, widerspruchsvoll genug, die noch nicht erkaltete Vorliebe für den religiösen Sozialismus)“ (ebd., 784). 148 Vgl. 2705R Heinzelmann, 90. 149 2909 Theologie, 137 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schichte theologischen Sinn zu geben als Ermöglichungsgrund der Geschichte Gottes mit den Menschen auf das Ziel des Reiches Gottes hin: „Die Theologie kennt nur einen Sinn aller Geschichte: Gottes kommendes Reich.“150 4.5 Zusammenfassung Althaus’ Eschatologie und Geschichtstheologie sowie seine spätere Ordnungstheologie gründen im Glauben daran, dass christliche Hoffnung nicht nur Gewissheit des Kommenden, sondern in gleichem Maße auch Gewissheit des Bleibenden ist, sofern sie Hoffnung auf Vollendung des schon Vorhandenen ist. Althaus’ Neubegründung der Eschatologie berührt sich in den frühen 20er Jahren mit dem gesteigerten Interesse an eschatologischen Fragestellungen im Religiösen Sozialismus und in der frühen Dialektischen Theologie. Das mit den Religiösen Sozialisten gemeinsame Interesse trennt sich schon rasch mit Althaus’ Ablehnung einer endgeschichtlichen Eschatologie. In der Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie gelangt Althaus mit seinem Interesse an der Beziehung des Übergeschichtlichen und Unbedingten zur Geschichte schnell an den trennenden Punkt. Im Gegensatz zu Barth versteht er in seiner Geschichtsphilosophie und -theologie das Ewige auch als positiv in der Geschichte gegenwärtig, gerade in den ethischen Normen. Dieses Grundanliegen, das Althaus mit dem Wort von „Gott in der Geschichte“ zum Ausdruck bringt, versucht er durch einen „wertphilosophischen Begriffsapparat“151 zu formulieren. Dabei bedeuten die unterschiedlichen und wechselnden Bezeichnungen „dritte Geschichte“, „axiologischer Begriff der letzten Dinge“, „Heute“, „Stunde“ oder „Beruf“ in der Althausschen Konzeption alle das gleiche: Gottes Wille und Anspruch ist geschichtlich erfahrbar: „Der Herr, der in der Geschichte mit uns handelt, ist ein Gott, der unseren Willen haben will, der unsere Tat begehrt und auf sie wartet, der uns mit hineinzieht in sein Tun und uns zu Mitarbeitern seines Werkes in der Geschichte anstellt.“152 Wie problematisch eine solche Identifizierung des göttlichen Willens sein kann, hat Althaus zumindest geahnt, wenn er schreibt: 150 Ebd., 149. 151 So urteilt Grass, Theologie, 227. 152 2303 Gott, 8. Diese Betonung der menschlichen Tat und Mitarbeit in der Geschichte, die Althaus in den weiteren Rahmen von göttlicher creatio continua und „Aufeinanderbezogensein von Schicksal und Tat“ stellt, hat bei ihm keinen anderen Grund, als „Gott in der Geschichte“ zur Notwendigkeit werden zu lassen: „Die Geschichte würde die Gottesfrage nicht stellen, wenn sie entweder ganz unser Werk oder ganz und gar uns erdrückendes und treibendes Schicksal wäre.“ (2507 Christentum, 154). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Allzu schnell hat man Überlieferungen für Gottes Willen, starre menschliche Verhältnisse für seine Ordnungen ausgegeben. Niemand hat das Recht, da vom Willen Gottes zu reden, wo Menschenirrtum und Menschensünden die Welt gestalten. Es bedarf immer wieder der strengen, kritischen Prüfung aller Werte und Ordnungen, die Menschen aufgestellt haben, ob Gottes Wille in ihnen uns zum Dienst und zur Tat fordert. Oft werden dabei Menschen-Bindungen zerreißen.“153
Weil Althaus aber keinen inhaltlichen Maßstab für wahre und falsche Identifizierungen zu geben vermag, bleibt sein eigener Einwand folgenlos. Mit seiner Ablehnung sowohl des Extrems einer Diesseitsbejahung als auch des Extrems einer Diesseitsverneinung will Althaus einen Mittelweg zwischen der alten liberalen Fortschrittstheologie, deren Repristination er auch im Religiösen Sozialismus zu erkennen meint, und der neuen Dialektischen Theologie beschreiten. Auf diese Weise erklärt sich einerseits seine gemeinsame Frontstellung mit Barth gegen die Liberale Theologie und andererseits seine Gegnerschaft zur Barthschen Theologie der radikalen Krise, durch die seine eigene Theologie entscheidende Impulse erhält. So kommt auch Franz Feige zu dem Schluss: „In fact, Althaus went halfway along with Barth’s attack on Culture Protestantism and dualistic Lutheranism. He could affirm it’s judgment that temporal history stood under the crisis of eternity. But he found the positive relationship of God to history lacking in dialectical theology, that is, the recognition of the idea of historical revelation, the possibility of concrete theological knowledge of the will of God and a substantive Christian ethics. Thus, Althaus sought to avoid the pitfalls of both dialectical theology and liberal theology.“154
Auch wenn Althaus um die Probleme und Gefahren weiß, die vor allem der Subjektivismus für seine Geschichtstheologie mit sich bringt („menschliche Lieblingsgedanken“), ist er dennoch in der Auseinandersetzung mit Barth daran interessiert, die Beziehung von Übergeschichte und Geschichte zur Geltung zu bringen. Als Konsequenz aus diesem Anliegen betont er in seiner Eschatologie das axiologischen Moment des Übergeschichtlichen vor dem teleologischen. Wohl ohne es zu wollen, fällt Althaus aus seiner Antihaltung zu Barth und dessen Extremposition heraus mehr und mehr ins andere Extrem: „Insofar as Althaus explicitly or implicitly always spoke against the backdrop of the narrowness of the dialectical understandings of God’s relationship to history, the pos-
153 2403 Gott, 6 f. 154 Feige, Varieties, 254; vgl. Kleffmann, Begriff, 361 f.; vgl. 2104 Sozialismus, 45; und 2305 Staatsgedanke, 15 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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sibility of the knowledge of God in natural history was far more accentuated than the sinful aspect, that is, especially Althaus’s own interpretation of historical events and the orders.“155
Ein wichtiger Aspekt der Althausschen Gesamtkonzeption, die stets auf volksmissionarisch-praktische Anwendbarkeit bedacht ist, ist seine Vorstellung von der Notwendigkeit eines Anknüpfungspunktes. Was diesen Althausschen Anknüpfungspunkt von der allgemein-menschlichen Erfahrung hin zur religiösen Gotteserfahrung betrifft, lässt sich im Verlauf der 20er Jahre gegenüber seiner früheren Konzeption eine Veränderung feststellen. Während im Ersten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter dem starken Eindruck des Krieges, der nach einer mentalen Verarbeitung rief und die Sinnfrage virulent machte, das unmittelbare Erlebnis, nämlich das verspürte „Vaterlandserlebnis“, die entscheidenden Kategorie für ihn war, die zum Gotteserlebnis führen sollte, tritt dieser Gedankengang nun mehr und mehr zurück. Zum neuen Anknüpfungspunkt des christlichen Glaubens wird für Althaus im Rahmen einer ethisch ausgerichteten Geschichtsphilosophie bzw. einer geschichtsphilosophisch ausgerichteten Ethik – er spricht von der „Ethik als Schlüssel zur Geschichtsphilosophie“ –, zunehmend die Erfahrung des sittlichen Anspruchs in der Geschichte156. Verlief der Weg für ihn anfangs vom Geschichtserlebnis zum Gotteserlebnis, konkret „vom Vaterlandserlebnis zum Gotteserlebnis“, so verläuft er nun konkreter von der Anspruchserfahrung zur Gotteserfahrung. So schreibt er 1925: „Wir brauchen kaum noch ausdrücklich zu sagen, daß dieses strenge Verständnis des Sittlichen nur als religiöses möglich ist. […] Davon reden, daß der persönliche Wille gefordert wird, ganz und jetzt, das heißt von Gott reden. Und die Forderung in diesem Sinne in das eigene Leben eintreten spüren, das heißt: vor Gott stehen.“157
Diese Gotteserfahrung aber will Althaus nicht nur schöpfungstheologisch oder ethisch verstanden wissen, sondern ebenso christologisch. In der Christus tatsache, in der geschichtlichen Gnadenzuwendung Gottes zu den Menschen, 155 Feige, Varieties, 256. 156 Ein anschauliches Beispiel bietet sein Gedankengang in 2405 Geschichte, 747–749. 157 2503 Krisis, 8. Der „unbedingte Anspruch“, den jemand zu vernehmen meint und der nach Althaus mittelbar auf Gott verweist, braucht bei ihm – auch da geht er über das „Vaterlandserlebnis“ hinaus – kein notwendig nationales Vorzeichen zu haben. So kann bei ihm auch dem „JungSozialismus“ diese Gottesbezogenheit in der Anspruchserfahrung eignen. So heißt es in 2507 Christentum, 154 f.: „Was bedeutet denn […] der absolute Ton, das Vorzeichen des Unbedingten, das unserer besten völkischen Bewegung, aber auch etwa dem Jung-Sozialismus Pathos und Wucht gibt? ‚Meinen‘ sie nicht, ob sie es wissen oder nicht, in, über, hinter dem erneuerten Reiche oder der zur Bruderschaft wiedergeborenen Gesellschaft zuletzt im Ernste das Gottesreich?“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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sieht er den Grund für das „Gott in der Geschichte“ und somit für alle Geschichtstheologie. Aus diesem Grund darf auch der hamartiologische Aspekt in der Geschichte nicht fehlen. Die Heilsgeschichte, die ihren Höhepunkt und Wendepunkt im Kreuz Christi hat, ist für ihn Grund und Ziel aller Geschichte158. Aufs Engste verknüpft ist Althaus’ geschichtsphilosophisches und -theologisches Denken mit seiner Vorstellung einer theonomen Wirklichkeit der Welt. Die Überzeugung von der Theonomie der Welt bildet das Fundament der Althausschen Geschichtstheologie. Gott als der „Herr der Geschichte“ begegnet innerhalb der Geschichte, zuerst in seinem Indikativ der gnädig-schöpferischen Gabe, sodann in seinem Imperativ der fordernden Aufgabe, die die Menschen zur geschichtlichen Tat, zu Liebe, Verantwortung und Dienst ruft und im Tiefsten auf die Gesinnung abzielt. Die Althaussche Verwendung des Theonomiebegriffs entspricht sowohl seiner konservativ-revolutionären Grundeinstellung als auch seiner geschichtsphilosophisch-eschatologischen Konzeption, die die Spannung zwischen dem „schon“ und dem „noch nicht“ positiv nutzen will. Althaus dient der Theonomiebegriff zum einen „zur Erschließung gegebener ethischer Ordnungsstrukturen bzw. Ordnungen der Welt als einer Welt Gottes“ und zum anderen zur Zielbestimmung einer gemäß eigener politisch-weltanschaulicher Prägungen und Präferenzen herzustellenden normativen Ordnung159. Dieser doppelten Verwendung des Theonomiebegriffs entspricht auch die Althaussche Ambivalenz in der Verwendung des Eigengesetzlichkeitsbegriffs. Hinter der Althausschen Theonomiekonzeption steckt eine starke Motivation, die bei Althaus, wie bei den meisten protestantischen Theologen dieser Zeit, gar nicht überschätzt werden kann: das Bestreben, die Leistungsfähigkeit der evangelischen Theologie für die Gesellschaft bzw. für das Volk herauszustellen160. Aus diesem Grund versteht sich Althaus als Theologe gerade auch als Kommentator und Interpret der Zeit, was auch erklärt, warum die jeweilige Tagespolitik in so starkem Maße auf ihn wirkt und besonders seine Geschichtstheologie beeinflusst. 158 So spricht Wenz, Offenbarung, 245 bei Althaus auch von einem „theo- und staurozen trische[n] Verständnis der Lehre von der Rechtfertigung“. 159 Graf, Theonomie, 236. Graf geht davon aus, dass in dieser Zeit allgemein die erstgenannte Verwendung des Theonomiebegriffs durch die zweite verdrängt wird. Für Althaus und seine sich herausbildende Ordnungstheologie trifft dies jedoch nicht ohne weiteres zu. 160 In 2610 Sinn, 27 ruft Althaus die Theologie dazu auf, sich mehr als bisher in den wissenschaftlichen Diskurs einzumischen: „Die Theologie […] bricht heute mit neuem Verantwortungsund Kraftbewußtsein aus ihrer Feste hervor. Sie stellt sich dem Kampfe im Blachfelde. Sie sagt ein eigenes Wort auch zu Gebieten, auf denen sie lange geschwiegen hat […]. Sie ringt um eine eigene Geschichtsdeutung und Naturbetrachtung.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Als Reaktion auf die politisch aufgeladene Zeit der 20er Jahre ist auch eine Theologie, die sich selbst als modern und zukunftsweisend versteht, eine politische. Zu diesem Zweck entwickelt er eine Geschichtsphilosophie und -theologie, die nah am Puls der Zeit mit ihren Problemen ist. Diese Probleme sind im Deutschland der Nachkriegs- und Nachversailleszeit vorrangig nationaler und sozialer Art. Auf diese nationalen und sozialen Fragen will er in der Überzeugung, mit der Geschichtstheologie den Schlüssel für die Lösung zu besitzen, den verunsicherten, desorientierten, desillusionierten, sozial vielfach deklassierten, im damals so wichtigen nationalen Ehrgefühl gedemütigten, politischen und religiösen Heilsbringern aller Couleur nachlaufenden Deutschen seine christlichen Antworten in Form einer politischen Theologie geben. Dass Althaus dabei angesichts eines als zunehmend säkularisiert empfundenen Volkes nicht zuletzt volksmissionarische Absichten hat, ist evident. Exkurs: Säkulare Gesellschaft und Volksmission – Althaus und die Apologetische Centrale Die Säkularisierung war für Theologie und Kirche der Weimarer Zeit das Grundübel der Moderne schlechthin. In der Überzeugung, mit der fortschreitenden Entkirchlichung und Entchristlichung der Gesellschaft zugleich ihre Entsittlichung und Entsolidarisierung zu bekämpfen, propagierten die kirchlichen Eliten die Rechristianisierung, die christliche „Wiedergeburt“ des deutschen Volkes. Die Erfahrungen einer sich zunehmend brutalisierenden Gesellschaft (politische Morde, Straßenschlachten) und die Erfahrungen einer, am Maßstab der verklärten „Volksgemeinschaft des August 1914“ gemessenen, zunehmend als entsolidarisiert empfundenen Gesellschaft (Propagierung des Klassenkampfes, Polarisierung durch zunehmende Ideologisierung) mussten beurteilt und verarbeitet werden. „In der historischen Umbruchssituation, die sich durch die Novemberrevolution 1918 mit dem Ende des Staatskirchentums ergab“, so Kurt Meier, „wurde die Notwendigkeit volkskirchlicher Neubesinnung und volksmissionarisch-kirchenreformerischer Aktivitäten geradezu virulent.“161
Zudem galt es, eine dezidiert christliche und protestantische Orientierung „im neuen, für die Zeitgenossen fast überbordend erscheinenden weltanschaulichen Pluralismus“162 der Weimarer Republik zu geben, einem Pluralismus, der sich 161 Meier, Volkskirche, 11. 162 Ziegert, Christ, 250. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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mit der allgemeinen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Krise des Landes weiter verstärkte. Die evangelische Kirche mit ihrer im Kaiserreich mehr oder minder tatsächlichen protestantischen Leitkultur sah sich in diesen Fragen in einer Vorreiterrolle. Für sie war die Rechristianisierung der Schlüssel für nahezu sämtliche Fragen der Zeit. Bei dieser Zielbestimmung schwangen die alten Hoffnungen auf Evangelisierung der ganzen Welt, wie sie auf der Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh formuliert, durch den Weltkrieg aber gedämpft wurden, deutlich nach. „Die Alternative Rechristianisierung statt Säkularisation“, so Martin Greschat, „gab Theologen und Kirchenführern ein Interpretationsmodell an die Hand, mit dem sie sowohl die gegenwärtige Situation in Deutschland als auch die zentrale Bedeutung der Kirche und ihrer Botschaft in diesem Kontext verständlich machen konnten. Die verwirrende Vielfalt des Erlebten, die irritierenden Fakten der Zusammenbruchsgesellschaft […] ließ sich auf diese zwei Positionen reduzieren. Das schuf Klarheit, Durchsichtigkeit. Und mit dieser Orientierung wuchsen Geborgenheit, Sicherheit und der Mut, den Alltag zu bestehen.“163
Dieses theologische Konzept war weder spezifisch deutsch, noch spezifisch lutherisch. Entwickelt wurde die Interpretationskategorie der Säkularisierung im Umfeld der Weltmissionskonferenz 1928 in Jerusalem, wo „zum missionarischen Einsatz gegen eine von Gott gelöste Seinshaltung“ aufgerufen wurde, „die mit dem Begriff ‚secularism‘ belegt wurde“164. Dazu schreibt Martin Greschat: „Bei den Überlegungen über das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen bestand bald Einigkeit darüber, daß man es gegenwärtig mit einer neuen ‚Religion‘ ohne Gott zu tun habe, die sowohl das Christentum als auch die Zivilisation bedrohte. Man bezeichnete diese Geisteshaltung zunächst als ‚Rationalismus‘, dann auch als ‚Materialismus‘ und schließlich als ‚Säkularismus‘. Bei diesem Vorgang handelte es sich insofern um einen Paradigmenwechsel, als nun auch die ‚zivilisierte Gesellschaft‘ als neues großes Missionsfeld in den Blick kam.“165
Nicht nur in der angelsächsischen, sondern auch in der deutschen Theologie wurde der Säkularismus zunehmend wichtig: „Von Jerusalem her hielt die Säkularismus-Formel Einzug in die kirchlich-theologische Literatur Deutsch 163 Greschat, Christenheit, 311 f. Was er im Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt, gilt mutatis mutandis für die Nachkriegsgesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. 164 Nowak, Säkularismus-Debatte, 39 f.; vgl. zeitgenössisch Schlunk, Höhen, 117–121. 165 Greschat, Christenheit, 312. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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lands.“166 Dort fiel dieses Interpretament auf einen fruchtbaren Boden. Denn der Wegfall des Staatskirchentums 1918 mit seiner „abrupt offenbar werdenden Entkirchlichung“ war von der Mehrzahl der Kirchenmänner und Theologen „als Schock erlebt“ worden, man sah in der weltanschaulich und religiös neutralen Weimarer Republik die protestantische Leitkultur massiv in Gefahr, die „Sorge zunehmender Schmälerung christlichen Einflusses auf die Öffentlichkeit“ prägte die protestantische Befindlichkeit167. Dazu kam die spezifisch deutsche Wahrnehmung einer nicht enden wollenden Nachkriegszeit als permanenter Krisenzeit, die den schon vor der deutschen Katastrophe 1918 vorhandenen konservativen Kulturpessimismus nochmals steigerte. So wurde die Neuzeit, insbesondere die Geschichte seit dem Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution als „Epoche des Verfalls und Abfalls von urtümlichen Bindungen“ betrachtet168. Manifest wurde dieser Eindruck anhand der rasant steigenden Kirchenaustrittszahlen nach 1918169. Der wachsenden Säkularisierung und Entkirchlichung Deutschlands wollte und musste man von kirchlicher Seite den Kampf ansagen, nachdem der eigene Einfluss mehr und mehr auf dem Spiel stand. Mit einer Gesellschaft, in der weite Teile dem christlichen Wahrheitsanspruch indifferent oder gar offen ablehnend gegenüberstanden, konnte und wollte man sich nicht arrangieren; dafür war die eigene Identität als „Volkskirche“ mit einem volkskirchlichen Auftrag für das ganze Gemeinwesen zu selbstverständlich. Auf die Frage, warum die Kirchen „mit einer solchen Hartnäckigkeit an ihrem Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Durchdringung“ festhalten, gibt Wolfram Pyta zwei aufschlussreiche Antworten: Zum einen nennt er den statistischen Befund, dass die Kirche allein schon aufgrund ihres tatsächlich noch vorhandenen Einflusses im öffentlichen Leben Grund zur Hoffnung hatte: „Es waren in der Weimarer Republik mehr als volkskirchliche Restbestände vorhanden, vielmehr noch stabile kirchliche Fundamente, die tragfähig genug erschienen, um die Basis eines ehrgeizigen Rechristianisierungsprogramms abzugeben.“
166 Nowak, Säkularismus-Debatte, 39 f. 167 Ebd., 43 f. 168 Ebd., 44. Eine Erklärung für diesen konservativen christlichen Kulturpessimismus macht Nowak in der Gesellschaftsdynamik aus: Je rascher diese voranschritt, „um so schwieriger war es für diejenigen, deren Denken von sakralen Kategorien beherrscht war, die immer rascheren Entwicklungsschübe zu verarbeiten. Die religiösen Bannflüche schlugen deshalb zurück auf Gestaltungen der modernen Gesellschaft wie Technik, Urbanisierung, Kultur, ‚Bolschewismus‘, ‚Amerika nismus‘.“ (ebd., 45). 169 Pöhlmann, Kampf, 62, spricht für die Zeit nach 1919 von einer „Verzehnfachung der Kirchenaustrittszahlen der Vorkriegsjahre“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Zum anderen erwähnt er die – auch und gerade für Althaus zutreffende – „national-protestantische Lutherdeutung“: „da Gott sich mit dem deutschen Volke vermittels der Reformation auf eine besonders enge Weise eingelassen habe, erstrecke sich der Anruf Gottes stets auf das Volksganze uns niemals nur auf die Einzelseele.“170 Entsprechend diesen volkskirchlichen Grundannahmen wurde Deutschland zum (lutherischen) Missionsland erklärt. „Die neue Devise hieß Volksmission: Sie sollte Evangelisation (die Glauben weckende Rede) und Apologetik (gedankliches Klären und Bewußtmachen) umfassen. […] Das Ziel sollte die Neuevangelisation der Massen sein. Der Apologetik fiel dabei die vorbereitende Aufgabe zu, die Evangelisation war die Hauptsache.“171
Institutionalisiert war die kirchliche Volksmission seit 1848/49 in dem durch Hinrich von Wichern initiierten „Central-Ausschuß für die Innere Mission“. Besonders durch Adolf Stoecker wurde die Volksmission zu einem der zentralen Arbeitsfelder der Inneren Mission und verband sich mit einer christlich bestimmten Sozialpolitik, ja mit Vorstellungen eines christlichen Sozialismus. „Stoecker wollte durch seine ‚Seelsorge an der Volksseele‘ den ‚verhängnisvollen Prozeß: erst Entkirchlichung, dann Entchristlichung, dann Entsittlichung‘ umgehen und ‚die rettende Kraft des Evangeliums in das Ganze unseres Volkes hineintragen‘.“172 Nach Theodor Strohm bildete „Volksmission“ den „Sammelnamen für ‚alle Arbeit der Kirche, die die Missionierung unseres evangelischen Volkes bezwecken [sic!] und umfaßt die besonderen Arbeiten des geordneten Pfarramtes, der Evangelisation, der Apologetik und die sogenannte öffentliche Mission‘.“173
Getragen von der Vorstellung, dass in der Volksmission „evangelistische und apologetische Arbeit nicht voneinander zu trennen sind“174, gründete der Central-Ausschuß 1921 die „Apologetische Centrale“ in Berlin, mit der sich die evangelische Kirche dem „Geisteskampf der Gegenwart“ – so der Titel einer älteren apologetischen Zeitschrift – stellen sollte. Die Schulungsarbeit nach innen und die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften und Weltanschau 170 Pyta, Dorfgemeinschaft, 235. 171 Ebd., 56. Er bezieht sich dabei auf Forderungen Gerhard Hilberts aus dem Jahr 1916. Ähnlich äußerte sich Ende der 20er Jahre Walter Künneth, der damalige Leiter der Apologetischen Centrale: „So will die Volksmission ‚erwecken, die Gewissen treffen‘, Menschen dazu verhelfen, zum persön lichen Glauben an Christus zu kommen; ihn zu stärken und zu vertiefen, ist die apologetisch-evangelistische Aufgabe der Volksmission.“ (ders., Art. Volksmission. In: Schweitzer, Carl (Hg.): Das religiöse Deutschland der Gegenwart 2. Berlin 1929, 236; zit. nach Pöhlmann, Kampf, 68, Anm. 78). 172 Strohm, Mission, 30. Strohm zitiert hier Stoecker. 173 Ebd., 34. 174 Schweitzer, Bericht, 30. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ungen nach außen war das Aufgabengebiet der Apologetischen Centrale175. Eine eigene christlich-protestantische Weltanschauung sollte unter anderem mit Hilfe der 1925 ins Leben gerufenen Zeitschrift „Wort und Tat. Hefte der Apologetischen Centrale für evangelische Weltanschauung und soziale Arbeit“ verbreitet werden176. Althaus, von jeher an apologetischen Fragen interessiert und 1925 auf der Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1925 in Stockholm erneut auf volksmissionarische Fragen gestoßen, beteiligte sich bereits als Rostocker Professor an der Arbeit der Apologetischen Centrale. Nicht ganz ohne Bedeutung dürfte dafür der Einfluss seines Rostocker Kollegen Gerhard Hilbert, einem der Vordenker der volksmissionarischen Arbeit, gewesen sein, mit dem sich Althaus die Stelle des Universitätspredigers teilte177. Dessen Forderung nach vorbereitender Apologetik und daran anknüpfender Evangelisation setzte Althaus, der seinerseits bereits während des Krieges ein volksmissionarisches Anknüpfungskonzept verfolgte, noch in Rostock in die Tat um178. Sein Aufsatz „Die Kirche“ im „Evangelischen Sonderheft“ der konservativen Zeitschrift „Die Tat“ wurde 1924, neben den Beiträgen anderer Theologen, auf Betreiben der Apologetischen Centrale abgedruckt179. Zweimal nahm Althaus an den „Berliner Weltanschauungswochen“ der Apologetischen Centrale teil, im April 1925 mit einem Vortrag über „Christentum und nationaler Wille“ und im Februar 1926 über „Luther“180. Letztgenannter Vortrag musste wegen des großen Hörer andrangs ins Berliner Auditorium Maximum verlegt werden. 1929 veröffentlich Carl Schweitzer, der Gründer und erste Leiter der Apologetischen Centrale in seinem Sammelband „Das religiöse Deutschland der Gegenwart“ von Althaus den Beitrag „Die Theologie“. Explizit apologetischer Natur ist auch Althaus’ Auseinandersetzung mit der anthroposophischen „Christengemein 175 Zum weltanschaulichen Pluralismus in Weimar schreibt Pöhlmann, Kampf, 36: „Im ‚religiösen und weltanschaulichen Leerraum‘ der Weimarer Republik konkurrierten mit den Kirchen vielfältige politische Ersatzreligionen, aber auch okkultistische, völkisch-religiöse, freidenkerische und esoterische Bewegungen.“ 176 Zu dieser „apologetischen, sozialen, aber auch volksmissionarischen Grundsätzen“ verpflichteten Zeitschrift vgl. Pöhlmann, Kampf, 116–119.229–233. Beim 1930 aufkommenden, aber aufgrund mangelnder finanzieller Möglichkeiten gescheiterten „Plan zu einer sozialethisch-sozialkirchlichen Zeitschrift in Verbindung mit ‚Wort und Tat‘“ war auch Althaus als engerer Mitarbeiter vorgesehen (ebd., 117 f.). 177 Zu Hilbert als Vordenker der Volksmission vgl. Pöhlmann, Kampf, 55–57. 178 Vgl. seine Vorträge vor der Rostocker akademischen Jugend: 2001 Jugend, 2103 Feuer, 2105 Kreuz; und 2404 Jesus; vgl. Kap. III, 3. 179 Vgl. Schweitzer, Bericht, 32. 180 Vgl. Schweitzer, 2. Bericht, 19. Zu den „Weltanschauungswochen“ vgl. Pöhlmann, Kampf, 105–109. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schaft“, die er 1930/31 führte181. Als die Apologetische Centrale mehr und mehr die Masse als Zielgruppe definierte und ihre volksmissionarischen Hoffnungen zunehmend auch auf neue Medien setzte, stand Althaus auch an diesem Punkt nicht zurück und hielt im Oktober 1929 einen Rundfunkvortrag über „Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Reformation“182. Neben diesem Engagement bei der Apologetischen Centrale in Berlin arbeitete Althaus seit Anfang der 20er Jahre zudem beim „Apologetischen Seminar Wernigerode“ mit, einer betont lutherischen und akademischen apologetischen Arbeitsgemeinschaft. Das „Apologetische Seminar“ war nach Matthias Pöhlmann „im Sommer 1909 unmittelbar aus der praktischen Arbeit der Allgemeinen Evangelisch-lutherischen Konferenz hervorgegangen.“183 Althaus bezeichnet es 1934 rückblickend als „eine Zeitlang […] wichtigste theologische Ferienveranstaltung Deutschlands“184. Alljährlich fanden Herbsttagungen in dem Harz-Städtchen statt, 1923 zog man aus Kostengründen nach Helmstedt um, 1932 firmierte man nach erneutem Umzug als „Lutherakademie Sondershausen“185. Als 1920 Carl Stange die Leitung übernahm, konnte er auch Althaus als Dozenten gewinnen186. Stange rief auch die Buchreihe „Studien des apologetischen Seminars in Wernigerode“ ins Leben187, in der 1922 auch Althaus’ Erstauflage der „Letzten Dinge“ erschien. Das Apologetische Seminar und seine Buchreihe wandten sich an ein begrenztes Fachpublikum. Weitere Kreise erreichte die mit dem Seminar institutionell verbundene, ab 1923 erscheinende „Zeitschrift für Systematische Theologie“, die Althaus mit herausgab. Ein „evangelischer Öffentlichkeitswille“ (Carl Schweitzer), der auf die Rechristianisierung der deutschen Gesellschaft abzielte, war somit auch Althaus zu Eigen. Außer theologischen Gründen führt Althaus daher auch eine apologetische Motivation188 zu seiner geschichtsphilosophischen und -theologischen Kon 181 Vgl. 3016 Stellung. Zur „Christengemeinschaft“ vgl. Pöhlmann, Kampf, 151–158. 182 2913 Bedeutung. 183 Pöhlmann, Kampf, 84. 184 3412 Einigung, 114. 185 Zur Lutherakademie Sondershausen vgl. Mikosch, Hakenkreuz. 186 Folgende Althausschriften erwuchsen direkt aus dieser Dozententätigkeit: 2104 Sozialismus; 2201 Dinge; 2410 Vater; 2409 Heilsgeschichte; 2609 Mission; und 3412 Einigung. 187 Im Umschlagtext zu 2104 Sozialismus erfahren wir, die „Studien“ „wenden sich an alle Gebildeten, denen die Verinnerlichung unserer Kultur am Herzen liegt und gegenwärtig mehr als je notwendig erscheint. Sie wollen mit dazu helfen, daß die Ideen der christlichen Weltanschauung in ihrer Bedeutung für das Leben des einzelnen und das Leben der Gemeinschaft erkannt werden und zur Geltung kommen.“ 188 Zum „Neuansatz der theologischen Apologetik in der Zeit der Weimarer Republik“ vgl. Dieterich-Domröse, Weltanschauungslehre. Über Althaus schreibt er, dieser versuchte „in einer doppel© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zeption. Deutlich macht Althaus dies in einer Rezension zu Reinhold Seebergs Dogmatik. Dort beklagt er an der Theologie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die „Isoliertheit gegenüber dem allgemeinen Geistesleben“. Man habe dort zwar stets die Selbständigkeit des Christentums betont, aber „nicht ebenso ernst seinen alles Erkennen und Leben durchdringenden Wahrheitsanspruch; die ‚natürliche Theologie‘, d. h. die Gottesbezeugung in der Natur, Geschichte, Religionsgeschichte wurde meist gering geachtet und es schien vielfach so, als wisse man erst durch Christus von Gott. Die Aufgaben christlicher Natur- und Geschichtsdeutung ließ man liegen. Diese Isolierung und Beschränkung der theologischen Arbeit hat die Kirche in der Erfüllung ihres Berufes schlimm gelähmt. Die unerfüllten Aufgaben aber […] machten sich nun ohne und gegen die Theologie geltend: der religionsgeschichtliche Relativismus unserer Bildungswelt, der religiöse Sozialismus, die Anthroposophie und ‚Christengemeinschaft‘ als Tatsachen bezeugen […] alle ein Versagen der Theologie.“189
Dem versuche nun Reinhold Seeberg mit seiner Dogmatik entgegenzuwirken: „S[eeberg] weiß, daß die Gotteswirklichkeit das Ganze des Lebens und der Welt betrifft, daß der Theologie die Naturphilosophie, die Sozial- und Geschichtsphilosophie nicht einfach ihre Wege gehen lassen kann. […] Der Wille zur Weite und zur Einheit der Erkenntnis stellt S[eeberg]s Buch mitten in die Gegenwart und ihr besonderes geistiges Anliegen hinein. Wir Jüngeren wollen hier durchaus den gleichen Weg gehen.“190
Dieser Weg führt den jungen Rostocker Systematiker in den frühen 20er Jahren vermittels seiner ethisch ausgerichteten Geschichtsphilosophie und -theologie mehr und mehr hin zu seiner späteren Ordnungstheologie einerseits191 und zu seiner Uroffenbarungslehre andererseits.
seitigen ‚Theologie der Kultur‘ durch die Ausbildung einer ‚christlichen Weltanschauung‘ und durch die Ausarbeitung eines neuen Konzeptes einer ‚natürlichen Theologie‘ eschatologische Kulturdistanz mit einer christlichen Begründung von Kultur zu vereinen“ (ebd., 124 f.). Dieser Befund entspricht dem allgemeinen Althausschen synthetischen Vorgehen auf einem von ihm gesehenen Mittelweg. 189 2505R Seeberg, 433 f.; Hervorhebungen von Althaus. 190 Ebd., 434; Hervorhebung von Althaus. Weiter schreibt er, „es tut uns heute im Zeitalter der dialektischen Theologie gut, sehr kräftig an die Vermittlung der göttlichen Berufung durch die Geschichte erinnert zu werden“ (ebd., 438). 191 Zur „Frage der Lebensordnungen“ schreibt Althaus in 2909 Theologie, 149: „Die theologische Ethik wird jetzt die wichtigste theologische Disziplin. Eine neue Ethik des Geschlechtsverhältnisses und der Ehe, des Wirtschaftslebens, der Volksgemeinschaft, des politischen Lebens muß erarbeitet werden. Die Ratlosigkeit und Verwirrung auf allen diesen Gebieten drängt zur Arbeit.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
5. „Staatsgedanke und Reich Gottes“ – oder: Berufsgedanke und Reich Bismarcks Wenn Paul Althaus zu Beginn der 20er Jahre den Versuch unternimmt, aus theologischer Sicht eine deutsche Staatsidee zu formulieren, so tut er dies in einer Phase politischer Orientierungslosigkeit in Deutschland. Die alte Staatsform der Monarchie ist mit der Katastrophe von 1918 endgültig am Ende, die neue Staatsform der Demokratie wird von einem großen Teil des deutschen Bürgertums als von den Siegern des Weltkriegs oktroyiert und damit fremd empfunden und abgelehnt. Zu sehr haftet ihr der Ruch von Versailles an, zu sehr gilt sie als Ausdruck der westlichen und damit nichtdeutschen Staatsauffassung. Für die evangelischen Theologen und Kirchenmänner ergab sich die zusätzliche Problematik, dass mit dem Ende der Monarchie auch das überkommene Staatskirchentum mit seiner engen Verknüpfung von „Thron und Altar“ und der daraus resultierenden privilegierten Stellung der Kirche vorbei war und man sich nunmehr an die neuen, ungewohnten und im Grunde abgelehnten Spielregeln der pluralistischen Gesellschaft der Weimarer Demokratie halten musste, um überhaupt als politischer, kultureller und sittlicher Faktor wahrgenommen zu werden. Von einer „Krise des Staatsbegriffs“ (Emanuel Hirsch) war im Protestantismus insofern die Rede, als die Entkopplung von „religiösen Legitimationsmustern und staatlicher Macht, wie sie im Gedanken der ‚Obrigkeit von Gottes Gnaden‘ formuliert war und in der Monarchie konkrete Gestalt gewonnen hatte“, als „massiver Einflußverlust und bedrohliche Auflösung der sittlichen Grundlagen der Gesamtkultur“ verstanden wurde1. 5.1 Die theologische Antwort auf die Krise des deutschen Staatsgedankens und die Auseinandersetzung mit Karl Barth Hat Althaus 1921 in der Auseinandersetzung mit den Religiösen Sozialisten noch großen Wert auf die Unterscheidung von Welt und Reich Gottes gelegt, so kommen sich geschichtliche und übergeschichtliche Wirklichkeit in seiner neuen sozialethischen Schrift „Staatsgedanke und Reich Gottes“ 1923 merklich 1 Tanner, Verstaatlichung, XVI. Das „Problem der Legitimität staatlicher Machtausübung“ führt Tanner zurück auf die „Ablösung der politischen Ordnung als solcher von ihrer geistlichreligiösen Bestimmung und Durchformung, ihre ‚Verweltlichung‘ im Sinne des Heraustretens aus einer vorgegebenen religiös-politischen Einheitswelt zu eigener, weltlich konzipierter […] Zielsetzung und Legitimation“ (ebd., XIII). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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näher. Der Grund dafür ist nicht zuletzt in der Althausschen Gegenposition zu Karl Barth und dessen Weggefährten der aufkommenden Dialektischen Theologie zu finden2. Das frühe dialektisch-theologische Konzept der vollkommenden Übergeschichtlichkeit des Christentums, das in keinerlei Beziehung zur Geschichte steht außer der Negierung und das folglich der als gänzlich säkular verstandenen Welt ethisch wenig zu sagen hat, ist für Althaus unvorstellbar und in der Praxis unerträglich. Abgewertet sieht er die Politik dort als „ein Spiel um menschliche Möglichkeiten, an das man den letzten Ernst nicht setzt, mit dem man den Namen Gottes nicht zusammenbringt.“3 In dem Maße, wie sich Barth zu Beginn der 20er Jahre von den Religiösen Sozialisten gelöst und theologisch völlig neue, eigene Wege eingeschlagen hat, verlagert sich auch für Althaus die Hauptgegnerschaft vom Religiösen Sozialismus zur Dialektischen Theologie4. Die Gefahr, die Althaus von dieser neuen Theologie ausgehen sieht, steht für ihn im Zusammenhang mit der „Krise nicht nur des deutschen Staates, sondern auch des deutschen Staatsgedankens“5 seit dem verlorenen Krieg. Letztlich ist die Barthsche Theologie für ihn die Zuspitzung dieser Krise. Bereits auf der ersten Seite macht Althaus seinen Lesern demgegenüber klar, welchen Staatsgedanken er für erhaltenswert hält und neu beleben will: Es ist „der Staatsgedanke, wie er in der großen Zeit deutscher Befreiung und deutscher Einigung Geschichte wirkte […], der Staatsgedanke Fichtes und Hegels, Rankes, Bismarcks und Treitschkes, der 1914 das Heer der Kriegsfreiwilligen hinausrief und draußen aufrecht erhielt“6.
