Zwischen Verstand und Gefühl: Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts 9783110331479, 9783110331288

This work examines the validity of 19th century gender discourses. Using a selection of novels from the German, English,

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Zwischen Verstand und Gefühl: Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts
 9783110331479, 9783110331288

Table of contents :
1 Einleitung
1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit
1.2 Stand der Forschung
1.3 Zur Methodik
2 Normative Konzepte von Weiblichkeit in erzieherischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts
2.1 Mädchenpädagogische Ratgeber als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses
2.2 Die Formierung des Diskurses: Zur Entstehung der Mädchenpädagogik
2.2.1 Fénelon als Begründer der Mädchenpädagogik
2.2.2 Die Frau als Randfigur androzentrischer Erziehung: Jean-Jacques Rousseaus Sophie
2.3 Ziele der speziellen Mädchenpädagogik: Postulate von normativer Weiblichkeit
2.3.1 Erziehung zur Emanzipation
2.3.2 Erziehung zur Subordination
2.4 Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren
2.4.1 An die Erzieher
2.4.2 An die Zöglinge
2.4.2.1 Väterliche Ratschläge
2.4.2.2 Mütterliche Ratschläge
2.4.3 Pädagogik als Roman
2.5 Der Entwurf eines Rollenmodells: Idealtypische Weiblichkeit in erzieherischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts
3 Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als weibliches Dilemma im Roman des 18. Jahrhunderts
3.1 Samuel Richardsons Clarissa, or the History of a Young Lady (1747/48)
3.1.1 Die patriarchalische Familie
3.1.2 Aufstrebendes Bürgertum und korrupter Adel: Macht und Moral
3.1.3 Die Verführung: Tugend gegen Libertinage
3.1.4 Weiblichkeit und Tod
3.1.5 Sensibility: Tugend, Würde und Humanität
3.1.6 Resümee: Verstand und Gefühl in Richardsons Clarissa
3.2 Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761)
3.2.1 Aristokratische Vernunft und bürgerliches Gefühl
3.2.2 Natur und Kultur
3.2.3 Leidenschaft der Tugend und Leidenschaft der Liebe
3.2.4 Geständnisse: Die Schuld und ihr Ausweg
3.2.5 Sensibilité: Natur, Tugend und Leidenschaft
3.2.6 Resümee: Verstand und Gefühl in Rousseaus Nouvelle Héloïse
3.3 Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771)
3.3.1 Tugend als natürliche Disposition: Sophies Erziehung
3.3.2 Korrupter Adel, bürgerliche Tugend und die bürgerliche Aristokratin
3.3.3 Empfindsamkeit: Ein bürgerlich-puritanischer Weltentwurf
3.3.4 Autonomie, Initiative und Entwicklung: Das Fräulein von Sternheim als aktive Heldin
3.3.5 Resümee: Verstand und Gefühl in La Roches Fräulein von Sternheim
3.4 Zusammenfassung
4 Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als weibliches Dilemma im Roman des 19. Jahrhunderts
4.1 Ehefrauen, Mütter und Heldinnen: Weibliches Handlungspersonal in Romanen des 19. Jahrhunderts
4.2 Jane Austens Sense and Sensibility (1811)
4.2.1 Die Prämissen: Elemente des sentimentalen Romans
4.2.2 Die Perspektive: Gender und Narratorlogie
4.2.3 Erziehung zur Tugend: Jane Austens heroines und ihre accomplishments
4.2.4 Sense vs. sensibility als weibliches Dilemma
4.2.5 Sense vs. sensibility als männliches Dilemma
4.2.6 Der Weg zum privaten Glück: Die Lektion, die Entwicklung, die Belohnung
4.2.7 Sense oder sensibility?
4.2.8 Normative Konzepte von Weiblichkeit in Sense and Sensibility
4.3 Emily Brontës Wuthering Heights (1847)
4.3.1 Multiperspektivisches Erzählen außerhalb der Briefform
4.3.2 Die Sozialisation der Heldin: Zwischen Wuthering Heights und Thrushcross Grange
4.3.3 „Wild wicked slips“ und „petted things“: Geschlechterrollen
4.3.4 The Madwoman in the Attic: Krankheit und Wahnsinn
4.3.5 Leidenschaft als Passion: Liebe und Hass, Leben und Tod, Verstand und Gefühl
4.3.6 Ein alternativer Lebensentwurf: Catherine II
4.3.7 Normabweichende Konzepte von Weiblichkeit in Wuthering Heights
4.4 George Sands Indiana (1832)
4.4.1 Paradigmen der Versklavung: Fremdbestimmt und selbstgewählt
4.4.2 Männliche Leidenschaft – weibliche Leidenschaft
4.4.3 Noun und die negative Handlungshypothese
4.4.4 Passions vs. lois: Zwei antagonistische Weltentwürfe
4.4.5 Die Utopie: Androgynie im âge d’or
4.4.6 Der stumme Protest gegen den Diskurs
4.5 Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95)
4.5.1 Naturkind, Kindfrau, Ehefrau: Geschlechterperformanzen
4.5.2 Mütter und Töchter und Mütter
4.5.3 Liebe, „ein Papperlapapp“: Leidenschaft und Langeweile, Verstand und Gefühl
4.5.4 Formen des „Unbürgerlichen“
4.5.5 Das „Gesellschafts-Etwas“ und der „Götze Ehre“: Moral und Konvention
4.5.6 „Ein weites Feld“: Die Inkonsistenz der Diskursdiktate
5 Resümee
6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Mädchenpädagogische Schriften und Handbücher
6.3 Sekundärliteratur
7 Namensverzeichnis

Citation preview

Dana Kestner Zwischen Verstand und Gefühl

Communicatio

Studien zur europäischen Literaturund Kulturgeschichte

Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel

Band 45

Dana Kestner

Zwischen Verstand und Gefühl

Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts

DE GRUYTER

Zugl.: Siegen, Univ., Diss., 2011 ISBN 978-3-11-033128-8 e-ISBN 978-3-11-033147-9 ISSN 0941-1704 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Hanna

Danksagung Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Georg Stanitzek für die engagierte Betreuung. Er hat die vorliegende Arbeit in jeder Phase ihrer Entstehung aufmerksam begleitet und mit wertvollen Anregungen vorangebracht. Ich danke ebenso Prof. Dr. Anja Müller, die mich mit vielen wichtigen Impulsen unterstützt hat. Der Universität Siegen bin ich insbesondere dafür zu Dank verpflichtet, dass sie zum Gelingen meiner Arbeit mit einem Stipendium beigetragen hat. Kirstin Schreiber, Marion Wittfeld und Laura Felser möchte ich meinen Dank für die vielen Hinweise und (Fach-)Gespräche sowie nicht zuletzt das fleißige Korrekturlesen aussprechen. Für die freundliche Aufnahme der Studie in die Reihe Communicatio danke ich Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp und Prof. Dr. Fritz Nies. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie: Meinen Eltern, die mich stets und in jeder erdenklichen Weise unterstützt haben, und Benjamin für seine Geduld und für alles andere.

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung   1 Gegenstand und Ziel der Arbeit  Stand der Forschung   3 Zur Methodik   8

 1

2

Normative Konzepte von Weiblichkeit in erzieherischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts   13 2.1 Mädchenpädagogische Ratgeber als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses   17 2.2 Die Formierung des Diskurses: Zur Entstehung der Mädchenpädagogik   23 2.2.1 Fénelon als Begründer der Mädchenpädagogik   25 2.2.2 Die Frau als Randfigur androzentrischer Erziehung: Jean-Jacques Rousseaus Sophie   28 2.3 Ziele der speziellen Mädchenpädagogik: Postulate von normativer Weiblichkeit   33 2.3.1 Erziehung zur Emanzipation   35 2.3.2 Erziehung zur Subordination   45 2.4 Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstands- lehren   52 2.4.1 An die Erzieher   58 2.4.2 An die Zöglinge   78 2.4.2.1 Väterliche Ratschläge   78 2.4.2.2 Mütterliche Ratschläge   96 2.4.3 Pädagogik als Roman   117 2.5 Der Entwurf eines Rollenmodells: Idealtypische Weiblichkeit in erzieherischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts   127 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5

Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als weibliches Dilemma im Roman des 18. Jahrhunderts   132 Samuel Richardsons Clarissa, or the History of a Young Lady (1747/48)   139 Die patriarchalische Familie   140 Aufstrebendes Bürgertum und korrupter Adel: Macht und Moral   147 Die Verführung: Tugend gegen Libertinage   152 Weiblichkeit und Tod   155 Sensibility: Tugend, Würde und Humanität   158

X  3.1.6 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.4 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.3 4.3.1

 Inhalt

Resümee: Verstand und Gefühl in Richardsons Clarissa   161 Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761)   163 Aristokratische Vernunft und bürgerliches Gefühl   165 Natur und Kultur   170 Leidenschaft der Tugend und Leidenschaft der Liebe   175 Geständnisse: Die Schuld und ihr Ausweg   180 Sensibilité: Natur, Tugend und Leidenschaft   184 Resümee: Verstand und Gefühl in Rousseaus Nouvelle Héloïse   187 Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771)   189 Tugend als natürliche Disposition: Sophies Erziehung   191 Korrupter Adel, bürgerliche Tugend und die bürgerliche Aristokratin   194 Empfindsamkeit: Ein bürgerlich-puritanischer Weltentwurf   199 Autonomie, Initiative und Entwicklung: Das Fräulein von Sternheim als aktive Heldin   204 Resümee: Verstand und Gefühl in La Roches Fräulein von Sternheim   208 Zusammenfassung   211 Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als weibliches Dilemma im Roman des 19. Jahrhunderts   215 Ehefrauen, Mütter und Heldinnen: Weibliches Handlungspersonal in Romanen des 19. Jahrhunderts   218 Jane Austens Sense and Sensibility (1811)   224 Die Prämissen: Elemente des sentimentalen Romans   227 Die Perspektive: Gender und Narratorlogie   230 Erziehung zur Tugend: Jane Austens heroines und ihre accomplishments   233 Sense vs. sensibility als weibliches Dilemma   237 Sense vs. sensibility als männliches Dilemma   248 Der Weg zum privaten Glück: Die Lektion, die Entwicklung, die Belohnung   252 Sense oder sensibility?   257 Normative Konzepte von Weiblichkeit in Sense and Sensibility   260 Emily Brontës Wuthering Heights (1847)   263 Multiperspektivisches Erzählen außerhalb der Briefform   267



4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6

Inhalt 

 XI

Die Sozialisation der Heldin: Zwischen Wuthering Heights und Thrushcross Grange   273 „Wild wicked slips“ und „petted things“: Geschlechter- rollen   277 The Madwoman in the Attic: Krankheit und Wahnsinn   284 Leidenschaft als Passion: Liebe und Hass, Leben und Tod, Verstand und Gefühl   290 Ein alternativer Lebensentwurf: Catherine II   298 Normabweichende Konzepte von Weiblichkeit in Wuthering Heights   301 George Sands Indiana (1832)   304 Paradigmen der Versklavung: Fremdbestimmt und selbstgewählt   307 Männliche Leidenschaft – weibliche Leidenschaft   313 Noun und die negative Handlungshypothese   320 Passions vs. lois: Zwei antagonistische Weltentwürfe   323 Die Utopie: Androgynie im âge d’or   327 Der stumme Protest gegen den Diskurs   331 Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95)   332 Naturkind, Kindfrau, Ehefrau: Geschlechterperformanzen   335 Mütter und Töchter und Mütter   341 Liebe, „ein Papperlapapp“: Leidenschaft und Langeweile, Verstand und Gefühl   344 Formen des „Unbürgerlichen“   351 Das „Gesellschafts-Etwas“ und der „Götze Ehre“: Moral und Konvention   355 „Ein weites Feld“: Die Inkonsistenz der Diskursdiktate   359  362

5

Resümee 

6 6.1 6.2 6.3

 373 Literaturverzeichnis  Primärliteratur   373 Mädchenpädagogische Schriften und Handbücher  Sekundärliteratur   375

7

Namensverzeichnis 

 386

 373

1 Einleitung 1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als einem zentralen Thema ‚gynozentrischer‘1 Romane des 19. Jahrhunderts. An ausgewählten Texten der deutschen, englischen und französischen Romanliteratur, die im weitesten Sinne der Gattung des Verführungsromans angehören, soll der These nachgegangen werden, dass die Kollision von Vernunft und Gefühl ein spezifisch weibliches Dilemma darstellt. Denn Frauen werden dem maßgeblichen Geschlechtscharakterdiskurs zufolge zwar einerseits als emotional definiert, aber das aktive Ausleben dieser und weiterer ‚natürlich weiblicher‘ Dispositionen bleibt andererseits verpönt. Um gesellschaftliche Setzungen von normativer Weiblichkeit bestimmen zu können, soll neben dem literarischen ein weiteres ‚lebensnahes‘ Medium herangezogen werden: Pädagogische Handbücher und Lebenshilfen für Mädchen und junge Frauen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts sollen untersucht werden, um die darin enthaltenen Darstellungen des weiblichen Geschlechtscharakters in Bezug zu prominenten literarischen Entwürfen der Zeit zu setzen. Im Ergebnis werden wichtige Aufschlüsse zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten des westeuropäischen Romans in seinen diskursgeschichtlichen Kontexten angestrebt. Das Hauptinteresse meiner Arbeit besteht darin, den gynozentrischen Roman des 18. Jahrhunderts und den des 19. Jahrhunderts unter gemeinsamen Perspektiven zu betrachten. Die Übereinstimmung von Verführungsroman und weiblichem Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, wie sie für das ausgehende 18. Jahrhundert zu konstatieren ist, spitzt sich meiner Ansicht nach im 19. Jahrhundert zu. Während sich die Existenz eines gynozentrischen Bildungsromans im 18. Jahrhundert m. E. anzweifeln lässt, geben Autoren und Autorinnen ihren Romanheldinnen im folgenden Jahrhundert durchaus Raum zur Entwicklung. Allerdings unterscheiden sich die Umstände weiblicher Entwicklung im Roman des 19. Jahrhunderts noch immer von denen ihrer männlichen Gegenstücke, schon aufgrund der anhaltenden Trennung von männlichem und weiblichem Erfah-

1 Ähnlich wie Silvia Mergenthal verwende ich den Begriff ‚gynozentrisch‘ zur Bezeichnung von Texten, die eine weibliche Hauptfigur fokussieren. So erfolgt nicht nur die Abgrenzung von ‚androzentrischen‘ Romanen, sondern auch eine Differenzierung hinsichtlich weiblichen Schreibens zwischen Inhaltsebene und Autorschaft. Vgl. auch Silvia Mergenthal: Erziehung zur Tugend. Frauenrolle und der englische Roman um 1800, Tübingen: Niemeyer 1997 (= Buchreihe der Anglia, Bd. 34).

2 

 Einleitung

rungs- und Lebensbereich in öffentlicher und privater Sphäre. In diesem Sinne erweisen sich auch für das 19. Jahrhundert klassifikatorische Unterscheidungen zwischen gynozentrischen Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungsromanen als wenig fruchtbar: Aus der Perspektive der weiblichen Heldin verschmelzen die Grenzen dieser Subkategorien und formieren so mit dem Verführungs- bzw. Prüfungsroman die Summe all jener Erzähltexte, welche den Erhalt weiblicher Unschuld bzw. Treue problematisieren, den gynozentrischen Roman des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. Anhand dieses Romantyps möchte ich zeigen, dass sich das Rollenverhalten von Romanheldinnen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert innerhalb eines gesamteuropäischen Kontexts wandelt, und zwar insofern, als weibliche Subjekte im Romanzusammenhang nun verstärkt die Kehrseiten der Geschlechtscharakterdiktate erproben. Dabei geraten Romanheldinnen oftmals in einen Konflikt zwischen den widersprüchlichen Anforderungen von Verstand und Gefühl, einen Konflikt, der schon deshalb als spezifisch weibliches Dilemma bezeichnet werden muss, weil er eng mit dem ‚weiblichen‘ Themenreservoir von Liebe, Ehe und Verführung verbunden ist. Der entscheidende Grund für die hypothetische Diagnose „weibliches Dilemma“ liegt allerdings in der zeitgenössischen Definition von Weiblichkeit: Eine Gesellschaftsnorm, die den weiblichen Geschlechtscharakter einerseits als gefühlsbestimmt definiert, das unbeherrschte Ausleben dieser Disposition andererseits jedoch verurteilt, drängt Frauen in eine Zwangslage. Das Problem dieser Rollenerwartung zu entsprechen, also die Balance zwischen ungebremster Emotionalität und Gefühlskontrolle, zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbeherrschung zu halten, repräsentiert in der Tat ein Dilemma, dem bis ins 19. Jahrhundert nur Frauen unterliegen. Die Emotionalität der Frau wird als eine unangemessene Haltung den eigenen Gefühlen gegenüber gedacht. Während der (empfindsame) Mann seine Emotionen und Kognitionen miteinander in Einklang zu bringen vermag, fehlt der Frau laut Geschlechtscharakterdiskurs diese Fähigkeit. In ihr ringen die Antagonisten Verstand und Gefühl miteinander, was dazu führt, dass sich die weibliche Emotionalität ungebremst durch eine etwaige Vernunftkontrolle in heftiger Affektivität nach außen kehrt.



Stand der Forschung 

 3

1.2 Stand der Forschung In den Geisteswissenschaften stehen Fragen nach der menschlichen Emotionalität augenblicklich in Hochkonjunktur.2 Insbesondere die Opposition von Verstand und Gefühl hat im abendländischen Denken eine lange Tradition. Entsprechend lassen sich literarische Darstellungen des Konflikts zwischen diesen beiden Größen sicherlich nicht erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert finden. Zweifellos erfährt die Kollision von Verstand und Gefühl, von Ratio und Intuition thematisch hier jedoch eine besondere Dringlichkeit. Was weibliche Heldinnen im 18. Jahrhundert anbelangt, so liefern zeitgenössische Vorstellungen von Weiblichkeit mit den Konzepten „Gelehrsamkeit“ auf der einen und „Empfindsamkeit“ auf der anderen Seite eine extreme Repräsentation der Pole Verstand und Gefühl, wie Silvia Bovenschen eingehend dargelegt hat.3 Allerdings hält keines dieser Extreme ein praktikables Handlungsmodell bereit, da weder Gelehrsamkeit noch allzu heftige Gefühlsbetonung dem von Karin Hausen beschriebenen weiblichen Geschlechtscharakter entsprechen.4 Zwar gilt die Frau laut Geschlechtscharakterdiskurs als emotional gegenüber dem rationalen Mann, es fehlen jedoch im 18. Jahrhundert zunächst literarische Manifestationen weiblicher Leidenschaftlichkeit, die etwa den übersteigerten Gefühlsregungen eines Werthers gleich kämen, wie Marion Beaujean konstatiert hat.5 Entsprechend wurde der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als literarisches Motiv des 18. Jahrhunderts bislang meist im Hinblick auf männliche Protagonisten untersucht.6

2 Nicht nur wurde an der Freien Universität Berlin die Exzellenzinitiative „Languages of Emotion“ eingerichtet, auch widmete sich unlängst ein Band der Zeitschrift für Kulturwissenschaften aus einer Reihe verschiedener Disziplinen dem Thema Emotionen. Vgl. Emotionen, hg. v. Christina Lutter u. Daniela Hammer-Tugendhat, Bielefeld: Transcript 2010 (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften). 3 Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 86. 4 Vgl. Karin Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. v. Werner Conze, Stuttgart: Klett 1976, S. 363–393. 5 Vgl. Marion Beaujean: „Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts“, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, hg. v. Günter Schulz, Bd. III, Bremen u. Wolfenbüttel: Jacobi 1976, S. 20. 6 Zwar zieht Paul Mog mit Richardsons Clarissa und Gellerts Schwedischer Gräfin durchaus Romanheldinnen in Betracht, die Zuweisung der Kategorien Verstand und Gefühl bezieht sich jedoch nicht direkt auf die Figuren, sondern ihre jeweilige Umgebung (höfischer bzw. bürgerlicher Kontext). Vgl. Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zur Psychogenese und Literatur

4 

 Einleitung

Bezogen auf die Romanheldin des 18. Jahrhunderts gruppiert sich die Forschung vor allem um die Kategorien Bildungs- und Verführungsroman. Zweifellos stellt der Bildungsroman im 18. Jahrhundert ein männlich dominiertes Genre dar; dennoch werden Texte wie Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) oder Friederike Helene Ungers Julchen Grünthal (1784/1798), die eine weibliche Entwicklungsgeschichte erzählen, immer wieder als gynozentrische Bildungsromane gelesen.7 Dagegen spricht allerdings das Argument, diese Protagonistinnen handelten ausschließlich innerhalb des begrenzten Spielraums, den ihnen die Geschlechtscharakter-Konformität gewährt.8 Um die Frage nach der Möglichkeit weiblicher Entwicklung um 1800 zu beantworten, wird nicht selten auf ein anderes Genre verwiesen, den Verführungsroman. Silvia Mergenthal geht mit Joseph Allen Boone so weit, den Bildungsroman aus weiblicher Sicht vollständig mit dem Verführungsroman zu identifizieren.9 Das Genre des Verführungsromans eignet sich anscheinend bestens, um weibliche Entwicklung nachzuvollziehen bzw. vorzuführen. Eine recht tautologische Vorabdefinition des Verführungsromans stammt von Christine Lehmann, die besagtes Genre schlicht als einen Roman definiert, in dem eine meist junge Frau zu außer- oder vorehelichem Geschlechtsverkehr verleitet werden soll.10 Insgesamt spiegelt sich in der Forschungsliteratur zum Ver-

des 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1976. Gabriele Jilg untersucht mit Goethes Werther, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser und Johann Carl Wezels Belphegor ausschließlich männliche Protagonisten. Vgl. Gabriele Jilg: Die Kollision von Gefühl und Verstand. Vom gesellschaftlichen Charakter des Selbstbewußtseins und den Formen seiner literarischen Dokumentation, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1983. 7 Vgl. z. B. Hansjürgen Blinn: „Das Weib wie es seyn sollte. Der weibliche Bildungs- und Entwicklungsroman um 1800“, in: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann, Stuttgart: Metzler 1999, S. 81–91; Anja May: Wilhelm Meisters Schwestern. Bildungsromane von Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert, Königsstein/Taunus: Helmer 2006. 8 Vgl. Ursula Geitner: „Soviel wie nichts? Weiblicher Lebenslauf, weibliche Autorschaft um 1800“, in: Lebensläufe um 1800, hg. v. Jürgen Fohrmann, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 35f. Laut Geitner handelt es sich beim Bildungsroman um 1800 schon deshalb um eine spezifisch männliche Ausdrucksform, weil Weiblichkeit Perfektibilität, die Voraussetzung für den Bildungsroman, zumindest dem herrschenden Diskurs gemäß ausschließt. 9 Vgl. Mergenthal: Erziehung zur Tugend, S. 91; Joseph Allen Boone: Tradition Counter Tradition. Love and the Form of Fiction, Chicago: University of Chicago Press 1987. 10 Die Autorin konkretisiert diesen Definitionsansatz, indem sie auf den Unterschied zum Liebesroman, „in dem die erfolgreiche Suche einer Heldin oder Helden nach dem richtigen Gatten bzw. der richtigen Gattin geschildert wird“, aufmerksam macht. Vgl. Christine Lehmann: Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1991, S. 10.



Stand der Forschung 

 5

führungs- und Prüfungsroman nicht nur dessen lange Tradition wider, sondern auch die internationale Präsenz des Stoffes.11 Neben dem allzu Offensichtlichen, der Inszenierung der Unschuld alias der verführten oder zu verführenden Frau, wird in neueren Untersuchungen zum Thema auch auf den Aspekt der aktiv weiblichen Sexualität hingewiesen. Anna Marx äußert in diesem Sinne Kritik an zuvor erschienenen Arbeiten zum Verführungsroman, indem sie das „Begehren der Unschuld“ im zweifach grammatikalischen Sinn, einerseits aus der Perspektive des verführenden Subjekts betrachtet und andererseits das sexuelle Verlangen des ‚unschuldigen‘ Subjekts thematisiert.12 Dass die Frau als literarisches Subjekt untrennbar mit dem Themenkomplex Ehe, Ehebruch und Verführung verbunden ist, wird des Weiteren in Arbeiten zur historischen Semantik der Liebe thematisiert. Neben Niklas Luhmann, der sich dem Phänomen Liebe als Passion13 diskursgeschichtlich nähert, sei hier vor allem auf Laurence Lerner hingewiesen, der mit Denis de Rougemont den Nachweis erbringt, dass Liebe und Ehe sich im Sinne der abendländischen Liebeskonzeption ausschließen.14 Darüber hinaus verweist die Literaturwissenschaft auch auf den generellen Funktionszusammenhang von Liebe und Roman.15 Für den Roman des 19. Jahrhunderts findet sich bei Georg Lukács eine nach wie vor wesentliche Feststellung, wenn er als dessen grundlegende Charakte-

11 Zu nennen sind neben Lehmann v. a. Hellmuth Petriconi und Dietlinde S. Bailet, die jeweils komparatistisch vorgehen und sich insbesondere auf das 18. Jahrhundert beziehen. Vgl. H[ellmuth] Petriconi: Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema, Hamburg: Cram, De Gruyter & Co. 1953; Dietlinde S. Bailet: Die Frau als Verführte und als Verführerin in der deutschen und französischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1981 (= Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache u. Literatur, Bd. 409). Helmut Schmiedt vollzieht die Geschichte des Genres schließlich bis zur Gegenwart nach. Vgl. Helmut Schmiedt: Liebe, Ehe, Ehebruch. Ein Spannungsfeld in deutscher Prosa von Christian Fürchtegott Gellert bis Elfriede Jelinek, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. 12 Vgl. Anna Marx: Das Begehren der Unschuld. Zum Topos der Verführung im bürgerlichen Trauerspiel und (Brief-)Roman des 18. Jahrhunderts, Freiburg: Rombach 1999 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Cultura, Bd. 10). 13 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 14 Vgl. Laurence Lerner: Love and Marriage. Literature and Its Social Context, London: Arnold 1979; Denis de Rougemont: L’Amour et l’occident, Paris: Plon 1982. Nennenswert ist auch immer noch Paul Kluckhohn, der interdisziplinär neben literarischen Liebesdarstellungen auch philosophische Konzepte untersucht. Vgl. Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, 3. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1966. 15 Vgl. Julia Kristeva: Histoires de l’amour, Paris: Denoël 1983; Manfred Schneider: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens, München u. Wien: Hanser 1992; Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München: Fink 2003.

6 

 Einleitung

ristik angibt, dass die Seele des Helden ‚breiter‘ angelegt sei als die Schicksale, die ihm das Leben bieten kann. Die daraus resultierende Unangemessenheit zwischen dem Helden und seiner Umwelt stellt ein genuines Dilemma dar.16 In geradezu potenzierter Form bewahrheitet sich nun diese Annahme für die weibliche Romanheldin – immerhin konfrontiert die gesellschaftliche Öffentlichkeit Frauen im 19. Jahrhundert mit sehr viel drastischeren Einschränkungen als den Mann. Während die Romanheldin im 18. Jahrhundert der Forschungsliteratur zufolge weitgehend im Rahmen ihrer geschlechtsspezifischen Beschränkungen agiert, lässt sich in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts erstmals weibliche Rebellion erkennen.17 Die Hintergründe dieses Aufbegehrens wurden eingehend von Sandra M. Gilbert und Susan Gubar in The Madwoman in the Attic von 1979 untersucht.18 Rebellion bedeutet dabei jegliche Abweichung von den geltenden Normen und das schließt im 19. Jahrhundert auch Leidenschaftlichkeit als weibliches Attribut mit ein. Unter Bezugnahme auf Gilbert und Gubar hat kürzlich Juliane Vogel die Kollision von übersteigerter weiblicher Leidenschaftlichkeit und staatlicher Setzung in der Verstragödie des 19. Jahrhunderts untersucht.19 Was den Bereich der Ratgeberliteratur für Mädchen und junge Frauen anbelangt, so ist vor allem eine Reihe von Untersuchungen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht von Interesse, die das Frauenbild re- oder dekonstruieren, wie es sich in Anstandsbüchern, Sittenlehren sowie Erziehungsratgebern für Mädchen im 18. und 19. Jahrhundert entfaltet.20 Die literaturwissenschaftliche

16 Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin: Luchterhand 1971, S. 98. 17 Hinsichtlich des englischen Romans ist Christoph Reinfandt der schwindenden Relevanz sozialer Normen nachgegangen. Demnach löst sich der Romanzusammenhang bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Legitimation durch eine objektive und lässt stattdessen eine subjektive, sprich eine rein innerliterarische, ästhetische Normativität gelten. Vgl. Christoph Reinfandt: Der Sinn fiktionaler Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Heidelberg: Winter 1997 (= Anglistische Forschungen, Bd. 252), S. 177. 18 Vgl. Sandra M. Gilbert u. Susan Gubar: The Madwoman in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, 2. Aufl., New Haven u. London: Yale University Press 2000. 19 Vgl. Juliane Vogel: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der „großen Szene“ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau: Rombach 2002 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 44). 20 Vgl. Johanna Hopfner: Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800. Im Spiegel der populärpädagogischen Schriften der Zeit, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1990; Monika Simmel: Erziehung zum Weibe. Mädchenbildung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. u. New York: Campus 1980.



Stand der Forschung 

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Auseinandersetzung mit moralisch-belehrenden Schriften für Frauen findet aus verschiedenen Richtungen statt. Neben Ansätzen der Frauenbildforschung, wie etwa bei Nancy Armstrong,21 verfolgen Autorinnen wie Dagmar Grenz die Literaturgeschichte des Mädchenbuchs.22 Zuletzt sei auf die theoretische Debatte um den Gefühlsbegriff hingewiesen. Da der Begriff Gefühl im Hinblick auf das 18. und 19. Jahrhundert, also das bürgerliche Zeitalter, oft synonym mit dem Begriff Liebe gebraucht wird oder zumindest in Assoziation mit diesem steht, bietet ein Blick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept des Gefühls einige interessante Anstöße. Als ein großes Kapitel kann hier die soziologische Untersuchung des Gefühls als Phänomen der bürgerlichen Kultur gesehen werden. Dabei geraten sowohl positive als auch negative Konnotationen in den Fokus. Methodisch unterscheiden sich die verschiedenen Untersuchungen meist darin, dass sie entweder rein historisch argumentieren wie z. B. Agnes Heller, die in ihrer Theorie der Gefühle von 1980 eine ganze Typologie der Gefühle entwirft, um diese dann historisch zu verifizieren,23 oder aber zum Beleg ihrer Thesen auf Kunst und Literatur verweisen. In der philosophischen Diskussion kommt aktuell neben solchen Positionen, die das Ende der romantischen Liebe attestieren, auch die Frage auf, ob Liebe überhaupt als Gefühl gesehen werden kann. Christoph Demmerling und Hilge Landweer bejahen diese Frage, ganz im Gegensatz zur psychologischen Sichtweise.24 Auch in solchen theoretischen Diskussionen zeigt sich die Brisanz, die der traditionellen Assoziation von Gefühl und weiblichem Geschlecht innewohnt, wie insbesondere neuere Forschungsentwicklungen belegen. Zu der Frage, inwiefern die geschlechtsspezifischen Stereotype des rationalen Mannes und der emotionalen Frau noch immer Gültigkeit beanspruchen können, erschien jüngst die

21 Vgl. Nancy Armstrong: „The Rise of the Domestic Woman“, in: The Ideology of Conduct. Essays on Literature and the History of Sexuality, hg. v. Nancy Armstrong u. Leonard Tennenhouse, New York u. London: Methuen 1987, S. 96–141. 22 Vgl. Dagmar Grenz: Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 1981. 23 Vgl. Agnes Heller: Theorie der Gefühle, Hamburg: VSA 1980. Peter Gay bezieht sich dagegen auf Beispiele der Literatur und bildenden Kunst. Vgl. Peter Gay: The Bourgeois Experience, Bd. 2: The Tender Passion, New York: Oxford University Press 1986; Peter Gay: The Bourgeois Experience, Bd. 4: The Naked Heart, New York: Norton 1996. 24 Christoph Demmerling u. Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle, Stuttgart: Metzler 2007. Eva Illouz verzeichnet anhand der Analyse neuzeitlicher Partnersuche über das Internet einen Prozess der Rationalisierung in der Liebessemantik. Vgl. Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno Vorlesungen 2004, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006.

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 Einleitung

Herausgeberschrift Gender Feelings von Verena Mayer und Daniela Rippl.Letztere argumentiert in ihrem einleitenden Beitrag nicht nur gegen einen generellen Kontrast zwischen Verstand und Gefühl,25 sondern auch gegen eine naturgegebene geschlechtsspezifische Ausrichtung der beiden Prinzipien. Mit der Losung „Gender Feelings – Emotion Trouble“ schreibt die Autorin in Anlehnung an Judith Butlers Konzept des performativen Geschlechts Emotionen eine identitätsstiftende Funktion zu.26 Unter den verschiedenen Beiträgen des Bandes, die neben der Literaturwissenschaft so unterschiedliche Disziplinen wie etwa Neurobiologie und Philosophie vereinen, besteht grundsätzlich Konsens darüber, dass Geschlechtsdifferenzen bezüglich Emotionalität, sofern sie sich überhaupt verzeichnen lassen, stets auf kulturelle Determinanten zurückzuführen sind. Frauen sind also emotional, weil man es von ihnen erwartet.27 Dabei wird die weibliche Emotionalität seit dem 18. Jahrhundert nicht nur als hierarchisch unter der männlichen Vernunft stehend gedacht, sondern auch in sich selbst als schwach und oberflächlich betrachtet. Im Vergleich zur männlichen Empfindsamkeit sei das weibliche Gefühl weniger tief und weniger dazu in der Lage, Emotionen als Maßstab kognitiver Bewertungen zu nutzen. Insofern beschreibt Verena Mayer die Gefühlsbetonung der Frau als „mangelnde Integrationsfähigkeit von Gefühl und Vernunft“28: „[B]eide Seiten fallen in ihr auseinander, die Affekte sind haltlos, sie entäußern sich ziellos und ihre motivierende Kraft verpufft.“29

1.3 Zur Methodik Methodisch ist mein Vorhaben zunächst der Komparatistik verpflichtet. Die vergleichende Vorgehensweise begründet sich zunächst aus dem Gegenstands-

25 Rippl bezeichnet die abendländische Tradition, wonach Verstand und Gefühl einander polar entgegengesetzt werden, als paradox, da das Gegenteil von rational nicht etwa emotional sei, sondern irrational. Vgl. Daniela Rippl: „Gender Feelings – Emotion Trouble“, in: Gender Feelings, hg. v. Daniela Rippl und Verena Mayer, München: Fink 2008, S. 9. 26 Vgl. ebd., S. 12f. 27 Vgl. Lydia Andrea Hartl: „Körpermoden – Zur Kulturbiologie des Geschlechtlichen“, in: Gender Feelings, hg. v. Daniela Rippl u. Verena Mayer, München: Fink 2008, S. 155. Auch Gertrud Nunner-Winkler vertritt die Auffassung, emotionsbezogene Geschlechtsunterschiede seien erlernt. Vgl. Gertrud Nunner-Winkler: „Den Männern der Verstand – den Frauen das Gefühl“, in: Gender Feelings, hg. v. Daniela Rippl u. Verena Mayer, München: Fink 2008, S. 104. 28 Verena Mayer: „Emotionalität und Geschlechterkonstruktion. Der Beitrag der Philosophie“, in: Gender Feelings, hg. v. Daniela Rippl u. Verena Mayer, München: Fink 2008, S. 243. 29 Ebd.



Zur Methodik 

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bereich der geplanten Arbeit. Da der Verführungsroman, wie ich ihn definieren möchte, dem gesamteuropäischen Einzugsbereich der Empfindsamkeit (sensibility/sensibilité) entstammt, muss das gattungsgeschichtliche Phänomen auch im 19. Jahrhundert auf internationaler Ebene verfolgt werden. Dies erweist sich zudem als sinnvoll, da die Unterschiede zwischen andro- und gynozentrischem Roman im internationalen Vergleich besonders augenscheinlich werden: Während die verschiedenen Nationalphilologien in Bezug auf männliche Protagonisten gattungsspezifische Unterschiede verzeichnen – beispielsweise fehlt in Frankreich der Bildungsroman, wie wir ihn aus der deutschen Literatur kennen – so fallen hinsichtlich der Romanheldinnen vor allem die Gemeinsamkeiten der Nationalliteraturen auf.30 Damit deutet sich bereits eine weitere methodische Überlegung an. Aus der Perspektive der feministischen (auch einer auf GenderKategorien abstellenden) Literaturwissenschaft liegt meinen Überlegungen das Bewusstsein zugrunde, dass fiktionale Entwürfe von Weiblichkeit immer auch die reelle Situation der Frau und ihre kulturelle Determiniertheit reflektieren.31 In diesem Sinne werde ich der Frage nachgehen, inwieweit literarische Darstellungen des weiblichen Konflikts zwischen Verstand und Gefühl durch zeitgenössische (männliche) Vorstellungen von Weiblichkeit reguliert werden und inwiefern die spezifische Konzeption des Geschlechtscharakters Frauen in ein Dilemma treibt. Ein solches Dilemma liefert laut Mark Bevir wiederum die essenzielle Vorbedingung für einen Wandel von Überzeugungen und Traditionen: „People develop, adjust, and transform traditions in response to dilemmas, where dilemmas are authoritative understandings that put into question their existing webs of belief. […] Historians can explain a change of belief, therefore, by referring to the relevant dilemma.”32 In Bezugnahme auf Bevir liegt mein Augenmerk folglich auf dem Potenzial des Wandels, das der weiblichen Zwangslage innewohnt. Um diesen ideengeschichtlichen Wandel nun nachzuverfolgen, möchte ich als Verweisungshorizont für die zu untersuchenden Romane nichtfiktionale Texte hin-

30 Das Fehlen des Bildungsromans in der französischen Literatur begründet Rainer Warning mit der französischen Tradition der Moralistik. Vgl. Rainer Warning: „‚Éducation‘ und ‚Bildung‘. Zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich“, in: Lebensläufe um 1800, hg. v. Jürgen Fohrmann, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 121. 31 In diesem Zusammenhang sei auf Carlos Spoerhase verwiesen, der „Text als ‚Reaktion‘ auf Probleme in der ‚Welt‘“ versteht. Vgl. Carlos Spoerhase: „Dramatisierungen und Entdramatisierungen der Problemgeschichte“, in: Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, hg. v. Riccardo Pozzo u. Marco Sgarbi, Hamburg: Meiner 2010 (= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 7), S. 120. 32 Vgl. Mark Bevir: The Logic of the History of Ideas, Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 221f.

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zuziehen. Als Referenz für zeitgenössische Vorstellungen von normativer Weiblichkeit bietet sich das präskriptive Medium erzieherischer Schriften an, weshalb ich neben den Romantexten verschiedene Handbücher zur Mädchenerziehung und conduct books des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts betrachten werde. Anhand der zu untersuchenden Texte lässt sich die vorliegende Arbeit zunächst in drei größere Abschnitte gliedern. Der erste Teilbereich soll den bereits angesprochenen Referenzhorizont nichtfiktionaler Texte zum Thema Weiblichkeit, Liebe und Ehe erhellen. Hierzu werde ich als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses eine Auswahl pädagogischer Handbücher für Mädchen und junge Frauen untersuchen, wie sie seit spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts in immenser Zahl sowohl in Deutschland, England als auch Frankreich erscheinen. Um den Diskurs um normative Bewertungen von Weiblichkeit annähernd erfassen zu können, werde ich unterschiedlichste Subgenres des Erziehungsbuches für Mädchen betrachten und somit versuchen, sowohl in Bezug auf die sprachliche Herkunft als auch auf den Veröffentlichungszeitpunkt der Quellen ein breites Spektrum abzudecken. So kann es z. B. nicht ausbleiben, dass neben Pädagogen des 19. Jahrhunderts, wie etwa Karl Raumer, Matilda Pullan oder Jeanne Louise Campan, mit Joachim Heinrich Campe, John Gregory oder Jean-Jacques Rousseau auch die prägenden Autoren des ausgehenden 18. Jahrhundert betrachtet werden, zumal sich die Erstgenannten oftmals explizit auf ihre Vorgänger berufen. In einem zweiten Teilbereich werde ich stellvertretend sowohl für das Konzept der Empfindsamkeit (sensibility/sensibilité) als auch für die Begründung der Gattung Verführungsroman verschiedene Romane des 18. Jahrhunderts in ihrer Vorbildfunktion für spätere Texte untersuchen. Im Einzelnen sollen dazu Samuel Richardsons Clarissa (1747/48), Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) und die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) von Sophie von La Roche herangezogen werden. Normative Vorstellungen von Weiblichkeit und die damit assoziierte Attribution der Prinzipien Verstand und Gefühl, wie ich sie aus den beiden oben genannten Teilbereichen herausarbeiten möchte, lassen sich anschließend vergleichend mit Romanen des 19. Jahrhunderts interpretieren. Unter der Bedingung, dass ich im Gegensatz zu Christine Lehmann der Auffassung bin, dass bereits eine – im Sinne eines Prüfungsromans – versuchte Verführung, die von der Heldin erfolgreich abgewehrt wird, die Gattungsbezeichnung Verführungsroman legitimiert, prägt also eine weiter gefasste Definition des Verführungsromans die Auswahl der in diesem dritten Teilbereich zu untersuchenden Romane. Unter dieser Voraussetzung bietet sich aus dem Bereich der englischen Literaturgeschichte zunächst Jane Austens Roman Sense and Sensibility (1811) zur Analyse an, dem der Gegensatz von Verstand und Gefühl bereits im Titel programmatisch voransteht und der außerdem direkt in der Tradition Richardsons zu lesen ist, mag auch Austens Konzept der sensibility ein gänzlich



Zur Methodik 

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anderes als das ihres Vorgängers sein. Was die Darstellung von weiblicher Normabweichung angeht, ist außerdem Emily Brontës Wuthering Heights (1847) eine nähere Betrachtung wert. Aus der französischen Romanliteratur werde ich mit George Sands Indiana (1832) einen relativ unbekannten Roman in meine Untersuchung mit einbeziehen, der im Unterschied zu den meisten der von mir gewählten Texte nahezu eine Utopie weiblicher Lebensführung entwirft. Im Bereich der deutschen Literatur steht Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95) als der deutsche Verführungsroman schlechthin zur Diskussion. Die Betrachtung dieses Textes wird meine Untersuchung nicht nur des Zeitpunkts seiner Veröffentlichung halber abrunden, sondern darüber hinaus illustrieren, wie alltäglich Verführung als literarisches Thema zum Ausgang des 19. Jahrhunderts hin geworden ist. Mit dieser nur grob skizzierten Gliederung verbinden sich mehrere Fragestellungen. Im Anschluss an die im dritten Schritt stattfindende Analyse des primären Gegenstandes der geplanten Arbeit – des Verführungsromans im 18. und 19. Jahrhundert – ist zunächst zu erhellen, inwieweit sich die Darstellung des Konflikts zwischen Verstand und Gefühl im Roman des 19. Jahrhunderts von der literarischen Behandlung dieser Problematik im vorigen Jahrhundert unterscheidet. Daran, dass an dieser Stelle Divergenzen zu verzeichnen sind, besteht wenig Zweifel. Weibliche Romanfiguren nach 1800 erproben sich viel stärker als zuvor, sie fallen aus der Rolle und ignorieren das Diktat des Geschlechtscharakters. Weibliche Heldinnen nähern sich dem männlichen Handlungspersonal im Roman des 19. Jahrhunderts dadurch an, dass sie als aktiv und insistent normabweichend dargestellt werden. Zwar wurden weibliche Normabweichungen bereits vor 1800 dargestellt, im Unterschied zu früheren Epochen fungiert die atypische Frau im Roman des 19. Jahrhunderts jedoch nicht länger nur als abschreckendes Exempel, sondern wird eigentliche Heldin. Sicherlich stößt die nonkonforme Romanheldin auch im 19. Jahrhundert früher oder später an die von der patriarchalen Gesellschaft determinierten Grenzen. Der wesentliche Unterschied zwischen ihr und ihren Vorgängerinnen liegt m. E. jedoch in der Vehemenz, mit der die Heldin des 19. Jahrhunderts die Realisierung eines von zwei Extremen versucht, wohingegen Protagonistinnen im 18. Jahrhundert eher die erahnte Handlungsenge zwischen den Oppositionen Verstand und Gefühl als Konflikt erleben, ohne tatsächlich einer Seite gemäß zu handeln. Meine These ist es, dass sich die Diskrepanzen zwischen dem Verführungsroman des 18. und dem des 19. Jahrhunderts vor allem auf einen Wandel im Bild des Geschlechtscharakters zurückführen lassen, der sich nach 1800 vollzieht. Diesen Wandel werde ich anhand des pädagogischen Diskurses der Ratgeberliteratur aufzeigen. Ich vermute, dass man die Frau nach 1800 nicht länger als von Natur aus sanftmütig definiert, obwohl diese Eigenschaft nach wie vor zum Idealbild der Frau gehört. Während weibliche Sanftmut und Güte vor 1800 kaum in Frage gestellt werden, insofern gegentei-

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lige Charakterisierungen gar nicht erst Eingang in den Diskurs finden, sieht man im Laufe des 19. Jahrhunderts offenbar vermehrt die Notwendigkeit, unliebsame Seiten des weiblichen Geschlechtscharakters zu thematisieren. Entsprechend wird mit großer Beharrlichkeit und einigem rhetorischen Aufwand vor der affektiven Heftigkeit der Frau, vor Unbeherrschtheit und Hysterie gewarnt. Ausgehend von der Grundannahme, die zentrale Problematik des Verführungsromans als Darstellungsform spezifisch weiblicher Themen sei vorwiegend auf den Konflikt zwischen Verstand und Gefühl zurückführen, lassen sich weitere spezifisch weibliche Oppositionsparadigmen beobachten, innerhalb derer die literarische Darstellung des Konflikts stattfindet, etwa ein Widerspruch zwischen romantischer Liebe und Ehe sowie der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft. In jedem Fall kommt der gynozentrische Roman nicht ohne die Thematisierung jenes widersprüchlichen Verhältnisses zwischen emotionalen und rationalen Gesichtspunkten aus. Ob Romanheldinnen sich dem Geschlechtscharakterdiktat entsprechend stets für den ‚Weg des Herzens‘ entscheiden und ausschließlich gefühlsbestimmt handeln, dem wird innerhalb der Arbeit nachgegangen. Diese Annahme lässt sich jedoch bereits an dieser Stelle in Zweifel ziehen, auch und vor allem deshalb, weil seit Beginn des 19. Jahrhunderts gerade solche Protagonistinnen die literarische Bühne betreten, die sich von ihren Vorgängerinnen eben dadurch unterscheiden, dass sie sich eigensinnig verhalten.

2 Normative Konzepte von Weiblichkeit in erzieherischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts Um gesellschaftliche Setzungen von normativer Weiblichkeit und die damit verbundene zeitgenössische Attribuierung der Prinzipien Verstand und Gefühl näher bestimmen zu können, soll neben belletristischen Texten zunächst ein ‚lebensnahes‘ Medium herangezogen werden: Pädagogische Handbücher und Lebenshilfen für Mädchen und junge Frauen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts sollen untersucht werden, um die darin enthaltenen Darstellungen des weiblichen Geschlechtscharakters später in Bezug zu prominenten literarischen Entwürfen der Zeit setzen zu können. Im Unterschied zum literarischen dürfen dem pädagogischen Diskurs fraglos moralisierende bzw. „disziplinierende“ Intentionen unterstellt werden.1 Die Untersuchung mädchenpädagogischer Texte soll zunächst darüber Aufschluss geben, auf welche Weise die Ratgeberliteratur den weiblichen Geschlechtscharakter festschreibt und ob bzw. wie sich diese Festschreibungen über den Verlauf des zu untersuchenden Zeitrahmens, vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts, etablieren oder verändern werden.2 Dabei soll schwerpunktmäßig die Frage betrachtet werden, wie sich die Prinzipien Verstand und Gefühl innerhalb der Darstellung des weiblichen Geschlechtscharakters positionieren bzw. inwiefern normative Setzungen von idealtypischer Weiblichkeit einen weiblichen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl evozieren. Das Fachgebiet, dem das hier zu untersuchende Quellenmaterial entstammt, stellt insgesamt ein äußerst breites Feld dar. Tatsächlich formiert sich die Pädagogik just im 18. Jahrhundert zu einer eigenständigen Disziplin. Während John Locke bereits 1690 in seinem Essay Concerning Human Understanding die Vorstellung von der Formbarkeit des Menschen zur Diskussion gestellt hat, entsteht 1779 der erste deutsche Lehrstuhl für Pädagogik. Im Rahmen der so oft zitierten

1 Dies bestätigen Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter in ihrer Einleitung zu der unlängst erschienen interdisziplinären Herausgeberschrift Emotionen: „In künstlerischen Medien werden Emotionen oft in all ihrer Widersprüchlichkeit, Intensität und Lust performativ aufgeführt bzw. repräsentiert und evoziert und entfernen sich so von den abstrakten ideologischen Konzepten, auf denen sie basieren.“ Daniela Hammer-Tugendhat u. Christina Lutter: „Emotionen im Kontext. Eine Einleitung“, in: Emotionen, hg. v. Christina Lutter u. Daniela HammerTugendhat, Bielefeld: Transcript 2010 (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften), S. 11f. 2 Für den Bereich der conduct books im Großbritannien des ausgehenden 18. Jahrhundert hat Silvia Mergenthal bereits eine ausführliche Studie vorgelegt. Vgl. Silvia Mergenthal: Erziehung zur Tugend. Frauenrolle und der englische Roman um 1800, Tübingen: Niemeyer 1997 (= Buchreihe der Anglia, Bd. 34).

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Epochenschwelle „um 1800“ erscheinen zudem zahlreiche Schriften, die heute durchaus als Klassiker der Pädagogik bezeichnet werden dürfen, beispielsweise Jean-Jacques Rousseaus Émile ou De l’éducation von 1762 oder auch Johann Heinrich Pestalozzis methodisches Grundlagenwerk Wie Gertrud ihre Kinder lehrt aus dem Jahr 1801. Nicht wenige der hier zu untersuchenden AutorInnen beziehen sich auf diese Vordenker. Insgesamt erfährt das Thema Erziehung breite Aufmerksamkeit, so dass sich das Lesepublikum spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts einer Vielzahl an pädagogischen Publikationen gegenüber sieht. Vor allem der Spezialdiskurs um die Erziehung der Mädchen erweist sich als gern gewähltes Thema in der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, das von männlichen und weiblichen Autoren gleichsam bearbeitet wird.3 Ebenso wie sich die Geschlechterrollen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert voneinander unterscheiden, so weichen zwangsläufig auch die Idealvorstellungen geschlechtsspezifischer Erziehung voneinander ab. Da die Frau um 1800 keineswegs dieselbe Stellung innerhalb der bürgerlichen Ordnung einnimmt wie der Mann, muss sich auch ihre Erziehung von der seinen unterscheiden, dieser Zusammenhang wird in den zu untersuchenden Quellentexten immer wieder hervorgehoben. Die verschiedenen Schriften über Erziehung und Bildung der Frau thematisieren gleichsam ihre gesellschaftliche Stellung und entwerfen somit ein Idealbild von Weiblichkeit, das letztlich durch das jeweils propagierte Erziehungsprogramm realisiert werden soll. Um also die den Frauen zugedachte Rolle im gesellschaftlichen Gefüge zu legitimieren, werden oftmals sehr pauschale Charakterisierungen des weiblichen Geschlechts vorgenommen. Damit formiert sich eine Disziplin, die äußerst konkrete Aussagen über idealtypische Weiblichkeit trifft und die Frau überhaupt erst konzipiert.4 Die folgende Untersuchung soll nicht etwa die Geschichte der Mädchenerziehung in ihrer Gesamtheit nachvollziehen, vielmehr soll anhand exemplarischer Texte die Substanz des zeitgenössischen Frauenbildes, um dessen Aufrechterhaltung sich die Ratgeberliteratur bemüht, herausgestellt werden. Im Vorder-

3 In diesem Zusammenhang spricht Lydia Schieth in ihrem Nachwort zu Karoline von Wobesers Elisa oder das Weib wie es seyn sollte vom „Alibi der Erziehung fürs weibliche Geschlecht“, das zahlreiche Schriftsteller zur Publikation bewegte. Vgl. Lydia Schieth: „Nachwort“, in: Wilhelmine Karoline von Wobeser: Elisa oder das Weib wie es sein sollte, hg. v. Lydia Schieth, Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1990 (= Nachdruck der Ausg. Leipzig 1799), S. 20*. 4 Anja Müllers Feststellung, dass das Kind weniger den Ausgangspunkt als vielmehr das Resultat erzieherischer Debatten im 18. Jahrhundert markiert, lässt sich durchaus auf die Frau und den Geschlechtscharakterdiskurs übertragen. Vgl. Anja Müller: Framing Childhood in Eighteenth-Century English Periodicals and Prints, 1689–1789, Farnham: Ashgate 2009 (= Ashgate Studies in Childhood, 1700 to the Present), S. 233.



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grund der Untersuchung steht dabei die jeweilige Attribuierung von Verstand und Gefühl als charakterliche Dispositionen. Ich nehme zunächst einmal an, dass dem weiblichen Geschlecht innerhalb erzieherischer Schriften im 18. und 19. Jahrhundert eine größere Neigung zu gefühlsmäßigen Werten zugeschrieben wird. Darin besteht weitestgehend Einigkeit unter den AutorInnen, allerdings lassen sich Unterschiede in der anschließenden Bewertung dieser Disposition erwarten. Weibliche Emotionalität kann sowohl als Schwäche wie auch als Stärke interpretiert werden; es wird zu fragen sein, mittels welcher Rhetorik die einzelnen Diskursteilnehmer ihre Aussagen bezüglich weiblicher Gefühlsbetonung mit der herkömmlichen Vorstellung von weiblicher Tugend in Einklang bringen. Des Weiteren soll Aufschluss darüber gegeben werden, inwieweit sich das jeweilige Themenspektrum der Erziehungsratgeber verändern wird. Bereits anhand einer oberflächlichen Bewertung des Quellenmaterials, von den frühfeministischen Schriften Theodor Gottlieb von Hippels und Mary Wollestonecrafts im ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zur sogenannten Backfischliteratur5 gegen Ende des 19. Jahrhunderts, lässt sich die Vermutung anstellen, dass hier eine Bewegung ins Triviale zu verzeichnen ist, dass also diskursive Beiträge zum Thema Mädchenerziehung immer konkreter werden und etwa praktische Anweisungen zur Haushaltsführung geben. Gerade gegen Ende des Untersuchungszeitraums wird eine Verstärkung der Positionen, die die Frau aus dem öffentlichen Raum ausschließen und deshalb ihre vorrangige Aufgabe im privaten Bereich der liebenden Fürsorge für Familie und Haushalt sehen, zu erwarten sein. Was Birgit Wägenbaur als ‚Erziehung zur Liebe‘ an der Epochenschwelle um 1800 ansiedelt, wird sich m. E. im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärken, nicht zuletzt da radikalemanzipatorische Stimmen hier vorübergehend verstummen.6 In Bezug auf die Problemstellung eines möglichen Konflikts zwischen vernunft- und gefühlsmäßi-

5 Dagmar Grenz unterscheidet mit dem Term Backfischliteratur erzählende Mädchenliteratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie etwa Emmy von Rhodes Trotzkopf (1885) oder die Nesthäkchen-Reihe Else Urys von den moralisch-belehrenden Schriften des 18. Jahrhunderts. Vgl. Dagmar Grenz: Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 1981. Ich vertrete hingegen die Auffassung, dass sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts moralischbelehrende Schriften für die jugendliche Leserin finden, die sich aufgrund einer zur Konvention gewordenen Tradition von Mädchenratgebern, die eigens als Konfirmationsgabe konzipiert sind, ebenfalls als Backfischliteratur bezeichnen lassen. Beispiele dafür wären etwa Julie Burows Herzensworte (1859) oder Johanna von Sydows Behalte mich lieb! (1881). 6 Vgl. Birgit Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe. Weiblichkeitsentwürfe um 1800, Berlin: Schmidt 1996 (= Geschlechterdifferenz & Literatur. Publikationen des Münchener Graduiertenkollegs, Bd. 4). Siehe v. a. Kapitel I. Die Liebe: Erziehung zur natürlichen Bestimmung, S. 19ff.

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

gen Positionen als weibliches Dilemma bedeutet dies nun, dass normative Weiblichkeit im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert insofern zu einem Problem wird, als die Frau zwar mit Kopf und Herz agieren soll, beide Positionen aber kultivieren und mäßigen soll. Weder übersteigerte Emotionalität noch kalte Rationalität stellen laut Pädagogik wünschenswerte Konzepte dar, stattdessen hat sich die Frau in der goldenen Mitte einzufinden. Die Untersuchung der einzelnen Quellentexte wird zeigen, dass idealtypische Weiblichkeit stets an die Prinzipien eines vernünftigen Gefühls einerseits und einer (mit-)fühlenden Vernunft im Sinne des common sense andererseits gekoppelt wird. Nachdem zunächst auf den Begriff des Geschlechtscharakters eingegangen werden soll, um die Frage zu klären, inwiefern sich Erziehungsratgeber als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses lesen lassen, soll im Anschluss eine Analyse verschiedener Quellen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts zur Mädchenerziehung stattfinden. Um die Fülle des Quellenmaterials zu strukturieren, bietet sich zunächst eine Klassifizierung nach formalen Gesichtspunkten an: In einem ersten Abschnitt werde ich näher auf die Entstehung der spezifischen Mädchenpädagogik eingehen. Dazu soll neben Fénelons De l’éducation des filles auch Rousseaus Émile ou De l’éducation betrachtet werden, obwohl die Frau und ihre Erziehung hier nur am Rande behandelt wird. Im Anschluss soll die Frage der Frauenbildung und Mädchenerziehung aus zweierlei Richtungen betrachtet werden: Zuerst möchte ich die Frage aufwerfen, wozu Mädchen und Frauen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert erzogen werden sollen. Dazu widme ich mich einigen Texten über Mädchenerziehung und Frauenbildung, die rein formal nicht den Ansprüchen einer Ratgeberliteratur genügen, sondern grundsätzlich das Problem behandeln, worin die Bestimmung des weiblichen Geschlechts besteht und inwiefern es einer eingehenden Erziehung und Bildung überhaupt bedarf. Insgesamt sollen diese Texte das Spannungsfeld verdeutlichen, innerhalb dessen sich die einzelnen Diskursbeiträge positionieren. Sie führen außerdem musterhaft vor, dass der Diskurs als rhetorisches Spiel zu verstehen ist, also eine willkommene Möglichkeit für Literaten, ihre Sprachgewandtheit unter Beweis zu stellen. Anschließend soll in einem zweiten Schritt die Frage gestellt werden, wie junge Mädchen erzogen werden sollen. Dabei richtet sich mein Augenmerk schließlich auf die konkrete Ratgeberliteratur. Neben solchen Werken, deren Ratschläge und Anweisungen für Eltern und Erzieher bestimmt sind, sollen hier schwerpunktmäßig AutorInnen betrachtet werden, die sich direkt an das zu erziehende Subjekt, also das Mädchen bzw. die junge Frau, richten. Zuletzt sollen drei Erziehungsschriften betrachtet werden, die ihre Lehren in Form eines Romans darbieten. Eine methodische Besonderheit gilt für das gesamte Kapitel: Die Quellen sollen zunächst unabhängig von ihrer nationalen Herkunft innerhalb größerer Gruppen, die sich an inhaltlichen Gesichtspunkten orientieren,



Mädchenpädagogische Ratgeber als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses 

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untersucht werden. Internationale Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten sollen erst in einem zweiten Schritt herausgearbeitet werden. Es versteht sich, dass auch chronologische Geschichtspunkte den inhaltlichen untergeordnet werden.

2.1 Mädchenpädagogische Ratgeber als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses Nach Karin Hausen bezeichnet der Begriff des Geschlechtscharakters die Auffassung von einer funktionalen psychischen Geschlechterdifferenz.7 Laut dem entsprechenden Diskurs besitzen Mann und Frau von Natur aus spezifische Eigenschaften, die sie für ihre jeweiligen Aufgabenbereiche prädestinieren.8 Die Behauptung von der natürlichen Gegebenheit traditioneller Rollenmuster geht einher mit der strikten Trennung der geschlechtsspezifischen Tätigkeitsfelder, so wird die öffentliche Sphäre des Erwerbslebens als männlich definiert, wohingegen die Frau den Rückzug in die familiäre Idylle anzutreten hat. Die Programmatik des Geschlechtscharakterdiskurses formiert sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und entfaltet seine Gültigkeit bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Zu Recht macht Hausen darauf aufmerksam, dass dieses mentalitätsgeschichtliche Phänomen im Kontext des sozialgeschichtlichen Wandels vom „ganzen Haus“ zur bürgerlichen (Klein-)Familie entsteht.9 Das sich emanzipierende Bürgertum, das sich maßgeblich über seine Bildung definiert, löst sich vom Dogma der göttlichen Vorsehung und wendet sich mit dem Glauben an vermeintlich natürliche Gegebenheiten einer wissenschaftlichen Autorität zu.10 Aus biologischen Erkenntnissen werden soziale und psychische Geschlechtsunterschiede abgeleitet. Wie Thomas Laqueur herausgestellt hat, ist das Modell zweier Geschlechter eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, im Gegensatz zum vormaligen Ein-GeschlechtModell, bei dem die Frau lediglich als defizitäres Negativ des Mannes gedacht wurde.11 Im Bürgertum reagiert man auf die „natürlichen Gegebenheiten“ mit

7 Vgl. Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“, S. 363. 8 Meiner Untersuchung liegt grundsätzlich der Diskursbegriff Foucaults zugrunde, der als diskursive Praxis „un ensemble de règles anonymes, historiques, toujours déterminées dans le temps et l’espace qui ont défini à une epoque donné, et pour un aire sociale, économique, géographique ou linguistique donnée, les conditions d’exercice de la fonction énonciative“ bestimmt. Michel Foucault: L’Archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969, S. 153f. 9 Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“, S. 370f. 10 Darauf macht insbesondere Dagmar Grenz aufmerksam. Vgl. Grenz: Mädchenliteratur, S. 19. 11 Vgl. Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge/ Mass.: Harvard University Press 1990, S. 149. Laqueur kommt zu dem Schluss, dass sich die Ima-

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der Dissoziation von öffentlicher und privater Sphäre und einer entsprechenden Zuordnung der Geschlechter aufgrund ihrer jeweiligen charakterlichen Dispositionen. Die korrespondierenden männlichen und weiblichen Charakteristika erweisen sich jeweils als binäre Oppositionen. Während dem Mann also Aktivität, Rationalität und generelle Tugend zugeschrieben werden, verfügt die Frau über Passivität, Emotionalität und einzelne Tugenden.12 Vor allem die Assoziation von Weiblichkeit und Emotionalität wird von zahlreichen Autoren in den Fokus gerückt. Friedrich August von Ammon definiert den weiblichen Charakter in seiner Einleitung zu Darwin’s und Hufeland’s Anleitung der physischen und moralischen Erziehung des weiblichen Geschlechts folgendermaßen: Die Grundzüge des weiblichen Charakters sind: Zartheit des Gefühls, Weichheit, Sanftheit, Milde, Biegsamkeit im Physischen wie im Psychischen; große Geneigtheit Eindrücke aufzunehmen, geringe Selbstständigkeit nach außen zu wirken; leichte Erregbarkeit und Beweglichkeit, und dabei eine mächtige innere Ausdauer, daher zum Ertragen von Schmerzen und anderen Leiden mehr gemacht als das männliche Geschlecht; weniger physische Stärke, und daher mehr Schüchternheit, aber auch mehr Bescheidenheit und Schamhaftigkeit, mehr Sinn für Schönheit und Grazie; weniger Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit, aber größere Tiefe des Gefühls; daher mehr geeignet für das innere Leben, das Leben des Gefühls und des Herzens, als für das äußere, mehr für die steilen und sanften Tugenden, die Andere beglücken, als für das glänzende und heroische Taten, die die Welt in Erstaunen setzen, mehr zum Gefallen, als zum Beherrschen, mehr für die Gewalt des Herzens als für die des Verstandes; durch alles dies aber vorzüglich empfänglich für die Himmelstugend: Liebe, Glaube, Hoffung und Treue.13

Es braucht kaum betont zu werden, welches hierarchische Verhältnis den oppositionellen Paarungen Aktivität/Passivität, Rationalität/Emotionalität oder auch Tun/Sein zugrunde liegt.14 Auch unterliegt die weibliche Gefühlsbetonung der

gination von Geschlechtsunterschieden tatsächlich weniger an biologischen Erkenntnissen, als vielmehr zeitaktuellen rhetorischen Forderungen orientierte. Vgl. ebd., S. 243. 12 Vgl. die von Hausen erstellte tabellarische Gegenüberstellung von geschlechtsspezifischen Charaktereigenschaften. Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“, S. 368. 13 Friedrich August von Ammon: „Einleitung“, in: Darwin’s und Hufeland’s Anleitung der physischen und moralischen Erziehung des weiblichen Geschlechts, hg. v. Friedrich August von Ammon, Leipzig: o. V. 1860, S. 1f. Zit. nach Birgit Panke-Kochinke: Die anständige Frau. Konzeption und Umsetzung bürgerlicher Moral im 18. und 19. Jahrhundert, Pfaffenweiler: Centaurus 1991, S. 7. 14 Auf die Hierarchie der Geschlechtscharaktereigenschaften Rationalität und Emotionalität weist insbesondere Monika Simmel hin: „Gegen die behauptete Gleichrangigkeit von Ratio und Emotion als den beiden Seiten von menschlicher Fähigkeit, spricht die gesellschaftliche Geltung



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männlichen Entsprechung, denn auch männliche Emotionalität ist im Zeitalter der Empfindsamkeit denkbar. Der emotionsbezogene Geschlechtsunterschied, wie ihn das 18. Jahrhundert heraufbeschwört, wird besonders pointiert von Kant beschrieben: „Sie ist empfindlich, Er empfindsam.“15 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts spitzen sich die pejorativen Implikationen der als weiblich definierten Eigenheiten drastisch zu.16 Auch Friedrich August von Ammon stimmt dem bei, indem er darauf hinweist, dass Gefühlsbezogenheit stets auch Gefahren für die Sittlichkeit birgt. Entsprechend nennt er als Quelle vieler Verirrungen des weiblichen Geschlechts: Herrschaft der Phantasie, romanhafte Denkart, Aberglaube, Schwärmerei, Eitelkeit, Gefallund Putzsucht, große kränkliche Reizbarkeit und Empfindlichkeit, völlige Schwäche. Willenlosigkeit und Unthätigkeit, oder Eigensinn und Trotz, gänzliche Hingebung an Gefühle und Leidenschaften, ja zuletzt die höchste Unsittlichkeit und Verworfenheit, wenn die Unschuld und Reinheit des Herzens verloren, und das Licht und die Kraft der Religion aus derselben zurückgewichen sind, welche allein dem weiblichen Wesen die rechte Haltung und Richtung geben kann.17

Derartige Aussagen über die potenzielle Bedrohung des weiblichen Geschlechts verdeutlichen die Notwendigkeit des Diskurses, an die Konzeption der Geschlechtscharaktere zugleich ein Bildungsprogramm zu koppeln. Dieses muss wiederum nur auf dem Postulat des natürlichen Geschlechtscharakters beharren, der sich bei der Frau insbesondere auch aus Aufrichtigkeit und Naivität speist. Damit ist der weibliche Geschlechtscharakter per se ein Garant für Tugend, so Georg Stanitzek: „Die [den Frauen] von Natur anhaftende Blödigkeit soll sie hindern, ihr Glück auf eine Weise zu suchen, welche den Bestimmungen des Geschlechtscharakters zuwiderläuft.“18 Zweifelsfrei sollen Frauen gefühlsbetont

einer hierarchischen Zuordnung. Die Rationalität steht immer über der Emotionalität, dies gilt sowohl für die Wertschätzung der Arbeitsleistungen wie für die gesellschaftliche und politische Einflußchance der Rationalität gegenüber Werten der Emotionalität.“ Simmel: Erziehung zum Weibe, S. 163. 15 Immanuel Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII: Der Streit der Fakultäten, Berlin: Reimer 1973 (= 2. Nachdruck der Ausg. 1917), S. 307. 16 In diesem Zusammenhang soll insbesondere auf zwei um die Jahrhundertwende erschienene misogyne Texte verwiesen werden, zum einen Paul Möbius’ Schrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes von 1900 und die 1903 veröffentlichte Abhandlung Otto Weiningers, Geschlecht und Charakter. 17 Ammon: „Einleitung“, S. 1f. Zit. nach Panke-Kochinke: Die anständige Frau, S. 8. 18 Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1989 (= Hermaea. Germanistische Forschungen, N. F., Bd. 60), S. 236.

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sein, die erwünschte Emotionalität umfasst jedoch lediglich als moralisch vertretbar anerkannte Gefühle. Aufgabe der geschlechtsspezifischen Erziehung ist es demnach, Mädchen zu einer Form der Gefühlsbetonung anzuleiten, die sich im Rahmen der Mutter- und Gattinnenrolle nach außen nutzbar machen lässt. Lobenswerte weibliche Emotionalität lässt sich dementsprechend als einfühlende Sensibilität kennzeichnen, also als altruistische Kompetenz.19 Indem nun der Diskurs Frauen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausschließt, erweist er sich als rhetorische Strategie zur „ideologischen Absicherung von patriarchalischer Herrschaft“20. Die der Aufrechterhaltung des herrschenden Geschlechterverhältnisses dienlichen weiblichen Charakterbestimmungen finden nirgends eine so klare Formulierung wie in Erziehungs- und Anstandslehren der Zeit. Aus diesem Grund können mädchenpädagogische Texte des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts durchaus als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses betrachtet werden. Wie Günter Häntzschel bestätigt, wirken Anstandsbücher für Frauen, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erscheinen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit erreichen und erst nach dem Ersten Weltkrieg allmählich verebben,21 „in hohem Grade normerhaltend“22. In ihrem präskriptiven Charakter lassen sie sich deshalb als normatives Programm einer als idealtypisch anerkannten Weiblichkeit lesen.23 Die Programmatik der erzieherischen Mädchenliteratur lässt sich zusammenfassend als Erziehung zur Liebe bezeichnen.24 Das Gros der ratgebenden Texte postuliert die Übereinstimmung von weiblicher Pflicht und Neigung. Demnach erledigen Frauen ihre häuslichen Aufgaben nicht deshalb, weil sie vernünftigerweise die Notwendigkeit begreifen, diese Pflichten zu erfüllen, sondern weil

19 Dem pflichtet auch Karin Hausen bei, indem sie auf die Gegenüberstellung von männlichem Denken und weiblicher Rezeptivität hinweist. Vgl. Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“, S. 368. 20 Ebd., S. 375. 21 Vgl. Günter Häntzschel: „Einleitung“, in: Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850–1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation, hg. v. Günter Häntzschel, Tübingen: Niemeyer 1986 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 15), S. 4f. 22 Ebd., S. 14. 23 Dieser Auffassung pflichtet auch Michaela Jonach bei, die Joachim Heinrich Campes Vätherlicher Rath an meine Tochter als ein Beispiel des normativen Entwurfs von idealtypischer Weiblichkeit betrachtet. Dabei geht die Autorin vor allem solchen Zuschreibungen nach, die Weiblichkeit an dezidiert bürgerliche Tugenden bindet. Vgl. Michaela Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und Jean-Jacques Rousseau, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1997, S. 131. 24 Vgl. Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe, S. 34.



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ihnen diese Arbeit am Herzen liegt. Das weibliche Geschlecht soll es sich zur Herzensangelegenheit machen, seine Geschlechterrolle adäquat auszufüllen, darum werden haushälterische Tätigkeiten nicht Arbeit genannt, wie Barbara Duden schreibt, sondern in ‚Liebesdienste‘ um- bzw. aufgewertet.25 Dieses Erziehungsziel bildet die maßgebliche Bedingung dafür, dass idealtypische Weiblichkeit eng an die Eigenschaft emotionaler Sensibilität geknüpft wird. Die enorme Bedeutung, die dem weiblichen Gefühl seitens erzieherischer Texte beigemessen wird, konstatiert auch Brigitte Leierseder: Ihrer Ansicht nach stellt Gefühlsbezogenheit die Grundlage des weiblichen Lebenszusammenhangs dar.26 In diesem Kontext findet auch eine Diskussion über das rechte Verhältnis zwischen Gefühl und Verstand statt. Wie Leierseder bestätigt, wird der Frau zwar durchaus Vernunftbegabung abverlangt, jedoch nicht in dem Maße, wie dem männlichen Geschlecht: Im Gegensatz zu dem heranwachsenden Mann, dem Qualitäten wie analytische Schärfe, Gierigkeit und kritische Neugierde zugestanden und abverlangt werden, ist der weibliche Verstand nach zeitgenössischer Meinung eher auf „Praktisches“ und „Anschauliches“ ausgerichtet; dazu tritt seine enge Verbindung mit dem Gefühl als entscheidendem Movens weiblicher Gedanken und Handlungen27.

Während Weiblichkeit also dem Prinzip des Gefühls verhaftet bleibt, wogegen der Verstand männlich konnotiert wird, sieht der Diskurs doch die Notwendigkeit, vernünftige Dispositionen wie Besonnenheit und Einsicht in den Kanon weiblicher Tugenden zu integrieren. In dem Bemühen, eine für das weibliche Geschlecht angemessene Form der Rationalität zu definieren, offenbart sich die Problematik, die der Opposition von Verstand und Gefühl in Bezug auf normative Entwürfe von Weiblichkeit im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert innewohnt. Wie Silvia Bovenschen eingehend dargestellt hat, werden die Pole Verstand

25 Dazu Duden: „Liebe wurde genannt, was nach wie vor in Wirklichkeit Arbeit war. [...] Durch die relative Entwertung der gebrauchswertorientierten Arbeit der Frau gegenüber der in Geld bezahlten Tätigkeit des Mannes war auch ein Anstoß gegeben, die Arbeit der Frau neu einzuschätzen: sie konnte idyllisch verklärt werden. Es ist das Wesen der Idylle, die Arbeit der Mühe zu entkleiden und sie in eine schön anzusehende liebende Zuwendung umzuinterpretieren.“ Barbara Duden: „Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert“, in: Kursbuch 47 (März 1977), S. 134. Vgl. außerdem Gisela Bock u. Barbara Duden: „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus“, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Berlin: Courage 1977, S. 118–199. 26 Leierseder, Brigitte: Das Weib nach den Ansichten der Natur. Studien zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenleitbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Diss. masch. München 1981, S. 217f. 27 Ebd., S. 220.

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und Gefühl als Grundlage weiblichen Lebenszusammenhangs im 18. Jahrhundert mittels der Konzepte Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit repräsentiert.28 Die bipolare Ausrichtung dieser Konzepte ist der zeitgenössischen Anschauung von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit der Kategorien Verstand und Gefühl gezollt, auch wenn sich die aufklärerische Philosophie um eine Aussöhnung der scheinbar gegenläufigen Prinzipien bemüht. Da die Kulturformen Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit – es sei noch einmal hervorgehoben – eindeutig dem 18. Jahrhundert entstammen, lässt sich vermuten, dass die mädchenpädagogische Diskussion, die erst mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts an Konjunktur gewinnt, keines dieser Konzepte als wünschenswerten Entwurf von Weiblichkeit vorstellen wird. In der Ausschließlichkeit, mit der sich die Konzepte jeweils um ein Prinzip verdient machen, offenbart sich eine Tendenz zum Exzessiven, die sich mit normativ regulierter Weiblichkeit schwerlich vereinbaren lässt. Dennoch spielen die Pole Verstand und Gefühl innerhalb der geschlechtsspezifischen Sozialisation des 19. Jahrhunderts eine Rolle und zwar, indem sie die Endpunkte einer Skala markieren, in deren Mitte sich idealtypische Weiblichkeit positioniert. Dass Sozialisationsprogramme des 19. Jahrhunderts der Frau stets eine Anpassung abverlangen, verdeutlicht auch der Kontrast, der zwischen dem durch Kunst und Literatur heraufbeschworenen Liebesideal und der Konzeption ehelicher Liebe, wie sie in pädagogischen Texten der Zeit vertreten wird, besteht. Dass die Differenz von romantischer und ehelicher Liebe vor allem das weibliche Geschlecht betrifft, bestätigt auch Birgit Wägenbaur: Die Idee der empfindsam-romantischen Liebe mit ihrem Glücksversprechen, ihrem mit der Freiheit und Gleichheit der Geschlechter gekoppelten Reziprozitätspostulat bestimmt zwar nachhaltig die Diskussion über die Geschlechterdifferenz, bleibt aber in ihrer Radikalität ein Wunschdenken mit geringem Realitätsbezug. Sehr viel pragmatischer versteht sich die Liebe als weibliche Identitätszuweisung. Als wesensmäßige Übereinstimmung von Pflicht und Neigung prädestiniert sie die Frau für ihren dreifachen Beruf. Die Erziehung zur Liebe spielt daher in den pädagogischen Schriften der Zeit eine dominante Rolle, dient sie doch der sozialen Zurichtung des Mädchens.29

Auf die Frage, ob die Grenzen der sozialen Zurichtung, also der Realitätsbezug, dem weibliche Liebe unterworfen ist, schließlich in der schönen Literatur überwunden werden können, wie Dagmar Grenz andeutet,30 wird später einzugehen sein. Festzuhalten bleibt zunächst, dass sich das Glück der Frau laut Geschlechts-

28 Vgl. Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 86. 29 Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe, S. 34. 30 Vgl. Dagmar Grenz: „‚Das eine sein und das andere auch sein...‘. Über die Widersprüchlichkeiten des Frauenbildes am Beispiel der Mädchenliteratur“, in: Wissen heißt leben. Beiträge zur



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charakterdiskurs ausschließlich durch Anpassung realisieren lässt. In diesem Sinne argumentiert auch Johanna Hopfner, die nachweist, dass das „Recht der Person auf ihr selbstbestimmtes Glück“31 nicht für das weibliche Geschlecht gilt. Stattdessen werde „[d]ie weibliche Individualität [...] gerade was die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern betrifft als wesentlich abhängig und nur in dieser Abhängigkeit zur Vollkommenheit gelangend gedacht.“32 Das Produkt einer Erziehung zur Vollkommenheit in Abhängigkeit hat Barbara Duden treffend als charakterliche Festschreibung der Frau als eine „Person ohne Ich“33 beschrieben. Weibliche Sozialisation zielt demnach nicht auf Individuation ab, sondern auf Konformität. Glück im Sinne gesellschaftlicher Anerkennung kann eine Frau folglich nur in der Selbstaufgabe finden.34 Es lässt sich daher anzweifeln, dass der Diskurs zeitgenössische Konzeptionen von romantischer Liebe in sein Frauenbild integriert. Tatsächlich müsste er diese Vorstellung ignorieren, zugunsten einer moralisch wertvolleren Liebeskonzeption, die sich durch Mäßigung und Dauerhaftigkeit auszeichnet. Idealtypische Weiblichkeit, das wird die folgende Analyse vorführen, präsentiert sich stets als Ausgleich extremer Positionen, deren Thematisierung ja bereits das Bewusstsein von einem möglichen Konflikt widerstreitender Positionen birgt. Im Folgenden wird nun zu zeigen sein, inwiefern der Widerspruch von Verstand und Gefühl das zeitgenössische Frauenbild prägt. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise die Prinzipien Verstand und Gefühl im Sozialisationsprogramm des 18. und 19. Jahrhunderts zutage treten und inwieweit sie in den propagierten Verhaltenskodex aufgenommen werden.

2.2 Die Formierung des Diskurses: Zur Entstehung der Mädchenpädagogik Ihre eigene ‚Erziehbarkeit‘ hat die Menschen offenbar schon in der Antike bewegt. In der frühen Neuzeit jedoch, vor allem im Rahmen des Zeitgeistes der Aufklärung, entwickelte sich die Pädagogik zu einer eigenständigen, viel diskutierten Disziplin. Philosophische Konzeptionen über das Wesen des Menschen,

Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. v. Ilse Brehmer u. a., Düsseldorf: Schwann 1983 (= Frauen in der Geschichte, Bd. 4), S. 297. 31 Hopfner: Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800, S. 142. 32 Ebd. 33 Duden: Das schöne Eigentum, S. 125. 34 Vgl. Hopfner: Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800, S. 184.

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allen voran John Lockes Idee des Tabula rasa, bildeten ein solides Fundament für lebensnahe, d. h. praktischere Schriften über Erziehung. Dabei fällt auf, dass die Debatte über Erziehungspraktiken und -methoden innerhalb eines gesamteuropäischen Kontexts stattfindet. So erscheinen 1774 posthum die Letters to His Son des vierten Earl of Chesterfield, Philip Dormer Stanhope, im deutschen Sprachraum oft kurz Lord Chesterfield genannt. Verfasst wurden die Briefe, die Chesterfield tatsächlich an seinen heranwachsenden Sohn sandte, bereits um 1737. In Frankreich macht Jean-Jacques Rousseau mit seiner Erziehungsschrift Émile ou De l’éducation (1762) auf sich aufmerksam und Johann Heinrich Pestalozzi kann wohl als einflussreichster deutschsprachiger Pädagoge bewertet werden. Seine methodische Erziehungskonzeption, basierend auf Lienhard und Gertrud (1781–1787) sowie Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801) wird von vielen der hier zu untersuchenden AutorInnen affirmativ aufgenommen, ebenso wie einer Vielzahl englischsprachiger Autoren die Rezeption Lockes nachgewiesen werden kann. Die genannten Pädagogen verdienen durchaus, zu den „Klassikern“ ihres Fachs gezählt zu werden, allerdings hat sich keiner von ihnen mit einer speziellen Mädchenpädagogik beschäftigt, auch wenn Rousseau Émiles Gefährtin Sophie ein eigenes Kapitel in seiner Erziehungsschrift widmet und auch der Titel von Pestalozzis Werk Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, wie schon Pestalozzi selbst bemerkte, den Leser irreführen könnte, da der Titel eine eher praktisch ausgelegte Anleitung zu Erziehungsfragen erwarten lasse. Tatsächlich aber legt Pestalozzi seine Methode hier mit wenig Bezug zur Praxis dar. Da sich darüber hinaus zeigt, dass Pestalozzi kein stringentes Geschlechtermodell in seinem Werk entwirft, wie Chantal Riedo nachgewiesen hat, besitzen seine Texte kaum Relevanz für meine Untersuchung.35 Dasselbe gilt für Chesterfield, dessen Briefe ähnlich den Äußerungen Knigges allgemein vom Umgang mit Menschen handeln. Ebenso wie Locke geht es ihm vornehmlich um die Erziehung des Gentlemans, weshalb von beiden an dieser Stelle abgesehen werden darf.36 Von den oben genannten „klassischen“ Autoren soll hier einzig Jean-Jacques Rousseau erörtert werden. Ich werde sein Bild idealtypischer Weiblichkeit, wie er es mit der Figur der Sophie im fünften Buch des Émile entwirft, herausarbeiten, da es als Grundlage vieler fol-

35 Vgl. Chantal Riedo: Wie Gertrud zur Frau wird. Die Konstruktion von Geschlecht im Werk Johann Heinrich Pestalozzis, Zürich: Verlag Pestalozzianum 2004, S. 216f. 36 Locke beansprucht grundsätzlich Allgemeingültigkeit für seine Vorstellungen, räumt aber selbst ein, in erster Instanz das männliche Geschlecht zu fokussieren: „the principle aim of my Discourse is, how a young Gentleman should be brought up from his Infancy, which in all things, will not so perfectly suit the Education of Daughters, though where the difference of sex requires different treatment, ’twill be no hard matter to distinguish.“ John Locke: Some Thoughts Concerning Education, London: Churchill 1693, S. 5.



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gender mädchenpädagogischer Schriften diente. Der Autor, der heute gemeinhin als Begründer der speziellen Mädchenpädagogik gehandelt wird, Fénelon, hat bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert gelebt und publiziert.37 Obwohl sein 1681 erschienenes Traktat De l’éducation des filles also weit aus dem Zeitrahmen der hier zu untersuchenden Quellen herausragt, soll er im Folgenden als prototypischer Text des Genres dennoch gewürdigt werden.

2.2.1 Fénelon als Begründer der Mädchenpädagogik François de Salignac de La Mothe Fénelon, der als Geistlicher einem Mädchenpensionat vorstand, gilt heute als der erste Mädchenpädagoge. Seine Erziehungsschrift De l’éducation des filles (1681) ist vorrangig an die mit der Erziehung von Mädchen beschäftigten Personen gerichtet, seien es die Eltern – im Falle der Mädchenerziehung insbesondere die Mütter – oder aber ErzieherInnen und MentorInnen. Neben äußerst expliziten Handlungsanweisungen für dieses an der Mädchenerziehung beteiligte Personal finden sich in Fénelons Schrift immer wieder auch grundsätzliche Reflexionen über die Beschaffenheit des weiblichen Naturells. Fénelon leitet De l’éducation des filles mit der Feststellung ein, nichts sei bislang mehr vernachlässigt worden als die Mädchenerziehung.38 Nachdem der Autor somit die grundsätzliche Bedeutung der Mädchenerziehung angesprochen hat, widmet er sich den Mängeln der gewöhnlichen Mädchenerziehung. An dieser Stelle spart der Autor nicht mit Kritik, die sich sowohl gegen die Zöglinge als auch an Mütter und Erzieherinnen richtet. Um den Unterschied zwischen Mädchenerziehung und der der Jungen zu verdeutlichen, zeichnet der Autor zunächst ein knappes Charakterporträt des weiblichen Geschlechts: Leur corps aussi bien que leur esprit, est moins fort et moins robuste que celui des hommes; en revanche, la nature leur a donné en partage l’industrie, la propreté et l’économie, pour les occuper tranquillement dans leur maisons.39

37 Vgl. z. B. Simmel: Erziehung zum Weibe, S. 37. 38 Vgl. François de Salignac de La Mothe Fénelon: De l’éducation des filles, in: Ders.: Œuvres complètes, Bd. V: Ouvrages sur le jansénisme, Genf: Slatkine Reprints 1971 (= Nachdruck der Ausg. Paris 1851/52), S. 563. 39 Ebd.

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Es versteht sich von selbst, dass laut Fénelon auch die Erziehung der Mädchen auf das Ziel, eine würdige Hauswirtschafterin zu werden, ausgelegt sein soll. Auf diese Hervorhebung weiblicher Tugenden folgen jedoch einige kritische Anmerkungen. Tatsächlich zieht der Autor das weibliche Geschlecht nicht nur für seine eigenen Schwächen zur Rechenschaft, sondern darüber hinaus auch für die ihrer Ehemänner und Söhne: Enfin, il faut considérer, outre le bien que font les femmes quand elles sont bien élevées, le mal qu’elles causent dans le monde quand elles manquent d’une éducation qui leur inspire la vertu. Il est constant que la mauvaise éducation des femmes fait plus de mal que celle des hommes, puisque les désordres des hommes viennent souvent et de la mauvaise éducation qu’ils ont reçue de leur mères, et des passions que d’autres femmes leur ont inspirées dans un âge plus avancé.40

Insgesamt weist Fénelon auf die unterschätzte Bedeutung einer gründlichen Bildung für Mädchen hin, indem er unge- bzw. verbildete Frauen als Schreckensbilder darstellt, die nicht nur ihr eigenes Seelenheil gefährden, sondern auch ihren gesellschaftlichen Beruf, achtbare Bürger aufzuziehen, verfehlen. [L]es filles mal instruites et inappliquées ont une imagination toujours errante. Faute d’aliment solide, leur curiosité se tourne en ardeur vers les objets vain et dangereux. Celles qui ont de l’esprit s’érigent souvent en précieuses, et lisent tous les livres qui peuvent nourrir leur vanité; elles se passionnent pour des romans, pour des comédies, pour des récits d’aventures chimériques, où l’amour profane est mêlé. Elles se rendent l’esprit visionaire, en s’accoutumant au language magnifique des héros de romans: elles se gâtent même par là pour le monde; car tous ces beaux sentimens en l’air, toutes ces passions généreuses, toutes ces aventures que l’auteur du roman a inventée pour le plaisir, n’ont aucun rapport avec les vrai motifs qui font agir dans le monde, et qui décident des affaires, ni avec les mécomptes qu’on trouve dans tout ce qu’on entreprend.41

Die Warnung vor Romanen und den darin propagierten beaux sentimens gilt also nur für das weibliche Geschlecht, da die Sittlichkeit bei ihnen laut Fénelon aufgrund typisch weiblicher Eigenschaften wie Eitelkeit und Lebhaftigkeit der Affekte stärker gefährdet sei. Was ein mögliches Gegenkonzept zu Affekten und Leidenschaften angeht, so spricht Fénelon sich keinesfalls zugunsten einer nüchternen Vernunft im Sinne wissenschaftlicher Bildung aus. Im Gegenteil tritt er der sogenannten Geistreichtuerei auf Seiten des weiblichen Geschlechts entschieden entgegen.

40 Ebd., S. 564. 41 Ebd., S. 565.



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Ce qui reste à faire, c’est de désabuser les filles du bel esprit. Si on n’y prend garde, quand elles ont quelque vivacité, elles s’intriguent, elles veulent parler de tout, elles décident sur les ouvrages les moins proportionnés à leur capacité, elles affectent de s’ennuyer par délicatesse. Une fille ne doit parler que pour de vrais besoins, avec un air de doute et de déférence; elle ne doit même parler des choses qui sont au-dessus de la portée commune des filles, quoiqu’elle en soit instruite.42

Im Unterschied zum aufklärerischen Gedanken, wonach Gegenpole miteinander versöhnt werden sollen, basiert Fénelons Argumentation hier ausschließlich auf misogynen Vorurteilen: Da die Frau nicht wirklich intellektuell begabt sei, bedeute jegliche Zurschaustellung intellektueller Leistungen Koketterie. Ein derartiges Buhlen um Aufmerksamkeit wird von Fénelon verurteilt. In der Konsequenz gilt Gelehrsamkeit, da Frauen sie ja nicht wirklich beherrschen können, als unweiblich. Die eigentliche Rolle, die Fénelon der Frau zuschreibt und auf deren Ausübung seine gesamte Mädchenpädagogik zielt, hat Monika Simmel treffend beschrieben, indem sie die ideale Frau, wie Fénelon sie konzipiert, als „Hüterin der Sitten“43 bezeichnet. Die der Frau durch die Gesellschaft zugedachte Rolle als moralische Instanz und Vertreterin sittlicher Werte hat, wie Birgit Wägenbaur zeigt, auch im ausgehenden 18. Jahrhundert noch Bestand.44 Die Vermutung, dass sich diese Rollenvorstellung bis ins 19. Jahrhundert fortsetzen wird, liegt nahe. Eine Einflussnahme auf die bürgerliche Gesellschaft ist für die Frau trotz dieser enormen sozialen Kompetenz nur indirekt möglich: So übt die Frau bei Fénelon ihre Aufgabe als Hüterin der Sitten vornehmlich dadurch aus, dass sie ihren Söhnen – da nur sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit aktiv werden können – moralische Werte mit auf den Weg gibt. Dementsprechend nennt Fénelon die Mutterpflichten an erster Stelle der Liste ihrer „devoirs“45. Darauf folgen sonstige häusliche Aufgaben: Joignez à ce gouvernement l’économie. La plupart des femmes la négligent comme un emploi bas, qui ne convient qu’a des paysans ou à des fermiers, tout au plus à un maître d’hôtel, ou à quelque femme de charge: surtout les femmes nourries dans la mollesse, l’abondance et l’oisiveté, sont indolentes et dédaigneuses pour tout ce détail;46

42 Ebd., S. 590. 43 Simmel: Erziehung zum Weibe, S. 37ff. 44 Vgl. Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe, S. 9. 45 Vgl. Fénelon: De l’éducation des filles, S. 590. 46 Ebd., S. 591.

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Mädchenerziehung zielt nach Fénelon nicht darauf ab, jungen Frauen vergeistigte Bildungsinhalte einzuimpfen. Dass die erwachsene Frau aus derlei Bildung keinen Nutzen zieht, ergibt sich aus der ihr von Fénelon zugeschriebenen Rolle als moralische Stütze der Gesellschaft. Dementsprechend sind es charakterliche Tugenden, die der Autor in seiner Erziehungsschrift propagiert, schlagwortartig könnte man auch von ‚Herzensbildung‘ sprechen. Gleichsam warnt Fénelon vor einer ausgeprägten Konzentration auf emotionale Werte, indem er, wie wir gesehen haben, vor Romanen warnt, denen grundsätzlich das Vorurteil anhaftet, extreme Gefühlsregungen wie Leidenschaftlichkeit zu befördern. Laut Fénelon bedürfen also sowohl der weibliche Verstand als auch das weibliche Herz einer Regulation, damit die Frau sich auf ihre traditionelle Bestimmung besinnen kann.

2.2.2 Die Frau als Randfigur androzentrischer Erziehung: Jean-Jacques Rousseaus Sophie Mit seiner Erziehungskonzeption schließt sich Rousseau zunächst den Ansichten John Lockes an, der im Rahmen der Thoughts Concerning Education eine private Erziehung gefordert hatte, bei der wenigstens in fortgeschrittenem Alter Liebe an die Stelle übermäßiger Strenge treten sollte.47 Mit Émile ou De l’éducation, erschienen 1762, entwirft Jean-Jacques Rousseau einen exemplarischen Erziehungsplan für den fiktiven Zögling Émile. Insgesamt besteht das Werk aus fünf Büchern, wobei das letzte der Erziehung einer passenden Gefährtin für Émile, Sophie, gewidmet ist. In den vier vorangehenden Büchern begleitet der Leser Émile bis zur Geschlechtsreife. Die romanhafte Erzählung um Émile und seinen Erzieher wird vor allem dadurch gebrochen, dass der Autor eingangs explizit ankündigt, einen fiktiven Zögling einzuführen, um seine Ideen anschaulicher darstellen zu können: „Cette methode me paroit utile pour empêcher un auteur qui défie de lui de s’égarer dans des visions“48. Diese Form der Metarhetorik setzt sich durch die gesamte Schrift hindurch fort.

47 Dazu heißt es: „Fear and Awe ought to give you the first Power over [your children’s] Minds, and Love and Friendship in riper Years to hold it: For the time must come, when they will be past the Rod, and Correction; and then, if the Love of you make them not obedient and dutifull, if the Love of Vertue and Reputation keep them not in Laudable Courses, I ask, What Hold will you have upon them, to turn them to it?“ Locke: Some Thoughts Concerning Education, S. 43. 48 Jean-Jacques Rousseau: Émile ou De l’éducation, in: Œuvres complètes de Jean-Jacques Rousseau, Bd. IV: Émile. Éducation – Morale – Botanique, hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Paris: Gallimard 1969, S. 264.



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Bevor Émile selbst vorgestellt wird, äußert der erzählende Erzieher zunächst Idealvorstellungen über seinen Berufsstand, so stellt er beispielsweise die Anforderung, ein Erzieher dürfe kein käuflicher Mensch sein.49 Außerdem soll er weniger ein Schulmeister als ein moralischer Führer sein, denn im Wesentlichen gebe es nur eine Wissenschaft, die den Kindern beigebracht werden müsse: „[C]’est celle des devoirs de l’homme.“50 Statt diese jedoch genauer zu definieren, wendet sich Rousseau vielmehr dem vorrangigen Ziel der Erziehung Émiles zu, das darin besteht, einen vernünftigen Menschen heranzubilden. Im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolger konzipiert er mit Émile ou De l’éducation nicht etwa einen Bildungskanon mit konkreten Lerninhalten, sondern ein mehr oder weniger diffuses Erziehungsideal. An dieser Stelle macht der Autor sogleich einen Einwand geltend, der auf das Verhältnis von Mittel und Ziel hinweist: „Le chef-d’œuvre d’une bonne éducation est de faire un homme raisonable, et l’on prétend elever un enfant par la raison! C’est commencer par la fin, c’est vouloir faire l’instrument de l’ouvrage.“51 Vernunft stellt also das Ziel dar, nicht aber den Weg dorthin. Tatsächlich sieht Rousseau im Gegenpol zur Vernunft, dem Gefühl, ein wirksames Erziehungsmittel, so heißt es explizit: „[C]ar nos vrais maitres sont l’expérience et le sentiment“52. Allerdings erscheint es fragwürdig, im Hinblick auf Rousseau von einer Antithese zwischen Vernunft und Gefühl zu sprechen. Obwohl das Verhältnis der beiden Prinzipien Gefühl und Verstand innerhalb seines Gesamtwerks durchaus eine eingehende Reflexion erfährt – es spielt nicht zuletzt in seinem Briefroman La Nouvelle Héloïse eine tragende Rolle – nimmt der Autor keine eindeutige Abwertung eines der beiden Prinzipien zugunsten des anderen vor, selbst wenn es wie oben gesehen heißt, die Eigenschaft vernünftig zu sein sei der krönende Abschluss einer gelungenen Erziehung. Rousseau ist sich darüber bewusst, dass jedes Konzept für sich genommen zu einem Extrem wird, das sich nicht verwirklichen lässt. Stattdessen geht es ihm ganz im Sinne des aufklärerischen Zeitgeists um die sinnvolle Integration der beiden Pole. Zwar liegt in der emotionalen Disposition eine nach Rousseau unabdingbare Grundlage für die Entwicklung der intellektuellen Urteilskraft – dementsprechend heißt es im vierten Buch des Émile: „Exister pour nous, c’est sentir; notre sensibilté est incontestablement antérieure à nôtre intelligence, et nous avons eu des sentimens avant des idées.“53 – er sieht jedoch auch die Gefahr der Gefühlsdis-

49 Vgl. ebd., S. 263. 50 Ebd., S. 266. 51 Ebd., S. 317. 52 Ebd., S. 445. 53 Ebd., S. 600.

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position, indem er vor übersteigerter Emotionalität warnt. Tatsächlich betrachtet Rousseau Leidenschaft entsprechend der abendländischen Liebeskonzeptionen als eine Art Naturgewalt: Il ne depend pas de nous d’avoir ou de n’avoir pas ces passions; mais il dépend de nous de régner sur elles. Tous les sentimens que nous dominons sont légitimes, tous ceux qui nous dominent sont criminels.54

Insgesamt umfasst Rousseaus Erziehungsplan nicht weniger als ein Humanitätsideal. Émile soll zu einem vernünftigen, d. h. verantwortungsbewussten Menschen erzogen werden. Er soll sich seinen menschlichen Pflichten bewusst sein, soll aufrichtig, mündig und damit auch frei handeln. Er besitzt damit Eigenschaften, die Rousseau Sophie, Émiles zukünftiger Gefährtin, nicht ohne weiteres zuschreibt. Über Sophie wurde in den vergangenen Jahren viel geschrieben. Aufgrund dieser Figur und zweifellos auch der Julies aus dem Briefroman La Nouvelle Héloïse wurde Rousseau scheinbar zum „Liebling“ feministischer Kritik. Sophie begegnet dem Leser erstmals am Ende des vierten Buchs, allerdings noch nicht in eigener Person bzw. Figur. Rousseaus Erzieher fasst hier den Plan, eine Gefährtin für Émile zu suchen und überlegt sogleich, wie diese im Idealfall zu sein hätte. Die Idealvorstellung geht so weit, dass der Leser nicht nur über Sophies moralische Erziehung und sittliche Gesinnung unterrichtet ist, bevor die Figur in die Handlung eintritt, sondern auch über ihren Namen: „[A]ppellons Sophie vôtre future maitraisse: Sophie est un nom de bon augure; si celle que vous choisirez ne le porte pas, elle sera digne au moins de le porter; nous pouvons lui en faire honneur d’avance.“55 Bei der Beschreibung von Sophies Charakter drängt sich ein viel zitierter Auszug aus Rousseaus Werk auf. Das wichtigste, was es über Sophie zu sagen gibt, ist nämlich, dass sie in jeder Weise für und durch Émile lebt. In der Tat ist sie als Stellvertreterin ihres ganzen Geschlechts für den Mann geschaffen, so wie es nach Rousseau zu sein hat: Ainsi toute l’éducation des femmes doit être rélative aux hommes. Leur plaire, leur être utiles, se faire aimer et honorer d’eux, les élever jeunes, les soigner grands, les conseiller, les consoler, leur rendre la vie agréable et douce, voila les devoirs des femmes dans tous les tems, et ce qu’on doit leur apprendre dès leur enfance. Tant qu’on ne remontera pas à ce principe on s’écartera du but, et tous les preceptes qu’on leur donnera ne serviront de rien pour leur bonheur ni pour le nôtre.56

54 Ebd., S. 819. 55 Ebd., S. 657. 56 Ebd., S. 703.



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Fraglos unterscheidet sich die Erziehung Émiles von der Sophies. Während Émile grundsätzlich gebildet werden soll, sowohl durch wissenschaftliche Kenntnisse als auch durch Reiseerfahrungen, um seine späteren Aufgaben als Mensch und Bürger zu erfüllen, wird Sophie einzig im Hinblick auf ihre Rolle als Geschlechtswesen erzogen. Sie wird nur bis zu dem Grad gebildet, der sie befähigt ihren Mann angemessen zu unterstützen, also Émiles Pflichterfüllung zu gewährleisten. Das heißt die Frau wird bei Rousseau insgesamt nur so lange gebildet, „wie sie begehrt wird, aber noch nicht versprochen ist“57, wie Sylvia Schmitz-Burgard zurecht bemerkt. Sophie tritt als eine Art Kokette auf, ihr Verstand ist nicht allzu tief und soll es auch nicht sein. Nach Rousseau bedarf die Frau keiner gründlichen Logik, stattdessen wird ihr eine Begabung für praktisches Handeln zugeschrieben.58 Wie viele weitere Autoren nennt Rousseau „Putz- und Gefallsucht“ als prominente weibliche Schwächen, entschuldigt sie aber damit, dass die Frau damit schließlich dem Mann gefallen will. Insgesamt zeichnet Rousseau mit Sophie ein unterwürfiges Wesen, das nur existiert, um den Mann zu ergänzen. Ihre Bestimmung sieht er allein darin, dem Mann eine selbstlose Dienerin zu sein: Les filles doivent être vigilantes et laborieuses; ce n’est pas tout; elles doivent être génées de bonne heure. Ce malheur, si c’en est un pour elles, est inséparable de leur séxe, et jamais elle ne s’en délivrent que pour en souffrir de bien plus cruels. Elles seront toute leur vie asservies à la gêne la plus continuelle et la plus sévére, qui est celle des bienseances: il faut les exercer d’abord à la contrainte, afin qu’elle ne leur coûte jamais rien, à dompter totes leurs fantaisies pour les soumettre aux volontés d’autrui.59

Interessant erscheint mir an dieser Stelle, dass Rousseau sich den Zusammenhang, dass Frauen Zwängen und Einschränkungen unterworfen sind, die als „malheur“ zu bezeichnen sind, durchaus vergegenwärtigt, das Bewusstsein darüber den Frauen selbst aber zumindest teilweise abspricht. Andererseits besitzt Sophie das, was Christine Garbe als die „heimliche Macht der Frauen“ bezeichnet, nämlich die Fähigkeit subtil Einfluss auf den Mann zu nehmen und mit Hilfe weiblicher List ihre Wünsche durchzusetzen.60 Diese Form der Manipu-

57 Sylvia Schmitz-Burgard: Das Schreiben des anderen Geschlechts. Richardson, Rousseau, Goethe, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 156. 58 Dazu heißt es: „ La raison des femmes est une raison pratique qui leur fait trouver très habilement les moyens d’arriver à une fin connüe, mais qui ne leur fait pas trouver cette fin.“ Rousseau: Émile, S. 720. 59 Ebd., S. 709. 60 Vgl. Christine Garbe: „Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. Zur Konzeption des Weiblichen bei J.-J. Rousseau“, in: Wissen heißt Leben. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen

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lation wird vom Autor keineswegs verurteilt, sondern als natürliches Verhältnis betrachtet. In diesem Sinne heißt es: L’empire de la femme est un empire de douceur, d’addresse et de complaisance, ses ordres sont des caresses, ses menaces sont des pleurs. Elle doit régner dans la maison comme un ministre dans l’Etat, en se faisant comander ce qu’elle veut faire [Hervorhebung D. K.].61

Rousseau entwirft mit Sophie ein Frauenbild, das Johanna Hopfner zu Recht schlagwortartig „Vollkommenheit in Abhängigkeit“62 genannt hat. Vernunft und logisches Denken sind bei ihr weit weniger ausgeprägt als bei Émile, sie ist „empfindsamen Herzens“63, dabei aber sanftmütig, also keinesfalls leidenschaftlich. Ähnliche Einschränkungen wie den Verstand betreffen laut Rousseau auch die weibliche Moral: Während Émile durch Vernunftgründe zum moralischen Handeln gelangt, bezieht Sophie ihre Moralvorstellungen aus diffus vorausgesetzten Anlagen, aus Scham und einem naturbedingten „Geschmack“ an der Tugend.64 Hopfner fasst das Frauenbild, wie es Rousseaus Sophie darstellt, wie folgt zusammen: Das Idealbild der Frau konfligiert mit der Idee einer Individualität, die nach Vollkommenheit und Glückseligkeit strebt. Die Frau soll schön, aber nicht „sexy“, reizend und unschuldig, ohne Tadel, aber kokett sein, Gefühl aber keine Leidenschaft besitzen, besonnen sein, aber keinen überlegenen Verstand haben; und schließlich soll sie Mätresse und Engel des Gatten sein. Die Frau soll ein eigenständiges, aber konturloses Wesen sein.65

Im Diskurs um Mädchenerziehung im 18. und 19. Jahrhundert hat sich Rousseaus Kapitel über die Erziehung Sophies, das letztlich mehr ein Charakterporträt als eine wirkliche Pädagogik darstellt, als außerordentlich einflussreich erwiesen, obwohl es nicht primär von der Frau, von Sophie, handelt. Dies ist letztlich auch der wesentliche Punkt des Rousseauschen Frauenbilds: Ein Mädchen soll nicht um ihrer selbst willen gebildet werden, sondern einzig um die ihr zugedachte Rolle im Geschlechterverhältnis erfüllen zu können. Jean-Jacques Rousseau intendiert

im 18. und 19. Jahrhundert, hg. v. Ilse Brehmer u. a., Düsseldorf: Schwann 1983 (= Frauen in der Geschichte, Bd. 4), S. 84. 61 Rousseau: Émile, S. 766. 62 Hopfner: Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800, S. 174. 63 „elle a le cœur très sensible“, vgl. Rousseau: Émile, S. 746. 64 Dies beobachtet auch Verena Ehrich-Haefeli. Vgl. Verena Ehrich-Haefeli: „Natur und Weiblichkeit. Zur Ausarbeitung der bürgerlichen Geschlechterideologie von Rousseau bis zu Schiller“, in: Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur, hg. v. Jürgen Söring u. Peter Grasser, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1999, S. 169. 65 Hopfner, Johanna: Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800, S. 174.



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mit dem fünften Buch des Émile keinesfalls, ein konzeptuelles Erziehungsprogramm für Mädchen zu entwerfen, vielmehr wird hier herausgestellt, dass der Mann einer Gefährtin bedarf, die ihn durch ihre Komplementäreigenschaften vervollständigt. Erst durch die Begegnung mit Sophie kann Émile seine Entwicklung zum Geschlechtswesen vollziehen, worauf Chantal Riedo richtig hinweist.66 Die Rolle des Geschlechtswesens macht innerhalb seiner Existenz, im Gegensatz zu Sophies, jedoch nur einen Teil aus. Sophie dagegen ist als Komplementärwesen einzig für den Mann geschaffen, dazu, sich ihm angenehm zu machen und seine (vor allem intellektuelle) Überlegenheit durch die Bereitschaft, ihre Bedürfnisse seinen unterzuordnen, zu ermöglichen. In dieser Hinsicht sind durchaus Parallelen zwischen Rousseaus Sophie und dem Weiblichkeitsideal Fénelons zu ziehen, das ja ebenfalls nicht vorsieht, Frauen um ihrer selbst willen zu bilden. Allerdings treten auch Unterschiede zwischen der Pädagogik Rousseaus zu der Fénelons ins Blickfeld. Fénelon vertritt als geistlicher Vertreter des späten 17. Jahrhunderts eindeutig die konservativere Auffassung von idealtypischer Weiblichkeit. Während er Eigenschaften wie Eitelkeit und Geschwätzigkeit, die er als eindeutig weibliche Attribute definiert, ablehnt und sein Erziehungsprogramm darauf ausrichtet, diese zu unterbinden, zählen die Mittel der Koketterie für Jean-Jacques Rousseau zum weiblichen Geschlechtscharakter dazu und werden als natürliche Anlagen betrachtet.

2.3 Ziele der speziellen Mädchenpädagogik: Postulate von normativer Weiblichkeit An dieser Stelle sollen weniger konkrete Lebenshilfen im Sinne einer Ratgeberliteratur untersucht werden, als vielmehr theoretische Schriften über das weibliche Recht auf Bildung, die es der Frau ermöglichen soll, am gesellschaftlichen Leben jenseits des häuslichen Bereichs teilzunehmen. Diese Texte veranschaulichen, wie eng die Diskussion über Mädchenerziehung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert mit der über Frauenrechte zusammenhängt, darüber hinaus umreißen die verschiedenen Quellen, die im Folgenden zur Diskussion stehen sollen, das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich einzelne Beiträge zur Mädchenerziehung ansiedeln. Ich ziehe zunächst diverse Texte heran, deren AutorInnen radikalemanzipatorische Auffassungen vertreten, da sie das Recht der Frau einfordern, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mitzuwirken. Insbesondere Theodor Gottlieb von Hippel und Mary Wollstonecraft weisen innerhalb ihrer Kritik an der bür-

66 Vgl. Riedo: Wie Gertrud zur Frau wird, S. 36.

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gerlichen Ordnung ihrer Zeit explizit auf den Zusammenhang zwischen Bildung und gesellschaftlicher Situation des weiblichen Geschlechts hin. Es überrascht nicht, dass beide sich sowohl des grundlegenden Zusammenhangs, dass Frauen nur die Rolle in einer Gesellschaft übernehmen können, die ihnen durch Erziehung vermittelt wird, gewidmet haben als auch konkrete Abhandlungen über weibliche Bildung verfasst haben. Insofern kann Mary Wollstonecrafts conduct book Thoughts on the Education of Daughters (1787) nicht losgelöst von dem 1792 erschienenen frühfeministischen Werk A Vindication of the Rights of Woman betrachtet werden. Ebenso wenig soll Theodor Gottlieb von Hippels Nachlass über weibliche Bildung (1801) unabhängig von der prominenten Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) analysiert werden. Unter dem Aspekt emanzipatorisch orientierter Schriften sollen außerdem Madame de Rémusats Essai sur l’éducation des filles (1824) und Emily Davies Schrift The Higher Education of Women (1866) als Vertreterinnen des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass so provokative und radikal pro-emanzipatorische Positionen wie die Hippels und Wollstonecrafts nach 1800 zunächst aussetzen sollten. Die Feministin Emily Davies erhebt erst im Rahmen der Suffragettenbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Stimme. Dazwischen siedelt sich eine Reihe von Schriften an, die sicherlich auch für erweiterte Frauenrechte plädieren, deren Positionen insgesamt aber doch als gemäßigt zu bezeichnen sind. Der Tenor dieser Texte kann darin gesehen werden, dass hier eine Erziehung zur Liebe propagiert wird, deren Resultat die Frau als liebende Mutter, sorgende Hausfrau und Gattin, vor allem aber moralische Stütze der Gesellschaft ist. In diesem Zusammenhang stehen Albertine Adrienne Necker de Saussures Études de la vie des femmes (1828), Julie Burows kurze Abhandlung Ueber die Erziehung des weiblichen Geschlechts (1854) sowie Frances Power Cobbes Duties of Women (1881) zur Diskussion. Obwohl sich diese Quellen wie bereits erwähnt nicht eindeutig dem Genre der Ratgeberliteratur zuordnen lassen, halte ich die Betrachtung derselben dennoch für unerlässlich, um den gesamten Diskurs zu verstehen. Was jeden einzelnen der hier zu untersuchenden Texte auszeichnet, ist die brillante Rhetorik seines Verfassers. In der Tat hat man sich den Diskurs um Frauenrechte und Frauenbildung im ausgehenden 18. bis ins 19. Jahrhundert als ein rhetorisches Spiel vorzustellen, immerhin gilt die Bildung der Frau zuvor als Paradoxon und stellt insofern eine reizvolle Herausforderung für jeden Rhetoriker dar. Die argumentativen und rhetorischen Unterschiede und Besonderheiten sind es also, die im Folgenden fokussiert werden.



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2.3.1 Erziehung zur Emanzipation Im Rahmen des 1792 erschienenen Traktats Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber nimmt Theodor Gottlieb von Hippel ausführlich zu der problematischen Situation der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft Stellung. Obwohl Hippel unter seinen Zeitgenossen keine breite Rezeption genoss, gilt er heute als bedeutender Frauenrechtler des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der mit einem umfangreichen, auch literarischen Werk auf sich aufmerksam macht, so schreibt er abgesehen von der gesellschaftlichen Stellung der Frau allgemein auch Über die Ehe (1774) und anstelle einer Neuauflage der Bürgerlichen Verbesserung verfasst er einen Nachlass über weibliche Bildung. Während Hippel in der ersten Auflage seines Buchs Über die Ehe noch eine eher konservative Auffassung zum Geschlechterverhältnis vertritt, wandelt sich diese, bis er schließlich in der Abhandlung Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber eine provokative frühfeministische Position einnimmt. Urte von Berg zählt den Autor deshalb zu jenen bedeutenden Schriftstellerpersönlichkeiten „des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs, die sich in ihrem offiziellen Verhalten noch dem aufgeklärten Absolutismus verpflichtet fühlen, deren geistiger Horizont jedoch längst offen ist für den irrationalen Individualismus des Sturm und Drang, für die politischen Ideale der Französischen Revolution“67. Was die Struktur der Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber angeht, so geht Hippel äußerst systematisch vor: Nach einer thematischen Einführung wirft der Autor die Frage nach den Unterschieden zwischen den Geschlechtern auf und diskutiert diese in den folgenden Kapiteln in Bezug auf die Geschichte und die gegenwärtige Situation. Schließlich füllt Hippel mit seinen „Verbesserungs-Vorschlägen“ den Hauptteil seines Werks. Es fällt zunächst auf, dass Hippel sich keineswegs ausschließlich an die (männlich dominierte) Gesellschaft richtet und diese etwa auffordert, den Frauen mehr Rechte zuzugestehen. Vielmehr heißt es: „Ich leg’ es so wenig darauf an, das andere Geschlecht Knall und Fall von seiner Sklaverei zu befreien, daß ich mich vielmehr begnüge, es aufzumuntern, diese Erlösung zu verdienen.“68 Obwohl der Autor grundsätzlich davon ausgeht, es gebe keinerlei Unterschiede zwischen Mann und Frau, die die

67 Urte von Berg: Theodor Gottlieb von Hippel. Stadtpräsident und Schriftsteller in Königsberg 1741–1796, Wolfenbüttel: Lessing-Akademie 2004, S. 114. 68 Theodor Gottlieb von Hippel: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 6, Berlin u. New York: De Gruyter 1978 (= Nachdruck der Ausg. Berlin 1828), S. 13.

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vermeintliche Überlegenheit des Mannes über die Frau rechtfertigten,69 so deutet er doch auf die Zusammenhänge hin, die für dieses Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern verantwortlich zeichnen. Demnach gab [d]as Schwert [...] dem männlichen Geschlechte Machtvorteile über das weibliche; aber dem natürlichen Maße von Leibes- und Seelenkräften konnte es eben so wenig eine Handbreit zusetzen, als der Nichtbesitz der Waffen dem weiblichen Geschlechte eine Handbreit zu nehmen im Stande war, wenn gleich nicht geleugnet werden kann, daß dieser Nichtbesitz Furchtsamkeit, Mißtrauen in Kräfte, welche die Weiber nicht kannten, zur Folge hatte.70

Im Hauptteil seines Werks, den eigentlichen Verbesserungsvorschlägen, geht es Hippel vor allem darum, bestehende Vorurteile gegenüber Frauen bzw. der Beschaffenheit des weiblichen Geschlechtscharakters auszuräumen. So argumentiert er gegen den Vorwurf, Frauen hätten nichts intellektuell Herausragendes hervorgebracht, indem er auf die mangelhaften (Bildungs-)Möglichkeiten für Frauen hinweist. Ebenso nimmt der Autor Stellung zu der Annahme, Frauen seien stärker gefühls- als vernunftbestimmt: Wer Weiber bloß auf Gefühle und Empfindungen reducirt, kennt weder Gefühle, noch Empfindungen, noch die Weiber. Oder wie? lehrt das Herz etwa den Kopf? verleihet das Gefühlsvermögen dem Erkenntnißvermögen evidente Gefühle zum Vergleichen und zum Entscheiden? Stammt das moralische Gefühl, wenn es anders ein wirkliches Etwas seyn soll, nicht aus der Vernunft? Muß nicht der Kopf dem Herzen Grundsätze so eigen machen, daß es die Achtung für das Gesetz als Gewohnheit, als Gefühl ansieht? – Das Herz, unbelehrt von der Vernunft, kann wenig oder nichts ausrichten; es muß geistisch gerichtet seyn.71

Insgesamt zeigt sich Hippel bemüht, die Attribute Verstand und Gefühl in Bezug auf den weiblichen Geschlechtscharakter miteinander auszusöhnen. Während Autoren wie etwa Rousseau, die sich ebenfalls um eine Integration der scheinbaren Widersprüche Verstand und Gefühl bemühen, der Frau, die ihrer Meinung nach dem Gefühl näher steht, die Vereinigung von Kopf und Herz empfehlen, konstatiert Hippel diese bereits beim weiblichen Geschlecht. Obgleich auch er zunächst eine größere Neigung des weiblichen Geschlechtscharakters zur Emotionalität feststellt, bestreitet er vehement die oft gezogene Schlussfolgerung, Frauen seien eben darum weniger gut befähigt zum abstrakten Denken. Vielmehr betont Hippel, dass Aspekte der Vernunft erst zu emotionalen Stärken wie Empathie befähigen. In diesem Sinne wird die Frage aufgeworfen:

69 Vgl. ebd., S. 75. 70 Ebd., S. 76. 71 Ebd., S. 157f.



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Die große Lebhaftigkeit weiblicher Empfindungen und weiblicher Einbildungskraft, das zu reizbare Nervensystem soll indeß Schuld an der Unbeständigkeit und dem bloß flüchtigen Feuer bei Gegenständen des Nachdenkens in Hinsicht der Weiber seyn; auch sollen sie für große Gegenstände des menschlichen Wissens nur selten ein wahres Interesse fühlen.72

Nahezu ironisch beantwortet Hippel dies mit einer Gegenfrage: Und giebt es denn in unserm Geschlechte viele, bei denen jene Ausdauer ist? die ein, dem ersten neuen und frappanten Eindruck gleiches, Feuer bei scientifischen Gegenständen behaupten, die dem Spiele schnell aufeinander folgender angenehmer Empfindungen widerstehen, und einem Gegenstande getreu bleiben bis in den Tod? hat nicht fast jeder, außer seinem Haupt-, noch einen Neben-Beruf, den er Erholung nennt, und an dem er weit mehr hängt, als an seiner Hauptsache?73

Hippel wertet Gefühlsbetonung, die als weibliche Charaktereigenschaft vom Diskurs negativ konnotiert wird, auf, indem er diese Eigenschaft als erhöhte Sensibilität deutet, die aus moralischer Überlegenheit und letztlich aus Vernunft entsteht. Hippels Position ist keineswegs so zu verstehen, als bestreite er die Neigung des weiblichen Geschlechts zu Gefühlsangelegenheiten. Vielmehr zeigt sich der Autor bestrebt, diese Disposition, indem er sie als solche anerkennt, in ihrer Wertigkeit angemessen zu würdigen. Er erhält damit die Auffassung aufrecht, nach der die Frau aufgrund ihrer emotionalen Kompetenzen als moralische Stütze der Gesellschaft fungieren kann. Hippel hinterfragt in provokativer Weise die Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegenüber Frauen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass diese eben nur das sind, was die männlich dominierte Gesellschaft sie sein lässt. Der Autor schließt seine Abhandlung Ueber die Bürgerliche Verbesserung der Weiber, indem er nochmals mit Nachdruck auf die Missstände der Geschlechterverhältnisse aufmerksam macht: Eitelkeit und Furcht vor Schande sind gemeiniglich die Basis von dem ganzen Muthe der Männer; Temperament ist es bei den Weibern. Eine Reihe von Jahrhunderten hatte Europa nur eine Gestalt. Despotismus und Sklaverei, Unwissenheit und Barbarei herrschten überall; und warum sollten die Weiber nach einer, wenn gleich langen, Unterdrückung, nicht zu jenem Range erhoben werden können, der ihnen als Menschen gebührt?74

72 Ebd., S. 235. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 249f.

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Was Theodor Gottlieb von Hippels Nachlaß über weibliche Bildung angeht, so muss zunächst festgehalten werden, dass diese Schrift anstelle einer Neuauflage des oben bereits erörterten Werks Ueber die Bürgerliche Verbesserung der Weiber erschienen ist, dementsprechend wiederholt sich der Autor in weiten Teilen. Zudem ist die Schrift in sehr kurze Kapitel untergliedert und liest sich daher wie eine Aphorismensammlung. Da die wesentlichen Kritikpunkte Hippels an den mangelhaften Bildungsmöglichkeiten für Frauen schon zuvor angesprochen wurden, erscheint es mir unnötig, dieses Werk in seiner Gesamtheit vorzustellen. Insgesamt erweist sich lediglich die Ausprägung des Argumentationsmusters, innerhalb dessen Hippel sich erneut zu der Assoziation des weiblichen Geschlechts mit der Disposition Gefühl äußert, als relevant. In der Tat überschreibt Hippel ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Vereinigung zwischen Kopf und Herz“ und erkennt dieses Verhältnis somit als ein problematisches Thema für das weibliche Geschlecht an. Ganz im Sinne aufklärerischer Philosophie spricht sich der Autor gegen die Vernachlässigung einer Seite zugunsten der jeweils anderen aus. Dazu sagt Hippel: Der Kopf muß dem Herzen Grundsätze so eigen machen, daß es die Achtung für’s Gesetz, als Gewohnheit, als Gefühl ansieht. Das Herz dagegen, belehrt durch die Vernunft, und wenn ich so sagen darf, geistig gerichtet, ist nicht mehr ein trotzig und verzagtes Ding, das Niemand ergründen kann, sondern belebt kalte Grundsätze, setzt sie in Handlungen um, und befördert und verbreitet durch sie das Gute und begeistert zu Thaten, würdig der Unsterblichkeit.75

Im Folgenden führt Hippel aus, inwiefern die Frau die Vereinigung von Vernunft und Gefühl perfekt beherrscht: Darf ich noch einen Belag [sic!] zu der Vereinigung des Kopfes und des Herzens geben, welche den Weibern eigen ist, so sey es die Bemerkung, daß das andere Geschlecht außerordentlich zur Hoffnung geneigt ist. Die Hoffnung gehört zu den Gefühlen, die ich vernünftige Gefühle oder Gefühle der Vernunft nennen würde, und ist durchaus eine weibliche Tugend.76

Es zeigt sich also auch hier, wie Hippel allgemein als Schwächen beurteilte weibliche Eigenschaften in Tugenden umwertet. In diesem Sinne sind Theodor Gottlieb von Hippels Schriften in ihrem emanzipatorischen Inhalt kaum zu überschätzen, auch wenn sich der Autor zu seinen Lebzeiten nicht unbedingt großer

75 Theodor Gottlieb von Hippel: Nachlaß über weibliche Bildung, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 7, Berlin u. New York: De Gruyter 1978 (= Nachdruck der Ausg. Berlin 1828), S. 71f. 76 Ebd., S. 73.