Es ist der Staatsgedanke des „langen 19. Jahrhunderts“, den Althaus schon im „Religiösen Sozialismus“ als „das organisch-aristokratische Staatsideal“ gegen den westlichen Parlamentarismus in Erinnerung gerufen hat, welches er schon 2 Zu diesem Urteil kommt auch Schwarke, Althaus, 144, wenn er schreibt: „Die Betonung der Gegenwärtigkeit Gottes, die zum eigentlichen Kern der Althausschen Theologie in der Auseinandersetzung mit Barth wird, führt Althaus bereits 1923 zu Formulierungen, in denen die vormals primäre eschatologische Differenz von Gottesreich und Welt zur Nebensache reduziert wird“. 3 2305 Staatsgedanke, 7. Weiter heißt es dort über die Dialektische Theologie: „Gott – so verkündet die neueste Richtung in der Theologie – ist der ‚ganz andere‘. Die Synthesen von Gott und Welt, Religion und Kultur, Gott und Vaterland fallen dahin. Abstand, Diastase ist das Wort des Tages.“ 4 Noch im „Religiösen Sozialismus“ hat Althaus zwei Jahre zuvor Barth wesentlich positiver eingeschätzt. Die zwischenzeitliche Entwicklung bei Barth spiegelt sich hier deutlich wider. 5 2305 Staatsgedanke, 5. 6 Ebd. Eine mögliche Erklärung für die Krise gibt Althaus hier ebenfalls gleich mit: Er sieht sie zum einen im „seelische[n] Gegenstoß des Individualismus gegen die […] Überspannung des Staatsgedankens in mehr als vier Kriegsjahren“, zum anderen darin, daß sich für viele „mit dem Zusammenbruch im Herbste 1918 der Eindruck eines schweren Gerichtes“ über die deutsche Geschichte verbindet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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1921 als „tief in der deutschen Geschichte und deutschem ständischem Denken begründet“ betrachtete. Es ist demzufolge kein Zufall, wenn Althaus seine sozialethischen Gedanken zu Beginn des Jahres 1923 in der Reihe „Schriften zur politischen Bildung“ veröffentlicht, die die „Gesellschaft ‚Deutscher Staat‘“ seit Beginn der 20er Jahre herausgibt. Diese hat es sich nach der im Heft befindlichen Verlagsangabe zur Aufgabe gemacht, „eine deutsche Staatslehre als Gemeingut schaffen [zu] helfen, um so dem deutschen Volke wieder ein lebendiges, deutsches Staatsbewußtsein zu geben.“7 In der „Katastrophenstimmung“, die Deutschland seit der Niederlage und der Revolution gefangen hält, erscheine „alles, was an politischen Idealen in dem Deutschland Bismarcks wie selbstverständlich galt, […] gerichtet und verworfen.“8 Besonders schwer trägt Althaus an der damit einhergehenden Kritik des Luthertums, dessen Theologie habe einem militaristischen Nationalismus Vorschub geleistet9. 7 Weitere Informationen zur „Gesellschaft ‚Deutscher Staat‘“ lassen sich einer Rezension zu Althaus’ Schrift von Magdalene von Tiling in der DNVP-nahen Zeitschrift „Der deutsche Führer. Nationale Blätter für Politik und Kultur“ 2 (1923), 1. Märzheft 1923, 132, entnehmen. Dort schreibt sie: „Aus dem tief empfundenen Mangel eines religiös, geschichtlich und philosophisch begründeten Staatsbewußtseins, […] ist die ‚Gesellschaft deutscher Staat‘ entstanden, in der sich Professoren aller Fakultäten und Männer des praktischen Lebens zusammengefunden haben zur Erforschung der Grundbedingungen völkischen und staatlichen Lebens. […] Die Gesellschaft arbeitet in Haupttagungen […] und durch die Schriftenreihe: ‚Zur politischen Bildung‘.“ Zu Magdalene von Tiling vgl. Schneider-Ludorff, von Tiling. Ob Althaus selbst der „Gesellschaft ‚Deutscher Staat‘“ angehört, lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Die Rezension ist zum einen ein Hinweis darauf, in welchen Kreisen Althaus rezipiert wurde, zum anderen lässt sie Rückschlüsse auf die genaue Datierung von „Staatsgedanke“ zu. Zusammen mit der Literaturangabe eines Aufsatzes vom November 1922 (45, Anm. 1) lässt sich die Abfassung bzw. Veröffentlichung auf den Zeitraum Dezember 1922 bis Februar 1923 festlegen. 8 2305 Staatsgedanke, 5. So werde der „nationale deutsche Staatsgedanke, insonderheit die politische Ethik Bismarcks“ als „tiefste Schuld an der Weltkrise“ gebrandmarkt (ebd., 5 f.). 9 So beschreibt er die Position der Gegner mit den Worten: „Dabei wird das Luthertum immer verdächtiger und fragwürdiger. Es hat dem nationalen Willen, ja dem nationalen Kriege seinen ideologischen Heiligenschein gegeben. Es hat eine ‚Kriegstheologie‘ möglich gemacht.“ Darüber hinaus habe „die Kirche Deutschlands Waffen gesegnet, allzu beflissen den Kriegswillen als Gottes Ruf und Willen verklärt, zum Durchhalten im Streite gerufen und das Werk der Völkerversöhnung nicht mit einem Finger angerührt. So vermochte nur ein Luthertum zu handeln, das das Evangelium vergessen hatte“ (ebd., 6 f.). Wen Althaus mit diesen Kritikern besonders im Blick hat, wird deutlich anhand einer Rezension, die er kurz zuvor im Herbst 1922 verfasste. Dort gibt er den Religiösen Sozialisten Georg Wünsch und dessen Auffassung wieder, das Luthertum habe „dem rücksichtslosen Kapitalismus und Imperialismus den Freibrief der Eigengesetzlichkeit“ gegeben und habe dazu beigetragen, „‚die im Nationalismus sich offenbarenden völkischen Raub- und Raufinstinkte mit dem für die Masse notwendigen ideologisch-religiösen Überbau zu versehen‘.“ (2207R Wünsch, 117). Mit einer radikalen Kritik an Bismarck und insbesondere am Luthertum, die in seinen Augen zu diesem Zweck das Lutherbild völlig verzeichnet, setzt er sich auch in 2502 Haltung, 144 f. auseinander. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Seine Verteidigung des „deutschen Staatsgedankens“ und mit ihm verbunden des deutschen Luthertums in „Staatsgedanke und Reich Gottes“ baut Althaus in seinem ergänzenden Aufsatz „Zum Problem des Krieges“ 1925 weiter aus und geht dabei in die Offensive: „Überall in der Welt hat man uns Deutsche wegen des ‚deutschen Staatsgedankens‘, wegen Bismarcks und Treitschkes als die brutalen und gewissenlosen Machtpolitiker verdächtigt. Wollen wir unsere Vergangenheit abschwören, Bismarck und Treitschke, das Preußentum und den ‚Militarismus‘ grundsätzlich und im ganzen (nicht in Einzelheiten, wo wir sie gewiß nicht durchweg verteidigen können!) verleugnen und den deutschen Staatsgedanken preisgeben, aus dem alles Große unserer politischen Geschichte im 19. Jahrhundert geworden ist?“10
Nach dieser rhetorischen Frage verweist Althaus darauf, dass der „deutsche Staatsgedanke“ „auf dem Boden der lutherischen Kirche gewachsen“ sei und „selber ohne Frage ein Stück Luthertum“ bedeute11. „Wir wissen“, fährt Althaus mit Bestimmtheit fort, „daß das Verhältnis der Nationen, wie immer es sich gestalte, gesund nur dann werden kann, wenn nicht die katholische Staatslehre, nicht die anglo-calvinistische Reich-Gottes- und Völkerbundideologie, sondern das Beste der deutschen, auf lutherischem Boden erwachsenen Staatsphilosophie Gemeingut der Völker wird.“12
Dafür gelte es, als lutherischer Theologe das Wort zu ergreifen: „So wartet derjenigen unter uns, die in diesen Jahren auf internationalen Tagungen, im Briefwechsel, als Schriftsteller zu dem Auslande reden und Fühlung suchen, eine gewaltige Geistesaufgabe. Es gilt nichts geringeres, als den anderen das Verständnis für die Wahrheit und Würde des ‚deutschen Staatsgedankens‘ abzuringen.“13
Um eine genaue Verhältnisbestimmung von „Staatsgedanke und Reich Gottes“ vornehmen zu können, gibt Althaus eine Begriffsbestimmung dessen, was 10 2506 Problem, 62. 11 Ebd., 64. Für ihn gehört „das Ringen um das Verständnis der anderen“ „wesentlich zu dem innerevangelischen Kampfe hinzu, den wir deutschen Lutheraner um den Reich-Gottes-Gedanken mit dem Anglo-Calvinismus führen müssen. Von da aus sollte man es verstehen und nicht verlästern, daß gerade lutherische Theologen heute in der vordersten Reihe des Kampfes für den deutschen Staatsgedanken stehen.“ 12 Ebd. Er fügt hinzu: „Der Anglo-Calvinismus, die Schweizer und Holländer müssen einsehen lernen, daß die deutsche Staatslehre und Bismarcks Politik in ihrer Weltlichkeit, ihrem Verzichte auf die demokratisch-christliche Ideologie des westlichen Reich-Gottes-Gedankens, in ihrer Offenheit und ihrem Realismus […] viel wahrhaftiger, ja viel ‚christlicher‘ war, als die pazifistisch-christliche Ideologie der Angelsachsen“ (ebd., 63). 13 Ebd., 62 f. Dies ist für ihn „ein wichtiger Teil unserer Sendung, unseres Dienstes an den anderen.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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er unter Staat und Reich Gottes versteht. Nicht schwer fällt ihm die Antwort bei Erstgenanntem: „Staat, ‚von innen gesehen‘, bedeutet eine von Macht getragene rechtliche Ordnung, ‚die für fest angesiedelte Menschen eines gewissen Gebietes gilt‘.“14 „Staat, ‚von außen gesehen‘, bedeutet die Zusammenfassung dieses ‚Volkes‘ für das Leben in der Geschichte. Er ist die Form, in der ein Volk Geschichte erlebt.“
Schwerer tut sich Althaus bei der Erklärung dessen, was Reich Gottes bedeutet, denn er weiß, „daß die Frage nach dem Wesen des ‚Reiches Gottes‘ zur Stunde das eine große Grundproblem des Christentums und seiner Theologie ist.“15 Den Inhalt des Reich-Gottes-Begriffs sieht er als weniger umstritten an: „Reich Gottes ist Herrschaft Gottes. Es ist dort, wo Menschen in Demut, Furcht und völligem Vertrauen in allem ihrem Wesen und Handeln auf Gott bezogen sind. Diese Gottbezogenheit gibt sich kund in der Freiheit von allem, das an sich selbst binden will, in der Freiheit zu allem, was Gottes ist, vor allem in der Freiheit zur Freude, zum Dienst, zur echten Gemeinschaft.“
Der Streit um den Reich-Gottes-Gedanken entzündet sich nach Althaus gerade „um den geschichtsphilosophischen Ort des Reiches Gottes, d. h. um sein Verhältnis zur Geschichte, zum Kulturwerk der Menschheit, zu Recht und Staat.“16 Gegen die von Barth und der Dialektischen Theologie propagierte radikale Diastase zwischen Gott und Welt bzw. Gott und Geschichte betont Althaus die Bezogenheit der Geschichte auf Gott und sein kommendes Reich: „Gottes Reich will – so wagen wir seinen Willen zu deuten – in der Geschichte kommen (wenn auch nicht sich vollenden), z. B. dadurch, daß lebendige Personen, mit ganz konkreten Kräften, Anlagen und Zielen ein ihnen befohlenes Werk im Zusammenhange und in Gemeinschaft mit anderen wirken. […] Glauben und Liebe sollen wir mitten in der ganz konkreten Geschichte beweisen, in der Hingabe an ernste Aufgaben, allerdings auch in der innersten Freiheit von ihnen. Die Geschichte mit ihren Werken und Bindungen ist der Ort und daher eine Voraussetzung des Reiches Gottes.“17 14 2305 Staatsgedanke, 9. Er zitiert hier Stammler, Rudolf: Lehrbuch der Rechtsphilosophie. Berlin 1922, § 136. 15 Ebd., 9 f. 16 Ebd., 10. 17 Ebd., 14. Ganz konkret wirft er Barth ein einseitiges und daher mangelhaftes Gottesbild und Geschichtsverständnis vor: „Gott ist der Herr der Geschichte, das heißt ihr Schöpfer und ihr Gericht (also nicht nur dieses!), ihr Sinn und ihre Grenze. Die Ewigkeit ist das Übergeschichtliche, das heißt nicht: die Verneinung der Geschichte, ihr Abbruch nur, sondern wiederum: ihr Sinn und ihre © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Notwendige Voraussetzung des geschichtlichen Lebens, so Althaus weiter, ist aber die Rechtsordnung: „Geschichte ist nur da möglich, wo es Stetigkeit, Freiheit und Zusammenwirken zu gemeinsamen Werken gibt.“ Die Rechtsordnung sichert für ihn zum einen Berechenbarkeit und zum anderen Freiheit voneinander, die nötig ist zum gegenseitigen freien Dienst aneinander. Zum Dritten bedarf es der „Sicherung des Gesamtwillens gegen Einzelbestrebungen“, damit „der Zusammenschluß zu gemeinsamem Wirken“ nicht an der „Vielheit und Verschiedenheit der Zielsetzungen“ – so sehr diese auch dem „Reichtum der geistigen Schöpfung Gottes“ entspringen – scheitert18. Somit ist für ihn eine Rechtsordnung und folglich auch ein Staat notwendig, der diese Rechtsordnung garantiert und schützt: „Da ist Zwang durch Macht unerläßlich. Soll überhaupt Geschichte sein, so sind Befehls- und Verantwortungsverhältnisse nötig.“19 Althaus ist sich im Klaren darüber, dass er mit seiner Begründung der Notwendigkeit der Rechtsordnung und des staatlichen Zwangs über die Begründung Luthers mit der Bekämpfung der Macht des Bösen in der Welt hinausgeht. Diese sind für ihn „viel elementarer und breiter in den Grundbedingungen alles höheren geschichtlichen Lebens“20 begründet. Aus dieser elementaren Notwendigkeit folgert er nun, dass das „Recht samt den Befehlsverhältnissen“ „die Würde einer Gabe Gottes und den Ernst seines Willens“ besitzen21. Althaus ist sich dabei des Problems eines reinen Positivismus, der die ge gebene Wirklichkeit unkritisch religiös überhöht, durchaus bewusst, wenn er in seiner Argumentation versucht, Form und Inhalt zu trennen: „Nicht einfach das ‚Gegebene‘ nennen wir Schöpfung Gottes. ‚Gegeben‘ sind auch die Mächte und Lebensformen des Bösen. […] Selbstverständlich handelt es sich dabei nieGrenze.“ (ebd., 15; Hervorhebungen von Althaus). Auch wenn er der Dialektischen Theologie zugute hält, sie sei „ein für den liberalen Protestantismus heilsamer Gegenstoß gegen das kultur- und geschichtsfrohe Diesseitschristentum der Vorkriegsjahrzehnte“, so setzt er sich dennoch mit Nachdruck von Barths Position ab. Beide Extrempositionen will Althaus mit seiner Mittelposition überwinden. 18 Ebd., 16 f. 19 Wenn Althaus hier so großen Wert auf die Notwendigkeit von Zwang und Gewalt bei der Staatsführung legt, spiegelt sich darin ohne Zweifel die Erfahrung der als chaotisch und gewaltsam erlebten Anfangsjahre der Weimarer Republik wider, wo Umsturzversuche von links und rechts und politische Morde beinahe wöchentlich das Staatswesen gefährden und damit eine heute unvorstellbare Brutalisierung der deutschen Innenpolitik zur Folge haben. So schreibt er: „Die Führenden haben die Pflicht, Gegner ihrer Ziele, wenn sie die Stetigkeit des Gesamthandelns stören, zu vergewaltigen. Wir erleben es jetzt in Deutschland reichlich, daß die Gewalt nicht nur gegenüber dem Unrecht, sondern ebensosehr gegenüber dem politischen Gegner, der das Gesamthandeln in Frage stellt, ihre Aufgabe hat.“ (ebd., 17). Nachdem dieses „Gesamthandeln“ aber in Beziehung zum göttlichen Willen steht, wird auch die Gewaltanwendung zumindest indirekt theologisch gerechtfertigt. 20 Ebd., 17. 21 Ebd. Zum Recht als Schöpfungsordnung vgl. 2806 Leitsätze, 56–60. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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mals um die religiöse Verklärung eines bestimmten Rechtsinhaltes, einer bestimmten Verfassungsform, sondern um die Heiligkeit des Rechts- und Staatsgedankens überhaupt.“22 Mit der von Althaus angenommenen Heiligkeit des Rechts- und Staatsgedankens und ihrer Bezogenheit auf das Reich Gottes, ist nun der seiner Meinung nach nur scheinbare Dualismus von einerseits Staat und Rechtsordnung, die ohne Zwangsgewalt nicht denkbar sind, und andererseits Reich Gottes, wo nur die „Freiheit in der Liebe“23 herrscht, überwunden. Geschichte und Reich Gottes lassen sich dadurch zusammendenken, beide bedingen sich gegenseitig: „Die Welt des Rechtes bedarf des Reiches Gottes. Zunächst sind die sittlichen Gedanken ständig als Unruhe in der Rechtsgeschichte wirksam. […] Sodann bedarf die staatliche Rechtsordnung sittlicher Gesinnung bei den Gehorchenden, aber auch bei den Befehlenden.“24
Weil nach Althaus Reich Gottes da ist, „wo man Gott gehorcht in selbst loser Hingabe“, ist für ihn „die Rechtsordnung, die Grundbedingung der Geschichte, in der sein Reich werden will“, göttlicher Wille, dem es zu gehorchen gelte25. Bei all dem gibt sich Althaus als idealistischer Realist: „Daß ein gut Teil heutiger und vergangener Politik entartet und verroht ist, darf uns nicht irre machen an dem hohen Ethos, auf das die Politik angelegt ist, dessen sie harrt, das sie von Männern religiösen Verantwortungsernstes erwartet.“ „Das Ideal leuchtet uns vor und wir glauben an seine sittliche Möglichkeit.“26
Dabei gibt er zu bedenken, dass man nicht „zu schnell die bisher erlebte Politik mit dem Wesen der Politik überhaupt“27 gleichsetzen dürfe, auch wenn die 22 2305 Staatsgedanke, 17; Hervorhebung von Althaus. Er schreibt weiter: „Kein einzelner Rechtsinhalt als solcher darf gegenüber neuen Gedanken im Namen Gottes verteidigt werden. Er hat an dem Wechsel, der Bedingtheit und Vergänglichkeit aller geschichtlichen Lebensbeziehungen Anteil. Es besteht geradezu die Pflicht, das Recht lebendig zu erhalten, immer wieder zu reformieren, ja vielleicht nicht selten einmal zu revolutionieren.“ 23 Ebd., 11. 24 Ebd., 18. Den gleichen Gedanken vertritt Althaus in 2502 Haltung, 153 f. auch in Bezug auf das Verhältnis von Evangelium und sozialer Frage: „Freilich ist das Verhältnis des Evangeliums zur sozialen Lage ein durch und durch dialektisches. Das Evangelium gibt dem Menschen nicht nur den Glauben, sondern auch die Liebe. […] Das Evangelium ist nicht nur die Ruhe, sondern auch die Unruhe der Sozialgeschichte.“ 25 Ebd., 19. Auf einer Linie mit dem Gehorsamsbegriff steht bei Althaus der Begriff des Dienstes, beide korrespondieren mit dem Reich-Gottes-Begriff: „Nicht die Liebe, sondern der Dienst Gottes ist der alles umfassende Gedanke der Ethik, der genau dem Begriffe des Reiches Gottes entspricht.“ (ebd., 20). 26 Ebd., 47. 27 Ebd., 29. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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gegenwärtigen Erfahrungen und die der unmittelbaren Vergangenheit schnell den Schluss nahelegen, „diese Politik und das Reich Gottes stehen in hartem, unversöhnlichem Gegensatz.“ Er versteht darunter „das politische Treiben der Gegenwart, im Staate und zwischen den Staaten, […] die treibenden Kräfte bei den Kriegen und ‚Friedens‘-Schlüssen, den Bündnissen und Konferenzen, die wir erleben“28. Deutlich spricht aus seinen Worten zum einen die Abneigung gegen den dem Deutschen Reich oktroyierten Vertrag von Versailles und gegen die vielfach ungerechte Behandlung Deutschlands durch den Völkerbund der Sieger des Weltkriegs. Zum anderen spürt man seinen Ausführungen aber auch die Abscheu gegenüber den innenpolitischen Verhältnissen in der als schwachem Staat empfundenen Weimarer Republik ab, wo in den Parlamenten die Ideologien der Parteien hart aufeinanderprallen und wo auf den Straßen durch Revolutionsversuche von Links und Rechts und durch politische Morde Gewalt, Mord und Totschlag beinahe auf der Tagesordnung stehen. Die pazifistische und sozialistische Lösung des Gott-Welt-Dualismus, nämlich die „fortschreitende Synthese“29 durch „christliche Politik“ lehnt Althaus jedoch – und dieser Gedanke ist bei ihm mittlerweile zum ceterum censeo geworden – vehement ab. Auch wenn er zugibt, „daß die europäisch-amerikanischen Völker zurzeit unleugbar in der Entwicklung zu überstaatlichen Gruppen und Verbänden stehen“30, so stellt diese für ihn „keineswegs“ „einen ethischen Fortschritt“ dar, sondern zeigt vielmehr an, dass „damit biologisch [ein] neues Stadium der Geschichte im Sinne Spenglers erreicht“ ist31. „Wer gibt uns das Recht“, fragt Althaus, „biologische Übergänge als ethische Fortschritte zu bezeichnen? Auch die neue Welt des Staatenbundes würde nicht das Reich Gottes sein.“32 Bei diesem Versuch, Welt und Gottesreich zusam-
28 Ebd., 24. 29 Ebd., 29. 30 Ebd., 30. Zwei Jahre zuvor stand Althaus in 2104 Sozialismus, 70 diesem Gedanken noch eher skeptisch gegenüber („selbst wenn das richtig ist“), nun gilt er ihm als „unleugbar“. Offenbar hat er sich an diesem Punkt von der Realität überzeugen lassen. Seine negative Wertung ist hin gegen die gleiche geblieben. 31 Ebd., 31. Dieses neue Stadium ist für ihn „Alterszeichen eines Kulturkreises, die Erschöpfung der Kräfte, die das Zeitalter nationaler Geschichte und nationaler Kriege heraufgeführt haben. Schwerlich wird deshalb die Menschheit einheitlich in ein Weltfriedensreich oder irgend ein föderatives Staatensystem hineintreten. Sie ist nicht überall gleich alt.“ Vgl. 2409 Heilsgeschichte, 633 f.644. 32 Ebd. Denn seiner Ansicht nach blieben die „letzten Triebkräfte des politischen Wollens […] auch in einer internationalen Organisation bestehen“: „Nach wie vor stände hinter der Politik der Wille zur Selbsterhaltung, zur Sicherung der eigenen Interessen, zur Geltung“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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menzudenken und als aufeinander bezogen darzustellen, ohne beide Bereiche zu vermischen, kommt erneut die lutherische Zwei-Reiche-Lehre zum Tragen33. 5.2 Der „Beruf“ des Volkes und das Verhältnis der Völker „Mit den ‚Religiös-Sozialen‘ und Pazifisten sind wir darin einig, daß auch das politische Leben dem sittlichen Gesetze unterstehen muß.“34 So sehr Althaus deren Lösung einer „fortschreitenden Synthese“ auch ablehnt, steht es für ihn außer Frage, dass es eine „Ethik des politischen Wollens“ gibt, eine Möglichkeit „das Reich Gottes und das politische Wollen zusammenzudenken, zusammenzuleben in einem Herzen“35. Auch wenn für ihn „die Spannung und der Kampf im Völkerleben zu den Grundgesetzen der lebendigen Geschichte gehört“, denen man sich „gerade, wenn man Gott gehorchen will, nicht entziehen kann“, so ist er dennoch davon überzeugt, „daß in ihnen ein tiefes Ethos waltet, das nur entdeckt und bejaht zu werden braucht“36. Dieses Ethos meint Althaus im „Berufsgedanken“ vorzufinden, welcher „über dem Menschen wie eine heilige Notwendigkeit“ stehe37. Wie bereits bei der Begründung der Heiligkeit der Ordnungen, so argumentiert Althaus auch hier mit einem angeblichen SeinSollens-Zusammenhang von Gabe und Aufgabe bzw. Verantwortung38: „Uns ist Gott der Herr und Vater der Geister, der auch die Kräfte und Gaben verlieh, der damit die Verantwortung gab, aus ihnen heraus ein Leben zu leben. Ihm gehorchen wir, wenn wir mit ganzem Ernste unseren persönlichen Beruf zu erfüllen suchen“, was „für das Verhältnis des Einzelnen zum Reiche Gottes von wesentlicher Bedeutung“ ist39.
Hatte Althaus bereits in „Religiöser Sozialismus“ den Dualismus zwischen Gottesreich und Welt in dem durch das Gewissen gebundenen Menschen als überwunden erklärt und daran den Berufsgedanken angeschlossen, baut er hier die 33 Vgl. 2502 Haltung, 179, wo es heißt: „So entschieden Luther die schwärmerische Vermengung der beiden Reiche ablehnt, so deutlich überwindet er doch den Schein des Dualismus“. 34 2305 Staatsgedanke, 34. 35 Ebd., 35. 36 Ebd., 33. 37 Ebd., 36. 38 Schöpfungstheologisch ist für ihn die Vielfalt der Aufgaben, die schließlich auch zu einem Widereinander führen kann, begründet „in dem Reichtum des Menschheitskosmos“, der wiederum auf „die Majestät und Fülle des ewigen Geistes“ zurückzuführen ist (ebd., 37). 39 Ebd., 37. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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sen Berufsgedanken im Hinblick auf das politische Handeln weiter aus. Die Liebe als das der Verfassung des Reiches Gottes entnommene Leitideal soll auch die Erfüllung des Berufes prägen: „Die Liebe im Sinne Jesu ist und bleibt der Wille zum Dienste in ganz konkreten Verpflichtungsverhältnissen.“40 In der Erfüllung des Berufs, so Klaus Tanner, stelle bei Althaus „der einzelne sich seiner sittlichen Herausforderung und werde seine Gesinnung umgesetzt in den verantwortlichen Dienst an der Gemeinschaft.“41 Die Erkenntnis des eigenen Berufs ist für Althaus demzufolge „eine Sache von tiefstem sittlichen Ernste“, ein „immer neues Ertasten und Wagen“, ein „intellektuell-intuitiver Akt“, eine völlige „Hingabe an eine Pflicht“, wobei es gilt, „die Einflüsse der Eitelkeit, des bloßen Ehrgeizes, des natürlichen Machtwillens und anderer niederer Begehrungen als unsachlich fernzuhalten.“42 Das Erkennen des Berufs einer Nation setzt demzufolge „tiefstes Verstehen für die Anlage eines Volkes, für seine Schicksale und seine Kraft“ voraus, das sich verbinden muss „mit dem wagenden Deuten der Geschichte und der jeweiligen Lage. Historie, Divination, Prophetie sind beieinander. Das bleibt immer ein Irrationales.“43 In der Überzeugung, „in dem sittlichen Berufsgedanken den Einheitspunkt von Ethik des Einzellebens und politischer Moral“44 gefunden zu haben, wendet Althaus diesen Gedanken nun auf die Geschichte der Völker an. Ebenso wie jeder einzelne Mensch hat auch jedes Volk von Gott und vor Gott einen geschichtlichen Beruf als „Dienst an der ganzen Menschheit“45. Diesen gilt es, in einer „lebendigen Geschichte“ zu erfüllen, „deren Wesen nicht Statik, sondern Dynamik und Kinetik ist.“ Die lebensphilosophische Althaussche Geschichtsphilosophie und -theologie kommt an diesem Punkt einmal mehr auf den mitt 40 Ebd., 35. 41 Tanner, Verstaatlichung, 239. Tanner führt diese sozialethische Konzeption Althaus’ auf die Lutherinterpretation von Holl zurück; vgl. ebd., 238 f. Die Frage ist, welche Gemeinschaft bei Althaus gemeint ist. Zunächst ist an die eigene Volksgemeinschaft zu denken, doch in seinen Augen will die Liebe „Gemeinschaft auch jenseits der Familie, auch über die Volksgrenzen hinaus“ (2305 Staatsgedanke, 35). 42 2305 Staatsgedanke, 36. „Eitelkeit, brutale Machtgier, Händlergeist und Brigantentum trüben den Blick und heißen zu weit greifen“, weshalb er stets die Gefahr „der Täuschung und der Schuld“ sieht (ebd., 38). 43 Ebd., 38. Schwarke, Anfänge, 27 spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Staatsmann „durch den Althausschen Berufsgedanken zum mystischen Organ einer ‚Volksperson‘ erklärt“ wird. Zum „Tasten und Ringen nach Gottes Willen“ vgl. auch 3213 Dogmatik, 39. 44 Ebd., 37. 45 Ebd., 41. Daher gehört für Althaus zu der „Wirklichkeit, an die das Volk seine Berufsfrage stellt“, auch das „Dasein, das Leben und Schicksal der anderen. Die verantwortlichen Führer sollen nicht nur des eigene Volkes, sondern auch des fremden Geschichte, Art und Gabe immer neu bedenken“ (ebd.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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lerweile festen Ort der Lebensalter der Völker innerhalb einer als organisch verstandenen Geschichte zu sprechen46. Mit dieser organischen Geschichtsauffassung, die die einzelnen Völker als natürliche Teile im Ganzen der Menschheit betrachtet, greift Althaus auf Herdersche Gedanken zurück. Das Ziel der Geschichte war für Herder, so Holm Sundhaußen, die „Verwirklichung eines göttlichen Plans“, zu der jedes Volk seinen Beitrag gemäß seiner nationalen Eigenart leistet sollte, wobei sich „die einzelnen Völker zeitlich abwechseln“ und dadurch im Verlauf dieser Entwicklung das allein ihnen „Besondere zum Ganzen der Menschheitsgeschichte“ beitragen. Dabei müsse „jede Generation sich ihre Ziele neu stellen und darum kämpfen. Spannungen, Widersprüche und Konflikte müßten […] als lebendige und notwendige Kräfte akzeptiert werden.“47 Wie in der Innenpolitik, wie im „Parteileben“, so stoßen für Althaus auch in der Außenpolitik „unumgänglich“ Berufsfragen zusammen, steht „nationaler Wille gegen nationalen Willen“, so dass „Kampf und Ringen entsteht“48. „Ob es zum Kriege kommt“, ist für Althaus „eine untergeordnete Frage“49. Denn allein schon die Tatsache, dass „die Seelen der Völker Krieg führen, […] die Hoffnungen und Wünsche widereinander streiten“, stellt für ihn ein ethisches Problem dar50. Als aktuelle Beispiele weist er darauf hin, „wie heute deutscher und polnischer Wille um den deutschen Osten, deutscher und welscher um Tirol oder die Rheinlande“ ringen51.
46 „Es gibt Völker“, so Althaus, „die den Beruf zum Führertum an der Stirne tragen, und andere, die ihn nicht haben, vielleicht nicht mehr oder noch nicht haben. In diesem Gewoge der Bewegungen lebt ein Volk. Hier stellt sich ihm die Berufsfrage.“ (ebd., 40). Schäfer, Beurteilung, 74 weist zu Recht darauf hin, dass man Althaus „mit diesem Berufsgedanken sicher keine ausschließliche Übersteigerung des eigenen Volkes im Sinne eines Chauvinismus vorwerfen“ könne (Hervorhebung im Original). 47 Sundhaussen, Einfluß, 37. 48 2305 Staatsgedanke, 40 f. Als Beispiel für das Zusammenstoßen von zwei Willen, „die Geschichte eines Landes oder Erdteils zu gestalten“, nennt er „Österreich und Preußens Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland“ (ebd.). Auch das Althaussche Wort vom „Recht gegen Recht“ kehrt hier wieder (ebd., 45). 49 Ebd., 41. Von der in 2104 Sozialismus geäußerten „Ahnung“, dass Kriege auch einen hamartiologischen Hintergrund haben, rückt er in dieser Schrift offensichtlich wieder ab, wenn er zu dieser Frage lediglich schreibt: „Wer aber wollte im Ernste behaupten, das sei in jedem Falle eine Offenbarung des Bösen in der Menschheit?“ (2305 Staatsgedanke, 41). 50 Ebd. Mit dieser Charakterisierung des Krieges als ethisches Problem geht Althaus über frühere Urteile hinaus. Noch in 1902 Pazifismus sah er die Frage nach Krieg und Frieden als „außersittlich“ an; vgl. Kap. II, 3.2. 51 2305 Staatsgedanke, 41. Vor dem damals aktuellen Hintergrund der Oberschlesischen Frage ging Althaus in 2104 Sozialismus noch von einem unmittelbar bevorstehenden Krieg mit Polen aus; vgl. Kap. III, 2.3.2. Zwei Jahre später nun zeigt er sich in der Kriegsfrage zurückhaltender. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Im Bewusstsein, „seinen Dienst an der ganzen Menschheit“ zu tun, soll nach Althaus jedes Volk „in jenem Fragen, Horchen, Tasten, Gehorchen […] seinen Weg gehen“, es soll „auf seinen Beruf allein sehen. Es soll und darf in großen Dingen keinem anderen Volke zuliebe oder zuleide handeln, sondern nur seinen Beruf erfüllen.“52 Denn er ist der Überzeugung: „Der beste, wertvollste Internationalismus ist die gehorsame, ernste, entschlossene Entfaltung des eigenen Lebens. Das bezeugt die Geschichte hell.“ Ein nationaler Egoismus wird hier von Althaus als Dienst an der Menschheit ausgegeben. Was Althaus zur Einschränkung lediglich zu sagen weiß, ist die Forderung nach „Ritterlichkeit und Sachlichkeit […] [im] Verhältnis der Völker“53: „Es geht nicht an, den Kampf gegen ein anderes Volk als Dienst der Liebe zu rechtfertigen“54. „Ein Volk hat nichts, aber auch gar nichts anderes zu tun als seinen Beruf zu erfragen und zu erfüllen, nicht eine andere Nation zu züchtigen, nicht Rache zu nehmen, nicht Hüter der Gerechtigkeit zu sein.“ Jede dieser Aussagen liest sich als massive Kritik am Versailler Vertrag und der damit verbundenen Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte. Althaus will demgegenüber zu einer „‚Entmoralisierung‘ der Völkergegensätze und damit zu einer befreienden Entgiftung“55 beitragen, indem „eine Atmosphäre der Wahrheit und Ehre zwischen den Völkern“ geschaffen wird, die „mit dem Hasse auch [den] Rachegedanke[n] und die Revanchelust als etwas tief Unsittliches“ außen vor lässt. Erst dann ist für ihn es möglich, „auch den Gegner [zu] ehren“56 und so etwas wie einen „Sinn für die Herrlichkeit des anderen Volkes“57 zu entwickeln. „Völkergemeinschaft, Wahrheit, adlige Ritterlichkeit zwischen den Völkern stiften mitten in allen Gegensätzen – das ist die wahrhafte, die größte, die herrlichste Völkerversöhnung. […] Gerade die ‚Nationalen‘ in allen Völkern müssen und können zur ritterlichen Verständigung, zur Gemeinschaft in der Wahrheit, bei voller Einsicht in die notwendigen Gegensätze, kommen.“58 52 Ebd. Hervorhebung von Althaus. 53 Ebd., 45. 54 Ebd., 41 f., Anm. 1. Weiter heißt es: „Die Pflicht zu einem Kriege kann nur als Gehorsam des handelnden Volkes gegen seinen eigenen Beruf, nicht aus dem Liebesgedanken begründet werden. Ob eine anderes Volk der Züchtigung bedarf, ob es im Unrechte ist, das ist uns in den meisten Fällen verborgen. Gott allein weiß es. […] Gott benutzt allerdings, wie wir seit den Tagen der Propheten überzeugt sind, oft ein Volk als Werkzeug seines richtenden Zornes und seiner zurechtbringenden Liebe für ein anderes. […] Im Kampfe mit anderen sich als Werkzeug der Liebe oder des Rechtes Gottes zu fühlen ist immer furchtbare Vermessenheit“ (Hervorhebungen von Althaus). 55 Ebd., 45. Zu einer Vergiftung kommt es für ihn „durch ein Aufwerfen der Schuldfrage da, wo sie nicht aufgeworfen werden darf“. 56 Ebd. 57 Ebd., 46. 58 Ebd. Diesen Gedanken vertritt Althaus auch in 2504 Beziehungen, 45: „Es ist gewiß etwas Großes, wenn jetzt die Friedensfreunde aller Völker sich getroffen haben. Größer aber, tiefer und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Das ist für Althaus „der eigentliche Triumph des Reiches Gottes mitten im Widerstreit.“59 Das große Negativbeispiel ist für ihn der Weltkrieg: „Wie haben sich alle, ausnahmslos alle Völker während des Krieges, auch wir Deutschen, an dieser ritterlichen Haltung der Seele gegenüber dem Gegner versündigt!“60 Wie wenig Althaus – und mit ihm sein Gewährsmann Emanuel Hirsch – mit seiner aus dem Geist der Romantik gespeisten Kritik an der Moralisierung der Völkerbeziehungen allein stand, zeigt ein Blick auf einen ebenfalls aus dem Jahr 1923 stammenden Vortrag des Theologen und Vernunftrepublikaners Ernst Troeltsch über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“, der mit den Worten beginnt: „Die von beiden Seiten geführte Kultur- und Moralpropaganda des Weltkrieges ist ein Kapitel für sich und zeigt, daß in den heutigen demokratischen Verhältnissen moralische und geschichtsphilosophische Bemäntelung der Politik zur Mobilisation der Massen unentbehrlich sind. Es ist Moral und Geschichtsphilosophie als Kriegsmittel in der Hand eines politisch geleiteten, zentralisierten Journalismus […]. Die Auffassung, daß es eine Ehre sei, mit großen, starken und edlen Gegnern zu kämpfen, ist ‚ritterlich‘, wie man mit Recht sagt, d. h. sie gehört aristokratischen Zeitaltern und ihren Nachwirkungen an. Die Massen demokratisierter Zeitalter kennen nur Liebe oder Haß, Bewunderung oder Verachtung, moralisches Recht oder moralisches Unrecht. Wer sie in den Krieg peitschen will, muß diesen Masseneigenschaften Rechnung tragen, und dafür muß eine ganze Literatur […] die moralische Nichtswürdigkeit des Gegners durch historische und ethische Beweisführung dartun. Daher stammt heute die Rolle, die das Schulddogma und die Atrozitätenberichte spielen.“ Das Moralische wird eingesetzt „als Waffe zur moralischen Entwertung der Gegner“61.
Nachdem der noch 1919 in „Pazifismus und Christentum“ so zentrale Gedanke der sozialdarwinistisch konnotierten „Tüchtigkeit“ eines Volkes, die über das Auf und Ab im Völkerleben entscheidet, schon 1921 im „Religiösen Sozialismus“ zurückgetreten war, erscheint dieser Topos in „Staatsgedanke und Reich Gottes“ 1923 gar nicht mehr. Im Gegenteil, Althaus zeigt sich hier sehr bemüht, sein Konzept gegen den schon damals erhobenen Vorwurf des Sozialdarwinismus zu verteidigen bzw. sich von diesem abzugrenzen: gerechter erschiene es mir, wenn sich einmal die ‚Nationalen‘ der Völker treffen würden und sagen: wir wollen uns die Hand reichen, weil wir uns zum Beruf unserer eigenen Völker bekennen, und weil wir unter demselben Herren stehen.“ 59 Ebd., 47. Denn Althaus zeigt sich überzeugt: „Das Reich Gottes bedeutet nicht, daß die Schrecklichkeit, die Härte und das Grauen der Geschichte aufhört, aber daß dieses alles mit reinem, freiem Herzen durchlebt werden kann“ (ebd., 46). 60 Ebd., 46. 61 Troeltsch, Naturrecht, 493. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Die darwinistische Auffassung der Staatengeschichte ist nicht das letzte Wort, sondern eine höchst oberflächliche Betrachtung“62, wenn sie verstanden wird „als jener nackte Kampf ums Dasein und Futter, mit dem Siege des Stärkeren, wie er durch die ganze Natur geht.“63
Die „Tüchtigkeit“ ist bei Althaus inzwischen ganz hinter dem „Beruf“ eines Volkes zurückgetreten, wodurch ein stärkerer Bezug auf Gott als den „Herrn der Geschichte“ möglich ist.
5.3 Das Gott gegenüber „verantwortliche Führertum“ Für Althaus kann es letztlich nur eine Staatsform geben, die den von ihm genannten Voraussetzungen zur Erkenntnis des Volksberufes entspricht: ein „verantwortliches Führertum, das freilich tief in dem Vertrauen des Volkes wurzeln muß.“64 Worin der Volksberuf besteht, „das zu entscheiden ist in jeder neuen geschichtlichen Lage die schöpferische Tat seiner Führer.“65 Althaus greift hier die Vorstellung Herders auf, der davon ausging, „durch ‚Besonnenheit‘ und ‚Besinnung‘ ist der Mensch in der Lage“, den „göttlichen Entwicklungsplan“ zu erkennen66. Ebenso knüpft er an die volksmonarchische, mit dem Berufsgedanken verbundene Vorstellung Schleiermachers von einem göttlichen „Werkzeug“ an67. 62 2305 Staatsgedanke, 35. Auch in 2504 Beziehungen, 43 grenzt sich Althaus von der „darwinistisch-naturalistischen Zeit“ ab, in der „die Geschichte nur die Fortsetzung des Daseinskampfes“ gewesen sei. 63 Ebd., 34. Althaus schließt daraus: „Wenn es kurzweg heißen müßte: in der Politik ist Eigennutz, Selbstdurchsetzung, Schädigung, Betrug, Haß, Schadenfreude das Rechte, hier ist der Egoismus heilig, der uns im Privatleben als Zeichen unsittlicher Gesinnung erscheint – dann klaffte der heillose Riß zwischen Individual- und Sozialethik, dann bliebe dem Dualismus das letzte Wort“. 64 Ebd., 39. „Auf den Führern lastet die Schwere der Verantwortung, den geschichtlichen Beruf ihres Volkes zu erhorchen. Der Beruf ist etwas über dem Volke, über jeder Generation“. 65 Ebd., 42. Diese „schöpferische Tat“, die „Gerechtigkeit in dem politischen Wollen eines Volkes“ setzt, wird von Althaus einmal mehr gegen den „Mehrheitsbeschluß eines Völkerparlamentes“ ausgespielt (ebd., 44). 66 Sundhaussen, Einfluß, 37. 67 So heißt es bei Schleiermacher: „Solche Werkzeuge können nur da entstehen, wo nicht nur mit einer richtigen Kenntnis und Benutzung der Zeitumstände gehandelt wird, sondern auch dem Geist und der wahren Bestimmung des Volkes gemäß“ (zit. nach Kurz, Denken, 33 f.). Das was Althaus mit dem Begriff der „Volkheit“ beschreibt, klingt hier mit der „wahren Bestimmung des Volkes“ ebenfalls bereits an. Nowak, Protestantismus, 7 weist bei Schleiermachers Konzept auf die ihm zugrundeliegende „romantische Idee der Einheit von Monarch und Volk“ hin, der zufolge „eine allen Egoismen enthobene Persönlichkeit an der Spitze des Gemeinwesens“ angenommen werden konnte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Wir haben es bei diesen Gedanken mit einer Fortführung seiner staatspolitischen Vorstellungen im „Religiösen Sozialismus“ zu tun, die ihrerseits in früheren Äußerungen während des Krieges wurzeln68. Schon 1921 spricht er vom engen Zusammenhang zwischen dem Volksberuf und den führenden Staatsmännern69. Der Gedanke, dass das „lebendige Gewissen“ die vermittelnde Instanz in der als „Handeln mit Gott und vor Gott“ verstandenen Politik ist, erscheint auch in „Staatsgedanke und Reich Gottes“, wenn Althaus schreibt, dass das Erkennen des Berufes sich „mit einem strengen Gewissen“ vollziehen soll70. Kurt Nowak spricht in diesem Zusammenhang von dem „so protestantismustypischen Insistieren auf der Bindung des Herrschergewissens an Gott.“71 Neu hinzugekommen ist gegenüber der Schrift von 1921 der Begriff des „Führertums“. Rechte Obrigkeit, d. h. solche, die dem Berufsgedanken eines Volkes am besten Rechnung tragen kann, besteht für Althaus im Gegebensein von „Führern“, was durchaus dem schon zwei Jahre zuvor präferierten „organisch-aristokratischen Staatsideal“ entspricht. In „Staatsgedanke und Reich Gottes“ wechselt Althaus Singular und Plural ab, so dass er sowohl von mehreren „Führern“ eines Staates bzw. eines Volkes als auch von einem „Führer“ sprechen kann72. An eine konkrete Staatsform, z. B. eine Diktatur, denkt Althaus dabei also offenbar nicht73. 68 Vgl. Liebenberg, Gott, 495 f. 69 Vgl. Kap. III, 2.3.1. 70 2305 Staatsgedanke, 39. 71 Nowak, Protestantismus, 4. Für Nowak ging es diesem „theologisch-politischen Modell der Herrschaftsqualifizierung durch die Bindung des Gewissens an Gott“ um die „Mahnung an den Herrscher, seine Herrschaft als von Gott anvertraute Herrschaft zu verstehen und zu gebrauchen […] und damit auch zu kontrollieren und zu begrenzen“. Nowak hält demzufolge die „Auffassung von blindem Obrigkeitsgehorsam des Luthertums“ für ein „zählebiges Zerrbild“. 72 Noch in 2104 Sozialismus sprach Althaus stets im Plural von „führenden Staatsmännern“ eines Volkes. Der in der damaligen Zeit weitverbreitete und schillernde Führer-Begriff wird von Althaus nicht nur im staatlich-nationalen Kontext verwendet, sondern generell für Anführer. So spricht er in 2305 Staatsgedanke, 30 auch vom „Führer der französischen Religiös-Sozialen“. In 2909 Theologie, 138 spricht er von den „Führern“ der Dialektischen Theologie. Dass der Althausschen Verwendung des Führer-Begriffs nicht allzu viel präjudizierende Bedeutung im Hinblick auf den Nationalsozialismus beizumessen ist, zeigt die hier und in späteren Schriften vorhandene Austauschbarkeit der Begriffe „Staatsmann“ und „Führer“, sowohl im Singular wie im Plural. So spricht er in 2409 Heilsgeschichte an keiner Stelle von einem „Führer“, dafür aber von „Staatsmänner[n]“, die „aus der Verantwortung für Gabe, Beruf und Dienst ihres Volkes heraus handeln“ sollen (ebd., 644). Den Führerbegriff verwendet Althaus auch in seiner Predigt 2404P Führer, die sich mit dem Gott verantwortlichen Führertum beschäftigt, konsequent im Plural. 73 Auch Tanner verweist in seiner Studie über die Haltung der Theologen zum Staat in den 20er Jahren darauf, dass die Frage nach der Staatsform gegenüber der Frage nach der „Staatsgesinnung“ überhaupt nur eine untergeordnete Rolle spielte; vgl. ders., Verstaatlichung, 240. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Der entscheidende Punkt an Althaus’ Konzeption eines „Führertums“ ist die nähere Bestimmung als „verantwortliches Führertum“. Gott gegenüber, der nach Althaus den Beruf eines Volkes gibt, ist ein „rechter Staatsmann“ verantwortlich: „Das Staatshandeln haben wir ernstlich auf Gott bezogen. Es wird durch die Begriffe der Verantwortung, des Gehorsams, des Dienstes geregelt. […] So Politik treiben, daß man dabei unter Gott steht […] – heißt das nicht: aus den Kräften des Reiches Gottes leben? Nur Menschen, die vor Gott wandeln, können in dieser Art handeln.“74
Althaus’ Konzeption eines „verantwortlichen Führertums“ bildete sich in einer Zeit allgemeiner Hochschätzung der sittlichen „Persönlichkeit“ im politischen Denken, sowohl auf Seiten der Theologie, als auch in der Staatsrechtslehre. So konstatiert Klaus Tanner für die 20er Jahre: „Die Konzentration auf die persönliche Gesinnung, wie sie mit der Leitidee des ‚Reiches Gottes‘ […] gegeben war, stärkte primär ein personalistisches Verständnis des Politischen. Nicht Strukturfragen, sondern die großen geschichtlichen Individuen standen im Mittelpunkt der politischen Analysen der genannten Theologen. Sie verstanden Politik als Gestaltung der Kultur zum Wohle der Gemeinschaft durch große Persönlichkeiten und Führer.“75
Wenn man sich auch nicht um Struktur- und Verfassungsfragen beschäftigte, so wurde jedoch aus theologisch-ethischen Gründen das demokratische Prinzip zurückgewiesen. Denn damit, so Tanner weiter, „rückte im Verständnis des politischen Handelns die Betonung vom rational verfahrensmäßig geordneten Vorgehen hin auf den rational nicht mehr faßbaren Aspekt der wagenden Gewissensentscheidung des großen einzelnen. Da ‚Persönlichkeit‘ nur der ist, der sein Leben in den Dienst an der sittlichen Gemeinschaft stellt, wurde mit der Personenorientiertheit auch das ethische Moment in Gestalt der Gesinnung gestärkt.“76
Die Idee eines Führertums als Gottesgnadentum bzw. der Führerbegriff ist bei Althaus nicht neu. Angesichts der zunehmend prekären Kriegssituation Deutschlands zu Beginn des Jahres 1918 weist Althaus die Leser seiner Sonntagsbetrachtung hoffnungsfroh darauf hin: „Die wahren Retter in Schicksals 74 2305 Staatsgedanke, 43. In der 3. Auflage zitiert Althaus in diesem Zusammenhang den Historiker Friedrich Meinecke mit den Worten: „Der handelnde Staatsmann muß ‚Staat und Gott zugleich im Herzen tragen, um den Dämon, den er doch nicht ganz abschütteln kann, nicht übermächtig werden zu lassen‘.“ (2505 Staatsgedanke, 55, Anm. 1). 75 Tanner, Verstaatlichung, 239 f. 76 Ebd., 240. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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stunden sind uns immer […] geschenkt worden, nicht von Volkes, sondern von Gottes Gnaden.“77 Solche Retter meinte Althaus in den Generälen Hindenburg und Ludendorff zu erblicken, deren militärische Erfolge die Überzeugung nahelegten, dass Gott den Deutschen „noch immerdar Führer und Helden beschert, die der Stunde gewachsen waren“78. Was Althaus konsequenterweise auch in „Staatsgedanke und Reich Gottes“ ablehnt, ist ein westlich-demokratischer Parlamentarismus. Dessen Berechtigung weist er mit der Behauptung zurück, das „Erkennen des Berufes einer Nation kann immer nur Sache der Wenigen sein.“79 „Eine demokratische Verfassung, die der Mehrheit der jetzt lebenden Staatsbürger den politischen Willen zu bilden gäbe, wäre im tieferen Sinne unsittlich. Die Masse pflegt nach Tagesrücksichten, nach Bequemlichkeit, aus Kollektivegoismus zu handeln. In Wirklichkeit allerdings herrscht auch in einer formalen Demokratie nichts weniger als der Volkswille.“80
Demgegenüber lautet für ihn das „Grundwort der Politik“: „Gehorsam“ dem „Herrn der Geschichte“ gegenüber81. „Politik ist Dienst an einem Anvertrauten, an einer Vergangenheit, deren Erbe gedeutet und gewahrt, an einer Zukunft, die gewagt werden soll, Dienst an etwas über dem Volke“82, nämlich dem gottgegebenen Beruf. Während Althaus aus einer von lutherischer Anthropologie gespeisten pessimistischen bzw. realistischen Einsicht in die Sündhaftigkeit der Menschen seine Vorbehalte gegenüber Demokratie, gegen Masse, Mehrheit und Mitbestimmung klar zum Ausdruck bringt, suspendiert er die gleiche Einsicht und die gleichen Bedenken beim Gedanken des „verantwortlichen Führertums“83. Der mögliche „Kollektivegoismus“ wiegt ihm an diesem
77 1805B; Hervorhebungen von Althaus. 78 Ebd.; vgl. 1806P Deutschland, 1. Zur Idee des Gottesgnadentums in Bezug auf einen deutschen Retter, Führer und Helden vgl. Liebenberg, Gott, 401–403. 79 2305 Staatsgedanke, 38 f. 80 Ebd., 39. Für Althaus steht fest: „Die neue ‚Freiheit‘ enthüllt sich als Herrschaft der großen Geldmächte und der sich zum Selbstzweck erhebenden Parteiorganisationen.“ (ebd., 13). Damit ist die behauptete „Wesensverwandtschaft der Demokratie und des Reiches Gottes“ in seinen Augen unhaltbar: „Der Anglo-Kalvinismus […] meint, nur zwischen der Monarchie […] und dem Reiche Gottes sei der Gegensatz so hart, dagegen kämen die Normen des Reiches Gottes in der Demokratie mit ihrer ‚Freiheit‘ gerade zur Geltung. So hat man den Krieg für die Demokratie als heiligen Krieg geführt.“ (ebd., 12 f.). 81 Ebd. 82 Ebd., 40; vgl. 3013 Politik, 1323. 83 Vgl. Nowak, Protestantismus, 9. Einen Grund für dieses Messen mit zweierlei Maß kann man mit Nowak in der „Skepsis gegen die Leistungsfähigkeit der demokratischen Instrumente“ sehen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Punkt offensichtlich mehr als der mögliche Egoismus des führenden Staatsmanns. Offen bleibt in Althaus’ Vorstellung eines „verantwortlichen Führertums“, wie der betreffende Staatsmann an die Spitze des Staates gelangt, wenn nicht durch demokratische Wahl oder dynastische Thronfolge84. So spricht Liebenberg für die Zeit des Weltkriegs davon, Althaus’ „Herrschaftslegitimation durch die Idee des Gottesgnadentums“ sei „offen und willkürlich“85. Dass das Volk, d. h. die einzelnen Bürger, in Althaus’ Konzeption von Politik nicht vollkommen außen vor bleiben, sondern an der Politik auf eigentümliche Weise beteiligt sind, lässt er in ganz anderem Kontext, im Zusammenhang seiner Deutung von Jesu Stellvertretung erkennen, wo er aus Illustrationszwecken über inklusive Stellvertretung im politisch-vaterländischen Bereich schreibt: „Der politische Führer trägt die Verantwortung für seines Landes Lage, damit die anderen sie nicht zu tragen brauchen. Und dennoch: die Hingabe an das Vaterland bedeutet für jeden eine unübertragbare sittliche Aufgabe. […] Ein großer Staatsmann leidet darum um seines Landes Ehre, Freiheit, Zukunft innere Not, daß er irgendwie und irgendwann alle mit hineinziehe in diese Bewegung. Stellvertretung, hinsichtlich der besonderen geschichtlichen Leistung exklusiv, darf die Sorge um das Vaterland den Vertretenen gerade nicht abnehmen, sondern muß sie ihnen groß und wichtig machen.“86
Wie so oft, bleibt Althaus auch an diesem Punkt sehr vage. Nach allem bisher Gesagten, dürfte zumindest klar sein, dass er unter Beteiligung keine irgendwie demokratisch geartete meint, sondern eine auf Gehorsam dem Staatsmann bzw. Führer gegenüber beruhende87. Wenn Althaus sein Gedankengut auch vielfach dem gleichen weltanschaulichen Pool entnimmt wie die Vertreter der „Konservativen Revolution“, so finden sich doch auch deutliche Unterschiede. Diese liegen in der grundsätzlichen Verschiedenheit zwischen altkonservativem und jungkonservativem Denken begründet; Althaus ist sozusagen ein Wanderer zwischen beiden Gedankenwelten, wie sich an der Idee des „verantwortlichen Führertums“ zeigt. Wenn 84 Vgl. 3217 Luther, 49 f., wo Althaus schreibt: „Obrigkeit als Gottesordnung ist nicht daran gebunden, wie die jeweils Regierenden in ihr Amt kommen. Volkswahl der Amtsträger gefährdet die gottgegebene Autorität der Obrigkeit nicht.“ Den Parlamentarismus lehnt Althaus aber aus dem Grund ab, weil er die Obrigkeit zerstöre, „indem er das Volk selbst zur Obrigkeit macht.“ 85 Liebenberg, Gott, 402. 86 2302 Kreuz, 40. Dieses Zitat gibt zugleich ein Beispiel für die Austauschbarkeit der Begriffe „Führer“ und „Staatsmann“ bei Althaus. 87 Diesen Gedanken der Mitverantwortung des Einzelnen greift Althaus in 3217 Luther, 51 f. auf, nun in Verbindung mit dem Revolutionsrecht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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rthur Moeller van den Bruck „volkliche Führer“ einfordert, „die sich mit der A Nation in eines gesetzt fühlen, die das Schicksal der Nation mit ihrer eigenen Bestimmung verbinden“88, so sind für ihn diese Führer allein dem Volk gegenüber verantwortlich und handeln in seinem Namen. Wenn Althaus von „verantwortlichem Führertum“ spricht, so meint er damit in erster Linie eine Verantwortung der politischen Führer Gott gegenüber, der den Beruf gibt. Bei Althaus ist der christliche Staatsmann immer schon mitgedacht und vorausgesetzt, wodurch auch die moralische Integrität desselben vorausgesetzt ist. In zweiter Linie sind die Führer eines Volkes auch diesem gegenüber in der Pflicht, sofern es der Beruf des Volkes ist, den Gott gemäß dem Gabe-AufgabeModell gibt. Diese religiöse und sittliche Rückbindung des Führergedankens an Gott entspricht altkonservativen Vorstellungen, während die jungkonservativen Vertreter der „Konservativen Revolution“, allen voran Moeller van den Bruck, ohne eine solche auskommen. Als ein offenkundiges Problem der Althausschen Konzeption eines „verantwortlichen Führertums“ und seines Verständnisses von Politik als wagendes Handeln einzelner Staatsmänner bzw. Führer im Gehorsam gegen den von Gott gegebenen Beruf ihres Volkes und als Dienst an diesem, stellt sich die Frage nach möglichen geschichtsimmanenten Kontrollinstanzen. Die Frage ist mit Althaus schnell beantwortet: So wenig wie ein internationaler Schiedsgerichtshof in „Berufsfragen“ wirklich Recht sprechen kann, so kann überhaupt keine menschliche Instanz zwischen den Staatsmann als Mandatar Gottes und Gott selbst treten. Einmal mehr ist für Althaus Bismarck das große Vorbild: „Bismarck hat in seiner ganzen Erscheinung deutlich genug bezeugt, daß mit der Verantwortung nicht die vor dem lebenden Geschlechte gemeint ist.“89 Es sind also zunächst weitgehende, relative Eigengesetzlichkeiten – der Begriff taucht hier selbst nicht auf –, die Althaus dem politischen Bereich zubilligt: „Die Teilnahme an der lebendigen Geschichte zieht […] in ein Handeln hinein, in die Anwendung von Mitteln, das Betreten von Wegen, vor denen die sittliche Persönlichkeit immer wieder zurückschreckt.“90 Althaus geht sogar so weit, dem Politiker zuzugestehen, dieser sei „nicht selten gezwungen, Men 88 Moeller van den Bruck, Reich, 306. 89 2305 Staatsgedanke, 43. 90 Ebd., 48. Bei diesem „Zurückschrecken“ bleibt es allerdings auch, denn gegen die Eigengesetzlichkeiten, gegen „die Grundgesetze der Geschichte“, kann der Mensch sich nicht auflehnen: „Uns ist nicht zugemutet und nicht gestattet, aus dem mächtigen Widereinander und Durcheinander der geschichtlichen Lebenskreise, Berufe und Bewegungen einen friedlichen, harmonischen Kosmos zu machen. Wir sind nicht die Herren und Meister der Geschichte, sondern Menschen, die an einen ganz konkreten Punkt, in ganz bestimmte und bedingte Lebens- und Pflichtbeziehungen gesetzt sind und in diesen demütig und treu dienen sollen.“ (ebd., 21 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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schen, Mächte, Parteien wie Spielfiguren zu benutzen und, wenn er ihrer nicht mehr bedarf, sie wegzuwerfen.“91 Althaus selbst spricht hier nichts anderes als die Suspendierung eines sitt lichen Urteils in politischen Fragen aus: „Eine evangelische Ethik kann hier nichts einzelnes sagen wollen. […] Wir rechnen mit Staatsmännern von Gewissensernst. Ebendarum müssen wir sie aber auch mit ihrem Gewissen ihre Straße ziehen lassen. Ihr Gewissen zu meistern steht keinem von uns zu. Von ihnen bei ihrem schweren Werke gilt […]: sie stehen und fallen ihrem Herrn.“92
Allein Gott gegenüber besteht die Verantwortung, d. h. die Kontrollinstanz für führende Politiker ist rein geschichtstranszendent, allein ihr gegenüber können Staatsmänner schuldig werden. Damit aber suspendiert Althaus letztlich jegliche Sozialethik – trotz der Beteuerungen und Hinweise auf die „sittlichen Normen in der Geschichte“, die inhaltlich leer bleiben und lediglich auf bedingungslosen Gehorsam hinauslaufen. Eine menschliche Kontrolle der Politik ist damit unmöglich, Staatsmänner und „Führer“ sind unkontrollierbar. Einziges Korrektiv ist ihr eigenes Gewissen, das sich Althaus im Austausch mit Gott vorstellt. Aufgrund der von ihm durch die Gewissensbindung angenommenen Unmittelbarkeit des führenden Staatsmanns zu Gott verzichtet Althaus auf menschliche, institutionelle Kontrollmechanismen gegen den Missbrauch politischer Macht. Diese Gewissensbindung ist für ihn hinreichendes Sicherungsmittel dagegen und soll somit der Herrschaftsbegrenzung dienen. Ein in anderen Schriften angedeutetes und eingeräumtes „Revolutionsrecht“ kommt in „Staatsgedanke und Reich Gottes“ nicht vor93. Zur Gänze auf den Kopf gestellt wird jegliche sittliche Norm, jedes Ethos in der Politik durch den vertröstenden Ausblick von Althaus: „Auch wo das Ethos der Politik verletzt wird, vollzieht sich die Herrschaft Gottes – wenn nicht in den Menschen, so doch über die Menschen.“94 Wie schon in „Religiöser Sozialismus“ und in seiner frühen Geschichtstheologie überhaupt, so scheint auch hier Althaus’ allen Autonomisierungstendenzen des „Weltlichen“ entgegengesetztes Konzept einer theonomen Weltdeutung durch. Seine „monistische Interpretation der Wirklichkeit“ (Christian Schwarke), seine Subsumtion alles „Weltlichen“ unter die göttliche Herren 91 Ebd., 48 f. 92 Ebd., 48. Den Gedanken der alleinigen Gewissensbindung betont Althaus auch bei seiner Darstellung des Handelns Luthers; vgl. 2502 Haltung, 165.175.177 f. 93 Vgl. Kap. III, 2.2. 94 2305 Staatsgedanke, 50; Hervorhebungen von Althaus. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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majestät, lässt eine menschliche, d. h. in seinen Augen eine autonome, Kontrollinstanz – heißt sie innenpolitisch Parlament oder außenpolitisch Völkerbund – nicht zu. Damit wird die Überwachung der menschlichen Politik zwar von einer größtmöglichen Instanz übernommen, was aber aufgrund der objektiven und konkreten inhaltlichen Unbestimmtheit des göttlichen Willens keine Konsequenzen haben kann. Letztlich kann auf diese Weise jegliches politische Handeln theologisch legitimiert werden, sofern sich der Politiker als Gott gegenüber verantwortlich weiß. Was allerdings geschieht, wenn „Führer“ an der Macht sind, die keinen „Gewissensernst“ besitzen und deren Verantwortungsbewusstsein vor Gott nur vorgetäuscht ist, zeigt die weitere deutsche Geschichte überdeutlich. Der biblische Grundsatz „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29) wird in dem Moment ad absurdum geführt, da sich der Gehorsam Heischende glaubhaft als Werkzeug göttlicher „Vorsehung“ ausgibt. 5.4 Bismarck als der vorbildhafte christliche, politische Führer Bei aller Problematik in Althaus’ Konzeption von „verantwortlichem Führertum“ muss man sich vor Augen halten, welche Art von Politik bzw. welcher Politiker ihm dafür als vorbildlich erscheint. Althaus wendet dazu seinen Blick in der deutschen Geschichte zurück. Es ist die Art von Politik und das politische Ethos des ehemaligen deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck, die Althaus als vorbildhaft für einen in seinen Augen wahrhaft christlichen Staatsmann erscheinen95. Dabei findet Althaus gerade in Bismarck sein eigenes politisches Credo umgesetzt: National muss ein Staatsmann sein, nationalistisch darf er nicht sein. So heißt es bei Althaus bereits 1916: „Bedenklich für ein Volk kann es aber werden, wenn seine einflußreichen Männer und maßgebenden Führer, seine Beamten und Volkserzieher der blinden Vaterlandsliebe verfallen. Hier gilt es, unendlich wachsam zu sein.“96 Bismarck attestiert Althaus ein Wissen um die „Bedeutung des Berufsbewußtseins, des Bewußtseins der Sendung“ und „geradezu religiöse Motive“97. 95 So schreibt Althaus Anfang März 1923 an den dänischen Kirkegaardforscher Eduard Geismar, dem er ein Exemplar von „Staatsgedanke und Reich Gottes“ schickt: „Ich bekenne ausdrücklich, daß ich an Bismarck viel Lutherisches sehe und in seiner Politik (was nur die Vertiefung in seine Reden zeigen kann) grundsätzlich ein hohes Ethos finde.“ (zit. nach: Schjørring, Gewissensethik, 90 f.). 96 1602 Vaterlandsliebe IV, 2. Er schreibt weiter: „Vaterländische Selbstbesinnung und Selbstkritik ist eine nationale Forderung, zu deren Verwirklichung nur fromme Menschen imstande sind.“ 97 2305 Staatsgedanke, 27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Im Gehorsam gegen den Beruf des deutschen Volkes hat Bismarck nach Althaus’ Meinung Politik in „Beziehung auf den Herrn der Geschichte“ betrieben98. In „Staatsgedanke und Reich Gottes“ wird Bismarck auf den 47 Seiten nicht weniger als 25 Mal namentlich erwähnt, nahezu immer in außenpolitischen Zusammenhängen. Die Sehnsucht nach einem Mann wie Bismarck ist groß, am deutlichsten drückt Althaus seine Verehrung mit den Worten aus: „Wer sich in das politische Werk Bismarcks versenkt, der kann nicht anders, als nach der Ritterlichkeit der Völkerbeziehungen, wie dieser große und, wo es um seines Volkes Beruf ging, rücksichtslose ‚Realpolitiker‘ sie pflegte, sich zurückzusehnen.“99
Als historisches Beispiel für die Bismarcksche „Ritterlichkeit“, die sich jeg lichem „Rachegedanken“ und „Revanchelust“ versagte, erwähnt Althaus den Vorgang, „wie Bismarck 1866 seinen königlichen Herrn von der Züchtigung Österreichs zurückhielt: wir hätten nicht eines Strafamtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben.“100 Dem zeitgenössischen Leser wird die indirekte Althaussche Kritik an der „Züchtigung“ Deutschlands durch die Siegermächte in Versailles nicht entgangen sein. Dem moralisch verwerflichen Handeln der Ententemächte wird das moralisch einwandfreie Verhalten Bismarck-Deutschlands an seinen Unterlegenen entgegengehalten, das eine „Atmosphäre der Wahrheit und Ehre zwischen den Völkern“ ermöglichte101. So erscheint in Althaus’ Ausführungen Bismarck als „lehrreiches Beispiel“ für eine erfolgreiche Friedenspolitik in Europa: „Nie war die Geschichte Europas einem föderativen Staatensystem so nahe, wie durch die Arbeit Bismarcks für den Frieden Europas seit 1871. […] Der gleiche Bismarck, der um des nationalen Berufes seines Landes willen drei große Kriege wollte und führte, wurde hinterher der Schirmherr des europäischen Friedens!“102 98 Ebd., 39. In seinen Augen hat Bismarck diese Beziehung „unvergeßlich ausgesprochen“ mit dem Zitat: „Der Staatsmann kann nie selber etwas schaffen; er kann nur abwarten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels fassen, das ist alles.“ Woher das Zitat Bismarcks stammt, gibt Althaus nicht an. Als weiteres Beispiel für seine Hervorhebung Bismarcks als christlicher Politiker vgl. 2403 Gott, 13. 99 2305 Staatsgedanke, 45, Anm. 1. 100 Ebd., 45. Die gleiche Zurückweisung des „Siegerübermute[s]“ und der „zügellosen Rache“ betont er auch bei seiner Darstellung von „Luthers Haltung im Bauernkriege“ gegenüber den siegreichen Fürsten und stellt fest: „Die Verantwortung für das maßlose Wüten und Würgen der Herren lehnt er ab.“ (2502 Haltung, 171 f.). 101 So zitiert er Johannes Lepsius mit den Worten: „Angesichts des zweiten Versailles überkommt den Leser der deutschen Akten zum Frankfurter Frieden die schmerzliche Überzeugung, daß Courtoisie und Ritterlichkeit von Siegern gegenüber Besiegten romantische Vorstellungen eines untergegangenen Abendlandes sind.“ (2305 Staatsgedanke, 45 f., Anm. 1). 102 Ebd., 31 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Besonders die Tatsache, dass Bismarck nach der kriegerischen Herbeiführung der nationalstaatlichen deutschen Einheit das Deutsche Reich als „saturiert“ erklärte, imponiert Althaus vor dem Hintergrund seiner Ablehnung brutalen Expansionsstrebens, das die Grenzen des angenommenen Berufs eines Volkes überschreitet: „Gewaltgeist, niederer allzumenschlicher Machtwille, brutales Herrenmenschentum“103, das ist es, was nach Althaus unter allem Umständen aus der Politik ferngehalten werden muss. Nicht nur in nationalpolitischer Hinsicht ist Bismarck in Althaus’ Augen ein großes Vorbild, sondern auch in sozialpolitischer, wie er in einem anderen Aufsatz aus den 20er Jahren erkennen lässt. So heißt es in „Luthers Haltung im Bauernkriege“ über die Bismarckschen Sozialreformen: „Der Zug sozialer Verantwortung der Monarchie in dem altkonservativen und dem Bismarckischen Staatsgedanken bedeutete die Erneuerung des Lutherschen Patriarchalismus in einer veränderten geschichtlichen Lage. Bismarcks staatliche Sozial reform, gerade in ihrem Bismarck wohl bewußten Verhältnis zur sozialistischen Bewegung, war nach ihren besten Beweggründen und Gedanken durchaus ‚lutherisch‘ geartet.“104
Hintergrund der Althausschen Verklärung Bismarcks als wahrhaft christlicher und damit vorbildhafter Politiker ist die seit Ende des 19. Jahrhunderts im protestantischen Deutschland virulente „Legende vom frommen Reichsgründer Bismarck“, die nach Lucian Hölscher schon bald nach seinem Tod in der deutschen Geschichtsschreibung aufkam, wo „Bismarcks Frömmigkeit, seine ‚Religion‘, sein ‚Glaube‘, wie man sagte, […] zu einem zentralen Schlüssel für sein Verständnis“105 erhoben wurde, gerade was die historische „Würdigung seines politischen Werkes, vor allem der Reichsgründung“106 betraf: „Jenseits aller Ideologien und politischen Programme bildete für den überzeugten Protestanten Bismarck das individuelle Gewissen des Politikers, seine ausschließliche Verantwortung vor Gott, die oberste Richtschnur politischen Handelns“107. So ist für Hölscher die „Legende vom frommen Reichsgründer“ „ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Wirkung Bismarcks auf seine Zeitgenossen und mindes-
103 Ebd., 23. Darum, erklärt Althaus, verstehe er, „warum Luther gerade die Christen, die Gott von sich selbst freigemacht hat, zu jenen schweren Ämtern rief“. 104 2502 Haltung, 158. 105 Hölscher, Legende, 173. Dieser verweist zur Legendenbildung vor allem auf die Veröffent lichung des Bismarck-Briefwechsels mit seiner Braut im Jahr 1900, auf den auch Althaus hier mehrfach Bezug nimmt (vgl. 2305 Staatsgedanke, 51). 106 Ebd., 175. 107 Ebd., 179. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tens drei folgende Generationen.“108 Zu diesen gehört auch Althaus, wenn er aus einem Brief Bismarcks an seine Frau zitiert: „Nach 30 Jahren […] wird es uns ein geringe Sorge sein, wie es um Preußen und Österreich steht, wenn nur Gottes Erbarmen und Christi Verdienst unseren Seelen bleibt. Ich schlug mir gestern abend beliebig die Schrift auf, um die Politik aus dem sorgenvollen Herzen los zu werden“.109
Der Topos von Bismarck als frommem Mann gehört zum festen Bestandteil der Althausschen Weltanschauung und beeinflusst seine Sichtweise von einem „verantwortlichen Führertum“ nachhaltig110. Er ist für Althaus der Prototyp des christlichen Staatsmanns und steht damit Pate für seine Vorstellung von einem rechtmäßigen politischen „Führer“111. Als Althaus 1925 „Staatsgedanke und Reich Gottes“ in dritter Auflage herausgibt112, verstärkt sich dieser Befund nochmals. In den zehn neuen An merkungen findet der Reichskanzler durch die Wiedergabe von Zitaten und Gedanken acht Mal Erwähnung. Dabei wird noch deutlicher, warum gerade Bismarck für Althaus der Prototyp des christlichen Staatsmanns werden konnte. So zitiert er aus einer Rede vom 10. Februar 1872: „Gerade mein lebendiger evangelischer Glaube legt mir die Verpflichtung auf, für das Land, wo ich geboren bin und zu dessen Dienste mich Gott geschaffen hat und wo ein hohes Amt mir übertragen ist, dieses Amt nach allen Seiten hin zu wahren. Wenn die Fundamente des Staates … angegriffen werden, so habe ich es für meine Pflicht gehalten, auf der Bresche zu stehen … Das gebietet mir das Christentum und mein Glaube.“113 108 Ebd., 192. Die Legende selbst ist nach Hölscher „durch die Quellen ebensowenig zu verwerfen wie zu bestätigen.“ Einflussreich war das 1922 erschienene Buch über „Bismarcks Religion“ des Theologen Otto Baumgarten. 109 2305 Staatsgedanke, 51. 110 Vor diesem Hintergrund ist auch die Althaussche Einschätzung der von den National sozialisten zumindest in der Anfangszeit geschickt inszenierten und propagierten Legende von Hitler als frommem Staatsmann zu sehen, die gerade im protestantischen Deutschland einflussreich war. 111 So heißt es in 2913 Bedeutung, 98: „Das protestantische ‚ich‘ bedeutete […] eine Belebung der Idee des Führertums, des Führers, der nur Gott verantwortlich seiner Sache dient. Lutherische Freiheit zeigt sich im Verantwortungsfreudigkeit; das ist die reformatorische Wurzel in Bismarcks Lebenswerk.“ 112 2505 Staatsgedanke. Der Text der Schrift wurde nicht geändert, lediglich um zehn Anmerkungen ergänzt. Der Schrift wurde allerdings als zweiter Teil die in sich geschlossene Schrift „Zum Problem des Krieges“ (2506) beigefügt. 113 2505 Staatsgedanke, 47, Anm. 1. Auch Althaus sieht den Reichskanzler der deutschen Einheit nicht gänzlich unkritisch, wie er am Beispiel des Bismarckschen Umgangs mit politischen Verträgen zum Ausdruck bringt; vgl. ebd., 53, Anm. 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Dass Althaus mit Bismarck als dem vorbildhaften Staatsmann argumentiert, hat nicht nur materiale Gründe, die in einer religiösen und weltanschaulichen Übereinstimmung der beiden zu suchen ist, sondern hat auch formale, programmatische. Denn der Ethiker Althaus erwartet sich zur sittlichen Erziehung der Menschen viel „von den Mächten sittlicher Begeisterung, die aus der Geschichte an uns herantreten: von dem Vorbilde leuchtender Gestalten, von der tragenden und ‚erlösenden‘ Macht großer geschichtlicher Stunden und Verantwortungen.“114 Für diesen Zweck erscheint Althaus der frühere Reichskanzler geradezu prädestiniert115. Nicht zuletzt war der Verweis auf das scheinbar leuchtende politische Vorbild Bismarcks bei Althaus, wie bei der politischen Rechten während der Zeit der Weimarer Republik überhaupt, ein geschichtspolitisches Instrument, um dieser Republik die Legitimation zu entziehen. So wurde Bismarck gleichsam zu einer Chiffre für vergangene Größe Deutschlands und zugleich für zukünftige Möglichkeiten, wenn Deutschland wieder Staatsmänner nach seinem Format hätte. „Wann immer sich konservative und nationalistische Kreise zwischen 1918 und 1933 auf Bismarck beriefen“, konstatiert Robert Gerwarth, „so taten sie dies, um der von ihnen verachteten Republik den mythisch überhöhten Maßstab des ‚Eisernen Kanzlers‘ und der glorifizierten Zeit seiner Herrschaft anzulegen.“116 Für Althaus lag das entscheidende Augenmerk dieser Glorifizierung auf der Frömmigkeit Bismarcks117. 5.5 Zusammenfassung „Die Geschichte, in der die Völker politisch handelnd sich entfalten, ist nach Gottes Willen die Voraussetzung für die Geschichte seines Reiches.“118 Indem Althaus die Geschichte und damit auch geschichtliche „Werte“ wie den Staatsgedanken teleologisch auf das Gottesreich bezieht, tritt die von ihm vormals in der Auseinandersetzung mit Religiösen Sozialisten und Pazifisten vorgenommene eschatologische Differenzierung der beiden Größen in der nunmehr aktuellen Frontstellung zu Barth und dessen Dialektischer Theologie mehr und mehr zurück. Althaus will mit seinem Konzept der Unterschiedenheit und 114 2806 Leitsätze, 17; vgl. 2305 Krisis, 11. 115 Er bleibt dies für Althaus auch über das Jahr 1945 hinaus, wenn er in seinem Aufsatz „Religion ohne Christus?“ von 1948, der auf Vorträgen der Jahre 1942 bis 1944 basiert, weiterhin Bismarck als Vorbild für Gottesfurcht vorstellt (ebd., 16). 116 Gerwarth, Bismarck, 20. 117 Vgl. 3314 Volks-Geschichte, 23. 118 2305 Staatsgedanke, 42. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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doch zugleich spannungsvollen Bezogenheit von Welt und Reich Gottes, von Geschichte und Übergeschichte einen Mittelweg zwischen völligem Dualismus und fortschreitender Synthese betreten. Dass Theologie und Kirche nicht nur gegenüber den einzelnen Menschen, sondern auch gegenüber den menschlichen Strukturen den Willen Gottes über sie zu vertreten hat, ist sich Althaus bewusst. Die Vermittlung des göttlichen Willens mit der Welt geschieht folglich nicht mehr nur im Individuum, sondern sie hat ihren Ort auch in der Geschichte selbst. Hier setzt Althaus’ Erörterung des Verhältnisses der geschichtlichen Strukturen des menschlichen Zusammenlebens zum Gottesreich an. So lautet seine Erkenntnis, dass „die Hingabe an die großen objektiven Werte, deren Dienst dem Einzelnen je nach Gabe und Führung zum Berufe werden kann, ihren selbständigen Platz in der sittlichen Welt neben den Verantwortungsverhältnissen gegenüber Menschen“ hat119. Weil auf diese Weise „objektive Werte“ einen Verpflichtungscharakter erhalten, indem sie in Beziehung zum Reich-Gottes-Begriff gebracht werden, droht aber die Unterschiedenheit zwischen Welt und Gottesreich marginalisiert zu werden. Die Folge ist für Christian Schwarke „eine Entgrenzung des Reich-Gottes-Begriffs zum Bezugsrahmen möglicher Güter.“120 Auch wenn Althaus beteuert, keine konkreten Inhalte religiös verklären zu wollen, so enthält sein Konzept doch keinerlei Kontrollmechanismen, um diesem Problem gerecht zu werden. Deutlich finden sich in dieser Althausschrift von 1923 Formulierungen, die als Präfigurationen seiner später explizit gemachten Ordnungstheologie zu verstehen sind. Als Maßstab für mögliche „objektive Werte“ bzw. Ordnungen nennt Althaus den Charakter der Notwendigkeit und Voraussetzung für eine Geschichte Gottes mit den Menschen bzw. die „teleologische Beziehung auf das Reich Gottes“: „Um derentwillen ist uns die Ehe und das geschlechtliche Leben als Gottes Ordnung und Schöpfung heilig, um derentwillen nicht minder das Recht, die Befehlsverhältnisse, der Staat.“121 Nicht ganz so explizit wie Ehe, Recht und Staat rückt Althaus darüber hinaus aber auch das Volk in die Nähe einer Ordnung, wenn er ganz selbstverständlich von „unserer Gebundenheit an Volk und Staat spricht“122. Auch im Gedanken des „Volksberufs“ schwingt der Ordnungscharakter spürbar mit. Angesichts einer als Chaos
119 Ebd., 20. 120 Schwarke, Anfänge, 26. 121 2305 Staatsgedanke, 17. Was er unter „Befehlsverhältnissen“ versteht, wird nicht ganz klar. Gemäß seinem organischen Verständnis von Volk und Staat dürfte es sich dabei um einen hierarchischen Gesellschaftsaufbau handeln. 122 Ebd., 11. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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und Unordnung erfahrenen Zeit verbirgt sich hinter diesen Ordnungsvorstellungen eine große Furcht vor der Zersetzung der menschlichen Lebenszusammenhänge und damit vor der Auflösung und „Verneinung von Familie, Volk und Staat“ durch die „Aufhebung aller Grenzen in dem allgemeinen Gefühle der Menschenbruderschaft“123. Im gegenüber früheren Veröffentlichungen weiter konkretisierten „Berufs gedanken“, der sowohl auf Einzelpersonen als auch auf ganze Völker angewandt wird, meint Althaus, den Dualismus zwischen Reich Gottes und politischem Handeln mit seinen relativen Eigengesetzlichkeiten zu überwinden. „Politisches Ethos“ besteht für ihn vornehmlich im Gehorsam gegen den von ihm angenommenen geschichtlichen Beruf, der ebenso wie der Staat und das Volk als göttliche Gabe und Aufgabe verstanden wird124. Indem Althaus den religiösen und sittlichen Wert betont, den der Einsatz für Volk und Vaterland seiner Meinung nach hat, lädt er damit zugleich die Begriffe Volk, Staat und „Beruf“ theologisch auf und macht den Dienst an ihnen zu einem göttlichen Gebot. Die Nächstenliebe soll sich damit als Dienst am Volk und somit als Gehorsam gegenüber Gottes Willen bewähren. Diese Haltung ist das große Althaussche „Ja“ zu Volk und Vaterland. Doch er bleibt – wie so oft – nicht bei einem bloßen „Ja“ stehen, sondern geht in seinem ambivalenten Grundschema weiter zu einem ebenfalls theologisch qualifizierten „Aber“. Sein Bewusstsein für eschatologische Fragestellungen, die er nicht zuletzt in den „Letzten Dingen“ zum Ausdruck bringt und die er immer wieder gegenüber den Religiösen Sozialisten ins Feld führt, lässt ihn nicht im „Vorletzten“ verharren. So etwas wie ein „eschatologischer Vorbehalt“ greift auch in seiner Ethik des Politischen. So schließt er seine sozialethischen Überlegungen, die im Ganzen die Intention haben, Reich Gottes und politisches Handeln zusammenzubringen, doch wieder mit einem Hinweis auf die Unterschiedenheit der beiden Größen: 123 Ebd., 34. An dieser Stelle wird Althaus’ ambivalente Haltung und sein lavierendes „Ja, aber“ einmal mehr deutlich: „Die Liebe im Sinne Jesu ist und bleibt der Wille zum Dienste in ganz konkreten Verpflichtungsverhältnissen. Sie macht gewiß frei von den engen und argen Schranken, die das natürliche Menschenherz dem Willen zur Gemeinschaft zieht. Sie will Gemeinschaft auch jenseits der Familie, auch über die Volksgrenzen hinaus. Aber mit kosmopolitischem Vergessen unserer Gebundenheit an Volk, Stamm, Familie hat sie gar nichts zu tun“ (ebd., 35). 124 Wie weit damals der Gedanke von Volk und Vaterland als göttliche Gaben über alle politischtheologischen Grenzen hinweg verbreitet war, zeigt eine mit Althaus zeitgleich im Januar 1923 veröffentlichte Stellungnahme des Baptisten-Pfarrers Heinrich Euler, zusammen mit Eberhard Arnold Begründer der religiös-sozialistischen „Neuwerkbewegung“, über „Christentum und Pazifismus“, wo er davon spricht, es dürfe nicht zerstört werden, „was Gott uns gegeben hat, wofür wir beten, sorgen, leiden und wirken, in dessen Schoß wir aufwuchsen: das Vaterland“ (Euler, Christentum, 408). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Der Gedanke an Gottes Reich erinnert uns an den nur relativen und begrenzten Wert der höchsten vaterländischen Güter: des Lebens, der Freiheit, Ehre und Zukunft der Nation. Das Bewußtsein darum gehört zum Ethos der Politik wesentlich hinzu. Bismarck hat das gewußt.“125 Althaus fährt fort: „Die Gewißheit um Gottes Reich schenkt mitten im vaterländischen Dienste die innere Freiheit von allen nationalen Fragen und Zielen. Sie sind nicht das Letzte. Auch die stolzesten Staatsbauten sind vergänglich und selbst die weiteste weltgeschichtliche Sendung nimmt ein Ende. Nur ein Reich bleibt, das Reich der Seele, das Gott baut, mitten in der Geschichte“.