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Rezeption erfreut hat. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb sind seine Werke ein wichtiges Dokument, sozusagen als Negativ, für die Rekonstruktion der geltenden Auffassung über den weiblichen Geschlechtscharakter im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Mit den Thoughts on the Education of Daughters with Reflections on Female Conduct in the More Important Duties of Life, erstmals erschienen 1787, soll zunächst ein weniger breit rezipiertes Werk Mary Wollstonecrafts angesprochen werden. Wollstonecraft veröffentlicht hiermit ein conduct book für junge Mädchen, das, wie schon der Titel durch Nennung der Adressatinnen illustriert, aus einer spezifisch weiblichen, mütterlichen Intention heraus geschrieben ist. Der Kreis der Adressatinnen lässt sich jedoch nicht ganz so eindeutig bestimmen wie es anfangs scheint. Die Autorin beansprucht eine universelle Gültigkeit für ihre Reflexionen und richtet sich demnach sowohl an die benannten Töchter selbst als auch an deren Mütter und Erzieher. Zudem werden eine Reihe allgemein moralischer Betrachtungen in die Argumentation mit eingebunden, deren Gültigkeit für jedes bürgerliche Individuum besteht. Das conduct book, wie Wollstonecraft es mit ihren Thoughts on the Education of Daughters konzipiert, setzt sich also einerseits aus präzisen, praktischen Ratschlägen und andererseits aus allgemeinen Betrachtungen bzw. der artikulierten Geisteshaltung der Autorin zusammen. So stimmt die Autorin beispielsweise mit anderen Zeitgenossen darin überein, dass die äußere Erscheinung eines jungen Mädchens von Bescheidenheit zeugen sollte und gibt einige konkrete Anweisungen bezüglich Kleidung und Körperpflege. Wollstonecraft verwebt derartige Ratschläge mit den Anforderungen, die sie an den Charakter des zu erziehenden Mädchens stellt, indem sie feststellt: „Simplicity of Dress, and unaffected manners, should go together. They demand respect, and will be admired by people of taste, even when love is out of the question.“77 Mary Wollstonecrafts Handbuch zur Mädchenerziehung changiert nicht nur zwischen einem konkreten Regelkanon weiblicher Pflichten und eher gesamtbürgerlichen Verhaltensweisen und Tugenden, sondern es wirft darüber hinaus die Frage auf, welchen Platz die gut erzogene junge Frau in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. Vivien Jones sieht darin ein typisches Merkmal des Genres der Ratgeberliteratur: The text’s manifest tensions – between resigned compliance and the possibility of alternative consolations; between spiritual meekness and rational independence; between

77 Mary Wollstonecraft: Thoughts on the Education of Daughters with Reflections on Female Conduct in the More Important Duties of Life, London: Johnson 1787, S. 41.

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domestic duty and the desire for participation in a wider sphere – are themselves typical of these genres. Wollstonecraft is as yet reproducing, rather than self-consciously exploiting, the central contradiction of advice traditions in which instruction on how to conform to established patterns of behavior is based in an appeal to readers’ individualistic desires for self-improvement.78

Entsprechend dem breiten Themenspektrum von Wollstonecrafts Thoughts on the Education of Daughters nimmt die Autorin hier nicht nur die Position der Pädagogin ein, sie schreibt auch als Mutter und als Feministin. Dabei handelt es sich stets um eine genuin weibliche Perspektive, die auch in der Schrift A Vindication of the Rights of Woman erkennbar ist. 1792, im selben Jahr wie Theodor Gottlieb von Hippels Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber, erscheint Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Woman. Tatsächlich kennt man die Autorin vor allem aufgrund dieses feministischen Textes. Grundsätzlich handelt auch A Vindication von Mädchenerziehung; Wollstonecraft kritisiert zunächst die charakterliche Konstitution vieler ihrer Geschlechtsgenossinnen – tatsächlich spricht sie von „sexual character“79 – und führt diese auf die zeittypische Erziehung zurück. Es sind größten Teils Unwissenheit und Ignoranz, die Wollstonecraft hier anprangert, und die ihrer Meinung nach Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradieren. Die Resultate der üblichen Erziehungsprogramme wie die Rousseaus, Fordyces oder Gregorys, gegen die sich ihre Kritik im Wesentlichen richtet, bezeichnet die Autorin als künstlich. Laut Wollstonecraft werden Mädchen zu gezierten, oberflächlichen Wesen erzogen, die andernfalls dem Staat nützlichere Bürgerinnen sein könnten. Entsprechend fordert die Autorin: „It is time to effect a revolution in female manners – time to restore to them their lost dignity – and make them, as a part of the human species, labour by reforming themselves to reform the world.“80 Im Rahmen einzelner Sektionen des fünften Kapitels ihrer Schrift verdeutlicht Wollstonecraft die Mängel der bislang erschienenen (Hand-)Bücher zur Mädchenerziehung. Dabei bleiben auch Madame de Genlis und Madame de Staël nicht von Einwänden verschont, eine harschere Kritik erfahren jedoch die männlichen Autoren Rousseau, Fordyce und Gregory, wie Wollstonecraft eingangs ankündigt:

78 Vivien Jones: „Mary Wollstonecraft and the Literature of Advice and Instruction“, in: The Cambridge Companion to Mary Wollstonecraft, hg. v. Claudia L. Johnson, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 128f. 79 Mary Wollstonecraft: A Vindication of the Rights of Woman with Strictures on Political and Moral Subjects, 3. Aufl., London: Johnson 1796, z. B. S. vii. 80 Ebd., S. 92f.



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I may be accused of arrogance; still I must declare what I firmly believe, that all the writers who have written on the subject of female education and manners, from Rousseau to Dr. Gregory, have contributed to render women more artificial, weak characters, than they would otherwise have been; and consequently, more useless members of society.81

Von allen Autoren fordert Wollstonecraft, das Zugeständnis tieferer Wissensinhalte. Weibliche Unwissenheit wird ihrer Ansicht nach zu oft mit sittlicher Reinheit verwechselt: „Women are every where in this deplorable state; for, in order to preserve their innocence, as ignorance is courteously termed, truth is hidden from them“82. Die Unwissenheit, die hier angegriffen wird, bezieht sich sicherlich nicht nur auf intellektuelle Bildungsinhalte, sondern auch auf die mangelnde Sexualaufklärung der Frau. Beides hängt letztlich aber zusammen, wie der Gegenentwurf weiblicher Tugend, den Wollstonecraft konzipiert, verdeutlicht. In ihrer Kritik an Rousseaus Frauenbild, wie er es mit Sophie darstellt, entwirft die Autorin das Ideal einer aufgeklärten Tugend. Demnach bilden vernünftige Einsichten stets die Grundlage für wahre Tugend, so wird also die Frage aufgeworfen, wie Rousseau vom weiblichen Geschlecht erwarten könne, tugendhaft und beständig zu sein, wenn Vernunft, die Wollstonecraft weitestgehend mit den Stichworten knowledge und truth gleichsetzt, nicht die Grundlage dieser Tugend sein darf.83 An James Fordyce, Autor der 1766 erschienenen Sermons for Young Women, richtet sich die Forderung, Frauen weniger als Geschlechtswesen zu definieren, sondern als Individuen zu betrachten. In diesem Zusammenhang heißt es dort: Men are allowed by moralists to cultivate, as Nature directs, different qualities, and assume the different characters, that the same passions, modified almost to infinity, give to each individual. A virtuous man may have a choleric or a sanguine constitution, be gay or grave, unreproved; be firm till he is almost overbearing, or, weakly submissive, have no will or opinion of his own; but all women are to be levelled, by meekness and docility, into one character of yielding softness and gentle compliance.84

Diese Kritik gilt ebenso für das Frauenbild Rousseaus. Wollstonecraft stellt schließlich den gesamten Geschlechtscharakterbegriff in Frage, der für das weibliche Geschlecht verbindlicher scheint als für das männliche. In jedem Fall vertritt die Autorin die Einschätzung, dass sich die weibliche Erziehung der männlichen angleichen müsse, damit Frauen größere Verantwortung in der öffentlichen

81 Ebd., S. 38. 82 Ebd., S. 90. 83 Vgl. ebd., S. 201f. 84 Ebd., S. 212.

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Sphäre übernehmen können. Die Voraussetzung, dass die Gesellschaft von der Übernahme größerer Verantwortung seitens des weiblichen Geschlechts nur profitieren könne, wird nicht im Mindesten von Wollstonecraft angezweifelt und an keiner Stelle zur Diskussion gestellt. Aus der Lektüre der Werke Rousseaus (neben Émile wird des Öfteren auch die Nouvelle Héloïse herangezogen) entwickelt Wollstonecraft einen weiteren wesentlichen Kritikpunkt am Diktat des Geschlechtscharakterdiskurses: Sie stellt sich gegen das Konzept der sensibilité, sofern es dazu dient, Frauen zu „Sklaven der Liebe“ zu degradieren.85 Tatsächlich sieht Wollstonecraft insofern eine Gefahr in erhöhter Empfindsamkeit, als Liebe entsprechend dem Zeitgeist der sensibilité den einzigen Lebenszweck einer Frau darstellt und diese so zwangsläufig in eine Abhängigkeit stürzt. Hier wird eine sehr frühe Kritik am zeittypischen Ideal der „Erziehung zur Liebe“ deutlich, die jedoch nicht gerade auf fruchtbaren Boden fällt, erscheinen doch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein weitere Erziehungsbücher, die die Liebe zur Hauptsache weiblicher Existenz erklären. Mary Wollstonecraft vertritt die grundsätzliche Annahme, weibliche Empfindsamkeit sei anerzogen und das damit verbundene Interesse an trivialen Gegenständen, wie etwa sentimentalen Romanen, resultiere aus dem Fehlen tieferer intellektueller Fähigkeiten, die der Frau ja wiederum in ihrer Erziehung vorenthalten werden. Women subjected by ignorance to their sensations, and only taught to look for happiness in love, refine on sensual feelings, and adopt metaphysical notions respecting that passion, which lead them shamefully to neglect the duties of life, and frequently in the midst of these sublime refinements they plump into actual vice.86

Weibliche Emotionalität kann also sogar zum Laster führen und sollte daher weder begrüßt noch gefördert werden. In dieser Hinsicht fällt eine weitere Äußerung Wollstonecrafts auf, laut der die Stereotypen des rationalen Mannes und der emotionalen Frau darum aufrechterhalten werden, um über die Ungerechtigkeit des bestehenden Geschlechterverhältnisses hinwegzutäuschen. Einzig um das Argument abzuschwächen, dass Männer den Frauen im Kern überlegen sind, haben also männliche Diskursvertreter diese Stereotypen erschaffen: [T]hey have laboured to prove, with chivalrous generosity, that the sexes ought not to be compared; man was made to reason, woman to feel: and that together, flesh and spirit, they

85 Wollstonecraft richtet sich an dieser Stelle gegen den Stellvertreter der Empfindsamkeit, Rousseau: „I war only with the sensibility that led him [Rousseau] to degrade woman by making her the slave of love.“ Vgl. ebd., S. 204. 86 Ebd., S. 425.



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make the most perfect whole, by blending happily reason and sensibility into one character.87

Die Art, in der Wollstonecraft dieses Argument vorträgt, illustriert ihre Zweifel am Wahrheitsgehalt desselben. In jedem Fall stellt sich die Autorin vehement gegen die einseitige Betonung des Gefühls, wie es das Konzept der Empfindsamkeit ihrer Ansicht nach anregt. Dagegen fordert sie ein Gleichgewicht zwischen den Prinzipien: Es sollen nicht zwei Wesen mit diametralen Dispositionen zu einem vollkommenen Ganzen verschmelzen, sondern jeder soll für sich eine Balance finden. Nichtsdestotrotz werden emotionale Kräfte als gefährlicher eingestuft, denn vor allem soll der Kopf als Gegengewicht zum Herzen fungieren.88 Es bedarf kaum der Betonung, dass Mary Wollstonecraft trotz ihrer provokativen Anschauungen nicht umhin kommt, die „natürliche Bestimmung“ der Frau, also die Erfüllung der Mutterpflichten, anzuerkennen. Sie sieht allerdings keinen Widerspruch zwischen der Ausübung eben jener Rolle und einer Erziehung, die bislang ausschließlich Männern vorbehalten war. Im Gegenteil: „To be a good mother“, heißt es, „a woman must have sense, and that independence of mind which few women possess who are taught to depend entirely on their husbands. Meek wives are, in general, foolish mothers“89. Letztlich erwartet die Autorin ausschließlich Vorteile von der Ausweitung weiblicher Rechte und so schließt sie A Vindication of the Rights of Woman mit der Wiederholung dieser Einschätzung: „Let woman share the rights, and she will emulate the virtues of man; for she must grow more perfect when emancipated, or justify the authority that chains such a weak being to her duty.“90 Claire Élisabeth Jeanne de Rémusat stellt in ihrem Essai sur l’éducation des femmes, 1824 posthum veröffentlicht, ebenfalls die Position der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zur Diskussion. Dabei bringt sie zunächst das generelle Frauenbild ihrer Zeit zur Sprache: „Rarement on nous a mises à notre véritable place; rarement on a songé à ne voir dans une femme qu’un être sensible, raisonnable et borné, la compagne de l’homme et l’ouvrage de Dieu.“91 Zunächst gibt Madame de Rémusat einen geschichtlichen Überblick über die Mädchen-

87 Ebd., S. 135. 88 So fordert Wollstonecraft ihre Zeitgenossen auf: „let us endeavour to strengthen our minds by reflection, till our heads become a balance for our hearts“. Vgl. ebd., S. 204. 89 Ebd., S. 346. 90 Ebd., S. 451. 91 Claire Élisabeth Jeanne Gravier de Vergennes de Rémusat: Essai sur l’éducation des femmes, 2. Aufl., Paris: Ladvocat 1824, S. 2.

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erziehung oder vielmehr die Stellung der Frau in der Gesellschaft, angefangen bei Ludwig XIV. bis hin zur Französischen Revolution, um dann zukünftige Verhältnisse anzusprechen. Madame de Rémusat entwirft keinen konkreten Erziehungsplan, stattdessen bildet der Hauptteil ihres Essays, „Des vrais principes de l’éducation des femmes“, insofern die Konsequenz aus den zuvor erörterten historischen Geschlechterverhältnissen, als die Autorin an dieser Stelle fordert, die Erziehung der Mädchen dürfe prinzipiell nicht von der der Männer abweichen, da sie von einer grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter ausgeht. Comme créature intelligente, la femme n’est pas différente de l’homme. Elle possède sans doute à un moindre degré les mêmes facultés, mais elle les possède; et c’est assez pour qu’elle mérite qu’on les exerce: leur nature étant commune, leur loi doit être la même; pourvue des mêmes moyens pour connaître et remplir les conditions de son existence, l’éducation d’une femme ne doit pas différer essentiellement de celle de l’homme, du moins quant aux principes. En sa qualité d’être doué de raison, d’être moral et libre, parce qu’il est raisonnable, son éducation, si elle est raisonnable aussi, ne peut que vouloir se conformer à sa nature, en assurant sa moralité par l’empire de la raison sur la liberté.92

Indem Madame de Rémusat die gesellschaftliche Position ihres Geschlechts über Jahrhunderte zurückverfolgt, deutet sie unmissverständlich auf die andauernde Abhängigkeit der Frau vom Mann hin. So sagt sie: „L’homme doit être formé pour les institutions de son pays; la femme pour l’homme“93. In diesem Sinne ist ihr Essai sur l’éducation des femmes als eine Vorarbeit zu verstehen, der es bedarf, um überhaupt erst auf das eigentliche Thema – Erziehung des weiblichen Geschlechts – zu kommen. Fast könnte man in Bezug auf die Texte Hippels und Wollstonecrafts von verfrühten Ausreißern sprechen, denn erst im Rahmen der sich allmählich formierenden Frauenbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheint 1866 Emily Davies Schrift The Higher Education of Women. Die Autorin initiierte nicht nur zahlreiche Kampagnen, die die Zulassung für Frauen an den Universitäten forderten, sondern engagierte sich später auch in der Suffragettenbewegung. Davies betrachtet Mädchenerziehung als einen Aspekt der Frauenfrage generell und stellt damit wiederum den Zusammenhang zwischen der Stellung der Frau in der Gesellschaft und ihrer Erziehung her. Dabei geht die Autorin zunächst von einer generellen Gleichheit der Geschlechter aus. Wenn sie also zugibt, dass eine Erziehung, die gute Mütter und Ehefrauen hervorbringt, nicht schlecht sein kann,

92 Ebd., S. 109. 93 Ebd., S. 24.



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weist sie zugleich darauf hin, dass dasselbe für eine solche gelten muss, die gute Väter und Ehemänner hervorbringt.94 Emily Davies argumentiert gegen die gängigen Rollenklischees des rationalen Mannes und der gefühlsbetonten Frau mit der lapidaren Feststellung: „[W]e know that a man who should be all head would be as monstrous an anomaly as a woman all heart“95. Nichtsdestotrotz zitiert sie diese Stereotypen zunächst: The advocates of this view [of a dual theory] usually hold in connexion with it certain doctrines, such as, that the man is intended for the world, woman for the home; men’s strength is in the head, woman’s in the heart; the man’s function is to protect, woman’s to soothe and comfort; men must work, and women must weep: everywhere we are to have a sharply marked division, often honestly mistaken for the highest and most real communion.96

Emily Davies kritisiert die Position, die Frauen im gesellschaftlichen Gefüge zugestanden wird, äußerst scharf. Ihre Kritik richtet sich vor allem gegen die Zwecklosigkeit einer fundierten Bildung bei Mädchen. Daher tritt die Autorin vehement dafür ein, zumindest bürgerliche Mädchen einen Beruf erlernen zu lassen. Dieser Forderung liegt nicht nur die Auffassung von der Gleichheit der Geschlechter zugrunde, sondern auch Davies’ Einschätzung, wonach bestehende Geschlechtsunterschiede grundsätzlich durch Bräuche und Konventionen hervorgerufen werden. Oder anders ausgedrückt, die Bräuche und Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft verhindern laut Davies die Angleichung der Geschlechter. Davies’ Optimismus, wonach die Gesellschaft von einer Angleichung der Geschlechter im Sinne gleich verteilter Pflichten und Rechte ausschließlich profitieren könne, schließt somit mit einem zeitlichen Abstand von mehr als 70 Jahren an die Auffassungen Hippels und Wollstonecrafts an.

2.3.2 Erziehung zur Subordination Der Text Étude de la vie des femmes von Albertine Adrienne Necker de Saussure erscheint 1828 als dritter Teil des Werks L’Éducation progressive ou Étude du cours de la vie. Somit sah auch diese Autorin die Notwendigkeit, zur gesellschaftlichen Stellung der Frau und der weiblichen Erziehung Stellung zu beziehen. Verglichen allerdings mit den radikalen Forderungen Mary Wollstonecrafts oder Madame

94 Vgl. Emily Davies: The Higher Education of Women, hg. v. Janet Howarth, London: Hambledon 1988 (= Nachdruck der Ausg. London 1866), S. 5f. 95 Ebd., S. 13. 96 Ebd., S. 12.

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de Rémusats nach Gleichheit zwischen den Geschlechtern, erscheinen Madame Necker de Saussures Äußerungen eher moderat, obwohl auch diese die herrschende Geschlechterordnung kritisiert. Vor allem die Geringschätzung, die Frauen innerhalb des Geschlechterverhältnisses entgegengebracht wird, greift Madame Necker de Saussure an: „Toujours l’homme conserve un sentiment d’indépendance, toujours il croit que la femme a été faite pour lui et qu’il n’a pas été fait pour la femme, toujours il la regarde comme sa propriété, et se voit, lui, comme son propre maître.“97 Dass der Autorin nicht daran gelegen ist, das Geschlechterverhältnis anzugleichen, verdeutlicht sich an anderer Stelle, indem sie einräumt, weit davon entfernt zu sein, die Unterlegenheit der Frau leugnen zu wollen.98 Necker de Saussure bestätigt eine natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, wehrt sich jedoch dagegen, dieses Ungleichgewicht in eine Dynamik von Herren und Knechten zu übersetzen. Die Annahme der Ungleichheit führt die Autorin vielmehr zu der Forderung, die Pflichten der Frau, die sich natürlich von denen des Mannes unterscheiden müssen und grundsätzlich in der Erfüllung der traditionellen Frauenrolle bestehen, angemessen zu würdigen. So heißt es im dritten Kapitel, über die „wahre“ Bestimmung der Frau: „Quel est donc le rôle particulier des femmes dans ce monde-ci? Selon nous, elles sont appelées à perfectionner la vie privée dans les limites imposées par la loi de Dieu. Ceci s’applique à tous les états. Pauvres ou riches, mariées ou libres“99. Die Bedeutung dieser Aufgabe geht laut Necker de Saussure weit über den häuslichen Bereich hinaus, so fungiert die tüchtige Hausfrau vor allem als Vermittlerin moralischer Werte, wovon die gesamte Gesellschaft profitiert. Diese Berufung wird wie folgt definiert: „Communiquer, entretenir sur cette terre le sentiment, vie de l’âme, attraction universelle des êtres fragiles qui viennent ici-bas souffrir et mourir, telle est la mission qu’elles ont reçues de la nature.“100 Die religiöse Vermittlerfunktion des weiblichen Geschlechts wird an anderer Stelle noch einmal in ähnlicher Formulierung wiederholt: [D]ans l’ordre spirituel, ce sont elles [les femmes] qui communiquent et raniment les sentimens, vie de l’âme, mobiles éternels des actions, il leur est assigné un rôle obscur peut-être, mais immense, dans les vicissitudes de la destinée qui se déploient sous nos yeux.101

97 Albertine Adrienne Necker de Saussure: Étude de la vie des femmes, in: Dies.: L’Éducation progressive ou Étude du cours de la vie, Bd. III, Paris: Garnier 1841, S. 19. 98 Vgl. ebd., S. 49f. 99 Ebd., S. 31f. 100 Ebd., S. 11f. 101 Ebd., S. 33.



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Die Frau hat somit als Vermittlerin religiöser Werte für das Seelenheil der gesamten Gesellschaft zu sorgen. Auf eben diese Aufgabe sollen Frauen laut Necker de Saussure in ihrer Erziehung vorbereitet werden. Entsprechend formuliert die Autorin das vorrangige Ziel einer ihrer Ansicht nach zweckmäßigen Mädchenerziehung: „Le rôle de l’éducation, comme il va sans dire, est tour à tour de développer ou de modérer la sensibilité“102. Erwartungsgemäß verweist auch Madame Necker de Saussure auf Liebe und Zuneigung, um die benachteiligte Stellung der Hausfrau, Gattin und Mutter aufzuwerten. Die weibliche Mission, die Necker de Saussure zuvor als Vermittlung sittlicher und moralischer Werte bestimmt hat, soll durch den sogenannten Liebesdienst, die selbstlose Aufopferung im Familienkreis, gewährleistet werden, dementsprechend ist eine liebenswerte Frau immer – man möchte hinzufügen: ausschließlich – eine liebende Frau. Une femme vraiment aimante aime toujours, elle aime Dieu, elle aime ses proches; dans le désert de Robinson, elle aimerait la chèvre qui l’aurrait nourrie, et son cœur, constamment occupé, se plaindrait plutôt de la force de ses affections que de leur absence.103

Auf die besondere Bedeutung weiblicher Liebe im Rahmen der Ehe weist Madame Necker de Saussure gesondert hin. Nachdem die Autorin nochmals die natürliche Überlegenheit des Mannes wiederholt hat,104 verweist sie auf sein „heiliges Recht“105 auf Mitgefühl und Zärtlichkeit der Frau. In der Darbringung dieser altruistischen Anlagen sieht Madame Necker de Saussure den vollkommenen Zweck weiblicher Existenz, wie folgende Ausführung verdeutlicht. Telle est la perfection, tel est le bonheur de la femme dans le mariage; mais, il faut le dire, cette même perfection lui assigne un rang inférieur dans la société. Une tache indélébile, celle de la partialité, lui reste attachée; ce n’est pas la justice qui la décide, c’est l’affection.106

Somit wird die Ungerechtigkeit der herrschenden Geschlechterordnung zwar anerkannt, aber als unabänderlich angesehen. Zuneigung und Liebe müssen also als Weg verstanden werden, das Beste aus dieser Ungerechtigkeit zu machen.

102 Ebd., S. 98. 103 Ebd., S. 272. 104 An dieser Stelle heißt es: „D’ailleurs, nous l’avons dit, la supériorité de l’homme est très vraisemblable; son intelligence, naturellement plus forte, a été aussi mieux cultivée par l’éducation et mieux exercée dans la vie active.“ Ebd., S. 295. 105 Vgl. ebd. 106 Ebd.

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Insgesamt teilt Madame Necker de Saussure die Auffassung des Diskurses, laut der das weibliche Geschlecht dem männlichen grundsätzlich unterlegen ist. Dennoch wehrt sich die Autorin dagegen, diese Ungleichheit zur Grundlage einer Versklavung des weiblichen Geschlechts zu erklären. In völliger Übereinstimmung mit dem Geschlechtscharakterdiskurs definiert Necker de Saussure die Frau als Komplementärwesen zum Mann. Folglich müssen sich Rechte und Pflichten der Geschlechter voneinander unterscheiden, um sich zu ergänzen. Indem diese Komplementäreigenschaften, nämlich die Bereitschaft der Frau zur Selbstaufopferung und die Fähigkeit, die dahinter stehende Moral weiterzugeben, allen Frauen als naturgegeben zugeschrieben werden, findet Necker de Saussure einen Weg, ihrem Geschlecht einen annehmbaren Platz im gesellschaftlichen Gefüge zu sichern, ohne die bestehende Ordnung grundsätzlich zu hinterfragen. Während die Dissoziation der geschlechtsspezifischen Tätigkeitsbereiche die Frau also objektiv durchaus benachteiligt, weil sie sie auf die häusliche Sphäre beschränkt, soll die Frau selbst dies nicht als Einschränkung empfinden, sondern sich ganz im Gegenteil glücklich schätzen, in einem Bereich bleiben zu können, für den sie prädestiniert ist. Aus der vermeintlichen Anerkennung ihrer Aufgabe als moralische Ordnungswächterin soll sie darüber hinaus Befriedigung schöpfen und ihre Rolle als Diensleisterin der patriarchalen Gesellschaft als bedeutungsvoll und geschätzt erfahren. In einem vergleichsweise schmalen Band von etwa 60 Seiten veröffentlicht Julie Burow 1854 ihre Gedanken Ueber die Erziehung des weiblichen Geschlechts. Obwohl sich die Autorin nicht wie in dem späteren Werk Herzensworte direkt an ihre Zöglinge wendet, betont sie ihre Perspektive als eine mütterliche. So legitimiert Julie Burow ihre Kompetenz durch den Hinweis ihrer Lebenserfahrung innerhalb der Mutterrolle. Wie auch Wollstonecraft kritisiert Burow die Beiträge männlicher Autoren zum Thema der Mädchenerziehung, allerdings zielt diese Kritik nicht auf inhaltliche Geschichtspunkte ab. Stattdessen zitiert Burow lediglich die zeittypische Geschlechtervorstellung, indem sie darauf besteht, die Kindererziehung stelle eine genuin weibliche Pflicht dar: Freilich haben gelehrte Männer, Aerzte und Pädagogen Lehrbücher über Mutterpflichten und Anleitungen zur Erfüllung derselben geschrieben. Doch bleibt es ewig wahr, daß dieselben nur von einem Mutterherzen ganz erkannt werden können. Männer denken logisch und wissen das Gedachte mit Klarheit auszudrücken. Zum vollen Erfassen der Mutterpflichten gehört aber das fühlende Mutterherz.107

107 Julie Burow (Frau Pfannenschmidt): Ueber die Erziehung des weiblichen Geschlechts, 3. Aufl., Bromberg: Louis Levit 1863, S. Vf.



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Auch unterstützt Burow die Geschlechtscharakterologie in ihrer Annahme, Mann und Frau verhielten sich komplementär zueinander,108 allerdings fordert die Autorin nachdrücklich bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen, und dies mit der einfachen Begründung: „Das Weib darf nachdenken, soll nachdenken, denn es ist Mensch!“109 Während die Autorin zunächst zwischen geschlechtlichem und menschlichem bzw. bürgerlichem Beruf differenziert, räumt sie schließlich doch ein, dass sich diese beiden Rollen beim weiblichen Geschlecht meist decken und schließt sich somit Fénelons und Rousseaus Ansicht an.110 Die Ungerechtigkeit, dass die häusliche Pflichterfüllung der Frau auch eine gesellschaftliche Dimension hat – letztlich besteht darin ihre einzige gesellschaftliche Aufgabe –, rechtfertigt Burow, indem sie wie schon Madame Necker de Saussure das Stichwort Liebe ins Spiel bringt: In Geldeswerth hat sie dann wenig errungen, denn weibliche Arbeit kann nicht in dem Verhältniß wie männliche bezahlt werden. Nicht etwa, weil sie weniger nützt, sondern weil sie in so ungeheurer Masse gebraucht wird, daß alles Geld was ein Mann erwerben kann, nicht halb für seine Bedürfnisse ausreichen würde, wenn er alle weibliche Arbeit, die er verbraucht, nach dem Maßstabe bezahlen müßte, nach dem er seine eigene Arbeit bezahlt erhält. Weibliche Arbeiten sind ihrer Natur nach Werke der Liebe, und wollen als solche aufgefaßt und verrichtet werden.111

Die Aufwertung weiblicher Pflichterfüllung, die die Umbenennung häuslicher Pflichten in „Werke der Liebe“ bewirkt, ist von enormer Bedeutung, denn das Konzept der (Mutter‑)Liebe erweist sich in der Tat als adäquates Mittel, um jedes Argument gegen etwaige Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern auszuhebeln. So appelliert die Autorin stets an das Ehrgefühl der Frau, wenn es darum geht, einen Vorteil auf Seiten des männlichen Geschlechts zu begründen. Beispielhaft illustriert dies die folgende Äußerung: Achtbares äußeres Auftreten ist beim weiblichen Geschlecht viel wichtiger als beim männlichen. Einem genialen Manne verzeiht man einen Riß im Rock, einen Fleck auf der Hemden-

108 Vgl. ebd., S. 26f. 109 Ebd., S. 25. 110 Dazu heißt es bei Burow: „Zwar fällt anders als beim Manne, der bürgerliche Beruf des Weibes mit dem geschlechtlichen meistens zusammen, da – mit seltenen Ausnahmen – das Weib mit dem Staate nur als Tochter, Gattinn oder Mutter in Beziehung tritt; aber das Weib ist Mensch, eine ganze Hälfte des Menschengeschlechtes ist Weib, und darf und soll menschliche Ausbildung mit vollem Rechte beanspruchen.“ Ebd., S. 6. 111 Ebd., S. 21.

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krause allenfalls, bei einer Frau und wäre sie so geistreich wie George Sand, oder so wissenschaftlich gebildet wie Miß Herschel, sind solche äußere Unachtsamkeiten unverzeihlich. Warum? Ein Mann kann sich seinen Rock nicht selbst flicken, seine Krause nicht selbst waschen, eine Frau aber soll als Frau dies können, und kann sie es nicht, oder thut sie es nicht, so erscheint sie entweder verbildet oder faul.112

Julie Burow nähert sich damit in der Mitte des 19. Jahrhunderts dem wieder an, was Fénelon am Ausgang des 17. Jahrhunderts als idealen weiblichen Charakter beschrieben hat. Die Fürsprecher für Frauenrechte und die damit verbundene zweckgerichtete Bildung und Erziehung siedeln sich zeitlich gesehen zwischen diesen Eckdaten an. Auch Frances Power Cobbe bringt in ihrem 1881 erschienenen Buch The Duties of Women im Rahmen von sechs Vorlesungen ihr Verständnis von Emanzipation und einer wünschenswerten Stellung der Frau in der Gesellschaft zum Ausdruck. Cobbe engagierte sich wie auch Emily Davies in der Suffragettenbewegung und gilt insgesamt zweifellos als wichtige Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts. Ihre Position darf allerdings insofern gemäßigt genannt werden, als sie die Rolle der Frau als Geschlechtswesen ebenso wie Julie Burow als durchaus wichtigen Teil weiblicher Existenz anerkennt. Zwar versteht Cobbe unter duties nicht nur die traditionellen weiblichen Pflichten, also die der Mutter, Hausfrau und Gattin, sondern insbesondere weibliche Pflichten als Staatsbürgerinnen, wie Sally Mitchell betont.113 Doch kommt die Autorin nicht umhin, auch die traditionellen Pflichten eingehend zu betrachten. Cobbes emanzipatorische Bemühungen umfassen zunächst die Forderung nach public spirit, womit Cobbe nicht nur die Bereitschaft der (männlich dominierten) Gesellschaft meint, Frauen ins öffentliche Leben zu integrieren, sondern auch und vor allem die Bereitschaft der Frauen, Verantwortung jenseits des häuslichen Bereichs zu übernehmen. Generell nimmt Frances Power Cobbe eine dreifache Unterscheidung vor, indem sie die Pflichten der Frauen in religiöse, persönliche und soziale Pflichten unterteilt.114 Während ich die religious duties beiseite lassen möchte, fällt bei der Betrachtung der übrigen beiden Gruppen auf, dass Cobbe nur die sozialen Pflichten, die sie in die einzelnen Geschlechterrollen der Frau (Mutter, Schwester, Hausfrau usw.) auffächert, ausführlich thematisiert. Die personal duties dagegen

112 Ebd., S. 61f. 113 Vgl. Sally Mitchell: Frances Power Cobbe. Victorian Feminist, Journalist, Reformer, Charlottesville u. London: University of Virginia Press 2004, S. 269. 114 Vgl. Frances Power Cobbe: The Duties of Women. A Course of Lectures, London: Williams & Norgate 1881, S. 37.



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seien unabhängig vom Geschlecht stets dieselben: „Chaste, temperate, truthful, brave, and free, that is the ideal of PERSONAL VIRTUE for woman as for man.“115 Cobbe entfaltet ihre emanzipatorischen Ideen mit geschickter Rhetorik, indem sie beispielsweise auf religiöse Argumente mit ebensolchen antwortet. So stellt sie die Forderung der Kirche an die Braut, ihrem zukünftigen Ehemann während der Trauung absoluten Gehorsam zu versprechen nicht nur theologisch in Frage – schließlich sollten Mann und Frau vor Gott gleich sein – sondern setzt dem das christliche sowie allgemein moralische Konzept der (Nächsten-)Liebe entgegen: Love naturally reverses the idea of obedience, and causes the struggle between any two people who truly love each other to be not who shall command, but who shall yield. There is in the world no harder duty than to oppose the will of our heart’s best friend.116

Obwohl Frances Power Cobbes Ansichten sicherlich als fortschrittlich zu bezeichnen sind, müssen sie aus heutiger Sicht doch moderat genannt werden. Immerhin geht Cobbe nicht so weit, völlige Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu konstatieren oder zu fordern. Stattdessen unterstreicht sie die Unterschiede, so spricht sie Männern beispielsweise die Fähigkeit ab, häusliche Geborgenheit schaffen zu können.117 Damit wertet die Autorin Hausarbeit zunächst als weibliches Vorrecht auf, erweitert diese Dimension aber noch, indem sie diese „kleinen Aufgaben“ als Vorstufe zu größerer Verantwortung im Sinne des public spirit definiert. Alles in allem geht es Frances Power Cobbe ebenso wie Emily Davies darum, den Einflussbereich der Frau um ein politisches Stimmrecht zu ergänzen. Zwar kritisiert sie die gesellschaftlichen Zustände, die Prostitution entstehen lassen, die traditionelle Frauenrolle als Gattin, Hausfrau und Mutter wird jedoch nicht in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil reproduziert Cobbe das Rollenklischee der weiblichen Emotionalität. Dies verdeutlicht sich anhand ihres Kommentars zum „Recht“ der Frau, dem Mann ein Heim zu bereiten. Die Aufwertung von häuslichen Pflichten als genuines Recht der Frauen entspricht der Umdeutung von Hausarbeit als Liebesdienst, wie sie sich schon bei Burow findet. Insgesamt sieht Cobbe die vorrangige Aufgabe ihres Geschlechts in der Liebe: In picturing, then, the ideal life of woman in her home and society, I should utterly fail if I did not convey to you my sense that it must be supremely a loving life, – a life of tender,

115 Ebd., S. 84. 116 Ebd., S. 181. 117 Vgl. ebd., S. 139.

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multiform, perennial sympathy with the pleasures and sorrows of all around her, and of the deep joy of fervent personal affection.118

Cobbe versucht so die Benachteiligung ihres Geschlechts mit dem Hinweis auf die Pflichten der Liebe zu relativieren. Hier klingt nichts mehr von den Gefahren eines Lebens mit, das ausschließlich um die Liebe kreist, vor denen Mary Wollstonecraft gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewarnt hat. Stattdessen tragen Cobbe wie auch Burow zum Erhalt traditioneller Rollenzuschreibungen bei, indem sie Frauen dazu bringen wollen, die lästigen Pflichten ihrer Geschlechterrolle aufgrund einer moralischen Aufwertung zu akzeptieren. Durch den Appell an die Liebesfähigkeit der Frau und ihre Pflicht ‚Liebesdienste‘ zu leisten, womit letztlich die vermeintliche Affinität des weiblichen Geschlechts zum Gefühl beschworen wird, stützen diese Autorinnen das Frauenbild des Geschlechtscharakterdiskurses, das vorrangig dazu dient, die Subordination der Frau zu gewährleisten. Durch haushälterische und erzieherische Aufgaben ist sie die unabkömmliche Dienstleisterin der patriarchalen Gesellschaft, ihre entsprechende Servilität sichert die Rhetorik des Liebesdienstes.

2.4 Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren Wie gesehen floriert die Debatte über Mädchenerziehung und Frauenbildung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mehr und mehr. Während Rousseau sich noch vornehmlich um das Ansehen der allgemeinen Pädagogik verdient gemacht hat, rückt auch der spezielle Bereich der Mädchenerziehung ins Blickfeld. So erscheint bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl erzieherischer Schriften in Anlehnung an den französischen Vordenker Fénelon. Neben den zuvor diskutierten politisch motivierten Schriften, die sich mit grundsätzlichen Fragen nach der weiblichen Bildung auseinandersetzen, rücken vor allem Schriften mit einer praktischeren Ausrichtung in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es entsteht fast der Eindruck, als ersetzten praktische Handlungsanweisungen zur Mädchenerziehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jegliche theoretische Stellungnahme zu Frauenrechten und -bildung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewinnt die Ratgeberliteratur fraglos an Bedeutung. Wie Rudolf Helmstetter in seinem Aufsatz zur „Ratlosigkeit der Moderne und ihre[n] Ratgeber[n]“ verdeutlicht hat, fungieren Manieren- und Benimmbü-

118 Ebd., S. 168.



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cher im bürgerlichen Zeitalter als Vermittler „zwischen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘, zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten“119, sofern sie die Differenz von Wissenschaft und gesellschaftlicher „Lebens-Bedeutung“120 überbrücken. Worin Beratung grundsätzlich besteht, hat Georg Dietrich in einer überzeugenden Definition dargestellt, die obgleich vorrangig auf die Theorie und Praxis psychologischer Beratung bezogen, durchaus Allgemeingültigkeit beanspruchen kann: Beratung ist in ihrem Kern jene Form einer interventiven und präventiven helfenden Beziehung, in der ein Berater mittels sprachlicher Kommunikation und auf der Grundlage anregender und stützender Methoden innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums versucht, bei einem desorientierten, inadäquat belasteten oder entlasteten Klienten einen auf kognitiv-emotionale Einsicht fundierten aktiven Lernprozeß in Gang zu bringen, in dessen Verlauf seine Selbsthilfebereitschaft, seine Selbststeuerungsfähigkeit und seine Handlungskompetenz verbessert werden können.121

Damit werden die Ratsuchenden als Personen beschrieben, die unter Desorientierung leiden bzw. „unter Konflikt und Frustrationsdruck vergeblich nach Einheitlichkeit, Harmonie und Stabilität ringen“122. Insgesamt soll die „Ist-Lage der Desorientierung [...] in der Beratung beseitigt und durch die Soll-Lage einer Neuorientierung ersetzt werden“123. Der Berater kann den Prozess der Selbststeuerung seines Klienten lediglich unterstützen, keinesfalls sollte er diesem, wie Dietrich hervorhebt, vorgefertigte Lösungsvorschläge präsentieren.124 Mit Hinblick auf die hier zu untersuchenden Erziehungsratgeber erweist sich gerade dieses Charakteristikum von Beratung als schwierig, zum einen, weil wir es mit einer schriftlichen Kommunikation zu tun haben, die ausschließlich von dem Berater ausgeht, zum anderen aufgrund des problematischen Verhältnisses von Beratung und Erziehung. Obwohl sich Erziehung und Beratung insofern annähern, als das Erziehen stärker den Charakter des Beratens annimmt, je älter der Zögling – oder „Educand“125 wie es bei Dietrich heißt – wird, fallen insbesondere die Unterschiede der beiden Prozesse ins Gewicht. In diesem Zusammenhang

119 Rudolf Helmstetter: „Guter Rat ist (un)modern. Die Ratlosigkeit der Moderne und ihre Ratgeber“, in: Konzepte der Moderne. DFG-Symposion 1997, hg. v. Gerhart von Graevenitz, Stuttgart u. Weimar: Metzler 1999 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände, Bd. 20), S. 153. 120 Ebd., S. 164. 121 Georg Dietrich: Allgemeine Beratungspsychologie. Eine Einführung in die psychologische Theorie und Praxis der Beratung, Göttingen, Toronto, Zürich: Hogrefe 1983, S. 2. 122 Ebd., S. 3. 123 Ebd. 124 Vgl. ebd., S. 4. 125 Ebd., S. 12.

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zitiert der Autor Norbert Rückriems gelungene Gegenüberstellung von Beratung und Erziehung: Erziehung bezieht sich auf die Zukunft des Zöglings, während sich Beratung auf seine Gegenwart bezieht. Erziehung vollzieht sich immer noch im ‚pädagogischen Bezug‘, als Einwirkung reifer, mündiger Lehrender auf unreife, unmündige Lernende, während Beratung als gemeinsame Problemlösung, Situationsgestaltung im Sinne von Gegenwartsbewältigung geschieht.126

Dietrich stimmt dem zu, indem er nochmals auf die divergierenden Anlässe von Beratung und Erziehung aufmerksam macht. Demnach fördert der Erzieher einen grundsätzlichen Reifeprozess, innerhalb dessen der Zögling einer Anleitung von außen durchaus bedarf, wohingegen der Berater bei der Überwindung akuter Schwierigkeiten und Probleme hilft, wenn nämlich Menschen eine falsche Richtung eingeschlagen haben oder vor Barrieren stehen, die sie nicht zu meistern in der Lage sind, wenn Menschen sich in Sackgassen verrannt haben oder vor Kreuzwegen entscheidungsunfähig stehenbleiben, wenn Menschen Steigungen nicht bewältigen oder auf Gefällestrecken nicht bremsen können, wenn Menschen Spielräume so ausnützen, daß daraus belastende Konflikte entstehen.127

Letztlich siedelt der Autor den Prozess des Beratens zwischen Erziehung und Therapie an. In diesem Sinne kann die erzieherische Ratgeberliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts als Mischform zwischen Erziehung und Beratung verstanden werden, die die Lücke zwischen alltagspraktischer Beratung und professioneller Lebenshilfe ausfüllt. Was die psychologische Form der Beratung von alltagspraktischer Beratung, wie sie innerhalb pädagogischer Handbücher und Lebenshilfen stattfindet, unterscheidet, ist der Umstand, dass der Berater mit der Veröffentlichung seiner Ratschläge ein Angebot macht und somit den ersten Schritt vollzieht, während es in der von Dietrich beschriebenen Beratungsform der Ratsuchende ist, der die Hilfe einfordert. Grundsätzlich wird im Rahmen erzieherischer Handbücher die Notwendigkeit qualifizierter Ratschläge vorausgesetzt und sozusagen eine Diagnose gestellt, bevor es einen Patienten gibt. In dieser Hinsicht gleichen die Verfahren alltagspraktischer Ratgeber eher denen der herkömmlichen Erziehung, in der die Person des Erziehers, Mentors usw. den Reifeprozess lenkend mitbestimmt.

126 Norbert Rückriem: „Didaktische Aspekte der Beratung durch den Lehrer“, in: Der Lehrer als Berater, hg. v. Ernst Benz, Heidelberg: Quelle & Meyer 1978, S. 45. Zit. nach Dietrich: Allgemeine Beratungspsychologie, S. 12. 127 Dietrich: Allgemeine Beratungspsychologie, S. 13f.



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Diesen Umstand erkennt auch Rudolf Helmstetter, obwohl er zunächst davon ausgeht, dass die Ratlosigkeit in der Moderne prinzipiell besteht. So wendet er im letzten Teil seines Aufsatzes ein: „Nicht nur Ratlosigkeit – was immer ihre Ursachen sein mögen – provoziert Ratschläge, sondern auch die Möglichkeit, solche zu erteilen.“128 Unabhängig davon, was zuerst da war, Angebot oder Nachfrage, betrachtet Helmstetter den Zustand der Ratlosigkeit als wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft. Dieser Zustand wird wie folgt definiert: Ist Unbehagen die Reaktion auf kulturelle Verhaltenszwänge, so wäre Ratlosigkeit die Reaktion auf den Umstand, daß man angesichts der Fülle dessen, was man tun muß und weiß (oder: möglicherweise wissen könnte), dennoch – chronisch-extistentiell oder situativ-akut – nicht weiß, was man (praktisch) tun soll und was (ethisch) richtig ist.129

Die mögliche Gleichzeitigkeit von „chronisch-existenzieller“ und „situativ-akuter“ Ratlosigkeit verdeutlicht nochmals die Situierung der Beratung zwischen Erziehung und Therapie bzw. anderen Formen professioneller Lebenshilfe. Eben dieser Zwischenraum wird nun von der Literaturgattung der Manierenbücher ausgefüllt. Dabei versäumt Helmsteter es nicht, die lange Tradition der Gattung aufzuzeigen, wobei neuere Anstandslehren auf dem genreprägenden Buch Knigges Über den Umgang mit Menschen von 1788 beruhen, welches wiederum „die aufklärerische Ablösung der barocken ‚Complementierbücher‘ und der ‚Hausväterliteratur‘“ darstellt, „die sich ihrerseits aus der älteren höfischen Literatur der Fürstenspiegel, Prinzenerziehungsbücher und ‚Weltweisheits‘-Traktate gebildet haben.“130 Insgesamt beschreibt Helmstetter die Verbreitung der Ratlosigkeit als eine Entwicklung von oben nach unten: „Im Zuge der Modernisierung lösen sich die Normen der ‚Höflichkeit‘ vom Leben am Hof, verbürgerlichen und diffundieren.“131 Sie diffundieren nicht nur durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch, sondern auch in Bezug auf die Größen Alter und Geschlecht. Nachdem die Pioniere des Genres ausschließlich ein männliches Publikum fokussiert haben, wächst im Laufe des 18. Jahrhunderts das Interesse an der speziellen Mädchenpädagogik, so dass sich das Anstandsbuch zur Vervollkommnung junger Frauen zu einer überaus beliebten Gattung des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts entwickelt. Aus den hier dargestellten Aspekten der divergierenden Prozesse des Beratens und Erziehens ergibt sich für die im Folgenden zu untersuchende Ratge-

128 Helmstetter: „Guter Rat ist (un)modern“, S. 171. 129 Ebd., S. 150. 130 Ebd., S. 165f. 131 Ebd., S. 166.

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berliteratur zur Mädchenerziehung des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts nachstehender Definitionsansatz: Handbücher zur Mädchenerziehung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert bilden ein Beratungsangebot, das darauf abzielt, einen vorausgesetzten Ist-Zustand der Desorientierung seitens des zu erziehenden Mädchens in die wünschenswerte Soll-Lage der Orientierung an vorgegebenen Normen idealer Weiblichkeit umzuwandeln. Im Rahmen einer einseitigen schriftlichen Kommunikation soll das Mädchen bzw. ihr Erzieher darin unterstützt werden, richtiges (weibliches) Verhalten zu erkennen und umzusetzen. Der somit durch erzieherische Texte des Untersuchungszeitraums erstellte Verhaltenskodex über normative Weiblichkeit wird im Folgenden herauszuarbeiten sein. Wie sich meiner Einschätzung nach zeigen wird, geht der Verlauf dieser Ratgeberliteratur mit einer Banalisierung des Gegenstands einher. Nancy Armstrong verzeichnet eine Spezialisierung der Anliegen des conduct books im 20. Jahrhundert, versäumt jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Aufspaltung bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang findet.132 Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts lassen sich unterschiedlichste Schwerpunktsetzungen innerhalb der Gattung erkennen, von der allumfassenden Erziehung bis hin zu teilspezialisierten Büchern über charakterliche Tugenden und Anleitungen zur Haushaltsführung. Da Nancy Armstrong ausschließlich solche Bücher als conduct books heranzieht, die sich einer allunfassenden Erziehung des weiblichen Geschlechts widmen, lässt sich nachvollziehen, warum sie den Höhepunkt des Genres um 1800 ansiedelt. Da sich die folgende Untersuchung auf ein breiteres Spektrum an Erziehungsratgebern beziehen wird, muss sich auch der Untersuchungszeitraum verschieben. Ein wesentliches inhaltliches Merkmal der Erziehungshandbücher für Mädchen und Frauen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert besteht, wie schon die im vorigen Teilkapitel herangezogenen Texte illustriert haben, in der Idealisierung der Frau als sittliche Instanz, die moralische Werte im Kontext ihrer traditionellen Aufgaben der Kindererziehung an die Gesellschaft zurückbzw. weitergibt. An dieser Stelle entsteht jedoch ein Widerspruch: Wie Martha Vicinus dargestellt hat, schreibt der Diskurs Frauen trotz der angenommenen

132 Vgl. Armstrong: „The Rise of the Domestic Woman“, S. 99. Armstrong bezieht sich insbesondere auf aktuellere Handbücher, die ihre LeserInnen in Bezug auf Einzeldisziplinen wie etwa französische Küche oder englische Gartenkunst beraten. In Bezug auf das 19. Jahrhundert betrachtet die Autorin die unterschiedlichen Schwerpunkte der Gattung, d. h. ob es vorrangig um Erziehung des Charakters oder Befähigungen in der Haushaltsführung geht, als nahezu identisch, da sich beide Richtungen der Gattung an die Leserschaft der jeweils anderen richten. Vgl. ebd., S. 98.



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moralischen Überlegenheit, die sich im Wesentlichen auf einen verminderten Sexualtrieb stützt, eine schwächere Natur zu.133 Diese soll laut Diskurs freilich beherrscht und in die richtigen Bahnen gelenkt werden, womit Selbstkontrolle zu einem wesentlichen Merkmal idealtypischen weiblichen Verhaltens wird.134 Obwohl die Frau also „von Natur aus“ über eine ausgeprägte moralische Integrität verfügt, bedarf ihr Charakter einer grundsätzlichen Regulierung. Unter den Prämissen der moralischen Verantwortung der Frau einerseits und der von ihr geforderten Selbstkontrolle andererseits siedelt sich nun die Idealvorstellung von Weiblichkeit an. Dabei verbindet sich beides, weibliche Selbstaufgabe zugunsten anderer und ihre moralische Integrität, in der traditionellen Bestimmung des weiblichen Geschlechts zur Hausfrau, Gattin und Mutter. Die hohe Wertigkeit des traditionellen weiblichen „Berufs“ wird besonders im Hinblick auf das Publikum bürgerlicher Frauen betont, indem damit eine neue Form der Arbeit zwischen professioneller Erwerbstätigkeit und (adeligem) Müßiggang situiert wird. Dies geschieht, wie schon im vorigen Kapitel gesehen, stets mit dem Hinweis auf die weibliche Pflichterfüllung als Liebesdienst. In diesem Sinne appelliert die konkrete Ratgeberliteratur zur Mädchenerziehung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert insbesondere an das „vernünftige“ Gefühl der Frau, um das herrschende Geschlechtermodell der phallokratischen Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wie die Frau selbst werden auch ihre Gefühle einer Selbstkontolle unterworfen und somit domestiziert, d. h. die Frau wird im Sinne der Geschlechtscharakterologie durchaus als gefühlsbetont definiert, dies jedoch nur so lange, wie ihre Gefühle dem Diskurs dienend moderat, also vernünftig, bleiben. Dasselbe gilt für den weiblichen Verstand. Schöngeistige und wissenschaftliche Bildung – intellektuelle Bildung kann durchaus repräsentativ für den Pol Vernunft betrachtet werden – soll allenfalls dazu stattfinden, um den Charakter der Frau zu veredeln und sie somit auf ihre Bestimmung zur kultivierten Gesellschafterin ihres Ehemanns und qualifizierten Erzieherin ihrer Kinder vorzubereiten. In diesem Sinne soll die Frau auch ihren Intellekt mäßigen, schließlich bleibt ihr wissenschaftliche Gelehrsamkeit mit der Absicht, sich selbst zu bilden oder gar als Wissenschaftlerin in

133 Vgl. Martha Vicinus: „Introduction. The Perfect Victorian Lady“, in: Suffer and Be Still. Women in the Victorian Age, hg. v. Martha Vicinus, London: Methuen 1980, S. xiv. 134 Nancy Armstrong schreibt dazu: „The domestic woman executes her role in the household by regulating her own desire. On her ‚feeling and principle‘ depends the economic behavior that alone ensures prosperity. So conceived, self-regulation became a form of labor that was superior to labor. Self-regulation alone gave a woman authority over the field of domestic objects and personnel where her supervision constituted a form of value in its own right and was therefore capable of enhancing the value of other people and things.“ Armstrong: „The Rise of the Domestic Woman“, S. 120.

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Erscheinung zu treten, versagt. Der weibliche Verstand soll vielmehr insoweit differenziert sein, als er dazu befähigt, Anforderungen der Haushaltführung und Kindererziehung genüge leisten zu können, also nach außen zu wirken. Damit kann der vom Diskurs als wünschenswert goutierte weibliche Verstand durchaus als emotionale Intelligenz bezeichnet werden. Eine Aufspaltung der verschiedenen Ratgeber soll anhand ihrer jeweiligen Adressaten erfolgen. In einem ersten Schritt sollen an das mit der Erziehung junger Frauen und Mädchen beschäftigte Personal gerichtete Handbücher betrachtet werden. Im Einzelnen werde ich die AutorInnen Maria Edgeworth, Hannah More, Betty Gleim, Jeanne-Louise-Henriette Campan, Harriet Martineau, Karl von Raumer und Sigismund Stern heranziehen. Im Anschluss gehe ich näher auf eine Reihe von Ratgebern und Anstandslehren ein, die sich direkt an das zu erziehende Subjekt, den Zögling, wenden. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium bei der hohen Anzahl von Quellen scheint mir in der geschlechtlichen Perspektive zu bestehen. Dementsprechend sollen mit John Gregory, James Fordyce, Joachim Heinrich Campe und Georg Friedrich Niemeyer zunächst väterliche Stimmen betrachtet werden, wohingegen ein zweites Unterkapitel die mütterliche Perspektive der Autorinnen Anne Taylor, Jeanne-Louise-Henriette Campan, Matilda Pullan, Marie Calm, Julie Burow und Johanna von Sydow beleuchten soll. Im letzten Teil dieses Abschnitts sollen drei Texte untersucht werden, die sicherlich auch als Ratgeber zu verstehen sind, die ihre Lehren aber in Romanform vermitteln. In diesem Zusammenhang stehen Caroline Rudolphis Gemälde weiblicher Erziehung, Jakob Glatz’ Rosaliens Vermächtniß an ihre Tochter Amanda und Elisabeth Charlotte Pauline Guizots L’Éducation domestique zur Diskussion.

2.4.1 An die Erzieher Eine äußerst prominente Autorin erzieherischer Schriften ist zweifelsohne Maria Edgeworth. Nachdem sie 1795 Betrachtungen zur Mädchenerziehung, die Letters for Literary Ladies, veröffentlicht hat, verfasste sie gemeinsam mit ihrem Vater Richard Lovell Edgeworth ein umfangreiches allgemeinpädagogisches Werk über Practical Education, das 1798 erscheint. Darüber hinaus macht Edgeworth ausgiebig Gebrauch vom erzählerischen Medium und veröffentlicht in den folgenden Jahren eine Reihe von Moral Tales for Young People. Die erstgenannten Schriften sind als Ratgeber für Erzieher konzipiert, wobei sich die Edgeworths vorrangig an die Eltern richten. In den Essays on Practical Education stellen die Autoren die Bedeutung der häuslichen Erziehung vorzugsweise durch die Eltern dar:



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Parents must themselves preside over the education of their children, or must entirely give them into the care, of some person of an enlarged and philosophic mind, who can supply all the deficiencies of common masters, and who can take advantage of all the positive good that can be obtained from existing institutions.135

Auch die Letters for Literary Ladies richten sich nicht ausschließlich an die literary ladies selbst, sondern ebenso an deren Erzieher. Der erste Teil der Letters setzt sich aus einem fingierten Briefwechsel zweier Männer anlässlich der Geburt einer Tochter zusammen. Der erste Briefschreiber wendet sich als Gratulant an den Vater dieser Tochter und formuliert seine Kritik an den Plänen des Angesprochenen, seine Tochter philosophisch zu bilden. Ein wesentlicher Kritikpunkt besteht in der misogynen Annahme, das weibliche Geschlecht sei dem männlichen unterlegen.136 Dieses Ungleichgewicht sieht der Gentleman insbesondere in den kognitiven Fähigkeiten der Geschlechter: „[W]e see things as they are, but women must always see things through a veil, or cease to be women.“137 Der Briefschreiber warnt seinen Freund vor den Folgen einer „unweiblichen“ Erziehung, die letztlich eine Außenseiterin hervorbringe, und schließt seine Argumentation mit dem Hinweis auf die Universalität seiner Auffassung: [I]t must take a length of time to alter associations and opinions, which, if not just, are at least common in our sex. You cannot expect even that conviction should operate immediately upon the public taste. You will, in a few years, have educated your daughter; and if the world be not educated exactly at the right time to judge of her perfections, to admire and love them, you will have wasted your labour, and you will have sacrificed your daughter’s happiness: that happiness, analyse it as a man of the world or as a philosopher, must depend on friendship, love, the exercise of her virtues, the just performance of all the duties of life, and the self-approbation arising from the consciousness of good conduct.138

Die Antwort auf diesen Brief entfaltet nun die Gegenposition. Der angesprochene Gentleman protestiert gegen die Forderung des Freundes, seine Tochter „in the secure ‚bliss of ignorance‘“139 zu erziehen. Intellektuelle Bildung betrachtet der Schreibende als beiden Geschlechtern nützlich, allerdings in unterschiedlicher Weise: Während männliche Bildung auf Beruf und Status ausgerichtet ist, zielen

135 Maria u. R. L. Edgeworth: Essays on Practical Education, Bd. II, London: Hunter, Baldwin, Cradock and Joy 1815, S. 205. 136 Vgl. Maria Edgeworth: „Letter from a Gentleman to his Friend upon the Birth of a Daughter, with the Answer“, in: Dies.: Letters for Literary Ladies to Which is Added, an Essay on the Noble Science of Self-Justification, London: Johnson 1795, S. 3. 137 Ebd., S. 7. 138 Ebd., S. 43. 139 Ebd., S. 44.