Althaus zufolge führt die „Gewißheit um Gott und seinen Willen […] in eine Haltung voll tiefer Spannung“: Auf der einen Seite der gottbefohlene Dienst an Volk und Vaterland. Auf der anderen Seite die „Kraft jener inneren Freiheit“126, die den Menschen sich nicht ans Vorletzte verlieren lässt. Gewährsmann für dieses gelebte „Ethos der Politik“ ist für Althaus wiederum Otto von Bismarck, der um „das Ineinander von starker Hingabe an die Sache des Vaterlandes und von innerster Freiheit“ wusste: „Beide, die Hingabe und die Freiheit, stammen bei Bismarck aus der gleichen Wurzel: aus dem Gottesglauben.“127 Dass Althaus diesen eschatologischen Vorbehalt gerade am Ende seiner Schrift und damit an exponierter Stelle formuliert, zeigt, wie wichtig er ihm trotz seines großen Plädoyers für eine nationale Politik ist. Zu verstehen ist dies als Hinweis darauf, dass aller Uneindeutigkeit und Ambivalenz zum Trotz bei ihm das politische Anliegen stets dem religiösen untergeordnet bleibt. Als am besten geeignete Staatsform, um dem Berufsgedanken gerecht zu werden, erscheint Althaus das „verantwortliche Führertum“, bei dem die führenden Staatsmänner bzw. der führende Staatsmann mit Hilfe ihrer bzw. seines Gewissens den göttlichen Willen über das Volk erspüren und in die Tat umsetzen. Dabei ist der jeweilige Politiker allein Gott gegenüber verantwortlich und ist von menschlichen Kontrollinstanzen unabhängig und damit unkontrollierbar. Nicht zuletzt deshalb ist für Althaus eine demokratisch-parlamentarische Staatsform „unsittlich“ und damit unmöglich, weil dort seiner Auffassung nach die Verantwortlichkeit des politischen Handelns vor Gott marginalisiert zu werden droht und allein menschliche Kontrollinstanzen vor Machtmissbrauch schützen sollen. Zweierlei Motivationen von Althaus lassen sich in diesem sozialethischen Aufsatz von 1923 erkennen, so wie er stets in seinen Veröffentlichungen dop 125 2305 Staatsgedanke, 50 f. 126 Ebd., 52. 127 Ebd., 51. Althaus zitiert Bismarck hier mit den Worten: „Den spezifischen Patriotismus wird man allerdings mit dieser Betrachtung [= der Vergänglichkeit der Staaten] los, aber es wäre auch jetzt zum Verzweifeln, wenn wir auf den mit unserer Seligkeit angewiesen wären.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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pelt motiviert und angetrieben erscheint. Die erste ist eine theologische Motivation: Infolge der nicht zuletzt durch die Auflösung der vormals engen Verbindung von Thron und Altar bedingten Wahrnehmung der Welt als immer säkularisierter und autonomer gegenüber althergebrachten Ordnungsvorstellungen fühlte sich die evangelisch-theologische Zunft, die sich nun angesichts einer veränderten Gesellschaftsstruktur und einer veränderten politischen Kultur nicht mehr als so etwas wie die deutsche „Leitkultur“ verstehen konnte, dazu aufgerufen, nach neuen Antworten zu suchen. Diese fand man vielfach in Konzeptionen einer theonomen Weltdeutung. Dadurch konnte zum einen die als in Chaos (Revolution, Inflation) und Unordnung (System von Versailles) befindlich erfahrene Welt allem Hang zum Verzweifeln an ihr zum Trotz als Schöpfung Gottes verstanden werden, die es nur wieder nach altbewährten Mustern (Luther, Bismarck) neu zu ordnen galt. Zum anderen konnte man sich durch eine derartige theonome Weltdeutung selbst das Recht zusprechen, den Schlüssel zur Lösung der Probleme in Händen zu halten. Die drohende Gefahr der Marginalisierung von Theologie und Kirche war damit gebannt. Im politischen Bereich bedurfte es dazu nun noch verlässlicher Verbündeter, die eine solche Interpretation der Wirklichkeit und deren kirchliche Propheten akzeptierten128. Solche fand man in den altkonservativen, reaktionären, zu Beginn der 20er Jahre noch vielfach monarchistischaristokratisch gesinnten Kreisen im Umfeld der Deutsch-Nationalen129. Die direkte Verbindung zur zweiten, politisch-weltanschaulichen Motivation ist damit schon gegeben: Um die Demütigung Deutschlands im Gefolge von Kriegsniederlage und Versailler Vertrag vergessen zu machen und Deutschlands materielle und moralische Abhängigkeit von den Siegerstaaten zu überwinden, muss nach Althaus ein am 19. Jahrhundert mit seiner idealisierten Führungspersönlichkeit Bismarcks orientiertes und geschultes deutsches Nationalstaatsbewusstsein wiederhergestellt bzw. neu geschaffen werden. Der von den Weltkriegssiegern den Deutschen vorgegebene Irrweg namens „parlamentarische Demokratie“ musste schleunigst verlassen werden – Gottes wegen und Deutschlands Zukunft wegen. Ein „verantwortliches Führertum“ im Sinne des „organisch-aristokratischen Staatsideals“ sollte an seine Stelle treten. Beide Anliegen Althaus’ klingen bereits im Titel „Staatsgedanke und Reich Gottes“ an. Alles in allem handelt sich dabei sowohl um eine apologetische, als 128 Bereits als Militärpfarrer in Lodz hat Althaus im dortigen „Deutschen Verein“ solche Verbündete gefunden; vgl. Kap. I, 2. 129 So nimmt es auch nicht Wunder, dass Althaus „zeitweilig (bis 1929) Mitgl[ied] der Deutschnat[ionalen] Volkspartei“ (DNVP) war, wie aus seinem Erlanger Personalakt hervorgeht (PAA F 2/1 Nr. 2186 c). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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auch um eine programmatische Schrift. Gemäß Althaus’ theologischen und weltanschaulichen Prägungen und Präferenzen gilt es für ihn zum einen, lutherische Sozialethik gegen die Angriffe der Liberalen Theologie und der neuerdings erstarkenden Dialektischen Theologie zu verteidigen; zum anderen ist er bestrebt, die in seinen Augen auch für die Zukunft Deutschlands wegweisende „politische Ethik Bismarcks“ in der aktuellen „Krise des deutschen Staatsgedankens“ zur Geltung zu bringen. Beides, lutherische Sozialethik und Bismarcksche politische Ethik, will er als „objektive Werte“ verstanden wissen und damit seinen Beitrag leisten, gehorsamen „Dienst an einem Anvertrauten, an einer Vergangenheit, deren Erbe gedeutet und gewahrt, an einer Zukunft, die gewagt werden soll, Dienst an etwas über dem Volke“ zu tun. Althaus, der als „Sachwalter des ‚Gottesglaubens‘ bei der Formulierung einer ‚deutschen Staatsidee‘ in Erscheinung“ tritt, zu deren Fundamenten ganz selbstverständlich das Luthertum gezählt wurde, reiht sich mit seinem Versuch, einen eigenen, theologisch bestimmten Staatsgedanken als „Alternative zu den ‚westlichen‘ Demokratievorstellungen“ zu formulieren, ein in die Opposition gegen Weimar130.
130 Tanner, Verstaatlichung, XVIIIf. Er ordnet ein solches Unternehmen ein „in den Gesamtzusammenhang jener Versuche, eine ‚Ideologie des deutschen Weges‘ als Legitimationsgrund für ein sich von den ‚westlichen‘ Demokratien unterscheidendes politisches System zu entwerfen“ (ebd., IXX). Wenn sich Althaus dabei mit dem „Staatsgedanken überhaupt“ und nicht mit einer konkreten „Verfassungsform“ beschäftigt (vgl. 2305 Staatsgedanke, 17), ist dies für Tanner „nur ein Modus, mit dem die Theologen der demokratischen Republik ihrer Anerkennung verweigerten“ (Tanner, Verstaatlichung, 234). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Kapitel IV: Kirche, Volk und Staat – Paul Althaus in Erlangen 1925 bis 1933 1. Der Wechsel nach Erlangen und seine Lehrtätigkeit 1925 bis 1933 „Seit der Erstlingsschrift im Jahre 1911 hat Althaus eine beträchtliche Zahl von Arbeiten teils selbständig, teils in Zeitschriften veröffentlicht […]. Die Schriften der Nachkriegsjahre befassen sich durchweg mit Fragen, die im Brennpunkte der geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart stehen. Sie sind durch Reichtum der Gedanken, Sicherheit der Methode, Klarheit der Darstellung und Bestimmtheit des Urteils ausgezeichnet. Diese Vorzüge treten in der Schrift ‚Staatsgedanken und Reich Gottes‘, welche eine ebenso schwierige wie bedeutende Frage der christlichen Ethik geradezu meisterhaft behandelt, besonders deutlich hervor. Auch als Mitherausgeber der vor 2 Jahren gegründeten ‚Zeitschrift für Systematische Theologie‘, die eine sehr günstige Entwicklung genommen hat, hat Althaus einen weithin bekannten und angesehenen Namen. Über seine Lehrtätigkeit hört man die günstigsten Urteile. Seinetwegen gehen nicht wenige Studenten nach Rostock. Sein Vortrag wird als fesselnd und geistvoll gerühmt. Auch in persönlich-seelsorgerlicher Beratung der Studenten, eine besonders wichtige Aufgabe des systematischen Theologen, übt er, begünstigt durch die Erfahrung, die er im Krieg als Lazarettgeistlicher in Lodz gesammelt hat, eine einflußreiche Wirkung aus. Man darf mit Bestimmtheit Althaus eine bedeutende Zukunft voraussagen.“1
Voll des Lobes für den 36jährigen Rostocker Systematiker wendet sich die Erlanger Theologische Fakultät am 23. Dezember 1924 an den Akademischen Senat der Universität, um ihm ihre Berufungsvorschläge für die Nachfolge des Systematikers Richard Grützmacher zu unterbreiten. An die erste Stelle setzt eine Mehrheit der Fakultät den seit 1923 in Erlangen als Kirchenhistoriker lehrenden, aber zur Systematik hinstrebenden Werner Elert. Althaus, den die übrigen gerne an erster Stelle sähen, kommt laut dem Schreiben der Fakultät für die zweite Stelle „wenn nicht allein, so doch bei weitem in erster Linie in Betracht“2. Der Senat folgt dieser Empfehlung der Fakultät jedoch
1 Schreiben der Theologischen Fakultät an den Senat vom 23.12.1924 (PAA F 2/1 Nr. 2186 a). 2 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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nicht und setzt seinerseits Althaus an die erste Stelle. Diesem Vorschlag gibt München statt, woraufhin der Rostocker Theologe mit Ministerialerlass des bayerischen Kultusministeriums vom 11. Mai 1925 zum 1. August 1925 zum ordentlichen Professor für Dogmatik, Apologetik und Dogmengeschichte ernannt wird3. Als in der Zwischenzeit am 9. April 1925 sein Vater Paul Althaus d. Ä. stirbt, wirbt nun auch die Leipziger Fakultät um ihn als dessen Nachfolger auf dem Systematik-Lehrstuhl4. Zwei weitere ehrenvolle Rufe erreichen Althaus in der Zeit der Weimarer Republik: Ab 1. Oktober 1929 soll er den Systematik-Lehrstuhl in Halle übernehmen und ein Jahr später den in Tübingen. Doch Althaus plant nun, sich langfristig an Erlangen zu binden. Die Themen seiner Lehrveranstaltungen in Erlangen sind sehr vielfältig. Regelmäßig hält er Vorlesungen in Dogmatik, Ethik, Geschichtsphilosophie, Theologie- und Dogmengeschichte, Theologie und Ethik Luthers, aber auch über „Lehre und Predigt“. Seine apologetischen Seminare, die er in jedem Semester – ab dem Sommerhalbjahr 1930 getrennt in Unter- und Oberstufe – hält, lassen einen gewissen Schwerpunkt in der Eschatologie erkennen, sind sonst aber sehr abwechslungsreich5. Im Winterhalbjahr 1929 und im Sommerhalbjahr 1930 ist Althaus Dekan der Erlanger Fakultät. Anfang 1932 wird er nach dem Tod Philipp Bachmanns dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Systematische Theologie und neu testamentliche Exegese, eine Kombination, die er bereits in Rostock innehatte6. Er bleibt zugleich Vorstand des Seminars für Apologetik. Als Bachmann im März 1931 stirbt, wird Althaus – zunächst bis 1937 gemeinsam mit dem Praktischen Theologen Friedrich Ulmer – dessen Nachfolger als Universitätsprediger. Mit einer Unterbrechung zwischen 1940 und 1946, als das Amt während des „Dritten Reiches“ abgeschafft wird, übt er dieses Amt bis 3 Zu dem Vorgang vgl. von Loewenich, Fakultät, 643, Anm. 13. Er weist darauf hin, dass „die Berufungsgeschichte auf die Stellung Elerts zu Althaus (und seinen Schülern) nicht ohne Einfluß geblieben ist“. 4 Vgl. Althaus’ Schreiben an den Erlanger Senat vom 3.10.25 (PAA F 2/1 Nr. 2186 a). 5 So behandelt er im Winterhalbjahr 1926/27 die Versöhnungslehre, im Sommerhalbjahr 1927 das Reich Gottes, im Winter 1928/29 die Dialektische Theologie, im Sommer 1929 die Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, im Sommer 1930 Brunners Religionsphilosophie, im Winter 1930/31 Troeltsch und Tillich sowie Hirschs Christologie, im Sommer 1931 „Das Evangelium und die Weltreligionen“ sowie Kants Grundlegung zur Metaphysik des Sittlichen, im Winter 1931/32 „Theologie und Konkordienformel“ sowie „Die neutestamentlichen Grundlagen einer Lehre vom Glaubenserkennen“, im Sommer 1932 „Politik und Ethik“; vgl. die Erlanger Vor lesungsverzeichnisse aus dieser Zeit. 6 Seine erste neutestamentliche Lehrveranstaltung war im Sommerhalbjahr 1932 eine Vor lesung über den 2. Korintherbrief, im Winterhalbjahr 1933/34 las er erstmals den Römerbrief. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
Lehrtätigkeit 1925 bis 1933
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weit über seine Emeritierung im Jahre 1957 bis 1964 aus. Wie schon in Rostock, entstehen in dieser Zeit zahlreiche Predigtsammelbände7. Das Nebeneinander bzw. Ineinander von theologischem Lehramt und kirchlichem Predigtamt, das Althaus schon von seinem Vater kannte8, war ihm Zeit seines Lebens ausgesprochen wichtig. In der Tradition seines Vaters, der in den theologischen Richtungskämpfen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als „Positiver“ stets die Verbundenheit von Theologie und Kirche gelebt hatte, war auch für ihn etwas anderes als eine kirchenbezogene Theologie undenkbar. Der Professor Althaus war somit immer zugleich auch der Prediger Althaus. So nimmt es nicht wunder, dass er neben seinen eigentlichen Forschungsschwerpunkten Dogmatik, Ethik, Apologetik, Neues Testament und Lutherforschung auch praktisch-theologische Fragen, vor allem im Bereich der Liturgik, bearbeitete9. Neben seinem Kollegen Elert war es vor allem Althaus, der aus ganz Deutschland und aus dem lutherischen Ausland die Studenten nach Erlangen zum Theologiestudium strömen ließ, so dass die Studentenzahlen stetig anstiegen. Waren im Winterhalbjahr 1924/25 noch 118 Theologen in Erlangen eingeschrieben, was damals knapp zehn Prozent der Gesamtstudenten ausmachte, waren es im Winterhalbjahr 1931/32 bereits 513 (25 Prozent). Der Höhepunkt wurde im Winterhalbjahr 1933/34 mit 661 Studenten erreicht, was einem Anteil von 29 Prozent entsprach. Während der Zeit des Höhepunkts der (kirchen-)politischen Auseinandersetzungen um die bayerische Landeskirche studierten im Winter 1934/35 immerhin noch 495 Theologen in Erlangen (31 Prozent)10.
7 1932 kommt der Sammelband „Der Gegenwärtige“ heraus, und von 1934 bis 1941 eine Reihe von Predigtsammlungen unter dem Titel „Der Herr der Kirche“. 8 Vgl. seine eigenen ausführlichen Erinnerungen an seinen Vater in 2801 Leben. 9 Vgl. seine Vorträge und Aufsätze 2606 Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes; 2809 Das Nicänum in der bayerischen Agende; 3216 Wesen und Sinn der Liturgie; und 3604 Der Sinn der Liturgie; vgl. Kressel, Althaus, 547 f.; und Nicol, Althaus. Bereits 1918 hatte Althaus sich mit homiletischen Fragen im Rahmen der evangelischen Männerarbeit beschäftigt; vgl. 1808 Männern. 10 Die Zahlen sind den entsprechenden Angaben in den Vorlesungsverzeichnissen entnommen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
2. „Über dem Tore, durch das unser Geschlecht den Weg in die Kirche zurückfinden kann, steht geschrieben: communio, Gemeinschaft!“ – Paul Althaus über Kirche und Staat in der zweiten Hälfte der 20er Jahre Mit dem Ende des Kaiserreichs 1918 befand sich die evangelische Kirche in Deutschland in einer schweren Krise, weil mit der Monarchie und ihrer staatlicherseits garantierten Koalition von Thron und Altar sowohl das landesherrliche Kirchenregiment erledigt war, als auch der traditionelle privilegierte Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft gefährdet schien. Der neue, demokratische und religionsneutrale Staat wurden von nicht wenigen Kirchenmännern als religionsloser Staat gebrandmarkt, weil sie die Kirchen „nicht genügend an der ‚geistig-moralischen Wertbildung und Wertpropagierung in Staat und Gesellschaft‘ beteiligt sahen“1. Denn nach traditionellem Denkmuster, so Kurt Meier, erschien „Religion nur in volkskirchlichen Formen und in innerer Zuordnung zur staatlichen Ordnungsmacht im Sinne des ‚christlichen Staates‘ lebensfähig und wirksam“ für das Wohl des gesamten Gemeinwesens2. Althaus reagierte auf diese Krise auf seine eigene Weise. „Von Kind auf ist der Gedanke der Kirche mir heilig und herrlich gewesen“, schreibt er 1924, „und in der Wirklichkeit der Kirche mit Bewußtsein zu atmen schien mir von jeher Reichtum des Lebens.“3 Es gehört zur stilistischen Eigenheit des Althausschen Schaffens, dass seine Veröffentlichungen, die das Thema Kirche betreffen, stellenweise einen sehr persönlichen Grundton und damit nahezu Bekenntnischarakter erhalten. Bereits in seinem Ruf zur kirchlichen Erweckung, den er 1919 unter dem Titel „Das Erlebnis der Kirche“ veröffentlichte, war dies mehr als deutlich. Als Althaus damals die „Stunde der Kirche“ gekommen sah, stand er noch ganz unter dem Eindruck des verlorenen Krieges. Als er die kleine Schrift 1924 in zweiter Auflage herausgibt, tritt das Weltkriegserlebnis naturgemäß zurück, doch der Optimismus im Blick auf die Kirche ist auch nach fünf Jahren ungeliebter Weimarer Republik geblieben: „Es ist eine große Stunde für die Kirche. Seit 1918 sind alte Bindungen und Hemmungen, die die Freiheit der Kirche lähmten, dahingefallen. Nicht mehr von dem Staate bevormundet und gegängelt dürfen die deutschen evangelischen Kirchen nunmehr zeigen, was in ihnen lebt an freier Kraft des Glaubens und der Liebe“. 1 Meier, Volkskirche, 9. 2 Ebd., 10. 3 2408 Kirche, 77. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Eine große Verantwortung sieht er dabei auf der Kirche lasten, „neue Worte, neue Wege, neue Werke zu wagen, neue Formen des Wirkens und der Gemeinschaft“, damit die große Chance auf intensivierte Kirchlichkeit im deutschen Volk nicht vertan wird4. Den Hintergrund für diese Hoffnung bildet seine in der doppelten Diasporasituation der deutschen Protestanten in Polen während des Krieges herangereifte Vision von der wechselseitigen Befruchtung durch eine volksbezogene Kirche und ein kirchenbezogenes Volk. 2.1 Communio sanctorum und Volksgemeinschaft Wie zentral für seine Wesensbestimmung der Kirche der Gemeinschaftsbegriff ist, hat Althaus bereits 1919 in der ersten Auflage vom „Erlebnis der Kirche“ klar herausgestellt, wo er die Kirche in erster Linie als Glaubens-, Gebets- und Erkenntnisgemeinschaft beschrieb, die – ebenso wie das Volk – „im Grunde keinen Einzelnen“ kenne. An diesem Punkt setzt er nun an5. Eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Kirche sowohl innerlich gesunde und erstarke und daraufhin auch nach außen auf eine Gesundung des als zerrissen empfundenen ganzen Volkes wirken könne, sieht Althaus in ihrer Selbstbesinnung auf ihr eigentliches Wesen als Gemeinschaft. „Unserer Zeit sind die beiden großen Themen der Gemeinschaft und der Kirche neu gestellt“, konstatiert er Ende der 20er Jahre6. Noch stärker formuliert, ist für ihn die Frage nach der Gemeinschaft die aktuelle „Schicksalsfrage“ schlechthin. In ihr sieht er „die eigentliche Tiefe der ‚völkischen‘ Frage. Denn deren wahrer Ernst ist nicht das Rasseproblem, sondern das soziale.“7 Die Lösung dieser „Schicksalsfrage“ bedeutet nach Althaus aber, dass „die Wirklichkeit der Kirche als Gemeinde neu erfaßt und neu gelebt wird“8. 4 2407 Erlebnis, 31. 5 Es ist kein Zufall, dass Althaus im gleichen Maße, wie er den Gemeinschaftsaspekt der Kirche betont, auch die Bedeutung des Abendmahls für lutherischen Gottesdienst und Frömmigkeit hervorhebt; vgl. 2508 Gemeinschaft; 2912 Abendmahlslehre; und 3105 Abendmahlslehre. In 3105, 59 f. macht er explizit, dass es ihm darum gehe, „das Sakrament mit neuem Nachdruck als Mahl der Gemeinschaft, der communio sanctorum verstehen und erfassen [zu] lehren.“ 6 2903 Communio, V. 7 2803 Communio, 289. Er schreibt weiter: „‚Wiedergeburt der Völker aus dem Geiste der Gemeinde‘, so hat ein Jungsozialist, Gustav Landauer, das eine, was uns als Volk nottut, bezeichnet.“ Es ist bemerkenswert, dass Althaus ausgerechnet den bei der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik ermordeten jüdischen Anarchisten Gustav Landauer als Gewährsmann nennt, stammt das Zitat doch aus dessen „Aufruf zum Sozialismus“ von 1911, in dem dieser zu einer staatsfreien Gesellschaftsordnung aufruft. 8 2903 Communio, V. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Nachdem für ihn der „autoritäts- und kirchenlose moderne Individualismus“ und damit die Auflösung des Kirchengedankens in der Mystik, der Aufklärung und dem Idealismus wurzeln9, steht für ihn fest: „Unsere deutschen evangelischen Kirchen müssen zu dem Wesen der Kirche als Gemeinschaft selber erst wieder erwachen.“10 Für die Betonung des Gemeinschaftsaspekts der Kirche hat Althaus nicht in erster Linie sozialethisch-politische, sondern konfessionspolitische, apologetische Gründe. Althaus will, gerade im Gegenüber zum katholischen Kirchengedanken, die Relevanz und Leistungsfähigkeit der lutherischen Kirche für Volk und Gesellschaft hervorkehren. So schreibt der schwedische Systematiker Anders Nygren in einer Rezension zu Althaus’ Schrift „Communio sanctorum“ 1930: „So hat man einen wesentlichen Unterschied zwischen katholischem und evange lischem Christentum darin sehen wollen, daß man sie als Gemeinschaftschristentum und individualistisches Christentum einander gegenüberstellte. Es liegt jetzt klar zu Tage, daß dies eine vollständige Entstellung des evangelischen Christentums ist und daß es deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der Theologie ist, die Bedeutung des Gemeinschaftsdenkens bei Luther […] klarzulegen.“11
Die Zeit für ein Wiedererwachen des Gemeinschaftsgedankens in der Kirche erachtet Althaus als günstig: „Die Verselbständigung der Kirche gegenüber dem Staate machte die Frage nach Wesen und Gestalt der Kirche als Gemeinschaft brennend. In die gleiche Richtung wies und weist der Ruf der sozialen Not an die Kirche. Denn im Grund hat sie nur eine einzige soziale Aufgabe: in sich selber wirkliche Gemeinschaft werden und die lebendigen Kräfte der Gemeinschaft in die Gesellschaft und ihre Krisen hineinströmen zu lassen.“12
Groß sind dabei seine Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft von Kirche und Volk: „Was kann eine Gemeinde, in der die Nachbarschaft wahr 9 2408 Kirche, 78. 10 2803 Communio, 289. 11 Die Rezension ist abgedruckt in: ThLZ 1930, Nr. 2, 41–44, hier 41. Ähnlich bewertet man Althaus’ Arbeit auch in der norwegischen lutherischen Theologie; vgl. die Rezension von Olaf Moe in ThLBl 1929, 357 f.; vgl. die Rezension des katholischen Theologen Heinrich Weisweiler, der 1929 schreibt: „Die moderne protestantische Theologie hat unter anderem in der letzten Zeit die beiden großen Themen von der Gemeinschaft und von der Kirche neu zur Behandlung gestellt. Freilich werden sie noch zu stark nebeneinander statt miteinander behandelt. A[lthaus] sucht beide zu verbinden“ (abgedruckt in: Scholastik 1929, 580). 12 2903 Communio, 26. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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haftige Gemeinschaft wird, bedeuten für die Überwindung der Partei- und Klassengegensätze!“13 Schon die Tatsache, dass Althaus 1928 und 1929 binnen eines Jahres gleich zwei Texte mit dem Titel „Communio sanctorum“ veröffentlicht, zeigt, wie wichtig ihm eine Neubesinnung auf Wesen und Funktion der Kirche aus dem Gemeinschaftsgedanken ist. Diese Neubesinnung auf die „Kirche als Gemeinschaft wechselseitiger Liebe und Hingabe aus dem Grund der gemeinsamen Teilhabe an der Liebe und Hingabe Christi an uns“14 fußt für Althaus auf der Theologie Luthers15. Liebesgedanke und Gemeinschaftsgedanke, die Althaus beide aus Luthers theologia crucis, d. h. aus dem Rechtfertigungsgedanken, abgeleitet sieht16, müssen nun aber nach Althaus im Glauben an eine bessere Welt in die Gesellschaft wirken. So ruft er 1924 angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im krisengeschüttelten Nachkriegsdeutschland die Kirche auf zu einer „brüderlichen Solidarität der Starken mit den Schwachen“, zu einem „Liebeskommunismus, da keiner von seinen Gütern sagt, sie wären sein eigen, sondern alles den Brüdern gehört.“17 Hier, im „wahrhaften Kommunismus“, der im „Gesetz der Liebe“ gründet18 und in die „Solidarität des Heiligen mit den Befleckten, des Starken mit den Schwachen“ mündet19, wird für Althaus auch in seinem Aufsatz über die „Communio sanctorum“ 1928 der Sinn des Gemeinschaftsgedankens konkret und aktuell: „Die Wirklichkeit der communio, des ‚Kommunismus‘ in der Kirche ist ein wesentlicher Zug ihres Zeugenamtes.“20 So deutlich Althaus auch rückblickend das Versagen der Kirche in der sozialen Frage in der Zeit des Kaiserreichs anprangert, so sieht er vor dem Hintergrund der neuen Freiheit der Kirche von der Obrigkeit gerade angesichts des sozialen Unfriedens in der Weimarer Republik die kirchliche, diakonisch-volksmissionarische „Großstadtfront im Ringen um die Arbeiterschaft“21 13 2803 Communio, 299. 14 Joest, Althaus, 5. 15 Althaus’ Studie über „Die Gemeinde im lutherischen Kirchengedanken“ – so der Unter titel von „Communio sanctorum“ – dient der auf Luther fußenden „Besinnung auf die Kirche als Gemeinschaft“ (2903 Communio, V). Dietrich Bonhoeffer schreibt 1929 in seiner Dissertation „Sanctorum Communio“ über die Althausschrift: „Es war mir […] natürlich eine große Freude, in dieser Schrift weitgehendst eine Illustration wichtiger Teile der vorliegenden [= eigenen] Arbeit an Luther sehen zu können.“ (ebd., 107, Anm. 26). 16 2903 Communio, 48. 17 2407 Erlebnis, 31. 18 2803 Communio, 292. 19 Ebd., 293. 20 Ebd., 298. 21 Ebd., 297. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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noch lange nicht verloren, wenn zur Verkündigung des Wortes auch die Tat als Ausdruck der Gemeinschaft hinzutritt. Seine volksmissionarische Hoffnung und Überzeugung fasst Althaus mit den Worten zusammen: „Über dem Tore, durch das unser Geschlecht den Weg in die Kirche zurückfinden kann, steht geschrieben: communio, Gemeinschaft!“22 Die „Flamme heiligen Willens zur Volksmission“23 soll durch die gelebte Gemeinschaft neue Nahrung erhalten und so ins Volk hineinstrahlen. Warum aber kann gerade die Kirche für die Volksgemeinschaft ein Vorbild sein? Dies begründet Althaus im Gefolge lutherischer Rechtfertigungslehre mit dem „Wesen der christlichen Bruderliebe. Sie ist nicht in den Vorzügen des Bruders begründet, sondern einfach darin, daß er Bruder ist, in der Tatsache der Verbundenheit mit ihm, der Bruderschaft als eines gegebenen Verhältnisses. Wir lieben den Bruder, gemäß der Liebe, mit der Gott uns geliebt hat“24.
Diese bedingungslose Annahme des eigenen Volksgenossen, die für ihn wahre Gemeinschaft ausmacht, hat Althaus zufolge keinen Vergleich und keine Wertung nötig. Sie ist der Grund für Althaus’ stetigen Blick über den eigenen konfessionellen und nationalen Tellerrand hinaus, der letztlich in seinem ökume nischen Engagement mündet. 2.2 Una sancta – Die Gemeinschaft der Völker und Kirchen und Althaus’ Engagement in der Ökumenischen Bewegung Die Frage nach der Gemeinschaft hat für Althaus nicht nur einen nationalen, sondern ebenso einen internationalen Horizont. Nach seinem Dafürhalten ist sie „die Tiefe nicht nur der ‚völkischen‘, sondern auch der uns brennenden Völkerfrage, des internationalen Problems.“25 Althaus’ Gemeinschaftsverständnis eignet die charakteristische Dialektik der Trennung der Völker und Kirchen einerseits und der Einheit der Menschheit und der Ökumene andererseits. Das eine kann für ihn ohne das andere nicht gedacht werden. Dies hat er bereits während des Krieges deutlich gemacht, als er die Kirche 1917 davor warnt, „Sklavin des nationalen Willens“ zu werden und sie daher, unbenommen ihrer
22 Ebd., 289. 23 2408 Kirche, 83. 24 2903 Communio, 50. 25 2803 Communio, 289. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wichtigen nationalen Aufgabe, dazu aufruft, „daß sie die internationalen Gefühle pflegt.“26 Als Althaus im Jahr 1924 in seinem für die Zeitschrift „Die Tat“ verfassten Aufsatz „Die Kirche“ von der Kirche bzw. von den Kirchen spricht, gilt sein erstes Wort der historisch hergeleiteten Verschiedenheit der Völker und Kirchen: „Die Kirche steht in der Geschichte und geht in ihre Gesetze ein. Geschichte heißt Abfolge von Generationen, bedeutet Vielheit, Besonderung, Trennung durch Raum, Zeit, Individualität. Geistiges Gemeinleben kann in ihr sich nicht behaupten oder weiterzeugen ohne eine Ordnung zu schaffen, Sitte und Tradition zu werden […]. Die Kirche erscheint dabei in Kirchen. Alles Geschichtliche unterliegt Gesetzen der Besonderung. Nicht nur, daß die natürlichen Sonderungen nach Rasse und Volkstum sich auch in der Kirche ausprägen. Das menschliche Deuten des Anvertrauten, das Ringen um Erkenntnis […] führt in den Widerstreit.“27
Diese Trennung und dieses Widereinander wird für ihn erlebt sowohl als Freude am „Reichtum der Geschichte“, an der „geschichtlichen Mannigfaltigkeit“, aber auch als „Leiden unter den Rissen“28. Diesem ambivalentem Eindruck der Wirklichkeit entspricht und entspringt bei Althaus nun auch ein ambivalentes Verhalten im Blick auf die Kirche und besonders ihre Suche nach der Wahrheit: „Neben der Schätzung der Tradition muß der Glaube an die Revolution stehen“, d. h. „glauben an die immer wieder zu erwartende Revolution des Geistes in der Kirche.“29 Was aber ist der Grund für das „Leiden unter den Rissen“ und der Gegenstand des „Glaubens an die Revolution“? Die Antwort darauf lautet für Althaus: „In aller geschichtlichen Mannigfaltigkeit, deren wir uns freuen als des Reichtums Christi, und trotz aller schmerzlichen Spaltung, unter der wir leiden, erfassen wir im Glauben die tiefe Einheit der una sancta, aller an Christus gebundenen. Glaubend, betend, Christum bekennend wissen wir uns eins mit seinem Volke aller Zeiten, aller Rassen, aller Kirchen. Diese Einheit spottet Spenglers und seiner Zerreißung der ‚Menschheit‘ in gegeneinander einsame Kulturseelen. Die Einheit im ‚Geiste‘ greift tiefer als alle Sonderung des ‚Seelentums‘.“30
Es steht für Althaus außer Frage, dass diese wahre Einheit der Kirche in der Wirklichkeit der una sancta und damit auch die daraus folgende Wirklich 26 1707 Glaube, 17. Die gleiche Warnung vor der „Sklaverei einer blinden Vaterlandsliebe“ spricht Althaus auch in 1602 Vaterlandsliebe IV, 2 aus. 27 2408 Kirche, 85. 28 Ebd. 29 Ebd., 87. 30 Ebd., 90. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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keit der Einheit der Menschheit keine rein geistigen oder rein eschatologischen Gegebenheiten sind, sondern dass diese den Christen zum Handeln heraus fordern: „Freilich sollen die Kirchen die letzte Einheit nicht nur glauben, sondern auch pflegen, indem sie Fühlung halten, Arbeitsgemeinschaft suchen, wo es möglich und geboten ist, die Wahrheit Christi auch in der anderen Kirche ehren und wert halten und einander die Gemeinschaft lebendiger Auseinandersetzung, scharfer Kritik, ernsten Kampfes um die Wahrheit bewahren.“31 In seinen Augen „geht [es] nicht an, daß die nationale Verwurzelung der Kirchen Wirklichkeit sei, die übernationale Einheit der Kirche aber bloßer Gedanke bleibe –, wir pflegen auch eine Bekenntnis- und Kirchengemeinschaft, die quer durch die Landes- und Volkstumsgrenzen hindurchgeht“32.