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philosophische Wissensinhalte beim weiblichen Geschlecht auf dessen Vervollkommnung innerhalb der Geschlechterrolle. Demzufolge kann er den Vorwurf seines Vorredners, eine gebildete Frau maße sich Macht an, entkräften: You apprehend that knowledge must be hurtful to the sex, because it will be the means of their acquiring power. It seems to me impossible that women can acquire the species of direct power which you dread: the manners of society must totally change before women can mingle with men in the busy and public scenes of life. They must become Amazons before they can effect this change; they must cease to be women before they can desire it. The happiness of neither sex could be increased by this metamorphosis: the object cannot be worth the price.140

Alles in allem handelt es sich bei der vermeintlich feministischen Position um eine moderate Auffassung vom weiblichen Recht auf Bildung. Wie der zweite Gentleman einräumt, ist es nicht sein Anliegen, seine Tochter auf eine Position außerhalb der Gattinnen- und Mutterrolle vorzubereiten: For this reason, I should rather, in female education, cultivate the general powers of the mind than any particular faculty. I do not desire to make my daughter a musician, a painter, or a poetess; I do not desire to make her a botanist, a mathematician, or a chemist; but I wish to give her the habit of industry and attention, the love of knowledge and the power of reasoning: these will enable her to attain excellence in any pursuit of science or of literature.141

Das hier formulierte Ziel einer intellektuellen Bildung bei Frauen kann als Forderung nach Ebenbürtigkeit im Privaten charakterisiert werden. In ähnlicher Weise äußern die Edgeworths sich im Rahmen ihrer Essays on Practical Education. Unter dem Hinweis auf die bereits 1795 erschienene Schrift zur speziellen Mädchenerziehung ist dieses Werk auf die Erziehung beider Geschlechter ausgerichtet. Gleichwohl gehen die Autoren im Kontext einzelner Kapitel auf einige Besonderheiten der Mädchenerziehung ein. So heißt es im Zusammenhang mit prudence, Mädchen sollten nicht öffentlich mit Geist brillieren: Girls should be discouraged from hazarding opinions in general conversation, but amongst their friends they should be excited to reason with accuracy and with temper. It is really a part of a woman’s prudence to have command of temper; if she has it not, her wit and sense will not have their just value in domestic life.142

140 Ebd., S. 52. 141 Ebd., S. 73f. 142 Maria u. R. L. Edgeworth: Essays on Practical Education, Bd. II, S. 395.



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Hier offenbart sich ein interessantes Zugeständnis: Offenbar gesteht Edgeworth dem weiblichen Geschlecht durchaus das Recht auf wit zu, innerhalb eines geschützten Raums wird dies sogar gefordert. Von Subordination ist hier nicht die Rede, zumindest im Privaten sollen Frauen (ihren) Männern als Ebenbürtige entgegentreten. In diesem Sinne ist auch Edgeworths Skepsis gegenüber female accomplishments zu verstehen. Innerhalb der Practical Education wird der Ausbildung künstlerischer oder musischer Talente eine geringere Relevanz beigemessen. Sofern derartige Begabungen lediglich eine Form der Dressur zur Chancenoptimierung auf dem Heiratsmarkt darstellen und eine tiefere Bildung vollständig ersetzen, werden sie von den Autoren kritisiert: „[W]e wish that they should be considered as domestic occupations, not as matters of competition, or of exhibition, nor yet as the means of attracting temporary admiration.“143 Freilich spricht sich Maria Edgeworth nicht für die Teilhabe ihrer Geschlechtsgenossinnen am öffentlichen Leben aus, gleichwohl modifiziert sie die radikal-emanzipatorischen Forderungen ihrer Vorgängerin Wollstonecraft nur um ein Geringes. Auch Edgeworth zeigt sich überzeugt von der Gleichheit der Geschlechter, was in der Forderung nach einer intellektuell konzipierten Mädchenerziehung kulminiert, auch wenn dieser Gleichheit nur im privaten Raum Ausdruck verliehen werden darf. Einen weiteren rückwärtigen Schritt vollzieht dagegen Hannah More, die in der Auffassung vom defizitären Intellekt der Frau mit dem misogynen Briefschreiber aus Edgeworths Letters for Literary Ladies übereinstimmt. Ihre Konzeption von Mädchenerziehung veröffentlicht Hannah More 1799 unter dem Titel The Accomplished Woman, or Strictures on the Modern System of Female Education. In dieser Schrift legt More ihre Auffassung von der Ungleichheit der Geschlechter dar, die sie vor allem im Bereich der kognitiven Fähigkeiten lokalisiert. In summing up the evidence, if I may so speak, of the different capacities of the sexes, one may venture, perhaps, to assert, that women have equal parts, but are inferior in wholeness of mind, in the integral understanding; that though a superior woman may possess single faculties in equal perfection, yet there is commonly a juster proportion in the mind of a superior man; that if women have in an equal degree the faculty of fancy which creates images, and the faculty of memory which collects and stores ideas, they seem not to possess, in equal measure, the faculty of comparing, combining, analyzing, and separating these ideas; that deep and patient thinking which goes to the bottom of a subject; nor that power of arrangement which knows how to link a thousand connected ideas in one dependent train, without losing sight of the original idea out of which the rest grow, and

143 Ebd., S. 186.

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on which they all hang. The female, too, wanting steadiness in her intellectual pursuits, is perpetually turned aside by her characteristic tastes and feelings.144

Aus dieser Charakterisierung zieht die Autorin nicht etwa die Konsequenz, Frauen könnten intellektuelle Bildung entbehren. Vielmehr wird die Setzung der Geschlechtscharaktere dazu genutzt, den unterschiedlichen Nutzen von Gelehrsamkeit für die Geschlechter zu begründen. Wie auch Edgeworth verortet More den Wert von Bildung innerhalb der dissoziierten Geschlechterrollen, formuliert diese Trennung aber noch präziser: [The women’s] knowledge is not often, like the learning of men, to be reproduced in some literary composition, nor ever in any learned profession; but it is to come out in conduct. It is to be exhibited in life and manners. A lady studies, not that she may qualify herself to become an orator or a pleader; not that she may learn to debate, but to act. She is to read the best books, not so much to enable her to talk of them, as to bring the improvement which they furnish to the rectification of her principles and the formation of her habits. The great uses of study to a woman are to enable her to regulate her own mind, and to be instrumental to the good of others.145

Ebenso wenig wie Edgeworth plädiert Hannah More für geistige Bildung in der Mädchenerziehung mit dem Ziel, die Educandinnen möchten ihr Wissen anwenden. Vielmehr argumentiert sie in ihrer Position als religiöse Moralistin dahingehend, dass Wissen Demut erzeugt: Far be it from me to desire to make scholastic ladies or female dialecticians; but there is little fear that the kind of books here recommended, if thoroughly studied, and not superficially skimmed, will make them pedants, or induce conceit; for by showing them the possible powers of the human mind, you will bring them to see the littleness of their own;146

Auch hier wird im Zusammenhang von Weiblichkeit und Bildung das Schreckensbild der Pedantin bemüht. Intellektuelle Professionalität gilt demnach auch bei Hannah More als unweiblich und wird mit der Begründung verworfen, das weibliche Geschlecht stünde ohnehin dem Gefühl näher als dem Verstand: „Their hearts are naturally soft and flexible, open to impressions of love and gra-

144 Hannah More: The Accomplished Lady, or Strictures on the Modern System of Female Education. With a View of the Principles and Conduct Prevalent Among Women of Rank and Fortune, Boston: Loring 1838, S. 232f. 145 Ebd., S. 215. 146 Ebd., S. 140f.



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titude; their feelings tender and lively“147. Besonderes Augenmerk liegt auf den vermeintlichen Gefahren ungebremster Emotionalität, die laut More äußerst weit reichen: „Perhaps, if we were to inquire into the remote cause of some of the blackest crimes which stain the annals of mankind, profligacy, murder, and especially suicide, we might trace them back to this original principle, an ungoverned sensibility.“148 Derartige Unterstellungen verdeutlichen die Dringlichkeit der folgenden Warnung vor ungezügelter Emotionalität. For young women of affections naturally warm, but not carefully disciplined, are in danger of incurring an unnatural irritability; and while their happiness falls a victim to the excess of uncontrolled feelings, they are liable at the same time to indulge a vanity of all others the most preposterous, that of being vain of their very defect [Hervorhebungen D. K.].149

Hier fällt vor allem die Verwendung des Attributs Natürlichkeit ins Auge: Während eine ausgeprägte Affektivität grundsätzlich als natürlich weiblich gekennzeichnet wird, liegt auf einer unkontrollierten, entfesselten Variante das Konnotat von Widernatürlichkeit. Mores Kritik an female sensibility bezieht sich auf die Gradwanderung einer Balance zwischen dem rechten Maß und dem Exzess bzw. zwischen weiblich und unweiblich. Das verdeutlicht auch die folgende Feststellung: By constantly stimulating and extolling feelings naturally quick, those feelings will be rendered too acute and irritable. On the other hand, a calm and equable temper will become obtuse by the total want of excitement; the former treatment converts the feelings into a source of error, agitation, and calamity; the latter starves their native energy, deadens the affections, and produces a cold, dull, selfish spirit; for the human mind is an instrument which will lose its sweetness if strained too high, and will be deprived of its tone and strength if not sufficiently raised.150

Damit wären die Endpole von idealtypischer Weiblichkeit abgesteckt: Exzessive Gefühlsbetonung auf der einen und kalte Emotionslosigkeit auf der anderen Seite – beides gleichermaßen ‚unweiblich‘. Die Maxime einer Weiblichkeit in Mäßigkeit wird hier besonders zugespitzt formuliert, es bedarf kaum der Betonung, dass Hannah More in der Erziehung das notwendige Korrektiv für normabweichendes weibliches Verhalten sieht.

147 Ebd., S. 235f. 148 Ebd., S. 282. 149 Ebd., S. 281. 150 Ebd., S. 280.

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Betty Gleims 1810 erschienene Abhandlung über Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts fußt grundsätzlich auf der Lehre Pestalozzis. Mit dem Untertitel „Ein Buch für Eltern und Erzieher“ bestimmt die Autorin ihr Publikum. Wie schon Julie Burow differenziert Gleim zwischen der Frau als Mensch und der Frau als Geschlechtswesen: Jeder Mensch ist nun entweder Mensch, Mann und Erdenbürger; oder Mensch, Weib und Erdenbürger. In diese zwei Hauptäste theilt sich das Menschengeschlecht; bleiben wir bei dem zweiten stehen. Jedes Kind, das ein Mädchen ist, soll also werden, erstlich: Mensch; zweitens: Weib; drittens: Erdenbürger.151

Im Gegensatz zu Burow sieht Betty Gleim die verschiedenen Rollen der Frau analog zu denen des Mannes als wirklich differente Aufgabenbereiche, wohingegen Burow wie besprochen die Kongruenz zwischen geschlechtlichen und menschlichen Pflichten der Frau betont. Bei Gleim lautet das Ziel, Mensch und Weib und Erdenbürger zu werden, und eben dazu soll die Frau erzogen werden. Dabei findet sich nochmals eine Unterscheidung, nämlich die zwischen Erziehung und Bildung. Ersteres definiert Gleim wie folgt: Die Erziehung ist also das Senfkorn, aus dem der Stamm eines neuen Geschlechts erwachsen kann. [...] Erziehung im engern Sinn ist hingegen die nach Vernunftprincipien gedachte und mit Vernunft ausgeführte Erregung, Entwicklung und Bildung aller Kräfte des Menschen. Nur mit Erziehung dieser Bedeutung haben wir es hier zu thun.152

Dagegen versteht die Autorin unter dem Stichwort Bildung folgendes: Bildung ist nicht der Besitz eines Aggregats von Kenntnissen; denn nicht die extensive Größe des Geistes hat Werth, sondern die intensive; nicht der Grad, sondern die Art des Verstandes; Bildung ist eine freie, selbstständige, allseitig harmonische Gestaltung oder Gestalt seiner selbst und seines Lebens, und die daraus hervorgehende Richtung des Geistes und Gemüths, welche das Manichfaltige zur Einheit bringt!153

151 Betty Gleim: Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Ein Buch für Eltern und Erzieher, Paderborn: Hüttemann 1989 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 4; Nachdruck der Ausg. Leipzig 1810), S. 57. 152 Ebd., S. 7f. 153 Ebd., S. 13.



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Der Begriff Bildung – später spricht Gleim auch von Kultur – wird hier programmatisch im Sinne einer Identifikation mit bürgerlichen Werten gebraucht.154 Bildung dient vor allem der Ausbildung moralischer Werte, es geht weniger um ein praktisch umsetzbares Wissen. In diesem Sinne setzt die Autorin Kultur, ein Begriff der stets mitschwingt wenn von Bildung die Rede ist, polar gegen alle menschlichen Untugenden. Alles Unglück in den Verbindungen der Menschen mit einander entspringt meistens aus der Macht des Egoismus und aus zügellosen Leidenschaften. Die Cultur aber, die den Blick und die Sehnsucht auf das Ganze, das Allgemeine richtet, die in das Reich der Ideen einführt, schwächt die Ansprüche der Eigenliebe; tödtet die unedlen Neigungen, und läßt in eben dem Maaße mehr zu die Sorge für das, was der Andern ist, als sie den beschränkten Blick von dem eigenen Selbst abwendet.155

Die Bedeutung, die Bildung und Kultur gerade für das weibliche Geschlecht besitzen, ist also kaum zu überschätzen, schließlich sind die Untugenden, gegen die sich Bildung und Kultur als wirksame Gegenmittel erweisen, laut Gleim typisch weibliche Eigenschaften. Denn „Eitelkeit und Gefallsucht“, an anderer Stelle ist außerdem von typisch weiblicher „Ueppigkeit“156 die Rede, „sind das radicale Böse der Weiber, aus dem fast alle andere Untugenden sich herleiten lassen“157. Im Gegensatz zu den propagierten Werten einer Vernunft fördernden Erziehung, die zügellose Leidenschaften mäßigen kann und soll, spricht Betty Gleim andererseits von Gefühlsbetontheit und Empathie als weiblichen Tugenden. Demnach offenbart sich die weibliche Individualität „vorzüglich in einer größern Feinheit und Zartheit der ganzen Organisation, in einer lebhaften Reizbarkeit des Gefühls“158. Der negativen Bewertung dieses dem diskursiven Stereotyp entsprechenden Charakterzugs entgegnet Gleim: „Man hat diese Anlage oft Schwäche nennen wollen, aber ist nicht eben das Vermögen, afficirt, ergriffen zu werden, das Fundament, auf dem so viel Herrliches ruht!“159 Zweifellos hat diese Art des Gefühls nichts mit Zügellosigkeit zu tun, im Gegenteil dient die hier beschriebene emotionale Vulnerabilität – denn um nichts anderes handelt es sich, wenn die Frau permanent Gefahr läuft „afficirt, ergriffen“ zu werden – dazu, die Frau auf

154 Georg Bollenbeck beschreibt das Konzept Bildung und Kultur als typisch deutsches Deutungsmuster mit dem Bürgertum als Trägerschicht. Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 20ff. 155 Gleim: Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts, S. 63. 156 Ebd., S. XII. 157 Ebd., S. 85. 158 Ebd., S. 83. 159 Ebd., S. 83f.

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die häusliche Sphäre zu verweisen. Tatsächlich hält Gleim nicht viel von Wollstonecrafts Gedanken über Frauen im öffentlichen Leben: „Nein, die Pläne, die Weiber an allen öffentlichen und bürgerlichen Aemtern der Männer Theil nehmen zu lassen, sind eitel chimärisch, geeignet, das Unterste nach oben zu drehen, und eine völlig verkehrte Welt herbeizuführen.“160 Stattdessen hebt Gleim traditionelle weibliche Pflichten hervor und sieht noch nicht einmal die Notwendigkeit, unverheiratete Frauen von ihren traditionellen Aufgaben zu entbinden.161 Umso überraschender wirkt die abschließende Aussage der Autorin: Die Frauen regieren die Welt; mögen die Männer dies hören wollen, oder nicht. Von ihrer Beschaffenheit hängt das Wohl und Weh, die Veredlung oder das Verderben des Ganzen ab; wie sie sind, wird das Menschengeschlecht sein. Ist dies wahr, o so ist es ja nothwendig, zu sorgen, daß nicht länger die eine große Hälfte des Menschengeschlechts, und mit ihr die andere, geistig zu Grunde gehe; so ist es ja dringend, sie besser zu machen, damit die Nachkommen besser werden; sie zu erlösen von der moralischen Starrsucht der Eitelkeit, der Flachheit, der Geistesarmseligkeit, und in ihr zu schaffen Selbsterkenntniß statt der Eitelkeit, und Tiefe statt der Unbedeutenheit, und Gemüthsfülle statt der Leerheit. Darum ergehet denn wahrlich angelegentlich der Ruf: Erziehet die Weiber ernster, würdiger, edler!162

Damit wiederholt Betty Gleim die Vorstellung von der Frau als Hüterin der Sitten, wie sie Fénelon bereits im 17. Jahrhundert konzipiert hat. Bildung soll die Frau ausschließlich dazu befähigen, ihre traditionelle Geschlechterrolle adäquat ausfüllen zu können. Ein aktives Mitwirken ihres Geschlechts im gesellschaftspolitischen Leben lehnt Gleim ab. Jeanne-Louise-Henriette Campans umfangreiches Werk über Erziehungsfragen lässt sich weniger leicht in das hier vorgeschlagene Schema eingliedern als die übrigen Schriften. Ihre Arbeit De l’éducation, die erstmals 1823 posthum veröffentlicht wurde, gliedert sich in verschiedene Abschnitte, die sich an diverse Adressaten richten. An dieser Stelle sollen zunächst die ersten drei Teile des Hauptwerks De l’éducation betrachtet werden unter Ausschluss des vierten Teils, der die

160 Ebd., S. 105f. 161 In diesem Sinne heißt es bei Gleim: „Die den meisten Weibern bestimmte Wirkenssphäre ist diejenige einer Gattinn, Mutter und Hausfrau; und selbst solche Frauenzimmer, welche unverheirathet bleiben, haben gewöhnlich Pflichten zu erfüllen, welche denen des erwähnten Berufes nahe liegen; deshalb sollte jedes Mädchen für die Erfüllung derselben besonders vorbereitet werden, denn der gute Wille allein reicht hier nicht aus; das savoir faire, Anstelligkeit, Gewandtheit, Thatkraft ist’s, worauf so sehr viel ankommt.“ Ebd., S. 132. 162 Ebd., S. 150.



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öffentliche Erziehung behandelt. Diese Auswahl folgt der von Ruth Bleckwenn herausgegebenen Übersetzung, die den Titel Die häusliche Erziehung vorzüglich des weiblichen Geschlechts von dem ersten Lebensjahre bis in das reifere Alter trägt.163 Diese ersten drei Teile richten sich insbesondere an die Mütter, wobei die erste Abhandlung von der Kindheit allgemein handelt, während sich die zweite und die dritte Abhandlung der speziellen Mädchenerziehung widmen. Dem Wirken der Mütter schreibt die Autorin bereits in ihrem Vorwort eine eminente Bedeutung zu: „Comme mères, comme épouses, comme sœurs, les femmes ont la plus grande influence sur la destinée des hommes.“164 Die Auffassung, wonach die Ausübung der traditionellen Frauenrolle der einzige Beitrag des weiblichen Geschlechts zum Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft sein kann, setzt sich noch weiter fort, entsprechend heißt es im Vorwort außerdem: Leurs noms figureront moins dans l’histoire: puissent-elles, pour leur bonheur, offrir encore moins de sujets aux romans! Qu’un sentiment vraiment national les porte à regarder leur intérieur comme le seul théâtre de leur gloire, et bientôt la morale publique montrera les pas immenses que l’ordre social a faits vers un meilleur ordre de choses.165

Dieselbe Anschauung vermittelt auch der Herausgeber François Barrière in seiner Einleitung, dort wird auf Natur und Vernunft hingewiesen, um das eintönige Leben in der Abgeschiedenheit des Hauses zu legitimieren.166 Wie sehr es einer Aufwertung häuslicher und erzieherischer Pflichten bedarf, verdeutlicht sich anhand der Themen, die im Folgenden erörtert werden. Madame Campan beginnt ihre Ausführungen bereits in Bezug auf das Säuglingsalter des Kindes und geht dabei stark ins Detail. Zunächst werden die Vor- und Nachteile einer Amme sowie nachfolgender Wärterinnen und Erzieherinnen erörtert. Insgesamt herrscht die Auffassung vor, dass nur die Mutter selbst die Pflichten des

163 Die betreffende Edition erschien 1992 als siebter Band im Rahmen der Reihe „Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung“. Vgl. Jeanne L. Campan: Die häusliche Erziehung vorzüglich des weiblichen Geschlechts von dem ersten Lebensjahre bis in das reifere Alter, hg. v. Ruth Bleckwenn, Paderborn: Hüttemann 1992 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 7; Nachdruck der Ausg. Leipzig 1824). 164 Jeanne-Louise-Henriette Campan: De l’éducation, in: De l’éducation par Madame Campan, suivi des Conseils aux jeunes filles, d’Un Theatre pour les jeunes personnes et de Quelques essais de morale, Bd. 1, hg. v. François Barrière, 3. Aufl., Paris: Baudouin Frères 1826, S. 2. 165 Ebd., S. 3. 166 Dazu heißt es: „Ces habitudes, ces occupations d’une vie qui s’écoule dans la retraite, sont imposées aux femmes par la nature et la raison. Le mari déploie au dehors son courage, sa force et son activité; plus craintive et plus faible, l’épouse reste au logis chargée des soins nombreux de la famille.“ Vgl. ebd., S. xviii.

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Stillens und Pflegens des Säuglings am besten ausführen könne. Damit entspricht Campan nicht gerade dem Zeitgeist, was wohl der Grund ist, weswegen den Leser im ersten Kapitel ein Fülle von Vorurteilen gegen fremde Ammen und die Vorsichtsmaßnahmen, die bei der Wahl einer passenden Kandidatin getroffen werden müssen, erwarten. Während sich der Abschnitt „De l’enfance“ noch auf Mädchen und Jungen bezieht, wird hier durchaus schon verdeutlicht, dass nur die Mädchen dauerhaft der Erziehung der Mütter unterstehen sollen. Nach dem siebten Lebensjahr sollen Jungen der alleinigen Aufsicht ihrer Mütter entzogen werden. Die Begründung dafür liefert die bereits bekannte Charakterisierung des weiblichen Geschlechts als besonders feinfühlig und von schwächeren Nerven: C’est jusqu’à l’âge de sept ans qu’un jeune garçon peut être guidé par des mains maternelles; plus tard il faut l’en éloigner: l’austérité des études, la violence des jeux, celle des exercices, tout ce qu’il faut faire enfin dans l’éducation des hommes pour tremper fortement leurs âmes, viendraient sans cesse heurter l’exquise sensibilité d’une mère.167

Der Leser gewinnt den Eindruck, als wären die Folgen einer Koedukation weitaus verheerender für die Erzieherinnen als für die Zöglinge. Auch die besonderen Erfordernisse der Mädchenerziehung werden in diesem Abschnitt bereits angedeutet. So wird dem Gehorsam, zu dem Kinder beiderlei Geschlechts im Alter zwischen drei und sieben Jahren angeleitet werden sollen, von Mädchen in ganz besonderer Weise gefordert: C’est l’habitude de l’obéissance qui forme le caractère. […] Mais il est surtout utile aux femmes de savoir obéir. C’est là qu’est la vraie source de leur bonheur; un père, une mère, un mari, disposent de leur vie entière, et elles ont de plus à porter avec soumission le joug des bienséances.168

Nach diesen Vorbereitungen kommt Madame Campan in der zweiten Abhandlung schließlich ausführlich auf die Erziehung der Mädchen zu sprechen. Dabei betont die Autorin zunächst die Überlegenheit mütterlicher Erziehung im Vergleich mit schulischer Erziehung: Il n’y a point de pension, quelque bien tenue qu’elle soit; il n’y a pas de grand établissement national, quelque sagement organisé qu’il puisse être; il n’y a point de couvent, quelle que soit sa pieuse règle, qui puisse donner une éducation comparable à celle qu’une fille reçoit

167 Ebd., S. 41. 168 Ebd., S. 52f.



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de sa mère, quand elle est instruite et qu’elle trouve sa plus douce occupation et sa vraie gloire dans l’éducation de ses filles;169

Die wesentlichen Vorzüge, die Madame Campan in der häuslichen Erziehung der Mädchen sieht, liegen darin, dass die Zöglinge einerseits in ihren Müttern beispielhafte Vorbilder vor Augen haben, die es gilt nachzuahmen, zum anderen vollzieht sich der Lebenszweck der Mutter in der Erziehung ihrer Töchter. Im Rahmen der speziellen Mädchenerziehung wird unaufhörlich betont, dass sich die weibliche Existenz einzig auf den familiären Bereich des Hauses, auf die private Sphäre erstreckt. Alles was ein Mädchen also lernen soll – soweit es überhaupt etwas jenseits hauswirtschaftlicher Fertigkeiten lernen soll – dient dementsprechend ausschließlich dazu, das häusliche Leben zu vervollkommnen. Dies betrifft vor allem Kunstfertigkeiten in den Disziplinen Musik und Malerei, die auch bei Madame Campan zu den Befähigungen eines wohlerzogenen Mädchens gehören. In diesem Zusammenhang heißt es: „Les talens répandent un grand charme sur la vie; ils animent la solitude, ils complètent le bonheur, ils consolent le chagrin; mais c’est dans l’intérieur du logis qu’ils sont utiles et doux, ailleurs ils peuvent devenir funestes.“170 Um die Gefahren zu großer Kunstfertigkeiten zu verhüten, platziert die Autorin gleich im Anschluss an die Wertschätzung künstlerischer Talente einen Einwand gegen dieselben: Je veux faire moi-même, contre la culture des arts, une objection puissante. Je crois avoir remarqué qu’ils nuisaient au développement de la pensée; le temps prodigieux qu’ils exigent pour les acquérir en est sans doute la cause. Souvent aussi l’enthousiasme qu’ils inspirent exalte une jeune imagination, et, parmi les femmes, ce résultat n’est pas le moins fâcheux.171

Demnach gefährdet ein zu reges Interesse an künstlerischen Aktivitäten die Vernunft des Mädchens – der Begriff des ‚gesunden Menschenverstandes‘ scheint mir hier angebrachter zu sein – da Phantasie und Einbildungskraft zu stark angeregt werden. In jedem Fall sollen heftige Regungen des Mädchens verhindert werden. Künstlerische Neigungen, die zu Überschwang und Unmäßigkeit führen könnten, werden demnach nur begrenzt empfohlen: Das richtige Maß bleibt Dreh- und Angelpunkt. Ähnlich verhält es sich mit der Kunstrezeption. Insbesondere vor dem großen Interesse junger Mädchen an Romanen – es kann nur von empfindsamen Romanen die Rede sein – wird die Mutter gewarnt.

169 Ebd., S. 122. 170 Ebd., S. 157. 171 Ebd.

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

Les lectures romanesques ont de plus l’inconvénient d’exalter la sensibilité. Pour que ce don précieux de la nature ne nuise pas au bonheur, il faut que la sensibilité se forme avec le jugement, autrement on porte tout à l’extrême; on n’apprécie plus, on admire; on n’approuve plus, on vante; on n’aime plus, on adore; les événemens les plus ordinaires paraissent un bonheur inouï où un revers désespérant.172

Auch an dieser Stelle wird vor Extremen gewarnt und auf Einhaltung des rechten Maßes gedrängt. Die extreme Form der Emotionalität, wie Campan sie in der Literatur gegeben sieht, wird von der Autorin als künstlich verurteilt, wie die folgende Beschreibung wahrer Empfindsamkeit verdeutlicht: La véritable sensibilité s’unit à la bonté, à la compassion; elle rentre ainsi dans le domaine du cœur; exagérée, elle appartient à celui de l’imagination; elle n’aura point pour unique objet de porter une jeune fille de quatorze ans à confondre les expressions de la tendresse filiale avec celles d’un sentiment que son cœur devine.173

Mit Güte und Mitleid werden hier die Aspekte des Gefühls betont, die als altruistische Kompetenzen die besondere Eignung des weiblichen Geschlechts zur Erfüllung häuslicher Pflichten hervorheben. Es sind „vernünftige“ Gefühle, von denen Campan hier spricht, angepasst an das, was sie im Leben als Hausfrauen, Mütter und Ehefrauen erwartet. Mütter sollen ihre Töchter in der Konzeption Madame Campans dazu erziehen, sich mit dem für sie vorherbestimmten Leben zu identifizieren. Der weibliche Charakter soll grundsätzlich zurückhaltend sein – so wird das Mädchen stets ermahnt, Maß zu halten und extreme Regungen beizeiten zu regulieren – damit der Frieden des Haushalts gewährleistet bleibt und nicht etwa durch aufkommende Ambitionen der Frau, aktiv am gesellschaftlichen Geschehen teilzunehmen, gestört wird. Wie sich schon anhand des Titels ableiten lässt, widmet sich Harriet Martineau in ihrer Erziehungsschrift Household Education aus dem Jahr 1849 nicht nur der Erziehung der Töchter, sondern generell der Kindererziehung im Elternhaus. Die wohl wichtigste Überzeugung Martineaus besteht darin, dass der aufoktroyierte Gehorsam, der bei Kindern durch Druck und Härte erzeugt wird, nicht in das Wesen des Kindes hervordringt. Vielmehr sollen Kinder dazu angeleitet werden, aus Achtung aber auch aus Liebe zu ihren Eltern zu folgen:

172 Ebd., S. 182f. 173 Ebd., S. 183.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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Above all things it is important that the parental administration should be one of love and not of fear. There can be no healthful growth of the Will under the restraints of fear. The fact is, the Will is not trained at all in any frightened person.174

Darüber hinaus fordert Martineau eine Erziehung, die sich auf mehrere Ebenen erstreckt, also keinesfalls ausschließlich den Intellekt anspricht. Obwohl die Autorin den Nutzen eines ausgedehnten book-learning nicht bestreitet, sieht sie doch eine Gefahr darin, einzig head work zu betreiben, „without the labour of the hands which is the way to much wisdom“175. Nichtsdestotrotz hält Martineau die Ausbildung geistiger Kapazitäten für wichtig, auch was das weibliche Geschlecht anbelangt. Der Mädchenerziehung widmet Martineau schließlich ein Kapitel, das mit dem Stichwort reasoning faculities überschrieben ist. Martineau sieht durchaus einen Zusammenhang von Verstandesbildung und explizit weiblicher Erziehung, und kritisiert dementsprechend gegenteilige Praktiken ihrer Zeit: I must declare that on no subject is more nonsense talked, (as it seems to me) than on that of female education, when restriction is advocated. In works otherwise really good, we find it taken for granted that girls are not to learn the dead languages and mathematics, because they are not to exercise professions where these attainments are wanted; and a little further on we find it said that the chief reason for boys and young men studying these things is to improve the quality of their minds. I suppose none of us will doubt that everything possible should be done to improve the quality of the mind of every human being.176

In geschickter Weise führt Martineau hier die Argumente der patriarchalischen Auffassung von geschlechtsspezifischer Erziehung ad absurdum. Ähnlich wie schon Mary Wollstonecraft äußert Harriet Martineau die Überzeugung, dass Wissen und Bildung bei der Ausübung traditionell weiblicher Pflichten nicht etwa hinderlich sind, sondern Frauen umso besser für ihren geschlechtlichen „Beruf“ qualifizieren.177

174 Harriet Martineau: Household Education, hg. v. Setsuko Kagawa, Bristol: Thoemmes Continuum 2004 (= Women’s Education in the Nineteenth Century. The Mother: Education in the Home, Bd. 4; Nachdruck der Ausg. London 1849), S. 76. 175 Vgl. ebd., S. 46. 176 Ebd., S. 240. 177 Valerie Sanders belegt dies mit dem Vergleich zweier Textstellen Martineaus und Wollstonecrafts: Während es bei Wollstonecraft heißt: „[M]ake women rational creatures, and free citizens, and they will quickly become good wives, and mothers; that is – if men do not neglect the duties of husbands and fathers.“ (Wollstonecraft: A Vindication of the Rights of Woman, S. 412), reproduziert Harriet Martineau dieses Argument wie folgt: „From the simplest rules of arithmetic let her go on, as her brother does, as far into the depths of science, and up to the heights of philo-

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

Es zeigt sich, dass Harriet Martineau die Frau primär als menschliches und erst danach als geschlechtliches Wesen betrachtet. Der Begriff Bildung wird von ihr in zweifacher Hinsicht gebraucht. Einerseits geht Martineau wie auch Betty Gleim davon aus, dass Bildung zur Vervollkommnung menschlicher Tugenden dient, andererseits ist sie sich aber auch des Nutzens einer soliden Bildung bewusst. Zwar bewertet die Autorin die Ausübung eines Berufs nicht gerade als wünschenswert für alle Frauen, sondern betrachtet dies eher als notwendiges Übel, auf das man sich einstellen muss, allerdings weist sie immerhin darauf hin, dass immer mehr Frauen ihrer Zeit in die Situation kommen, ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Sie rät dementsprechend dazu, sich angemessen darauf vorzubereiten: Formerly, every woman was destined to be married; and it was almost a matter of course that she would be: so that the only occupation thought of for a woman was keeping her husband’s house and being a wife and mother. It is not so now. From a variety of causes, there is less and less marriage among the middle classes of our country; and much of the marriage that there it does not take place till middle life. A multitude of women have to maintain themselves who would never have of such a thing a hundred years ago.178

Sicherlich will auch Harriet Martineau nicht als radikale Frauenrechtlerin gelten, schließlich räumt sie direkt im Anschluss an das obige Statement ein, ihre Schrift böte nicht den Platz, darüber zu diskutieren, ob der Umstand, dass Frauen in die Situation kommen, einen Beruf zu ergreifen, lobens- oder beklagenswert sei.179 Die Autorin fordert lediglich, Frauen sollten darauf vorbereitet sein, sich selbst zu finanzieren. Die Ausübung eines Berufs soll also nur stattfinden, wenn es die Situation erzwingt; diese Option wird keineswegs als weibliche Selbstverwirklichung betrachtet. Diese sieht auch Martineau einzig in der Ausübung traditionell weiblicher Pflichten. Dabei lässt sich einräumen, dass sie wie auch viele andere AutorInnen der Zeit die intellektuelle Bildung der Ausübung häuslicher Pflichten unterordnet. Erstere soll wiederum vorrangig zu dem Zweck erworben werden, um den „weiblichen Beruf“ bestmöglich ausfüllen zu können. So heißt es:

sophy as her powers and opportunities permit; and it will certainly be found that the more she becomes a reasoning creature, the more reasonable, disciplined and docile she will be: the more she knows of the value of knowledge and of all other things, the more diligent she will be; – the more sensible of duty, – the more interested in occupations, – the more womanly.“ (Martineau: Household Education, S. 244f.) Vgl. Valerie Sanders: Reason Over Passion. Harriet Martineau and the Victorian Novel, Brighton: Harvester Press 1986, S. 175. 178 Martineau: Household Education, S. 243f. 179 Vgl. ebd., S. 244.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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For my part, I have no hesitation whatever in saying that the most ignorant women I have known have been the worst housekeepers; and that the most learned women I have known have been among the best; – wherever they have been early taught and trained to household business, as every woman ought to be.180

Im Vergleich etwa mit Betty Gleim entwirft Harriet Martineau ein recht fortschrittliches Erziehungsprogramm, das die uneingeschränkte Autorität des Erziehenden zwar voraussetzt, diese aber nicht durch Einschüchterung herbeiführt. Das wirksamste Erziehungsmittel sieht Martineau stattdessen in der Liebe. Gegenseitige Zuneigung soll ein Verhältnis des gegenseitigen Respekts zwischen Eltern und ihren Kindern schaffen, innerhalb dessen nichts aus reinem Zwang geschieht. Nur wenige Jahre nach Harriet Martineaus Household Education erscheint 1853 Karl von Raumers Handbuch Die Erziehung der Mädchen als dritter Band innerhalb von Raumers Geschichte der Pädagogik. In seiner Argumentation stützt sich Raumer vor allem auf Albertine Necker de Saussure, die er vielfach zitiert. Zunächst wendet Raumer sich jedoch seinem Vorgänger Fénelon zu. Dessen einleitenden Pessimismus, was die Qualität der Mädchenerziehung betrifft, wird von Raumer noch ergänzt: „‚Nichts ist so vernachläßigt, als die Erziehung der Mädchen‘; mit diesen Worten begann Fenelon [sic!] sein Buch über Mädchenerziehung. Vielleicht schriebe er jetzt nicht: ‚vernachläßigt‘, sondern: ‚verschroben und verkehrt‘.“181 Das Ideal, das Raumer dem entgegensetzt, beruht vollends auf dem zeittypisch patriarchalen Geschlechtermodell. Ein gut erzogenes Mädchen soll ihrem Charakter nach gottesfürchtig und bescheiden sein, sie soll zwar gebildet sein, aber nicht zu viel wissen, vor allem aber soll sie auf ihre Rolle als Hausfrau, Gattin und Mutter vorbereitet sein. Ein Zuviel an intellektueller Bildung kann dem laut Raumer im Wege stehen: Da den Mädchen so vielerlei und meist mit pedantischer Weitläufigkeit und Scheingründlichkeit gelehrt wird, so läßt sich denken, daß wenig oder keine Zeit zum thätigen Eingreifen in die Haushaltung übrig bleibt. Ich habe Mädchen gekannt, die bis in die Nacht hinein an Schulaufgaben arbeiteten, die nichts gelernt und geübt, was sie in ihrem neuen Berufe wißen und üben sollen.182

180 Ebd., S. 241. 181 Karl von Raumer: Die Erziehung der Mädchen, hg. v. Ruth Bleckwenn, Paderborn: Hüttemann 1988 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 1; Nachdruck der Ausg. Stuttgart 1853), S. 33. 182 Ebd., S. 22f.

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

Noch schärfer verurteilt der Autor das Romanlesen. Zwar klammert er klassische Werke aus, unterstellt seinen Zöglingen aber, nicht zwischen diesen und sogenannten „Leihbibliotheks-Scharteken“183 unterscheiden zu können. So heißt es: Die liebevollste, thätigste Geistesgegenwart der Mädchen wird durch solch Lesen vernichtet, da es zu einer steten Geistesabwesenheit führt, die sie völlig unfähig macht, besonnen und geschickt ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen, und ein schlichtes, gottgefälliges Leben zu führen. Ernste, heilige Gedanken finden keine Stelle in einem solchen verlesenen Mädchen, wie könnten sie auch mit frivolen Liebesgeschichten und verkehrten, gemeinen, phantastischen Liebesidealen ungestört zusammen wohnen?184

Auch wenn hier von „ernsten Gedanken“ die Rede ist, warnt Raumer vor wissenschaftlicher Pedanterie. Unter Bildung versteht der Autor etwas anderes: Sie [die Bildung] soll die Leidenschaft mäßigen, die Begeisterung und reine, innige Liebe pflegen; sie soll das Gemüth zu wahrer andächtiger Freude an Natur und Kunst stimmen. Bildung darf bei Mädchen niemals in Wißenschaft ausarten, sonst hört sie auf, zarte weibliche Bildung zu sein. Das Mädchen kann und darf sich in nichts Wißenschaftliches mit jener hartnäckigen, männlichen Ausdauer vertiefen, daß sie darüber alles andere vergäße. Nach Männer Weise in der Wißenschaft gründlich zu sein, darnach könnte nur ein ganz unweibliches Mädchen streben, und nur vergebens streben, da ihr Kraft und Talent des Mannes mangelt.185

In einem Kapitel über den Geschichtsunterricht hebt Raumer diese Ansicht nochmals hervor, indem er seine Überzeugung ausdrückt, „daß Ausbildung der Empfindung, des Gefühls, des Sinns für das Große und Edle, nicht aber Anfüllung des Gedächtnisses, Ziel des Geschichtsunterrichts für Mädchen sein muß“186. Der Zweck, das weibliche Gefühl auszubilden, besteht in letzter Konsequenz darin, der Frau ein euphemistisches Bild ihrer Pflichten zu vermitteln. Tatsächlich sind es die häuslichen Pflichten, die das „Große und Edle“ des Frauenlebens darstellen. Pflichten werden wie schon bei Frances Power Cobbe zu Vorrechten umgedeutet, um nicht den Anschein von Benachteiligung zu erwecken. „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung.“187 Dieses Goethe-Zitat erhebt Karl von Raumer zum Motto seiner Mädchenpädagogik:

183 Ebd., S. 24. 184 Ebd., S. 24f. 185 Ebd., S. 82. 186 Ebd., S. 132. 187 Johann Wolfgang von Goethe: „Herrmann und Dorothea“, in: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 4.1: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797, I, hg. v. Karl Richter, München: Hanser 1988, S. 608.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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In diesen goldenen Worten ist das wesentliche Moment in der Mädchen-Erziehung ausgesprochen: sie sollen dienen lernen, damit sie hierdurch befähigt werden, nicht bloß mit Worten und mit der Zunge, sondern mit der That und Wahrheit zu lieben.188

An anderer Stelle spricht Raumer dann explizit vom „Liebesdienst“189, um altruistische Aktivitäten solchen, denen das Mädchen nur für sich nachgeht (z. B. Handarbeit oder Klavierspiel), hierarchisch überzuordnen. Auch gesellschaftliche Gepflogenheiten wie Tanzbälle u. ä. werden von Raumer grundsätzlich abgelehnt. Die Kritik gegenüber derartigen Zerstreuungen ist ein Teil des „nationalen (deutschen) Bildungsdiskurs[es] antifranzösischer Prägung“190, deren Vertreter Raumer ist, wie Hanno Schmitt in seiner 2007 erschienen Arbeit zur Pädagogischen Volksaufklärung im 18. Jahrhundert darlegt. In seiner Kritik betont Raumer nicht nur, wie viel „sittlich reiner und interessanter“191 die englische Literatur im Verhältnis zur französischen ist, sondern drückt sogar die Auffassung aus, schon das Erlernen der französischen Sprache sei moralisch gefährdend. Denjenigen, die das Beherrschen der französischen Sprache in den Bildungskanon zählen, entgegnet Raumer: Aus dem Gesagten ergibt sichs nun, daß von solchem Französischlernen nur von Abrichten aber nicht entfernt von Bildung die Rede ist, von ächter Bildung, der nichts ferner steht als solch französisches Geschwätz.192

Stattdessen plädiert er mit Goethe für den Gebrauch der Muttersprache, da man sich in dieser schlicht feinsinniger ausdrücken könne als in jeder fremden.193 Insgesamt trägt auch Raumer zu der Ideologie des Geschlechtscharakterdiskurses bei, die bestrebt ist, die Frau im Haus zu halten. Nicht nur werden tiefere Bildungsinhalte ebenso wie das Lesen von Romanen als unweiblich verurteilt,

188 Raumer: Die Erziehung der Mädchen, S. 88. 189 Ebd., S. 89. 190 Hanno Schmitt: Pädagogische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext. Rochow und Pestalozzi im Vergleich, Bern: Haupt 2007, S. 77. 191 Raumer: Die Erziehung der Mädchen, S. 103. 192 Ebd., S. 16f. 193 Vgl. ebd., S. 17. Goethe wird an dieser Stelle mit folgenden Worten zitiert: „‚Soll ich Französisch reden, sagt Göthe; eine fremde Sprache, in der man immer albern erscheint, man mag sich stellen wie man will, weil man immer nur das Gemeine, die groben Züge ausdrücken kann. Denn was unterscheidet den Dummkopf vom geistreichen Menschen, als daß dieser das Zarte, Gehörige der Gegenwart schnell und lebhaft und eigenthümlich ergreift und mit Lebhaftigkeit ausdrückt; jener aber, gerade wie wir es in einer fremden Sprache thun, sich mit gestempelten, hergebrachten Phrasen behelfen muß.‘“

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

darüber hinaus gelten gesellschaftliche Aktivitäten wie etwa das Tanzen nach Raumer als unsittlich. Das Argumentationsmuster des ‚Liebesdienstes‘ wird vom Autor genutzt, um die häuslichen Pflichten, von deren Verrichtung für die gesellschaftliche Ordnung des Bürgertums einiges abhängt, als ehrenwerte Aufgabe erscheinen zu lassen. Eine ähnlich konservative Meinung vertritt Sigismund Stern, dessen Schrift über Die häusliche Erziehung 1867 erscheint. Wie bereits der Titel verrät, bezieht sich Stern nicht nur auf die Mädchenerziehung. Dieser widmet sich der Autor zwar im zweiten Teil seines Buchs recht ausführlich, zunächst betont er jedoch die Bedeutung der häuslichen Erziehung allgemein. Insgesamt hält er Eltern dazu an, die Aufgabe der Kindererziehung ernst zu nehmen. Der Begriff von Erziehung, den Stern in diesem Zusammenhang ausführt, erscheint zunächst sehr fortschrittlich, schließlich heißt es: Erziehen heißt nicht: Menschen nach dem Ideal bilden, das der Erzieher in sich trägt, sondern: den werdenden Menschen seinem eigenen Ideal entgegenführen, d. h. dafür sorgen und darüber wachen, daß die Kräfte und Anlagen, mit denen er ins Dasein tritt, zu ihrer gesunden und naturgemäßen Selbstentfaltung und dadurch zu ihrer möglichsten Vollkommenheit gelangen.194

Je spezifischer Stern dann allerdings die Thematik der Mädchenerziehung einkreist, desto deutlicher tritt seine misogyne Grundauffassung zutage. So unterstellt er dem weiblichen Geschlecht beispielsweise eine größere Neigung zum Lügen.195 Weiterhin heißt es: Das Kindesalter des Mädchens scheint wenigstens länger zu währen, weil die Verstandesthätigkeit, die schwächste Seite der weiblichen Geistesentwickelung, später in den Vordergrund tritt und daher Phantasie und Gemüth länger ihre Herrschaft behalten. Die natürliche Folge hiervon sowie von der weichern Anlage des weiblichen Wesens überhaupt ist es, daß die Rauheiten und Härten dieser Stufe bei dem Mädchen weniger hervortreten und insbesondere der Egoismus, der auch hier nicht ausbleibt, in milderer Form erscheint. Denn der weibliche Egoismus kann sich vermöge der Naturbestimmung des Weibes niemals zu der Schroffheit ausbilden wie der des Mannes, wogegen auch die äußerste Hingebung des Weibes niemals von einem Anfluge von Egoismus, d. h. der Persönlichkeit, frei sein

194 Sigismund Stern: Die häusliche Erziehung, Lage: Beas-Edition 1999 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 18; Nachdruck der Ausg. Leipzig 1867), S. VI. 195 Vgl. ebd., S. 151f.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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kann, während der Mann einer rein objectiven Hingabe für Personen und Dinge oder vielmehr für Ideen fähig ist.196

Zwar zielt diese Beschreibung des weiblichen (Geschlechts-)Charakters darauf ab, ihn lobend hervorzuheben – immerhin ist Altruismus eine lobenswerte Eigenschaft – die Einschätzung, die dem jedoch zugrunde liegt, dass Mädchen aufgrund ihres vermeintlich schwächeren Intellekts weniger zum Egoismus neigen als Jungen, lässt sich eindeutig als misogyn bezeichnen. Auch Sigismund Stern trägt den patriarchalen Diskurs mit, in dem häusliche Pflichten durch einen Appell an das moralische Bewusstsein der Frau aufgewertet werden. Tatsächlich geht es ihm innerhalb seines Erziehungsprogramms vorrangig darum, die Frau auf ihre vermeintliche Bestimmung hinzuweisen. Diese formuliert der Autor wie folgt: Und weil die Aufgabe und die Bestimmung des Weibes eine so klare und einfache, für alle Angehörigen des Geschlechts vollkommen gleiche ist, sind auch die Zwecke und Mittel ihrer Erziehung einfacher, wenn auch das Erziehungswerk vielleicht noch größerer Umsicht und Sorgfalt bedarf als die Erziehung eines Knaben. Es gibt nur einen weiblichen Beruf – den Beruf der Gattin, Mutter und Hausfrau; nur eine Vorbereitung für denselben – die Familie; nur eine weibliche Tugend – die selbstlose und selbstverleugnende Hingebung; nur einen weiblichen Fehler – die Selbstsucht.197

Die Fähigkeit zur Selbstsucht, nach Stern in höchstem Maße gefährlich für den Erhalt des Geschlechtergefüges, wird dem weiblichen Geschlecht im Folgenden kurzerhand ganz abgesprochen. In der Tat geht der Autor so weit zu schreiben, die Frau habe grundsätzlich gar keinen eigenen Willen: Und endlich ist die höchste Begabung des Weibes: Empfänglichkeit des Wollens für das verständnißvolle und fügsame Ein- und Aufgehen in fremdes Wollen. Das innerste Wesen des Weibes beruht auf dem Gefühl der Unselbstständigkeit, auf dem Verlangen, sich mit ihrem ganzen Dasein an eine vollere, selbstständigere Kraft anzulehnen und ihr eigenes Dasein dadurch zu ergänzen, aber nur, um sich mit ihrem ganzen Wesen auch der Ergänzung des Daseins hinzugeben, dessen sie zu ihrer eigenen Ergänzung bedarf. Das echte Weib will niemals einen eigenen, vollkommen freien Willen haben, so wenig sie nach einer selbstständigen äußern Existenz begehrt oder in derselben glücklich sein kann. Ihr Wille ordnet sich dem älterlichen unter, solange sie Tochter des Hauses ist, und dem ihres Mannes, sobald sie Frau des Hauses wird.198

196 Ebd., S. 26f. 197 Ebd., S. 264. 198 Ebd., S. 277.

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

Alles in allem betont Stern Selbstlosigkeit und Empathie, also moralisch hochrangige Eigenschaften, als typisch weiblich, um den Wert der weiblichen Bestimmung, wie er sie definiert, anzuheben. In diesem Zusammenhang bleibt es nicht aus, auch die Neigung des weiblichen Geschlechts zur Emotionalität zu artikulieren: Das weibliche Empfinden ist tiefer, inniger, ihr Begehren mächtiger und andauernder. Ihre Empfänglichkeit für jede Art von Gefühlen trägt nicht den Charakter der Schwäche an sich, die jedem Eindruck zugänglich ist, sie besitzt vielmehr in der Regel mehr Kraft als der Mann, sich andringenden Einwirkungen zu verschließen und ihren Einfluß von sich fern zu halten. Aber eben darum nimmt sie jede Empfindung, der sich ihr Gemüth öffnet, mit der ungetheilten Kraft desselben auf, und wie in dem Moment jedes andere Gefühl vor der Macht des einen zurückweicht, so vermag sie es auch mit der Kraft unbesiegbarer Ausdauer in sich festzuhalten und jeden Eindruck abzuwehren, der dasselbe stören oder trüben könnte. Das gilt aber nicht etwa nur von den edlen, sondern auch von den unedlen Gefühlen.199

Was hier zunächst als charakterlicher Vorzug gelobt wird, bleibt nur solange rühmlich, wie die jeweilige Eigenschaft das Funktionieren des bürgerlichen Gefüges, wie es die hier dargestellte Auffassung vom Geschlechterverhältnis sieht, garantiert. Keinesfalls würde Stern oder ein anderer Vertreter des Diskurses das weibliche Geschlecht dazu anhalten, im Sinne der Empfindsamkeit ausschließlich in Gefühlen zu schwelgen. Wohl soll Emotionalität über die Härten der Realität hinwegtäuschen, sie aber keineswegs ausblenden. Leidenschaftliche, also unkontrollierbare Gefühle zählen daher nicht zu den ehrenwerten weiblichen Eigenschaften, sie werden als Gefahr erkannt und als unweiblich diffamiert.

2.4.2 An die Zöglinge Im Folgenden werden nun Erziehungshandbücher betrachtet, die sich speziell an junge Mädchen richten, und zwar untergliedert nach der jeweiligen geschlechtlichen Perspektive.

2.4.2.1 Väterliche Ratschläge An dieser Stelle sollen zunächst männliche Autoren, die einen dezidiert väterlichen Impetus annehmen, betrachtet werden, bevor in einem weiteren Unterkapi-

199 Ebd., S. 267.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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tel die weiblich-mütterlichen Pendants beleuchtet werden sollen. Die elterliche Perspektive des Autors drückt sich zumeist bereits im Titel der hier zu untersuchenden Texte aus, so auch im Falle John Gregorys. 1761 veröffentlicht dieser, unter seinen Zeitgenossen besser bekannt als Dr. Gregory, mit A Father’s Legacy to His Daughters ein conduct book, das ihn laut Nancy Armstrong zum „darling of [Jane] Austen’s generation“200 macht. In der Tat finden sich innerhalb des Genres eine Fülle von Verweisen auf den Mediziner, allen voran die harsche Kritik Mary Wollstonecrafts an Gregory und seinen Mitstreitern. Sein conduct book verfasst Gregory nach dem Tod seiner Frau in Form eines Briefes an seine Töchter; laut Vorwort war es ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Wie der Herausgeber jedoch hervorhebt, schränkt dieser Umstand den Wert des Buches und der darin enthaltenen Ratschläge nicht etwa ein.201 Gregorys Unterweisungen erstrecken sich über vier größere Kapitel, sieht man einmal von der Einleitung ab. Neben Verhaltensregeln im Bereich der Religion werden zudem allgemein „Conduct and Behaviour“, „Amusements“ sowie „Friendship, Love and Marriage“ thematisiert, doch zuvor stellt Gregory seine Qualifikation und Motivation dar. So räumt auch dieser Autor mögliche Defizite seiner Eignung ein, interessanterweise speziell in Bezug auf seine Geschlechtszugehörigkeit: „You must expect that the advices which I shall give you will be very imperfect, as there are many nameless delicacies, in female manners, of which none but a woman can judge.“202 Darüber hinaus findet sich in der Einleitung Gregorys Vorstellung von idealtypischer Weiblichkeit, die durch die von ihm vorgeschlagenen Verhaltensregeln hervorgebracht werden soll. Dementsprechend erläutert der Autor seine Sicht auf die Rolle des weiblichen Geschlechts. So betrachtet Gregory Frauen „not as domestic drudges, or the slaves of our pleasures, but as our companions and equals; as designed to soften our hearts and polish our manners“203. Bereits an dieser Stelle offenbart sich eine deutliche Widersprüchlichkeit, denn die Frau kann dem Mann gegenüber kaum ebenbürtig sein, wenn sie einzig dazu geschaffen ist, etwas für ihn zu tun. Im Laufe seiner Abhandlung wird Gregory sich noch in weitere Widersprüche verwickeln.

200 Armstrong: „The Rise of the Domestic Woman“, S. 103. 201 Vgl. Dr. [John] Gregory: A Father’s Legacy to His Daughters, London: Strahan & Cadell 1778, S. Vf. Der Herausgeber sagt außerdem über Gregory: „In all his writings his chief view was the good of his fellow-creatures; and as those among his friends, in whose taste and judgement he most confided, think the publication of this small work will contribute to that general design, and at the same time do honour to his memory, the Editor can no longer hesitate to comply with their advice in communicating it to the Public.“ Ebd., S. X. 202 Ebd., S. 5. 203 Ebd., S. 6f.

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

Insgesamt bestimmen die Stichworte modesty, delicacy, prudence und sense aber auch imagination, softness und sensibility die Anschauungen Gregorys über das weibliche Geschlecht, wie folgende Charakterisierung veranschaulicht: Your superior delicacy, your modesty, and the usual severity of your education, preserve you, in a great measure, from any temptation to those vices to which we are most subjected. The natural softness and sensibility of your dispositions particularly fit you for the practice of those duties where the heart is chiefly concerned. And this, along with the natural warmth of your imagination, renders you peculiarly susceptible of the feelings of devotion.204

Im Gegensatz dazu seien die Männer weniger großherzig und ihre Leidenschaften seien stärker. In der Konsequenz verortet der Autor religiöse Pflichten schlichtweg im weiblichen Geschlecht, schließlich besitze es nicht nur die besten Anlagen zur (religiösen) Hingabe, sondern sei außerdem geradezu zum Leiden bestimmt.205 Darüber hinaus beschreibt Gregory Religion als eine Sache der Empfindungen206, die ja wie oben gesehen der Frau in höherem Maße zugeschrieben werden. Insofern soll sie ihre religiösen Grundsätze nicht etwa kritisch hinterfragen, sondern bereitwillig annehmen. Was hier bereits anklingt, nämlich dass eine eminent wichtige Tugend des weiblichen Geschlechts darin besteht, schweigend ihr Schicksal zu ertragen,207 wird von Gregory noch weiter betont. So heißt es zu Beginn des Kapitels über generelles Betragen: „One of the chief beauties in a female character, is that modest reserve, that retiring delicacy, which avoids the public eye, and is disconcerted even at the gaze of admiration.“208 Diese Zurückhaltung gilt vor allem in Bezug auf intellektuelle Fähigkeiten. Eine Zurschaustellung derselben seitens des weiblichen Geschlechts wird von Gregory aufs Schärfste verurteilt. Die Begründung verwundert umso mehr, da sie eine abträgliche Bewertung des männlichen (Geschlechts‑)Charakters enthält.

204 Ebd., S. 10. 205 Entsprechend heißt es „Your whole life is often a life of suffering. You cannot plunge into business, or dissipate yourselves in pleasure and riot, as men too often do, when under the pressure of misfortunes. You must bear your sorrows in silence, unknown and unpitied.“ Gregory folgert daraufhin „Then your only resource is in the consolations of religion.“ Ebd., S. 11. 206 Vgl. ebd., S. 13. 207 Den Nachwirkungen dieses Ideals bis in das Viktorianische Zeitalter hat Martha Vicinus eine Anthologie gewidmet. Vgl. Suffer and Be Still. Women in the Victorian Age, hg. v. Martha Vicinus, London: Methuen 1980. 208 Gregory: A Father’s Legacy to His Daughters, S. 26.



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Be even cautious in displaying your good sense. It will be thought you assume a superiority over the rest of the company. – But if you happen to have any learning, keep it a profound secret, especially from the men, who generally look with a jealous and malignant eye on a woman of great parts, and a cultivated understanding.209

Die Frage, ob weibliche Gelehrsamkeit aus männlicher Sicht überhaupt wünschenswert ist, stellt sich demnach nicht wirklich. Gregory selbst beantwortet diese Frage, indem er seinen Töchtern an keiner Stelle ausgedehnte Studien empfiehlt,210 stattdessen ist gehäuft von sense oder good sense die Rede. Die weibliche Disposition des good sense, die am ehesten dem deutschen „gesunden Menschenverstand“ entspricht, gewinnt im Rahmen des Kapitels über Freundschaft, Liebe und Ehe an enormer Bedeutung. Könnte man aus heutiger Sicht erwarten, dass Gregory dem weiblichen Geschlecht eine große Neigung zur Liebe und zum Verliebtsein zuschreibt, wird er doch nicht müde, immer wieder die Empfindsamkeit der Frauen zu beschreiben, so enttäuscht der Autor diese Erwartung, da er die natürliche Form der weiblichen Liebe einzig in einer „vernünftigen“ Liebe sieht. Während der Frau also grundsätzlich verstärkt emotionale Dispositionen zugeschrieben werden, urteilt sie laut Gregory in Liebesangelegenheiten von Natur aus „vernünftig“. Ganz im Gegensatz zum männlichen Geschlecht, dessen Liebe Gregory wie folgt beschreibt: „Love, at least with us, is exceedingly capricious, and will not always fix where reason says it should.“211 Die große Unwahrscheinlichkeit, dass sich eine Frau in genau den Mann verliebt, mit dem eine Verbindung nicht nur passend wäre, sondern der sich auch in sie verliebt, und das Unglück, das aus einer derart geringen Chance entsteht, sieht Gregory dadurch gelöst, dass er dem weiblichen Geschlecht eine niedrigere Toleranzschwelle zuschreibt: „Nature has not given you that unlimited range in your choice which we enjoy, she has wisely and benevolently assigned to you a greater flexibility of taste on this subject.“212 In diesem Fall sind Frauen also keineswegs ihren Gefühlen ausgeliefert. Tatsächlich handeln sie laut Gregory gerade im Bereich der Liebe, wo man aus heutiger Perspektive am ehesten eine

209 Ebd., S. 31f. 210 Zwar räumt Gregory durchaus ein, ein gewisses Maß an Wissen könne nicht schaden: „There is no impropriety in your reading history, or cultivating any art of science to which genius or accident lead you. The whole volume of Nature lies open to your eye, and furnishes an infinite variety of entertainment.“ (Ebd., S. 53), doch es bleibt zu bemerken, dass dieser Kommentar im Kapitel über Vergnügungen („Amusements“) gegeben wird. Demnach wird Bildung nicht als ernsthaftes Betätigungsfeld für Frauen in Betracht gezogen. 211 Ebd., S. 81. 212 Ebd., S. 82.

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Legitimation nicht beherrschter Leidenschaften erwarten würde, besonnen und überlegt. Jedoch muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass Gregory Liebe als eine auf Respekt beruhende Wechselseitigkeit versteht, die auf Übereinstimmungen in Geschmack und Empfindungen fußt,213 keinesfalls als rasende Leidenschaft, auch wenn sich die Frage stellt, ob das für beide Geschlechter in gleicher Weise gilt. Immerhin geht der Autor nicht so weit die Existenz leidenschaftlicher Aspekte der Liebe zu bestreiten, er bestreitet sie nur im Hinblick auf das weibliche Geschlecht. In diesem Sinne wird die Frau auch hier wie schon bei Fénelon und Rousseau als moralisch integeres Wesen betrachtet, das dem Mann die sittliche Unantastbarkeit voraus hat. Dem Vorwurf, die Zurückhaltung und Bescheidenheit der Frauen sei affektiert und gekünstelt, begegnet Gregory verneinend, er wolle eben das Gegenteil erreichen: „the most perfect simplicity of heart and manners“214. Um die Widersprüchlichkeit dieser Rhetorik Gregorys aufzudecken, soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die vermeintlich natürliche Einfachheit des weiblichen Herzens wiederum durch Maßnahmen der Selbstkontrolle und Mäßigung herbeigeführt wird.215 Insgesamt zeichnet Gregory ein Idealbild von Weiblichkeit, das sich unter dem Begriff Selbstkontrolle zusammenfassen lässt. Sicherlich sollen Frauen einen gewissen Grad an Bildung besitzen – eben so viel, um sich als „intelligent fireside companions“216 zu qualifizieren – jegliche Fähigkeit, die über gewöhnliche Begabungen hinausgeht und selbst die von der Frau erwarteten Eigenschaften sollen aber mit Zurückhaltung und Bescheidenheit versteckt und nicht zur Schau getragen werden. In dieser Zurückhaltung besteht laut Gregory letztlich die wichtigste weibliche Tugend. James Fordyces Sermons to Young Women erscheinen 1766 nur wenige Jahre nach Gregorys A Father’s Legacy to His Daughters. Die insgesamt 14 Predigten verteilen sich auf zwei Bände und umfassen unter anderem Themen wie weibliche Zurückhaltung und Bescheidenheit der äußeren Erscheinung. Der Form entsprechend werden in Fordyces Predigten insbesondere auch Glaubensfragen behandelt. Wie schon Gregory vertritt Fordyce die Ansicht, Religion spiele für Frauen eine weitaus

213 Vgl. S. 114. 214 Ebd., S. 45. 215 Vgl. dazu folgende Textstelle: „After all I wish you to have great ease and openness in your conversation. I only point out some considerations which ought to regulate your behaviour in that respect.“ Ebd., S. 37. 216 Valerie Sanders gebraucht diese Begrifflichkeit in Bezug auf die Weiblichkeitsvorstellungen der viktorianischen Moralisten Ruskin, Sarah Stickney Ellis und Dinah Mulock. Vgl. Sanders: Reason Over Passion, S. 173.



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wichtigere Rolle als für Männer. Das weibliche Geschlecht übernimmt somit auch hier die Rolle der moralischen Ordnungswächterin, so gesteht Fordyce Männern durchaus das Recht zu, keine gläubigen Christen zu sein – auch wenn er dies nicht gerade begrüßt – während die Frau unbedingt religiös sein muss. A bigoted woman every man of sense will carefully shun, as a most disagreeable, and even dangerous companion. But the secret reverence, which that majestic form Religion imprints on the hearts of all, is such, that even they who will not submit to its dictates themselves, do yet wish it to be regarded by those with whom they are connected in the nearest relation. The veriest infidel of them all, I am apt to believe, would be sorry to find his sister, daughter, or wife, under no restraint from religious principle.217

In der Konzeption Fordyces nimmt die Frau dem Mann nicht nur religiöse Pflichten ab, sie nutzt darüber hinaus ihren Einfluss auf den von Natur aus vom Laster bedrohten Mann, um diesen davor zu bewahren und sozusagen zur Raison zu bringen. Dieser Zusammenhang wird aus eigener Erfahrung berichtet: „The influence of the sexes is, no doubt, reciprocal; but I must ever be of opinion, that yours is the greatest. How often have I seen a company of men who were disposed to be riotous, checked all at once into decency by the accidental entrance of an amiable woman”218. Die scheinbare Verehrung, die Fordyce dem weiblichen Geschlecht hier entgegen bringt, setzt sich auch in seiner Beschreibung der weiblichen Geschlechtsrolle fort. Dabei distanziert sich der Autor immerhin von einer offen misogynen Einstellung: „To divert fancy, to gratify desire, and in general to be a sort of better servants, are all the purposes for which some suppose your sex is designed. A most illiberal supposition!“219 Seine tatsächliche Bewertung des weiblichen Geschlechts formuliert Fordyce wie folgt: The least degree of refinement or candour will dispose us to regard them in a far higher point of light. They were manifestly intended to be the mothers and formers of a rational and immortal offspring; to be a kind of softer companions, who by nameless delightful sympathies and endearments, might improve our pleasures and soothe our pains; to lighten the load of domestic cares, and thereby leave us more at leisure for rougher labours, or severer studies; and finally, to spread a certain grace and embellishment over human life.220

217 James Fordyce: Sermons to Young Women, Bd. 2, 9. Aufl., London: Cadell & Dodsley 1778, S. 120. 218 James Fordyce: Sermons to Young Women, Bd. 1, 12. Aufl., London: Cadell & Davies 1800, S. 16. 219 Ebd., S. 159. 220 Ebd., S. 159f.

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Der Unterschied zwischen Fordyces Beschreibung weiblichen Wirkens und der von ihm zurückgewiesenen besteht weniger im tatsächlichen Inhalt oder Umfang des weiblichen Aufgabenbereichs, als vielmehr in der Wertschätzung desselben. Da sie Mütter sind, wirken Frauen nach Fordyce in gewissem Maße als Urheber der Gesellschaft, nicht aber als ihre vollwertigen Mitglieder. Die weiterhin bestehende Unterordnung der Frau unter den Mann, was ihre bürgerlichen Rechte anbelangt, wird letztlich einfach durch die ihr zugeschriebene moralische Verantwortung aufgewertet. Somit wäre bereits die Aufgabe, die dem weiblichen Geschlecht bei Fordyce zugeteilt wird, beschrieben. Die Mittel, die es braucht, um diese Aufgabe, nämlich über Moral und Anstand zu wachen, in besonders weiblicher Weise ausführen zu können, sollen im Folgenden verdeutlicht werden. Wie schon John Gregory nutzt auch Fordyce die Stichworte decency und modesty, um vermeintlich idealtypisches weibliches Verhalten zu beschreiben. Stärker als bei seinem Vorgänger werden hier jedoch Prinzipien der Unterordnung hervorgehoben, so ist des Weiteren auch von reserve und submission die Rede. Zwar soll die Frau durchaus auf den Mann einwirken, indem sie ihn vor dem Sittenverfall bewahrt, wie es etwa das Laster des Spielens in sich birgt, sie soll dies jedoch nicht als aktiv eingreifende, handelnde Person tun, sondern auf subtilere Weise, indem sie als gutes Beispiel vorangeht. Für den Fall, dass das gute Beispiel nichts ausrichtet, hat die Frau ihre Duldsamkeit unter Beweis zu stellen. In keinem Fall soll sie ihren Gatten mittels Manipulation, wie es etwa die von Rousseau beschriebene weibliche List darstellt, zu lenken versuchen. Von dieser weiblichen List, die Rousseau beschreibt, ist hier nichts zu spüren. Laut Fordyce soll die Frau einen eigenen Willen weder formulieren noch haben, dementsprechend predigt der Autor vor allem Subordination. Die maßgebliche Strategie, seine Leserinnen dazu anzuhalten, besteht darin, ihnen die Erwartungen des männlichen Geschlechts ihnen gegenüber vorzuhalten. Auf diese Weise argumentiert er beispielsweise gegen den sprachlichen Ausdruck von Geist und Esprit beim weiblichen Geschlecht: Men who understand the science of domestic happiness, know that its very first principle is ease. Of that indeed we grow fonder, in whatever condition, as we advance in life, and as the heat of youth abates. But we cannot be easy, where we are not safe. We are never safe in the company of a critic; and almost every wit is a critic by profession.221

So wenig kritisch Frauen ihren Ehemännern gegenüber sein sollen, ebenso wenig Beteiligung ist nach Fordyce angebracht in allem, was er als maskulin definiert.

221 Ebd., S. 147f.



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Vor allem was intellektuelle Begabungen anbelangt, vertritt Fordyce eine strikte Geschlechtertrennung. Nachdem der Autor seine Meinung über den von Natur aus schwächeren Verstand des weiblichen Geschlechts geäußert hat, zieht er die Schlussfolgerung, dass Frauen sich eben deshalb nicht mit denselben Disziplinen beschäftigen sollten: But you yourselves, I think, will allow that war, commerce, politics, exercises of strength and dexterity, abstract philosophy, and all the abstruser sciences, are most properly the province of men. I am sure those masculine women, that would plead for sharing any part of this province equally with us, do not understand your true interests. There is an influence, there is an empire which belongs to you, and which I wish you ever to possess: I mean that which has the heart for its object, and is secured by meekness and modesty, by soft attraction and virtuous love.222

Besonders erstaunt die hier mitschwingende Auffassung, dass Männer – der Autor zählt sich schließlich zu ihnen – durchaus die wahren Interessen des weiblichen Geschlechts verstehen, im Gegensatz zu „maskulinen Frauen“. Was Fordyce nun genau unter dem Regiment des Herzens versteht, das er hier beschreibt, führt er im Folgenden aus: „Your business chiefly is to read Men, in order to make yourselves agreeable and useful. It is not the argumentative but the sentimental talents, which give you that insight and those openings into the human heart, that lead to your principal ends as Women.“223 Vor diesem Hintergrund erklärt sich denn auch die Bemühung Fordyces, Frauen von den (intellektuellen) Domänen der Männer fernzuhalten, schließlich könnte weibliche Gelehrsamkeit oder Pedanterie, wie es hier heißt,224 dazu führen, dass Frauen sich eben nicht länger gezwungen sehen, Männer von der Bürde der häuslichen Pflichten zu befreien. Interessanterweise sieht Fordyce trotz seiner Kritik am zu großen Wissensdurst der Frauen die Notwendigkeit, sich von dem Vorwurf zu distanzieren, es sei das männliche Geschlecht, das den Frauen verbesserte Bildungschancen verweigere. Die Verteidigung gegen diese Unterstellung besteht in der fast zynisch anmutenden Frage, ob es denn ein Gesetz oder Statut gäbe, das es den Frauen verbiete, ihrer Unwissenheit Abhilfe zu schaffen. Es braucht wohl kaum darauf hingewiesen zu werden, dass es eines solchen Gesetzes angesichts eines Diskurses, der weibliche Gelehrsamkeit an Pedanterie koppelt und als unweiblich verurteilt, nicht erst bedarf. Letztlich heißt es hier lapidar: „Books you have, or may have, on every subject

222 Ebd., S. 210f. 223 Ebd., S. 211f. 224 Vgl. ebd., S. 231.

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that is proper for you.“225 Damit bekennt Fordyce sich zu dem Vorwurf, von dem er sich ursprünglich zu befreien versuchte, denn in dem Moment, in dem sich der Autor als Vertreter einer männlich dominierten Gesellschaft anmaßt, darüber zu entscheiden, welche Wissensinhalte für Frauen proper sind, beschließt er auch, in welchen Bereichen Unwissenheit bestehen bleiben soll. Alles in allem zielt Fordyces Argumentation darauf ab, Frauen dazu anzuhalten, sich mit der ihnen zugewiesenen Rolle in der Gesellschaft abzufinden. Indem er ihnen immer wieder die Erwartungen der Männer gegenüber dem weiblichen Geschlecht vor Augen hält, zeichnet der Autor ein relativ simples Bild von normativer Weiblichkeit. Dieses Bild beruht im Wesentlichen auf Gehorsam und Servilität bzw. in den Worten Fordyces auf „soft compliance, and meek submission“226. Der Autor fügt hinzu: „These the men are taught by nature, by education, and by custom, to consider as your duty, and their right; neither will they be easily brought to dispense with it.“227 Damit werden gleich drei Instanzen genannt, die die phallozentrische Gesellschaftsordnung rechtfertigen sollen. Bleibt nur darauf hinzuweisen, dass nicht nur Erziehung und Konvention von Männern erdachte Konzeptionen darstellen, sondern dass eben auch die Ansichten über die Natur der Frau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weniger auf wissenschaftlichen Erkenntnissen als auf misogynen Vorurteilen einer patriarchal organisierten Gesellschaft beruhen. Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter erscheint erstmals 1789. Wie Michaela Jonach in ihrer Untersuchung der Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Campe und Rousseau hervorhebt, vertritt Campe trotz seiner philanthropischen Gesinnung die Ansicht, dass sich institutionalisierte Erziehung nicht auf das weibliche Geschlecht erstrecken sollte, dieses soll vorrangig von den Müttern im Haus erzogen werden.228 Der häuslichen Erziehung ist also auch Campes Schrift gewidmet, die er jenen Mädchen zueignet, die sich schon länger nach „einem treuen, des bessern Pfades kundigen Führer umsahen“229 und wendet sich dem Titel entsprechend in seinen Ausführungen stets an ein „Du“. Die stellvertretend für alle Leserinnen angesprochene Tochter wird als fünfzehnjähriges Mädchen konzipiert, das in der Umbruchsphase zwischen Kindheit und

225 Ebd., S. 224. 226 Fordyce: Sermons to Young Women, Bd. 2, S. 255. 227 Ebd., S. 255f. 228 Vgl. Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter, S. 100. 229 Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, hg. v. Ruth Bleckwenn, Paderborn: Hüttemann 1988 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 3; Nachdruck der Ausg. Braunschweig 1796), S. VII.



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Frausein der Beratung einer welterfahrenen Vaterfigur bedarf. Nachdem Campe die Situation des jungen Mädchens in der Einleitung geschildert und ihr sein Verständnis bekundet hat, unternimmt er im folgenden Kapitel zunächst die Klärung der „allgemeinen und besonderen Bestimmung des Weibes“. Ihr seid wahrlich nicht dazu bestimmt, nur große Kinder, tändelnde Puppen, Närrinnen oder gar Furien zu sein; ihr seid vielmehr geschaffen – o vernimm deinen ehrwürdigen Beruf mit dankbarer Freude über die Würde desselben! – um beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens zu werden; Gattinnen, die der ganzen zweiten Hälfte des menschlichen Geschlechts, der männlichen, welche die größern Beschwerden, Sorgen und Mühseligkeiten zu tragen hat, durch zärtliche Theilnahme, Liebe, Pflege und Fürsorge das Leben versüßen sollen230.

Auch Campe geht davon aus, dass es – zumindest was das männliche Geschlecht angeht – eine menschliche und eine geschlechtliche Bestimmung gibt, dass diese sich im Falle der Frau aber decken, wie sich im Folgenden verdeutlicht: Denn nicht bloß das häusliche Familienglück, sondern auch – was dem ersten Gehör nach unglaublich klingt – das öffentliche Wohl des Staats, steht größtentheils in eurer Hand, hängt größtentheils, um nicht zu sagen ganz, von der Art und Weise ab, wie das weibliche Geschlecht seine natürliche und bürgerliche Bestimmung erfüllt. Wie die Quelle, so der Bach; also auch, wie das Weib, so der Bürger, der vom Weibe geboren wird, der die ersten, durch keine nachherige Erziehung jemahls ganz wieder auszutilgenden Eindrücke zum Guten und zum Bösen von ihr erhält.231

Damit formuliert Campe die Rolle der Frau als Hüterin der Sitten, die ja auch bei den zuvor betrachteten Autoren zum Tragen kommt, auf überraschend konkrete Weise. Mit dieser drastischen Formulierung zeigt der Autor seinen Zöglingen nicht nur einen besonders großen Verantwortungsbereich auf, sondern spricht sein eigenes Geschlecht, das der Söhne, darüber hinaus von jeder Verantwortung für ihre moralisch-sittlichen Fehler frei. Die Frau als Hüterin der Sitten wird hier als ein gänzlich selbstloses, nur nach außen wirkendes Wesen gedacht. Entsprechend fehlt der Argumentation des Rousseau-Rezipienten Campe das Moment weiblicher Koketterie, können doch derartige Ambitionen seitens der Frau der hausmütterlichen Sparsamkeit nur abträglich sein.232

230 Ebd., S. 16f. 231 Ebd., S. 17f. 232 So argumentiert auch Verena Ehrich-Haefeli, die darüber hinaus auf den Unterschied der Campeschen Losung „Hausfrau, Gattin und Mutter“ im Gegensatz zum französischen Pendant „amante, épouse, mère“ aufmerksam macht. Vgl. Ehrich-Haefeli: Natur und Weiblichkeit, S. 164.

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Des Weiteren geht Campe sehr systematisch vor: Im Anschluss an einige Bemerkungen über das Verhältnis der Geschlechter insgesamt – der Autor verhehlt nicht, dass es sich dabei um ein ungleiches Verhältnis handelt – wird ausführlich über die „Mittel zur Verbesserung“ des weiblichen Geschlechts referiert. Wer nun jedoch emanzipatorische Forderungen erwartet, etwa nach einer Verbesserung der abhängigen Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft, der wird enttäuscht. Tatsächlich beschränkt sich Campe darauf, auszuführen durch welche Eigenschaften sich eine würdige Hausfrau, Gattin und Mutter besonders auszeichnet. In einem ersten Schritt werden diejenigen Eigenschaften und Fertigkeiten abgehandelt, die eine achtbare Frau Campes Ansicht nach nicht braucht, beispielsweise künstlerische Talente, besondere Schönheit oder auch Gelehrsamkeit. Ganz im Gegenteil vertritt Campe die Ansicht, dass Gelehrsamkeit, insbesondere Schriftstellerei, dem Ansehen des weiblichen Geschlechts nur abträglich sein kann.233 Fragt man sich nun, worin die besonderen Fähigkeiten der vorbildlichen Frau denn bestehen, so verweist Campe in seiner rhetorischen Gegenfrage erneut auf die traditionelle Frauenrolle: „Worin anders, als in solchen Eigenschaften, Fertigkeiten, Kenntnissen und Geschicklichkeiten welche der dreifachen Bestimmung des Weibes – der zur Gattinn, zur Mutter, und zur Vorsteherinn des Hauswesens – gemäß sind, und zu einer glücklichen und vollkommenen Erreichung derselben dienen können.“234 Dazu gehören laut Campe erstens „ein wohlgeübter und wohlgebildeter gesunder Menschenverstand“235, danach Menschenkenntnis und praktische Fähigkeiten zur Haushaltsführung, worin die Frau es zur Perfektion bringen muss.236 Dass Campe das herrschende Geschlechter-

233 Von weiblichen Schriftstellern heißt es hier: „Und eine solche Frau soll eine gute Gattinn, eine gute Mutter abgeben können? Sie, welche um den Beifall der ganzen Lesewelt buhlt, sollte ihre höchste Glückseligkeit in dem Beifalle und in der Liebe ihres Gatten suchen? Sie, welche in allen Fächern der Gelehrsamkeit herumflattert, sollte in ihrer Wirthschaft zu Hause sein? Sie, welche auf das Ganze wirken will, sollte so, wie sie müßte, auf die Bildung ihrer Kinder, auf die Sitten ihrer Dienstboten wirken können? Das glaube, auf ihre Versicherung hin, wer da mag und kann: ich für meinen Theil werde mich nie überreden lassen, daß ein Weib sich mit der ganzen Welt vermählen und nichtsdestoweniger nur einem einzigen Manne angehören könne.“ Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 72. 234 Ebd., S. 87. 235 Vgl. das entsprechende Unterkapitel (a), ebd., S. 88 ff. Campe setzt seinen Begriff des gesunden Menschenverstands an dieser Stelle aus „Hausverstand“, „Bücherverstand“ und „Gesellschaftsverstand“ zusammen. Außerdem ist in Bezug auf den weiblichen Intellekt von „Kernverstand“ die Rede. Vgl. ebd., S. 90. 236 Vgl. dazu Campes Forderung nach haushaltsspezifischen Fertigkeiten: „Sie muß sich ferner auf alle zur Haushaltung erforderlichen weiblichen Geschäfte, Künste und Geschicklichkeiten wie eine Meisterinn verstehn; eine vollkommene Näherinn, Spinnerinn, Stickerinn und Köchinn



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verhältnis als eine notwendige Ungerechtigkeit begreift, verdeutlicht sich erneut im Rahmen seiner Ausführungen über den idealtypischen Gemütscharakter der Frau. Hier ist von der weiblichen Pflichterfüllung die Rede: Sie heißt: Gewöhnung an Abhängigkeit! Dazu bist du nun einmal geboren; dazu bist du nun einmal von der Natur sowohl als auch von der menschlichen Gesellschaft bestimmt, und alles Sträuben und Sperren dagegen würde dir wahrlich zu weiter nichts dienen, als die sanften Bande der Liebe, welche diese Abhängigkeit leicht machen sollen, in drückende Ketten der Knechtschaft zu verwandeln. Sei also weise, junge Weltbürgerinn, und lerne, dich willig in eine Ordnung fügen, welche die Natur selbst beliebt und die ganze menschliche Gesellschaft, so weit wir sie kennen, angenommen hat.237

Auch an dieser Stelle überrascht die Offenheit, mit der Campe das Konzept der Hausarbeit als ‚Liebesdienst‘ als ein Ablenkungsmanöver entlarvt, das einzig dazu dient, die Ungerechtigkeiten der phallozentrischen Ordnung erträglich zu machen. Interessant erscheint mir jedoch, dass Campe die Eignung der Frau zu diesem ‚Liebesdienst‘ nicht in ihrer besonderen Emotionalität begründet sieht. Da er die gesamte Konstitution der Frau als die schwächere, verglichen mit der des Mannes, betrachtet, sind auch die Gefühle der Frau im Allgemeinen schwächer als die des Mannes.238 Dies trägt insofern zu Campes Weiblichkeitsideologie bei, als er somit von vornherein die Haltung der Empfindsamkeit, die auf schärfste kritisiert wird, als wünschenswerte weibliche Eigenschaft ausschließt. Der weibliche Gemütscharakter wird auf den Begriff der Herzensgüte gebracht, eine durchweg redliche Eigenschaft, die nichts mit den Überspanntheiten der sinnlichen Leidenschaft zu tun hat, vor denen Campe an anderer Stelle warnt.239 Die [...] Bestandtheile der weiblichen Herzensgüte sind Geduld, Sanftmuth, Biegsamkeit und Selbstverleugnung; vier gleich liebenswürdige und, wenn sie aus Ueberlegung, nicht aus Schwäche entspringen, gleich erhabene Tugenden, wovon die eine die andere in sich

sein; alle zu ihrem Anzuge und, obgleich einfachem, doch geschmackvollem Putze erforderliche Stücke, nicht nur selbst zu verfertigen wissen, sondern auch größtentheils und so weit es ohne Vernachlässigung wichtiger Geschäfte geschehen kann, wirklich selbst verfertigen“. Ebd., S. 93. 237 Ebd., S. 250f. 238 Zu den unterschiedlichen Gemütsarten der Geschlechter heißt es, dass die größere „Straffheit der Nerven und Fibern und [die] daraus entstehenden stärkeren und dauerhafteren Gefühle auf Seiten des Mannes [sind].“ Ebd., S. 195. 239 Tatsächlich bezieht Campe sich damit ausschließlich auf den männlichen Gemütscharakter, der eben dazu neige, sich aufgrund von Überspanntheit und sinnlicher Leidenschaft durch äußere Schönheit beeindrucken zu lassen. Vgl. ebd., S. 78.

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faßt, wovon die eine ohne die andere nicht gedacht werden kann, die ich also auch hier nothwendig zusammenfassen mußte.240

Geduld, Sanftmut und Selbstverleugnung sind nicht unbedingt gegensätzliche Eigenschaften zu denen der Empfindsamkeit, sie stellen jedoch nur eine Seite dieser Geisteshaltung dar, nämlich die moralisch einwandfreie. Das schwärmerische Sehnen und die Schattenseiten des Gefühls, die zu „Unordnungen; Unmäßigkeiten und Ausschweifungen“241 führen, die ebenso mit der Empfindsamkeit einhergehen, können nach Campe nicht zu den wünschenswerten Eigenarten des weiblichen Geschlechtscharakters zählen. Entsprechend abfällig äußert er sich über die Vertreter jener Haltung: Empfindsame Leute nennt man solche, die ein gar zu zartes und gar zu lebhaftes Gefühl haben, und dadurch sowohl zur Führung eines zufriedenen Lebens, als auch zur Erfüllung solcher Pflichten, welche Kaltblütigkeit, zuweilen auch Unempfindlichkeit und Strenge erfordern, in einem gewissen Grade unfähig geworden sind. Empfindler nennt man sie besonders dann, wenn in der Aeußerung jener zarten und lebhaften Gefühle etwas Gesuchtes, Kleinliches und Albernes wahrgenommen wird.242

Die Ablehnung übertriebener Gefühlsbetonung hindert Campe nicht daran, seine Zöglinge dazu anzuhalten, sich nicht in intellektueller Argumentation zu versuchen, sondern sich auf gefühlsmäßige Gesichtspunkte zu konzentrieren: „Wende dich überhaupt, so oft du die Menschen zu überzeugen und zu bewegen wünschest, mehr an ihre sinnliche, als an ihre geistige Natur, mehr an ihr sogenanntes Herz – Empfindungsvermögen und Einbildungskraft – als an ihre höheren Seelenkräfte – Verstand und Vernunft.“243 Dies geschieht jedoch weniger im Hinblick auf die Frau, sondern eher in der Überzeugung, die ganze Menschheit stünde dem Gefühl näher als der Vernunft.244 Insgesamt verwundert die Offenheit, mit der Joachim Heinrich Campe junge Mädchen dazu auffordert, die Rolle der Benachteiligten in einer ungerechten Gesellschaft zu übernehmen. Dies setzt eine enorme Ablehnung emanzipatorischer Ideen voraus. Zwar wird auch hier das Konzept Liebe genutzt, um Frauen zu selbstlosen Handlungen zu motivieren, und auch ihre emotionalen Dispositio-

240 Ebd., S. 191. 241 Ebd., S. 300. 242 Ebd., S. 366. 243 Ebd., S. 452. 244 So heißt es weiter: „Der Mensch ist nun einmal – sei er übrigens wer er wolle, und strotze er übrigens von angeblicher Weisheit noch so sehr – ein sinnliches und empfindendes Wesen, und will daher auch als ein solches behandelt sein.“ Ebd.



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nen, wie die der Herzensgüte, werden beschworen, in letzter Instanz verweist der Autor jedoch auf natürliche und kulturelle Gegebenheiten, um die Stellung der Frau zu legitimieren. So ist es also der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesellschaft, daß der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen die sich ihm anschmiegende, sich an ihm haltende und stützende threue, dankbare und folgsame Gefährtin und Gehülfinn seines Lebes sein sollte – er die Eiche, sie der Efeu, der einen Theil seiner Lebenskraft aus den Lebenskräften der Eiche saugt, der mit ihr in die Lüfte wächst, mit ihr den Stürmen trotzt, mit ihr steht und mit ihr fällt – ohne sie ein niedriges Gesträuch, das von jedem Vorübergehenden zertreten wird.245

Campe sieht keine Notwendigkeit, diesen Zusammenhang der Abhängigkeit zu verschleiern. Weibliche Unterordnung erscheint ihm selbstverständlich für das Funktionieren der bürgerlichen Ordnung und kann daher unumwunden gefordert werden. Wie bereits Jonach aufzeigt, besteht darin ein wesentlicher Unterschied zwischen Campes Konzeption der Mädchenerziehung und der Rousseaus, denn während Rousseau die Benachteiligung der Frau durch ihre vermeintliche intellektuelle Unterlegenheit begründet, fordert Campe das sich Einfügen in eine naturgegebene Bestimmung, die das Funktionieren der gesellschaftlichen Ordnung garantiert.246 Eine ganz ähnliche Form wie John Gregory und Joachim Heinrich Campe wählt Georg Friedrich Niemeyer mit seinem 1794 erschienenen Vermächtniß an Helene von ihrem Vater. Auch hier spricht ein Vater zu seiner Tochter und das vertrauliche „Du“, das wir schon bei Campe vorgefunden haben, wird noch präzisiert, indem die Tochter des Öfteren namentlich angesprochen wird. Die Zueignung, die sich selbstverständlich an besagte Helene richtet, weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu der Gregorys auf: Auch Niemeyer fürchtet um das eigene Leben und nutzt die verbleibende Zeit, seiner Tochter eine Lebenshilfe zu hinterlassen, sozusagen väterliche Weltklugheit, in der Form des Buches konserviert. Niemeyer lässt keinen Zweifel an der Bedeutung seines Unternehmens und so vergleicht am Ende der Einleitung die Leistung guter Eltern mit der von Generälen: „In der That! ein Vater, der dem Staate ein wohlerzogenes edles Kind hinterläßt, hat eben

245 Ebd., S. 23. 246 Vgl. Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter, S. 202.

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so großes Verdienst um Menschenglück, als derjenige, der diesen Staat noch mit einer eroberten Provinz vergrößern hilft.“247 Niemeyer vertritt zunächst eine eher liberale Anschauung verglichen mit Campe, was sich insbesondere darin äußert, dass ersterer sich vorrangig um solche Tugenden, die zuvor als menschliche Pflichten bezeichnet wurden, und weniger um die geschlechtliche Bestimmung der Frau kümmert. So warnt der Autor beide Geschlechter vor den Gefahren, die von übersteigerter Leidenschaftlichkeit ausgehen. Laut Niemeyer gehören diese zur menschlichen Natur dazu und entsprechend müssen beide Geschlechter dazu angehalten werden, Leidenschaften bzw. „Wollust“248 zu regulieren: Man vergleicht sehr richtig den Weg durch die Welt mit einer Fahrt über ein wildes Meer. Die Leidenschaften der Menschen, von welchen wir umgeben sind, und die Heftigkeit unserer eigenen Wünsche bestürmen unsere Ruhe so lange, bis die kaltblütig überlegende Vernunft einen sichern Hafen ausfindet, wo sie, durch die Erfahrungen der vergangenen Zeit unterstützt, und mit gutem Erfolg den Rath giebt, in Ruhe zu bleiben, wenn wir endlich durch ihre Hülfe den Hafen erreicht haben.249

Die Vernunft soll die Heftigkeit der Gefühle abkühlen, Niemeyer setzt also ein Zusammenspiel von emotionalen und kognitiven Kräften voraus. Entsprechend sieht er den Wert der beiden Kompetenzen in unterschiedlichen Anwendungsbereichen. So soll das Mädchen ihre Gefühle, im Sinne empathischer und altruistischer Fähigkeiten, vor allem im geselligen Leben nutzbar machen, wohingegen Verstandeskräfte einen rein persönlichen Nutzen versprechen, denn Beschäftigungen geistiger Natur dienen laut Niemeyer dazu, den Menschen zu veredeln, eher in Bezug „auf ein Leben nach dem Tode, als auf unser Daseyn diesseits des Grabes.“250 In Anbetracht des Nutzens, der also sowohl aus emotionalen als auch aus kognitiven Fähigkeiten entspringt, versteht es sich, dass ein idealtypisches Mädchen beide Eigenschaften besitzen sollte. So heißt es beispielsweise über den Besitz intellektueller Kompetenzen: „Ein schön organisirter weiblicher Körper, läßt sich nicht ohne schöne Geistes-Anlagen denken. Beides ist gewöhnlich mit-

247 Georg Friedrich Niemeyer: Vermächtniß an Helene von ihrem Vater, 3. verb. Aufl., Frankfurt/M: Wilmans 1805, S. 6. 248 Diese Begrifflichkeit bleibt jedoch dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Niemeyer spricht von Wollust im Rahmen seiner Unterweisung, wie Helene ihre künftigen Söhne zu erziehen habe. Es versteht sich, dass diese unterbunden werden muss. Vgl. ebd. Kapitel 21: „Ueber Erziehung Deiner künftigen Söhne“, S. 338ff. Hier heißt es „Sage ihnen, daß sie sich hüten sollen vor Wollust, die entnervt und unfähig macht zu Bürgerpflichten.“ Ebd., S. 353f. 249 Ebd., S. 126f. 250 Ebd., S. 34.



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einander verbunden.“251 Doch sowohl diese Eigenschaft als auch gefühlsmäßige Dispositionen betrachtet Niemeyer nur in gewissem Maße für angebracht, wie sich im Folgenden verdeutlicht. Nachdem der Autor verdeutlicht hat, wozu ein sensibler Verstand führen kann, nämlich zu unnötiger Rastlosigkeit, stellt er den Idealtyp des ‚seelenruhigen‘ Mädchens dar: Das Mädchen mit geringen geistigen Fähigkeiten, mit weniger empfindsamen Nerven, ist auch weniger rastlos. Seine Einbildungskraft ist beschränkt; fremde Gegenstände machen nicht leicht einen Eindruck auf sein Herz; es ist ruhig; es kömmt, weil es immer ganz planlos handelt, mit niemanden in Kollision, niemand haßt es; denn die Hauptzüge in seinem Charakter sind Ruhe und Güte. Es hat alle Anlagen zu einer guten Hausmutter, zu einem treuen Weibe.252

Des Weiteren erklärt Niemeyer, dass nur rastlose Mädchen nach einer Verbesserung ihrer Geistesanlagen streben, dass dies aber zu nichts führt, da das weibliche Geschlecht „nicht dazu bestimmt ist, nach dem Tode zu gelten“253, sich also mit herausragenden intellektuellen Leistungen verdient zu machen. Daher kritisiert auch Niemeyer das ‚Geistreichtun‘ junger Mädchen, wenn sie in Gesellschaft sind. Er geht davon aus, dass ihre Umgebung auch ohne besondere Mittel den Verstand und das geistreiche Wesen eines Mädchens erkennen wird: „[E]s hat folglich nicht nöthig, um ihn [ihren Verstand] zu zeigen, mit beißendem Witz zu brilliren. Es zeige Güte des Herzens. Es sey liebreich, gefällig und herablassend mit denen, die seine Unterhaltung wünschen, so wird man desto williger seinen übrigen Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren lassen.“254 Die Bedeutung der Eigenschaft Güte wird noch an anderer Stelle betont: „Güte, Nachgiebigkeit und Billigkeit sind mehr Hauptzüge in dem weiblichen Charakter, als in dem männlichen“255. Auch Campe hat die Herzensgüte als löblichste Eigenschaft des weiblichen Geschlechts hervorgehoben und Niemeyer folgt seinem Vorgänger darin, die Charakterisierung der Frau als selbstlos und aufopfernd zur Grundlage ihrer vermeintlichen Bestimmung als Hausfrau, Gattin und Mutter zu machen. Die ideale Hausfrau – dass eine weibliche Existenz jenseits dieser Rollenerfüllung kaum denkbar ist, wurde bereits verdeutlicht – kann also in jeglicher Hinsicht als gemäßigt beschrieben werden, weder ihre geistigen noch ihre emotionalen Kräfte sind besonders ausgeprägt.

251 Ebd., S. 64. 252 Ebd., S. 65. 253 Ebd., S. 66. 254 Ebd., S. 88. 255 Ebd., S. 230.

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Diese Forderung nach dem rechten Maß erstreckt sich auf die Themen Liebe und Ehe. Während Niemeyer grundsätzlich einer neuzeitlichen Liebeskonzeption folgt, laut der die Betroffenen der Liebe als Naturgewalt machtlos unterliegen, weist er seine Tochter doch darauf hin, derartig „romanhaften“ Ideen nicht allzu viel Beachtung zu schenken und stattdessen Besonnenheit in der Wahl des Ehepartners walten zu lassen. In diesem Zusammenhang heißt es: Ob die Liebe sich gleich keinen Gesetzen unterwerfen läßt, so glaube ich doch, daß Du Dich vor den romanhaften Ideen wirst in Sicherheit stellen können, nach welchen junge Liebende sich einbilden, sie können, sich selbst genug, ein ewiges Schäferleben führen, und vergnügt seyn, wenn ihnen auch alles mangele.256

Unter der Vorgabe, elterliche (Mit-)Bestimmung bei der Partnerwahl nicht gutzuheißen, unternimmt der Autor somit den Versuch, der Tochter direkt die väterlichen Maßgaben aufzuoktroyieren. Sie darf durchaus frei entscheiden, solange sich ihre Wahl mit der des Vaters deckt. Das Gebot kindlichen Gehorsams hat sich möglicherweise etwas gelockert, gleichwohl besitzt es noch immer seine Gültigkeit.257 Von freier Wahl, geschweige denn von freier Liebe,258 kann demnach kaum die Rede sein. Alles in allem erweckt Georg Friedrich Niemeyers Vermächtniß an Helene von ihrem Vater den Anschein, als solle sich besagte Tochter innerhalb konventioneller Grenzen so frei wie möglich fühlen. Tatsächlich sind diese Grenzen jedoch sehr eng gesteckt, schließlich nennt Niemeyer keinen Bereich, dem sich das Mädchen mit ganzer Intensität widmen soll. Erwartungsgemäß würden an dieser Stelle sicherlich hauswirtschaftliche Kenntnisse thematisiert, doch diese finden bei Niemeyer kaum Beachtung. Daraufhin jedoch zu erwarten, der Autor sorge sich ausschließlich um Tugenden, die beide Geschlechter gleichermaßen betreffen, da sie zur Verbesserung des Menschen überhaupt dienten, ist weit gefehlt. Dem

256 Ebd., S. 268. 257 Wie Amanda Vickery ausführt, gehört der despotische Vater, der seine Tochter vor den Altar zerrt und ihren uneingeschränkten Gehorsam fordert, bereits im 18. Jahrhundert der Vergangenheit an. Gleichwohl werden Liebesehen weiterhin nur innerhalb eines sehr begrenzten Rahmens geschlossen. Vgl. Amanda Vickery: The Gentleman’s Daughter. Women’s Lives in Georgian England, New Haven u. London: Yale University Press 1998, S. 286. 258 Diese Begrifflichkeiten decken sich bei Niemeyer, so heißt es im 16. Kapitel: „Liebe, die das größte Glück unsers Lebens bestimmt, muß frei seyn. Sie muß nicht durch Ueberredung erkünstelt, nicht durch den Zwang eigennütziger und ehrgeiziger Eltern hervorgebracht, nicht durch die Aussicht zum Besitz künftiger Glücksgüter zu Herzen, das sich dagegen sträubt, hingelenkt werden, um von dem widerstrebenden Mädchen ein Ja zu erhalten, das mit Thränen begleitet ist.“ Vgl. Niemeyer: Vermächtniß an Helene, S. 262.



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jungen Mädchen werden nur eben insoweit dieselben menschlichen bzw. bürgerlichen Rechte gewährt, die auch das männliche Geschlecht genießt, so lange die Ausübung dieser Rechte nicht mit der Erfüllung der geschlechtlich-natürlichen Bestimmung der Frau kollidiert und dies geschieht nach Niemeyer bereits dann, wenn ein Mädchen „unweibliche“ Attribute, wie etwa ein geistreiches Wesen, der Öffentlichkeit vorführt. Mädchen sollen sich also deshalb anders verhalten als Männer, weil die Öffentlichkeit es von ihnen erwartet. Ebenso wie Fordyce bereitet Niemeyer seine Tochter letztlich ausschließlich auf die Erwartungen vor, die von außen an sie heran getragen werden könnten. Das Lebensglück, das Helene prophezeit wird, ist nur innerhalb dieser Schranken denkbar, alles was gegen diese Konventionen verstößt, muss verhütet werden. An dieser Stelle sei angemerkt, dass auch im französischen Sprachraum vergleichbare Werke veröffentlicht wurden, die hier jedoch nicht näher betrachtet werden sollen. Prominente Beispiele väterlicher Ratschläge in französischer Sprache ragen recht weit aus dem hier untersuchten Zeitrahmen heraus. Zu nennen wäre beispielsweise Nicolas Dupuy La Chapelles 1707 erschienene Schrift Instruction d’un père à sa fille. Dieses Werk soll hier nicht nur aufgrund seiner frühen Veröffentlichung übergangen werden, sondern auch aufgrund inhaltlicher Geschichtspunkte: Da Dupuy La Chapelle seine Vorstellung von Mädchenerziehung streng religiös begründet, treten geschlechtliche Besonderheiten weniger stark zutage als bei den bereits besprochenen Autoren, religiöse Tugenden gelten (zumindest nach Dupuy La Chapelle) schließlich für beide Geschlechter gleichermaßen. Entsprechend findet sich die Konzeption der gefühlsorientierten Frau hier nicht. Nahezu im Gegenteil plädiert der Autor eher für eine Unterordnung unter rationale Prinzipien, immerhin wird des Öfteren der Begriff der „femme raisonnable“259 gebraucht. Darüber hinaus sollte auf die anonym veröffentlichten, 1711 von Denys Mouchet herausgegebenen Conseils donnez à une jeune personne pour se conduire dans le commerce du monde, & pour éviter les fautes qu’elle peut faire hingewiesen werden. Neben diesen männlich-väterlichen Unterweisungen französischen Ursprungs wurden vor allem Übersetzungen veröffentlicht, dabei erfreute sich insbesondere die erstmals 1688 erschienene Schrift des Marquis von Halifax The Lady’s New Year’s Gift, or Advice to a Daughter großer Beliebtheit, aber auch Gregorys A Father’s Legacy to His Daughters erschien in französischer Übersetzung.

259 Vgl. z. B. N[icolas] Dupuy La Chapelle: Instruction d’un père à sa fille. Tirée de l’écriture sainte, sur les plus immportans sujets concernant la religion, les mœurs et la manière de se conduire dans le monde, Neue Aufl., Paris: Frères Estienne 1763, S. 448.

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2.4.2.2 Mütterliche Ratschläge Literarische Ratschläge an die zumeist bürgerliche Tochter liegen nicht nur aus männlich-väterlicher Perspektive vor, auch Autorinnen haben sich dieser Gattung bedient, wenn auch mit einiger Verspätung. So finden sich im 18. Jahrhundert nur vereinzelt weibliche Stimmen, wie etwa Mary Wollstonecraft, wohingegen die Zahl weiblicher Autoren, die sich dem Thema Mädchenerziehung widmen, im Laufe des 19. Jahrhunderts rapide ansteigt. Parallel lässt sich eine Spezialisierung innerhalb des Genres verzeichnen, beispielsweise kann zwischen conduct books unterschieden werden, die sich tatsächlich um das Verhalten des Mädchens kümmern, und etwa Anleitungen für junge Frauen, die sich insbesondere auf hauswirtschaftliche Fähigkeiten beziehen. Zweifellos bilden Verhaltenslehren der ersten Sorte, welche grundsätzlich den idealtypischen weiblichen Charakter darstellen, die Grundlage, auf der sich die spezialisierte Ratgeberliteratur entwickelt. Mit der beschriebenen Spezialisierung geht auch eine Verbreiterung des Zielpublikums einher. Während Gregory und Campe sich in der Hauptsache an bürgerliche Töchter richten und somit nicht nur weibliche Berufstätigkeit ausschließen, sondern auch davon ausgehen, das wohlerzogene Mädchen stehe später einem ganzen Stab von Angestellten vor, widmen die im Folgenden zu betrachtenden Autorinnen ihre Anweisungen mitunter auch mittelständischen Frauen, die hauswirtschaftliche Kenntnisse nicht nur besitzen, sondern vor allem umsetzen sollen. In den nachstehenden Ausführungen sollen nun Beispiele verschiedener Richtungen untersucht werden, d. h. sowohl Anleitungen zum idealen sittlichen Verhalten als auch praktischere Anweisungen, nicht zuletzt da oftmals eine Kombination der Anliegen innerhalb einzelner Texte stattfindet. Eine im Wesentlichen praktische Ausrichtung im Sinne hauswirtschaftlicher Befähigungen verfolgt beispielsweise Ann Taylor mit ihrer 1815 veröffentlichten Schrift Practical Hints to Young Females on the Duties of a Wife, a Mother, and a Mistress of a Family, auch wenn die Autorin nicht umhin kommt, die theoretischen Grundlagen praktischen Handelns zu erläutern und die den haushälterischen Kenntnissen zugrunde liegenden charakterlichen Qualitäten des weiblichen Geschlechts zu thematisieren. Zunächst spezifiziert Taylor den Kreis ihrer Adressatinnen: Females in the middle ranks of society, in those especially which include numerous occupations and confined circumstances, are more immediately addressed: and to them many of the following observations assume to be of essential importance260.

260 Mrs. [Ann] Taylor: Practical Hints to Young Females on the Duties of a Wife, a Mother, and a Mistress of a Family, 10. Aufl., London: Taylor & Hessey 1822, S. iii.



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Zugleich schützt sich die Autorin davor, Frauen mit einem anderen Hintergrund auszuschließen,261 es bleibt allerdings bei der grundsätzlichen Orientierung an den Erfordernissen des häuslichen Lebens. Dabei hebt Taylor im Rahmen einer Präambel sowohl die enorme Wirkung als auch die Mühelosigkeit häuslicher Tugenden hervor: But if to promote domestic virtue, and preserve the happiness of the fireside, is an effectual, as well as a simple means of increasing national prosperity; how many are there, who have hitherto deemed themselves incompetent, whose efforts might thus contribute to the public weal!262

Was sich hier begrifflich ankündigt, ist die Erziehung der Frauen zu „intelligent fireside companions“, um nochmals Valerie Sanders’ Losung zu bemühen.263 Indem Taylor von haushälterischen Erfordernissen als einem einfachen Mittel, privates Glück zu gewährleisten, spricht, wird ein Scheitern an diesen Erfordernissen zur Unmöglichkeit erklärt. Zumindest hat eine inkompetente Hausfrau laut Taylor ihre Bestimmung verfehlt, schließlich verpasst sie ihre einzige Chance zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen zu können. Die weibliche Bestimmung, die bereits im Titel als solche zur Ehefrau, Mutter und Hausfrau definiert wird, erfordert laut Taylor ein außerordentliches Maß an Charakterstärke. Demnach werden weibliche Standhaftigkeit und Prinzipientreue als grundsätzliche Voraussetzungen für häusliche Behaglichkeit angesehen.264 Das Thema Hauswirtschaft bildet insofern nicht den Schwerpunkt der Practical Hints, als es lediglich den Gegenstand eines Kapitels darstellt. Daneben werden Themen wie Kindererziehung sowie angemessenes Verhalten gegenüber Angestellten und auch Kranken behandelt. An erster Stelle steht dabei ein Kapitel über das Verhalten einer Frau ihrem Ehemann gegenüber, diesem schuldet die Frau laut Taylor die größte Aufmerksamkeit.

261 In diesem Sinne heißt es weiter: „at the same time, a hope is indulged, that readers of a different description may gain an occasional hint, by which their conduct in domestic life may be improved.“ Ebd., S. iiif. 262 Ebd., S. vf. 263 Wie bereits oben angemerkt, benutzt Sanders besagten Terminus im Kontext ihrer Kritik an viktorianischen Moralisten, wie John Ruskin, Sarah Stickney Ellis und Dinah Mulock. Vgl. Sanders: Reason over Passion, S. 173. 264 Dementsprechend fordert Taylor von ihren Leserinnen: „let it be your ambition, my dear reader, to form a sterling character“ und weiter „while others act desultorily, without design, and from mere impulse, do you proceed on principle; or, while their aim is fashion, let yours be steadiness.“ Vgl. Taylor: Practical Hints to Young Females, S. 7.

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The first object that should claim your attention, is that being with whom you have united your fortunes. When he vowed to take you for better for worse, he staked the happiness of his future life; a treasure for which the most ample portion is insufficient to compensate.265

Tatsächlich wird hier suggeriert, ein Mann begebe sich durch die Heirat in ein Abhängigkeitsverhältnis, da er die Verantwortung für sein zukünftiges Glück völlig seiner Frau überlasse. Diese großzügige und freiwillige Aufgabe jeglicher Eigenverantwortung muss die Frau nun honorieren, indem sie es sich zur Hauptaufgabe macht, für das (häusliche) Wohl ihres Gatten zu sorgen. Ein wichtiges Mittel dazu besteht in einer untadeligen Haushaltsführung, die Taylor wie folgt beschreibt: That house only is well conducted, where there is a strict attention paid to order and regularity. To do every thing in its proper time, to keep every thing in its right place, and to use every thing for its proper use, is the very essence of good management […].266

Aus dem wiederholten Gebrauch des Wortes „proper“ lässt sich durchaus der Schluss ziehen, dass auch Ann Taylor idealtypische Weiblichkeit als bescheiden und wohltemperiert definiert. Der Aufruf zur Ordnungsliebe zielt zweifellos daraufhin, in Frauen einen Sinn für das rechte Maß zu wecken. Zwar lässt sich in Taylors Argumentation keine eindeutige Attribuierung der Gefühlsbezogenheit als weibliche Eigenschaft erkennen, die der Rhetorik der betrachteten männlichen Autoren, innerhalb derer Emotionalität zur Grundlage traditionell weiblicher Pflichten erhoben wird, vergleichbar wäre, dennoch appelliert auch Taylor an das weibliche Gefühl. Dazu heißt es: „To a woman of proper feeling, no pleasures could be greater than those which the society, esteem, and affection of her husband, the improvement of her children, and the due order of her family, afford.“267 Wieder liegt die Betonung auf dem Adjektiv proper: Das richtige Gefühl verweist die tadellose Frau an ihren ordnungsgemäßen Platz. Es fragt sich, warum Taylor überhaupt vom Gefühl spricht, wenn doch mit Besonnenheit und Einsicht unmissverständlich Vernunftgaben gefordert werden. Alles in allem erweckt Ann Taylor mit ihren Practical Hints to Young Females den Eindruck, als spiele weibliche Emotionalität eine äußerst geringe Rolle bei der mustergültigen Erfüllung von Rollenerwartungen. Es dominieren Begrifflichkeiten wie management, order und regularity. Karin Schrott hat zu Recht darauf

265 Ebd., S. 12. 266 Ebd., S. 30. 267 Ebd., S. 129.



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aufmerksam gemacht, dass zwischen den für eine solide Haushaltsführung erforderlichen Qualitäten, die durchaus als rationale Kompetenzen zu bezeichnen sind, und der den Frauen allgemein zugeschriebenen größeren Nähe zu gefühlsmäßigen Kompetenzen ein offener Widerspruch besteht. Ein großer Teil der Ansprüche an die bürgerliche Frau bezieht sich auf ihr Wissen und Können als Hausfrau. [...] Die dafür geforderten Fähigkeiten wie Organisation, Buchführung und Personalmanagement widersprechen zu großen Teilen dem Bild von der Frau als passivem, zu keinerlei Art des abstrakten Denkens fähigem Wesen, das, statt Rationalität zu besitzen, nur über Emotionalität, Gemüt und Herz verfügt.268

Wie Schrott weiterhin ausführt, wird dieser Widerspruch aufgelöst durch die Umdeutung weiblicher Pflichten in Liebesgaben, somit entsprechen auch rationale Fähigkeiten wie Kalkulation der allumfassenden weiblichen Güte.269 Im Falle Ann Taylors wird nicht mehr explizit auf den weiblichen Liebesdienst verwiesen. Stattdessen wird die allgemeine Annerkennung einer besonderen moralischen Verantwortung der Frau gegenüber ihrem Mann schlichtweg vorausgesetzt. Was den französischen Sprachraum anbelangt, so verhält es sich ähnlich wie mit den literarischen Fingerzeigen männlicher Autoren an ihre Töchter auch mit den weiblichen Pendants. Die Blütezeit des Erscheinens solcher Werke lässt sich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts datieren. Aus dieser Zeit stammt beispielsweise die Schrift Avis d’une mère à sa fille der Marquise de Lambert, die 1728 erstmals veröffentlicht wurde. Anstelle dieses äußerst frühen Beispiels soll im Folgenden jedoch eine weitere Schrift der Autorin Jeanne-Louise-Henriette Campan betrachtet werden. Ihre Conseils aux jeunes filles wurden erstmals 1823 im Rahmen des zuvor angesprochenen Werks De l’éducation veröffentlicht, als selbstständiges Werk liegen sie seit 1825 vor. Die Zueignung der Autorin ähnelt in verblüffender Weise der Ann Taylors. Ces conseils sont, je le déclare, destinés avant tout aux enfans des classes laborieuses; cependant, comme la morale est une dans ses préceptes, je ne pense pas que ceux qui sont renfermés dans cet ouvrage puissent être sans fruit pour les enfans des classes supérieures.270

268 Karin Schrott: Das normative Korsett. Reglementierungen für Frauen in Gesellschaft und Öffentlichkeit in der deutschsprachigen Anstands- und Benimmliteratur zwischen 1871 und 1914, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 105. 269 Vgl. ebd. 270 Jeanne-Louise-Henriette Campan: Conseils aux jeunes filles, in: De l’éducation par Madame Campan, suivi des Conseils aux jeunes filles, d’Un Theatre pour les jeunes personnes et de Quelques essais de morale, Bd. 1, hg. v. François Barrière, 3. Aufl., Paris: Baudouin Frères 1826, S. 316.

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Auch Campan eignet ihre Anweisungen eher Mädchen niederer Schichten zu, bestreitet aber nicht den Wert, den ihr Werk auch für höhere Töchter besitzt. Nichtsdestotrotz ist die gesamte Konzeption Campans hier darauf ausgerichtet, die nötigen Grundsätze möglichst leicht verständlich und unterhaltsam zu vermitteln. Zu diesem Zweck bindet die Autorin eine Reihe von Erzählungen sowie ein kurzes Theaterstück ein, die allesamt den Wert moralischer Grundsätze verdeutlichen sollen. Die Orientierung an einem Publikum der arbeitenden Klasse verdeutlicht besonders das Kapitel über „Des diverses professions des femmes“: Darin behandelt die Autorin vor allem die Aufgaben, die eine Frau im Geschäft des Mannes verrichten kann, um diesen zu entlasten. An dieser Stelle wiederholt Campan, wie schon zahlreiche AutorInnen vor ihr, Rousseaus Maßgabe, die Frau könne nicht früh genug an die Pflichterfüllung gewöhnt werden: On ne saurait trop tôt, ma chère enfant, vous occuper des diverses positions de la vie d’une femme, et des devoirs qui y sont attachés. Ou vous serez mariée et mère de famille, ou vous resterez fille, ou vous dévouerez votre vie au service de Dieu dans une communauté. 271

Trotz der lebensnahen Ausrichtung von Campans Schrift äußert sich die Autorin nicht darüber, worin weibliche Pflichten im Einzelnen zu bestehen haben. Zwar werden wie erwähnt Aufgaben genannt, die die Frau im geschäftlichen Bereich übernehmen kann, auf hauswirtschaftliche Kompetenzen, die schließlich den Wert einer Frau jedes Standes ausmachen sollen, wird hingegen nicht näher eingegangen. Die Autorin beschränkt sich darauf, zu verdeutlichen, dass haushälterische Qualitäten nicht nur die besondere Bestimmung der Frau seien, sondern darüber hinaus der einzige Weg, zu Anerkennung zu gelangen. In diesem Sinne erklärt Campan: Les soins du ménage regardent les femmes; la nourriture de son mari doit faire la première occupation d’une bonne ménagère. [...] Croyez que ces soins importent à la personne qui veut toujours être aimée, toujours être estimée de l’homme auquel son sort est uni pour la vie.272

Zwar ist hier nicht von der Liebesgabe die Rede, dennoch wird die Liebe als Motor weiblicher Pflichterfüllung genutzt. Was die weibliche Pflichterfüllung hier evoziert, ist ganz einfach der angedrohte Liebesentzug, denn nur die Frau, die die ihr auferlegten Aufgaben bereitwillig übernimmt, kann überhaupt liebenswert sein.

271 Ebd., S. 390. 272 Ebd., S. 392.



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Eben jene Bereitwilligkeit bzw. Gleichmut wird denn auch zum wichtigsten weiblichen Charakterzug erklärt. La qualité la plus essentielle dans une femme est la douceur et l’égalité de caractère. Ne l’oubliez jamais; il n’y a pas un seul homme qui soutienne les contrariétés; et tous, s’ils sont honnêtes, se rendent à la raison, quand les représentations ne sont mêlées ni d’emportement ni d’aigreur.273

Damit stimmt auch Jeanne-Louise-Henriette Campan in den Tenor des Geschlechtscharakterdiskurses mit ein. Die Frau soll sanft und gutmütig sein, also Eigenschaften besitzen, die es ihr ermöglichen, ihrer natürlichen Bestimmung gerecht zu werden, anderenfalls verdient sie es weder geliebt noch geschätzt zu werden. Auch wenn Campan nicht an das moralische Bewusstsein ihrer Leserinnen appelliert, so wie das innerhalb der Ratgeberliteratur für bürgerliche Mädchen zu erwarten wäre, stützt sie sich doch auf die natürlichen Anlagen des Geschlechtscharakters, um die Bürde weiblicher Opferbereitschaft bis hin zur Selbstverleugnung zu legitimieren. Das Mädchen der Arbeiterklasse ist vielleicht weniger Hüterin der Sitten als ihre (groß-)bürgerliche Geschlechtsgenossin, dennoch muss sie einsehen, dass sie aufgrund der Attribute Zartheit und Güte dazu prädestiniert ist, einzig im häuslichen Bereich zu walten. Auch Matilda Pullan konzentriert sich in ihren Maternal Counsels to a Daughter Designed to Aid Her in the Care of Her Health, Improvement of Her Mind, and Cultivation of Her Heart auf die Bestimmung der Frau zur Hausfrau, Gattin und Mutter. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, 1855, kann die Autorin bereits auf eine längere Tradition von Verhaltenslehren für junge Mädchen zurückblicken, wie sie einleitend bemerkt. Dennoch sieht die Autorin die Notwendigkeit, dem bestehenden Diskurs noch etwas hinzuzufügen: For adding yet another to the many works addressed to young ladies, I have but one apology to offer. It has always appeared to me that the girls of the present day have too much sentiment, too much fanciful refinement for their own peace. I have thought that their everyday life would be infinitely happier, and the character of English women be very greatly improved if they possessed a little of the common sense which distinguishes the character of English men.274

273 Ebd. 274 Matilda Pullan: Maternal Counsels to a Daughter Designed to Aid Her in the Care of Her Health, Improvement of Her Mind, and Cultivation of Her Heart, hg. v. Setsuko Kagawa, Bristol: Thoemmes Continuum 2004 (= Women’s Education in the Nineteenth Century. The Mother: Education in the Home, Bd. 5; Nachdruck der Ausg. London 1855), S. xif.

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Damit wird zunächst einmal die Auffassung des Diskurses bestätigt, Frauen stünden von Natur aus dem Gefühl näher als dem Verstand. Pullans Kritik richtet sich sicherlich nicht generell gegen eine solche Disposition, sondern lediglich gegen ein Zuviel an Gefühl. Eine extreme Aneignung vernünftiger Anlagen wird ebenso verurteilt, da das zugrunde liegende Prinzip ja eindeutig an den Mann gekoppelt wird; das Mädchen soll sich lediglich ein wenig des männlichen common sense aneignen. Es zeigt sich also bereits anhand Pullans Einleitung, dass auch diese Autorin Frauen zu allgemeiner Mäßigung anhält. Die rechtschaffene, normale Frau meidet jedes Extrem und schafft in jeder Schieflage einen Ausgleich. Den Zwischenraum zwischen den Extremen kann die Frau nur als einen äußerst schmalen Spielraum erfahren. Die Einschätzung der Autorin, eine charakterliche Verbesserung der Frau bestünde grundsätzlich in einer Regulierung von Extremen, verdeutlicht auch der Titel des Werkes, in dem von der Kultivierung des Herzens die Rede ist. Wie bereits festgestellt, erstreckt sich die von Pullan angestrebte Kultivierung nicht nur auf gefühlsmäßige Anlagen, sondern auch auf verstandesmäßige. Auch folgende Erklärung zeigt, dass die Kultivierung der Frau sowohl emotionale als auch kognitive Prozesse erfassen soll. To cultivate the heart, the head and the mind, is then the duty of every girl on leaving school. There is another thing I would suggest, and that is, to endeavour to form the character. „Most women,“ it is said, „have no character at all,“ and the remark is true enough; for they are so apt, chameleon-like, to take the hue of whatever they are approximated to, that they really have no characteristic which marks them as individuals.275

Mit dieser Kritik trifft Pullan ins Zentrum ihrer eigenen Argumentation. Wie ich bereits angedeutet habe, schafft der angestrebte Ausgleich von Verstand und Gefühl einen derart engen Spielraum für idealtypisches weibliches Verhalten, dass jeglicher Anflug eines Charakterzuges, also einer spezifischen Eigentümlichkeit im Grunde für die Frau unmöglich ist. Die Individuation, der sich Rousseaus Zögling Émile unterziehen muss, um zu einem verantwortungsvollen Bürger zu werden, bleibt der Frau verschlossen, als rein geschlechtliches Wesen bedarf sie keiner Individualität.276 Von einer weiblichen Individualisierung kann also

275 Ebd., S. 7f. 276 Brigitte Leierseder bestätigt die Opposition von der Frau als reinem Geschlechtswesen und dem Mann als gesellschaftlichem Wesen; seine Sozialisation umfasse eben die Individuation, die der Frau vorenthalten wird. Da alle Frauen nur eine ihnen alle gemeinsame Bestimmung haben, besitzt jede von ihnen einen kollektiven weiblichen Charakter. Vgl. Leierseder: Das Weib nach den Ansichten der Natur, S. 53.