Im Glauben an die una sancta und als Antwort auf die daraus sich ergebenden Forderungen nach gelebter Gemeinschaft und „lebendiger Auseinandersetzung“ reiht sich Althaus seit den 20er Jahren denjenigen Theologen und Kirchenmännern ein, die „Arbeitsgemeinschaft suchen“. Der Gedanke internationaler kirchlicher Arbeitsgemeinschaft ist bei Althaus nicht neu, bereits während des Krieges hat er ihn 1917 formuliert33. So erklärt sich nun seine rege Mitarbeit in der jungen ökumenischen Bewegung für Praktisches Christentum („Life and Work“). Die theologische Einordnung dieser im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einsetzenden Bewegung ist nach Reinhard Slenczka „nicht ganz einfach. Die Personen wie die Probleme kommen aus der christlichen Sozial- und Friedensarbeit; im Vordergrund steht nicht die Theologie, sondern die gelebte Frömmigkeit und die Betroffenheit durch die anstehenden Aufgaben.“34 „Kritik an herkömmlicher Dogmatik und kirchlicher Institution“ verbindet viele der Teilnehmer an dieser Bewegung, deren eine historische Wurzel in der frühen christlichen Friedensbewegung zu suchen ist. Nimmt man dies beides in den Blick, so möchte man die Mitarbeit eines Theologen wie Althaus für nahezu ausgeschlossen halten, steht seine politische Theologie doch gerade für eine intensivierte Kirchlichkeit und gegen einen christlich begründeten Pazifismus. Betrachtet man jedoch die zweite historische Wurzel dieser in sich so heterogenen Bewegung, nämlich die christlich-kirch 31 Ebd. Zum Gedanken der una sancta und der Einheit der Menschheit vgl. 2604 Dinge, 178. Die Einheit der Kirche spricht Althaus auch im liturgischen Zusammenhang an; vgl. 3216 Wesen, 1026. 32 2704 Volkstum, 141; Hervorhebung von Althaus. So betont er, „deutsche Lutheraner wissen sich nordischem, slawischem, amerikanischem Luthertum eng verbunden“. 33 Vgl. 1707 Glaube, 17. 34 Slenczka, Dogma, 450. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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liche Auseinandersetzung mit der sozialen Frage, vor allem in Form der christlich-sozialen Bewegung, so wird Althaus’ Interesse an dieser Form der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft schnell klar. Nachdem sein Vorwurf an die Kirche stets lautet, in der Vergangenheit in der sozialen Frage versagt zu haben, nimmt er sich dieses universellen Problems nun auch in ökumenischer Weite an. So ist das zentrale Charakteristikum und zugleich der gemeinsame Nenner von „Life and Work“, nämlich das gemeinsame Bewusstsein einer sozialethischen Gesellschaftsverantwortung der Kirche, auch für Althaus der Grund für sein Engagement. So charakterisiert auch Slenczka die Theologie der Bewegung für Prak tisches Christentum als eine, „für die in den ethischen und sozialen Wirkungen des christlichen Glaubens ein wesentliches Kriterium liegt.“35 Zur zentralen sozialethischen Kategorie wird im Diskurs von „Life and Work“ das Reich Gottes, besonders in der amerikanischen Theologie und der dortigen Auffassung von „social gospel“, für die nach Slenczka gilt: „Die Gesellschaft wird in dieser säkularisierten Eschatologie mit dem Reich Gottes gleichgesetzt.“36 Dagegen setzt Althaus nun seine eigene dezidiert theologische Eschatologie und sein eigenes lutherisches Verständnis vom Gottesreich37. Wenn er in diesem Diskurs das Wort ergreift, so schließt er dabei direkt an seine eigene Auseinandersetzung mit den Religiösen Sozialisten in der Frage nach dem Reich Gottes an. Spiritus Rector der ökumenischen Bewegung für Praktisches Christentum war Nathan Söderblom, seit 1914 Erzbischof von Uppsala und Primas der lutherischen Kirche Schwedens. Die Tatsache, dass „Life and Work“ anders als der Völkerbund nicht das geistige Produkt der ehemaligen Feinde Deutschlands war, sondern sich dem Engagement dieser aus einem im Krieg neutralen Land stammenden Persönlichkeit verdankte, erleichterte den deutschen Kirchen die Mitarbeit erheblich38. Von Söderblom stammte auch die Initia 35 Ebd. 36 Ebd., 451. 37 Zu Althaus’ Sichtweise der amerikanischen Reich-Gottes-Theologie, die er als evolutionistische Geschichtsanschauung ablehnt, vgl. seine Rezension zu Heinrich Fricks Schrift „Das Reich Gottes. In amerikanischer und in deutscher Theologie der Gegenwart“ (2704R Frick) und die entsprechenden Abschnitte in seinen Lehrbüchern: 2806 Leitsätze, 25; und 3307 Dinge, 223 f. 38 Bormuth, Kirchentage, 204, Anm. 783 macht geltend, dass aus deutscher Sicht gerade auch folgende Aspekte für ein Vertrauen in Nathan Söderblom ausschlaggebend waren: „Er hatte 1914 als Professor an der Universität Leipzig gelehrt, und einer seiner Söhne hatte im Weltkrieg als Offizier auf deutscher Seite gestanden. Sein persönliches Erscheinen auf dem Stuttgarter Kirchentag 1921 wurde von der Kirchentagsleitung als demonstrative Solidaritätskundgebung und öffentlicher Protest gegen die Behandlung Nachkriegsdeutschlands durch die Alliierten gewertet“. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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tive für die erste Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm im August 1925, dem Gedenkjahr des Konzils von Nicäa39. Auf Einladung von Söderblom nimmt auch Althaus an der Weltkonferenz teil40 und hält im Gottesdienst am Sonntag, den 23. August 1925, die Predigt über 2. Tim 2,9, in der er die Freiheit des Gotteswortes von aller menschlichen Begrenztheit hervorhebt. Seine Predigt mündet am Ende in einen kritischen Rückblick auf den Weltkrieg, den er im Kontext der menschlichen Sünde verortet: „Gottes Wort frei von uns – frei auch (das ist besonders fröhlich!) von der Hemmung durch unsere Menschlichkeiten und Sünden. Mächtigstes Kriegserlebnis der europäischen Kirchen: die Heidenkirchen in Afrika und Asien haben das Ärgernis des Weltkrieges als Schande der Christenheit erlebt – und sind nicht an Gottes Wort irre geworden, an der Christenheit Europas vielleicht, aber nicht an Christus! Sie messen das Evangelium nicht an Europa, sondern verurteilen Europa vom Evangelium aus.“41
In diesem kritischen Rückblick auf die „Schande der Christenheit“ drückt sich zweierlei aus: Zum einen Althaus’ fortwährendes Interesse an der Frage der Mission, zum anderen seine Bestrebung, bei der Frage nach der Schuld am und im Weltkrieg alle am Krieg beteiligten in den Blick zu nehmen42. Dieses Anliegen liegt auf einer Linie mit der zunehmend differenzierten Sichtweise der Kriegsschuldfrage in ökumenischen Kreisen. Für Slenczka war die Stockholmer Konferenz „zweifellos ein Ereignis […], doch sie hatte […] kein Ergebnis für eine weltweite Einheit der getrennten Kirchen im Dienen. Wohl aber hatte sie Folgen“43. Zu diesen gehört die Einsetzung einer Theologenkommission unter der Leitung des Berliner Neutestamentlers Adolf Deißmann und des Dompropstes von Canterbury, George Bell, die den theologischen Diskurs fortsetzen und die strittigen Punkte bearbeiten soll. Als „direkte Lebensäußerung der Stockholmer Bewegung“ lädt Bell für Anfang April 1927 je sechs deutsche und britische Theologen zu einer britisch-deutschen Theologenkonferenz nach Canterbury ein, die das „gewaltige 39 Althaus bezeichnet die Weltkonferenz in 2506 Problem, 106 sogar als „Konzil“. 40 In 3904 Evangelium, 13 spricht Althaus davon, er habe „zwar nicht als offizieller Delegierter, aber als Prediger, von Söderblom berufen“ an der Stockholmer Konferenz teilgenommen; Hervorhebung von Althaus. Vgl. den Briefwechsel Althaus’ mit Söderblom im Frühsommer 1925 in NPA 11. 41 2510P Freiheit, 378. 42 In 3109 Bazillus, 64 schreibt Althaus rückblickend über die Stockholmer Konferenz, dass er dort zunächst unter dem „oberflächlichen internationalen Verständigungsjargon“ gelitten habe und es ihm erst als zumindest am Rande auch die Ungerechtigkeiten von Versailles zur Sprache kamen, möglich war, „ehrlicherweise in Stockholm auszuhalten.“ 43 Slenczka, Dogma, 458. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Gegenwartsproblem“44 des „Wesen[s] des Reiches Gottes und seine Beziehung zur menschlichen Gesellschaft“, so das Thema der Konferenz, behandeln soll. Zu den sechs deutschen Theologen gehört auch Althaus, der einen Vortrag zum Thema „Das Reich Gottes und die Kirche“ hält, in dem er das Wesen der Kirche und ihren Auftrag in der Welt umreißt45. Eine weitere britisch-deutsche Theologenkonferenz, an der nun auch skandinavische Theologen teilnehmen, findet Mitte August 1928 auf der Wartburg statt, diesmal zum Thema „Christologie“46. Auch hier beteiligt sich Althaus sowohl mit einem Vortrag über Christus als „Der Gekreuzigte“, als auch mit einer Morgenandacht, in der er anhand von Mt. 22,41–46 den aktuellen Sinn der Beschäftigung mit der Christologie hervorhebt47. An der dritten britisch-deutschen Theologenkonferenz in Chichester Ende März 1931 zum Thema „Corpus Christi“, für die er als Teilnehmer vorgesehen ist, ist Althaus wohl aufgrund finanzieller Engpässe der Veranstalter verhindert48. 1928 ist das Jahr, in dem sich Althaus am intensivsten in ökumenischem Rahmen mit theologischen Fragen beschäftigt. So reist er wenige Tage nach der Konferenz auf der Wartburg bereits Ende August 1928 auf einen schwedisch-deutschen Theologen-Konvent nach Uppsala, wo er „die starke Gemeinsamkeit zwischen der schwedischen systematischen und der neueren deutschen lutherischen Theologie“ feststellt49. Er selbst hält in Uppsala zwei Vorträge über „Christentum und Kultur“ und „Die gegenwärtige theologische Lage“50. Außerdem setzt er sich in diesem Jahr verstärkt mit englischsprachiger theolo gischer Literatur zur Ethik und zur Kirchenfrage auseinander51. 44 So Deißmann in einem Grußschreiben an die Konferenz, abgedruckt in: ThBl 6 (1927), Nr. 5 (Mai 1927), 114 f. Zur Konferenz vgl. den Bericht ebd., 113–142; und Weisse, Christentum, 443–451. 45 2702 Reich. 46 Vgl. den Bericht in ThBl 7 (1928), Nr. 10 (Oktober 1928), 237–282. 47 2807 Gekreuzigte; und 2812P Andacht. Als Ertrag der Konferenz erscheint 1930/31 in englischer und deutscher Sprache der Sammelband „Mysterium Christi. Christologische Studien britischer und deutscher Theologen“, herausgegeben von Bell und Deißmann, für den Althaus die Studie „Das Kreuz Christi“ (2907) verfasst. 48 Vgl. ThBl 10 (1931), Nr. 6 (Juni 1931), 1. Zu den negativen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise für die junge ökumenische Bewegung vgl. Kirchliches Jahrbuch 1932, 543. 49 Über den Theologenkonvent berichtet Althaus selbst in 2810 Theologen-Konvent. Zu seiner Sichtweise des Verhältnisses von deutscher und schwedischer Theologie vgl. sein „Geleitwort zur deutschen Übersetzung“ von Gustav Auléns „Das christliche Gottesbild“ von 1930 (3008). 50 Die beiden Vorträge dürften identisch sein mit den gleichnamigen Vorträgen „Grundzüge der gegenwärtigen theologischen Lage“ (2804), den er Mitte Juni auf einer Pastoralkonferenz hielt, und „Christentum und Kultur“ (2808), den er im August auf der Hamburger Tagung des Lutherischen Einigungswerkes hielt. Von Hamburg wird Althaus dann nach Schweden weitergereist sein. 51 Vgl. seine Rezensionen 2802R Smith; 2804R Macpherson; und 2805R Scott. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Welchen Eindruck die internationale ökumenische Mitarbeit bei Althaus hinterlassen hat, wird deutlich in seiner Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung. So macht er in seinem Königsberger Kirchentagsvortrag „Kirche und Volkstum“ 1927 gegenüber einem radikalen Sprachenpurismus, der sämtliche Fremdwörter aus der deutschen Sprache austilgen will, folgendes geltend: „Fremdwörter sind Fußspuren der Kultur auf ihrem Wege von einem Volke zu dem anderen. Sie verbinden zugleich – wir merken es immer wieder bei internationalen Tagungen. Fremdwörter sind […] Zeichen einer Gemeinschaft der Kultur. Solche Denkzeichen der Geschichte tilgen zu wollen wäre kindisch.“52
Als Althaus 1929 vor der Aufgabe steht, für den von Carl Schweitzer herausgegebenen apologetisch motivierten Sammelband „Das religiöse Deutschland der Gegenwart“, ein Standardwerk der damaligen Zeit, den Artikel über „Die Theologie“ zu verfassen, kommt er im Zusammenhang der neuen Aufgaben der Kirche wie selbstverständlich auch auf die Ökumene zu sprechen: „Eines sei dabei besonders hervorgehoben: Durch die Kirchen geht die ‚ökumenische Bewegung‘, die Sehnsucht und der Wille, über die Grenzen der Länder und der Konfessionen hinweg in Fühlung, Austausch und, wenn es sein kann, Arbeitsgemeinschaft zu kommen. Der Theologie erwächst hier die Aufgabe, die Fragen nach der Einheit der Kirche, nach dem Wesen und Verhältnis der Konfessionen aufs neue zu bewegen.“53
Doch die ökumenische Bewegung macht auf Althaus nicht nur hinsichtlich seiner Haltung in der Frage nach dem Verhältnis der Kirchen und Konfessionen zueinander Eindruck, sondern darüber hinaus in der Frage nach der Gemeinschaft der Völker überhaupt. So fügt Althaus in seinen im Herbst 1925 erschienen Aufsatz „Zum Problem des Krieges“ einen eigenen Abschnitt über den Ertrag der Stockholmer Konferenz im Sommer ein54: „Die Kirchen müssen, dürfen in erster Linie stehen, wo es gilt, die Gemeinschaft zwischen den Völkern, das Verständnis füreinander und das Bewußtsein gegenseiti 52 2704 Volkstum, 134. 53 2909 Theologie, 132. Er warnt sogleich vor dem „Gespenst einer ‚ökumenischen Theologie‘“ und „kurzschlüssige[n] Einheitsformeln“: „Die Theologie hat der via synkretistica das Ringen um eine neue, wahrhaft protestantische Polemik entgegenzusetzen – eine Polemik, die wahrlich kein Verrat an der Einigungsaufgabe oder gar an der una sancta ist, sondern gerade im Dienste kommender Einheit, die doch nur eine Einheit in der Wahrheit sein kann, unternommen wird – eine ökumenisch gesinnte Polemik!“ 54 Einleitend schreibt Althaus: „Im Jahre des Stockholmer Konzils wird man von dem Theologen auch ein Wort darüber erwarten, welche Stellung die Kirchen […] zu den großen Fragen der Völkergemeinschaft einnehmen sollen.“ (2509 Problem, 106). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ger Verantwortung zu pflegen. […] Die Kirchen sollen offene Augen haben für die neuen Entwicklungen im Völkerleben, die sich anbahnen. Das Sehnen der Völker nach ‚Frieden‘, ‚Versöhnung‘, Gemeinschaft muß auch durch die Kirchen klingen, denn es wohnt darin […] jenes letzte Verlangen nach der neuen Welt, das der Kirchen innerste Bewegung sein soll. Es ist ihre Pflicht, jede Organisation, die wahrhaft der Verständigung der Völker und der Beilegung von Konflikten dienen will und kann, ernstlich zu unterstützen.“55
Dass sich Althaus ab den 20er Jahren Zeit seines Lebens für ökumenische Fragen interessiert und auch der Ökumenischen Bewegung seine Mitarbeit nicht versagt, ist bei ihm biographisch nicht verwunderlich. Bereits als Student und später während seiner Zeit im Predigerseminar nahm er regen Anteil an der internationalen christlichen Studentenmissionsbewegung, an der deutschen christlichen Studentenvereinigung (DCSV) und auch am christlichen Studentenweltbund. Seinen Bundesbrüdern im Schwarzburgbund (SB) legte er in mehreren Aufsätzen in den Jahren vor dem Kriegsbeginn „mit warmer Sympathie und ernstlichem Willen zur Mitarbeit“ die internationale christliche Studentenbewegung ans Herz56. Bereits 1909 nahm Althaus an einer international ausgerichteten studen tischen Missionskonferenz in Halle teil57. Begeistert berichtet er seinen Bundesbrüdern des sich nur aus der deutschen Studentenschaft rekrutierenden Schwarzburgbundes von der „bewundernswerten Internationalität“ der deutschen christlichen Studentenbewegung: „Man fühlt es: dies ist das wirklich Moderne an der Bewegung, das am Ende auch über viel Kleinliches und Enges hinwegsehen läßt. Denn hier liegt nicht nur der Gedanke, sondern die Wirklichkeit internationaler Gemeinschaft in geistigen und religiösen Dingen vor, ja mehr, internationaler Arbeitsgemeinschaft an den höchsten Fragen der Menschheit. Es ist keine Schande, daß im Zeitalter des schlechthin internationalen Handels, der schlechthin internationalen Wissenschaft und Technik auch eine christliche Internationale heranreift.“58
Wenige Jahre später predigt Althaus seinen Soldaten im Krieg als eschatolo gischen Ausblick das kommende Friedensreich Gottes und greift dabei auf seine Erfahrungen in der internationalen Studentenbewegung zurück: 55 Ebd., 107. Diesem klaren Althausschen Ja zur Arbeit der Völkerverständigung folgt ein ebenso klares Aber: „Aber die Kirchen müssen dabei als Mächte unerbittlicher Wahrheit unter den Völkern stehen“. Von hier verläuft die Linie zur gemeinsamen Erklärung mit Hirsch „Evangelische Kirche und Völkerverständigung“ im Jahr 1931; vgl. Kap. IV, 6.3.3. 56 1301 Studentenbewegung III, 78. 57 Vgl. 1203 Studentenbewegung I, 81 f. 58 1203 Studentenbewegung I, 80; Hervorhebung von Althaus. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Was wird es für eine Herrlichkeit sein, wenn wir in der Vollendung das erleben, was wir auf christlichen Studentenkonferenzen als vordeutendes Zeichen öfter erlebt haben: wenn die Völker, die sonst einander nicht verstehen, sich grüßen mit dem Namen ‚Jesus‘, ‚Heiland‘, ‚König‘.“59
Vorbilder in der internationalen und (volks-)missionarischen Arbeit sind für ihn in erster Linie der Amerikaner John Mott, der führende Kopf des christ lichen Studentenweltbundes und von Althaus als „einer unserer Führer in dem großen Missionskampfe“ bezeichnet60, sowie der Berliner Pastor Friedrich Siegmund-Schultze mit seiner „Pflege der in Deutschland studierenden Ausländer“: „Die DCSV beweist hier jenen schönen Weitblick, der ihr von vornherein die größte Achtung aller derer sichert, die über den Kirchturmshorizont unserer meisten akademischen Verbände seufzen.“61 Impulse verspricht sich Althaus vor dem Krieg von der internationalen Studentenbewegung auch für die weltweite Völkerverständigung: „Ob die Geistes- und Arbeitsgemeinschaft von mehr als hunderttausend christlichen Studenten aus 40 Nationen in dem Weltbunde auch für die allgemeinen internationalen Beziehungen förderlich sein kann? Es ist schwer, darüber zu urteilen, aber so viel ist wohl sicher: je weiter die christliche Studentenbewegung unter den künftigen Führern eines Volkes fortschreitet, desto mehr wird neben die rein wirtschaftliche Beurteilung aller politischen Verhältnisse der Gesichtspunkt einer idealen Gemeinschaft treten, die nicht einfach durch wirtschaftliche oder machtpolitische Konkurrenz zu beseitigen ist.“62
Freilich muss auch Althaus im Jahr 1913 erkennen, dass die internationale Zusammenarbeit gegenüber einem übersteigerten Nationalismus an ihre Grenzen stößt63. Aus diesem Grund kommt auch in dieser Lobschrift auf die internationale christliche Zusammenarbeit die Althaussche Ambivalenz zum Tragen, wenn er auf der anderen Seite die Vaterlandsliebe ins Gespräch bringt: „Zugleich aber muß die DCSV es vielleicht lernen, stärker als bisher auch die Liebe zum Vaterlande und zur Nation unter die höchsten Ideale aufzunehmen. Es gilt, ‚inmitten heißer nationaler Kämpfe international zu sein und doch zugleich jeder nationalen Eigenart mit dem liebevollsten Verständnis entgegenzukommen‘“64. 59 1501P Losung, 45. 60 Ebd., 42. 1913 schreibt Althaus über ihn: „Wo er hinkommt, da packt er und bewegt und wirkt für die Arbeit Gottes, an der seine Seele hängt.“ (1301 Studentenbewegung III, 61). 61 1204 Studentenbewegung II, 121. 62 1301 Studentenbewegung III, 64; Hervorhebung von Althaus. 63 Ebd., 76. Er hat dabei die „Nationalitäten des bunten Donaulandes“, sprich Österreich- Ungarns, im Blick und den dort anzutreffenden „bis zum Haß sich steigernden Widerstreit der Rassen“, d. h. der einzelnen Völker im Vielvölkerstaat. 64 Ebd. Althaus zitiert hier aus den „Mitteilungen“ Nr. 141/142, der Zeitschrift der DCSV. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Auch und gerade in der Zeit des „Dritten Reiches“ ist Althaus ökumenisch sehr engagiert. Nachdem er infolge einer Erkrankung er an einer ökumenischen Studienkonferenz im April 1934 in Paris zum Thema „Die Kirche und das Staatsproblem der Gegenwart“ selbst nicht teilnehmen konnte65, hielt Althaus im Oktober 1935 auf einer ökumenischen Studienkonferenz im schwedischen Sigtuna einen Vortrag über „Kirche und Volk“66. Anfang August 1936 nahm er am dritten ökumenischen Seminar in Genf teil, wo er einen Vortrag über die „Ökumenische Bedeutung der Augsburger Konfession“ hielt67. Auch zur Oxforder Weltkirchenkonferenz 1937 äußerte sich Althaus mit zwei Aufsätzen68, nachdem ihm – wie auch den anderen vorgesehenen deutschen Delegierten – in letzter Minute von den deutschen Behörden aus politischen Gründen die Teilnahme verweigert wurde69. Besonders die weltweite Zusammenarbeit der Lutheraner lag ihm am Herzen. Seine Teilnahme an der vierten Generalversammlung des Norwegischen Lutherbundes im Oktober 1935 in Oslo, auf der er als Fachreferent mehrere Vorträge hielt, dokumentiert das70. Im weiteren Verlauf dieser Skandinavienreise nahm Althaus die Gelegenheit zu ökumenischen Kontakten in Schweden und Dänemark wahr. Im März 1939 ging Althaus auf eine Vortragsreise nach Holland, im Oktober 1943 nach Finnland71. 2.3 Das Verhältnis von Staat und Kirche Als im November 1918 mit dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments auch zugleich die Staatskirche ihr Ende fand, standen evangelische Theologie und Kirche vor der Aufgabe, ihren Platz in der Gesellschaft neu zu definieren. Um die aus der Kaiserzeit überkommene herausgehobene Stellung nicht etwa an den Katholizismus oder gar areligiöse Weltanschauungen zu verlieren, bediente man sich eines Hilfskonstrukts, um durch die Hintertür ans alte Staatskirchenwesen anzuknüpfen: Die Kirche verstand sich fortan als Volkskirche. Der Begriff wurde dabei durchaus doppeldeutig verstanden. Zum einen spiegelte er das kirchliche Selbstverständnis der starken christlich-sozialen Tradition des 19. Jahrhunderts wider. Volkskirche wurde dabei im Gegensatz zur „Win-
65 Vgl. Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart, 179; vgl. 3405 Thesen. 66 3518 Kirche; vgl. Mann, Ordnungen, 16. 67 Vgl. JK 4 (1936), H. 12 (20.6.1936), 591. 68 3708 Kirche; 3709 Christentum. 69 Vgl. Mann, Ordnungen, 16. 70 Vgl. Lutherische Kirche 17 (1935), H. 19 (Oktober 1935), 344. 71 Diese Reisen sind dokumentiert im PAA F 2/1 Nr. 2186 c. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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kelkirche“ verstanden und sollte sich durch diakonische, soziale und pädago gische Arbeit dem „ganzen Volk“ verpflichtet wissen. Darüber hinaus sollte die Volkskirche sich als „zum Volk gesandte“ Missionskirche verstehen. Zum anderen wurde Volkskirche kontextuell als spezifische „Kirche des Volkes“, in diesem Fall des deutschen, verstanden. So sollte in der deutschen evangelischen Kirche, entsprechend der schwedischen oder ungarischen evangelischen Kirche, der nationale Kontext zum Tragen kommen. Gerade mit dem zweiten Aspekt erhoffte man sich auf evangelischer Seite, dem Protestantismus auch im religiös neutralen Gemeinwesen der Weimarer Republik staatstragende Relevanz zu verschaffen. Indem man auf protestantischer Seite, dem Zeitgeist folgend, den Staat mehr und mehr als Volksstaat betrachtete, bildete das Volk somit den entscheidenden Anknüpfungspunkt von Staat und Kirche. Die Verbundenheit und Beziehung von Staat und Kirche, genauer von deutschem Volksstaat und lutherischer Kirche, ist bereits ein frühes Thema von Althaus. Schon in seiner Lodzer Zeit während des Weltkriegs geht es ihm in der besonderen Situation einer doppelten Diaspora der evangelischen Deutschen in Polen um ein kirchenverbundenen Volk und eine volksverbundene Kirche. Theologischer Hintergrund und Fundament für seine Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche bildet die lutherische Zwei-Reiche-Lehre. War jedoch die Verhältnisbestimmung für lutherische Theologen während des Kaiserreichs, in dem sowohl eine Obrigkeit herrschte, die sich selbst als christlich verstand, als auch der Protestantismus deutsche Leitkultur und damit staatstragend war, eine relativ einfache und unproblematische Angelegenheit, so stand man nun mit der 1918/19 im Gefolge einer Revolution entstandenen Weimarer Republik dem Phänomen eines per Selbstdefinition religiös neutralen Staates gegenüber, der zudem zumindest zeitweise von radikal kirchenfeindlichen politischen Kräften regiert wurde, wie das Beispiel des kurzzeitigen preußischen USPDKultusministers Adolph Hoffmann zeigt72. Zu diesem neuen Staat musste man sich als Kirche ins Verhältnis setzen und musste überhaupt seinen Platz in einer liberalen und pluralen Gesellschaft finden.
72 Der Politiker Adolph Hoffmann war spätestens durch seine 1892 erschienene Schrift „Die zehn Gebote und die besitzende Klasse“ als Kirchengegner und energischer Vorkämpfer der Kirchenaustrittsbewegung bekannt geworden. Als ihn die Revolution an die Macht brachte, setzte er sein kirchenfeindliches Programm umgehend in die Praxis um: Am 29.11.1918 hob er per Erlass den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach auf, am 13. 12. erließ die preußische Revolu tionsregierung auf sein Betreiben hin ein „Gesetz betreffend die Erleichterung des Kirchenaustritts“. Nach nur acht Wochen musste Hoffmann seinen Ministersessel wieder räumen. Zur kirchenfeindlichen Politik Adolph Hoffmanns, die im Winter 1918/19 die kirchlichen Gemüter erhitzte; vgl. Wright, Parteien, 12–19. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Althaus tat das bereits 1919 in seiner Schrift „Das Erlebnis der Kirche“, indem er die Chance der Kirche auf einen Neuanfang voller Hoffnung begrüßte. Auch in der zweiten Auflage vom Juli 1924 schreibt er: „Es ist eine große Stunde für die Kirche. Seit 1918 sind alte Bindungen und Hemmungen, die die Freiheit der Kirche lähmten, dahingefallen. Nicht mehr vom Staate bevormundet und gegängelt dürfen die deutschen evangelischen Kirchen nunmehr zeigen, was in ihnen lebt an freier Kraft des Glaubens und der Liebe“73.
Mehr als drei Jahre später, im November 1927, widmet sich Althaus dem Thema „Staat und Kirche“ in einem Vortrag auf der Schulungswoche der Deutschen Studentenschaft (DSt) in Weimar ausführlicher74. Für ihn handelt es sich dabei im Blick auf die Geschichte um ein „Schicksalsthema für uns Deutsche“, denn „gerade weil der Staat wie die Kirche bei uns besonders ernst genommen werden, weil auch dem Staate eine hohe geistige Aufgabe zugeteilt wird, gewinnt für uns die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche ihre eigene Schwierigkeit und Tiefe.“75 2.3.1 Die Theonomie des Staates Wenn Althaus in seinem Vortrag 1927 im Blick auf den Staat von „Luthers Bedeutung in der Geschichte des Staatsgedankens“ spricht, so hat er zunächst unausgesprochen die lutherische Zwei-Reiche-Lehre samt der damit zusammenhängenden Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche im Blick, die aber entscheidend von seiner Theonomiekonzeption geprägt ist. Althaus spricht – ganz im Sinne seines Ja-aber-Argumentationsstils – zunächst vom Staat als „gute Ordnung Gottes“, bleibt dabei aber nicht stehen, sondern lässt unmittelbar den begrenzenden Einwand folgen: „Aber allerdings: eine Ordnung im Elemente einer Welt des Widereinander, des Kampf- und Todes gesetzes, des Verdrängungsgesetzes und Verdrängungswillens, der uns alle bindet, eine Ordnung also im Elemente des Bösen“. Die Tatsache, dass der Staat Ordnung Gottes ist, gibt ihm nach Althaus seine Würde und Autorität, die er zu ergreifen hat. Die faktische Unreinheit aller Ordnung aber, die Verflochten-
73 2407 Erlebnis, 31. 74 2707 Staat. 75 Ebd., 113 f. Das Angehen der gestellten Aufgabe ist für ihn der deutsche „Menschheitsberuf“, dem es sich zu stellen gelte. Althaus schreibt dazu: „Wir müssen auch hier das deutsche Schicksal erfüllen, die Lebensfragen der Menschheit tiefer als andere Völker zu durchkämpfen und zu durchleiden.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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heit der Welt mit dem „Bösen“ soll vor einer einseitigen Sakralisierung des Staates bewahren. Noch ein Zweites wehrt für Althaus darüber hinaus einem „Absolutismus des Staatsgedankens“, nämlich die Tatsache, dass der Staat nicht als Selbstzweck zu denken ist, sondern „dienend bezogen auf das Werden der Gemeinde Gottes durch die Geschichte der Völker hin.“ Mit anderen Worten, „der letzte Sinn des Staates ist, durch seine Bändigung des anarchischen Chaos die Bedingungen zu schaffen, daß Menschen in ihrer Art wachsen können für Gottes Reich, besser: daß ein Volk seinen Beruf erfüllen könne, Gemeinde Gottes zu werden in eigener Art. Der Staat ist Hilfsmittel und Wegbereiter der Gemeinde, der unsichtbaren Kirche.“76
Der Staat ist für Althaus, ebenso wie die sichtbare Kirche, bezogen auf die unsichtbare Kirche, ihr dienend untergeordnet und damit seinem eigentlichen Wesen nach nur theonom zu verstehen77. Diese unsichtbare Kirche aber ist „das Volk Gottes, das er sich sammelt aus allen Geschlechtern und Völkern der Geschichte. So verstanden ist die Kirche der eigentliche Sinn der Weltgeschichte.“78 Somit gehört der Staat für Althaus in den Bereich der vorletzten Dinge. Er ist für ihn „keineswegs ein Letztes und Höchstes“, er ist „keineswegs schlechthin und in allen Dingen die höchste Autorität, keineswegs Inbegriff und Organ aller Lebendigkeit des Volkes“, sondern er hat „die Grenzen seiner Macht und seines Rechtes an der Freiheit des religiösen Gewissens“ und an der „Freiheit des Kulturschaffens“79. Ganz in der Logik seiner Ja-aber-Argumentation kommt Althaus am Ende und damit an exponierter Stelle seines Vortrages erneut auf die notwendige und heilsame Erinnerung von Volk und Staat an ihren Charakter als vorletzte Dinge durch die Kirche zu sprechen. Trotz ihrer nationalen Aufgabe, so zeigt sich Althaus überzeugt, „kann die Kirche nicht jedem völkischen Wollen zu Willen sein. Wie sie von dem doktrinären Internationalismus hinweg zu völkischer Treue ruft, so widersteht sie wiederum jedem blinden Nationalismus, der das Recht der anderen verneint und von dem Füreinander der Völker nichts wissen will. Die Kirche streckt ihre Hände über Volks- und Staatsgrenzen hinaus zu den Genossen des Glaubens. Das mag dem Staate bisweilen nicht lieb sein. Und doch ist es wiederum im tieferen Sinne gut für Volk und Staat. Denn es erinnert daran, daß das Leben des Volkes seinen Sinn emp 76 Ebd., 114. 77 Zur Theonomie des Staates wider alle „gottlose Autonomie“ vgl. 2806 Leitsätze, 29 f. 78 2707 Staat, 114; vgl. 2408 Kirche, 85. 79 2707 Staat, 114. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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fängt von etwas, das weiter und größer ist als es selber […]. Beide, Staat und Kirche weisen über sich hinaus auf die kommende Kirche Gottes, die Stadt Gottes […]. Das zu wissen gibt unserem irdischen Dienste an Staat und Kirche die völlige Nüchternheit, aber auch die hohe Freudigkeit. Dieser Staat, diese Kirchen sind nicht das Letzte. Aber indem wir ihnen verpflichtet sind, sind wir auf das Letzte bezogen“80.
In diesem Zugleich von Begrenzung als Vorletztes und Aufwertung als göttliche Verpflichtung blitzt einmal mehr die Althaussche Ambivalenz auf. Das Problem an dieser nötigen Zurückweisung eines „Absolutismus des Staatsgedankens“ und an der damit einhergehenden Erinnerung des Staates sowie des Volkes an ihre Zugehörigkeit zu den vorletzten Dingen ist der abstrakte Charakter der Althausschen Ausführungen. Denn der Staat bleibt als Gottesordnung religiös überhöht, auch wenn er zugleich mit derselben religiösen Begründung wieder begrenzt wird. Die Begrenzung kommt aber im Großen und Ganzen lediglich in der staatlichen Verpflichtung zur Anerkennung des religiösen Gewissens zum Tragen; weitere Normen stehen als Maßstab der staatlichen Begrenzung nicht zur Verfügung, was eine konkrete Anwendung nahezu unmöglich macht. Damit ist die Begrenzung – ähnlich wie schon die des Krieges – unpraktikabel. Mehr noch: Eine staatliche Obrigkeit, die sich selbst als „gottesfürchtig“ ausgibt und vorgibt, die – von Althaus sowohl legitimierend, als auch delegitimierend gemeinte – Theonomie ihrer eigenen Ordnung anzuerkennen, muss nach Althaus formal nahezu zwangsläufig den Segen der Kirche erhalten. Das Kernproblem der Althausschen Konzeption besteht darin, dass für ihn etwas anderes als eine gut christliche, ernsthaft sittliche Obrigkeit auf Dauer nicht vorstellbar ist. Die vor Gott verantwortliche Gewissenhaftigkeit der Staatsmänner ist von ihm immer vorausgesetzt. Das macht er deutlich, wenn er mit Luther gegenüber einer katholischerseits im Mittelalter behaupteten Unterordnung des Staates unter die sichtbare, menschlich organisierte Kirche äußert: „Der Staatsmann ist ‚unmittelbar zu Gott‘ so gut wie die Kirche und ihre Diener.“81 2.3.2 „Das Nebeneinander der beiden Gemeinschaftsordnungen“82 – Das Verhältnis von Staat und Kirche Mit der Charakterisierung der beiden Größen Staat und Kirche als „Gemeinschaftsordnungen“ setzt Althaus in seinem Vortrag zweierlei voraus. Erstens ist für ihn, wie wir schon gesehen haben, der Gemeinschaftsgedanke das Haupt 80 Ebd., 121. 81 2707 Staat, 114. Auch an dieser Stelle spricht Althaus vom Staatsmann und nicht vom Führer. 82 Ebd., 113. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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merkmal beider Größen, wodurch er den in seinen Augen sowohl den Volksstaat als auch die Kirche bedrohenden Individualismus zurückweist. Zweitens sind für ihn sowohl Kirche als auch Staat Ordnungen Gottes, innerhalb derer die Menschen sich in eben dieser Gemeinschaft bewähren sollen. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist für Althaus sowohl von einer „notwendige[n] Zweiheit“, als auch von einer „notwendige[n] Verbundenheit“ bestimmt. Zunächst spricht sich Althaus gegen die „Unmöglichkeit des Staates als Kirche“ und damit „gegen allen Staatsabsolutismus“ aus, der mit der Unter ordnung der Kirche die Religion überhaupt zunichtemachen und als Folge davon „mit der Religion auch sein eigenes Leben heimlich verderben und vergiften“ würde83. Solche Konzepte der Unterordnung der Kirche unter den Staat macht Althaus im Idealismus, namentlich bei Hegel und Rothe aus. Ihnen gegenüber beruft er sich auf Kierkegaard und dessen Erkenntnis, „daß der Sinn der inneren Lebendigkeit des einzelnen nicht in dem aufgeht, was er als Glied der Volksgemeinschaft wirkt und bedeutet. Die Religion ist mehr, ist ein anderes als die Seele alles Kulturschaffens. Sie ist eine Geschichte des ‚einzelnen‘ unmittel bar mit der Ewigkeit“84.
Damit aber ist für Althaus „das Eigenleben einer Kirche als Gemeinschaft des Glaubens gegenüber der staatlich gebundenen Volksgemeinde begründet.“85 Somit gilt, dass die Zugehörigkeit von sichtbarer Kirche und Staat zu den vorletzten Dingen keinerlei Unterordnung der Kirche unter den Staat zulässt. Weil die sichtbare Kirche ebenso wie der Staat auf das Reich Gottes bezogen ist, ist sie für Althaus „gleichsam auf gleicher Ebene mit ihm“86. Sodann ist es für die Kirche mit ihrem „Beruf, Kirche Jesu Christi zu sein“, nach Althaus ebenso unmöglich, Staat sein zu wollen. Zu groß ist die Gefahr, sich ans Tagesgeschäft der Politik mit ihren „Bedingungen und Dämonien öffentlichen Ringens“87 zu verlieren und dabei den Bezug zum Gotteswort einzubüßen: „Sie zeugt nur dann wirklich von Jesus, wenn sie mit den staatlichen Ansprüchen und Machtmitteln nicht irgendwie verquickt ist.“ 83 Ebd., 115. 84 Ebd., 116. Als erfahrungstheologisch hergeleiteten „historischen Beleg“ für die Richtigkeit seiner Aussage dient Althaus erneut die Weltkriegserfahrung des Soldatentodes „unsere[r] Brüder“ und die diesbezügliche Überzeugung, „daß ihr Todesgang hineingehört in ihre Geschichte mit Gott, als Opfer an ihn, jenseits alles geschichtlichen Ertrages, unmittelbar zur Ewigkeit!“ Deren Tod ist damit trotz der katastrophalen deutschen Niederlage eben nicht vergeblich gewesen; vgl. Kap. II, 1.1. 85 Ebd. In 2806 Leitsätze, 74 spricht er „die selbständige Lebendigkeit und Eigengestalt der Kirche gegenüber der Volksgemeinschaft“ als Notwendigkeit an. 86 Ebd., 115. 87 Ebd., 116. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Somit bedeutet die Zweiheit von Staat und Kirche sowohl Freiheit der Kirche vom Staat, aber auch Freiheit des Staates von der Kirche. Erstere besagt nach Althaus: Die Kirche „muß sich durchaus nach ihrem eigenen Gesetze oder vielmehr nach dem Gesetze der Sache, die ihr anvertraut ist, bewegen und entwickeln. Herrschaft des Staates über die Kirche auf ihrem eigenen Gebiete darf es nicht geben.“88 Entsprechend seinem Theonomie-Konzept fallen für Althaus also im Bereich der Kirche relative und absolute Eigengesetzlichkeit zusammen – das liegt innerhalb der Gottesordnung „Kirche“, die ihren Grund und ihr Ziel im Evangelium hat, in der Natur der Sache. Im Bereich der Gottesordnung „Staat“ kann es nur eine relative Eigengesetzlichkeit, aber keinesfalls eine absolute geben. An dieser Stelle geht Althaus nun über das reine „Nebeneinander der beiden Gemeinschaftsordnungen“ hinaus und ordnet in gewisser Weise nun auch die sichtbare Kirche dem Staat über. Auch wenn für ihn die „Herrschaft der Kirche über den Staat“ ein „unmöglicher Zustand“ ist, nimmt die Kirche gegenüber dem Staat doch nicht nur ein Wächteramt, sondern zusätzlich noch ein Prophetenamt ein: „Die Kirche hat allerdings die Aufgabe, durch ihr Dasein und durch ihre Verkün digung den Staat in jedem Augenblicke von gottloser ‚Eigengesetzlichkeit‘ zur Besinnung auf die Theonomie zu rufen. […] Der Staat soll sich durch die Kirche den ewigen Willen Gottes verkündigen lassen“89.
Die Theonomie beider Größen ist für Althaus der Grund für die Verbundenheit von Staat und Kirche. Der Staat ist nach dem Althausschen Verständnis theonom und hat sich als solcher zu verstehen. Ebenso wie die Kirche ist er daher auf das Reich Gottes bezogen. Aufgrund dieser gemeinsamen Bezogenheit aber ist für ihn eine Trennung von Staat und Kirche undenkbar. Ein von der Kirche vollkommen getrennter Staat verfehlt seinem Verständnis nach seinen in seinem Wesen begründeten Beruf, nämlich aufs Gottesreich dadurch bezogen zu sein, dass er die kirchliche Verkündigung des Evangeliums ermöglicht. Die Verbundenheit von Staat und Kirche ist für Althaus sowohl aus Sicht der Kirche als auch aus Sicht des Staates notwendig. Wenn er vom Staat spricht, ist damit in der Logik seiner eigenen Staatsauffassung immer zugleich auch das Volk angesprochen. Bereits in „Staatsgedanke und Reich Gottes“ hatte er 1923 den Staat definiert als „die Form, in der ein Volk Geschichte erlebt.“ Staatsvolk und Volksstaat sind somit untrennbar ver 88 Ebd., 117. Im Hinblick auf die angemessene Kirchenverfassung entscheidet für ihn „die besondere geschichtliche Führung und der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit“ (ebd., 119). 89 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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bunden, sowohl im Ideal, als auch weitestgehend in der Realität der damaligen Zeit. Althaus ist sich dessen bewusst, dass es der Kirche in ihrem Verkündigungsauftrag um den jeweils einzelnen geht, um die einzelne „Seele“. Zugleich weiß gerade er in seiner Betonung der Gemeinschaft: „Kein einzelner lebt für sich selber, jeder ist durch Zeit- und Gemeingeist, wie er z. B. in Sitte und Gesetzgebung zum Ausdruck kommt, wesentlich bestimmt.“ Gerade weil die Sünde also nicht nur im Einzelnen, sondern vor allem in Systemen, in den „wirtschaftlichen und sozialen Lebensformen“ bekämpft werden muss, „hat die Kirche an dem Einfluß auf die überindividuellen, den einzelnen bestimmenden Mächte im Volksleben ernstes Interesse. […] Sie soll um das Ganze des Volkes ringen. Sie weiß sich wirklich zu einer ‚völkischen‘ Aufgabe gerufen. Die Volksseele, das Leben, die Geschichte des ganzen Volkes ist ihr anvertraut“, seinen „Gesamt willen“ soll sie „lenken“90.