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keinesfalls die Rede sein, höchstens von einer Sozialisierung. Dabei fällt eine weitere Tatsache auf: Das Mädchen soll seine Sozialisierung offenbar selbst vornehmen und überwachen. Diese Forderung Pullans erscheint extrem fragwürdig, schließlich sollte man annehmen können, dass ein Mädchen, das die erstrebenswerten Eigenarten des weiblichen Charakters bereits kennt, diese längst besitzt – ihr grundsätzliches Interesse daran, normativen Rollenerwartungen zu entsprechen, sei einmal vorausgesetzt. In diesem Sinne sollen Matilda Pullans Maternal Counsels dem jungen Mädchen allseits bekannte Tugenden lediglich ins Gedächtnis rufen. Selbstverständlich bleibt die Autorin auch in der Beschreibung wünschenswerter weiblicher Tugenden dem Geschlechtscharakterdiskurs treu, so fokussiert jedes einzelne Kapitel altruistische Qualitäten. Während das Mädchen im fünften Kapitel ausdrücklich zur Wohltätigkeit ermahnt wird, tatsächlich heißt es dort „The sick and suffering have ever peculiar claims on the tenderness of woman“277, werden in einem anderen Kapitel die Verpflichtungen des jungen Mädchens gegenüber Familienmitgliedern und Freunden thematisiert. Selbst Pullans Ratschläge in Bezug auf Kleidung und äußere Erscheinung zielen drauf ab, die Selbstlosigkeit des Mädchens zu fördern und es auf seine Verpflichtungen gegenüber anderen hinzuweisen. Dementsprechend lesen wir dort: „A woman should dress to please others, and not herself“278. Pullans Unterweisungen gipfeln schließlich darin, junge Mädchen zur völligen Selbstentsagung aufzufordern: „Love thyself last,“ says the poet, who knew more the beauties of the female character than any other human being; and a similar injunction is found in Holy Writ: „in honour preferring one another.“279

Damit ist nochmals die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der Ausführungen Matilda Pullans sowie des gesamten Diskurses bestärkt. Der weibliche Charakter, der selbstlos und hingebungsvoll sein soll, dabei aber keinerlei Habitus einer ausdifferenzierten Eigenart umfasst, kann nicht eigentlich Charakter genannt werden. Die vom Diskurs honorierte Frau ist ein charakterloses Wesen, was auch Pullan selbst beklagt. Da sich die Kritik der Autorin aber an keiner Stelle gegen den Diskurs richtet, kann hier kein Gegenmodell einer weiblichen Individualität entworfen werden. Stattdessen bleibt es dabei, dass der weibliche Charakter eben darin besteht, keinen Charakter zu haben.

277 Pullan: Maternal Counsels to a Daughter, S. 92. 278 Ebd., S. 137. 279 Ebd., S. 172.

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Auf die Autorin Julie Pfannenschmidt, die unter ihrem Mädchennamen Burow publizierte, wurde bereits im Rahmen des Abschnitts über gesellschaftskritische Texte zur Frauenbildung eingegangen. Das außerordentlich umfangreiche Werk der Autorin umfasst neben zahlreichen Novellen und Romanen sowie dem Versuch einer Selbstbiographie (1857) auch einige Werke zur Sozialisation der Frau. Dazu zählen außer der oben erörterten „gekrönten Preisschrift“ Ueber die Erziehung des weiblichen Geschlechts (1854) die Denk-Sprüche für das weibliche Leben. Gesammelte Perlen zur Veredelung für Geist, Gemüth und Herz (1857) oder auch die Schrift In stillen Stunden. Gedanken einer Frau über die höchsten Wahrheiten des Menschen-Daseins (1861). Mit dem erstmals 1859 verlegten Werk Herzensworte. Eine Mitgabe auf den Lebensweg. Unsern Töchtern gewidmet wendet Julie Burow sich schließlich ausdrücklich an junge Mädchen, die unmittelbar vor dem Eintritt ins (Ehe-)Leben stehen, die Schrift reiht sich somit in die begonnene Untersuchung mütterlicher Ratschläge ein. Einleitend geht Burow zunächst auf Titel und Programmatik ihrer Schrift ein. Selbstverständlich spielt der Begriff Herz als Synonym für Gefühl dabei eine bedeutende Rolle: „Wahrlich, es sind ‚Worte des Herzens‘, die ich hier ausgesprochen, und so hoffe ich, daß sie den Weg zu Euren Herzen auch nicht verfehlen werden.“280 Entsprechend dieser ‚Rhetorik des Herzens‘ bezieht die Autorin ihre Eignung für das Vorhaben nicht aufgrund hervorragender fachlicher Qualifikationen, sondern aufgrund ihrer Lebenserfahrung. Während innerhalb der Schrift Ueber die Erziehung des weiblichen Geschlechts vom „Mutterherzen“281 die Rede war, wird hier ebenfalls die natürliche Vertrautheit der Autorin mit ihrem Thema bestätigt. Nicht aus Büchern, sondern in der strengen Schule des Lebens habe ich die Ansichten gesammelt, die ich in diesen Blättern niedergelegt, und vielleicht werdet Ihr aus denselben Lehren ziehen, die Euch vor manchen Schmerzen bewahren, die Euch Fingerzeige geben zu manchem Guten und Euch daher glücklicher, weil besser machen.282

Die Verbesserung, die Burow anstrebt, reproduziert das Sozialisationsprogramm des Diskurses, wonach die Frau zur Liebe erzogen werden soll und tatsächlich weist die Autorin immer wieder mit größtem Nachdruck auf die Bestimmung ihres Geschlechts zur Liebe hin. So beschreibt Burow also das Ziel der Mädchenerziehung wie folgt:

280 Julie Burow (Frau Pfannenschmidt): Herzensworte. Eine Mitgabe auf den Lebensweg. Unsern Töchtern gewidmet, Reutlingen u. Stuttgart: Bardtenschläger o. J. [ca. 1922], S. 1. 281 Burow: Ueber die Erziehung des weiblichen Geschlechts, S. VI. 282 Burow: Herzensworte, S. 1.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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Mit dem Beginn des Jünglingsalters geht der Knabe nach abgelegter Prüfung als Lehrling, Student, Soldat u. s. w. in die Welt, die Jungfrau bleibt im Vaterhause, oder an der Stelle, die ihr dieses ersetzte; dort soll sie den erhabensten, schönsten menschlichen Beruf erlernen und ausüben, den Beruf, zu dienen in sich selbst vergessender Liebe.283

Damit ist die erste und wichtigste Lehre Burows genannt, die Autorin erklärt die Liebe zur Lebensaufgabe der Frau. Ähnliche „Stellenbeschreibungen“ des weiblichen Berufs durchziehen folglich den gesamten Text, dabei wird dem ‚Liebesdienst‘ der Frau durchaus eine gesellschaftliche Bedeutung beigemessen: „Die bürgerliche Gesellschaft, das Vaterland, fordert von jedem weiblichen Wesen, auch von Euch, Ihr, meine jugendlichen Freundinnen, Liebe, volle, reine, selbstvergessende Liebe.“284 Bereits in der zuvor zitierten Textstelle vergleicht Burow das „Jünglingsalter“ mit der Lebenswelt der „Jungfrau“; das Bewusstsein über die grundsätzliche Differenz zwischen männlicher und weiblicher Bestimmung setzt sich weiter im Text fort. Offenbar sieht Burow die Notwendigkeit, dieses Ungleichgewicht zu entschärfen, indem sie die Ehrenhaftigkeit des weiblichen Berufes ausdrücklich hervorhebt. Die Pflichten der Tochter im Vaterhause sind, einzeln betrachtet, klein, und ein liebendes Herz könnte in der einer solchen natürlichen Selbstüberhebung, sie leicht auch für kleinlich halten. Durch die Liebe aber erhalten sie eine Erhabenheit, die den Pflichten, welche die Männer in dem Getriebe der Welt zu erfüllen haben, abgeht.285

Damit stärkt die Autorin die strikte Trennung von männlicher und weiblicher Sphäre, wie sie der Geschlechtscharakterdiskurs vorschreibt. Die Wirkungsbereiche von Mann und Frau unterscheiden sich demnach aufgrund spezifischer natürlicher Eigentümlichkeiten der Geschlechter. Die besondere Eignung des weiblichen Geschlechts zum Lieben und Dienen fußt dabei auf der angenommenen Neigung der Frau zur Emotionalität. Julie Burow betrachtet diese Neigung als selbstverständlich, wenn sie schreibt: „Das Herz, nicht der Verstand herrscht vor in der weiblichen Seele“286. Obwohl Burow sich durchaus für eine solide geistige Bildung ausspricht, sind es eindeutig mitfühlende Kompetenzen, die sie in der Hauptsache vertritt und ihren Leserinnen näher bringen möchte. In diesem Sinne stellt die Autorin fest: „Herzensgüte ist das sicherste, untrüglichste Schönheits-

283 Ebd., S. 11. 284 Ebd., S. 85. 285 Ebd., S. 16f. 286 Ebd., S. 15.

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mittel, und Geistesbildung das ihm zunächst stehende.“287 Fraglos erkennt auch Burow in der Eigenschaft weiblicher Güte die Grundvoraussetzung für ein Leben im Dienst des Mannes. Zwar bestreitet die Autorin, dass die Frau dazu geschaffen sei, einzig in Beziehung auf den Mann zu leben,288 dennoch kommt sie nicht umhin, genau das von ihren Zöglingen zu fordern. „Euer Beruf auf Erden ist die höchste Vervollkommnung Eures Ichs und die größtmögliche Benutzung Eurer Kräfte für Eure Mitmenschen, beides geht, wie der Augenschein lehrt, Hand in Hand!“289 Die Widersprüchlichkeit dieser Aussage ist offensichtlich, denn wenn eine Vervollkommnung des eigenen Ichs nur im Bezug auf andere geschehen kann, geht es nicht um das Ich. Das Selbst, das sich einzig in der Aufopferung für andere verwirklichen kann, kann nicht eigentlich ein Ich sein. Tatsächlich wird die Frau hier einmal mehr zur Selbstverleugnung ermuntert, ihr Dasein gewinnt erst im Hinblick auf ihre Wirkungen für andere an Relevanz. Darüber, dass die Frau sich ihrem Mann unterzuordnen hat, besteht in der Gedankenwelt Julie Burows kaum ein Zweifel. Begründet wird dieses Verhältnis auch hier durch die vermeintlich schwächere Natur der Frau. In diesem Sinne fragt Burow ihre Zöglinge: „Habt Ihr geprüft, ob Euer Charakter mit dem Eures künftigen Gatten übereinstimmt? ob Eure Neigungen einigermaßen verwandt sind?“290, um dann fortzufahren: Vergeßt diese Prüfung nicht, denn es ist die Verpflichtung der Frau, sich dem Charakter des Mannes anzupassen, seine Neigungen den ihrigen vorgehen zu lassen. – Haltet dies nicht für eine Grausamkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegen unser Geschlecht, es liegt in der Natur, daß das Schwächere nachgiebt, daß das Weichere sich umformen läßt, und Gott schuf das Weib schwächer und weicher als den Mann.291

Insgesamt lastet die Verantwortung für häusliches Glück laut Burow allein auf den Schultern der Frau, sie hat sich nicht nur in ihrem Temperament dem Gatten anzupassen, sondern auch dafür zu sorgen, ihm seinen Teil der Versorgung angemessen zu vergüten, das bedeutet also Liebe gegen Kost und Logis. Die Schieflage dieses Verhältnisses wird abermals durch den Hinweis auf den moralischen Wert uneigennütziger Liebe legitimiert, denn „Gegenseitige volle Liebe gleicht

287 Ebd., S. 79. 288 Vgl. ebd., S. 149. Hier heißt es: „Die Ehe ist für Euch nicht mehr, als für den Mann, Lebenszweck und Beruf; es ist nur eine Arroganz einiger Männer, zu glauben, jedes Weib sei eben nur etwas in Beziehung auf einen Mann, an und für sich aber ein Nichts! das, wie das welke Herbstlaub oder die Blüte, die, ohne Frucht anzusetzen, zu Boden sinkt, keinen Wert hat.“ 289 Ebd., S. 150. 290 Ebd., S. 108. 291 Ebd.



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freilich das alles aus, denn sie zählt und rechnet nicht, sie giebt und nimmt, und empfindet von beiden Glück, ohne zu wissen, ob das Eine oder das Andere mehr beselige.“292 In der Konsequenz hat die Frau keinerlei Grund, sich über eine Benachteiligung zu beklagen, tatsächlich kann sie sich nicht einmal auf ihre Liebesleistungen berufen, denn ihre Würde beruht auf ihrer Güte und Großmut, eben darauf, zu geben ohne zu fordern. Burow betont im Besonderen, dass dies für alle Frauen in gleichem Maße gilt, selbst Frauen mit „höheren Berufungen“ unterliegen ihren geschlechtlichen Pflichten: Glaubt mir, auch der geistig am höchsten stehende Mann verlangt von seiner Frau die Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, und wenn Ihr singen könnt wie Henriette Sonntag, oder malen wie Angelika Kaufmann, und als Dichterinnen der Sapho ebenbürtig wäret, so seid Ihr von denselben doch nicht entbunden, und wenn je Euer Gatte mit Grund zu Euch sagen kann: Alle Achtung vor Deinem Talent, mein liebes Kind, aber über häusliche Angelegenheiten kannst Du nicht mitsprechen, das ist Dein Feld nicht! – so geht hin und lernt, lernt, daß Euch der Kopf raucht, kochen, nähen, flicken und vor allem Interesse haben an den materiellen Angelegenheiten des Hauses; denn thut Ihr das nicht, so habt Ihr gewiß in kurzem die Achtung Eures Gatten verloren.293

Es ist wiederum die Auffassung von der grundsätzlichen Ungleichheit der Geschlechter, die der vorliegende Diskursbeitrag vermittelt. Während die Ehrbarkeit eines Mannes ausschließlich darauf beruhen kann, dass er in der Welt etwas darstellt, also Intelligenz, Kenntnisse oder Talent und somit eine Einzigartigkeit besitzt, besteht der Wert einer Frau in dem Maß ihrer Übereinstimmung mit dem Idealbild von genereller Weiblichkeit. Nicht durch ihre Individualität kann eine Frau sich hervortun, sondern durch ihre Konformität. Genau diese Tatsache begründet die Verbindlichkeit, die häusliche Pflichten innerhalb des weiblichen Daseins darstellen, somit sind keine Umstände denkbar, die eine Frau von ihren geschlechtlichen Pflichten befreien würden. Man verzeiht einem genialen Manne Nachlässigkeiten in Kleidung, Unachtsamkeit auf Geld und Zeit und manchen anderen, diesen verwandten Fehler, einer Frau verzeiht man sie nie! und verzeiht sie Ihr um so weniger, je mehr sie geistig begabt, talentvoll und genial ist; denn um so mehr verlangt man mit Recht, daß sie ihre Stellung als Frau kennen müsse. Ordnungsliebe, Sauberkeit, Schönheitssinn dürfen für eine Frau nicht einmal Pflichten, sie müssen ihr Naturnotwendigkeiten sein.294

292 Ebd., S. 101. 293 Ebd., S. 127. 294 Ebd., S. 129.

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Insgesamt verdeutlicht die Strenge, mit der Julie Burow auf weiblicher Rollenkonformität beharrt, die Bedeutung und das argumentative Potenzial des Liebes-dienstes. Liebe, die sich ihrem Wesen nach ungerecht darstellt, da „wahre“ Liebe eben darin besteht, nicht auf Gegenleistungen zu spekulieren, sondern sich selbstentsagend nach außen zu wenden, stellt der Diskurs hiermit ein Konzept bereit, das Frauen dazu motiviert, die Fesseln der Hausarbeit nicht nur zu ertragen, sondern diese auch bereitwillig auf sich zu nehmen, weil sie damit – und nur damit – ihre moralische Integrität ausdrücken können. Die Konzeption des ‚Liebesdienstes‘ ist notwendig, um ein mögliches Aufbegehren des weiblichen Geschlechts von vornherein abzuwenden. Die Zufriedenheit der Frau muss unter allen Umständen gegeben sein, anderenfalls würde sie die Ehe als „furchtbarste aller Sklavenarbeiten“295 erleben, wie auch Burow bekennt. In diesem Sinne fungiert die Liebe als Leitsatz weiblicher Sozialisation. Wie es bereits der Titel Herzensworte andeutet, konzipiert Julie Burow ein Weiblichkeitsideal, das die fühlenden Kompetenzen der Frau anspricht, genauer genommen die mitfühlenden Kompetenzen. Die Liebenswürdigkeit einer Frau hängt maßgeblich von ihrer Liebesfähigkeit ab: „Die Liebe ist des Weibes Schönheit, sie ist ihre Weisheit und Kraft, das Licht ihres Lebens.“296 Die so konstruierte Güte der Frau wirkt sich nicht nur auf ihr eigenes Seelenheil aus, sondern hat darüber hinaus den praktischen Effekt, die Vorherrschaft des Mannes zu sichern. Eine andere Bewertung der häuslichen Pflichten des weiblichen Geschlechts findet sich bei der Autorin Marie Calm. In deren 1874 erschienenen Schrift Weibliches Wirken in Wohnzimmer, Küche und Salon. Praktische Winke für Frauen und Mädchen wird im Widerspruch zu Julie Burow die Auffassung vertreten, die Pflichten der Haushaltsführung seien mit Fug und Recht Arbeit zu nennen. Wahrlich, die Thätigkeit einer Frau in den mittleren Ständen, die ihrem, vielleicht zahlreichem Haushalte, nur unterstützt durch ein, mehr oder weniger unbewandertes Dienstmädchen, allein vorsteht, ist wohl eine Arbeit zu nennen! Gar mancher Mann, der mit einer Art Geringschätzung auf diese, aus so vielen Kleinigkeiten zusammengesetzte Beschäftigung herabsieht, wenn er sie mit seinem großartigeren Wirken vergleicht, würde es doch schwer finden, den so unausgesetzten, mannigfaltigen, ja oft einander widersprechenden Anforderungen zu genügen, welche das Hauswesen an die Frau stellt.297

295 Ebd., S. 115. 296 Ebd., S. 99. 297 Marie Calm: Weibliches Wirken in Wohnzimmer, Küche und Salon. Praktische Winke für Frauen und Mädchen, Berlin: Staude 1874, S. 3f.



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Doch obschon sich Marie Calm darum bemüht, Anerkennung für den „weiblichen Beruf“ einzufordern, stellt sie die Ansicht des Diskurses, wonach die Frau ihrer Natur nach prädestiniert ist für die Erfüllung hauswirtschaftlicher Pflichten, nicht in Frage. Sicherlich fließt in Calms Argumentation einiges an Ironie mit ein, wenn sie etwa vom „großartigeren Wirken“ des Mannes spricht, worin durchaus eine Respektbezeugung gegenüber dem üblicherweise als geringfügig betrachteten weiblichen Wirken zu sehen ist, es bleibt jedoch dabei, dass die Frau an diesen von sich aus großartigeren Arbeiten keinen Anteil nehmen kann. Stattdessen muss sie sich mit ihren geschlechtlichen Pflichten arrangieren, indem sie die damit verbundene Verantwortung schätzen lernt; haushälterische Kenntnisse gelten also auch bei Marie Calm als unerlässlich für jede Frau. Wie schon Julie Burow weist auch Calm darauf hin, dass besondere intellektuelle Befähigungen eine Frau keinesfalls von ihren häuslichen Pflichten befreien: Manche, wie es heißt hochgebildete Frau, hält es unter ihrer Würde, sich mit den häuslichen Geschäften zu befassen. Sie beweist dadurch aber nur, daß ihre Bildung weder hoch noch tief, sondern nur eine halbe ist; sonst würde sie einsehen, daß eine Beschäftigung nicht unwichtig sein kann, von der mehr oder minder das Gedeihen der Familie, abhängt, – der Familie, die, als Theil des Staates, auch wiederum zu dessen Gedeihen beitragen kann.298

Was sich hier außerdem wiederholt, ist die Anschauung, nach der die gesellschaftliche Rolle der Frau ihrer geschlechtlichen voll und ganz entspricht. Sie kann im politisch-öffentlichen Leben nicht eigentlich aktiv werden, wirkt aber indirekt auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit ein, indem sie moralisch auf die Mitglieder ihrer Familie einwirkt. Zwar wehrt sich die Autorin Marie Calm gegen die Aussicht, Mädchenerziehung habe kein anderes Ziel als gute Hausfrauen heranzubilden,299 letztlich ist es allerdings genau das, was ihre Erziehungskonzeption bezweckt. Diese Widersprüchlichkeit weist darauf hin, wie brüchig die Setzungen des Geschlechtscharakterdiskurses im Laufe des 19. Jahrhunderts geworden sind: Den lauter werdenden Einwänden gegen das Diskurspostulat haben AutorInnen wie Calm nichts anderes entgegenzusetzen als ihren Leserinnen vermehrt die Gefahren einer Rollenabweichung vorzuhalten. Häusliche

298 Ebd., S. 8f. 299 Dazu führt Calm aus: „Gewiß gehören wir nicht zu Denen, welche wünschen, daß die Erziehung der Mädchen nur das Ziel habe, sie zu guten Hausfrauen zu bilden – ein Ziel, das ja Viele aus den verschiedensten Gründen nicht erreichen! Im Gegentheil möchten wir dieser Einseitigkeit entgegen arbeiten, und alle Fähigkeiten der Mädchen harmonisch ausgebildet sehen, um sie zu befähigen, dereinst in jeder Lage ihre Pflichten zu erfüllen.“ Ebd., S. 11. Es sei jedoch angemerkt, dass bereits der Gebrauch des Wortes „Pflichten“ darauf hinweist, dass hauswirtschaftliche Tätigkeiten zumindest den größten Teil des weiblichen Lebens darstellen.

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Pflichten werden als notwendiges Übel begriffen, das die Frau davor bewahrt, zum Opfer ihrer eigenen Muße zu werden. In diesem Sinne heißt es von der traditionellen weiblichen Bestimmung: Diese Fessel ist eine nothwendige, ist ein Segen für die Mädchen, denn gerade aus der zu großen Freiheit und Ungebundenheit, welche die Mehrzahl derselben genießt, gehen die meisten Fehler hervor, die man ihnen vorwirft. Diese Ungebundenheit ist die Hauptursache der immer mehr um sich greifenden Vergnügungssucht, sie erlaubt den Mädchen die vielen Stunden, welche sie bei ihrer Toilette, auf überflüssigen Visiten, mit müßigen Träumereien und unnützen Spielereien verbringen, sie trägt die Hauptschuld ihres gedanken- und ziellosen Hinlebens von einem Tag zum andern.300

Demnach wäre Hausarbeit das sicherste Mittel, auch die Moral des weiblichen Geschlechts zu bewahren, Leerlauf und Untätigkeit werden gleichsam als ungehörig verurteilt.301 Laut dieser Rhetorik hat jede Frau, die etwas auf sich hält, keine andere Wahl, als sich in die Arbeit zu stürzen. Sicherlich muss eingeräumt werden, dass die weiblichen Pflichten nach Marie Calm nicht ausschließlich aus hauswirtschaftlichen Aktivitäten bestehen. Vielmehr soll ein Mädchen auch nach einer charakterlichen Verbesserung streben und beispielsweise ihren Intellekt bilden. In Abgrenzung zum übertriebenen Interesse an Mode und Äußerlichkeiten heißt es deshalb: „Wir meinen, die jungen Damen sollten mehr daran denken, ihren Geist, als ihren Körper zu schmücken!“302 Auch dieses Ansinnen bleibt jedoch grundsätzlich der Forderung nach weiblicher Selbstverleugnung verhaftet, denn eine Veredelung des Charakters soll nicht aufgrund eines Eigennutzes erfolgen, sondern um sich anderen angenehm zu machen. Dies verdeutlicht bereits die Tatsache, dass auch Marie Calm, wie schon zahlreiche der zuvor betrachteten AutorInnen, nicht davon ausgeht, Frauen könnten oder sollten durch ihre Leistungen im öffentlichen Leben auf sich aufmerksam machen. Auch zeigt sich anhand von Calms Handbuch zur Mädchenerziehung, dass laut Diskurs der Frau nichts so sehr schadet wie die Entwicklung bestimmter Interessen in allzu intensiver Weise. Übertreibung und Neigung zum Extremen werden, was das weibliche Geschlecht

300 Ebd., S. 13f. 301 Damit schließt Calm sich der Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft an, die Müßiggang seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Laster des Adels diffamiert und sich davon zu distanzieren sucht. Die bürgerliche Familie propagiert den Gegenentwurf des „innengeleiteten, selbstverantwortlichen, disziplinierten Menschen“. Vgl. Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 144. 302 Calm: Weibliches Wirken in Wohnzimmer, Küche und Salon, S. 38.



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anbelangt, aufs Schärfste verurteilt, das gilt für die Hausarbeit303 ebenso wie für geistige und moralische Bildung der Frau. In diesem Zusammenhang erscheint Calms Bestrebung, einen Ausgleich zwischen weiblichem Denken und Fühlen zu schaffen, selbstverständlich. Zunächst geht auch diese Autorin davon aus, dass emotionale Dispositionen in der Frau stärker ausgeprägt sind als kognitive, diese wiederum schreibt Calm dem Mann in stärkerem Maße zu. Schließlich schätzt „die Frau im Manne das bedeutendere Wissen, die weitern Ansichten, das objectivere Urtheil“304, wohingegen „der Mann bei der Frau das feinere Gefühl, die größere Anmuth, den rascheren und richtigeren Blick bewundert“305. Damit pflichtet Calm Rousseaus Auffassung bei, wonach die Frau nicht nur verstärkt gefühlsmäßigen Dispositionen unterliegt, sondern ihre Vernunft, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, eine praktische ist. Der hier beschworene rasche und richtige Blick, das schnelle Erfassen, das dem weiblichen Urteilsvermögen zugrunde liegt, legt den Schluss nahe, die Frau sei speziell dazu befähigt, in gröberen Zusammenhängen zu denken, wie es etwa die Haushaltsführung erfordert, während der Mann dazu in der Lage sei, kompliziertere, feinere Strukturen – etwa wissenschaftliche Details – zu analysieren. In jedem Fall empfiehlt Calm ihren Leserinnen, der natürlichen Neigung zu gefühlsmäßigen Dispositionen bewusst ein Gegengewicht zu schaffen. In diesem Zusammenhang wird abermals vor Romanen gewarnt, da diese ausschließlich das Gefühl ansprechen würden. So heißt es von der Lektüre narrativer Texte, diese würden „in gleicher Weise den Einfluß ausüben, Phantasie und Gefühle der Leserin auszubilden auf Kosten des Verstandes.“306 Die Leserin würde so „bei ihrer Lectüre träumen, schwärmen, lachen, weinen, sie mag gar mancherlei dabei lernen, Gutes und Böses, – nur nicht denken.“307 Aus dieser Feststellung zieht die Autorin folgenden Schluss: Wir möchten deshalb alle diese Bücher: Romane, Novellen und besonders die wuchernde Unterhaltungs-Literatur der Journale, nicht etwa von dem Lese-Repertoire der Frauen verbannen, sondern ihnen nur den ihnen zukommenden zweiten oder dritten Platz darauf anweisen. Den ersten Platz aber, den Platz einer nothwendigen, regelmäßigen Beschäftigung, möchten wir derjenigen Lectüre geben, welche wirklich zur Belehrung, Bereicherung

303 In diesem Sinne trifft Calm die Feststellung: „Wir sehen, in den Handarbeiten wie in den häuslichen Beschäftigungen kann das Zuviel höchst schädlich sein.“ Ebd., S. 39. 304 Ebd., S. 98. 305 Ebd. 306 Ebd., S. 45. 307 Ebd., S. 46.

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und Veredelung ihres Geistes dient. Dazu rechnen wir in erster Reihe wissenschaftliche Bücher, dann dichterische Werke, und endlich das Studium fremder Sprachen.308

Es zeigt sich somit, dass Marie Calm durchweg für den Ausgleich eines aufkeimenden Ungleichgewichts eintritt. Sicherlich soll die weibliche Neigung zum Gefühl nicht gänzlich überwunden, immerhin aber durch vernünftige Impulse reguliert werden. In ähnlicher Weise spricht die Autorin auch von musikalischen Beschäftigungen: Da sie [die Musik], wie schon erwähnt, nur Stimmungen wiedergiebt, nur auf die Gefühle einwirkt, so sagt man und nicht mit Unrecht, daß es gerade den Frauen schädlich sei, sich so vorwiegend mit ihr zu beschäftigen. Wirft man ihnen doch stets vor, mehr Gefühl als Logik, mehr Herz als Verstand zu haben; da sollten sie sich freilich hüten, zu ausschließlich sich einer Beschäftigung hinzugeben, welche die ohnehin zu sehr ausgebildete Seite ihres Wesens berührt.309

Das argumentative Muster, das Calms Schrift in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzieht, wurde bereits bei anderen Autoren ersichtlich: Die grundsätzliche Kritik richtet sich stets gegen ein mögliches Ungleichgewicht von zwei Extremen. Die Frau soll ihren Charakter und ihre Handlungen regulieren, sie soll die Balance halten. Ein Zuviel bedeutet immer Gefahr – unabhängig davon, ob es sich um die haushälterische Pedanterie einer Ordnungsfanatikerin oder aber um gesteigerte Emotionalität im Sinne empfindsamen Schwärmens handelt. Um den ihr zugewiesenen Platz innerhalb der patriarchalischen Ordnung zufrieden stellend auszufüllen, muss die Frau einen Platz zwischen den Extremen einnehmen: Sie soll gütig aber nicht leidenschaftlich, besonnen aber nicht pedantisch sein, insgesamt also ein konturloses Wesen ohne eigene Präferenzen. Als letztes Beispiel eines mädchenpädagogischen Handbuchs aus weiblichmütterlicher Perspektive soll nun Johanna von Sydows 1881 veröffentlichtes Werk Behalte mich lieb! Mitgabe beim Eintritt in die Welt und das gesellschaftliche Leben betrachtet werden. Auch diese Schrift zur Mädchenerziehung ist als Nachdruck, ebenso wie die bereits besprochenen Texte Campes, Campans, Raumers und Sterns, in der Reihe „Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung“, herausgegeben von Ruth Bleckwenn, erschienen. Der appellhafte Charakter dieses Ratgebers verdeutlicht sich bereits anhand des Imperativs im Titel. Ähnliche Formen der Anrede setzen sich durch den Text hindurch fort,

308 Ebd., S. 49f. 309 Ebd., S. 75.



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dabei bestimmt das vertrauliche Du die Rhetorik der Verfasserin. Wie sehr sich das Genre gegen Ende des 19. Jahrhunderts etabliert hat, zeigt die Gestaltung des Werks. So findet sich eingangs eine vorgedruckte Widmung, an deren Stelle der Käufer des Buchs seinen Namen und den der Educandin eintragen kann. Offensichtlich sind Anstandslehren für Mädchen zu einem populären Geschenkartikel avanciert, insbesondere zu Anlässen des ‚Erwachsenwerdens‘ wie etwa der Konfirmation. Mit ihrem Handbuch richtet sich Johanna von Sydow gegen die allzu ernste Haltung anderer Erziehungsschriften, indem sie einen bewusst heiteren Plauderton anstimmt: „Nicht erziehlich-pedantische Vorträge, sondern zwangloses Geplauder, Erinnerungen und Betrachtungen bietet dir dieses Büchlein, welches warme Freundeshände dir hiermit darreichen.“310 Der Anlass für die so zu vermittelnden Lehren wird durch den Titel der Schrift geklärt. Der Eintritt in die Welt und in das sogenannte gesellschaftliche Leben bedeutet für das junge Mädchen zugleich, Abschied vom Elternhaus zu nehmen und so ist wohl auch die Aufforderung „Behalte mich lieb!“ zugleich als Wunsch der Tochter sowie als Mahnung der Mutter bzw. mütterlichen Erzieherin an ihre Tochter zu verstehen. Sydow thematisiert den Abschiedsschmerz direkt im Rahmen des ersten Kapitels, auch wenn der hier behandelte Schulbesuch noch nicht den eigentlichen Eintritt in die Welt darstellt. Nichtsdestotrotz liefert Sydows Ansicht gegenüber Heimweh ein erstes Beispiel für ihre Bewertung des weiblichen Charakters. Dazu heißt es: Wie sehr das junge Herz unter den Qualen des Heimwehs leiden mag – wir möchten es doch keinem ganz erspart sehen. Wo es ausbleibt, ist entweder Leichtsinn oder philiströse Verständigkeit ein Grundzug des Charakters, und fehlt die Gemüthstiefe, welche des Weibes edelster Vorzug bleibt.311

Schon diese Textstelle offenbart die Übereinstimmung, die zwischen dem Diskurs und Johanna von Sydows Ansichten im späten 19. Jahrhundert bestehen. Neben der Tatsache, dass einmal mehr vom weiblichen Gefühl die Rede ist – hier unter Verwendung des Begriffs Gemütstiefe – deutet sich anhand dieser Aussage auch die bereits bekannte Einschätzung an, laut der die Frau sich besonders durch ihre Leidensfähigkeit und Duldsamkeit auszeichnet. Der Schulaufenthalt wird von der Autorin nicht nur aufgrund der zunächst vorübergehenden Trennung vom Elternhaus als angemessene Vorbereitung auf das spätere Leben des Mäd-

310 Johanna von Sydow: Behalte mich lieb! Mitgabe beim Eintritt in die Welt und das gesellschaftliche Leben, hg. v. Ruth Bleckwenn, Paderborn: Hüttemann 1989 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 5; Nachdruck der Ausg. Leipzig u. Berlin 1881), S. IX. 311 Ebd., S. 5.

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chens betrachtet, vielmehr bietet sich dem Mädchen laut Sydow hier ein Umfeld, innerhalb dessen sich ihre noch nicht zur Gänze erworbene Weiblichkeit erproben lässt. So stellt Sydow die Bindung einer Mädchenfreundschaft als Vorstufe zur ehelichen Beziehung dar: Das tiefe Herzensbedürfnis der Jungfrau spricht sich zunächst in der fast leidenschaftlichen Zärtlichkeit aus, die ihr Gefühl für Freundschaft kennzeichnet. Diese schwärmerische Hingebung, diese Selbstlosigkeit, diese Opferbereitschaft sind die Vorboten späterer, wohl selten ausbleibender Empfindungen für das zweite Ich – sie deuten die Liebesfähigkeit des jungen Herzens an, das dadurch seiner einstigen Bestimmung entgegen reift.312

Es bliebe anzumerken, dass eine Freundschaft unter Frauen laut dieser Argumentation mit der Eheschließung einer der Beteiligten notwendigerweise enden muss, da der Ehemann die Freundin als „zweites Ich“ schließlich ablöst. Obwohl hier die Notwendigkeit betont wird, Mädchen auf die Ehe vorzubereiten, lässt Sydows Argumentation zunächst einen scheinbaren Protest gegen die Vorstellung, die Ehe sei die einzig denkbare Bestimmung der Frau, erkennen. Die Begründung eines gegenteiligen Verhältnisses besteht jedoch nicht etwa darin, dass die Verantwortung für die Ehe aufgrund einer Gleichheitshypothese auf beide Geschlechter verteilt würde, stattdessen führt Sydow statistische Gesichtspunkte an, die gegen eine Heirat sprechen könnten: Wer hegt noch den kindlichen Glauben, daß die beiden Geschlechter auf Erden gleichmäßig vertheilt seien, und erst die Vereinigung zweier Individuen – Mann und Weib – ein Ganzes ausmache? Der muß sich die einen fortwährend im Suchen nach ihrer andern Hälfte und die Anderen im stillen Warten auf das Gefundenwerden vorstellen. Aber so ists nicht mehr schon seit der Arche Nohas. Heutzutage wo das Leben mit seinen harten und großartigen Kämpfen die Männer oft scharenweise dahinrafft, außerdem viele von ihnen die Ehe verschmähen, folglich zahllose weibliche Hälften als solche ungesucht, d. h. sitzen bleiben, fehlt den letzteren doch nicht ein reiches Arbeitsfeld, das ihrer Kräfte bedarf und ihnen gleichzeitig mit dem Beruf eine Unabhängigkeit sichert, welche der einzig vernünftige, aber auch vollberechtigte Zweck aller weiblichen Emanzipationsbestrebungen bleibt.313

Da der Frau die Absicherung durch einen Ehemann also nicht unbedingt garantiert ist, soll sie ihre Bestimmung nicht allein in der Rolle der Hausfrau, Gattin und Mutter sehen. Zweifellos stellen derartige Umstände jedoch eine Widrigkeit dar, die es zu vermeiden gilt. Der eigentliche, naturgegebene Daseinszweck und damit die größtmögliche Chance auf persönliches Lebensglück liegt für die Frau

312 Ebd., S. 9. 313 Ebd., S. 161f.



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dann doch in der traditionellen Rollenkonformität, wie Sydow konstatiert.314 Entsprechend hat sich ihre Sozialisation an dieser Bestimmung zu orientieren: [D]as erste Streben in der Erziehung junger Mädchen [sollte] darauf gerichtet sein, sie zu liebenswerthen Gattinnen, treuen Müttern, tüchtigen Hausfrauen heranzubilden. Diese Bildung ist die Grundlage für jeden andern weiblichen Beruf, die dafür gewonnenen Kenntnisse und Eigenschaften kommen auch in allen anderen Lebensverhältnissen zur Geltung.315

Obwohl Sydow, wie oben gesehen, dementiert, Mann und Frau verhielten sich zueinander wie zwei füreinander geschaffene Hälften eines Ganzen, zeigt sich an dieser Stelle doch die Ansicht, laut der die Geschlechter Komplementärwesen sind. Mit dieser Einschätzung transportiert die Autorin die Grundauffassung des Diskurses weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wenig sich Johanna von Sydows Ansichten bezüglich der wahren weiblichen Bestimmung von ihren Vorgängerinnen unterscheiden, ebenso wenig wird erwartungsgemäß ihre Konzeption von der idealen Beschaffenheit des weiblichen Charakters von den Ausführungen der zuvor betrachteten Autorinnen abweichen. In diesem Zusammenhang wäre zunächst auf das Gebot der Bescheidenheit hinzuweisen, dessen sich auch Sydow bedient, um idealtypische Weiblichkeit darzustellen. Dieses Gebot bezieht sich sowohl auf die äußerliche Erscheinung als auch auf das Wesen des Mädchens, dessen grundlegende Übereinstimmung ja bereits Mary Wollstonecraft propagiert hat. Bei Johanna von Sydow heißt es dazu: Sowohl im Anzug, wie im Benehmen werden sie [die jungen Mädchen] durch Bescheidenheit einen günstigeren Eindruck machen, als wenn sie es in Allem den Bevorzugten gleich thun wollen. [...] Ein tiefes, liebevolles Gemüth, ein hoher Sinn für das Edle drücken auch unschönen Zügen den Stempel großen Werthes auf und werden stets von allen Guten anerkannt.316

Auch von der Basis der hier beschriebenen Auffassung war bereits zuvor die Rede: Einzig das liebevolle Gemüt, also die Güte einer Frau bestimmt ihre Würde. Dies führt zur zweiten Grundvoraussetzung des weiblichen Charakters: ihrer Liebenswürdigkeit aufgrund ihrer Selbstlosigkeit. In diesem Sinne proklamiert auch diese Autorin Opferbereitschaft und Selbstentsagung. In der Tat sieht Sydow in

314 Dazu heißt es lapidar: „Niemand bestreitet, daß der zunächst von der Natur angewiesene Beruf des Weibes und unter gewissen Voraussetzungen das höchste irdische Glück in der Ehe zu finden ist.“ Ebd., S. 162. 315 Ebd. 316 Ebd., S. 51.

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der Selbstliebe „die schlimmste Feindin der Liebenswürdigkeit“317 und rät stattdessen zur Nächstenliebe durch Selbstverleugnung: „Darum keine Verzärtelung, sondern Strenge gegen sich selbst, aber Nachsicht und herzliches Entgegenkommen für Andere, das ist der Kern wahrer Liebenswürdigkeit.“318 Allgemein stimmt Johanna Sydow also in den Konsens mädchenspezifischer Erziehungshandbücher ein, wonach der weibliche Charakter als bescheiden, zurückhaltend, weich, duldsam und gütig beschrieben wird. Die Übereinstimmung zwischen den Ansichten der Autorin und dem herrschenden Diskurs erstreckt sich auch auf die vermeintliche Gefühlsnähe und -tiefe des weiblichen Geschlechts. Besonders deutlich tritt diese Auffassung im Kontext des Kapitels über Lektüre hervor. Erwartungsgemäß ist es auch hier die Gattung des Romans, gegen die sich die Kritik der Verfasserin richtet und zwar aufgrund seines gefährlichen Potenzials, die beim weiblichen Geschlecht ohnehin ausgeprägte Neigung zur Emotionalität zu steigern. Die Leichtigkeit, mit der ein Mädchen sich dieser Gefahr aussetzt, beschreibt Sydow wie folgt: Es ist ganz natürlich, daß bei dem unbewußten Erwachen des eigenen Herzens und der Unbekanntschaft mit dem Leben solche Bücher die größte Anziehungskraft auf sie ausüben, welche ihnen die Region der Gefühlswelt erschließen und ihnen Bilder von Helden und Heldinnen in ihren Kämpfen mit Herz und Leben vorführen, die ihren Begriffen des Idealen entsprechen. Also Poesie und speziell Romane!319

In der Tat bezeichnet die Autorin die genannten Gattungen als „die schädlichsten Stoffe“320 gegenüber einer „kräftigen, rationellen Kost“321. Während Sydow, wie auch Karl von Raumer, die französische Literatur gänzlich verwirft, empfiehlt sie dem Mädchen grundsätzlich ihr Bedürfnis nach empfindsamer Lektüre einzugrenzen. Sie soll mit „Verstandesschärfe und gesundem Gefühl“ entscheiden, welche geistige Nahrung ihr am zuträglichsten sei. Dabei meint das Attribut „gesund“ nichts anderes als ein sittlich vertretbares Empfinden: „Ein Buch, das wir uns schämen würden, vor anderen zu nennen, kommt am besten gar nicht erst in unsere Hände.“322 Interessant ist die zunehmende Pathologisierung von Emotionalität: Laut Sydow ist Emotionalität mit Angreifbarkeit gleichzusetzen,

317 Ebd., S. 118. 318 Ebd. 319 Ebd., S. 82. 320 Ebd. 321 Ebd. 322 Ebd., S. 83.



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ein gefühlsbestimmtes Mädchen kann an den falschen Vorstellungen buchstäblich erkranken. Es zeigt sich, dass auch Johanna von Sydows erzieherisches Handbuch Behalte mich lieb! dem Geschlechtscharakterdiskurs beipflichtet, der das weibliche Geschlecht grundsätzlich von den Gefahren übersteigerter Emotionalität bedroht sieht. Mit den Verweisen auf Bescheidenheit und selbstvergessende Güte finden die Vertreter des Diskurses ein adäquates Mittel, die Frau zwar als ungleich gefühlsbetonter als den Mann zu charakterisieren, ihr zugleich aber die ausschweifenden Aspekte des Fühlens zu untersagen. Der Exzess bleibt der Frau verschlossen, sie hat sich in der goldenen Mitte zwischen Verstand und Gefühl als durch und durch gutmütiges, gebendes Wesen mit praktischer Vernunft zu positionieren.

2.4.3 Pädagogik als Roman Neben Ratgebern und Handbüchern, die konkrete Handlungsanweisungen in Erziehungsfragen bereitstellen, umfasst der pädagogische Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts auch romanhaft angelegte Werke. Ich spreche deshalb nicht ausdrücklich von Romanen, da die Werke, die im Folgenden zu untersuchen sein werden, die Intention, lehrstückhaft zu wirken, offen ansprechen.323 Sicherlich ist der Adressatenkreis von Romanliteratur schwieriger zu bestimmen als der von den zuvor besprochenen Handbüchern, nicht so jedoch im Falle Caroline Rudolphis. In deren 1807 veröffentlichten Werk Gemälde weiblicher Erziehung, das in zwei Bänden erschienen ist, spricht sie die jungen Mütter als Erzieherinnen ihrer Töchter explizit an, um ihnen ihr Buch zu widmen. Rudolphi legt ihre pädagogischen Ideale in der Form des Briefromans dar. Diese Briefe, in der Hauptsache von der als Erzieherin tätigen Selma geschrieben, bieten den LeserInnen indirekte Handlungsanweisungen. Über den Hintergrund der Figur Selmas erfährt der Leser wenig. Die Beziehung zwischen ihr und Emma D., deren Kinder die erstere bei sich erzieht, bleibt einigermaßen ungeklärt. Vermutlich verbindet die beiden ein verwandtschaftliches Verhältnis. Es lässt sich zumindest feststellen, dass es sich bei Selma um eine Frau adeliger Herkunft handelt, die ihre finanzielle wie auch familiäre Unabhängigkeit dazu nutzt, Mädchen zu erziehen. Die Tatsache,

323 Dagmar Grenz spricht von einer „strukturellen Adaption an ein Mädchenpublikum“, die moralisch-belehrende Schriften im Gegensatz zu Romanen leisteten. Vgl. Grenz: Mädchenliteratur, S. 33. Im Falle der hier zu besprechenden moralisch-belehrenden Romane findet diese Adaption ebenfalls statt.

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dass an keiner Stelle eine finanzielle Aufwandsentschädigung oder gar eine Entlohnung erwähnt wird, ist nicht zu unterschätzen: Die Erzieherin wird somit als Wohltäterin gekennzeichnet und Erziehung als solche zu einer verdienstvollen Aufgabe hochstilisiert. Erst im Laufe der Handlung wird Selma zu einer berufsmäßigen Erzieherin. So nimmt sie Ida, die Tochter der D.s, zunächst aus Gefälligkeit bei sich auf. Für Idas Bruder Woldemar vermittelt sie einen geeigneten Erzieher. Später nimmt Selma noch die Waise Mathilde und die Halbwaisen Klärchen und Hertha, Seraphine und Milly bei sich auf und unterhält somit ein kleines Mädchenpensionat. Das wesentliche Ziel der Mädchenerziehung besteht laut Rudolphis Text darin, angenehme und moralisch verantwortungsvolle Wesen heranzuziehen. In diesem Sinne wird die Entwicklung Mathildes geschildert, die zunächst als Spiegelung der vollkommenen Ida auftritt, schließlich aber lernt, ihr ungezügeltes Wesen zu beherrschen. Mathildes aufbrausende Art wird nicht nur von der Erzieherin Selma getadelt, vielmehr schildert diese in ihren Briefen auch die Interaktion der Kinder untereinander. Die folgende Szene veranschaulicht die Haltung Rudolphis zur zeitgenössischen Definition des weiblichen Geschlechtscharakters: Neulich war ein Krämer im Hause mit Kattunen. Ich ließ die Kinder sich jedes ein Kleidchen wählen. Ida wählte, wie ich es erwartet, himmelblau. Mathilde feuerfarb und geflammt. In diesem Kleide wirst du nicht sanft aussehen, liebe Mathilde, sagte Woldemar, als er zu Mittag kam, und die Kinder ihm ihren Einkauf zeigten. Ich bin ja auch nicht sanft, Woldemar, gab sie zurück.324

Daraufhin fragt der Erzieher Woldemars, Platov, nach: „Willst du es denn nicht werden? [...] Ein unsanftes Mädchen ist gar nicht liebenswürdig.“325 Somit bestätigen gleich zwei (männliche) Romanfiguren die zeitgenössische Auffassung von idealer Weiblichkeit. Was die Beschaffenheit des weiblichen Geschlechtscharakters anbelangt, so lässt Rudolphi neben Selma noch eine weitere Figur ausführlich dazu Stellung nehmen. Im 32. Brief wird eine Unterredung zwischen Selma und einem Pfarrer geschildert, innerhalb derer es zunächst darum geht, was eine weibliche Erzieherin leisten kann und was nicht. Dazu äußert sich der Pfarrer wie folgt: Sie [die Erzieherin] soll alles anerkennen, was ihr männliche Hülfe seyn kann; sie soll vornehmlich den wissenschaftlichen Unterricht, den auch ihr Geschlecht nicht ganz entbeh-

324 Caroline Rudolphi: Gemälde weiblicher Erziehung, Bd. I, Lage: Beas-Edition 1998 (= Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung, Bd. 10; Nachdruck der Ausg. Heidelberg 1807), S. 166. 325 Ebd., S. 167.



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ren kann, lieber einem Manne anvertrauen, auch wenn sie alle nöthige Kenntnisse besäße, um ihn selbst zu geben; denn alle Verstandeskultur soll vom Manne ausgehen. Eins aber soll sie sich vorbehalten, und darf es sich unter keiner Bedingung nehmen lassen: das ist der unmittelbare Einfluß auf die Entwickelung des eigentlichen Charakters, der Weiblichkeit, des Zartgefühls.326

Im Folgenden lobt der Redner das weibliche Geschlecht ob seiner „leichten liebenswürdigen Schnellkraft des Geistes“, setzt aber sofort hinzu, dass sich die Geisteskräfte der Frauen eben nur an der Oberfläche bewegen: „Vergebens streben sie nach der Tiefe, nach der Ideenverkettung, nach dem Zusammenhang und der Ordnung im Denken, die jede ernste Wissenschaft fodert. Und darum kann nur der Mann den weiblichen Geist zur Ordnung im Denken, und zum eigentlichen Wissen führen; aber darum kann auch das kindliche Herz nur am weiblichen Herzen gedeihen.“327 Zweifellos unterliegt diese Einschätzung wiederum der Auffassung, dass weibliche Gelehrsamkeit nicht nur nicht erforderlich für die Erfüllung weiblicher Pflichten ist, sondern nahezu schädlich. Insgesamt entwirft Caroline Rudolphi ein Erziehungsprogramm, das nicht nur idealtypische Wesen hervorbringen soll, sondern darüber hinaus selbst ein idealer Zustand ist. Die Situation der Zöglinge im Hause ihrer Erzieherin Selma stellt sich als märchenhafte Idylle dar. So entwickeln sich die zunächst ungehorsamen Mädchen nahezu von selbst zu vorbildlichen Frauen, ohne dass die Erzieherin konkrete Strafen gebraucht. Stattdessen lenkt Selma ihre Zöglinge durch das Vorführen guter Vorbilder dahin, dass sie sich ihrer Fehler schämen. Diese Idylle setzt sich bis ins Erwachsenenalter der Mädchen fort. Der Roman findet einen rundum glücklichen Ausgang, indem fast alle ehemaligen Zöglinge Selmas vor den Traualtar treten: Ida heiratet Platov und ihr Bruder Klärchens ältere Schwester Betty. Klärchen selbst heiratet Herthas Bruder Bruno; diese eröffnen dann, wie es heißt, eine Stiftung für verwaiste Kinder und führen so Selmas Arbeit fort. Ende gut, alles gut – möchte man hinzufügen. Eine in jeder Hinsicht außerordentliche Position nimmt Jacob Glatz’ fiktionaler Erziehungsratgeber Rosalie. Ein Bildungsbuch für Deutschlands Töchter ein. Während der 1808 veröffentlichte erste Band mit dem Titel Rosaliens Vermächtniß an ihre Tochter Amanda, oder Worte einer guten Mutter an den Geist und das Herz ihrer Tochter eine Verhaltenslehre aus mütterlicher Erzählperspektive darstellt, veröffentlicht der Autor 1821 mit Rosaliens Erinnerungen aus ihrem Leben

326 Ebd., S. 304 327 Ebd., S. 306.

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einen zweiten Band, der gattungsspezifisch sowohl Aspekte der Ratgeberliteratur als auch der Mädchenerzählung vereint.328 Da es sich bei der Erzählperspektive offensichtlich um eine fingierte handelt – immerhin nennt das Titelblatt den eigentlichen Verfasser – soll das Werk hier im Rahmen romanhafter Erziehungsschriften betrachtet werden. Während Rosaliens Erinnerungen eine exemplarische Entsprechung der zuvor gegebenen Ratschläge für ideales weibliches Verhalten darstellt, indem die Figur Rosalie erzählt, wie sie zu ihren Tugendvorstellungen gelangt ist, bietet das Vermächtnis derselben einen weitaus direkteren Fundus an Verhaltensregeln. Da sich die vertretenen Maximen der beiden Bände zumeist decken, sich teilweise sogar im Wortlaut gleichen, soll im Folgenden in der Hauptsache das Vermächtniß betrachtet werden, da es wie gesagt die Maßregeln idealtypischen weiblichen Verhaltens äußerst präzise formuliert. Erst nachdem die Figur Rosalies durch die Einleitung, in der Glatz die Perspektive eines fiktiven Herausgebers einnimmt, als außerordentlich tugendhaft charakterisiert wurde und somit ihre Qualifikation für die Position der Ratgebenden bestätigt ist, kommt diese selbst zu Wort. Insgesamt fungiert die weibliche Erzählerfigur in Glatz’ Rosaliens Vermächtniß an ihre Tochter Amanda insofern als „Sprachrohr väterlicher Interessen“329, als die Gesamtheit der hier vertretenen Ideale dazu dient, den Ansprüchen anderer Genüge zu leisten – insbesondere natürlich denen des Ehemanns. Die Vorstellung der weiblichen Bestimmung entspricht daher dem Bild des Geschlechtscharakterdiskurses, wonach Mann und Frau als Komplementärwesen über oppositionell verschiedene Eigenschaften verfügen und dementsprechend in konträren Sphäre ihren jeweiligen Wirkungskreis finden sollen. Während die Natur also dem Mann die nötigen Eigenschaften verliehen habe, um „auf dem Schauplatze des Lebens kräftig handelnd“330 aufzutreten, stattete sie die Frau mit einem gegenteiligen Naturell aus: Zarter und schwächer baute Gott das Weib. Ergänzen sollte es, was dem festen, spröden, oft harten Manne mangelt. Rauh würde das Leben sein, wenn lauter Männer auf Erden walteten. Es zu verschönern und zu mildern – dazu ist das Geschlecht der Frauen da. Der Mittel hierzu legte die gütige Vorsehung nicht wenige in die weibliche Natur. Sie ist der fruchtbare Boden, auf welchem Freundlichkeit, Anmuth, Schönheit, rein heiterer Sinn,

328 Dies konstatiert auch Susanne Barth. Vgl. Susanne Barth: Mädchenlektüren. Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. u. New York: Campus 2002, S. 62. 329 Ebd. 330 Jakob Glatz: Rosaliens Vermächtniß an ihre Tochter Amanda, oder Worte einer guten Mutter an den Geist und das Herz ihrer Tochter, in: Ders.: Rosalie. Ein Bildungsbuch für Deutschlands Töchter, Bd. 1, 6. verb. Aufl., Leipzig: Frizsche 1852, S. 19.



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Sanftheit, Liebe, Treue und frommes Gefühl – diese schönen, herrlichen Blumen im Kranze des Lebens – fröhlich aufkeimen und glücklich gedeihen.331

In ähnlicher Argumentationsweise, wie schon bei einigen der zuvor betrachteten Autoren bemerkt, bestärkt die Erzählerin Rosalie die Bedeutung der konventionellen weiblichen Bestimmung, indem sie ihr eine gesellschaftliche Funktion beimisst. So heißt es: Wahrlich, es ist ein schöner und hoher Beruf, der Beruf des weiblichen Geschlechtes! Ein Weib, das ganz ist, was es sein soll, welch ein herrliches Wesen in Gottes Schöpfung! Wenn der Mann außer dem Hause zum Besten seiner Mitbürger wacht, und durch treue Erfüllung seiner Berufspflichten Ordnung und Sicherheit in der bürgerlichen Gesellschaft erhält, waltet das thätige Weib in dem eingeschränktern, aber deshalb nicht minder wichtigen häuslichen Leben, erhält da Ordnung, erleichtert dadurch das Wirken des Mannes, ebnet ihm durch Liebe und Treue jeden rauhen Pfad des Lebens, gießt neue Freude und neue Kraft in sein Innerstes, verwandelt ihm oft eine Einöde zu einem irdischen Himmelsgarten, und wirkt auf diese Weise mittelbar, mit verborgener, aber mächtiger Kraft, auch auf die Welt außer dem Hause.332

Die Hausfrau wird also auch hier zur Hüterin der Sitten stilisiert, die, weil sie das gesellschaftliche Leben wenigstens indirekt beeinflusst, in dem beschränkten Wirkungskreis, der ihr vom Patriarchat zugestanden wird, zufrieden sein soll. Alle gegenteiligen Bemühungen werden aufs Schärfste verurteilt, so richtet sich die harsche Kritik der Erzählerin gegen Vertreter einer liberaleren Geschlechterordnung: Wohl uns, daß diese gutmeinenden Männer [die die Forderung erheben, Frauen sollten öffentliche Ämter bekleiden] keine Reformatoren der Welt sind! Kennten sie unsere Natur tiefer, sie sprächen anders. Lasset dem Weibe den schönen Wirkungskreis, den es gegenwärtig in gut eingerichteten Staaten hat, und verschonet es durch Erweiterung seiner Rechte und Geschäfte, durch die es, wahrlich! nur Alles verlieren, aber nichts gewinnen könnte!333

Anhand dieses Einspruchs gegen jegliche emanzipatorischen Bemühungen wird die Eigentümlichkeit der Sprechsituation besonders deutlich: Indem Jakob Glatz eine weibliche Sprecherinstanz seine Überzeugung über den weiblichen Daseinszweck formulieren lässt, simuliert er ein weibliches Selbstverständnis, das dem Diskurs voll und ganz entspricht.

331 Ebd. 332 Ebd., S. 22f. 333 Ebd., S. 24.

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Es überrascht wenig, dass auch die innerhalb des Vermächtnisses propagierten lobenswerten Eigenschaften des weiblichen Geschlechts solche sind, die zur Ausübung der konventionellen weiblichen Geschlechterrolle qualifizieren. Dementsprechend werden von Rosalie stets die Tugenden propagiert, die dem weiblichen Altruismus dienen. Während wiederum Eigenschaften wie Bescheidenheit, Sittsamkeit und Nächstenliebe beworben werden, herrscht hier ganz allgemein die Anschauung vor, jeglichem guten Verhalten müsse Mäßigung zugrunde liegen. „Alles Uebertriebene ist naturwidrig und schädlich“334, lässt die Ratgebende daher verlauten und hält ihre Tochter stellvertretend für alle jungen Mädchen ausdrücklich zur Mäßigung an: Ich wünsche daher von Herzen, liebe Amanda, daß du die wichtige Regel: mäßige dich in Allem! in keinem Augenblicke deines Lebens aus den Augen verlierest. Du wirst dadurch tausend Uebel von dir entfernt halten, und tausend Freuden auf Erden mehr und inniger genießen.335

Den Anlass zu dieser Anweisung bildet die bedrohliche Leidenschaftlichkeit des weiblichen Geschlechts, die seiner Selbstaufopferung im Weg stünde und die es deshalb zu verhüten gilt. Folglich wird vor leidenschaftlichen Zügen besonders eindringlich gewarnt: Nichts untergräbt die Gesundheit so sehr und so schnell, als ungestüme Leidenschaften. Wo die im Innern wüten, da nagt ein gefährlicher Wurm an dem edelsten Keime des Lebens. Geliebte Amanda! nie möge dieser Feind menschlicher Gesundheit deine Kräfte schwächen und deine Tage verkürzen. Die goldene Regel: „mäßige deine Affecte und Leidenschaften“ laß daher nie unerwogen und unbefolgt.336

Als Gegenpol zur Leidenschaft und als Ergebnis einer allseitigen Mäßigung wird die Eigenschaft Sanftmut vorgestellt. Da hiermit ein Attribut vorliegt, das die Erfüllung patriarchaler Rollenerwartungen befördert, wird es zum Inbegriff idealtypischer Weiblichkeit erhoben. Mit erneutem Hinweis auf die komplementäre Ausrichtung geschlechtsspezifischer Kompetenzen wird also auf weibliche Milde hingewiesen: Nicht mit Unrecht, meine Tochter, heißt unser Geschlecht das schwächere. Feiner und zarter sind seine Nerven, subtiler sein ganzer Körperbau. Auf anderen Wegen und durch andere Mittel soll ein weibliches Wesen zur Herrschaft gelangen, als der Mann. Durch liebli-

334 Ebd., S. 38. 335 Ebd., S. 44. 336 Ebd., S. 49.



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chen, freundlichen Sinn und weibliche Sanftmuth soll es für sich gewinnen und die Herzen der Männer regieren.337

Ebenso wie Rosalie das ratsuchende Mädchen dazu anhält, den „Geist weiblicher Sanftmuth“338 zu erwerben und zu bewahren, spricht sie sich zugunsten weiblicher Bescheidenheit aus. Wie auch später im Rahmen von Rosaliens Erinnerungen wird die Metapher des Veilchens dazu gebraucht, auf weibliche Zurückhaltung zu drängen,339 dies geschieht erneut durch einen vergleichenden Blick auf das herrschende Geschlechterverhältnis: Man verträgt es schon bei einem Manne nicht leicht, wenn er sich zu sehr hervordrängt, auf seine Kraft und Wissenschaft pocht, und es darauf anlegt, sich bemerkbar zu machen. Bei dem weiblichen Geschlechte findet man so etwas noch unleidlicher und unverzeihlicher; hier erwartet man immer edle Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit. Die Frauen sind nicht dazu bestimmt, ein solches Aufsehen zu erregen; eine stille Wirksamkeit hat ihnen die Vorsehung angewiesen; geräuschlos und bescheiden sollen sie ihren Lebenspfad fortwandeln.340

Am Schluss des Kapitels über Bescheidenheit und Sittsamkeit wird nochmals auf die Bedeutung dieser Eigenschaften hingewiesen: Es ist eine ewige Wahrheit: nur das bescheidene und sittsame Weib gefällt; nur durch weibliche Schönheit des ganzen Wesens, durch stilles Wirken, durch Anmuth und reine Sitten beherrscht es das Herz der Männer. Durch etwas anderes wird es niemals lange fesseln.341

Tatsächlich entsteht der Eindruck, als hieße ein Mangel an Bescheidenheit und Sittlichkeit, keine (r)echte Frau zu sein. Zumindest ist kein Ersatz für diese Qualitäten denkbar.

337 Ebd., S. 231. 338 Ebd., S. 233. 339 Während Rosalie in ihrem Vermächtnis ihrer Tochter den schlichten Rat erteilt: „gleiche dem Veilchen, das in stiller Bescheidenheit blüht, und Wohlgeruch um sich verbreitet.“ (Ebd. S. 234), gebraucht im zweiten Band des Bildungsbuchs, Rosaliens Erinnerungen aus ihrem Leben, deren Vater diesen Vergleich. So fragt dieser die Tochter: „Wer ziert gern seine Brust mit einer Tulpe, so schön gefärbt sie auch immer sein mag? Aber nach dem bescheidnen Veilchen, das im Verborgenen blüht und süße Wohlgerüche um sich verbreitet, sucht Jedermann gern, und bringt das holde Blümchen mit Wohlgefallen an seine Brust. So ist es auch mit dem weiblichen Wesen.“ Jakob Glatz: Rosaliens Erinnerungen aus ihrem Leben, in: Ders.: Rosalie. Ein Bildungsbuch für Deutschlands Töchter, Bd. 2, 6. verb. Aufl., Leipzig: Frizsche 1852, S.158f. 340 Glatz: Rosaliens Vermächtniß an ihre Tochter Amanda, S. 235. 341 Ebd., S. 239.

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Insgesamt soll sich der weibliche Geschlechtscharakter also durch Zurückhaltung und Mäßigung auszeichnen. In diesem Sinne sollen auch Verstand und Gefühl in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen. Sowohl Rosalies als auch Amandas charakterliche Dispositionen zeichnen sich durch ein Miteinander von jeweils gemäßigten emotionalen und kognitiven Komponenten aus. So schreibt der Herausgeber einleitend über die Erzählerin, ihr Herz hielte stets mit ihrem Verstand Schritt,342 wohingegen die Erzählerin selbst von ihrer Tochter sagt: „Dir gab der Himmel der Gaben schönste, ein fühlendes Herz, empfänglich für jede bessere Regung, und für alles, was schön, wahr und edel ist. Er schenkte dir einen Geist, der das Wahre zu durchdringen, das Gute zu durchschauen vermag.“343 Es scheint für das weibliche Geschlecht also von enormer Bedeutung zu sein, sowohl vernünftige als auch fühlende Anlagen zu besitzen. Allerdings gilt es auch in dieser Hinsicht, ein Ungleichgewicht durch die besondere Hinwendung zu einem der beiden Pole zu vermeiden. So ist weiblicher Verstand unter keinen Umständen mit weiblicher Gelehrsamkeit gleichzusetzen, gegen letzteres verwahrt sich die Erzählerin entschieden: Ob du dir Gelehrsamkeit erweben sollst? – Ich antworte: Nein! Zwar denke ich von Weibern, die gelehrte Kenntnisse besitzen, und die man in unsern Tagen oft mit Unrecht spottweise gelehrte Frauen nennt, nicht so ungünstig, als viele unserer Zeitgenossen; wohl aber bin ich eine entschiedene Gegnerin jener übergelehrten Weiber, die die Grenze der Weiblichkeit überschreiten, den Beruf, den ihnen in Ansehung ihres Geschlechts die Natur angewiesen hat, vernachlässigen, und bei den Büchern und ihren gelehrten Bestrebungen die schöne Bestimmung vergessen, durch liebliche Anmuth, weibliche Bescheidenheit und Treue, innige Liebe und Zärtlichkeit Andere zu beglücken.344

Aber auch das andere Extrem, das Fühlen, soll in keiner Weise übertrieben werden. Tatsächlich wird der Begriff Herz gar nicht erst im Sinne einer unbezwingbaren Emotionalität, vor der man warnen müsste, gebraucht. Vielmehr fungiert das Herz, dessen Veredelung anzustreben sei, als Metonymie für das Konzept des guten Gewissens. Gefühlsmäßige Regungen des weiblichen Geschlechts, auf die mit dem Begriff Herz durchaus angespielt wird, werden per se als moralisch integer definiert. Unschickliche Regungen des Herzens finden in Rosalies Argumentation keinerlei Beachtung. Bewahre in deinem Busen das zarte Gefühl für Schicklichkeit und Reinheit im Empfinden, Denken, Reden und Handeln. Auch in der verborgensten Tiefe deines Herzens laß keine

342 Vgl. ebd., S.2. 343 Ebd., S. 13. 344 Ebd., S, 72f.



Die konkrete Mädchenerziehung: Handbücher und Anstandslehren 

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Regungen, keine Wünsche, keine Gesinnungen aufkommen, die sich auch nur einigermaßen mit einem edlen Charakter nicht vertrügen.345

So belehrt Glatz’ Erzählerin ihre Leserin, ihr Herz als Inbegriff sittlich und moralisch reiner Gefühle zu begreifen. Worin die angedeuteten „unedlen Gesinnungen“ etwa bestehen könnten, bleibt dabei im Dunkeln. Wohl erfährt die Leserin, dass das weibliche Naturell im allgemeinen Gefahr läuft erschüttert zu werden, da es reizbarer und empfindlicher sei,346 über die Folgen einer solchen Erschütterung wird jedoch nichts verlautbar. Damit spart Glatz die Gefahren, vor denen er warnt, schlichtweg aus. Tatsächlich werden nachteilige weibliche Eigenschaften, das heißt jedwede Unbeherrschtheit, die es mittels Mäßigung zu vermeiden gilt, grundsätzlich verschwiegen. So verhält es sich auch im zweiten Band des Bildungsbuchs, der eine Binnenerzählung zur moralischen Belehrung der Protagonistin enthält.347 Dabei werden die Gefahren, die derselben und ihrem Verhalten bevorstehen, nicht etwa durch ein Negativbeispiel illustriert, sondern sowohl die Heldin der Binnenerzählung als auch Rosalie erfahren eine Läuterung einzig durch innere Überzeugung. In der Absicht, junge Mädchen gar nicht erst eine Ahnung vom falschen Weg zu geben, wird hier also ausschließlich positiv belegtes weibliches Verhalten dargestellt und das besteht nach Jakob Glatz in der Hauptsache darin, sich zu mäßigen, also die vom Diskurs als unangebracht und unweiblich definierten Regungen zu regulieren und als Frau grundsätzlich im Hintergrund zu wirken, geräuschlos und bescheiden, wie es heißt. 1823 erscheint das zweibändige Werk Éducation domestique von Elisabeth Charlotte Pauline Guizot, nachdem diese zuvor bereits einige Erziehungsschriften wie beispielsweise das Journal d’une mère (1812) veröffentlicht hatte. Bei dem erstgenannten Werk der Madame Guizot handelt es sich wie schon bei Caroline Rudoplphis Gemälde weiblicher Erziehung um einen Briefroman, das verdeutlicht bereits der Untertitel „Lettres de famille sur l’éducation“. Guizot selbst klassifiziert ihren Text nicht ganz eindeutig als Roman, sondern siedelt ihn zwischen Roman und programmhafter Pädagogik an: So vermerkt die Autorin im Vorwort: „Je prends donc la précaution d’annoncer que je n’ai voulu donner ici ni un roman

345 Ebd., S. 95. 346 Vgl. ebd., S. 220. 347 Es handelt sich dabei um das Kapitel „Fanny“, das die Erzählung des Großvaters über ein Mädchen, dessen Tugend vorübergehend durch den falschen Umgang bedroht war, enthält. Vgl. Glatz: Rosaliens Erinnerungen aus ihrem Leben, S. 109ff.

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

sur l’éducation, ni un système d’éducation.“348 Tatsächlich setzt sich der Text ausschließlich aus fingierten Briefen zusammen. Es schreibt vor allem Madame d’Attilly an ihren Mann und an ihre Nichte über diverse Erziehungsfragen. Später steigen weitere Mütter und auch die Töchter der d’Attillys mit in die Korrespondenz ein. Die Wahl der Briefform begründet Madame Guizot direkt im ersten Brief ihrer Protagonistin Madame d’Attilly. Diese schreibt dort, sie lehnt den Auftrag ihres Mannes ab, ein Journal über die Erziehung der gemeinsamen Kinder zu führen, da ihr diese Form zu kalt erscheint, um dem Thema gerecht zu werden.349 Vorgezogen wird also die Form des Briefes, die zudem den Vorteil bietet, dass sich ein komplexer Dialog entwickeln kann, an dem mehrere Figuren teilnehmen. Madame d’Attilly fungiert hier als Mittlerin in zweierlei Hinsicht. Zum einen gibt sie ihre Erfahrungen an ihre Nichte Madame de Lassay weiter und nimmt so die Position der erfahrenen Erzieherin ein. Ein gänzlich anderes Verhältnis besteht in dem Briefwechsel mit ihrem Mann, hier rechtfertigt Madame d’Attilly ihre erzieherischen Maßnahmen. In beide Richtungen der Korrespondenz geht jedoch Madame d’Attillys Grundidee, dass Kindererziehung das Werk von Liebe sein müsse und dass es kaum eine ehrenvollere Aufgabe für das weibliche Geschlecht gebe. Des Weiteren wird in ihren Briefen die Auffassung vertreten, dass eine solide Erziehung das Funktionieren der (rechts‑)staatlichen Ordnung gewährleistet. In diesem Sinne heißt es im 16. Brief: Le but de la justice sociale est de régler la conduite extérieure. L’éducation a surtout pour objet de régler la raison. Il suffit à la société que l’homme menacé de sa rigueur sache quelle action il doit éviter; il faut que l’enfant sache pourquoi il la doit éviter; et si la punition lui donne un motif pour un autre, sa raison est faussée, et la règle de ses actions devient défecteuse.350

Insgesamt wird der Anschein einer eher liberalen Erziehung erweckt, in der die Kinder zu freiem Denken motiviert werden. Allerdings kann auch Madame de Guizot nicht umhin, einzuräumen, dass ihr Geschlecht dabei engeren Grenzen als das männliche unterliegt. Im 42. Brief schreibt sie an Madame de Lassay über eben diese Einschränkungen: Pour parler un peu plus sérieusement, ma chère enfant, je n’ai jamais pensé que la liberté de la raison dût, pour les femmes, entraîner celles des manières; et dans les habitudes

348 Elisabeth Charlotte Pauline Guizot: Éducation domestique, ou Lettres de famille sur l’éducation, Bd. 1, Paris: Leroux 1826, S. V. 349 Vgl. ebd., S. 2. 350 Ebd., S. 181f.



Der Entwurf eines Rollenmodells 

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d’indépendance que je désire leur donner, je n’ai pas même fait entrer la liberté des actions. Nous ne sommes destinées à la posséder que dans des limites trop étroites pour que l’éducation ait besoin de nous y préparer par l’usage. Ni ne nous est pas nécessaire d’aller apprendre au loin ce qui se passe hors de la maison, car c’est à la maison que nous restrenons; c’est là que s’exercera le plus sérieusement notre activité;351

Damit wäre also auch die Aufgabe der Mädchenerziehung geklärt. Es geht vorrangig darum, Mädchen auf ein Leben in häuslicher Abgeschiedenheit vorzubereiten. Zwar sollen weibliche Kinder durchaus mit Bildungsinhalten kultiviert werden, allerdings wird die Aneignung von Wissen nicht zum Selbstzweck betrieben. Insgesamt sollen Mädchen nach Madame Guizot nur eben so viel lernen, wie es bedarf, um bürgerliche Moralvorstellungen an ihre Kinder weitergeben zu können. So erklärt sich denn auch der Begriff der Liebe, der von der Autorin immer wieder herangezogen wird, um die Besonderheiten der Mädchenerziehung zu vergegenwärtigen. Liebe, gemeint als Metapher für den häuslichen Frieden, wird zum Euphemismus für das Eingeschlossensein im Kreis der Familie. Es fungiert als Gegenkonzept zu allen Vorgängen der öffentlichen Sphäre, die der Frau verschlossen bleiben.

2.5 Der Entwurf eines Rollenmodells: Idealtypische Weiblichkeit in erzieherischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts Alles in allem zeigt die Analyse mädchenpädagogischer Handbücher des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, dass die Kategorien Verstand und Gefühl durchaus eine Rolle in Bezug auf die Vorstellungen des Geschlechtscharakterdiskurses von normativer Weiblichkeit spielen. Die Erwartung, dass Weiblichkeit hier insbesondere an das Prinzip des Gefühls gekoppelt wird, hat sich jedoch nur teilweise bestätigt. Tatsächlich wird Weiblichkeit lediglich dann mit Emotionalität assoziiert, wenn sich diese als sittlich rein und moralisch integer kennzeichnen lässt. Mit dem Gegenpol Verstand verhält es sich ebenso: So lange von einer zweckmäßigen Besonnenheit die Rede ist, nicht aber von kalter Rationalität, kann diese Disposition durchaus in den Kanon lobenswerter weiblicher Eigenschaften gezählt werden. Die den normativen Erwartungen entsprechende weibliche Wesensart wird an die integrativen Konzeptionen eines vernünftigen Gefühls auf der einen und einer fühlenden, sensiblen Vernunft auf der anderen Seite gebunden. Damit besteht das wesentliche Merkmal idealtypischer Weiblichkeit, wie sie

351 Guizot: Éducation domestique, Bd. 2, S. 165.

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von mädchenpädagogischen Ratgebern als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses formuliert wird, in Mäßigkeit. Die idealtypische Frau hat sich stets in der Mitte zwischen zwei Extremen zu positionieren, Exzess und Radikalität sollen in jeder Hinsicht vermieden werden. Idealtypische Weiblichkeit offenbart sich also grundsätzlich in einer wohltemperierten Gemütshaltung, dazu gehören vor allem Kontrolle und Beherrschung. Die Frau soll sich in Zurückhaltung, ja Unterordnung üben. Folglich erweist sich Bescheidenheit als bedeutungsvoller Maßstab weiblichen Verhaltens. Wie die vorangehende Untersuchung verdeutlicht hat, werden junge Mädchen immer wieder zur Bescheidenheit angehalten. Damit einhergehende Eigenschaften werden in unterschiedlichsten Abstufungen, von Zurückhaltung über Demut und Anspruchslosigkeit bis hin zur totalen Selbstentsagung, fortwährend vom weiblichen Zögling gefordert. Aus der Überzeugung von einer weicheren körperlichen Konstitution, die das weibliche Geschlecht gegenüber dem männlichen besitze, entwickelt der Diskurs seine Vorstellung von einer charakterlichen Entsprechung. Demnach gelten sogenannte soft skills, um einen aktuell gängigen Term zu bemühen, wie Sanftmut und Güte als Inbegriffe tugendhaften weiblichen Verhaltens, während Härte, Beharrlichkeit und Eigennützigkeit wenn nicht direkt männlich, so doch immerhin unweiblich konnotiert werden. Weibliche Gefühlsbezogenheit, die durch die Eigenschaft Güte repräsentiert wird, wird insgesamt auf die Fähigkeit des Mitfühlens reduziert. Vom Diskurs gewürdigte Entsprechungen des Gefühls umfassen somit ausdrücklich selbstlose, altruistische Kompetenzen. Die ideale Frau fühlt nicht um ihrer selbst willen, sondern für ihre Mitmenschen. Die eigenen Bedürfnisse hat sie stets denen anderer unterzuordnen. Im besten Fall hat eine Frau gar keine eigenen Bedürfnisse, ebenso wenig wie eine eigene Persönlichkeit. Ihre Individualität als Mensch ordnet sich stets ihrem Dasein als Frau unter. Das Ziel weiblicher Sozialisation besteht nicht in ihrer Individuation, sondern im Gegenteil in ihrer Adaption an gängige Rollenerwartungen. Das Diktat der weiblichen Güte dient vor allem dazu, den größeren Freiheiten der Männer eine Grundlage der Toleranz zu verschaffen, schließlich kann die gütige Frau jeden Fehltritt verzeihen. Die Freiheit des Mannes fußt somit auf der Unfreiheit der Frau. Der Vertrag zwischen den Geschlechtern ist einer zwischen ungleichen Parteien, wie bereits Carole Pateman herausgestellt hat.352

352 Als solches betrachtet Pateman die Ehe: „The marriage ‚contract‘ was just like the contract that the slave owners in the West Indies imposed on their slaves; marriage was nothing more than the law of the strongest, enforced by men in contempt of the interests of weaker women.“ Carole Pateman: The Sexual Contract. Stanford: Stanford University Press 1988, S. 158.



Der Entwurf eines Rollenmodells 

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Die Frau zeichnet sich als Wesen ohne Ich nicht durch spezielle Besonderheiten oder Befähigungen aus. Sie soll sich durch nichts hervortun, um nicht aus dem Rahmen zu fallen, insbesondere nicht auf dem Gebiet intellektueller Leistungen. In den wiederholten Warnungen der Diskursbeiträge vor wissenschaftlicher Pedanterie ist durchaus eine Ablehnung des Pols Verstand zu sehen, was ideale Weiblichkeit angeht. Verstand wird stärker abgelehnt als Gefühl, da diese Kategorie von sich aus als männlich bzw. unweiblich konnotiert ist. Dennoch kann idealtypische Weiblichkeit nicht gänzlich auf Vernunft verzichten. Tatsächlich wird sie durchaus propagiert, insofern sie selbst eine Mäßigung darstellt und sich gegen vermeintlich weibliche Laster wie Eitelkeit und Übertreibung richtet. Vor allem erweist sich die Vernunft als adäquater Gegenpol zu einer pathologisierten Emotionalität. Offenbar ist die emotionale Kompetenz der Frau nicht unproblematisch: Der Diskurs, der die Gefahren einer sich nach innen wendenden Emotionalität für die Stabilität des Rollengefüges wittert, charakterisiert eine nicht empathische, sondern selbstbezogene Gefühlsbetonung als krankhaft. Das Gefühl wird insoweit an den weiblichen Geschlechtscharakter gekoppelt, als es um dienliche Eigenschaften wie Mutterliebe und Güte geht. Grundsätzlich wird Emotionalität aufgrund ihrer wesenhaften Fatalität aber als Gefahr erkannt. Diese unweibliche Seite der Emotionalität stellt sich als eine Bahn ohne Halt und Umkehr dar: Heftiger, krankhafter Leidenschaft kann nichts mehr entgegengesetzt werden. Umso wichtiger erscheint es den AutorInnen mädchenpädagogischer Schriften spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts, ihre Adressatinnen vor „überspannten“ oder „romanhaften“ Gefühlen zu warnen und zu Selbstkontrolle anzuhalten, wie etwa Jacob Glatz. Dabei zeigt sich das Bewusstsein der Diskursvertreter von der Gefahr überbordender Gefühle in ihrer wiederholten Thematisierung weiblichen Lektüreverhaltens. Insbesondere vor empfindsamen Romanen wird gewarnt, da diese ein Übermaß an Gefühl transportierten, das für das weibliche Geschlecht, da es ohnehin zum Emotionalen neige, besonders bedrohlich sei. Letztlich zeigt bereits die Häufigkeit, mit der die betrachteten Autoren auf die Attribute Verstand und Gefühl eingehen und sich um eine Aussöhnung der Oppositionen bemühen, dass das zeitgenössische Frauenbild die Vorstellung eines möglichen Konflikts der beiden Pole enthält. Der Geschlechtscharakterdiskurs betrachtet das weibliche Geschlecht als grundsätzlich von den Gefahren übersteigerter Emotionalität bedroht. Mit den Verweisen auf Bescheidenheit und selbstvergessende Güte finden die Vertreter des Diskurses ein adäquates Mittel, die Frau zwar als ungleich gefühlsbetonter als den Mann zu charakterisieren, ihr zugleich aber die ausschweifenden Aspekte des Fühlens zu untersagen. Der Exzess bleibt der Frau verschlossen, sie hat sich in der Mitte zwischen Verstand und Gefühl als durch und durch gutmütiges, gebendes Wesen mit praktischer

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 Normative Konzepte von Weiblichkeit

Vernunft zu positionieren. Insgesamt wird weibliche Emotionalität vom Diskurs immer dann honoriert, wenn sie sich als Mittel dazu nutzen lässt, über die Widrigkeiten der weiblichen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft hinwegzutäuschen. Sobald die Orientierung an Gefühlen oder gar ihre Auslebung das reibungslose Funktionieren dieser Ordnung jedoch gefährdet, werden Gefühle als unsittlich markiert und als unweiblich abgelehnt. Mit der Rhetorik des ‚Liebesdienstes‘ konstruieren die Ratgeber einen Motor, der die Frau zur Anpassung an traditionelle Rollennormen bewegt. Da Liebe sich grundsätzlich nicht durch Gerechtigkeit auszeichnet, schließlich zählt und rechnet sie nicht. Wie Julie Burow schreibt,353 findet sich darin ein Konzept, die Unterdrückung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zu legitimieren. Der weibliche ‚Liebesdienst‘ ist die Leistung der Frau, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Dieses Abhängigkeitsverhältnis soll jedoch nicht offen als ein solches zutage treten. Tatsächlich soll die Frau die materiellen Implikationen des ‚Liedesdienstes‘ nicht erfahren, deshalb werden Diskursvertreter nicht müde zu betonen, welch eine ehrenwerte Aufgabe Hausarbeit darstellt: Selbstvergessende Liebe, die nicht auf Ausgleich kalkuliert, kennzeichnet diejenige, die sie verteilt, als edel und großmütig. Für den Fall, dass eine Frau die Weigerung, diese Dienstbarkeit zu übernehmen, in Betracht zieht, hält das Konzept Liebe ebenfalls eine argumentative Strategie bereit: Die Drohung mit Liebesentzug. So wird an das weibliche Bedürfnis nach Harmonie appelliert, wenn Unterordnung durchgesetzt werden soll. In diesem Sinne haben nicht wenige AutorInnen – wie gesehen – idealtypische Tugenden, die den weiblichen Gehorsam garantieren, als das einzige Mittel benannt, dessen sich eine Frau bedienen kann, um für andere liebenswert zu erscheinen. Um es noch einmal zusammenzufassen: Um den ihr zugewiesenen Platz innerhalb der patriarchalischen Ordnung zufrieden stellend auszufüllen, muss die Frau einen Platz zwischen den Extremen einnehmen. Sie soll gütig aber nicht leidenschaftlich, besonnen aber nicht pedantisch sein, insgesamt also ein konturloses Wesen ohne eigene Präferenzen. Idealtypische Weiblichkeit positioniert sich laut erzieherischem Diskurs des ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert zwischen den Extremen. Weder Verstand noch Gefühl stellen vertretbare Konzepte bereit, nach denen eine der Norm entsprechende Frau handeln könnte. Metaphorisch lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt ausdrücken: Wärme, als Symbol weiblicher Güte, situiert sich nicht am Rande der Skala, sondern gerade zwischen den Polen einer kalten Vernunft auf der einen Seite und eines hitzigen Gefühls auf der anderen. Ein weiblicher Konflikt zwischen Verstand und Gefühl entsteht aufgrund dieser Bedingungen bereits dann, wenn eine Hinwendung zu einem

353 Vgl. Burow: Herzensworte, S. 101.



Der Entwurf eines Rollenmodells 

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der beiden Prinzipien stattfindet. Da jede Kategorie für die jeweils andere als Prüfstein fungiert und im Sinne der Konzepte „vernünftiges Gefühl“ und „fühlende Vernunft“ stets für einen Ausgleich sorgt, konfligiert das vernachlässigte Prinzip notwendigerweise in dem Moment, in dem ein Ungleichgewicht entsteht, mit dem erstarkten. Wie leicht sich das Abweichen weiblichen Verhaltens von der Norm der Mitte als Konflikt zwischen Verstand und Gefühl darstellt, führt auf äußerst eindringliche Weise der gynozentrische Roman der Empfindsamkeit vor. Einige prominente Romanbeispiele dieser Epoche sollen nun im folgenden Kapitel untersucht werden.

3 Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als weibliches Dilemma im Roman des 18. Jahrhunderts Fraglos schenkt die Literatur des 18. Jahrhunderts dem Themenkomplex um Verstand und Gefühl besondere Beachtung. Im Zuge der Aufklärung rückt die Frage nach der menschlichen Natur ins Zentrum philosophischen Denkens: Humanität und daran gekoppelte Vorstellungen idealen menschlichen Verhaltens bestimmen dementsprechend die Diskussionen. Dass neben dem verstandesmäßigen Urteilen auch emotionale Kompetenzen an Bedeutung gewinnen, verdeutlicht die Begrifflichkeit der Literaturgeschichtsschreibung, in der für den Zeitraum zwischen dem Beginn des 18. Jahrhunderts bis hin zur Französischen Revolution die Bezeichnung Empfindsamkeit gebräuchlich geworden ist.1 Dass es sich hierbei durchaus um eine nationenübergreifende, nämlich gesamteuropäische Erscheinung handelt, veranschaulichen die begrifflichen Entsprechungen der französischen und englischen Literatur, sensibilité bzw. sensibility.2 Den Zusammenhang zwischen den Strömungen der unterschiedlichen Nationalliteraturen unterstreicht auch der Ursprung des Begriffs Empfindsamkeit: Dieser entstammt indirekt seinem englischen Pendant, da die deutsche Bezeichnung von der Übersetzung des Romans A Sentimental Journey (1768) von Laurence Sterne, der im Deutschen den Titel Empfindsame Reise trägt, herrührt. Somit kann sowohl im Hinblick auf sensibility und sensibilité als auch in Bezug auf die deutsche Empfindsamkeit auf den lateinischen Wortstamm sentire verwiesen werden, um die unterschiedlichen Implikationen der Begrifflichkeit(en) zu verdeutlichen. Das lateinische sentire, zu dessen Derivaten neben „sentimental“ auch „sensibel“

1 Dass die Anfänge der englischen sensibility bereits im 17. Jahrhundert zu verorten sind, hat George S. Rousseau herausgestellt. Vgl. George S. Rousseau: Nervous Acts. Essays on Literature, Culture and Sensibility, Houndmills: Palgrave Macmillan 2004, S. 164. 2 Sicherlich ist Peter Uwe Hohendahl darin zuzustimmen, dass sich die Begriffe Empfindsamkeit, sensibilité und sensibility sowie die damit bezeichneten Konzeptionen keinesfalls gänzlich decken. Vgl. Peter Uwe Hohendahl: „Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von La vie de Marianne, Clarissa, Fräulein von Sternheim und Werther“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 183. Allerdings rechtfertigt m. E. die Tatsache, dass sich Literatur und Philosophie verschiedener Nationen zeitgleich und unter ähnlichen Bezeichnungen mit der menschlichen Affektivität auseinandergesetzt haben, die Feststellung, dass es sich zumindest um korrespondierende Konzepte handelt, die ich aus diesem Grund im Rahmen der vorliegenden Arbeit begrifflich nicht allzu streng voneinander trennen möchte.



Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl im Roman des 18. Jahrhunderts 

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bzw. sensible zählt, bezeichnet zum einen die physische Wahrnehmung, während es andererseits auch auf die mentale Erlebnisqualität des Fühlens hinweist. Das Nebeneinander dieser Dimension betont Ann Jessie Van Sant, die Sensibilität im Begriffsgebrauch des 18. Jahrhunderts wie folgt definiert: An organic sensitivity dependent on brain and nerves and underlying a) delicate moral and aesthetic perception; b) acuteness of feeling, both emotional and physical; and c) susceptibility to delicate passional arousal. Though belonging to all, greater degrees of delicacy of sensibility – often to a point of fragility – are characteristic of women and upper classes. Excessive delicacy or acuteness of feeling produces an impaired or diseased state.3

Insbesondere die erste Komponente verweist auf das Spezifikum der sensibility in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Dabei handelt es sich um einen Perzeptions- und Erkenntnismodus, der als Komplement zum rein verstandesmäßigen Urteilen einer neuen Werteorientierung Rechnung trägt. Laut G. J. Barker-Benfield entwickelte sich die perzeptive Konzeption der sensibility im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem spezifischen Paradigma: „meaning not only consciousness in general but a particular kind of consciousness, one that could be further sensitized in order to be more acutely responsive to signals from the outside environment and from inside the body.“4 Die Strömung der Empfindsamkeit stellt keinesfalls einen Gegenpol zur Rationalität der Aufklärung dar, sondern muss als Teilaspekt aufklärerischen Gedankenguts betrachtet werden: Dabei geht es weniger um die Unvereinbarkeit von Rationalität und Emotionalität, als vielmehr um die Frage nach dem Zusammenhang und einer möglichen Integration der beiden Pole. Vernunft ist durchaus Teil der empfindsamen Haltung. Indes durchzieht die Frage nach dem Verhältnis von Verstand und Gefühl die Kunst und Literatur dieses Zeitraums wie kaum ein anderes Thema.5 Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur beschreibt die zeitgenössische Brisanz dieser Frage wie folgt:

3 Ann Jessie Van Sant: Eighteenth-Century Sensibility and the Novel. The Senses in Social Context, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 1. 4 G. J. Barker-Benfield: The Culture of Sensibility. Sex and Society in Eighteenth-Century Britain, Chicago u. London: The University of Chicago Press 1992, S. xvii. 5 Dies bestätigt beispielsweise Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur: „Der mögliche Gegensatz zwischen Kopf und Herz, Ratio, Intuition und Gefühl taucht immer wieder und gerade auch dort auf, wo er schon auf sublime Weise versöhnt sein soll: in der schönen Literatur.“ Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, 1680–1789, hg. v. Rolf Grimminger, München: Hanser 1980, S. 25.

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Mit der Rationalität ist also auch die Irrationalität, mit dem neuen Verstand und seinem objektiven Nutzen auch die neue Empfindsamkeit und ihr subjektives Bedürfnis eine sozialgeschichtlich notwendige und deshalb auch erklärbare Erscheinung des 18. Jahrhunderts.6

Auch laut Frank Baasner siedelt sich das Konzept Empfindsamkeit zwischen den Extremen Ratio und Passio an und stellt somit den „Versuch der Rationalisierung eines Teilbereichs menschlicher Affekte“7 dar. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt sich das (empfindsame) Gefühl zum zivilisierten Gegenentwurf einer triebhaften, irregulären Passion.8 Insofern geht es den Fürsprechern der Empfindsamkeit nicht darum, haltlose Leidenschaftlichkeit zu legitimieren, sondern einen Kodex moralisch wertvoller Gefühle zu etablieren.9 Vertreterin eines solchen Kodex, sprich eines moral sense, ist in der Literatur des 18. Jahrhunderts oftmals die weibliche Heldin. Aufgrund ihres größeren Feingefühls ist die Frau offenbar anfälliger für Angriffe auf ihre Integrität. Das klingt auch in Van Sants Definitionsversuch an: Ihre schwächeren Nerven setzen die Frau dem Risiko einer krankhaft übersteigerten Ausprägung von sensibility aus. Davor hatte bereits Mary Wollstonecraft gewarnt. Auch Barker-Benfield konstatiert die zeitgenössische Auffassung vom feineren und empfänglicheren Nervenkostüm der Frau, das oftmals zu einem allzu exklusiven Leben im Inneren führe: „Men cultivated sensibility, too, but unlike women their doing so was not to be at the expense of the cultivation of other qualities and their participation in larger and more various goals, including the elaboration of a public culture of their own.“10 Das Ergebnis der fragilen affektiven Konstitution der Frau begegnet uns im literarischen Motiv der virtue in distress. In den Romanen des 18. Jahrhunderts wird das weibliche Subjekt in Gestalt der personifizierten Tugend erstmals zur Heldin.

6 Ebd., S. 97. 7 Frank Baasner: Der Begriff der ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg: Winter 1988, S. 229. 8 Vgl. Sigrid Weigel: „Pathos – Passion – Gefühl. Schauplätze affekttheoretischer Verhandlungen in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte“, in: Dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München: Fink 2004, S. 160. 9 Auch Anna Marx konstatiert, dass sich die Empfindsamkeit um einen Ausgleich von kühler Vernunft und hitziger Leidenschaft bemüht, indem sie nur moralisch gerechtfertigte Gefühle kanonisiert. Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 15. 10 Barker-Benfield: The Culture of Sensibility, S. xviii.



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Einen Zusammenhang zwischen der Frau als Romanheldin und dem Sensibilitäts- und Tugendideal des 18. Jahrhunderts erkennt auch Marion Beaujean.11 Darüber, dass die Frau nur deshalb literarischen Eigenwert erlangen kann, weil die neue, in der Literatur gerühmte Gefühlskultur eine Errungenschaft des aufstrebenden Bürgertums darstellt, gibt Silvia Bovenschen Auskunft. Sie weist darauf hin, dass die Bedeutung imaginierter Weiblichkeit mit eben der Bedeutung steigt, „die die Familie in dieser Zeit als Entstehungsort bürgerlichen Selbstbewußtseins und privatisierter Harmonievorstellungen erlangt“12. In der Tat vertreten zahlreiche Forscher die These, das Konzept der Empfindsamkeit bzw. sensibility/sensibilité werde maßgeblich durch den zugleich wachsenden Standesstolz des Bürgertums begünstigt, welcher sich in dem von Lawrence Stone beschriebenen Phänomen des „affective individualism“13 äußere. Laut Stone findet bis zum 17. Jahrhundert ein sozialgeschichtlicher Wandel statt, der den Familientyp der offenen Großfamilie über das Zwischenstadium der „restricted patriarchal nuclear family“ durch das Konzept der geschlossenen Kernfamilie ersetzt. Diese sogenannte „closed domesticated nuclear family“ definiert sich nach Stone über den wachsenden Anspruch des einzelnen auf persönliches Glück und die steigende Bedeutung von Intimität und Individualität.14 Die bürgerliche Gefühlskultur findet ihren prägnantesten Ausdruck im Medium des Romans – unabhängig von der Frage, ob und welcher kausale Zusammenhang zwischen Bürgertum und Empfindsamkeit besteht.15 Der Roman kann durchaus als die vorherrschende Gattung der Empfindsamkeit bezeichnet werden. Insbesondere der Briefroman erfreut sich enormer Beliebtheit, da das Medium Brief es Romanautoren erlaubt, das Innenleben ihrer Figuren in

11 Laut Beaujeans Argumentation ist das literarisch dokumentierte Idealbild der Zeit, die schöne Seele, Ausdruck der allgemeinen Anerkennung einer weiblich apostrophierten Gefühlsbetonung. Vgl. Beaujean: „Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts“, S. 26. 12 Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 178. 13 Vgl. Lawrence Stone: The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800, London: Weidenfeld and Nicolson 1977, S. 7. 14 Vgl. ebd., S. 4ff. 15 In diesem Kontext argumentiert Peter Uwe Hohendahl gegen die Auffassung Lothar Pikuliks, der die Empfindsamkeit eindeutig als Produkt bürgerlicher Gefühlsbetonung beschreibt. Vgl. Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1984. Stattdessen sieht Hohendahl erst rückblickend einen Zusammenhang zwischen Bürgertum und Empfindsamkeit: „Teil des bürgerlichen Weltbilds wird sie [die Empfindsamkeit] erst im Rückblick, dann nämlich, wenn die liberale Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts ihre eigene intellektuelle Geschichte zurückverfolgt.“ Hohendahl: „Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewusstsein“, S. 207.

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vermeintlicher Unmittelbarkeit darzustellen.16 Tatsächlich ist der Brief prädestiniert, informelle Informationen zu transportieren, wie Ruth Perry konstatiert, und so anstelle von Handlungen Gefühle zu thematisieren: Because letters were the obvious medium for exchanging informal and personal news between intimates, they also perfectly illustrated stories of relationships. The epistolary mode gave an objective cast to such stories, as if they were data collected from actual experience demonstrating the natural extremes of feeling and depicting human problems.17

Die typische Formel des Briefromans wird von Perry wie folgt zusammengefasst: „[T]wo or more people, separated by an obstruction which can take a number of forms, are forced to maintain their relationship through letters“18. Dabei konzentriere sich das Genre thematisch vor allem auf Liebesgeschichten und erotische Intrigen, deren Spannung daraus erwächst, dass die Protagonisten einer räumlichen oder sozialen Trennung unterliegen. Derartige Hindernisse können vom Protagonisten nicht durch Aktion aufgelöst werden; ein Konflikt wirkt hier nicht handlungsinitiierend, stattdessen kann das literarische Subjekt nur durch sein Schreiben reagieren und sich somit – schreibend – als literarisches Subjekt konstituieren.19 Da der Briefroman thematisch vorrangig um Intrigen bzw. Verführungsszenarios kreist, favorisiert er weibliche Hauptcharaktere.20 Der Briefroman als Verführungsroman lässt sich auch als Prüfungsroman kennzeichnen, der seine Heldinnen vor ein spezifisches Hindernis stellt, das nur überwunden werden kann, indem die Heldinnen standhaft bleibend nicht von ihrer Ausgangssituation abweichen. Diesen Zusammenhang verdeutlicht Ruth Perry anhand der Abgrenzung gegenüber späteren gynozentrischen Entwicklungsromanen:

16 Als Wegbereiterin des Genres muss an dieser Stelle auf Aphra Behn hingewiesen werden: In den Love-Letters between a Nobleman and His Sister (1684-87) werden die Möglichkeiten der Form eindrücklich vorgeführt. Dabei spielt Behn mit der vermeintlichen Authentizität der individuellen Perspektive, indem der Fluss der Korrespondenz durch eine Reihe von Manipulationen gestört wird. 17 Ruth Perry: Women, Letters, and the Novel, New York: AMS Press 1980, S. 14. 18 Ebd., S. 93. 19 Ebd. 20 Dies bestätigt auch Christine Lehmann: „Der Verführungsroman ist eine Romangattung, welche die weibliche Heldin als Hauptfigur voraussetzt; denn die tödlichen Konsequenzen des Sündenfalls, der außerehelichen Sexualität, betreffen in der bürgerlichen patriarchalischen Gesellschaft eben nur Frauen.“ Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 10.



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In a Jane Austen novel, for instance, characters have to learn their private lessons, must change themselves, before they are rewarded with marriage. In epistolary novels, it is not the maturing of character which is presented, but rather the testing and defining of character, in an unpleasant sequence of pressing situations. Thus the final sexual contact between long separated characters can be seen not only as the novel’s reward for those who have proven themselves to be persevering, faithful, and chaste, but also as a ringing down of the curtain on those who are unshakeably fixed in these virtues.21

Der eigentliche Prüfstein dieser Romangattung besteht in der Standhaftigkeit und Tugend der Frau. Weibliche Keuschheit wird zum Symbol für eine grundlegendere Integrität: „[F]or being able to hold onto one’s convictions and not buckle under pressure“22, ein Dilemma, das in Bezug auf beide Geschlechter Anwendung findet, insbesondere im Hinblick auf die zeittypische Problematik einer sich der Aristokratie gegenüber behauptenden Bourgeoisie. Insofern kann es kaum verwundern, dass Verführung als literarisches Motiv den Briefroman als die präferierte Gattung des 18. Jahrhunderts durchzieht. Wohl gab es bereits zuvor Darstellungen der „verführten Einfalt“, allerdings bedurfte es laut Hellmuth Petriconi einer poetischen Revolution, bevor die Frau zur Heldin und ihre Entehrung das eigentliche Thema werden konnte.23 Dass bei dieser Motivwahl sicherlich nicht nur die zuvor angedeutete Intention, die Problematik des bürgerlichen Selbstverständnisses herauszustellen, eine Rolle spielte, sondern unter dem Deckmantel des Moralisierens oftmals auch einer schlichten Sensationslust Genüge getan werden konnte, versteht sich von selbst.24 Gleichwohl symbolisiert die Verführung bzw. der Verführungsversuch eine weitreichendere Prüfung. In diesem Sinne ist weniger die Konsequenz der Verführung, der Verlust der Unschuld, der eigentliche Gegenstand, sondern das, wofür die Keuschheit steht, nämlich moralische Prinzipientreue und Standhaftigkeit. Demgemäß heißt es bei Ruth Perry: Certainly seduction, a standard plot in the epistolary novel, can be seen as an attempt of one person to change another’s mind, an attempt to enter the consciousness, tamper with it, and reverse the intentions of the will. Particularly in epistolary novels, in which so much of the action happens in letters rather than in the bedroom, an actual sexual encounter is less to the point than the psychological capitulation which precedes it. Seduction then

21 Perry: Women, Letters, and the Novel, S. 95. 22 Ebd., S. 21. 23 Vgl. Petriconi: Die verführte Unschuld, S. 30f. u. S. 40. 24 Auf diese Möglichkeit des Tugenddiskurses weist u. a. Anna Marx hin. Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 17.

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becomes a matter of will power rather than of desire – a measure of who dominates whom rather than an occasion for physically forced compliance.25

Auch Christine Lehmann schreibt der Verführung als literarisches Motiv fatalere Implikationen zu. Sie begreift den Verführungsroman als patriarchalisches Bestreben, weibliche Individualität zu kontrollieren und führt so eine Reihe von Verführungs- und Ehebruchsromanen des 18. und 19. Jahrhunderts auf Samuel Richardsons Clarissa zurück. Dieser Text stiftet laut Lehmann ein Modell, dem gynozentrische Romane bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unterliegen. Die Grundformel des Modells Clarissa beschreibt die Autorin folgendermaßen: „Der Teufel klaut Gott die Frau, und die Frau wird danach mit dem Tod bestraft. Die Romane des Modells Clarissa erzählen von der Strafbarkeit und Bändigung weiblichen Eigensinns.“26 In aller Regel erzählen Verführungsromane von dem Versuch weiblicher Selbstbehauptung und eignen sich daher in besonderer Weise dazu, die möglichen Konflikte weiblicher Selbstbestimmung aufzuzeigen. Der Frage, inwiefern weibliche Selbstbestimmung in einen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl mündet, soll im Folgenden nachgegangen werden. Um dem Konzept der Empfindsamkeit bzw. sensibility/sensibilité als einem Nationalliteraturen übergreifenden Konzept gerecht zu werden, wird jeweils ein deutscher, englischer und französischer Briefroman betrachtet. Aufgrund der besonderen stofflichen und formalen Koinzidenzen bieten sich mit Samuel Richardsons Clarissa, or the History of a Young Lady (1747–1748), Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) und Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) drei außerordentlich prominente Texte zum Vergleich an. Richardsons Roman hat in ganz Europa ein enormes Echo hervorgerufen: Rousseau und Sophie von La Roche beziehen sich sowohl in der Wahl der Briefform als auch des Motivs der verfolgten Tugend auf ihren Vorgänger. Mit den spezifischen Eigenheiten und Korrespondenzen der nationalphilologischen Ausprägungen von Empfindsamkeit bilden die drei Romane einen Korpus, der es erlaubt, fiktionale weibliche Lebensentwürfe in einem europäischen Zusammenhang zu vergleichen. Dabei wird zu fragen sein, inwiefern die drei Protagonistinnen trotz der Übereinstimmungen in formalen und inhaltlichen Voraussetzungen unterschiedliche Handlungsoptionen wahrnehmen und welche Folgen diese für die weibliche Selbstbestimmung haben.

25 Perry: Letters, Women, and the Novel, S. 129. 26 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 11.



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3.1 Samuel Richardsons Clarissa, or the History of a Young Lady (1747/48) Nachdem der Drucker und Verleger Samuel Richardson mit seiner 1740 bis 1741 veröffentlichten Komödie Pamela, or Virtue Rewarded zunächst eine empfindsame Heldin geschaffen hatte, deren mustergültige Tugend laut Untertitel durch den Ausgang des Romans belohnt wird, entwirft er mit Clarissa, or the History of a Young Lady ein pessimistischeres Porträt weiblicher Tugend. Clarissa, ebenso wie der Vorgänger ein Briefroman, erscheint zwischen 1747 und 1748 zunächst in sieben Bänden. Allein diese Ausgabe rechtfertigt die zahlreichen Bemerkungen der Forschungsliteratur zum außerordentlichen Umfang des Romans, er wurde jedoch noch vergrößert, indem Richardson durch Hinzufügung zuvor ausgelassener Passagen die 1751 erschienene dritte Auflage um einen weiteren Band ergänzte. Wohl zu Recht bezeichnet Terry Eagleton das mehr als zweitausend Seiten starke Werk als einen der am wenigsten gelesenen Klassiker der englischen Romanliteratur.27 Trotz des außerordentlichen Umfangs des Romans lässt sich sein Plot relativ knapp zusammenfassen. Die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum von einem Jahr und erzählt die Geschichte einer verführten Unschuld: Die achtzehnjährige Clarissa Harlowe, ein Muster an Tugend und Folgsamkeit, kann dem Wunsch ihrer materiell orientierten Familie, einen ihr unerträglichen Mann zu heiraten, nicht entsprechen und lässt sich deshalb von dem Libertin Lovelace entführen. Dieser Bilderbuchbösewicht hält die Protagonistin, die sich weigert, ihn zu heiraten, in einem Londoner Bordell gefangen, in der Absicht ihren Willen zu brechen und sie zu verführen. Der Roman erreicht seinen Höhepunkt, indem Lovelace Clarissa betäubt und vergewaltigt. Nach der Entehrung gelingt Clarissa die Flucht und sie stirbt kurze Zeit später als Märtyrerin im Haus einer Londoner Arbeiterfamilie; Lovelace hingegen wird im Duell mit Clarissas Cousin Colonel Morden getötet. Zu spät erkennen die Harlowes, dass sie mitschuldig am Tod der Tochter bzw. Schwester sind. Die ungewöhnliche Länge des Werks ist mitunter der multiperspektivischen Struktur des Briefromans geschuldet. So wird der Großteil der Korrespondenz von zwei Paaren bestritten, Clarissa Harlowe und ihrer Freundin Anna Howe auf der einen und Robert Lovelace und seinem Vertrauten John Belford auf der anderen Seite. Dabei kommt es immer wieder zu inhaltlichen Wiederholungen, welche die unterschiedlichen Sichtweisen der Figuren verdeutlichen. Zudem wiederholen sich auch die einzelnen Charaktere selbst, vor allem

27 Vgl. Terry Eagleton: The Rape of Clarissa. Writing, Sexuality and Class Struggle in Samuel Richardson, Oxford: Blackwell 1982, S. viii.

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Clarissa, die ihr Schreiben als Handlungsersatz nutzt, formuliert in ihren Briefen an diverse Empfänger immer wieder dieselben Anliegen. Um es bereits vorab festzuhalten: Clarissa erzählt keine Entwicklungsgeschichte, stattdessen stellt Richardson den Versuch weiblicher Selbstbestimmung einzig als Verweigerung dar.28 Indem sich seine Protagonistin den Ansprüchen ihrer Außenwelt an sie sperrt, bieten sich ihr freilich geringe Erfolgsaussichten.29 Allerdings tritt eben so das kritische Moment des Bilds vom weiblichen Geschlechtscharakter zutage: Zwar verfügt die Frau über feinere Nerven, doch ist es ihr im Gegensatz zum Mann nicht möglich, über diese mit dem Willen zu gebieten.30 Auf Angriffe gegenüber ihrem Feingefühl reagiert eine weibliche Protagonistin daher mit größerer Vulnerabilität. Wie fragil muss eine Romanheldin erst sein, wenn sie Angriffen auf ihre innere Überzeugung nichts als die blanke Verweigerung entgegenzusetzen hat? Welche Brisanz besitzt folglich der zeittypische „code of delicacy“31 für das weibliche Geschlecht?

3.1.1 Die patriarchalische Familie Samuel Richardsons zweiter Briefroman verhandelt in ausführlicher Weise den Status der Tochter in der patriarchalischen Familie. Als Leser erfahren wir, dass Clarissa Harlowe bis dato stets als liebenswürdige, weil gehorsame Tochter gehandelt hat und als solche von ihrer Familie geschätzt und geliebt wird, was sich jedoch mit dem Einsetzen der Handlung ändert. Eingeführt wird die Protagonistin durch den ersten Brief ihrer Freundin Anna Howe, die darin bereits ausspricht, was den gesamten Roman bzw. die Briefe fast aller Charaktere durch-

28 Michael Suarez trifft in diesem Zusammenhang die Feststellung, der gesamte Plot ließe sich einzig in dem Wort „No“ zusammenfassen. Vgl. Michael F. Suarez: „Asserting the Negative: ‚Child‘ Clarissa and the Problem of the ‚Determined Girl‘“, in: New Essays on Samuel Richardson, hg. von Albert J. Rivero, Houndmills: Macmillan 1996, S. 69. 29 Dagegen zeichnen Werke wie Eliza Haywoods History of Miss Betsy Thoughtless (1751) oder Charlotte Lennox’ Female Quixote (1752) optimistischere Entwürfe weiblicher Selbstbestimmung und Erprobung. Insbesondere Betsy Thoughtless lässt sich in der Tradition des conduct books stehend als Vorgriff auf Austens Marianne Dashwood lesen. Allerdings mit dem Unterschied, dass hier noch das Idealbild der (letztlich) fügsamen Frau dominiert, die sogar den despotischen Ehemann duldsam erträgt, ganz wie auch Karoline von Wobesers Elisa (vgl. dazu im Folgenden S. 147). Clarissas Verweigerung verspricht hingegen eine interessantere Form der Selbstbestimmung, die insbesondere das Aufkommen und die Verhandlung individueller Wertsysteme in der literarischen Kommunikation darstellt. 30 Vgl. Barker-Benfield: The Culture of Sensibility, S. xviif. 31 Ebd., S. 299.



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ziehen soll, nämlich die beispiellose Tugend Clarissas. Demgemäß betont Anna die Modellhaftigkeit des Verhaltens ihrer Freundin: „Every eye, in short, is upon you with the expectation of an example.“32 Damit wird eine Zuschreibung getroffen, die nicht nur für die charakterliche Konstitution der Heldin gilt, sondern später auch auf ihr Schicksal Anwendung findet.33 Des Weiteren fordert Miss Howe Clarissa auf, ihr eine Kopie des großväterlichen Testaments zu übermitteln. Dieser Bitte kommt Clarissa in einem der folgenden Briefe nach und eröffnet dem Leser somit einerseits ihre Vermögensverhältnisse – das Erbe ihres Großvaters macht sie finanziell unabhängig – und verdeutlicht andererseits nochmals die Wertschätzung, die ihr allgemein entgegengebracht wird. In diesem Sinne fasst der Großvater zusammen: „[B]ecause my dearest and beloved grand-daughter Clarissa Harlowe has been from infancy a matchless young creature in her duty to me, and admired by all who knew her as a very extraordinary child; I must therefore take the pleasure of considering her as my own peculiar child“34. Da Clarissa in der Tat weder das einzige noch das älteste Kind ihrer Familie ist, erregt das besagte Testament zwangsläufig den Neid der Geschwister und wird zum Ausgangspunkt der gesamten Romanhandlung. Obwohl der Großvater die Bevorzugung der jüngsten Enkelin auch in materieller Hinsicht begründet – laut Testament sind die Geschwister bereits versorgt – trifft er für die damaligen Verhältnisse eine höchst ungewöhnliche Entscheidung, indem er Clarissa in den Stand setzt, unabhängig, d. h. möglicherweise ledig zu leben. Der Neid der Schwester Arabella vermehrt sich, indem Lovelace den Schauplatz betritt. Dieser bemüht sich um die Gunst Clarissas, nachdem er zunächst scheinbar um die ältere Schwester Arabella geworben hatte. Die verletzte Eitelkeit Arabellas findet einen Verbündeten im älteren Bruder James, der seit längerem eine tiefe Abneigung gegen Lovelace hegt. In der Folge setzt die Familie Harlowe alles daran, eine Verbindung Clarissas mit dem Libertin zu verhindern. Statt seiner präsentieren sie Clarissa mit Roger Solmes einen weiteren Verehrer.35

32 Richardson, Samuel: Clarissa, or the History of a Young Lady, hg. v. Angus Ross. London u. a.: Penguin 1985 (= Nachdruck der Ausg. 1747/48), Letter 1, S. 40 (in Kukunft kurz: L1, S. 40). 33 Neben Anna Howe unterstreichen auch Lovelace und dessen Briefpartner Belford des Öfteren die Modellhaftigkeit des Falls Clarissas. So unternimmt Lovelace seine Verführungsversuche mit der Begründung, Clarissa stellvertretend für das gesamte weibliche Geschlecht testen zu wollen (vgl. ebd., L110, S. 427), während Belford, der der sterbenden Protagonistin Beistand leistet, von Clarissa immer wieder als „the most excellent woman in the world“ spricht (z. B. ebd., L388, S. 1174). 34 Ebd., L4, S. 53. 35 Wie Perry konstatiert, beruht die Auffassung der Harlowes von der Austauschbarkeit potenzieller Partner auf der Vorstellung, die Sexualität einer Frau sei ein reiner Tauschwert: „It was

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Was zunächst als Mittel erscheint, Clarissa von Lovelace zu entfernen, stellt sich schnell als Fait accompli heraus, denn obwohl Clarissa mehrfach beteuert, kein Interesse an Lovelace zu haben, insistiert ihre Familie darauf, dass die jüngste Tochter Solmes heiraten soll. Vor allem Clarissas Bruder, der immer mehr zum Stellvertreter des Familienoberhaupts avanciert, zeigt sich gegen Clarissas Einwände unerbittlich, so beharrt er auf seinem Ansinnen auch noch nachdem Clarissa versichert hat, keinesfalls Lovelace zu heiraten. Im dreizehnten Brief stellt Clarissa ihrer Freundin Anna schließlich die eigentlichen Beweggründe des Bruders dar: Dieser sei unlängst davon ausgegangen, nicht nur die Besitztümer des Vaters und Großvaters zu erben, sondern auch weiteres Land als Alleinerbe der beiden ledigen Onkel anzusammeln, um somit Ansprüche auf einen Adelstitel geltend machen zu können. Clarissa, durch die Vergünstigung des großväterlichen Erbes beim Bruder ohnehin in Ungnade gefallen, soll nun Solmes heiraten, der den Harlowes im Austausch seinen Besitz überantwortet.36 Dass die Familie durchaus begreift, wie unerträglich Solmes Clarissa ist, verdeutlichen die Mittel, die herangezogen werden, um Clarissa zur Einwilligung zu bewegen: Ihr wird nicht nur der Briefwechsel mit Anna Howe untersagt, sie wird sogar zur Gefangenen im väterlichen Haus. Auf den ersten Blick scheint es so, als opponiere die gesamte Familie Harlowe gegen das jüngste Kind und dies ist in der Tat der Fall, wenn man bedenkt, dass innerhalb der patriarchalischen Familienstruktur allein der Wille des Vaters zählt. Sofern Clarissa sich also dem väterlichen Willen entgegenstellt, rebelliert sie gegen die ganze Familie. Richardson entwirft mit der Familie Harlowe ein äußerst konsequentes Beispiel des Patriarchats; der Vater, der der Familie unangefochten vorsteht, handelt hier allmächtig. Er allein ist im Stande zu entscheiden, ob Clarissa ihr Erbe beanspruchen darf oder nicht und er ist es auch, der sich das Recht vorbehält, einen Ehepartner für die Tochter zu bestimmen. Die hierarchische Ordnung wird von allen Familienmitgliedern, insbesondere der Mutter, mitgetragen. Dementsprechend sagt Clarissa über Mrs. Harlowe: „My Mamma has never thought fit to oppose my father’s will, when once he has declared himself determined.“37 Im Vergleich der Männer der Familie mit den Frauen fällt generell auf, dass das männliche Geschlecht das handelnde ist, dasjenige, welches die Entscheidungen fällt. Die Frauen – Clarissa, Mrs. Harlowe und die

not a capacity to be exercised but a possession to be sold and purchased – once.“ Ruth Perry: Novel Relations. The Transformation of Kinship in English Literature and Culture 1748–1818, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 253. 36 Vgl. Richardson: Clarissa, L13, S. 76ff. 37 Ebd., L13, S. 82.



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Tante, Mrs. Hervey – mögen die Entscheidungen der Männer zwar kommentieren und durchaus ihre Missbilligung kundtun, beeinflussen oder gar ändern können sie diese jedoch nicht. So ist also Reden bzw. Überreden das einzige, was den Frauen der Familie zu tun übrig bleibt.38 Bestrebt, den Familienfrieden zu wahren, unternimmt Mrs. Harlowe einige Versuche, ihre Tochter zur Einwilligung in die Ehe mit Solmes zu bewegen. Dabei macht sie sich durchaus die Rhetorik der patriarchalischen Ordnung zu eigen und weist Clarissa darauf hin, dass kein Weg am väterlichen Willen vorbeiführt: „[C]omply; for comply you must, or be looked upon as in a state of defiance with your whole family.“39 Letztlich erweist sich die Mutter jedoch, wie auch Clarissas Tante, als mitfühlend und lässt sich durch das Schicksal der Tochter rühren. Ihre Versuche, die männliche Allianz umzustimmen – etwa mit dem Argument, Clarissa würde auf ihr Erbe verzichten und versprechen, für immer ledig zu bleiben – bleiben nicht nur erfolglos, sie führen darüber hinaus dazu, dass Clarissa der Kontakt zu Mutter und Tante untersagt wird. Insgesamt lassen sich die Frauen der Familie Harlowe im wortwörtlichen Sinne als emotional kennzeichnen: Zu Empathie und Milde fähig, zeigen sie sich „bewegt“, wohingegen sich die Männer als unflexibel und engstirnig erweisen. Die Machverhältnisse sind dabei ungleich verteilt, denn ohnmächtige Frauen stehen nahezu allmächtigen Männern gegenüber.40 Dementsprechend handelt es sich bei dem familiären Konflikt weniger um einen Generationskonflikt, als vielmehr um einen Machtkonflikt: Diejenigen Familienmitglieder, die keine Macht besitzen, kollidieren mit denen, die über das Monopol der Macht verfügen.41 In der Interpretation der von Samuel Richardson entworfenen Familienhierarchie ist Christine Lehmann zuzustimmen, die die Stellung des Vaters mit einer göttlichen Position vergleicht.42 Der Vater gleicht in Richardsons Roman einem omnipotenten Gott, dessen Wille absolut ist, dem nicht widersprochen werden darf und der jeglichen Ungehorsam abstraft. Hinzu kommt, dass der Vater als Figur weitgehend unsichtbar ist. Der Sohn James führt als Stellvertreter den väterlichen Willen aus, der Patriarch selbst ist für Clarissa nicht erreichbar. In 537

38 Angesichts der Kommunikationsform des Briefes ist es freilich weniger die mündliche Sprache, derer sich die Frauen bedienen, als vielmehr die schriftliche. Auf die Bedeutung des Schreibens im weiblichen Lebenszusammenhang wird später noch zurückzukommen sein. 39 Ebd., L16, S. 91. 40 Eine Ausnahme bildet Clarissas Schwester Arabella, deren Neid auf die jüngere Schwester sie dazu bewegt, bewusst hartherzig gegenüber Clarissa zu sein. 41 Vgl. Rita Goldberg: Sex and Enlightenment. Women in Richardson and Diderot, Cambridge: Cambridge University Press 1984, S. 71. 42 Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 21.