1927 vor dem Kirchentag formuliert Althaus: „Gott will nicht nur die Einzelnen heiligen, sondern um die Familien und Völker als Ganzheiten ringen. Die Völker als ganze haben ihren Beruf in der Gottesgeschichte. Völker sündigen, Völker richtet Gott.“91 Zum Wächter- und Prophetenamt der Kirche gehört für Althaus wesentlich die Rolle der Kirche als „Gewissen des Volkes“. Gegenüber Staat und Volk nimmt die Kirche diese Rolle dadurch ein, dass sie „Führerin zu den Gründen aller sittlichen Gewißheit und Gewissenhaftigkeit, zu den Quellen aller echten Kraft, aller Freiheit des Gehorsams gegen die heilige Norm“ ist. Dabei soll sie „inmitten der sittlichen Verwirrung und Ratlosigkeit, der Skepsis und Frechheit unserer Zeit“ „die innerste transzendente Bindung in aller unserer Sitte, in Ehe und Familie“ neu zur Geltung bringen92. Die Kirche soll in all dem ihrem
90 Ebd., 118. Was Althaus mit sündhaften Systemen, mit „überindividuellen Mächten“ meint, spricht er sogleich an: „Wieviel Böses im Volke wächst aus der brutalen Lebensnot, der Wohnungsoder Arbeitsnot! Wie kann der Geist eines Systems, etwa des zügellosen egoistischen Machtkampfes im wirtschaftlichen Leben, die Lebensluft so vergiften, daß christlicher Glaube und christliche Liebe in ihr einfach ersticken müssen, daß die Worte des Evangeliums Schall und Rauch werden in solcher diabolischen Umwelt!“ 91 2704 Volkstum, 129. 92 2707 Staat, 119. Die Kirchen sieht Althaus in erster Linie aufgerufen zum „Kampf wider die Stelle auch mit dem Dienst am Reich Gottes, der zwar zuchtlose Zersetzung der Ehe, wider eine Sexualität ohne Verantwortung, ohne willen zum Kinde“ (ebd., 118). Das ist bei Althaus unter dem Kampf für die „Reinheit des Volkslebens“ zu verstehen. Es geht um sittliche Reinheit, nicht etwa um völkisch-rassische. In diesem „Kampf“ um sittliche „Reinheit“ verfasst Althaus auch 1929 seine Schrift „Ehe“ (2906). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„ernsten Öffentlichkeitswillen“93 nachkommen, auf dass „die Leidenschaft zur Wahrheit und Reinheit des Volkslebens […] immer wieder aus der Kirche in das Volk strömen“ und von ihr aus „die Kraft zu echter Gemeinschaft ins Lande gehen“ kann94. Bereits in seinem Vortrag „Das Reich Gottes und die Kirche“, den er im April 1927 auf der britisch-deutschen Theologenkonferenz in Canterbury hielt, sprach er vom Dienst der Kirche „am Kulturleben und an den Weltordnungen“, dem sie in erster Linie mittelbar dadurch nachkomme, „daß aus ihr Männer lebendigen Gewissens und eschatologischen Ernstes in alle Berufe und Aemter hineingehen; aber auch unmittelbar und öffentlich durch Kritik der berufenen Sprecher der Kirche an Staat und Wirtschaft, sozialem und internationalem Leben.“95 Einmal mehr begegnet Althaus damit dem Vorwurf insbesondere ans Luther tum, „daß die ethischen Normen der evangelischen Kirchen […] gegenüber dem wirtschaftlichen und sozialen Problem, gegenüber der politischen und internationalen Frage versagt haben.“96 Der Brandmarkung lutherischer Rechtfertigungslehre als quietistischer Innerlichkeit hält Althaus entgegen: „Echter Glaube an Gottes Vergeben ist allezeit […] mächtigster Antrieb zu ‚sozialer‘ Tat geworden. Daher hat die Theologie auch in unserem Zeitalter der drängenden Krisis im Volks- und Völkerleben nichts Ernsteres und Dringlicheres zu tun, als das Evangelium von der Vergebung der Sünden zu verkündigen. Denn der wichtigste Dienst, den die Christenheit einer um neue Verfassung und Gemeinschaft ringende Menschheit zu leisten hat, ist die Entsendung von Menschen, die von der Liebe Gottes mächtig bewegt sind, in die Weltnot.“97
Die Aufgabe der Kirche als „Gewissen des Volkes“ in Fragen des internationalen Lebens korrespondiert dabei mit Althaus’ eigener Geschichtstheologie. Was er an anderer Stelle mit „Beruf des Volkes“ oder „Volkheit“ bezeichnet, scheint auch im Begriff „Gewissen des Volkes“ auf. So soll die Kirche die Sendung des eigenen Volkes vor dem Hintergrund des gemeinsamen Bezogenseins aller Völker auf das Reich Gottes erkennen helfen und damit zugleich dem Nationa lismus der völkischen Bewegung entgegentreten. 93 2707 Staat, 118. 94 Ebd., 119. 95 2702 Reich, 140 f. In 3108 Ethik, 105 spricht er von der Aufgabe der Kirche, dass sie „ihre Glieder zur Verantwortung für Volk und Staat, also zum entschlossenen Ernste politischen Wollens und Handelns in der Bindung an Gottes Willen erziehe.“ 96 2503 Krisis, 5. Er nennt hier ganz konkret Georg Wünschs Wort vom „Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung“. 97 Ebd., 39. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Denn „ein Volk kann auf die Dauer nicht wahrhaft leben ohne bewußte Erfassung seiner Art, Gabe, Sendung unter den anderen Völkern. Solche völkische Besinnung, soll sie nicht an Eitelkeit und Vergötzung des eigenen Volkstums erkranken, muß vor dem Auge des Herrn der Geschichte vollzogen werden.“98
Die Vorstellung der Kirche als „Gewissen der Nation“ ist bei Althaus nicht neu, er hat sie bereits während des Krieges vertreten, als er den „Ruf zur nationalen Buße“ als Aufgabe der Kirche herausstellte99, auch damals schon im Blick auf eine Abwehr „nationale[r] Eitelkeit“100. Denn Nationalismus verdirbt in seinen Augen nicht nur das Volk, sondern in erster Linie die Kirche. Religion und Kirche aber kann ihre „entscheidend wichtige Bedeutung“ für Volk und Vaterland „nur solange haben als sie ihren eigenen Gesetzen folgen darf und ihr nicht durch nationalen Willen der Mund verstopft oder durch Nationalisierung das Blut vergiftet wird.“101 Es gehört zu den Hauptmerkmalen der politischen Theologie von Althaus, dass er politische und staatliche Verhältnisse nicht nur von seiner nationalprotestantischen Weltanschauung her beurteilt, sondern mehr noch von seinem Verständnis von Glaube und Kirche her. Bei aller politisch-weltanschaulichen Kritik an der neuen Staatsform der Weimarer Republik, ist ihm dennoch nicht der Blick auch für das der Kirche gegenüber Positive an Weimar verstellt. Hat er bereits 1919 die Chance der Kirche auf einen Neuanfang im Verhältnis zur Obrigkeit, das er in die kaiserzeitliche Vergangenheit zurückblickend auch deutlich negativ zeichnen konnte102, begrüßt, so nimmt er nun 1927 diese Neuordnung des Verhältnisses in den Blick und kommt dabei folgerichtig zu einer positiven Würdigung desselben und damit zu einer erstaunlich positiven Würdigung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 überhaupt. Denn im Gegensatz zu Frankreich, wo der Grundforderung des „liberalen Doktrinarismus“ Folge geleistet und die strikte Trennung von Staat und Kirche als „Ausdruck der Kirchenfeindschaft, der religiösen Gleichgültigkeit“ vollzogen wurde, hat man sich in Deutschland für einen anderen Weg entschieden, und die durch die Revolution 1918/19 dahingehend genährten Befürchtungen wurden nicht bestätigt. So begrüßt Althaus die Lösung für das Verhältnis von Staat und Kirche in Artikel 137 der Reichsverfassung: „In Deutschland wurde die Reichsverfassung nicht nur von den Sozialisten und Linksdemokraten, bei denen zum Teil ähnliche Motive wie in Frankreich maßgebend 98 2707 Staat, 119. 99 1707 Glaube, 16. 100 Ebd., 17. 101 1602 Vaterlandsliebe IV, 2. 102 Vgl. 2707 Staat, 119. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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gewesen sein könnten, sondern auch vom Zentrum mitgeschaffen. So ist die Absicht der Verfassung im ganzen keine kirchenfeindliche.“
Das beweise gerade auch der besondere Status der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts: „Man hat es abgelehnt, die großen Kirchen auf eine Stufe mit irgendwelchen Vereinen zu stellen [,] sie aus ihrer öffentlichen Stellung im Volksleben zu Winkelsekten herabzudrücken. Darin liegt eine starke Anerkennung der geschichtlichen Verdienste der Kirchen. Noch mehr: auch die neue Reichsverfassung bezeugt damit, daß die Fundamente unserer deutschen Kultur im Christentum liegen. In diesem Sinne ist auch der heutige Staat, trotz seiner wechselnden parlamentarischen Mehrheiten und der großen Verschiedenheit in der bewußten Stellung seiner Machtgruppen zur Kirche, keineswegs einfach religionslos oder ‚unchristlich‘.“103
Althaus widerspricht damit der innerhalb der evangelischen Kirche starken Stimme, die die Weimarer Republik aufgrund ihrer angeblichen Religionsund Kirchenfeindlichkeit von vorneherein ablehnt und damit einen entscheidenden Beitrag zur Delegitimierung der Republik leistete104. Weil auch der neue, weltanschaulich von ihm abgelehnte, Staat die zentrale Rolle der Kirche in Staat und Volk anerkennt, schützt und unterstützt, will ihm Althaus an diesem Punkt die positive Würdigung als Theologe und Kirchenmann seinerseits nicht verwehren105. Er geht sogar die Würdigung der Weimarer Reichsverfassung hinaus noch einen Schritt weiter auf den so kritisch gesehenen parlamentarischen Staat mit seinem Parteiensystem zu. Wenn er auch die Gefahren aufzeigt, die der Kirche – wie schon im Kaiserreich – durch politische Bündnisse entstehen können, ruft er dennoch zur Zusammenarbeit auf: „Die Verbindung der Kirche mit den Parteien, von denen sie am meisten Vertretung ihrer Interessen im Parlamente und in der Regierung erwartet, kann ungewollte, rein tatsächliche Bindungen mit sich bringen, die der Kirche den Zugang zum Volksganzen erschweren. So drohen hier überall Gefahren. Aber der Weg muß dennoch ge gangen werden. Staat und Kirche müssen sich suchen, um des Volkes willen – nur daß die Kirche ernst darauf sehe, dabei ihre Freiheit nicht zu verlieren!“106 103 Ebd., 117. 104 Vgl. zu dieser Position Tanner, Verstaatlichung, 200–205. 105 Zur Weimarer Reichsverfassung schreibt Wright, Parteien, 23 zusammenfassend: „Die evangelische Kirche hatte allen Grund, mit der Weimarer Verfassung zufrieden zu sein. Die Novemberängste vor einem feindselig auf Trennung abzielenden staatlichen Programm waren zerstreut. Während die Staatsaufsicht über die Kirche sich vermindert hatte, waren ihre Privilegien bestätigt worden.“ 106 2707 Staat, 120. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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2.4 Zusammenfassung Gemäß der althergebrachten Konzeption eines „christlichen Staates“ bzw. einer „christlichen Gesellschaft“ misst auch Althaus der Kirche in der Weimarer Republik die Rolle als beherrschende geistige, religiöse und sittliche Macht in der vom Säkularismus bedrohten Gesellschaft zu. Das entscheidende Vehikel auf dem Weg zur Erlangung dieser Macht angesichts des pluralen Gemeinwesens der Weimarer Republik ist für Althaus das Volkstumsdenken, das er aus Überzeugung teilt und sich nun für seine kirchlichen Interessen nutzbar machen will. Wenn Otto Dibelius die neue Relevanz von Christentum und Kirche in seinem berühmten Schlagwort vom „Jahrhundert der Kirche“ zusammenfasste, so könnte Althaus’ hoffnungsfrohe Parole „Das Jahrhundert der Volkskirche“ gelautet haben. Diese Hoffnung bringt Althaus in einer Predigt im November 1924 deutlich zum Ausdruck, freilich nicht ohne zugleich vor den Gefahren für die Kirche zu warnen: „Wenn nicht alles trügt, gehen wir großen Zeiten der Kirche entgegen. Ihr Einfluß wird steigen, sie wird bewußter, geschlossener, beweglicher, mächtiger sein. Das wollen wir, dessen freuen wir uns – und doch, darum bangen wir auch. Denn es gibt keinen Sieg der Kirche, bei dem nicht auch die Welt in die Kirche einzöge.“107
Seine bereits in Lodz entwickelte Vision einer gegenseitigen Befruchtung von volksverbundener Kirche und kirchenverbundenem Volk baut Althaus ab Mitte der zwanziger Jahre weiter aus. Handelte es sich in Lodz um eine persönliche Lebenserfahrung als Feldgeistlicher, die in ihm in der besonderen Situation zum einen der alles prägenden Kriegszeit und zum anderen der doppelten Diaspora im Ausland diese Vision aufkeimen ließ, so macht er sich nun an den systematisch-theologischen Unterbau seiner volksmissionarischen Hoffnung, und zwar jetzt für den kirchlichen Alltag der Friedenszeit in Deutschland. Die „unlösliche Verbindung von Deutschtum und Christentum“108, von Kirche und Volk soll sich nicht nur im Krieg und nicht nur im Auslandsdeutschtum bewähren. Diese Verbindung von Kirche und Staat bzw. Kirche und Volk erreicht Althaus, indem er beide Größen auf das Reich Gottes bezieht. Schon in früheren Schriften korrelierte bei ihm das Reich Gottes mit dem deutschen Staatsgedanken oder es bildete den Grund und das Ziel seiner axiologisch-teleologischen Eschatologie. In der Frage nach den irdischen Auswirkungen des Gottesreiches 107 2410P Zeiten, 104. 108 2707 Staat, 118. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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ist Althaus auf der Höhe der Zeit, spielt doch eben diese Frage eine wichtige Rolle innerhalb des internationalen, ökumenischen theologischen Diskurses. Auf zweierlei Weise werden Volk, Staat und Kirche mit dem Reich Gottes verbunden. Weil das Reich Gottes einerseits das unüberbietbare Urbild und Endziel aller Gemeinschaft ist, sowohl der Menschen untereinander, als auch mit Gott, ist damit auch alle irdische menschliche Gemeinschaft in all ihrer Gebrochenheit auf dieses Reich Gottes bezogen. Weil das Reich Gottes andererseits Urbild und Endziel aller Sittlichkeit darstellt, ist somit auch das mensch liche sittliche Streben darauf bezogen109. Aufgrund dieser Bezogenheit von Kirche, Volk und Staat auf das Reich Gottes und aufgrund der daraus resultierenden Aufgabe der Menschen, sich innerhalb ihrer unter Zurückdrängung eines egoistischen Individualismus in Gemeinschaft und Sittlichkeit zu bewähren, gewinnen sie bei Althaus trotz all ihrer Unreinheit und Verderbtheit durch das Böse den Charakter von göttlichen Gaben, von gottgewollten „Gemeinschaftsordnungen“. Die bereits während des Krieges angeklungene Vorstellung des Volkes als Gottesordnung110 entwickelt Althaus hier im Blick auf den Gemeinschaftsaspekt weiter. Weil jeder einzelne gerade in seiner Bezogenheit auf andere Menschen, an die er auf natürliche Weise in Familie, Volk und Kirche gebunden ist, vor Gott steht, kann Religion keine Privatsache sein. Sie ist Sache der Gemeinschaft, ihre sittliche Verkündigung entspricht den Normen des Reiches Gottes, und diese Verkündigung ist den Kirchen aufgetragen. So lautet Althaus’ Forderung: „Die Erinnerung an Gott soll auch in der Öffentlichkeit des modernen Volkslebens unüberhörbar sein.“111 Damit soll die Kirche gemäß den Normen des Gottesreichs in ethischer Hinsicht zweifach ins Volk wirken: Zum einen soll sie „wahrhaftige Gemeinschaft“ fordern und fördern, indem sie Gemeinschaft predigt und Gemeinschaft vorlebt, zum anderen soll sie die „heilige Norm“ des Reiches Gottes predigen und damit zur „Wahrheit und Reinheit des Volkslebens“ beitragen. In einem als äußerst zerrissen empfundenen deutschen Volk erscheinen diese Forderungen als umso dringlicher. Auf diese Weise meinte Althaus, der befürchteten Marginalisierung des Christentums als „Privatsache“ im liberalen und pluralistischen deutschen Staat der Weimarer Republik nach dem Ende des Staatskirchentums 1918 begegnen zu können und der Religion öffentliche Bedeutung zu verschaffen. An den Staat als Diener des Volkes tritt die Kirche mit der Erinnerung der immerwährenden Gottesbezogenheit heran, es gilt ihn „in jedem Augenblicke 109 Zum für Althaus notwendig sittlichen Charakter der Gemeinschaft vgl. 2302 Kreuz, 37. 110 Vgl. 1706 Luther, 16. 111 2707 Staat, 118. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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von gottloser ‚Eigengesetzlichkeit‘ zur Besinnung auf die Theonomie zu rufen“. Diese aber begründet und begrenzt den Staatsgedanken zugleich. Diese Aufgabe gegenüber dem Staat ist allerdings nur zu leisten, wenn die Kirche ihre Unabhängigkeit und Freiheit vom Staat bewahrt, wenn „das Eigenleben einer Kirche als Gemeinschaft des Glaubens gegenüber der staatlich gebundenen Volksgemeinde“ behauptet werden kann. Weil neben der Kirche und dem Staat nun aber auch das Volk den Status einer göttlichen Ordnung innehat, ergibt sich insgesamt ein komplexes Beziehungsgeflecht von letzten und vorletzten Dingen, von Reich Gottes bzw. unsichtbarer Kirche einerseits und sichtbarer Kirche, Volk und Staat andererseits. Staat und Kirche sind „Hilfsmittel und Wegbereiter“ des Reiches Gottes. Die einzelnen Menschen aber sollen sich in Form ihrer Zugehörigkeit zum Kollektiv „Volk“ aufs Gottesreich hin ansprechen und erziehen lassen und sich innerhalb der göttlichen Ordnungen bewähren. So tritt in seiner Konzeption für Staat und (sichtbare) Kirche neben das transzendente Gegenüber der unsichtbaren Kirche bzw. des Gottesreichs, das aller Weltwirklichkeit Grund und Ziel gibt, ein weiteres, weltimmanentes Gegenüber: das Volk, dem damit eine große Dignität eignet112. Diese Verbundenheit von Staat und Kirche kommt bei Althaus in dem Satz zum Ausdruck: „Staat und Kirche wollen beide dem Volke dienen.“113 Die Kirche befindet sich in der Althausschen Konzeption in einer kom plexen Rolle: Indem sie sich an das Gottesreich gebunden weiß und vom Evangelium her ihren Auftrag erhält, bleibt sie als Gegenüber des Staates diesem mit ihrem Wächter- und Prophetenamt übergeordnet. Indem sie aber zum Dienst nicht nur am Reich Gottes, sondern ebenso am Volk berufen ist, erscheint sie zugleich dem Volk untergeordnet. Gegenüber dem Staat tritt sie daher als das „Gewissen des Volkes“ auf, indem sie in ihrer Verkündigung sowohl den immerwährenden sittlichen Normen des Reiches Gottes als auch den je aktuellen Bedürfnissen des Volkes gerecht zu werden versucht, dabei dem nur von der Kirche erkannten Beruf des Volkes dienend. Um dies zu erreichen, gehört es nach Althaus zu den Aufgaben der Kirche, die Christen zur Volksverbundenheit aufzurufen. Im treuen Dienst an Volk und Volksgenossen, der allein in der natürlichen Verbundenheit seinen Grund hat, soll sich die Liebe und die Gemeinschaft bewähren. Damit aber bewährt sich die „völkische Treue“ nicht nur vor dem immanenten Gegenüber des Volkes, sondern zugleich vor dem tran 112 Althaus weiß, dass nicht das Volk, sondern die sichtbare Kirche allein „das Werk wie das Werkzeug des heiligen Geistes“ ist und damit „den Anbruch des Reiches Gottes in der Geschichte“ bedeutet (2702 Reich, 139). 113 2707 Staat, 120. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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szendenten und eschatologischen Gegenüber des Reiches Gottes, auf das alle Völker der Welt bezogen sind. Den entscheidenden Hinweis darauf, dass die Staaten und Völker, aber auch die Kirchen eben nur vorletzte Dinge sind, bietet die Wirklichkeit der una sancta, die sich jenseits aller irdischen Grenzen aus allen Völkern und Rassen, aber auch aus allen Kirchen sammelt. Dies lässt Althaus trotz aller Betonung von Trennung und Widereinander der Völker die Einheit der Menschheit nicht aus dem Blick verlieren. Mit dieser Konzeption meint Althaus einmal mehr einen Mittelweg zu beschreiten zwischen „doktrinärem Internationalismus“, der keine Völker als gottverantwortliche Subjekte kennt, und „blindem Nationalismus“, der nur dem jeweils eigenen Volk das Recht und die Sendung zugestehen will. Dieser Spannung und Ambivalenz in seiner theologischen Theorie entspricht bei Althaus auch die Spannung in seiner Praxis, in seinem Handeln als Theologe und Kirchenmann. Wird er einerseits nicht müde, gerade die akademische Jugend in Vorträgen zu „völkischer Treue“ zu rufen – freilich ohne dabei die Absage an einen völkischen Nationalismus zu vergessen –, so sucht er andererseits, dem Auftrag der Kirche gerecht zu werden, „ihre Hände über Volks- und Staatsgrenzen hinaus zu den Genossen des Glaubens“ auszustrecken und in „Arbeits gemeinschaft“ zu treten, indem er selbst in der Ökumenischen Bewegung „Life and Work“ mitarbeitet. Hinter der Althausschen Konzeption von volkstumsverbundener Kirche und kirchenverbundenem Volk steht eine starke kirchlich-theologische Motivation. Immer wieder ist das bereits angeklungen. Zum einen ist seine aus innerster Überzeugung vorgetragene Interpretation aller Weltwirklichkeit, d. h. aller weltlicher Ordnung als theonom, seine Antwort auf die als Bedrohung für den Glauben und für die Sittlichkeit empfundene Säkularisierung. So spricht er 1924 von den „bitterernsten Zeiten, in denen wir um die Grundlagen eines christlichen Volkslebens, um die Heiligkeit der Ehe, um Reinheit und Ernst der Verantwortung für neues Leben, um den christlichen Charakter der Schulen zu kämpfen haben“114.
Aber nicht nur die Sorge um die Christlichkeit und Sittlichkeit des Volkes treibt Althaus an, sondern auch seine volksmissionarische Hoffnung und Überzeugung, sein „Wille zur Volksmission“, den er 1928 mit den Worten zusammenfasst: „Über dem Tore, durch das unser Geschlecht den Weg in die Kirche zurückfinden kann, steht geschrieben: communio, Gemeinschaft!“ Gerade was den Gemeinschaftsgedanken betrifft, soll die Kirche Vorbild sein und dadurch positiv ins Volk hineinwirken. 114 2407 Erlebnis, 30. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Mit diesem Gedanken aber verbindet sich bei Althaus das bereits erwähnte volksmissionarisch motivierte Bestreben, die Leistungsfähigkeit der evangelischen Theologie für die Gesellschaft bzw. für das Volk herauszustellen. Gerade dieses Anliegen spielt bei Althaus eine große Rolle, und er sieht die Zeit dafür günstig, wie er 1924 schreibt: „Die Augen unseres Volkes schauen wieder, noch weithin zweifelnd, fragend, aber doch eben fragend, hoffend auf die Kirche. Die Jugend klopft an die Türe und sucht in einer neuen Kirche Erfüllung ihres Sehens nach Heimat, Gemeinschaft und Dienst. Die Gebildeten horchen wieder auf die Theologen, wie seit langem nicht. […] Die Zeit hungert nach ‚Dogma‘, ruft nach der Verkündigung des heiligen, unerschütterlichen Gesetzes Gottes für unsere Tage. Allergrößtes wird von den Theologen erwartet […]. Aus dem Chaos, von den Trümmerhaufen des sozialen Kampfes schaut man nach der Kirche aus, ob nicht aus ihr noch einmal der heiße Strom der Liebe brechen könnte, der die ‚Klassen‘ zu neuer Volksgemeinschaft zusammenschweißte; ob nicht in ihren Gemeinden etwas wirklich wird von der brüderlichen Solidarität der Starken mit den Schwachen, von dem Liebeskommunismus […]. Es ist eine große Stunde für die Kirche.“115
Diese „große Stunde“ hat sich nach Althaus für Kirche aber gerade dadurch ergeben, dass sie mit dem Ende des alten Bündnisses von Kirche und Obrigkeit, von „Thron und Altar“ die Chance zu einem echten Neuanfang bekommen hat, sich nun „nach ihrem eigenen Gesetze oder vielmehr nach dem Gesetze der Sache, die ihr anvertraut ist“, neu zu organisieren. Aus diesem Grund begrüßt Althaus auch die Möglichkeiten der Kirche, die ihr von Seiten des neuen Staates zugebilligt werden, und kommt damit zu einer positiven Würdigung der Weimarer Reichsverfassung. Noch 1929 kommt er zu dem Schluss: „Die deutsche Revolution und August-Verfassung machte dem landesherrlichen Kirchenregimente ein Ende und gab den Kirchen eine bisher nicht gekannte Freiheit vom Staate“.116 Diese Chance zum Neuanfang im neuen Staate gilt es nun aber auch zu nutzen; die evangelische Kirche muss ihren Platz in Gesellschaft und Staat finden. Hinzu kommt dabei die Furcht, im neuen Staat gegenüber dem Katholizismus ins Hintertreffen zu geraten und den alten Status als Leitkultur zu verlieren. So schreibt Althaus 1924: „Die Zeiten sind für unsere Kirche von ungeheurem Ernste. Der Katholizismus drängt und schiebt sich überall, auch in rein evangelischen Gegenden, mächtig vor. Er hat den Krieg und die Revolution gewonnen, er nützt die äußere und geistige Kon-
115 Ebd., 31. 116 2909 Theologie, 131. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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junktur dieser wirren Jahre und wartet siegesgewiß auf die baldige Zersetzung des deutschen Protestantismus.“117
Gegen all das, gegen Säkularisierung und gegen Katholizismus, gilt es für die evangelische Theologie und Kirche, ihre Bedeutung für Volk und Staat zu erweisen. Dies unternimmt Althaus in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, indem er die Zusammengehörigkeit von Kirche und Volk noch weiter unterstreicht.
117 2407 Erlebnis, 30. Zum aufstrebenden Katholizismus dieser Jahre in Bayern schreibt Menges, Freistaat, 227: „Die katholische Kirche, repräsentiert durch markante Persönlichkeiten in Episkopat, Politik und Adel, erlebte in den 20er Jahren einen beachtlichen Aufschwung. Die Seelsorge errang einen hohen Stellenwert, das kirchliche Vereinswesen […] blühte, die Orden erfreuten sich starken Zulaufs.“ Zu dieser Bedrohung des Protestantismus durch den Katholizismus kommt für Althaus noch die Gefahr durch neue religiöse Strömungen: „Haltlos und fast wehrlos fallen in den Städten viele dem gnostischen und halbheidnischen ‚Christentum‘ der anthroposophischen ‚Christengemeinschaft‘ zum Opfer“ (2407 Erlebnis, 30). Um dem entgegenzutreten, schreibt Althaus 1930 seine „Stellung der evangelischen Gemeinde zur Christengemeinschaft“ (3016). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
3. Volkstumsbewegung und völkische Bewegung als Herausforderung für Kirche und Theologie und Althaus’ Volkstumstheologie als Antwort Wer die Geschichte der evangelischen Kirche zwischen 1918 und 1945 und die Rolle, die Althaus darin einnimmt, verstehen will, muss sich die zentrale Stellung von Volk bzw. Volkstum sowohl im politischen als auch im theologischen Diskurs dieser Zeit bewusst machen. Klaus Tanner sah schon 1989 bei der Erforschung des protestantischen Volkstumsdenkens die „spezifische Schwierigkeit […] für das heutige theologische Denken“ darin, dass jenen Begriffen aus den 20er Jahren wie Volk, Volkstum und Volksgemeinschaft, die „für die damalige lutherische Ethik zentral“ waren, mittlerweile eine negative Konnotation eigne. Die nach Erkenntnisgewinn strebende historische Forschung dürfe sich davon aber möglichst wenig beeindrucken lassen: „Die aus der Perspektive der Zeit nach 1933 gewonnenen Verwerfungsurteile hinsichtlich der ‚Metaphysik der Völker und des Volkstums‘ lassen allerdings nicht erkennen, warum diese Volkstumsmetaphysik im Luthertum der zwanziger Jahre eine so hohe Zustimmung finden konnte. Gerade eine kritische Interpretation dieser Ethik muß versuchen, die Faszination, die eigentümliche Plausibilität und die ethische Leistungskraft dieser Begriffe für das damalige religiös-politische Bewußtsein zu erklären.“1
Dabei stand das Volkstum damals keineswegs nur im nationalen deutschen Diskurs auf der Tagesordnung, sondern ebenso im internationalen, ökumenischen Diskurs2. Auch spielte das Volk nicht nur in rechten und rechtsradikalen Kreisen und politischen Parteien und Verbänden eine Rolle, sondern es war – wenn auch materiell unterschiedlich bestimmt – in aller Munde. So hieß eine sozialdemokratische Wochenzeitschrift, die zwischen 1919 und 1933 erschien, „Volk und Zeit“, und ganz selbstverständlich warb die SPD in den 20er Jahren um die deutschen „Volksgenossen“3, oder sprachen auch Karl Barth 1 Tanner, Verstaatlichung, 246. „Solche analytische Anstrengung“, so Tanner weiter, „zielt nicht auf die Rehabilitierung derartiger Vorstellungen.“ 2 So hieß es in der „Botschaft des Christentums“ von der Weltmissionskonferenz 1928 in Jerusalem: „Wir anerkennen auch die edlen Elemente, die sich in den nationalistischen Bewegungen und im Patriotismus finden, die Loyalität, die Selbsthingabe und den Idealismus, welche die Liebe zum Vaterland einflößen können.“ (Schlunk, Höhen, 99). Auch das Thema der ökumenischen Weltkonferenz der Bewegung für Praktisches Christentum 1937 in Oxford lautete „Kirche, Volk und Staat“. 3 Vgl. Nolte, Ordnung, 71. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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und Dietrich Bonhoeffer in den 20er und 30er Jahren von „Volksgenossen“4. „Von allen systemstabilisierenden Parteien wurde der Nationalstaat ungebrochen und rückhaltlos bejaht“, konstatiert Karsten Ruppert im Blick auf die Weimarer Republik und deren neuen, systemstabilisierenden Nationalismus und fährt fort: „Der neue Nationalismus sollte nicht mehr vorrangig mit militärischer Gewalt und Macht gleichgesetzt werden, sondern mit Sprache, Kultur und Volkstum.“5 Zeitgenössisch bringt es der Theologe Karl Bernhard Ritter 1926 auf den Punkt: „Es ist angesichts der politischen Ereignisse des letzten Jahrzehnts nur zu erklärlich, daß als tiefgreifende Reaktionserscheinung auf das Schicksal der Nation dem deutschen Menschen sein Volkstum in immer noch steigendem Maße als umfassende Lebenswirklichkeit, als eigentümlicher und entscheidender Lebenswert zum Bewußtsein gekommen ist und leidenschaftlich bejaht wird. Dazu kommt, daß die beginnende Selbstzerstörung der Aufklärungsepoche den Blick wieder freigibt für die vorrationalen naturhaften Bindungen des menschlichen Gemeinschaftslebens, und daß eine starke Sehnsucht nach Ueberwindung des gesellschaftlichen Atomismus in der Erneuerung ursprünglicher Lebenszusammenhänge Erlösung aus dem Todesschicksal unserer Zeit erhofft.“6
3.1 Das Volkstum als „umfassende Lebenswirklichkeit“ und ethischer Bezugspunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wer sich die Bindekraft des Volkstums im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht bewusst macht, kann die deutsche Geschichte und damit auch die deutsche Kirchengeschichte dieser Zeit kaum nachvollziehen. Dem, so Jürgen Heß, „Prädisponiertsein für nationales Denken […] als Folge der Integration in das vom nationalen Pathos erfüllte Kaiserreich, dann aber vor allem aufgrund der aufrüttelnden Erlebnisse des Krieges, der Niederlage und des Friedensschlusses im ganzen“7 sowie den Gründen dafür, warum ausgerechnet das Volkstum nach 1918 eine solche Zentralstellung in Politik und evangelischer Theologie einnimmt und warum es zum „ethischen Bezugspunkt“ (Klaus Scholder) gerade in evangelischer Theologie und Kirche wird, gilt es nachzugehen.
4 Barth, Ethik, 331; und Bonhoeffer, Führer, 31. 5 Ruppert, Nationalismus, 231 f. 6 Ritter, Christentum, 7 f. 7 Hess, Deutschland, 319. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Seit seinen Anfängen hatte der Protestantismus ein besonders Verhältnis zu Volk und Kultur, Staat und Nation. So halten die „Leuenberger Texte“ 2002 fest: „Den Reformatoren war es wichtig, dass jeder das Evangelium in seiner Sprache hören und verstehen konnte. So gehörten einerseits Reformation und die Entwicklung der Sprache und Kultur eines Volkes von Anfang an zusammen. Es entstanden Kirchen, die ihre Heimat in Volk und Kultur hatten, wie umgekehrt auch Volk und Kultur von den Kirchen geprägt wurden. […] Die politischen Gewalten erfuhr die Reformation sowohl als Gegenmächte wie als Schutzmächte. Sie band sich in vielen Fällen an die Landesherren und damit auch an deren Territorien. […] Die Bindung an die jeweilige kulturelle, territoriale und später auch nationale Ausprägung behinderte fast durchweg die Öffnung für andere kulturelle und konfessionelle Gestalten des Christseins. Das Ja zum Volk, zum Staat und zur Nation führte an verschiedenen Stellen mitunter zu fragwürdigen und einseitigen nationalen Einstellungen, die wichtiger wurden als die weltweite Gemeinschaft der Kirchen und Christen.“8
Entscheidende Impulse erhielt das Volkstumsdenken mit dem breiten Erwachen eines deutschen Nationalbewusstseins im Gefolge der Befreiungskriege gegen den französischen Aggressor Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts. Parallel zu diesem außenpolitischen Katalysator erwuchs dem deutschen National bewusstsein zugleich eine weitere, religiöse Wurzel: „Als […] im Gefolge der Aufklärung und des Rationalismus die Idee des christlichen Staates verblaßte, erwachte im Widerstand gegen ein allgemeines Weltbürgertum ein stark christlich geprägtes Volksbewußtsein. Die Völker sollten ihre unter besonderen geschichtlichen Bedingungen entwickelten Lebensformen bewahren und nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen leben.“9
Werner Jochmann benennt als Vordenker in diesem Zusammenhang Johann Gottlieb Fichte10. Im Prozess der deutschen Nationsbildung stellte das Volkstumsdenken mit seinem Abstammungsglauben eine entscheidende nationsbildende Kraft dar,
8 Hüffmeier, Kirche, 16. 9 Jochmann, Gesellschaftskrise, 268. 10 Er schreibt dazu: „Nach Fichte sollte das deutsche Volk ebenso seine Art entfalten und nach ihr leben wie jedes einzelne Individuum. Er ging noch einen Schritt weiter und postulierte, das deutsche Volk sei, wie jeder Mensch, ‚eine Offenbarung des göttlichen Lebens‘. Fichte wollte das deutsche Volk damit nicht überhöhen, denn er erkannte anderen Völkern ihre Art auch zu, das deutsche Volk war also nicht die einzige ‚Offenbarung des göttlichen Lebens‘, sondern nur eine unter vielen. Aber hier war ein Gedanke geäußert worden, der hundert Jahre später unter anderen geschichtlichen Bedingungen wieder aufgegriffen und aktualisiert wurde.“ (Jochmann, Gesellschaftskrise, 268). Zu Fichtes idealistischem Volkstumsdenken, das – wie Althaus – den Menschheitsgedanken immer präsent hatte, immer noch instruktiv: Goldstein, Fichte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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die zur Überwindung spezifisch deutscher Schwierigkeiten beitrug. So konnte damit sowohl dem Problem der deutschen Kleinstaaterei als auch der Bikonfessionalität begegnet werden. Zu den deutschen Schwierigkeiten zählte außerdem die Tatsache des Verständnisses Deutschlands als „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner), das bei den anderen europäischen Großmächten zur Sorge um Machtverlust und entsprechenden Gegenmaßnahmen führte, in Deutschland selbst aber das Gefühl der Benachteiligung evozierte, das 1919 von Arthur Moeller van den Bruck als „Recht der jungen Völker“ formuliert wurde11. In der nationalen Idee mit ihrem Volkstumsdenken steckt somit ein für den Nationsbildungsprozess wichtiges Gruppierungsmotiv, das ein hohes Maß an Homogenität fördert, aber auch fordert. Abgrenzungsprobleme sind damit von vorneherein gegeben. Die Kategorie des organologischen Volkstumsgedankens sucht nach Helmuth Plessner „Deutschlands Traditionslosigkeit und unzusammenhängender Entwicklung d adurch ein positives Gegengewicht (und inneres Recht) zu geben, daß sie im Volk etwas Ursprüngliches, ja die beständige Ursprünglichkeit schlechthin behauptet“12.
Eine verstärkte Aufmerksamkeit wurde dem Volk bzw. Volkstum und Nation in Deutschland vor allem ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zuteil. Es ist die Zeit, in der sich gerade auch radikale, nationalistische und völkische Vereinigungen sammeln (Alldeutscher Verband, Verein für das Deutschtum im Ausland etc.). Diese Entwicklung ist aufs engste verbunden mit einem Prozess wirtschaftlicher und sozialer Umstrukturierung infolge der Industrialisierung und des Kapitalismus. Daher ist es verständlich, dass der Nationalismus als gemeinschaftsbildendes und gesellschaftsstabilisierendes Moment erfahren und eingesetzt wird. Außenpolitisch eingebettet ist der aufkommende deutsche Nationalismus in das Zeitalter des Imperialismus der europäischen Großmächte und des Aufkommens des Nationalismus als gesamteuropäisches Phänomen. In Deutschland als „verspäteter Nation“, die um ihren angemessenen „Platz an der Sonne“ (Wilhelm II.) erst noch zu ringen hatte, war der Hang zur Übermäßigkeit von vornherein gegeben. Eine Deutung des Weltkrieges als Freiheitskampf für Deutschlands Entfaltungsmöglichkeiten im Konzert der Großmächte verstärkte diese Tendenz noch weiter.
11 Zeitgenössisch spricht Hermann Sasse im Kirchlichen Jahrbuch 1932, 58 davon, dass die „innere Kraft des deutschen Nationalismus der Gegenwart“ auf der Tatsache beruhe, „daß das deutsche Volk als letztes der großen europäischen Völker zu nationaler Einheit und zu nationalem Bewußtsein gelangt ist. Es hat seine historische Sendung als Nation noch nicht erfüllt und will eine Geschichte nachholen, die das Schicksal ihm bisher vorenthalten hat.“ 12 Plessner, Nation, 48. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Angesichts des für Deutschland zusehend negativen Verlaufs des Weltkrieges entwickelte das Volkstumsdenken eine Eigendynamik, die sich nicht zuletzt auch auf die evangelische Theologie auswirkte. Jochmann schreibt dazu: „Je ungünstiger sich das Kriegsgeschick für Deutschland gestaltete, desto stärker wurde das Identifikationsbedürfnis der Christen mit den völkischen Kräften des Landes. Nationalisten, Volkstumsideologen und Protestanten rückten unter dem Druck des Krieges zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Das blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Verkündigung und das kirchliche Handeln.“13
Die Synthesekonzeptionen von Protestantismus und Deutschtum, die besonders im Lutherjahr 1917, das zugleich den Wendepunkt des Krieges bedeutete, reichlich bemüht wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Mit der Niederlage im Weltkrieg und der Revolution im Herbst 1918 war die alte Welt des deutschen Kaiserreichs von heute auf morgen weg. Als selbstverständlich geglaubte Ordnungen und gesellschaftliche Realitäten waren aufgelöst. So war die jahrhundertealte, sich gegenseitig stützende Koalition von Thron und Altar ebenso Geschichte wie die mehr oder minder real existierende protestantische Leitkultur im Kaiserreich. Die alte, zumindest die bürgerliche Klasse erreichende Bindekraft der dynastischen Monarchie war dahin. Angesichts einer ungemein großen Krisenerfahrung und -stimmung, die durch die drohende Gefährdung der eigenen sozialen Sicherheit durch den Linksextremismus, der als totalitäres und christentumsfeindliches Regime drohte, noch verstärkt wurde, fehlte ein neuer expliziter, normativer Identifikationspunkt. Daran, dass der neue Staat, d. h. die Weimarer Republik, einen solchen neuen Identifikationspunkt für die Deutschen bilden könnte, verschwendete die große Mehrheit keinen Gedanken. Als Staatsgebilde, das historisch aus Niederlage und Revolution und geistig aus der Weltanschauung der Deutschland in Versailles entehrenden und in die Abhängigkeit treibenden Siegermächte des Krieges entstanden war, war es von vorneherein politisch desavouiert. In dieser Auffassung fühlten sich die evangelischen Christen, so Jochmann, noch dadurch bestärkt, „daß sie sich nun auf einmal einem Staat gegenübersahen, in dem Kräfte zu maßgeblichem Einfluß gelangt waren, die der Kirche nicht mit Wohlwollen begegneten“14 bzw. den politischen Katholizismus vertraten. Auf protestantischer Seite trug die Auseinandersetzung mit dem katho-
13 Jochmann, Gesellschaftskrise, 270. Vor diesem Hintergrund ist auch das Engagement Althaus’ in der deutschen Volkstumsbewegung in Polen zu sehen, wenn dieses freilich bereits in guten Kriegszeiten begann. 14 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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lischen Ultramontanismus und Internationalismus zusätzlich zu einer Nationa lisierung bei. Das Identifikationsvakuum war dennoch schnell gefüllt. Denn als offensichtlich einzige Ordnung aus der alten Welt hatte das Volkstum die Katastrophe von Niederlage und Revolution überdauert. Der alte Staat war zwar weg, aber das deutsche Volk als ethnisch-kulturelle Größe war ja noch da, und daran konnte man sich nun halten. Bei dieser Ansicht fühlte man sich nicht nur durch die Realität abgesichert, sondern auch durch die deutsche staatsphilosophische Tradition, denn schon Herder hatte dem Volk gegenüber dem Staat einen höheren Wert beigemessen, weil dieses fortbestehe, auch wenn das Staatsgebilde untergehe15. Die Zukunftshoffnungen wurden also nicht auf den neuen Staat in all seiner politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Siegermächten projiziert, sondern auf das eigene Volk, was Unabhängigkeit und ein Leben aus den eigenen Kräften und damit neues Selbstwertgefühl nach der katastrophalen Niederlage versprach16. Eingebettet ist dieser Vorgang, so Ruppert, in den Wandel „vom reichsdeutschen Staatsbewußtsein zum ethnischen wie kulturellen Volksbewußtsein“17. Auch die Hinwendung breiter kirchlicher Kreise zum Volkstumsdenken war wichtiger Bestandteil des kirchlichen Krisenmanagements, das nach der deutschen Katastrophe nötig geworden war18. Das Volkstum war in den deutschen Köpfen als Folge des Krieges ohnehin präsenter als jemals zuvor, hatte es doch der deutschen militärischen Führung, die sich mit Fortschreiten des Krieges mehr und mehr zur eigentlichen politischen Macht im Land formierte, zur Mobilisierung aller Kräfte für den erhofften Sieg nicht mehr ausgereicht, an das monarchisch-dynastische Bewusstsein der Deutschen zu appellieren, sondern wurde der Krieg – freilich nicht nur auf deutscher Seite – in zunehmendem Maße zu einem Volkskrieg stilisiert. So ist es nach Ruppert zu erklären, dass sich die Deutschen „dadurch oft erst endgültig als Nation begriffen.“ Dementsprechend war der Appell an die sich verteidigende Volksgemeinschaft bereits während des Krieges vielfach internalisiert. 15 Vgl. Sundhaussen, Einfluß, 30. 16 Vgl. bei Althaus 2910 Vaterland, 241, wo es heißt: „Es ist noch da, das deutsche Volk. Unser Auge schaut hindurch und sieht doch mehr als Parteien, Klassen, Parlamente; es sieht mehr als Gebildete und Massen“; vgl. 3121 Volk, 4. 17 Ruppert, Nationalismus, 204. 18 So urteilt Jochmann, Gesellschaftskrise, 270: „Die Krise wurde von der Kirche dadurch gemeistert, daß sie sich den Kräften des Volkes anschloß, die die Fakten von 1918 nicht anerkennen wollten und eine ‚völkische Erneuerung‘ Deutschlands anstrebten. Sie wurden deshalb als Träger der Volksidee angesehen. Für die evangelischen Christen hatte der demokratische Staat seine Würde verloren, er war zum Unstaat geworden. So rückte erneut das Volk als Wahrer der unvergänglichen Werte in den Mittelpunkt alles Denkens und Handelns.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Der in der Schicksalsgemeinschaft des Krieges geborene Volksnationalismus, der in mancher Hinsicht an die romantisch-bürgerliche Nationalbewegung anknüpfte, ist nach dessen Ende in Deutschland […] erst zu voller Blüte gekommen.“19
Ebenfalls ein Erbe des Krieges war die gerade in lutherisch-theologischen Kreisen weitverbreitete Vorstellung, der Kriegsdienst als Einsatz für Volk und Vaterland habe ein vorher für unmöglich gehaltenes Potential an sittlichen Kräften freigesetzt. Als Volk und Vaterland zu den Waffen riefen, schienen angesichts des gemeinsamen Dienstes und des gemeinsamen Kämpfens, Leidens und Opferns vormalige Standesdünkel und Klassengegensätze vergessen. Man bildete eine „echte“ Gemeinschaft, der Egoismus der Einzelnen wie der ganzer Stände schien im „August 1914“ plötzlich aufzuhören. Volks- und Vaterlandsbewusstsein schienen dafür Grund und Auslöser zu sein20. Im Krieg schien das sich im „Augusterlebnis 1914“ manifestierende Gefühl der Volksgemeinschaft die Zerrissenheit, soziale Ungleichheit und Klassenkämpfermentalität des Kaiserreichs zu überwinden. Dieses Gefühl sollte für die neue Zeit, die als noch zerrissener empfunden wurde, fruchtbar gemacht werden. Allem Kulturpessimismus der Vorkriegszeit zum Trotz löste sich in der Vorstellung vieler Theologen der gebetsmühlenartig angeprangerte Individualismus und Egoismus der Menschen in der dem „August 1914“ vermeintlich abzuspürenden Einsatzfreude auf. Nach Klaus Scholder „entdeckte eine Reihe jüngerer lutherischer Theologen im Verlauf des Krieges und der Nachkriegszeit den Begriff des Volkes. Es war eine Entdeckung, die einen Teil dieser Generation offenbar geradezu überwältigt haben muß. Sie fand darin die Überwindung eines Individualismus, dessen sie längst überdrüssig war, weil er ihr eng, klein und kaltherzig erschien. Was der deutsche Protestantismus an Tugenden gleichsam gespeichert hatte, der Wille zur Gemeinschaft und zur Solidarität, zur Hingabe und zum Opfer, das floß nun ganz in den Begriff des Volkes ein. Die Familie als Feld christlichen Tätigwerdens schien zu begrenzt, die Kulturgesellschaft des 19. Jahrhunderts im Krieg zerbrochen, der Staat fragwürdig geworden. Einzig das Volk hatte offenbar überdauert […] [und wurde] zum neuen ethischen Bezugspunkt der Theologie“21.
19 Ruppert, Nationalismus, 202. 20 Vgl. bei Althaus 3004 Verpflichtung, 289. 21 Scholder, Kirchen, 148. Als beredtes Beispiel dafür vgl. bei Althaus 3121 Volk, 4: „Durch das Blut junger deutscher Regimenter, die im Glauben an ein neues deutsches Volk ihr Leben dahingaben, durch Blut und Tränen deutschen Volkstums jenseits unserer Grenzen, das wir im Kriege entdeckten, durch die heiße Blutwelle neuer Volksverantwortung und Volksliebe in unserer Jugend ist, was das Wort ‚Volk‘ meint, als eine starke, bindende, fordernde Wirklichkeit über uns gekommen.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Setzten schon während des Krieges unzählige Theologen und Kirchenmänner ihre Hoffnungen auf Volk und Volksgemeinschaft als Remedium gegen Individualismus und Egoismus22, so versprachen sie sich nach dem verlorenen Krieg von diesem neuen ethischen Bezugspunkt erst recht eine „Neutra lisierung des Egoismus der Partikularinteressen“, denn „die ‚sittliche Kraft‘ der Volksgemeinschaft schien angesichts des sich immer nachdrücklicher bemerkbar machenden Pluralismus der Interessen gerade unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie unverzichtbarer denn je zu sein. Gerade für die Bewahrung des Landes, das zunehmend in den gesellschaftlichen Differenzierungsprozess hineingerissen zu werden drohte, könne die Volksgemeinschaft unschätzbare Dienste leisten. Insofern wird verständlich, warum auch Theologen und Pfarrer mit einer konservativen Glaubensauffassung Volk und Nation eine quasi-religiöse Weihe verliehen. Ihre Hinwendung zum Volksbegriff entstand aus einer fundamentalen Abwehrreaktion gegen die unübersehbaren Säkularisierungstendenzen.“23 Sie schätzten am Volksbegriff in erster Linie das gemeinschaftsstiftende Potential und die vermeintliche Integrationsfähigkeit, es ging ihnen darum, „die gemeinschaftlichen Restbestände“ in einer zunehmend pluralistisch verfassten Gesellschaft zu aktivieren24. „Das ‚Volk‘ rückte in den Fragmentierungen der Moderne zum Stifter von kollektiver Identität und von gesellschaftlicher Homogenität auf.“25 Bei dem hierbei zugrundeliegenden Volksbegriff ging es freilich nicht um eine wie auch immer geartete „Reinheit der Rasse“, sondern „um seiner integrativen, Land und Stadt, Bauer und Arbeiter zusammenführenden und damit latent moralischen Potenz“26 willen setzte man aufs Volk. Angesichts der prinzipiellen und theoretischen weltanschaulich-politischen Bedenken gegenüber der neuen, aus dem Westen gleichsam importierten Staats 22 Die Umsetzung des Nächstenliebegebots konnten sich diese Theologen vor dem Hintergrund ihrer politisch-mentalen Prägungen nur in der Gemeinschaft des Volkes vorstellen. Die Menschheit erschien ihnen zu abstrakt und zu weit; die Familie oder der Stand zu eng und daher vom Gruppenegoismus bedroht. 23 Pyta, Dorfgemeinschaft, 249 f. 24 Ebd., 251. Pyta weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die „gemeinschaftsstiftende Qualität der Nation“ ausschließlich darauf beruhte, „daß sie auf einem hohen Abstraktionsniveau die Angehörigen hochgradig differenzierter Gesellschaften auf eine Minimalausstattung kollektiver Identität in Gestalt von gemeinsamer Sprache, Geschichte, ethnischer Zugehörigkeit und staatlicher Gemeinsamkeit verpflichtete“. Auf der gleichen Linie konstatiert auch Graf, Die Nation – von Gott „erfunden“?, 308: „Je mehr die eigene Nation als fragmentarisiert und religiös, politisch, sozial und kulturell desintegriert erfahren (bzw. erlitten) wurde, desto mehr richtete sich die Suche auf eine Integrationssubstanz, die durch kritische Reflexion nicht mehr relativiert werden können sollte.“ 25 Nowak, Protestantismus, 8. 26 Pyta, Dorfgemeinschaft, 247. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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form (Parlamentarismus, Kompromiss, Mehrheitsentscheidungen, Kampf der Ideologien)27 und angesichts der frühen negativen Erfahrungen mit dieser neuen Staatsform (Putschversuche, schwacher Staat, Gefahr des Bolschewismus, Gewaltexzesse) suchte man ganz allgemein (vgl. die Staatsrechtslehre) und speziell auf theologischer Seite eine „neue sittlich-religiöse Gesamtintegration des Gemeinwesens“28. Im Hintergrund sieht Klaus Tanner dabei die „Überzeugung, der aus dem Ausdifferenzierungsprozeß der modernen Kultur resultierende Pluralismus und Individualismus zersetze alle substantiellen kulturellen Verbindlichkeiten und erzeuge deshalb einen verstärkten Integrationsbedarf bzw. die Notwendigkeit neuer Homogenitäts- und Einheitsstiftung.“29
Also begab man sich auf die Suche nach „neuer, substantieller Verbindlichkeit“ und nach solchen Kräften, „die in der Lage sein sollten, den Pluralismus und Individualismus durch eine neue, gesteigerte, sittlich-religiöse Gesamtintegration und die Schaffung eines in Werten und Ideen fundierten Gemeinschaftsbewußtseins zu überwinden.“30
Diese neue Verbindlichkeit und diese Kräfte zur Gemeinschaft angesichts von äußerer (Versailles) und innerer (Klassenkampf ) Bedrohung Deutschlands meinte man in dem scheinbar im Krieg bewährten Konzept der Volksgemeinschaft zu finden. Diese gewinnt dabei den Stellenwert einer „überpositiven Ordnung“, „in welcher der Individualismus und Relativismus grundsätzlich überwunden und so zugleich eine ethische Orientierung für das gesamte Gemeinwesen gewährleistet sein soll.“31 „Im Volkstum glaubte man, jenen ‚überparteilichen‘ Boden zu haben, von dem aus eine sittliche, am umfassenden Wohl der Volksgemeinschaft orientierte Politik gestaltet werden könne.“32 27 Dazu schreibt Scholder, Geschichte, 77: „Was die liberale, parlamentarische Demokratie der Rechten so verhaßt machte, war gerade das, was ihr eigentliches Wesen darstellt: der Zwang zum Kompromiß, die relative Wahrheit von Mehrheitsentscheidungen, die Legalisierung von Gruppeninteressen und damit verbunden das Glanzlose, Unheroische der auf demokratischem Wege zustandegekommenen Entscheidungen.“ 28 Tanner, Verstaatlichung, 263. 29 Ebd., 187. 30 Ebd. Gesucht wird angesichts der als zerrissen empfundenen Weimarer Republik „nach stärkeren Integrationsfaktoren als Verfassung und formalem Recht: Moral, Gesinnung, unbedingtes Verantwortungsgefühl, gemeinsamer Geist, gemeinsame Werte in Gestalt der nationalen Tradition sollen als Gegenmittel gegen die sozialen Spannungen und zentrifugalen Kräfte in einer ausdifferenzierten Gesellschaft wirken“ (ebd., 264). 31 Ebd., 265. 32 Ebd., 245. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Noch aus der Zeit des Staatskirchentums mit ihrer mehrheitlich protestan tischen Leitkultur stammte die konservativ-protestantische Zielsetzung, die soziale und geistige Integration der deutschen Gesellschaft hin zu einer Gemeinschaft voranzutreiben. Nachdem die Kirche in der sozialen Frage gescheitert war, war bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der Volkstumsgedanke ins Blickfeld der protestantischen Eliten geraten. Diese proklamierten nach Martin Greschat „das Ideal einer christlich gegründeten nationalen Einheit und Geschlossenheit, welche die innenpolitischen Spannungen und Gegensätze überwölben und überwinden sollte. Die Kehrseite dieser schnell wachsenden Hochschätzung des Deutschtums und der eigenen Nation bildete die dann ebenfalls zunehmende Ab- und Ausgrenzung: der Kommunisten und Sozialisten, der Linksliberalen und insbesondere der Juden.“33
In dem durch die eigene, zu keinem Zeitpunkt in Kauf genommene Niederlage34 und durch die Behandlung durch die Siegermächte wirtschaftlichfinanziell ruinierten Deutschland schien der Appell an die vermeintlichen Selbstheilungsprozesse des Volkstums für Viele der einzig erfolgversprechende Ausweg aus der Misere. Wenn alle in der Volksgemeinschaft an einem Strang ziehen, so die Überzeugung, kann die Katastrophe im Geist von Solidarität und Opferbereitschaft überwunden werden. Die „Volksgemeinschaft“ war in diesem Punkt nicht nur die politische Vision rechter und rechtsradikaler Kreise und Parteien, sondern auch der systemstabilisierenden Parteien der Weimarer Republik, wenn der Begriff je nach politischer Tradition unterschiedlich gefüllt wurde35. Nach Ruppert gab es 33 Greschat, Christenheit, 309. Greschat macht diese Geisteshaltung vor allem an Adolf Stoecker fest. 34 Man denke nur an die massenhaft gezeichneten Kriegsanleihen. 35 So schreibt Hess, Deutschland, 331: „Die Idee der Volksgemeinschaft war nun einmal keine typische Vorstellung allein des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik, sondern ebensosehr ein Leitbegriff des demokratischen Denkens.“ Als Beispiel führt er eine Wahlkampf parole der DDP von 1924 an: „Demokratie heißt Überwindung des Klassenkampfgedankens durch Volksgemeinschaft“ (ebd., 332). „Für den demokratischen Nationalismus nahm der Volksbegriff einen zentralen Platz ein“. Und für Heß „fehlt auch in der demokratischen Literatur die mystizistische Überhöhung des Volkstums nicht“ (ebd., 354). Volkstumsdenken war zu keinem Zeitpunkt nur den Völkischen vorbehalten. Aufgrund der Tatsache, dass es sich beim „Volkstum“ um einen schillernden Begriff handelt, der Spielräume für viele unterschiedliche Interpretationen offenlässt, war seine inhaltliche Füllung vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters abhängig. In einer Zeit, da sich der ethnische Abstammungsglaube in Deutschland bereits weitgehend durchgesetzt hatte, fällt dem deutschen Judentum, das mehr und mehr als ethnischer Fremdkörper betrachtet wurde, eine eigene volkliche Standortbestimmung immer schwerer. Der jüdische Soziologe Julius Goldstein lehnt 1926 in seiner Zurückweisung des völkischen Denkens das Volkstumsdenken als solches © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„kaum eine Parteirichtung, die ihre Sehnsucht nach nationaler Geschlossenheit nicht auf diese Formel brachte. Das Bewußtsein von der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes sollte die tiefe soziale und weltanschauliche Zerklüftung, an der alle litten, überwölben. […] Die Überordnung der Nation über die Teilinteressen der Gruppen und staatsbürgerliche Solidarität sollten aber nicht nur die Nation im Innern vollenden, sondern sie waren zugleich Voraussetzung nationaler Selbstbehauptung in der Gemeinschaft der Staaten.“36
Die große Not nach Kriegsende, sowohl die wirtschaftlich-existentielle als auch die politische, die die fortgesetzte Hungerblockade der Siegermächte und die entehrenden Bedingungen des oktroyierten Versailler Vertrages den Deutschen zu ertragen aufgab, verlängerte die am eigenen Leib spürbare Vorstellung der sich verteidigenden Volksgemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft ungebrochen von der Kriegszeit in die Nachkriegszeit, die somit nur schwerlich als echte Friedenszeit begriffen werden konnte. Indem der Versailler Kriegsschuldartikel 231 die moralische Grundlage für die entehrende Behandlung des unterlegenen Deutschland bildete und damit als Fundament für die finanzielle, militärische und moralische Abhängigkeit Deutschlands diente, wurde er zugleich auch ein Katalysator für deutsches Volkstumsdenken. Als Reaktion bzw. Überreaktion auf die einseitige alliierte Lösung der Kriegsschuldfrage, die die Deutschen als Nation minderen Rechts erscheinen ließ, suchte sich deutsches Volkstumsdenken neue Wege, eigenes Selbstwertgefühl, von dem die Weltkriegssieger im Übermaß besaßen, aufzubauen – in aller Regel in Antihaltung zum Westen37. keineswegs ab, sondern konstatiert: „Die Analogie von Art und Volk als falsch abweisen, bedeutet nicht, den volklosen Menschen als Wirklichkeit oder Ideal aufstellen, bedeutet auch nicht, die sittlichen Forderungen leugnen, die aus der Zugehörigkeit des Menschen zu seinem Volk sich ergeben. Diese Forderungen anerkennen auch diejenigen, die nicht durch Blut, sondern durch Sprache, Geist und Schicksalsgemeinschaft sich einem Volke innerlich verbunden fühlen – so die deutschen Juden dem deutschen, die englischen Juden dem englischen Volke. Dabei sei nicht geleugnet, daß auch die Abstammung für das geistige Wesen eines Menschen Bedeutung hat – in welchem Ausmaße freilich, das müßte, wenn möglich, von Fall zu Fall festgestellt werden.“ (ders., Kritik, 229 f.). 36 Ruppert, Nationalismus, 219. Für Hess, Deutschland, 368 gehört der „demokratische Nationalismus“ zum „Kernbestand demokratischen Denkens in der Weimarer Republik“. „Ausgangspunkte für den Erneuerungs- und Selbstbehauptungswillen des demokratischen Nationalismus wie des Nationalismus der antidemokratischen Rechten waren die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Frieden von Versailles. Gemeinsam war die Ablehnung der dort geschaffenen Friedensordnung.“ Auch demokratisches Denken war der Überzeugung, „daß die kaiserliche staatliche Organisation, nicht aber das Volk besiegt und zusammengebrochen sei, sollte doch aus der Kraft des Volkes der Wiederaufstieg kommen“ (ebd., 356). 37 Vgl. Althaus’ Rückblick im Jahr 1953 auf seine politische Ethik zwischen den Kriegen in 5301 Ethik, 6: „Was fortgefallen ist zum Beispiel in der Lehre vom Volke, Staate und von der Politik, dessen kann ich mich im Ganzen auch heute nicht schämen – so gewiß im Einzelnen manches unzulänglich und einseitig gewesen sein mag. Als die alte Auflage verfaßt wurde, stand unser deutsches Leben im Schatten von Versailles.“ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Diesen Gedanken auf die evangelische Volkstumstheologie der Zwischenkriegszeit übertragend, konstatiert Martin Honecker: „Der Hintergrund und Anlaß der emphatischen Entdeckung des Volkstums als Schöpfung Gottes ist nur als Reaktion auf den als demütigend empfundenen Versailler Friedensvertrag zu erklären. So heißt es bei Hirsch: ‚Nur ein Volk, das sehr stolz auf die ihm von Gott gegebene Art ist, das sich für unentbehrlich hält im Menschheitsganzen, wird so viel an seine Zukunft und seinen Staat setzen wollen. Gerade jetzt also, wo die ganze Welt uns verachtet, müssen wir lernen den Stolz darauf, Deutsche zu sein.‘ Es ist somit unverkennbar verletzter Nationalstolz und verwundete deutsche Identität, die zur Vorstellung von einer besonderen deutschen Sendung und zur Wertung des Volkes als Schöpfungsordnung führte.“38
Ebenfalls als Folge der Versailler Vertrages kam das Thema Volkstum auch noch auf andere Weise als Dauerbrenner auf die politische Tagesordnung: in der Wahrnehmung der Auslandsdeutschen. Durch die Grenzziehungen der Verträge von Versailles und St. Germain mit dem Deutschen Reich und mit Österreich-Ungarn lebten von heute auf morgen Millionen von Deutschen außerhalb deutscher Staaten. „Die Grenzveränderungen“, so Honecker, „machten das Auslandsdeutschtum, die ‚Volksdeutschen‘, zu einem Problem. Infolge des Zerfalls der drei Universalmonarchien Rußland, Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reiches waren elf Nationalstaaten entstanden; 35 Millionen Menschen lebten nicht mehr im volkseigenen Staat. ‚Volksdeutsche‘ nannte man nach 1918 Deutsche, die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches und Österreichs in Sprachinseln oder Streusiedlungen lebten. Da überdies die Kultur von der Konfessions- und Religionszugehörigkeit und damit von der Kirche bestimmt wurde, wurde die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft von Kirche und Volk zum ekklesiologischen Thema. Gefordert wurde eine Volkstumsseelsorge“.39
Zusammen mit dem deutschen Volkstum in den neuen Staaten im Osten, vor allem in Polen und der Tschechoslowakei, die mit einem „prononcierten Nationalismus […] ihre Minderheiten im Staat zusammenzuhalten“40 versuchten, befand sich auch das evangelische Christentum gegenüber einem nicht selten aggressiv antideutschen Nationalismus der Bevölkerungsmehrheiten in der Defensive. Das Schicksal dieses neu entstandenen Auslandsdeutschtums 38 Honecker, Christenheit, 161. Auch Hess, Deutschland, 343 spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zwang zur Kompensation der Niederlage“ durch „Herausstreichung deutscher Weltgeltung“. 39 Honecker, Volk, 200. 40 Ruppert, Nationalismus, 203. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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wurde gerade in den ohnehin nationalprotestantisch geprägten evangelischen Kirchen mit großem Interesse wahrgenommen; das Volkstumsdenken nahm an deren Schicksal teil und gewann gerade dadurch an Kontur. So steht für Ruppert fest, dass sich viele Deutsche „nicht zuletzt deswegen jetzt vor allem ethnisch-kulturell verstanden, weil ihre Angehörigen im Ausland von den Feinden haftbar gemacht wurden. […] Zudem hielten die nach Kriegsende Ausgewiesenen, Vertriebenen oder Zurückgekehrten das volksdeutsche Denken wach“41.
Inmitten der Katastrophe von Niederlage und Revolution entstand auf deutschem Boden erstmals ein demokratisches Staats- und Regierungssystem, das von einem vorher im Kaiserreich so nicht für möglich gehaltenen Meinungspluralismus und unterschiedlichsten Interessen und Ansprüchen geprägt war. Der für Demokratien ganz natürlichen dauerhaften Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, die zudem in dieser ideologisch aufgeladenen Zeit mit harten Bandagen geführt wurde, konnte die Mehrzahl der Bürger nichts Positives abgewinnen. Im Aufeinanderprallen der politischen Interessen und Ideologien in den Parlamenten, Regierungskoalitionen und auf der Straße konnten und wollten viele Bürger nichts als Zerrissenheit und Streit wahrnehmen: Der Staat wurde als schwach empfunden, von ihm ging keine Orientierung aus. Ausgehend von der Vorstellung einer deutschen Schicksalsgemeinschaft schien das Volkstum das einzig einigende Band über Klassen- und Parteiengrenzen, über Einzelinteressen und allgegenwärtiger politischer Auseinandersetzung hinweg zu sein. „In Zeiten der Unsicherheit, der vermeintlichen Auflösung von Ordnung“, so der Sozialgeschichtler Nolte, „suchen Menschen nach Halt und Orientierung in Vorstellungen von Einheit und Stabilität. Wenn die soziale Ordnung als gefährdet oder gar als gefährlich erscheint, greifen sie auf Konzepte aus der Vergangenheit zurück, aus einer als besser und sicherer empfundenen Zeit, um der von ihnen verspürten Zerrissenheit der Gesellschaft Modelle der sozialen Integration und Befriedung entgegensetzen zu können; und sie entwickeln Sehnsüchte, soziale Utopien für eine Zukunft, in der eine ‚natürliche‘ und harmonische Ordnung Sicherheit verspricht, sowohl für die eigene Position in der Gesellschaft als auch im Hinblick auf eine Balance der Gesellschaft im ganzen. Seit dem Ersten Weltkriege wurde in Deutschland eine solche Unsicherheit in einem stark gesteigerten Ausmaß verspürt. Im Rausche des Ersten Weltkrieges schien die Klassengesellschaft des Kaiserreichs mit ihren Spaltungen, Zerklüftungen und scharfen sozialen Trennlinien endlich überwunden und in eine Gemeinschaft der nationalen Zusammengehörigkeit überführt werden zu können.“42
41 Ebd., 202. Zur Volkstumsarbeit von Zentrum und DDP vgl. ebd., 204. 42 Nolte, Ordnung, 159. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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In dieser von der Erfahrung sozialer Zerrissenheit geprägten Zeit wurde das „Volk“ zu einem „sozialen Erwartungsbegriff“43: „Es ging um Einheit in der ‚Gemeinschaft‘, um nationale Zusammengehörigkeit im ‚Volk‘ und um die soziale Integration dieses Volkes zu einer ‚Volksgemeinschaft‘.“44 Es nimmt wenig wunder, dass die Theologie ausgerechnet in dieser Zeit des totalen Umbruchs und Traditionsabbruchs den Schöpfergott des Ersten Glaubensartikels wieder für sich entdeckt, der dauerhafte Ordnungen setzt, auf dass die Menschen in all dem Chaos etwas haben, woran sie sich in dieser unsicheren Zeit halten können. Angesichts der angenommenen Beständigkeit der göttlichen Ordnungen vermochte man derartige Krisen verblassen zu lassen. Dem Säkularismus und der Auflösung alter Bindungen, dem allgemeinen Gefühl von Chaos und Krise wird das Volkstum als Schöpfungsordnung entgegengesetzt45. Unter national gesinnten Theologen war die Hoffnung groß, dass mit einer notwendigen nationalen Wiedergeburt des nach Niederlage und Versailles am Boden liegenden Deutschland auch eine christliche Wiedergeburt einhergehen würde. Mit einem stolzen und großen Deutschland wie dem Kaiserreich verband man zugleich ein christlich-protestantisches Deutschland, das zusammen mit den deutschen Kulturerrungenschaften auch den christlichen Glauben in die Welt trug46. Die Ineinssetzung von Deutschtum und Christentum, insbesondere Protestantismus, hat lange Tradition im 19. Jahrhundert, seinen Höhepunkt erlebte diese Verknüpfung im Ersten Weltkrieg. „Selbst ein kritisch-liberaler Theologe wie Ernst Troeltsch“, so Wolfgang Hardtwig, „predigte zeitweise einen ‚deutschen Glauben‘. […] Es ist leicht zu verstehen, dass 43 Ebd., 84. 44 Ebd., 160. Nolte weist in diesem Zusammenhang darauf hin, man macht „es sich zu leicht, und man verfehlt die breitenwirksame Anziehungskraft der sozialen und sozialpolitischen Visionen und Versprechungen des Nationalsozialismus, wenn man jedes Reden von […] der Volksgemeinschaft sofort in den Topf einer extremen rechten oder gar ‚braunen‘ Ideologie wirft.“ Denn „der Wunsch nach sozialer Befriedung und sozialer Einheit [überspannte] in den zwanziger Jahren eine breites ideologisches und parteipolitisches Spektrum von rechts bis links“ (ebd., 161 f.) „Zu dem nationalsozialistischen Leitkonzept gesellschaftlicher Ordnung wurde die Volksgemeinschaft erst seit 1933, davor hatte der Begriff wenig Spezifisches an sich: Seine Attraktivität beruhte gerade auf seiner weiten Verbreitung“ (ebd., 170). 45 Auch für Hamm, Elert, 219, Anm. 38, ist die „theologische Hochkonjunktur des Ordnungsbegriffs“ in dieser Zeit eine „Reaktion“ darauf, wie der Weimarer Staat als „Ordnungskrise“ wahrgenommen wurde. Neben den Ordnungstheologen des Neuluthertums ist in diesem Zusammenhang z. B. auch Karl Barth und dessen ethische Lehre von den Schöpfungsordnungen Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre zu nennen; vgl. den Exkurs in Kap. IV, 3.2.5. 46 So ist für Althaus der Sinn alles Ringens um Volk und Vaterland „zuletzt doch der eine, daß deutsches Volk einen neuen Lebenstag habe, um noch einmal wieder Christophorus, Christusdiener, Christuszeuge, Christusträger zu werden. Weil wir unser Volk lieben und an seine besondere Sendung glauben, ringen wir, daß Christus in seiner Seele aufs neue geboren werde“ (3121 Volk, 5). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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auf dieser Grundlage die in irgendeiner Weise religiös bewegten Interpreten der deutschen Geschichte in der extremen Krise des deutschen Identitätsbewusstseins nach 1918 nationale und religiöse Krise und nationale und religiöse Erneuerungshoffnung gleichsetzten – es scheint dagegen nur ganz vereinzelt intellektuelle und mentalitäre Schranken gegeben zu haben.“47
Ein weiterer Grund, warum man im Protestantismus das Volkstum für sich als Thema, als „Wirklichkeit“ und ethischen Bezugspunkt entdeckte, lag in der Sorge, den Anschluss an den Zeitgeist zu verpassen. Und dieser war national, die sogenannte „völkische Frage“ stand in ihrer ganzen Diffusität quer durch alle Bevölkerungsschichten ganz oben auf der Tagesordnung. So wie die Folgen von Niederlage und Versailles tagtäglich präsent waren, war vielen Deutschen auch die „völkische Frage“ als eine der Zukunftsfragen schlechthin präsent und virulent. Evangelische Kirche und Theologie betraf diese „völkische Frage“ dabei sowohl unmittelbar, z. B. im Blick auf die evangelischen Auslandsdeutschen oder auf die deutsche Heidenmission, als auch mittelbar, weil man sich davon betroffen fühlte. Erklären lässt sich das mit dem Selbstverständnis der Kirche, die – volks missionarisch und diakonisch motiviert – für das Volk da sein wollte. War man vor 1918 im Rahmen des landesherrlichen Kirchenregiments als Staatskirche gemeinsam mit der Obrigkeit per se Gegenüber des Volkes gewesen, musste nun im religiös neutralen Staat die eigene Rolle als Gegenüber des Volkes erst gefunden werden. Nachdem wie bei der Mehrheit der Deutschen so auch bei der Kirche der parlamentarisch-demokratische Staat nicht als das geeignete Gegenüber des deutschen Volkes galt, fühlte man sich als Kirche umso mehr in der Verantwortung für das Volk und sein Schicksal. Wenn man als volksmissionarisch-diakonisch denkende und handelnde Kirche nicht den Anschluss verpassen wollte, wenn man nicht an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei die christliche Botschaft verkündigen wollte, musste man sich auch als Kirche und Theologie mit der „völkischen Frage“ beschäftigen. Das Versagen der Kirche in der „sozialen Frage“ des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in dessen Folge breite Massen der Arbeiterschaft der Kirche den Rücken kehrten, wurde als Menetekel verstanden48. Diese Orientierung am herrschenden, nationalen Zeitgeist erklärt Frank-Michael Kuhlemann aus einer „spezifischen Disposition ‚des Protestantischen‘“, dessen Mentalität beinhalte, „daß die Protestanten in viel höherem Maße als die Katholiken etwa bereit waren, sich auf die neuen, gesellschaftlich und kulturell prägenden Kräfte einzulassen. Sie spielte, so 47 Hardtwig, Religion, 148. 48 Vgl. Bormuth, Kirchentage, 198. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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zial- und religionsgeschichtlich gewendet, insbesondere […] im Prozeß der Säkularisierung eine entscheidende Rolle.“49
Die fortschreitende Säkularisierung, die von den meisten Theologen und Kirchenmännern als Krise von Religion und Kirche verstanden wurde, führte diese auf der Suche nach neuen Vermittlungsmöglichkeiten der christlichen Religion an die nationalen Ideen heran. Volk und Vaterland wurden für den Protestantismus attraktiv, das Nationale wurde als natürlicher Bundesgenosse der Religion gesehen. „Durch das Aufkommen neuer säkularer Deutungsangebote (Aufklärung, Liberalismus, Atheismus, Sozialismus mit ihren zum Teil kirchenkritischen Tendenzen) wurden die Kirchen […] immer stärker in die Defensive gedrängt.“ In dieser Situation sahen sich nach Frank-Michael Kuhlmann die kirchlichen Eliten gezwungen, „neben der potentiell an Einfluß verlierenden Kirche nach neuen kulturellen Vermittlungsinstanzen, sozialen Trägern oder auch ‚festen Burgen‘ des Religiösen in der modernen Gesellschaft Ausschau zu halten.“ Dabei kam es zu einer „Anbindung an neue, die geschichtliche Dynamik in besonderer Weise prägende Ordnungsbegriffe wie den ‚Staat‘, die ‚Nation‘, das ‚Volk‘ und das ‚Vaterland‘.“50 Dass Volk und Vaterland bereits während des Krieges die Funktion einer Vermittlungsinstanz des Religiösen innehatten, insofern sie als Anknüpfungspunkte für die Evangeliumsverkündigung dienen konnten, haben wir bei Althaus bereits gesehen. Als nach dem Ende der Monarchie der religionsneutrale liberale Staat als Vermittlungsinstanz ausfiel, ging die ihm zugeschriebene religionssoziologische Funktion vollends auf das Volkstum über. Mit dem Zusammenbruch des Staatskirchentums 1918 und dem damit verbundenen Verlust ihrer privilegierten Stellung in der deutschen Öffentlichkeit mussten sich die Kirchen nun mit den neuen Verhältnissen in einer pluralistischen Gesellschaft wie die der Weimarer Republik arrangieren und sich am immer unübersichtlicher werdenden Weltanschauungsmarkt behaupten. Zu reagieren hatten die Kirchen dabei besonders auf neue säkularreligiöse Vorstellungen und Bewegungen, die sich im rechten, nationalen und nationalistischen politischen Spektrum herausbildeten. Diese waren ihrerseits Reaktionen auf die Krise der Nachkriegszeit, die nach Antworten auf die drängenden Fragen nach einem Lebenssinn angesichts der Katastrophe von 1918 drängte. Der Rückgriff auf nationale und nationalistische Erklärungsmuster fiel diesen neuen Weltanschauungen umso leichter, als sich diese in der „Volksgemeinschaft“ während des Krieges scheinbar bewährt hatten. „Mit dem Bedeutungs 49 Kuhlemann, Pastorennationalismus, 552 f. 50 Ebd., 551 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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verlust traditioneller Religionen und ihrer Kirchen“, so Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche, „schwindet […] nicht die religiöse Aufladung nationaler Ideen, denn gerade die neuen säkularreligiösen Vorstellungen und Bewegungen zeigten sich offen für eine Symbiose mit dem Leitbild Nation.“51 Weil es während des Krieges aber gerade die Kirchen waren, die zu einer Nationalisierung des öffentlichen Lebens beigetragen hatten, mussten sich diese nun nach 1918 im „Weltanschauungskampf“ mit den Geistern auseinandersetzen, die man in den vier Jahren zuvor im Namen von Gott und Vaterland gerufen hatte. Davon blieb der Protestantismus selbst nicht unbeeinflusst: „Diese Konkurrenz, die den traditionellen Religionen durch die neuen säkularreligiösen Sinnstiftungsangebote erwuchs, mag zur Nationalisierung der Kirchen und der Theologien beigetragen haben.“52 Einen damit zusammenhängenden Aspekt des sich verstärkenden Volkstumsdenkens in der Kirche betrifft die Kategorie der „Volkskirche“. Mit dem Ende der Staatskirche im November 1918 mussten evangelische Theologie und Kirche ihren Platz in der deutschen Gesellschaft neu bestimmen. Um die aus der Kaiserzeit überkommene herausgehobene Stellung der evangelischen Kirche in die neue Zeit herüberretten zu können, verwendete man ein Hilfskonstrukt, um durch die Hintertür ans alte Staatskirchenwesen anzuknüpfen: Die Kirche verstand sich fortan in verstärktem Maße als Volkskirche. Der Begriff ist schillernd und bezieht sich neben der in der christlich-sozialen Tradition des 19. Jahrhunderts stehenden volksmissionarischen, diakonischen, sozialen und pädagogischen Arbeit am Volk gerade auf den nationalen Charakter von evangelischer Kirche. Gerade mit dem zweiten Aspekt erhoffte man sich auf evangelischer Seite, dem Protestantismus auch im religiös neutralen Gemeinwesen der Weimarer Republik staatstragende Relevanz zu verschaffen. Indem man auf protestantischer Seite, dem Zeitgeist folgend, den Staat mehr und mehr als Volksstaat betrachtete, bildete das Volk somit den entscheidenden Anknüpfungspunkt von Staat und Kirche. Mit der Ablösung der Staatskirche durch die Volkskirche ergab sich für die evangelische Kirche ein Aktivitätsschub. Denn war im System der Staatkirche die Verbundenheit von Staat und Kirche eine – gleichsam „geschenkte“ – Selbstverständlichkeit, musste sich die Kirche demgegenüber die Verbundenheit von Volk und Kirche erarbeiten. Und das musste sie in der erwähnten Doppelheit tun: zum einen bedurfte es diakonischer und volksmissionarischer Anstrengungen, um das Kirchenvolk zu erreichen; zum anderen musste die Relevanz der Kirche für das deutsche Volk im-
51 Haupt/Langewiesche, Nation, 16. 52 Ebd., 17. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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mer wieder aufs Neue erwiesen werden. Volkstumsdenken und Kirchlichkeit stützten sich somit in der Zeit der Weimarer Republik gegenseitig. Aus alledem lässt sich unschwer ablesen, warum ausgerechnet das „Volkstum“ zum großen Schwerpunktthema von Theologie und Kirche in den 20er und 30er Jahren werden konnte. Dieses Thema aber wird in dieser Zeit besonders von dem Erlanger Theologen Althaus besetzt. 3.2 Volkstum und Vaterland als ethische Bezugspunkte bei Paul Althaus – Die Dialektik der Althausschen Volkstumstheologie „Althaus hat – lange vor anderen – für die Wirklichkeit des Volkes in der theologischen Ethik und Staatslehre Bahn gemacht, auch in bewußter Ergänzung des reformatorischen Ansatzes, er hat – trotz allem Protest der Dialektiker – ein starkes und warmes Ja zu Volk und Staat als göttlicher Schöpfung gesprochen, und hat doch gleichzeitig dem Einbruch der ‚natürlichen Theologie‘ in den Raum der Lehre von Welt und Mensch überzeugender Widerstand geleistet als alle Theologen der reinen Diastase“53.
Dieses zeitgenössische Urteil über Althaus stammt von seinem Leipziger Kollegen Martin Doerne, ausgesprochen als „Dank an Paul Althaus“ zu dessen 50. Geburtstag am 4. Februar 1938. Die Dialektik und Ambivalenz der Althausschen Volkstumstheologie war den Zeitgenossen zugänglicher als uns heute; mit ihr wollen wir uns nun befassen. 3.2.1 Das Volk in der Althausschen Theologie seit dem Weltkrieg – ein Überblick „Lange vor anderen“ war für Althaus das Volkstum eine Wirklichkeit, der sich eine evangelische Ethik zu widmen hatte. So hatte Althaus, für den Volk und Vaterland infolge seiner nationalprotestantischen Prägung in Familie, Schule und Studium ohnehin hohe Werte darstellten, in seiner Zeit als Militärpfarrer im Weltkrieg in der doppelten Diaspora der evangelischen Deutschen in Polen das Thema „Volkstum“ für sich und seine Theologie entdeckt. 25 Jahre später schreibt er zurückblickend: „Wir im staatlichen Denken großgewordenen Reichsdeutschen haben am Auslandsdeutschtum die geschichtliche Wirklichkeit und das Lebensgesetz von Volk 53 Doerne, Dank, 35. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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und Volkstum überhaupt erst richtig entdeckt. Die Entdeckung der Deutschen im ehem[aligen] Mittelpolen war […] zugleich die Entdeckung des deutschen Volkes in seiner geschichtlichen Wirklichkeit überhaupt und der Verantwortung, die wir alle um des Volkstumes willen tragen.“54
Was aber ist das Positive, das Althaus am Volkstum entdeckt und das ihn in der Folgezeit so vorbehaltlos positiv vom Volk reden lässt? Zum einen erlebt er an den Deutschen in Polen, die ihr Deutschsein mehr oder minder bewusst leben, einen verstärkten Zug zur Frömmigkeit und Kirchlichkeit. Deutsches Volkstum und lutherischer Glaube stärken sich in seiner Wahrnehmung der Lage gegenseitig. Zum anderen erlebt er die deutsche Minderheit in Polen während des Krieges als Solidargemeinschaft in Notzeiten55. In seiner Vorstellung setzt das Ergriffensein von der Wirklichkeit des Volkes – um in seinen Worten zu sprechen – ein sittliches Potential frei, gegenseitige Verantwortung, Fürsorge und Nächstenliebe werden gelebt. Neben dieser Entdeckung des Deutschtums anhand der Erfahrungen mit der deutschen Minderheit in Polen gibt Althaus noch eine weitere Quelle für sein Volkstumsdenken an: das als solches von ihm wahrgenommene „Vaterlandserlebnis des August 1914“. So schreibt er 1919: „Seit dem August 1914 wissen wir, was ein Volk ist und daß wir zu einem Volk gehören.“56 Die Althaussche „Entdeckung des Volkstums“ ist aber nicht nur eine Folge seiner Erfahrungen in Polen, sie ist zugleich eine Konsequenz seines eigenen, sich in Form seiner zeitgemäßen Kriegstheologie niederschlagenden, Gottesbildes. Der Althaussche „Gott der feldgrauen Männer“, den Liebenberg herausgearbeitet hat, dieser allmächtige Schlachtenlenker und richtende Herr der Geschichte, mit dem sich der junge Feldgeistliche einreiht in die typischen protestantischen Kriegsprediger des Ersten Weltkriegs, trägt starke alttestament liche Züge. Entsprechend diesem alttestamentlichen, theozentrischen Gottesbegriff gewinnt bei Althaus auch die Vorstellung von „seinem Volk“ eine große Bedeutung, woraus die allgemeine Zuordnung von Gott und Volkstum erwächst57. Als Althaus nach 1918 über seinen kriegsbedingt theozentrisch zugespitzten Gottesbegriff hinausgeht und wieder die Weite eines trinitarischen und damit eher evangeliumsgemäßen Gottesbildes in den Blick bekommt, bleibt die ihm so wichtig gewordene Einheit von Gott und Volk bestehen.
54 4201 Entdeckung, 196. 55 Vgl. 1903 Abschied, 167, wo Althaus rückblickend auf die Gründung von Genossenschaften und Raiffeisenkassen zu sprechen kommt. 56 1904 Erlebnis, 3. 57 Vgl. Scholder, Geschichte, 90. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Während des Krieges ist das Volk für Althaus zu einer herausragenden theologisch-ethischen Kategorie geworden, die er in der Folgezeit unter dem Eindruck der deutschen Not infolge von Niederlage und Versailles weiter ausbaut. Wenn er in geschichtstheologischem Kontext offensichtlich ganz selbstverständlich von Volk und Vaterland als individual- und sozialethischen Bezugspunkten spricht, dann drückt sich in dieser Selbstverständlichkeit aus, wie weit die sowohl theologisch, als auch politisch ausgerichtete normative Zentrierung der protestantischen Theologie auf das Volkstum in den 20er Jahren vorangeschritten ist. So klärt Althaus in einem Vortrag von 1923 seine Zuhörer folgendermaßen über seine Sichtweise der Geschichte auf: „Das heißt Geschichte: daß Gott uns Eltern gegeben hat, daß er Eltern und Kinder zusammenführt, und daß Gott uns ein Vaterland gegeben hat und unser Leben mit dem des Volkes und Vaterlandes verbunden hat. […] Wir sind […] hineingeboren in ein Vaterland, und wie oft wird unser Leben dadurch hinausgehoben über die kleine Enge, daß wir in Begeisterung und Mitleiden hineingezogen sind in das Schicksal unseres Volkes. Die den August 1914 erlebt haben, wissen, was er ihnen bedeutet hat. […] Ja, wie reich macht Gott unser Leben dadurch, daß er uns in eine Volksgeschichte gestellt hat.“58
Ein Jahr später macht Althaus klar, dass für ihn die „großen Gemeinschaften“ – und dazu zählen gerade auch die Völker – den Charakter von göttlicher Gabe und Aufgabe haben: „In dem Nebeneinander der Menschen geht uns die Erkenntnis des Willens Gottes als Dienst und Wille zur Gemeinschaft auf. […] Daß unser Leben sein Dasein und seinen Gehalt von den großen Gemeinschaften, die uns tragen, nimmt, beruft uns zur Hingabe, zur Treue, zum Opfer.“59
Auf diese Weise hat die von Althaus immer wieder betonte Zweiheit von Gabe und Aufgabe ethische Konsequenzen für den Einzelnen ebenso wie für das ganze Volk, weil Gott zur Tat ruft. So legt Althaus Gott die Aufforderung in den Mund: „‚Jetzt, du deutsches Volk, sollst du handeln, jetzt sollst du die schwere Stunde füllen mit deiner Tat‘, und wenn es zuerst nur das würdige, tiefe Leiden wäre und das stille, gesammelte Harren und Sichbereiten auf den Tag da er zu neuer Tat ruft.“60
58 2303 Gott, 7. 59 2405 Geschichte, 749. 60 2303 Gott, 9. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Der beschwörende Charakter solcher Worte, die den Deutschen nahelegen, „an unserm Volksschicksal“ mitzubauen61, wird verständlich angesichts des historischen Kontexts der damaligen Ruhrbesetzung durch Franzosen und Belgier, die als überhart und als demütigendes Unrecht empfunden wurde. So bringt Althaus auch die Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich als vorbildhaftes Beispiel der deutschen Geschichte: „Der lebendige Gott, der nach 1807 aus dem ausgemergelten Volke die Schar derer berufen hat, die die Befreiungskriege geführt haben, kann auch in unserer Zeit Quellen steigen lassen und harte, steinerne Herzen lebendig machen.“62 Dass bei Althaus Völker und Volksgeschichte nicht das letzte Wort haben, zeigt sich an seinem Bemühen, den Blick auf das Ganze der Menschheit zu lenken, weil „Gott mit jedem Menschen und mit der ganzen Menschheit“ eine Geschichte hat63. Diese ist für ihn „die innerste, wichtigste Geschichte“64. Wer diesen Glauben habe, der könne als Deutscher auch angesichts der aktuellen widrigen Umstände den Mut nicht verlieren, im Gegenteil, „was für eine große und getroste Zuversicht gewinnt der auch für die Geschichte unseres Volkes!“65 Die Grenzen von theologischer Glaubensaussage und politischer Hoffnungsbekundung verschwimmen an dieser Stelle bei Althaus angesichts der existentiellen politischen Krise Deutschlands bis zur Unkenntlichkeit, wenn er sagt: „Ach laßt uns doch auch für unser Volk an Gottes heiligen Geist glauben. […] Laßt uns glauben für unser Volk! […] [Gott] stellt uns an unseren Posten, läßt uns hier und da ein wenig tun und ein wenig sein, doch sein ist die Frucht und der Ertrag. Eins aber laßt uns gerade heute nicht vergessen: sein größtes Wort ist sein ‚Dennoch‘. Wir brauchen nichts so sehr in unserer Zeit als Jugend und Männer und Frauen, die ein ‚Dennoch‘ auf der Stirn tragen. […] Ostern ist das ‚Dennoch‘ seiner Gnade wider die Sünde, seines Lebens wider unseren Tod. Sollte er nicht über alle die Wirrnis und Dunkelheit der Erde einmal sein heiliges ‚Dennoch‘ sprechen?“66 61 Ebd. Der gleiche Gedanken kehrt bei Althaus 1924 wieder, wo für ihn feststeht, Gott will, „daß wir das neue Deutschland bauen“ (2403 Gott, 13 f.). 62 2303 Gott, 9; vgl. ebd., 7, wo er schreibt: „Der Herr der Geschichte beruft Männer wie Luther, Freiherr vom Stein, Fichte, E. M. Arndt. Das ist Reichtum für ein Volk auf Jahrhunderte hinaus, dadurch segnet Gott unser aller Leben.“ Die Namen der historischen Vorbilder gerade aus der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon sind angesichts der Ruhrbesetzung mit Bedacht gewählt. An diesen Beispielen lässt sich ablesen, wie wichtig die jeweilige Tagespolitik gerade auf Althaus’ Geschichtstheologie wirkt, weil er sich als Theologe gerade auch als Kommentator und Interpret der Zeit versteht. 63 Ebd., 13. 64 Ebd., 11. 65 Ebd., 13. 66 Ebd., 14. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Bei aller geschichtstheologischer Überhöhung und Sakralisierung des Volkstums gehört es wieder einmal zur Althausschen Ambivalenz, dass er auch diesbezüglich ein begrenzendes, ja gegenteiliges Wort sprechen kann. So findet sich in seiner Auseinandersetzung mit der Position einer endgeschichtlichen Eschatologie 1924 folgender Einwand gegen die Behauptung des fortschreitenden Kommens des Gottesreichs in der Geschichte im Hinblick auf die Fortschritte der christlichen Mission: „Im übrigen spricht es gegen den von uns befehdeten Gedankengang, daß er völlig in den Völkern denkt. Das mag unter geschichtlichen Gesichtspunkten gutes Recht haben, aber niemals unter theologischen, also auch nicht für die Eschatologie. Der, geschichtlich angesehen so überaus wichtige, Zusammenhang der Jetzt-Lebenden miteinander wie der Geschlechterfolge untereinander als ‚Volk‘ wird hier bedeutend überschätzt. Sub specie aeternitatis liegt es doch an der Evangelisierung aller Einzelnen. Das Denken in Völkern geht darüber hinweg, es sieht auf die Begründung einer Volkskirche, auf die Entstehung einer lebendigen kirchlichen Tradition in dem Volke.“67
Theologisch problematisiert Althaus hier eine Überhöhung des Volksgedankens in übergeschichtlicher Hinsicht, wenn er auch gleichzeitig den geschichtlichen und damit politischen Wert des Volkes betont. Diese Ambivalenz in der Althausschen Bewertung des Volkes steht in engem Zusammenhang mit seiner Vorstellung von „relativer Eigengesetzlichkeit“ im Rahmen seiner Theonomiekonzeption. Entsprechend dem gewichtigen Ort, den Althaus dem Volk innerhalb der Geschichte beimisst, lautet in einem Vortrag „Vom Sinn der Theologie“ vor dem Erlanger Universitätsbund 1926 seine Forderung an die Geschichtsforschung: 67 2409 Heilsgeschichte, 633. Noch in seiner Eschatologie von 1922 hat Althaus demgegenüber im Kontext der Frage nach einer neuen Leiblichkeit im Eschaton die Auffassung vertreten, „daß um der sittlichen Bedeutung des Individuellen willen ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der irdischen und der himmlischen ‚Gestalt‘ bestehen muß“ (2201 Dinge, 142), und daraus die Folgerung gezogen: „Auch die Völker haben Individualität. Auch für sie muß das Reich Gottes die bewahrende Vollendung sein. Die Besonderung der Menschheit in Völker muß eine Entsprechung in der Ewigkeit haben. Leugnet man das, so wird die persönliche Fortdauer überhaupt hinfällig.“ (ebd., Anm. 1). Auch wenn Althaus diese Auffassung nur am Rande in einer Fußnote mitteilt, so zeigt sie doch, wie sehr der im 19. Jahrhundert u. a. von Herder und Jahn entwickelte Gedanke der Volksindividualität bei Althaus fortwirkt; vgl. Mann, Ordnungen, 32. Entsprechend seiner zunehmenden Betonung des Menschheitsgedankens gegen Ende der 20er Jahre schwächt Althaus diese Aussage ab der 4. Auflage 1933 ab: „Die Vollendung der Gemeinschaft mit Gott ist zugleich […] Vollendung der Gemeinschaft innerhalb der Menschheit, vollkommene communio sanctorum, Vollendung der Kirche als Gemeinde. Jenseits unserer Welt der Sünde und des Todes hat zwar nicht die Besonderung, aber die Zerspaltung der Menschheit und der Kirche ein Ende. […] Die Mannigfaltigkeit bedeutet nicht mehr Zerrissenheit und Bruchstückhaftigkeit, sondern lebendig aus der Einheit Christi und zu ihr sich gliedernde Fülle.“ (3307 Dinge, 308). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Wie könnte eine Geschichtsschreibung jemals ihren nationalen Charakter (man wird ihn hoffentlich vom ‚Nationalismus‘ noch unterscheiden können!) verleugnen wollen, ohne ihr Bestes, ihre Lebendigkeit preiszugeben? Wir Deutsche können die Geschichte der letzten Jahrhunderte sehen und verstehen nur von einem bestimmten Bekenntnis zu der Sendung unseres Volkes aus, auf Grund einer konkreten Überzeugung vom deutschen Wesen.“68
Wie wichtig für ihn die Abgrenzung von völkischen Absolutheitsansprüchen ist, denen er die Absolutheit des Evangeliums entgegensetzt, verdeutlicht er an einem Beispiel: „Die deutsche nationale Geschichtsschreibung läßt die englische neben sich gelten. Es entsteht hier die Toleranz des Relativismus. Die Entscheidung, aus der heraus man denkt, ist Schicksalsgebundenheit, Lebensverbundenheit hier wie dort. […] Die Standpunkte schließen sich nur subjektiv, im Subjekte, nicht objektiv, in ihrer Gültigkeit aus.“69
Angesichts einer erstarkenden völkischen Bewegung sah sich Althaus genötigt, eine solche Abgrenzung vom Nationalismus vorzunehmen. Die Überzeugung von der Theonomie der Welt bildet die Basis der Althausschen Geschichtstheologie. Gott als „Herr der Geschichte“ begegnet innerhalb der Geschichte, zunächst in seinem Indikativ der gnädig-schöpferischen Gabe, sodann aber in seinem Imperativ der fordernden Aufgabe, die die Menschen zu Verantwortung und Dienst in Liebe beruft. Eine herausragende Rolle spielt bei Althaus und seiner theonom verstandenen Gabe-Aufgabe-Relation die Institution „Volk“, die dadurch einen göttlichen Bezug erhält. Die „eine Menschheit Gottes“ identifiziert Althaus zwar als das teleologischeschatologische Endziel, er macht aber nichtsdestoweniger die einzelnen Völker zu axiologisch-eschatologischen Zwischenzielen des Willens Gottes auf dem geschichtlichen Weg zu seinem Reich. Sie sind für ihn die religiös aufgeladenen Objekte der im Hinblick auf das Reich Gottes zu bewährenden menschlichen Sittlichkeit. Nur in ihnen, d. h. nur innerhalb der volklichen Grenzen kann sich Althaus den ganz konkreten Dienst der Liebe, Verantwortung und Selbstvergessenheit vorstellen70. Dass sich die „eine Menschheit“ bei Althaus nicht in eine rein teleologischeschatologische und damit geistige Größe verflüchtigt, wird an seinem ökume 68 2610 Sinn, 24. 69 Ebd., 28. 70 Neben der „Beziehung auf den Nächsten“, dem „Geschlechtsverhältnis“ oder der Familie gehört für Althaus der „Volksverband“ zum „Apriori alles Lebens“. „Diese das Leben bedingenden Gebundenheiten können nun als unbedingte Bindungen, in ihrer ‚Heiligkeit‘ erfaßt werden“ (3108 Ethik, 28). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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nischen Engagement deutlich. Dies jedoch ändert nichts an der Tatsache, dass für ihn und seine Theologie die im Weltkrieg entdeckten Größen Volk und Vaterland in der Nachkriegszeit ganz selbstverständliche individual- und sozialethische Bezugspunkte sind, die nicht nur geschichtsphilosophisch und -theologisch, sondern nun auch ordnungstheologisch fundiert werden. Wie die anderen von ihm identifizierten Ordnungen Familie, Staat, Recht, Geschlechtlichkeit ist auch das Volk Gottes Gabe und vor Gott zu verantwortende Aufgabe. Dies wird besonders in seiner politischen Ethik im engeren Sinne deutlich, wenn er dem – für ihn freilich nur als frommen Christen vorstellbaren – Staatsmann ins Heft schreibt, vor Gott unbedingt für sein Volk verantwortlich zu sein und gleichsam die Antennen seines Gewissens allein auf Gott und Volk auszurichten. Damit das aber gelingen kann, ist nach Althaus eine Kirche vonnöten, die ihren Öffentlichkeitsauftrag zur fortwährenden Erinnerung an die Theonomie der Welt und ihrer Ordnungen wahrnimmt und damit auf die Politik einwirkt, indem sie eine christliche Gesinnung schafft. Denn Staat und Kirche sind beide Hilfsmittel und Wegbereiter des Reiches Gottes. Die einzelnen Menschen aber sollen sich in Form ihrer Zugehörigkeit zum Kollektiv „Volk“ aufs Gottesreich hin ansprechen und erziehen lassen und sich innerhalb der göttlichen Ordnungen sittlich bewähren. So wird in Althaus’ Ekklesiologie das Volk zum Gegenüber der Kirche, ebenso göttlich gestiftet wie sie selbst, und kirchliches Handeln soll in seiner Bezogenheit auf Gottes Reich insofern Dienst am Volk sein, als die Völker in ihrer die Menschheit bildenden Gesamtheit ihrerseits auf dieses göttliche Reich als Sinn und Ziel aller Geschichte bezogen sind. 3.2.2 Die Althaussche Wesensbestimmung von Volk und Vaterland Nach diesem kurzen Überblick über die zunehmende Zentralstellung des Volkes als ethischer Bezugspunkt auf den entscheidenden theologischen Feldern des Systematikers Althaus, soll nun die sich entwickelnde Wesensbestimmung von Volk und Vaterland im Rahmen seiner normativen Zentrierung auf die beiden Größen untersucht werden. Es verwundert kaum, dass die früheste Beschreibung dessen, was für Althaus Volkstum ausmacht, aus einem Aufsatz aus seiner Lodzer Zeit stammt, der sich 1915 an die deutsche evangelische Minderheit in Polen richtet: „Ein geheimes Band umschließt uns. Welches ist es? Nicht die alte deutsche Heimat: die Enkel der Ausgewanderten wissen von ihr kaum etwas Dunkles. Nicht schon das Blut, das gemeinsame deutsche Blut: Blutsbande sind wohl eng, aber sie halten nicht mehr fest, wenn das Herz nicht mehr den gleichen Schlag, der Mund nicht mehr die gleichen Laute, die Erinnerung nicht mehr die gleiche Geschichte hat. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Nicht der gemeinsame Boden, nicht das gleiche Blut schon kettet Menschen zum Volke, sondern erst die gemeinsame Geschichte der Blutsbrüder. […] Weil ihr hier in Polen noch unseren Martin Luther habt, seine Bibel und sein Lied, seinen Glauben, seine Gottesdienstordnung und seinen Katechismus, darum vor allem sind wir Brüder.“71
Gleich in seinem zweiten Artikel, in dem sich der junge Militärpfarrer an die deutsche Bevölkerung von Lodz und Umgebung wendet, kommt Althaus also auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen, die ihn selbst mit jenen verbindet und die für ihn Volkstum ausmachen. Dabei fällt auf, wie sich Althaus einer Blutund-Boden-Phrase enthält, ja vielmehr gemeinsamen Siedlungsraum und gemeinsame Abstammung – er gebraucht dafür den damals dafür häufig verwendeten Begriff „Blut“72 – nicht für hinreichende Faktoren für eine Definition von Volkstum hält. Mit völkisch-rassistischen Vorstellungen hat Althaus wenig gemein. So sind die von ihm hier genannten Volkstumsfaktoren die gemeinsame Abstammung („das gemeinsame deutsche Blut“), die gemeinsame Sprache („gleiche Laute“), die „gleiche Geschichte“, das gleiche Fühlen und Streben (der „gleiche Schlag“ der Herzen) und der gleiche Glaube. Nach dieser en passant formulierten Wesensbestimmung von Volkstum beschäftigt sich Althaus erst Ende der 20er Jahre ausführlich und systematisch mit dem Volk. Ihren Niederschlag findet diese Beschäftigung in seinem Vortrag „Kirche und Volkstum“ von 1927 und in seinen „Leitsätzen zur Ethik“ von 1928. Im ersten Fall als allgemein gehaltene, im zweiten als bewusst theolo gische Grundlegung seiner Anschauung vom Volkstum. Volk ist für ihn „die über Familie, Sippe, Stamm hinausgreifende, durch körperliche und geistige Fortzeugung über die Jahrhunderte reichende Lebenseinheit von Menschen gemeinsamer seelischer Art. Dieses besondere Seelentum heißt Volkstum. Es offenbart sich in der Sprache und in dem gesamten Kulturschaffen eines Volkes.“73
Die lebendige Kraft, die das überindividuelle Gebilde des Volkes zusammenhält, wird uns als Liebe bewußt“, fügt Althaus 1931 an dieser Stelle im „Grundriß der Ethik“ ein74. „Bei dem Entstehen eines Volkes vereinigen sich natürliche und geschichtliche Momente in sehr verschiedenem Verhältnis zueinander. Gewiß ist in der Regel z. B. die
71 1511 Deutschtum, 22. 72 Vgl. zeitgenössisch Rosenzweig, Stern, 429, der die „Selbsterhaltung“ des Judentums „im Abschluß des reinen Quells des Bluts vor fremder Beimischung“ findet. 73 2806 Leitsätze, 53; vgl. 3208 Gott, 723. 74 3108 Ethik, 94. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Blutseinheit Voraussetzung für das Werden eines Volkes. Einmal gezeugt kann aber das Volkstum als geistige Wirklichkeit fortzeugen auch in fremden Blute.“75
Über die Entstehung von Völkern macht Althaus mit dem Hinweis auf „natürliche und geschichtliche Momente“ nur sehr vage Andeutungen. Auf der einen Seite kann er von „Ur-Zeugung“ sprechen76, auf der anderen betont er den geschichtlichen Aspekt des Volkstums: „Volkstum wird erst in der Geschichte. Das deutsche Wesen ist durch das Evangelium wesentlich mitgeprägt.“77 Damit ist zugleich die wesentliche Charakterisierung des deutschen Volkes bei Althaus angesprochen: das deutsche Volk ist für ihn wesentlich christliches Volk. Diese Bestimmtheit, die Althaus’ Definition der deutschen „Volkssendung“ zugrunde liegt, kommt in seinen Augen am deutlichsten im Luthertum zur Geltung. So schreibt er 1933 über den Gottesbezug des deutschen Volkes, der für ihn zugleich dessen Wesen ausmacht, in Form einer Gottesrede: „‚Ich bin der Herr dein Gott‘ […], der dich geheimnisvoll zum Volke rief in der Vorzeit, der dich reich begabte, der dir die Boten des Evangeliums sandte und seine Kirche in die baute; der deinen Weg schwer und mühsam machte; der in dir Martin Luther erweckte und seinem Glauben sich gewaltig bezeugte; der dich aus der Selbstentfremdung zurückrief durch Propheten und Helden; auf den deine Väter es wagten in dem Freiheitskriege; der dir Freiheit von deinen Feinden schenkte; der dir das Haus des Reiches errichtete, der dich oft tief gedemütigt und dann wieder wunderbar erhöht hat; der dir Verantwortung und Dienst gab weit über deine Grenzen hinaus – ich bin der Herr, dein Gott!“78
Dass Althaus seine Vorstellung eines von ihm nur als christliches Volk denk bares deutschen Volkes gerade in der Zeit des „Dritten Reiches“ mit seiner starken Entkirchlichungs- und Entchristlichungspolitik besonders stark formulierte, kann kaum verwundern79. Auch im Verhältnis zum Staat kann Althaus sagen: „Nicht immer ist das ‚Volk‘ ‚früher‘ als der Staat, sondern oft auch umgekehrt der Staat ‚früher‘ als das Volk, d. h. ein ‚Volk‘ wird erst durch den Staat und die staatliche Ge schichte.“80 Indem Althaus für die Entstehung von Völkern nicht nur natürliche, sondern auch geschichtliche „Momente“ annimmt, nimmt er entsprechend 75 2806 Leitsätze, 53. Den gleichen Gedanken vertritt er auch in 2704 Volkstum, 114; und 3208 Gott, 723. 76 Zur „Ur-Zeugung“ von Völkern vgl. 3307 Dinge, 270; und 3208 Gott, 723, wo er diese als „unableitbar, irrational, schlechthin tatsächlich, schicksalhaft“ beschreibt. 77 2704 Volkstum, 121; vgl. 3206 Evangelium, 42. 78 3314 Volks-Geschichte, 20. 79 Vgl. 3703 Völker; oder 3708 Kirche, 23 f. 80 2806 Leitsätze, 61. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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seinem primär geistig-idealistischen Volkstumsbegriff gegenüber dem bloßen Naturalismus und Biologismus der Völkischen eine andere Haltung ein. Das Geistige behält bei ihm stets die Oberhand gegenüber dem „Natürlichen“. Dies ist bei Althaus Voraussetzung dafür, dass einzelne Menschen die Volkstumsgrenzen überschreiten können81. Wie schon 1915 ist für Althaus auch hier die gemeinsame Abstammung („Blutseinheit“) kein hinreichender Faktor für die Definition von Volkstum, wenn sie ihm auch zu den Voraussetzungen gehört82. Wichtiger aber ist ihm auch hier die „geistige Wirklichkeit“ des Volkes, zu der für ihn das gemeinsame „besondere Seelentum“, die gleiche Sprache und die gemeinsame Kultur gehört83. Die „geistige Eigenart eines Volkes“ schlägt sich für ihn „in seinem Dichten und Denken, Bilden und Bauen, Singen und Sagen, Mythen und Märchen, in Sitte und Brauch, Recht und Verfassung“ nieder84. An dieser Definition von 1927 wird auch Althaus’ Gemeinsamkeitsglaube in Bezug auf das Volk deutlich: „Volkstum nennen wir das besondere […] Seelentum, das in aller einzelnen Volksgenossen Fühlen, Werten, Wollen, Denken als das Gemeinsame erscheint; den Mutterschoß arteigenen geistig-seelischen Wesens; eine übergreifende Wirklichkeit, ursprünglich für uns alle mit unserem Leben gegeben, vor unserem Entscheiden und Wollen.“85
So sehr hier auch der Konstruktcharakter seiner romantischen Wesensbestimmung von Volkstum deutlich wird, so sehr besteht Althaus darauf, die geistige Wirklichkeit des Volkstums überzuordnen. Einer naturalistischen Sichtweise, einer Blut-und-Boden-Ontologie erklärt er eine Abfuhr, wenn er weiter fortfährt: „Eine ursprüngliche Gegebenheit – und doch nicht einfach ein Stück Natur. Blutsgemeinschaft, Zusammenwohnen im Lande, Einheit der Lebensbedingungen, des staatlichen Schicksals – das alles kann von hoher Bedeutung für das Werden eines 81 So spricht auch Kurz, Denken, 501 bei Althaus von einem „rein geistige[n] Volkstums begriff, der ‚Blutmischung‘ ausdrücklich ermöglichte“. 82 So heißt es in 2704 Volkstum, 114: „Niemals freilich wird ein Volkstum ohne die Voraus setzung z. B. der Blutseinheit.“ 83 Vgl. seine Wesensbestimmung des Volkstums in 2910 Vaterland, 242: „Wir reden eine Muttersprache – und das ist wahrhaftig nichts ‚Äußerliches‘; das Erbe der Sprache bestimmt uns bis in die tiefste Seele hinein. Wir sind Menschen einer Art, einer Prägung. […] Eine reiche, ernst Geschichte, ein Erbe an Segen und Last bindet uns zusammen. Wir lieben unser Volk. Denn aus seinem Leben wuchs das unsere, leiblich und geistig. Wir lieben es, wie wir den Schoß der Mutter lieben. Wir lieben seine Art und Kunst“. 84 2704 Volkstum, 115. 85 Ebd., 114. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Volkstums, ja z. T. unentbehrlich für es sein; aber nichts von alledem braucht für sich allein oder auch mit den anderen Bedingungen zusammen Volkstum schon zu begründen. Volkstum ist eine geistige Wirklichkeit, durch geistige Urzeugung geheimnisvoll geboren“.86
In einer Zeit, in der die verschiedenen Völker weitgehend unter sich blieben und Ehen über die Volksgrenzen hinaus eine große Ausnahme bedeuteten, liegt bei ihm das Hauptaugenmerk auf der „geistigen Fortzeugung“, weniger auf der körperlichen: „Wie groß immer die Bedeutung des Blutes in der Geistes geschichte sein mag, das Herrschende ist doch, wenn einmal als Volkstum geboren, der Geist und nicht das Blut.“87 Mit seiner Feststellung, dass das Volkstum „als geistige Wirklichkeit […] auch in fremden Blute“ weiterleben kann, erteilt er dem damals bereits wirkmächtigen völkischen Biologismus und Rassismus eine klare Absage. Als illustrierendes Beispiel führt er das „Hineinwachsen des Juden in deutsche Art“ an88. Wichtiger ist Althaus die theologische Beurteilung der „völkische[n] Besonderung der Menschheit“, die er von seinem christlichen Standpunkt aus zunächst bejaht „als im göttlichen Schöpferwillen und Schöpferreichtum begründet“. Sogleich folgt diesem Ja das Althaussche Aber: „Aber der Christ weiß zugleich, daß die völkische Sonderung nicht nur den Reichtum der Geschichte, sondern auch Grenzen des Verstehens und Hemmung der Gemeinschaft bedeutet.“ Jedes Volk steht für ihn daher vor einer doppelten Aufgabe: „Es soll sich in der ihm anvertrauten Eigenart und besonderen Sendung erfassen und durch Abwehr aller Überfremdung treu behaupten; es muß alles daran setzen, den in seiner Anlage und Geschichte liegenden Schöpferwillen (die ‚Volkheit‘) zu erfüllen. Das bedeutet für alle seine Glieder Treue gegenüber der Volksart und der Volksgemeinschaft.“89 „Zugleich aber soll ein Volk um jene Gemeinschaft und Weite ringen, die von der Einheit der Menschheitsbestimmung zeugt.“90
Die Verfasstheit der Menschheit in verschiedene Völker hat für Althaus seinen Grund im Reichtum der göttlichen Schöpfung, sie ist für ihn somit eine 86 Ebd.; vgl. 3208 Gott, 723. 87 Ebd., 114 f. 88 2806 Leitsätze, 54. Zur Auseinandersetzung Althaus’ mit der sog. „jüdischen Frage“ vgl. Kap. IV, 5. 89 Ebd., 53. 90 Ebd., 54. Die beiden Aufgaben sieht Althaus dabei „keineswegs im Gegensatze zueinander; denn nur Eigene können echte Gemeinschaft miteinander halten, und nur im lebendigen Austausche bildet sich echte Eigenart“ (ebd.). Den Menschheitsaspekt verstärkt Althaus 1931 im „Grundriß der Ethik“ im Zusammenhang eines neu eingefügten Absatzes gegen den nationalistischen „Wert-Vergleiche der Völker“ nochmals: „Damit soll jedes Volk zeugen von der Einheit der Menschheit nach Schöpfung und Bestimmung“ (3108 Ethik, 95; Hervorhebung von Althaus). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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Schöpfungsordnung. Diese allerdings weist über sich hinaus auf das Ganze der Menschheit und auf deren Einheit, an der die Völker ebenso arbeiten sollen, wie an der Erhaltung des eigenen Volkes. Indem Althaus die Vielfalt der Völker aus dem göttlichen Schöpferreichtum erklärt, hypostasiert er sie im Rahmen seiner Geschichtstheologie zu metaphysischen Individualitäten. Die Vorstellung der Völker als „Gedanken Gottes“ bei Ranke bzw. als „Ebenbild Gottes“ bei Schleiermacher spielt hier eine große Rolle91. Diese Völkerindividualitäten stellen in Althaus’ Vorstellung organische Einheiten dar, Organismen, in denen die Menschen nur Teile des Ganzen sind. Einzelne sind für ihn daher „nur als Glied des Volkes“ vorstellbar92. Doch diese organologische Vorstellung von Volk und Einzelnem hat bei Althaus klare Grenzen, der Einzelne geht nicht im Volk auf – aus ethischen und theologischen Gründen. Zum einen ist für Althaus die Verantwortung des Einzelnen, zumal des Christen, zu wichtig. Zum anderen weiß Althaus, dass das Evangelium nicht zu einem Volk kommen kann, wenn es dabei nicht vom Einzelnen ergriffen wird. Was bei Althaus an verschiedenen Stellen seiner Ekklesiologie bereits anklang, soll an dieser Stelle noch einmal näher betrachtet werden: die auffällige wesensmäßige Parallelisierung von Kirche und Volkstum. Zunächst werden beide Größen von Althaus über den Gemeinschaftsbegriff definiert und bestimmt, wobei die Kirche dem Volk als Vorbild dienen soll. Beide sollen eine Liebesgemeinschaft bilden. Diese Gemeinschaft aber umfasst jeweils nicht nur die jetzt Lebenden, sondern ebenso die bereits gestorbenen und die noch kommenden Christen bzw. Volksgenossen. Kirche und Volk werden beide als ein Ganzes begriffen, das Zeiten und Generationen überdauert93. Wie im Glauben, so gilt es auch in der nationalen Politik, „das Erbe einer opferreichen Vergangenheit zu wahren und die Zukunft der kommenden Geschlechter zu bauen.“94 Bezogen sind beide Größen damit auf die Ewigkeit des Reiches Gottes, was beiden ihre Würde gibt, aber sie zugleich auch begrenzt. Werden Kirche und Volk als die Zeiten überdauernde Größen aufgefasst, so gilt für Alt 91 Zu Ranke vgl. Hardtwig, Hochkultur, 43–45; zu Schleiermacher vgl. Kurz, Denken, 31. 92 1904 Erlebnis, 7. Für ihn gilt: „Das Volk ist vor dem Einzelnen da, zeitlich und wesentlich.“ (ebd.). 93 In seiner Auslegung zu Röm 11,16 findet Althaus diesen Gedanken schon bei Paulus, der das von Gott erwählte jüdische Volk „in allen seinen Gliedern und Generationen als Ganzes nimmt“ (3211 Römer, 95). 94 2104 Sozialismus, 93. Zehn Jahre später sieht Althaus die Notwendigkeit, den Begriff des Erbes gegen einen einseitigen konservativen Positivismus abzugrenzen: „Ebenso ist kein geschicht liches Erbe […] eindeutig Gottes Gabe. Ob und wieweit ein Erbe uns zur Treue oder zur Umkehr ruft, […] dafür gibt erst der Wille Gottes in seiner heilsgeschichtlichen Offenbarung den Maßstab.“ (3108 Ethik, 29 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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haus: Sowohl Kirche als auch Volk sind vor dem Einzelnen da, einen einzelnen Christen oder einen einzelnen Deutschen, Franzosen oder Russen kann es nicht geben, das wäre eine „ganz wirklichkeitsfremde Abstraktion“95. Damit verankert Althaus den Einzelnen innerhalb seiner Volksgeschichte. Die individuelle Lebensgeschichte wird aufs engste verbunden mit der kollektiven Geschichte eines Volkes mit Gott, die die individuelle übersteigt. Völker sind damit für Althaus nicht einfach nur die Summe einzelner Menschen mit gleichen Lebensbedingungen, sondern transzendente und irrationale Größen. Als solche umfassen sie nicht nur die faktisch und jetzt lebenden, sondern als metaphysisch bestimmte Größe ebenso die bereits verstorbenen Volksangehörigen, deren christliches und nationales Erbe es zu wahren gilt, und die noch nicht geborenen, deren Zukunft es vorzubereiten gilt. Der Gedanke der Nachhaltigkeit war somit Althaus’ Volksbegriff immanent. Völker sind nach dieser holistischen Auffassung, der zufolge das Ganze die Summe seiner Bestandteile übersteigt und eine eigene Qualität besitzt, Kollektivindividuen, Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit96. Als solche treten sie in Beziehung zu Gott als ihrem Schöpfer und zu anderen Völkern als Mitgeschöpfe. Diese konsequente Schöpfungs ordnungstheologie bewahrt Althaus bei aller theologischen Überhöhung der Völker vor Absolutsetzungen. Zuletzt parallelisiert Althaus auch die Vaterlandsliebe mit christlicher Bruderliebe. Für ihn bedeutet das „Wesen der christlichen Bruderliebe“: „Sie ist nicht in den Vorzügen des Bruders begründet, sondern einfach darin, daß er Bruder ist, in der Tatsache der Verbundenheit mit ihm, der Bruderschaft als eines gegebenen Verhältnisses.“97 In gleicher Weise ist für ihn die wahre Vater landsliebe gekennzeichnet dadurch, dass sie nicht den Vergleich mit anderen Völkern sucht, sondern ihren Grund im Kleistschen Sinne darin hat, „weil es mein Vaterland ist“. Es lässt sich heute schwerlich entscheiden, ob bei Althaus die Ekklesiologie auf die Wesensbestimmung des Volkes gewirkt hat oder umgekehrt. Fakt ist jedenfalls, dass die beiden Größen bei Althaus ähnliche Wesensmerkmale aufweisen. Was Althaus in früheren Schriften mit dem gottgegebenen „Beruf“ eines Volkes bezeichnet hat, beschreibt er hier mit dem „in seiner Anlage und Geschichte liegenden Schöpferwillen“, was den Gottesbezug noch deutlicher werden lässt, 95 1904 Erlebnis, 7. Schon Hirsch, Schicksal, 82 f. hat die Idee der zeiten- und generationenübergreifenden Volksgemeinschaft. 96 Vgl. 3208 Gott, 723 f., wo er schreibt: „Das Volk ist in seinen Gliedern da. Aber es ist zugleich ‚vor‘ und ‚über‘ ihnen da. Denn es ist nicht die Summe, der Inbegriff von Einzelmenschen gleicher Lebensbedingungen, gleicher Heimat und Art – sondern es ist Mutterschoß, tragender Zusammenhang, in dem allein die Einzelnen ihr Leben haben.“ 97 2903 Communio, 50. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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bzw. mit dem Begriff „Volkheit“98. Eine Definition von „Volkheit“ gibt Althaus in einer Rede 1927, wo es heißt: „Volkheit ist der Wille Gottes über ein Volk“99. Den Begriff und die Idee dahinter übernimmt er von Goethe100. Wenn Althaus von der „Volkheit“ spricht, hat er damit nicht nur das eigene Volk im Blick – gegen eine monomanisch Vergötzung des eigenen Volkes in der völkischen Bewegung wehrt er sich vehement –, sondern zugleich die Menschheitsdimension. So kann er „Volkheit“ auch als „Synthesis des ewigen Gotteswillens über allem Menschentum und der besonderen Volksart“ definieren, die das Volk unter das göttliche Gericht führt101. Der Volkstumsbegriff bleibt bei ihm auf diese Weise – wie schon bei Herder102 – zurückgebunden an den Menschheitsbegriff. Auch dies liegt im Wesen der Althausschen Schöpfungs ordnungstheologie, die eine konsequente Schöpfungsordnungstheologie ist103. Wenn nun die „Eigenart“ eines Volkes eine von Gott anvertraute Gabe ist, die zugleich als Aufgabe verstanden sein soll, so ist es für Althaus folgerichtig, die „Abwehr aller Überfremdung“ zu jener Aufgabe zu rechnen. Diese Gefährdung ist für ihn, gemäß seinem Fokus auf die „geistige Wirklichkeit“ des Volkes und dessen „besonderem Seelentum“, geistiger Art, nicht völkisch-rassischer. Merkliche Zugeständnisse an den Zeitgeist macht Althaus allerdings drei Jahre später 1931 im „Grundriß der Ethik“, wo er an dieser Stelle als weitere 98 Zum Gedanken der „Volkheit“ vgl. 3121 Volk, 5; und 2909 Vaterland, 244, wo Althaus schreibt: „Nur vor Gottes Angesicht tritt ja die wirkliche geschichtliche Volksart und die ‚Volkheit‘, des Volkes wahres Wesen, klar auseinander. Die Volkheit ist das Volk, so wie Gott es gedacht hat und sieht.“ 99 2704 Volkstum, 118. 100 Vgl. ebd.: „Goethe hat uns dafür den Ausdruck ‚Volkheit‘ geschenkt“; vgl. 3208 Gott, 749. Der Begriff findet sich im 18. Kapitel des dritten Buches von „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, wo es heißt: „Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volke ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind. Der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr. Dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt.“ (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 8, Hamburg 1948 ff., 470). Dass sich diese Goethestelle antidemokratisch und im Sinne von Althaus’ Verständnis von „verantwortlichem Führertum“ lesen lies, ist leicht verständlich. 101 2704 Volkstum, 118. So erlebt für Althaus das Volk vor Gott „unweigerlich das Gericht über seine jeweilige Wirklichkeit […], aber doch zugleich Berufung.“ 102 Schon bei Herder, so Sundhaussen, Einfluß, 37, soll ein Volk das allein ihm „Besondere zum Ganzen der Menschheitsgeschichte beitragen. Damit wird jedem Volk ein Eigenwert zuerkannt, unabhängig von der augenblicklichen Höhe seiner Kultur und Zivilisation. Die Völker sind verschieden und einmalig, damit sie sich gegenseitig ergänzen können“. 103 Eine politische Note erhält Althaus’ konsequente Schöpfungsordnungstheologie im „Dritten Reich“; vgl. 3708 Kirche, 22 f. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISBN E-Book: 9783647557861
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„Aufgabe für jedes Volk“ die sogenannte, von ihm in Anführungszeichen gesetzte „Rassenhygiene“104 nennt: „Es ist gehalten seine biologische Gesundheit und Güte zu wahren und wider die Gefahr seiner biologischen Verwahrlosung zu kämpfen (‚Rassenhygiene‘); […] Das bedeutet für alle seine Glieder Verantwortlichkeit für die biologische Erhaltung des Volkes durch gesunden und tüchtigen Nachwuchs“105.
Durch die unorganisch in den ansonsten unveränderten Text von 1928 eingefügten zwei Halbsätze erhält der ganze Absatz eine gewisse biologistische Zuspitzung, wodurch auch die „Abwehr aller Überfremdung“ einen anderen Klang erhält. Da Althaus ein solch biologistischer Zug ansonsten fremd ist, erklärt er sich am ehesten mit einem Zugeständnis an den mittlerweile herrschenden Zeitgeist, sprich als Reaktion auf das mehr und mehr erstarkende völkische und nationalsozialistische Lager106. Nicht zum ersten Mal setzt sich Althaus an dieser Stelle mit der zu damaliger Zeit weltweitweit als neueste Errungenschaft der Wissenschaft gepriesenen und vor allem in völkischen Kreisen adaptierten Eugenik bzw. „Rassenhygiene“ auseinander107. So sind für den stets an sittlichen Fragen interessierten Althaus in einer Sonntagsbetrachtung vom Februar 1917 die „Gesetze der Vererbung“ eine mögliche Befreiung „von dem Fluche des Individualismus“ und eine „Stärkung der sozialen Verantwortungsgefühle“: „Die Alkoholfrage und die Probleme geschlechtlicher Sittlichkeit werden unter dem Gesichtspunkte unserer Pflichten gegen das nächste Geschlecht oder der ‚Rassenhygiene‘ behandelt.“108 Neben der positiven Aufnahme dieses sittlichen Gedankens, der in seinen Augen in der Idee der „Rassenhygiene“ steckt, wird seine Distanz zu ihr nicht nur durch das – allerdings nicht konsequente – Setzen von Anführungszeichen verdeutlicht. Der Gefahr von negativer Eugenik und Euthanasie, die in der Idee der „Rassenhygiene“ spürbar mitschwang, war sich Althaus als christlicher Ethiker bereits damals bewusst, und so sah er sich in einer späteren Sonntagsbetrachtung vom Juni 1918 gezwungen, auch dazu das Wort zu ergreifen: „Bei aller Freude 104 Zum Begriff der „Rassenhygiene“ als Eindeutschung von „Eugenik“ vgl. Mohler/Weissmann, Revolution, 40 f. 105 3108 Ethik, 94; vgl. 3121 Volk, 5. 106 Dafür spricht auch seine Nennung von Adolf Hitlers „Mein Kampf“, Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“, Max Maurenbrechers „Der Heiland der Deutschen“ und Fritz Lenz’ „Menschliche Auslese und Rassenhygiene“ in den Literaturangaben. Selbstverständlich ist aus der Nennung dieser Titel keinerlei Zustimmung abzulesen. Mit Rosenbergs „Mythus“ setzt sich Althaus von Beginn an kritisch auseinander; vgl. Kap. IV, 7.2.2. 107 Zur weltweiten Verbreitung der Eugenik im 20. Jahrhundert vgl. Black, War. 108 1708B Sonntagsbetrachtung; zit. nach und vgl. Liebenberg, Gott, 468, Anm. 513. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525557860 — ISB