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Briefen meldet sich James Harlowe Senior lediglich zweimal selbst zu Wort und auch in den Schilderungen Clarissas tritt er nur selten in Erscheinung. Die Exekutive überträgt er wie gesagt dem Sohn – auch dies eine Analogie zum christlichen Herrschaftsgefüge – eine Strategie, mit Hilfe derer es Richardson vermeidet, die göttliche Autorität in Frage zu stellen. Schlussendlich ist es der Sohn, der sich schuldig macht, die väterliche/göttliche Autorität bleibt dagegen, wie Lehmann bemerkt, unangetastet.43 Das Verhalten des Sohnes, Clarissas Bruder James, verdeutlicht auf eindringliche Weise die Restriktionen, denen die Tochter in der patriarchalen Familie unterliegt. Als Stellvertreter des Vaters übernimmt James eine Art Vormundschaft für seine jüngere Schwester, die auf absolute Verfügungsgewalt zielt. James handelt jedoch nicht nur als Repräsentant des väterlichen Willens, sondern verfolgt durchaus auch eigene Interessen, schließlich würde er von einer Heirat der Schwester mit Solmes in finanzieller Hinsicht profitieren. So erklärt sich die Vehemenz, mit der James Clarissa zu dieser Verbindung forciert. Als er seiner Schwester beispielsweise den Kontakt zur Außenwelt untersagt und ihr Zimmer nach Schreibutensilien absuchen lässt, erweist er sich als direkter Initiator des familiären Drucks auf die Protagonistin. Die Anmaßungen des Bruders gehen so weit, dass Clarissa sich schließlich genötigt sieht, ihn brieflich daran zu erinnern, dass sie seine Schwester ist und nicht seine Dienerin.44 James selbst zieht die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens an keiner Stelle in Zweifel und reagiert auf die entsprechenden Versuche Clarissas nahezu amüsiert. Bereits in einem der ersten Briefe Clarissas an Anna Howe erfährt der Leser von James’ misogynen Ansichten, so sei dieser der Auffassung, „that daughters were but encumbrances and drawbacks upon a family“45. Im Folgenden gibt Clarissa einen Vergleich des Bruders wieder, der obgleich von Clarissa als unpräzise entlarvt, nochmals dessen frauenfeindliche Gesinnung veranschaulicht: And this low and familiar expression was often in his mouth and uttered always with the self-complaisance which an imagined happy thought can be supposed to give the speaker: to wit, ‚That a man who has sons brings up chickens for his own table [...] whereas daughters are chickens brought up for the tables of other men.‘46

43 Vgl. ebd. Auch Ruth Perry trifft diese Beobachtung. Vgl. Perry: Novel Relations, S. 67. 44 An dieser Stelle heißt es: „And permit me, in the first place to remind you that I am your sister, and not your servant; and that therefore, the bitter revilings and passionate language brought me from you, upon an occasion in which you have no reason to prescribe to me, are neither worthy of my character to bear, or of yours to offer.“ Richardson: Clarissa, L29.1, S. 137. 45 Ebd., L13, S. 77. 46 Ebd.



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Dass Clarissa ihrem Bruder an Witz und Geist, kurz wit, eindeutig überlegen ist, bemerkt auch James, andernfalls würde er wohl kaum so aggressiv auf die Briefe der redegewandten Schwester reagieren. Den zuvor angesprochenen Appell Clarissas an ihren Bruder, sie wie eine Schwester zu behandeln, kommentiert James mit einer verallgemeinernden Bemerkung über geistreiche Frauen: „I know not what wit in a woman is good for, but to make her over-value herself, and despise everybody else.“47 Nachdem James den Äußerungen Clarissas zunächst jeglichen Wert abgesprochen hat, indem er von ihren Briefen als „impertinent scribble“48spricht, schwenkt er in seiner Argumentation um und erklärt ihre Denk- und Redegabe, deren Besitz er ihr nun immerhin zugesteht, für unweiblich, da es zu unweiblichem Verhalten führe. In den folgenden Briefen zwischen den Geschwistern zeigt sich mehr und mehr, wie aussichtslos Clarissas Versuche sind, ihren Bruder durch rationale Argumente von ihrem Standpunkt zu überzeugen. James verlegt sich auf einen äußerst herablassenden Habitus, denn er deutet auf die Sprachbegabung der Schwester nur noch mokierend hin: Clarissa heißt in seinen Briefen „Miss Pert“49 oder auch „pretty, witty miss“50, beides Zuschreibungen, die die Abhängigkeit der Protagonistin, die wie ein Kind angesprochen wird, thematisieren. Tatsächlich wird die achtzehnjährige Protagonistin von der Mehrheit ihrer Familie wie ein Kind behandelt, was sich zunächst in den verschiedenen Anredeformen ausdrückt. Dass Mrs. Harlowe ihre Tochter mit „child“ und „dear girl“51 anspricht und Clarissa ihrerseits die Briefe an ihre Mutter mit „your very unhappy child“52 unterzeichnet, ist an sich noch nichts Ungewöhnliches, schließlich handelt es sich bei dieser Kommunikationssituation um die Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Allerdings wird die Protagonistin nicht nur von ihren Eltern als Kind angesprochen, sondern auch von ihren Onkeln, der Schwester Arabella, vor allem aber vom Bruder. Während Arabella die Schwester wenigstens einmal „fond, foolish girl“53 nennt, variieren die Ausdrücke des Bruders von „girl“54

47 Ebd., L29.2, S. 138. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., L33.3, S. 161. 51 Ebd., L41.1, S.188. 52 Ebd., L54, S. 230. 53 Ebd., L29.4, S. 139. Sicherlich scheint die Benennung girl für die Protagonistin, die man heute wohl als heranwachsend bezeichnen würde, durchaus angemessen, die Attribuierung foolish verdeutlicht jedoch die Distanz Arabellas zur jüngeren Schwester. 54 Ebd., L22.2, S. 119.

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über „Miss Clary“55 und „pretty miss“56 bis hin zu dem schlichten „child“57. Auch Clarissa selbst trägt zu dem kindlichen Status bei, der ihr innerhalb der Familie beigemessen wird, so spricht sie von ihren Eltern stets als my mamma und my papa und dies nicht nur in der familieninternen Korrespondenz, sondern auch in ihren Briefen an Anna Howe.58 Entsprechende Bezeichnungen finden sich in den Antworten der Geschwister und Onkel, womit sie auch auf indirektem Wege die Klassifikation der Heldin als Kind stützen. Eine Folge dieser Festlegung ist die Vorstellung der Familie, von Clarissa absoluten Gehorsam erwarten zu können, demgemäß prägen Worte wie compliance, obedience und duty das Vokabular der Harlowes. Nicht nur Mrs. Harlowe fordert ihre Tochter mit der simplen Feststellung „comply; for comply you must“ zur Unterordnung unter den väterlichen Willen auf, auch der Onkel John Harlowe weist Clarissa äußerst knapp darauf hin, was sie den Eltern als Tochter schuldet: „Your parents will be obeyed. It is fit they should.“59 Derlei strikte Anordnungen, Machtworte die keinen Widerspruch dulden, definieren die Kommunikationssituation als eine zwischen ungleichen Partnern, eben die zwischen Erwachsenem und Kind. Clarissas Konflikt, dem elterlichen Willen nicht Genüge leisten zu können, beruht grundsätzlich auf ihrem Anspruch, als junge Frau unabhängige Entscheidungen treffen zu wollen. Clarissa will ihr Lebensglück nicht für das finanzielle Wohl der Familie opfern, sie weiß es besser als ihre Eltern, sie weiß aber auch, dass sie es nicht besser wissen sollte. An dieser Stelle berührt Richardson einen kritischen Punkt des Erziehungsdiskurses, nämlich die Gültigkeit kindlichen Gehorsams.60 Obgleich längst nicht mehr in der von den Harlowes vertretenen absolutistischen Weise, stellt filial obedience im 18. Jahrhundert durchaus noch eine wesentliche Maxime dar.61 Als Tochter

55 Ebd., L24.1, S. 120. 56 Ebd., L52.1, S. 223. 57 Ebd., z. B. L33.3, S. 160 oder auch L52.1, S. 223. 58 Ebd., z. B. L3, S. 44. Allerdings sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch Anna Howe ihre Mutter gegenüber der Freundin als „my mamma“ bezeichnet. z. B. L1, S. 40. Mrs. Howe bringt die Problematik des Zwischenstadiums, in dem sich beide – Clarissa und Anna – befinden, schließlich mit der Etikettierung „women-grown girls“ auf den Punkt. L357, S. 1112. 59 Ebd., L62.1, S. 260. 60 Dass die Tragweite von filial obedience in der Moralistik des 18. Jahrhunderts nicht eindeutig bestimmt wird, konstatiert auch Anja Müller. Vgl. Müller: Framing Childhood, S. 130. 61 Diese Ansicht formuliert auch Caroline Gonda: „paternal misbehaviour cannot cancel the duty of filial obedience.“ Caroline Gonda: Reading Daughters’ Fictions 1709–1834. Novels and Society from Manley to Edgeworth, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 105.



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steht es Clarissa nicht zu, die Entscheidungen des Patriarchen zu kritisieren.62 Die Assoziation der Protagonistin mit dem Stadium Kindheit kommt nicht von ungefähr, verdeutlicht sie doch das Verhältnis, das zwischen der jungen Frau und der patriarchalen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts besteht. Will Clarissa den Tugendvorstellungen ihrer Zeitgenossen entsprechen, so muss sie unbedingt gehorchen und sich in die für sie vorgesehene Abhängigkeit fügen. Was allerdings im wirklichen Kindesalter noch unproblematisch umgesetzt werden kann, stellt für die heranwachsende Clarissa einen unlösbaren Konflikt dar. Dieser Konflikt lässt sich laut Michael F. Suarez auch als Kampf um das Erwachsenwerden kennzeichnen.63 Es ist das Vorrecht des Erwachsenen, freie Entscheidungen zu treffen, das Clarissa hier in Anspruch zu nehmen versucht. Indem sie als Kind behandelt wird, wird ihr ein eigener Wille jedoch verwehrt. Ihr Eigenwille lässt die Pflichterfüllung für die Protagonistin zur Unmöglichkeit werden. Clarissa behält ihr persönliches Glück im Auge und dies ist ihr Fehler – wenigstens aus der Perspektive des Gechlechtscharakterdiktats. Damit erweist sich auch die Selbstwahrnehmung Clarissas als problematisch: Während sie einerseits durch den unschicklichen Wunsch nach Autonomie angetrieben wird, will sie andererseits den Status als pflichttreue, untadelige Tochter aufrechterhalten. Clarissas Autonomiebestreben konfligiert mit ihrem Selbstbild als dem zeitgenössischen Diskurs entsprechend tugendhafte Frau. Die Tragweite der gesamten Problemstellung dieses Romans basiert einzig auf der Tatsache, dass Richardsons Heldin weiblichen Geschlechts ist. Die Situation der Frau in der patriarchalen Gesellschaft wird vom Autor also als wesentliches Problem eingestuft und als solches bearbeitet.

3.1.2 Aufstrebendes Bürgertum und korrupter Adel: Macht und Moral Wie Peter Uwe Hohendahl feststellt, ist die Auffassung einer Verbürgerlichung von Kunst und Literatur im 18. Jahrhundert längst zu einem Gemeinplatz geworden.64 Die Thematik eines sich vom Adel abgrenzenden Bürgertums findet zwei-

62 Wie das mustergültige Verhalten einer jungen Frau in dieser Situation auszusehen hat, führt Karoline von Wobeser mit ihrem Roman Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (1795) vor. Die Protagonistin Elisa opfert sich dem Willen ihrer Familie und heiratet trotz ihrer Liebe zu einem anderen den wesentlich älteren Wallenheim. Alle Widrigkeiten des Lebens, auch die Untreue und Verschwendung des Ehemannes, erduldet Elisa ohne auch nur im Geringsten mit ihrem Schicksal zu hadern. Durch ihre Tugend gelingt es Elisa schließlich, Wallenheim für sich einzunehmen, sie stirbt daraufhin von allen geachtet und verehrt. 63 Vgl. Suarez: „Asserting the Negative”, S. 80. 64 Vgl. Hohendahl: „Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewusstsein“, S. 176.

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fellos auch in Richardsons Roman Beachtung. Die Familie Harlowe repräsentiert eindeutig ein bürgerliches Milieu, während der Verführer Lovelace aristokratische Wurzeln vorweisen kann. In zahlreichen Interpretationen des Richardsonschen Romans findet zunächst eine Gegenüberstellung der bürgerlichen Moralvorstellung Clarissas mit Lovelaces aristokratischem Hintergrund statt.65 Im Gegensatz jedoch zu derart schematischen Kontrastierungen gestaltet sich der Zusammenhang von Aristokratie und Bourgeoisie in Richardsons Clarissa deutlich komplexer, hier erweisen sich nicht alle bürgerlichen Charaktere als moralisch einwandfrei, ebenso wenig wie alle Aristokraten unsittlich handeln. So steht nicht etwa der Adel des Herzens dem Adel der Geburt gegenüber, vielmehr opponieren diejenigen, die nach Macht streben, unabhängig von der jeweiligen Klassenzugehörigkeit gegen diejenigen, die jegliches Machtbestreben ihrer moralischen Integrität unterordnen. Auf der Seite der machtorientierten Charaktere wäre zunächst Clarissas Bruder James Harlowe zu nennen. Wie wir von der Protagonistin erfahren, strebt James seit frühester Jugend nach Reichtum und Ansehen: [M]y brother, as the only son, thought the two girls [Arabella and Clarissa] might be very well provided for by ten or fifteen thousand pounds apiece, and that all the real estates in the family, to wit, my grandfather’s, father’s, and two uncle’s, and the remainder of their respective personal estates, together with what he had an expectancy of from his godmother, would make such a noble fortune and give him such an interest as might entitle him to hope for a peerage. Nothing less would satisfy his ambition. 66

Wie beschrieben sinkt Clarissa im Ansehen des Bruders mit dem Tod des Großvaters, als nämlich James zusehen muss, wie das Erbe, das er bis dato für sich beansprucht hatte, an die jüngere Schwester vermacht wird. Durch diese Missgunst begründet sich letztlich die Grausamkeit, die Clarissa durch den Bruder erfährt: James, der sein Machtbestreben gefährdet sieht, ist jedes Mittel recht, die Schwester bei den übrigen Familienmitgliedern in Misskredit zu bringen und ihr somit das Erbe streitig zu machen. Auch zeigt er sich gegenüber den Einwänden Clarissas gegen den Heiratskandidaten Solmes gleichgültig, denn für James stellt diese Heirat lediglich eine Transaktion dar, innerhalb derer er die Schwester gegen einen Vermögenszuwachs tauscht. James Attitüde gegenüber Frauen, deren Liebenswürdigkeit er nach ihrem Tauschwert bemisst, verdeutlicht einmal

65 Dies bestätigt insbesondere Daniel P. Gunn. Vgl. Daniel P. Gunn: „Is Clarissa Bourgeois Art?“, in: Passion and Virtue. Essays on the Novels of Samuel Richardson from Eigtheenth-Century Fiction, hg. v. D. Blewett, Toronto: University of Toronto Press 2001, S. 137. 66 Richardson: Clarissa, L13, S. 77.



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mehr Richardsons Kritik an der eindimensionalen patriarchalen Gesellschaft. Machtbestreben koppelt sich in dieser Figur an Unmenschlichkeit, Geldgier an Herzlosigkeit. Laut Paul Mog erweisen sich materielle Belange in der Literatur des 18. Jahrhunderts oftmals als Prüfstein der Humanität.67 So führt das Besitzdenken der Figur James Harlowe dem Leser vor Augen, dass Geld als Motor inhumanen Verhaltens in einem krassen Widerspruch zum propagierten Tugendideal steht. Mit dem durch James Harlowe personifizierten Materialismus konterkariert Richardson die viel beschworene bürgerliche Tugend. Während Clarissas Bruder also dem Muster von der gerechten Bourgeoisie widerspricht, findet der Leser in Lovelace einen Charakter, der sämtliche Klischees vom verworfenen Aristokraten reproduziert. Lovelaces Ruf eilt ihm voraus und so erfahren wir bereits im ersten Brief Clarissas an ihre Freundin Anna von der ausschweifenden Lebensweise des Libertins, er sei wild, lebhaft und liebe Intrigen.68 Auch Lovelace selbst thematisiert seine charakterlichen Mängel. In seinen Briefen macht Lovelace selten einen Hehl daraus, vielmehr brüstet er sich gegenüber seinem Vertrauten Belford mit der eigenen Verworfenheit. Dieses Vertrauensverhältnis wird im ersten Brief Lovelaces an Belford klargestellt, indem Lovelace zugibt: „Thou knowest my heart, if any man living does. As far as I know it myself, thou knowest it.“69 In einem späteren Brief formuliert der Verführer den eigenen Mangel an Tugend dann explizit: „I must assure thee that I have a prodigious high opinion of virtue; as I have of all those graces and excellencies which I have not been able to attain myself.“70 Lovelaces Machtinteresse offenbart sich schließlich in seinen Beweggründen, die Protagonistin zu verführen, denn es geht ihm allein darum, über Clarissas Tugend zu triumphieren. Die geplante Verführung kündigt er dem Vertrauten Belford als einen Test an: Lovelace will beweisen, dass Clarissas Tugend einzig auf Stolz beruht und dass, wenn dieser Stolz erst gebrochen ist, Clarissa eine Frau wie jede andere sein wird.71 Lovelaces Ansinnen lässt sich als Kräftemessen beschreiben: Der sexuelle Vollzug bedeutet für ihn eine pure Demonstration von Macht. Dabei scheint er in Clarissa eine würdige Gegnerin gefunden zu haben, immerhin schließt er nicht aus, dass er ihrer Tugend möglicherweise unterliegen könnte. In diesem Fall, so beteuert er

67 Vgl. Mog: Ratio und Gefühlskultur, S. 56. 68 Vgl. Richardson: Clarissa, L2, S. 42. Diese erste Charakterisierung Lovelaces findet durch Clarissas Schwester Arabella statt, um die sich der Libertin irrtümlicherweise zunächst bemüht: „he was wild; she heard; very wild, very gay; loved intrigue.“ 69 Ebd., L31, S. 143. 70 Ebd., L110, S. 429. 71 Vgl. ebd., S. 427f.

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Belford, wird der erklärte „marriage-hater“72 Clarissa heiraten und sich von ihrer Tugend reformieren lassen.73 Insgesamt entwirft Richardson mit der Figur Lovelaces das Musterbeispiel eines Schurken, der seine Missetaten einzig und allein deswegen begeht, um sich (und den Briefpartner Belford) zu unterhalten. Die Darstellung der beiden Figuren Lovelace und James Harlowe verdeutlicht einerseits, dass Machtgier sowohl beim adeligen als auch beim bürgerlichen Handlungspersonal anzutreffen ist, es zeigt sich damit aber auch, dass nach Richardsons Verständnis Gier nicht auf finanzielle Begehrlichkeiten festgelegt ist. Tatsächlich ist Lovelace an Geld kaum interessiert, was sicherlich damit zusammenhängt, dass er sich um sein materielles Wohlergehen als Aristokrat kaum zu sorgen hat. Allerdings macht Lovelace seine Gleichgültigkeit gegenüber finanziellen Erwägungen gesondert deutlich, indem er mit seinem Lebensstil als Libertin das Erbe seines Onkels, Lord M., bewusst aufs Spiel setzt. Wenn Lovelaces Machtbestreben sich auch nicht auf finanzielle Belange konzentriert, so kann man doch von materialistischen Interessen sprechen, insofern der Libertin dem Metaphysischen alles Stoffliche vorzieht. Lovelace sorgt sich nicht um das Leben im Jenseits, das eigene Seelenheil opfert er irdischen Vergnügungen. Auch die moralisch integeren Charaktere des Romans lassen sich sowohl auf bürgerlicher als auch auf adeliger Seite antreffen. Auf Seiten der Figuren mit bourgeoisem Hintergrund wäre zu allererst die Protagonistin zu nennen. Von Clarissas Tugend zeugen verschiedenste Briefschreiber. Wie oben bereits beschrieben, weist zunächst Anna Howe auf die Mustergültigkeit von Clarissas Benehmen hin und auch das Testament des Großvaters enthält eine Lobrede auf die Tugend der Protagonistin. Während die Schwester Arabella Clarissas Vortrefflichkeit eher verspottet,74 belegt Mrs. Harlowe ihre Tochter durchaus ernstzunehmend mit positiven Attributen. Dementsprechend weist sie darauf hin, dass die Tochter im Rahmen der Heiratsfrage erstmals ungehorsam agiert, als sie diese bittet nachzugeben: „Come, be a good child, as you used to be, my Clarissa.“75 Selbst Lovelace preist Clarissas charakterliche Vorzüge: „As to my Clarissa, I own that I hardly think there ever was such an angel of a woman.“ Die Liste solcher Auszeichnun-

72 Ebd., S. 430. 73 Vgl. ebd., S. 431. 74 Die Protagonistin berichtet vom Hohngelächter der Schwester wie folgt: „She [Arabella] ridiculed me for my supposed esteem for Lovelace. Was surprised that the witty, the prudent, nay, the dutiful and pi-ous (so she sneeringly pronounced the word) Clarissa Harlowe, should be so strangely fond of a profligate man, that her parents were forced to lock her up, to keep her from running into his arms.“ Ebd., L42, S. 192. 75 Ebd., L41.1, S. 189.



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gen ließe sich noch um einiges erweitern, beispielsweise betont auch Belford in seinen Briefen ein ums andere Mal, wie außergewöhnlich ihm die Sittsamkeit der Heldin erscheint. Für den Leser steht also fest, dass die Romanheldin Clarissa, was moralische Werte und tugendhaftes Betragen anbelangt, ein Musterbeispiel einer jungen Frau darstellt. Interessant ist nun, dass die moralische Überlegenheit der Protagonistin mit einer Indifferenz gegenüber materialistischen Gesichtspunkten einhergeht. Clarissa bietet nicht nur wiederholt den Verzicht auf ihr Erbe an, ihre Gleichgültigkeit gegenüber Geldangelegenheiten äußert sich auch in ihrem Widerwillen gegen den „money-lover“76 Solmes. Darüber hinaus schlägt Clarissa sämtliche Angebote Anna Howes aus, ihr während der Zeit in London mit Geld auszuhelfen, lieber versetzt sie die eigene Habe als das Opfer der Freundin anzunehmen. Diese Assoziation von moralischer Integrität und der Immunität gegenüber kühlem Besitzdenken spiegelt sich in der Nebenfigur Mrs. Norton. In der ehemaligen Amme der Protagonistin paart sich Armut mit außerordentlicher Gutherzigkeit. Insgesamt stellt die materielle Indifferenz bzw. die Fähigkeit zum Verzicht also einen charakterlichen Vorzug dar, da die betreffenden Charaktere somit als nicht korrumpierbar gekennzeichnet werden. Während Clarissa und Mrs. Norton die bürgerliche Tugend repräsentieren, führt Richardson seinen Lesern auch aristokratische Gutmenschen vor. Zwar lässt sich über die Moral Belfords streiten – er tadelt Lovelaces Verhalten, distanziert sich aber nicht direkt – einen weniger zweifelhaften Charakter stellt jedoch Lord M. dar. Lovelaces Erbonkel reagiert auf das Verhalten seines Neffen mit äußerster Entrüstung. Seine Gutherzigkeit offenbart sich in seinem Engagement, mit dem er nach der Vergewaltigung Clarissas Lovelace dazu drängt, die Protagonistin zu heiraten und sich ferner um eine Versöhnung mit der Familie Harlowe bemüht. Da Lord M. im Romangefüge eher eine Randfigur darstellt, soll sein Charakter hier nicht weiter durchleuchtet werden, sicher ist jedoch, dass Samuel Richardson die Opposition von Aristokratie und Bourgeoisie keinesfalls schematisch gestaltet. Auf beiden Seiten gibt es sowohl integre als auch weniger edle Figuren, deren Gegenüberstellung eine andere Kontrastierung zur Folge hat: Anstelle des Gegensatzes Bürgertum/Adel thematisiert der Autor hier die Opposition von Macht und Moral. Bei Richardson besteht also nicht ein grundlegendes Missverhältnis zwischen tugendhafter Bourgeoisie und unmoralischer Aristokratie, sondern eines zwischen Materialismus und Idealismus. Die Romanfiguren, die humanistische Werte über materialistische Erwägungen stellen, treffen auf den kühl kalkulierten Materialismus der machtorientierten Charaktere, die sittliche und moralische Werte in ihrem Handeln vernachlässigen. Der Gefahr, durch

76 Vgl. ebd., L32.2, S. 151.

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Machtfragen korrumpiert zu werden, sind grundsätzlich alle Menschen ausgesetzt, unabhängig davon, welcher Gesellschaftsschicht sie entstammen – so ließe sich die eigentliche Aussage der Problematik von Klassenunterschieden, wie sie hier thematisiert werden, zusammenfassen. Wohl aber muss in diesem Zusammenhang eingeräumt werden, dass das weibliche Handlungspersonal dieser Gefahr offenbar weniger stark unterliegt. Die Gegenüberstellung von Macht und Ohnmacht transportiert in der Tat ein weiteres Missverhältnis, nämlich das der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft. Nur die männlichen Figuren verfügen über Macht, wohingegen die Frauen des Romans den Entscheidungen der Männer tatenlos – wenn auch nicht sprachlos – zusehen müssen. In ihrer Ohnmacht können sie nur versuchen, durch moralischen Idealismus auf die männlichen Akteure einzuwirken und die bestehenden Verhältnisse so zu verändern. Die zeittypische Diskrepanz zwischen den Geschlechtern verdeutlicht so die Antithese von Materialismus und Idealismus.

3.1.3 Die Verführung: Tugend gegen Libertinage Mit Clarissas Vergewaltigung erreicht der Roman seinen Höhepunkt. Sie findet etwa nach der Hälfte der erzählten Zeit, in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni statt. Lovelaces Auskunft über dieses Ereignis stellt wohl den kürzesten Brief des Romans dar, am Morgen des 13. Juni schreibt er schlicht: „And now, Belford, I can go no farther. The affair is over. Clarissa lives. And I am your humble servant, R. Lovelace.“77 Den eigentlichen Ablauf der Ereignisse erhellt später Clarissas Bericht, erst am 6. Juli schildert die Protagonistin ihrer Freundin Anna die Umstände ihrer Entehrung. Lovelace habe sie auf der Flucht aus Mrs. Sinclairs Bordell ertappt und sie zurück in selbiges gebracht. Mit Hilfe Mrs. Sinclairs habe er sie narkotisiert und anschließend vergewaltigt. Damit ist Lovelaces Frage, ob Clarissa Frau oder Engel sei,78 zunächst beantwortet, seine Intrigen triumphieren über ihre Tugend. Dabei stellt sich die Frage, ob es sich tatsächlich um einen Sieg Lovelaces handelt, ob Clarissas Tugend den Angriffen des Libertins also wirklich aufgrund ihrer prinzipiellen Schwäche unterliegt. Trifft Clarissa eine Mitschuld an ihrem Schicksal? Eine oberflächliche Antwort würde dies verneinen, immerhin wird hier mit unfairen Mitteln gekämpft. Während Lovelace jedes Mittel recht ist, um zu seinem Ziel zu gelangen,

77 Ebd., L257, S. 883. 78 Diese Frage formuliert Lovelace vermehrt, so spricht er beispielsweise von seinen Plänen zu Versuchungen, „which will prove her to be either woman or angel.“ Ebd., L157.1, S. 535.



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stehen Clarissa aufgrund des strengen Verhaltenskodex ihres Tugendideals nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, tatsächlich kann sie zumeist nur reagieren und versuchen das Schlimmste abzuwenden und dazu ist Schreiben ihr einziges Mittel. Vom Stellenwert des Schreibens zeugen zahlreiche Äußerungen der Protagonistin, beispielsweise erklärt sie als ihr das Briefschreiben im väterlichen Haus verboten wird: „I know not how to forbear writing. I have no other employment or diversion.“79 Vor allem aber nach der Vergewaltigung zeigt sich die Bedeutung des Schreibens für die psychische Verfassung der Heldin. Auf den knappen Kommentar Lovelaces zu den Ereignissen der Nacht vom 12. auf den 13. Juni folgen einige fragmentarische Texte Clarissas, die diese in einem Zustand nervlicher Zerrüttung unmittelbar nach ihrer Vergewaltigung verfasst hat und die von Lovelace vor dem Feuer gerettet werden. Es handelt sich dabei um verschiedene Entwürfe zu Briefen, von denen keiner zu Ende geschrieben wurde. Diese delirium papers sind das erste, was der Leser von der Protagonistin nach deren Vergewaltigung liest, Schreiben scheint somit Clarissas erstes und einziges Interesse nach ihrer Entehrung darzustellen. Dies illustriert auch Clarissas erster Brief an Lovelace nach dem 13. Juni, worin sie einige Forderungen stellt: „[L]et me have pen, and ink, and paper, allowed me – It will be all my amusement“80. Im Gegensatz zu den Unternehmungen des Verführers offenbaren sich Clarissas Handlungsmöglichkeiten also als äußerst begrenzt. Was man der Protagonistin hingegen durchaus zur Last legen kann, ist die Tatsache, dass sie vor der Entführung trotz des elterlichen Verbots den Briefkontakt zu Lovelace aufrechterhalten hat. Zwar geht sie auf ein Treffen mit dem Libertin im Garten der Harlowes ausschließlich deshalb ein, um ihn davon in Kenntnis zu setzten, dass sie die Korrespondenz in Zukunft einstellen wird, es bleibt aber dabei, dass sie ihn heimlich aus freien Stücken trifft. Demnach könnte man Clarissa zumindest ihr unvorsichtiges Handeln vorwerfen, zu ihren Gunsten muss allerdings ihre schwierige Lage betrachtet werden. Clarissas Widerwille gegen den Heiratskandidaten Solmes ist nur allzu verständlich, nicht nur aus der Perspektive heutiger Vorstellungen über freie Partnerwahl. Solmes erscheint in der Tat inakzeptabel, er disqualifiziert sich nicht nur durch sein profanes Besitzdenken, sondern auch durch seine Unsensibilität der Heldin gegenüber, die ihm ihre Einwände gegen die geplante Ehe immerhin offen mitteilt. Zudem zeugt Solmes’ Antwort auf Clarissas Ersuchen, von seinem Werben um sie abzusehen, die von nahezu abenteuerlicher Orthogra-

79 Ebd., L135, S. 483. 80 Ebd., L261.1, S. 896.

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fie und Grammatik strotzt,81 vom unterschiedlichen Bildungsniveau der prospektiven Ehepartner. In ihrem Widerwillen gegen die Pläne der Familie bietet sich Clarissa kein Bezugspunkt, auch dies spricht für die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bietet Frauen, so Ruth Perry, keinen Platz außerhalb des Hauses des Vaters bzw. Ehemanns,82 dies erfährt auch Clarissa Harlowe. Es wäre ihr nicht einmal möglich, zu ihrer Freundin Anna Howe zu flüchten, da deren Mutter diese Möglichkeit unmissverständlich ausschließt. Insgesamt ist es eher der Druck von außen, der zu Clarissas Entehrung führt. Sie sieht sich unmöglichen Erwartungen an sie ausgesetzt und kann nichts tun, um eine Einigung zu erzielen. Sicherlich trägt ihr Eigenwille, also die Tatsache dass sie als Frau überhaupt einen eigenen Willen beansprucht, dazu bei, dass die Familie ihren Druck verstärkt. Auch begünstigt dieser Eigensinn die Intrigen Lovelaces, denn letztlich stellt der Aristokrat den einzigen Ausweg für die Protagonistin dar, der väterlichen Gewalt zu entkommen.83 Lovelace sieht in Clarissa eine würdige Gegnerin und kein allzu leichtes Opfer, das heißt er stellt nicht ihre Tugend in Frage, sondern vielmehr die Gültigkeit der von ihr repräsentierten Weltanschauung. Clarissas Ehre ist nicht direkt angreifbar, wohl aber ihre Macht seinen Angriffen zu trotzen, so formuliert es Lovelace: „I doubt not your honour, madam; your power is all I doubt.“84 Letztlich besitzt Clarissa nicht die Kraft, sich von den Zwängen der patriarchalischen Gesellschaft zu befreien, allerdings ist ihre Ehre insofern nicht anfechtbar, als Lovelace sich immerhin genötigt sieht, der Heldin das Bewusstsein zu rauben, bevor er von ihr Besitz ergreifen kann. Ironischerweise leiten Lovelaces Worte „Clarissa lives“ das Sterben der Heldin ein. Die Vergewaltigung stellt grundsätzlich einen Wendepunkt im Romangefüge dar, die Protagonistin braucht nun nicht länger zu kämpfen. Sie hat alles verloren, was sie zu verlieren hatte und es bleibt ihr nur noch übrig, sich auf den Tod vorzubereiten. Clarissa, die Frau, lebt – Clarissa, der Engel, muss sterben.

81 Davon zeugt insbesondere Solmes Brief an Clarissa vom 26. März. Dort finden sich im Rahmen von ca. 160 Wörtern knapp 30 Rechtschreibfehler. Vgl. ebd., L59.1, S. 250. Wie sehr Solmes’ mangelhafter Bildungsstand auf die Kritik der Heldin stößt, zeigt sich bereits im Zusammenhang mit einem zuvor erhaltenen fehlerfreien Brief des Verehrers: „He had certainly help with it [his letter]. For I have seen a letter of his, as indifferently worded as poorly spelled.“ Ebd., L33, S. 158. 82 Vgl. Perry: Women, Letters, and the Novel, S. 40. 83 Wie Perry darstellt, liegt der entscheidende Faktor, der Clarissas Ent- und schließlich Verführung evoziert, in der Aussicht durch Lovelace in einen Familienverband einzutreten. Vgl. Perry: Novel Relations, S. 75. 84 Richardson: Clarissa, L94, S. 376.



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3.1.4 Weiblichkeit und Tod Literarische Darstellungen des weiblichen Todes häufen sich, so Christine Lehmann, mit dem Beginn des bürgerlichen Romans, Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie rekurrieren dabei stets auf einen ganz bestimmten Frauentyp: „die tugendhafte, fromme und unverheiratete junge Frau des gehobenen Bürgertums, sobald sie dem Liebeswerben eines jungen Libertins von Adel nachgibt und außereheliche Sexualität hat“85. Zweifellos ist Lehmann auch dahingehend Recht zu geben, dass Richardsons Clarissa Harlowe als Vorbild für diesen Typ Romanheldin fungiert. Tatsächlich nimmt Clarissas Tod im Romangefüge breiten Raum ein, die Protagonistin deutet ihn bereits unmittelbar nach ihrer Vergewaltigung an. So kündigt sie im ersten der Fragmente, die Clarissa direkt danach schreibt, der Freundin Anna Howe ihren Rückzug aus der Welt an: „You may well be tired of me! – And if you are, I can forgive you, for I am tired of myself: and all of my own relations were tired of me long before you were.“86 Deutlicher wird Clarissa im zehnten Abschnitt der delirium papers, in kreuz und quer gedruckten Textfetzen werden hier verschiedene Dichter zitiert, unter anderem Dryden und Lee: Death only can be dreadful to the bad To innocence ’tis like a bugbear dress’d To frighten children. Pull but off the mask And he’ll appear a friend.87

Der Worte John Drydens bedient sich die Heldin nochmals, um Abschied zu nehmen: „Then farewel, youth, and all the joys that dwell, / With youth and life, and life itself, farewel!“88 Über den gesamten Zeitraum von der Vergewaltigung am 12./13. Juni bis zu ihrem Tod am 7. September zeigt sich Clarissa vollkommen überzeugt davon, bald sterben zu müssen, so dass es rückblickend scheint, als leite der sexuelle Vollzug das Sterben der Romanheldin ein. Ohne Zweifel besteht ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen Clarissas Sündenfall und ihrem Tod. Auf die zeitgenössische Auffassung, dass ein entehrtes Mädchen zumindest Mitschuld, wenn nicht gar die alleinige Schuld an ihrem Schicksal trägt, muss hier nicht erst hingewiesen werden. Obwohl es

85 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 9. 86 Richardson: Clarissa, L281, S. 890. 87 Ebd., L261. S. 893. Es handelt sich um Verse aus Drydens und Lees Oedipus. Vgl. John Dryden u. Nathaniel Lee: Oedipus, III, i, 74–7. 88 Ebd. Die hier zitierten Verse finden sich in Drydens Palamon and Arcite. Vgl. John Dryden: Palamon and Arcite, or the Knight’s Tale from Chaucer, I, 418–9.

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weitestgehend die äußeren Verhältnisse sind, die Clarissas Schicksal begünstigen, erscheint es mir durchaus legitim von Clarissas Schuld bzw. Fall zu sprechen. Tatsächlich konstituiert sich dadurch das eigentliche Dilemma der Heldin: Wie kann die tugendhafte Heldin schuldig werden? Und umgekehrt: Wie kann die schuldige Heldin ihre Tugend bewahren? Beide Problemstellungen werden gelöst durch die Figur Lovelaces: Ausschließlich der Teufel – um nochmals Lehmanns Formulierung zu bemühen – ist in der Lage, die personifizierte Tugend zu überwältigen. Damit wird Clarissa zwar teilweise entlastet, andererseits aber auch verurteilt, denn Lovelace behält Recht mit seiner Einschätzung, alle Frauen seien schwach. Es ist der Verführer, der die Frage aufwirft, ob Clarissa wirklich ein Engel oder doch nur eine Frau ist, und er ist es auch, der diese Frage beantwortet. Durch seine Manipulation wird Clarissa zu beidem: Durch den Liebesakt wird sie zur Frau, während sie der darauf folgende Tod in den Augen aller Beteiligten zum Engel werden lässt. Indem Richardson seine Heldin fallen lässt, sie also zur schwachen Liebenden macht, lässt er ihre Weiblichkeit sich materialisieren. Da Clarissa in der Folge jedoch bereitwillig aus dem Leben scheidet und sich sozusagen der Moral opfert, erhebt sie sich wiederum über die gewöhnliche Frau und erstrahlt als tugendhafter, unschuldiger Engel. Dieser Zusammenhang bringt Christine Lehmann zu der Feststellung, „[u]m als weibliches Vorbild zu dienen, [müsse] die Heldin Weiblichkeit vernichten“89. Die eigentliche Problematik des Romans erweist sich demnach als paradox: Das engelgleiche, heilige, tugendhafte und hochgelobte Leben der Heldin verkümmert unter dem Paradoxon, daß einerseits eine Frau, die nicht liebt, eine Frau ohne Seele sei und erst die Liebende zum Engel werde, daß aber andererseits eine Heilige, die geliebt habe, zum Weib werde und damit dem Verführer in erreichbare Nähe rücke. Macht die Liebe die Frau erst zur vollgültigen Frau, so verlangt die Liebe auch, daß sie sich tunlichst aus dem Leben entferne, um ihre weibliche Integrität zu bewahren.90

Einzig über den Umweg des Todes kann Clarissa ihre Ehre retten. Mit dem tödlichen Ausgang der Verführung wird der Verführer zum Schuldigen, der Verführten wird hingegen der Opferstatus zugebilligt. Die Kennzeichnung Clarissas als Opfer Lovelaces macht es ihren Verwandten möglich, ihr schlussendlich zu vergeben und ihren Tod als vermeidbar zu betrauern. Wie Elisabeth Bronfen festhält, klagt Clarissas Tod nicht nur die aris-

89 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 37. 90 Ebd., S. 160.



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tokratische Libertinage an, sondern ebenso die Doppelmoral der Bourgeoisie.91 Nachdem die Heldin in der Konsequenz ihrer Flucht mit Lovelace von ihrem Vater offiziell verdammt worden ist, zeigt sich die gesamte Familie Harlowe nach ihrem Tod einsichtig und reuevoll. Nach ihrer Flucht kann Clarissa nur als tote Tochter überhaupt wieder zur Tochter werden. Zwar verliert sie zunächst jeglichen Anspruch auf die väterliche Protektion, sie gewinnt dieses Recht jedoch zurück, indem sie sich durch ihren Tod als Opfer und Märtyrerin auszeichnet. Rückwirkend wird sie nun im Kreis der Familie rehabilitiert und führt ihren Angehörigen die eigenen Fehler vor Augen. Darüber hinaus ist Clarissa als Tote wiederum zugänglich für die Wünsche und Erwartungen ihrer Familienmitglieder.92 Es liegt nun ausschließlich bei ihnen, zu überlegen, was alles hätte sein können und wessen Verhalten sich anders hätte gestalten müssen. Die tote Clarissa ist absolut verfügbar, wohingegen sie sich den Ansprüchen der übrigen Charaktere zu Lebzeiten sperrt.93 Laut Bronfen geht es bei der Darstellung des weiblichen Todes um den „Kampf gegen die durch das Andere (das Weibliche, den Tod) hervorgerufene Unordnung“94, die Frau bedroht die Ordnung der patriarchalischen Norm und erst ihr Tod festigt diese Ordnung wieder. Demnach stellt die imaginierte Frau aus Sicht der patriarchalischen Norm den Schnittpunkt zwischen symbolischer Ordnung und Chaos dar.95 In der Tat stellt Clarissa für ihren Bruder und auch für Lovelace die Ordnung der bereits gefassten Pläne in Frage. Ihr Eigenwille entpuppt sich als potenzieller Störfaktor für die Lebensvorstellungen der männlichen Figuren, bedroht er doch die Sicherheit ihrer Entschlüsse. Mit dem Tod der Frau wird die Bedrohung eines (weiblichen) Chaos ausgeräumt und die väterliche Ordnung bestätigt: „So enthält die schöne Tote einen Verweis auf jene chaotische, dynamisierende Kraft, welche die Ordnung stört, von dieser aber auch benötigt wird, und dient zugleich als bestätigender Spiegel, der die Stabilität des

91 Vgl. Elisabeth Bronfen: „Die schöne Leiche. Weiblicher Tod als motivische Konstante von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Moderne“, in: Weiblichkeit und Tod in der Literatur, hg. v. Renate Berger u. Inge Stephan, Köln, Wien: Böhlau 1987, S. 93. 92 Vgl. ebd. 93 In diesem Zusammenhang weist Bronfen darauf hin, dass auch die Tatsache, dass Lovelace nur in einem dem Tod ähnelnden Zustand von der Heldin Besitz ergreifen kann, dafür spricht, dass Clarissas Tod notwendig ist, um sie für die Erwartungen der anderen Charaktere zugänglich zu machen. Vgl. ebd. 94 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, 2. Aufl., München: Kunstmann 1994, S. 10. 95 Vgl. Bronfen: „Die schöne Leiche“, S. 100.

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normativen (patriarchalen) Weltentwurfs garantiert.“96 Indem Richardson seine Protagonistin als schöne Leiche darstellt, ist es ihm möglich, zwar die potenziellen Konfliktpunkte einer patriarchalischen Weltordnung aufzuzeigen, diese aber nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Was hingegen hinterfragt wird, ist das Wertesystem der patriarchalen Gesellschaft, die im Kontrast zu dem von der Heldin vertretenen Konzept der sensibility als despotisch und inhuman beschrieben wird.

3.1.5 Sensibility: Tugend, Würde und Humanität Zweifellos handelt es sich bei Richardsons Clarissa um einen empfindsamen Roman. Sensibility erweist sich durchaus als markanter Begriff des Texts. Allerdings betrifft diese Zuschreibung weniger die einzelnen Charaktere, wie Peter Uwe Hohendahl feststellt, als vielmehr die beim Lesepublikum provozierten Reaktionen.97 Tatsächlich lässt sich ausschließlich die Figur Clarissas als empfindsam kennzeichnen, die übrigen Charaktere zeichnen sich gerade durch das Gegenteil, Gefühllosigkeit und Unvernunft aus. Selbst Anna Howe tritt ihrer Freundin in vielem entgegen: Zwar ist sie nicht gerade als gefühlskalt zu bezeichnen – dazu zeigt sie zu große Anteilnahme an Clarissas Schicksal – allerdings entspricht sie auch keinesfalls dem Stereotyp der tugendhaft-empfindsamen Heldin. Generell verkörpert Miss Howe viel weniger das Ideal von sanftmütiger, bescheidener Weiblichkeit als etwa die Frauen der Harlowe-Familie, stattdessen offenbaren ihre Briefe ihren kühlen Kopf und eine außerordentliche Lebhaftigkeit, was andere Figuren zu der Feststellung bewegt, Anna besitze mehr männliche als weibliche Eigenschaften.98 Clarissa dagegen, die mehrfach als „the most excellent woman in the world“ bezeichnet wird,99 verkörpert das Konzept der sensibility durch und durch, verfügt sie doch über eine beispiellose Sensibilität was Fragen des Anstands und der Würde angeht. Clarissas Feingefühl ist viel stärker ausgeprägt als das der übrigen Charaktere und zwar sowohl in Bezug auf das eigene Verhalten als auch auf das ihrer Mitmenschen. Die Kritik der Pro-

96 Ebd., S. 101. 97 Vgl. Hohendahl: „Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewusstsein“, S. 189. 98 Zunächst findet eine solche Charakterisierung durch den Tadel Mrs. Howes statt: „Ah! Nancy! You are so lively! so quick! I wish you were less like your papa, child!“ Richardson: Clarissa, L58, S. 245. Später vergleicht auch Lovelace Annas Verhalten mit dem eines Mannes: „This girl’s a devilish rake in her heart. Had she been a man, and one of us, she’d have outdone us all in enterprise and spirit.“ Ebd., L198, S. 634. 99 Vgl. oben, S. 141.



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tagonistin an dem taktlosen, bisweilen sogar unmenschlichen Gebaren anderer Figuren ihr gegenüber, basiert auf einem entsprechenden Verhaltenskodex, nach dem sie selbst sich richtet. Dieser Kodex umfasst vor allem Werte der Menschlichkeit: Mitleid, Güte und Toleranz sind nur einige Leitwerte von Clarissas eigenem Verhalten. Dabei verdeutlicht Richardson, dass ein solches Zartgefühl auch eine Bürde sein kann. Neben der Genugtuung des reinen Gewissens, die das eigene mustergültige Benehmen herstellt, erweist sich sensibility als schwierige Pflicht, wenn es darum geht, ein von diesem Ideal abweichendes Verhalten zu erdulden. In diesem Zusammenhang findet sich ein Bekenntnis der Heldin, das auf diese Last hinweist, auch wenn es eindeutig zugunsten der empfindsamen Geisteshaltung ausfällt: „Yet, for ten times the pain that such a sensibility is attended with, would I not part with the pleasure it brings with it.“100 Damit erhält die durch Clarissa verkörperte Empfindsamkeit einen negativen Beigeschmack. Insgesamt vermittelt Richardsons Clarissa ein düsteres Bild vom Konzept sensibility. Wie Jean H. Hagstrum konstatiert, gewinnt der Begriff hier weitaus schwerwiegendere Implikationen als er ursprünglich enthielt.101 Empfindsamkeit bedeutet demnach die Verantwortung des einzelnen für die Würde der gesamten Menschheit. Dies veranschaulicht vor allem die Interaktion zwischen Clarissa und ihren Geschwistern. Von Neid und Gier angetrieben zeigen weder Arabella noch James besonderes Interesse für Fragen von menschlicher Moral. Insbesondere den Bruder, der das Privileg einer intellektuellen Ausbildung genossen hat, kritisiert Clarissa für dieses mangelnde Bewusstsein: „Give me leave to tell you, sir, that if humanity were a branch of your studies at the university, it has not found a genius in you for mastering it.“102 Stärker noch als diese Kritik offenbart James’ Reaktion dessen charakterliche Konstitution. Er misst der Argumentation der jüngeren Schwester, deren Erziehung sich von der seinen maßgeblich unterscheidet, nicht den geringsten Wert bei, sondern verhöhnt Clarissas Zartgefühl.103 Das Aufeinandertreffen der empfindsamen Clarissa mit ihren unsensiblen Antagonisten James Harlowe und Lovelace führt dem Leser vor Augen, wie grausam sich die Welt gegenüber humanistischen Idealen geben kann bzw. wie schwer es der Tugend in einer solchen Welt fallen muss, sich zu bewähren. Als nahezu alleinige Vertreterin der sensibility steht Clarissa auf verlorenem Posten. Werte

100 Richardson: Clarissa, L42, S. 196. 101 Vgl. Jean H. Hagstrum: Sex and Sensibility. Ideal and Erotic Love from Milton to Mozart, Chicago u. London: The University of Chicago Press 1980, S. 198. 102 Richardson: Clarissa, L50.2, S. 219. 103 Seine Antwort auf den vorausgegangenen Brief schließt James mit der ironischen Bemerkung: „I wish I could be still more polite, to so polite, so delicate a sister.“ Ebd., L51.1, S. 221.

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wie Menschenwürde, Seelengröße, Mitgefühl und Delikatesse treffen auf das egoistische Machtdenken und die Korruption der patriarchalischen Gesellschaft. Die Assoziation des empfindsamen Weltentwurfs mit der Protagonistin, sprich die Parallelität von Weiblichkeit und Empfindsamkeit, dient hier der Betonung der schwachen Position des empfindsamen Bewusstseins.104 Dagegen werden die weltlichen Laster zum großen Teil mit männlichen Romanfiguren assoziiert.105 Der Kampf zwischen den Parteien ist von Beginn an aussichtslos, da hier eine Seite das Machtmonopol besitzt. Demnach lautet die Frage, die Samuel Richardson stellt, ob das Konzept einer humanistischen Moral, eines moral sense, wirklich an sich zu schwach sei, oder ob der patriarchalische Weltentwurf, der durch Erfolgsdenken, Machtgier und Korruption reguliert wird, einfach nur stärker ist. Vor dem Hintergrund dieser Problemstellung findet der Roman mit seinem Ausgang scheinbar eine pessimistische Antwort: Trotz ihrer beispiellosen Tugend scheitert Clarissa und mit ihr das Konzept sensibility.106 Gemildert wird die Niederlage der Empfindsamkeit allerdings durch die späte Einsicht ihrer vormaligen Kontrahenten. Sowohl Lovelace als auch die Harlowes zeigen sich von Clarissas Tod betroffen und gestehen ihre Mitschuld daran ein, selbst James Harlowe scheint Reue zu empfinden.107 Insofern triumphiert Richardsons Verständnis von Empfindsamkeit zumindest im Nachhinein, denn was der Leser längst erfasst hat, erkennt das Handlungspersonal des Romans erst, als es bereits zu spät ist. Auch wenn die empfindsame Geisteshaltung hier einen späten Triumph feiert, Clarissa ist eindeutig als Plädoyer für die Moralvorstellungen der sensibility zu verstehen, insofern die individuelle Weltsicht als Gegensatz zur objektiven Referenz einer gesamtgesellschaftlichen Norm überhaupt zur Diskussion gestellt wird. Dabei ist

104 Dass Richardson sensibility ebenso wenig wie Laurence Sterne oder Henry MacKenzie als rein weiblich konnotiertes Konzept betrachtet hat, verdeutlicht nicht zuletzt seine Figur des Sir Charles Grandison (1753). Gleichwohl liefert Clarissas Position als Frau eine wesentliche Pointe für die sensibility. 105 Dem Phänomen eines unmoralischen männlichen Geschlechts geht insbesondere Christoph Kucklick nach. Das Strukturmuster des selbstsüchtigen und egoistischen Mannes tritt demgemäß seit der Spätaufklärung als „Menetekel der Menschlichkeit“ auf. Wohingegen das weiblich konnotierte Konzept Liebe als Gegenprinzip zur Abwehr des gesellschaftlichen Zerfalls beschworen wird. Vgl. Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 51 u. 84f. 106 Auch Roy Porter zieht aus Richardsons sensibility die Lehre, dass sich das wehrhafte Individuum nicht auf ein Happy End verlassen kann. Vgl. Roy Porter: Enlightenment. Britain and the Creation of the Modern World, London: Penguin 2000, S. 285. 107 Laut Colonel Morden plagen Clarissas Bruder nach dem Tod der Heldin bittere Selbstvorwürfe: „Young Mr Harlowe with all his vehemence of spirit was now subdued. His self-reproaching conscience, no doubt, was the cause of it.“ Richardson: Clarissa, L500, S. 1395.



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die Möglichkeit der Verhandlung individueller Positionen freilich der perspektivischen Form geschuldet.108

3.1.6 Resümee: Verstand und Gefühl in Richardsons Clarissa Die vorangegangene Analyse hat vor allem gezeigt, dass Richardsons Clarissa eine Reihe von Oppositionen thematisiert. Angesprochen werden Macht und Moral, Geld und Gefühl sowie Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Gegenüberstellung von bürgerlichen Charakteren und Figuren mit aristokratischem Hintergrund unterstreicht, dass Richardson materielle Erwägungen ausschließlich moralisch zweifelhaften Charakteren unterstellt, dies allerdings über Klassenschranken hinweg. Der Gegenentwurf zur profanen Machtgier stellt die empfindsame Geisteshaltung dar, die aufgrund eines ausgesprochenen Feingefühls Fragen von moralischer Integrität über ökonomische Belange stellt. Der Kontrast von Geld und Gefühl lässt sich auch als einer zwischen Macht und Moral beschreiben. So drückt sich das Machtstreben James Harlowes in seinem rigiden Besitzdenken aus, wohingegen Richardson moralische Integrität bzw. Tugend mit der Figur Clarissas an eine generelle Indifferenz gegenüber finanziellen Belangen koppelt. Insgesamt lässt sich der Widerspruch zwischen Macht und Moral auch als Antithese von Materialismus und Idealismus benennen. Laut Argumentation der Harlowes setzten sie Clarissas Zartgefühl ein Konzept von sense entgegen. Allerdings beruht diese Setzung auf der Assoziation des Attributs Vernunft mit purem Besitzdenken. So verteidigt Antony Harlowe den geldliebenden Solmes gegenüber Clarissa mit der lapidaren Feststellung: „He is a man of sense, I can tell you.“109 Was Clarissas Onkel durchaus als Auszeichnung versteht – Sparsamkeit als Ausdruck von Vernunft im Gegensatz etwa zu der verschwenderischen Lebensweise des „whoremonger“110 Lovelace – erfährt durch die Darstellung Solmes’ als durchweg unsympathischen Charakter insgesamt eine Abwertung. Das Attribut sense reiht sich damit in die Liste der unvorteilhaften Eigenschaften ein, wohingegen sensibility ausschließlich an vorteilhafte Charakterzüge geknüpft wird. Dies gilt auch für die Machenschaften Lovelaces,

108 Diesen Zusammenhang konstatiert auch Christoph Reinfandt, der im Briefroman die formale Voraussetzung für die Relativierung des aus der Gesellschaft entnommenen Wirklichkeitsbezugs erkennt, auch wenn diesem auf inhaltlicher Ebene oftmals noch Rechnung getragen wird. Vgl. Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 141f. 109 Ebd., L32.4, S. 156. 110 Ebd.

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dessen Intrigen vor allem seinen Kopf beschäftigen,111 wohingegen sich Clarissas Tugendbewusstsein sowohl auf emotionale als auch an kognitive Kapazitäten stützt. Empfindsamkeit ist keinesfalls als rein gefühlsmäßige Disposition zu verstehen, sondern umfasst auch Aspekte von sense, allerdings in einem gänzlich anderen Sinne als die Harlowes Vernunft definieren. Forderungen nach Humanität lassen sich durchaus als reasonable kennzeichnen, während die strikte Gehorsamsforderung der Harlowes nicht nur despotisch, sondern auch unvernünftig erscheint. Kindlicher Ungehorsam bzw. weiblicher Eigensinn erweist sich indes als eigentliches Thema des Romans. Die Heldin erlebt die Unvereinbarkeit von Pflicht und Neigung und ihre Überzeugung, den an sie gerichteten Erwartungen nicht entsprechen zu können, führt zum Widerstand der vormals so folgsamen Tochter: „My heart, struggling between duty and warmth of temper, was full.“112 Das (warme) Temperament der Heldin erweist sich letztlich als eigentliche Ursache ihres Dilemmas: Es ist ihre Empfindsamkeit, die sie daran hindert, sich in die Wünsche ihrer Familie zu fügen. Sofern sensibility dazu führt, dass Clarissa, ob als Kind oder als Frau, einen eigenen Willen formuliert, wird sie zum Problem. Es sind die Folgen weiblichen Eigensinns, die Clarissas Schicksal illustriert. Da sich ihr Eigenwille nicht verwirklichen lässt, ohne dass die Tugend leidet, kann Clarissa ihren Konflikt nicht lösen. Ihrerseits findet keine Handlung statt, denn alles was die Protagonistin tun kann, ist schreiben. Wie Ruth Perry richtig feststellt, bringt das Genre des Briefromans eine neue Art der Heldin hervor: „Such heroines, who poured out their hearts on paper, valued their individual happiness above social approval and assumed that this happiness was to be found not in work or religion but in a perfect sexual union whose institutional form was marriage.“113 Clarissa steht mit ihrem Anspruch auf individuelles Glück vor einem unlösbaren Problem, denn die Suche nach einem Mann mit denselben Wertvorstellungen verläuft erfolglos. Die einzige Wahl, vor der die Protagonistin steht, ist die zwischen einem „money-lover“ und einem „marriage-hater“. Angesichts dieser Alternative erscheint Clarissas Wunsch, ledig zu bleiben, nur allzu verständlich. Michael F. Suarez’ schlichte Plot-Zusammenfassung „No“114 trifft den Punkt: Die Verneinung steht für Clarissas Verlangen, Autonomie zu verwirkli-

111 Vgl. Pascal Nicklas: The School of Affliction. Gewalt und Empfindsamkeit in Samuel Richardsons ‚Clarissa‘, Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1996 (= Anglistische und Amerikanische Texte und Studien, Bd. 9), S. 268. 112 Richardson: Clarissa, L75, S. 295. 113 Perry: Women, Letters, and the Novel, S. 166. 114 Vgl. Suarez: Asserting the Negative, S. 69.



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chen; die Protagonistin verweigert sich den für sie vorbestimmten Lebensentwürfen. Die Standhaftigkeit der Tugend ist in Bezug auf Clarissa nur allzu wörtlich zu nehmen, schließlich weicht sie keinen Schritt von ihren inneren Überzeugungen ab. Die Protagonistin bleibt bei ihrem „Nein“ und verweigert sich darüber auch dem Leben. Da sie den Zwängen der patriarchalischen Gesellschaft letztlich nichts entgegenzusetzen hat, stirbt Clarissa infolge ihres Eigensinns. Clarissas Konflikt zwischen Pflicht und Neigung spielt sich vor dem Tableau ihrer empfindsamen Haltung ab. Sie hat weniger einen Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft auszufechten, als einen zwischen Gefühl und Unvernunft, schließlich kann die Haltung der Harlowes nur als unreasonable gekennzeichnet werden. Clarissa selbst verkörpert die ideale Vereinigung von Seelengröße, Mitgefühl und Delikatesse mit reason und common sense und positioniert sich eindeutig auf der Seite des Konzepts sensibility. Für Richardsons Heldin stellt sich gar nicht erst die Wahl zwischen Verstand und Gefühl, stattdessen vereint sie bereits beide Pole in ihrem Verhaltensideal. Der Gegenentwurf zur Empfindsamkeit gestaltet sich dagegen weder vernünftig, noch gefühlvoll. Das Scheitern von Clarissas Selbstbehauptung zieht keineswegs eine grundsätzliche Devaluation des Konzepts sensibility nach sich, es verdeutlicht stattdessen die zunehmende Kritik an einer patriarchalischen Tyrannei. Sensibility stellt hier einen äußerst fragilen Weltentwurf dar, der aber zumindest theoretisch die Möglichkeit bietet, inhumane Züge der patriarchalischen Gesellschaft zu überwinden. Entsprechend den Vorstellungen der Mädchenpädagogik wird der Frau hier die Aufgabe übertragen, als „Hüterin der Sitten“ der Gewissenlosigkeit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit entgegenzuwirken und stattdessen mit Tugend, Sanftmut und Sensibilität den code of delicacy zu verbreiten.

3.2 Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) Kaum mehr als ein Jahrzehnt nach Clarissa erscheint 1761 Jean-Jacques Rousseaus Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amants habitants d’une petite ville au pied des Alpes. Mit mindestens siebzig Auflagen bis zum Jahr 1800 zählt der Roman zweifellos zu den erfolgreichsten seines Jahrhunderts. In der Tat stellt La Nouvelle Héloïse ein geradezu typisches Beispiel für den französischen Roman des 18. Jahrhunderts dar: Thematisch werden hier die Natur und das Gefühl beschworen, dagegen erfährt das städtische Leben eine harsche Kritik, im Romanzusammenhang werden sowohl künstlerische, soziale, als auch philosophische Probleme diskutiert und auch Rousseaus Gebrauch der zeitgemäßen Erzählform des Briefromans zeugt von der Einbettung des Texts in zeitaktuelle

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Gepflogenheiten.115 Durch die multiple Perspektivität der Gattung Briefroman versieht Rousseau seine Charaktere und die von ihnen geschilderten Empfindungen mit einer außerordentlichen „Lebensechtheit“116, so stellt also auch die Natürlichkeit der Charaktere und der Handlung eines der grundsätzlichen Paradigmen des Rousseauschen Romans dar. Wie zuvor besprochen, eignet sich die Briefform in besonderer Weise dazu, subjektives Gefühlserleben beschreibbar zu machen. Dieser Intention, eine Rhetorik des Gefühls zu realisieren, folgt Rousseau nun durch seine Nouvelle Héloïse, stehen doch die Äußerungen aller Briefschreiber im „Dienst eines radikalen Affekt-Ausdrucks“117. Was die Handlung angeht, so lässt sie sich fast ebenso knapp skizzieren wie die Clarissas. Saint-Preux, ein bürgerlicher Intellektueller, verliebt sich in seine Schülerin, die adelige Julie d’Étange. Julie, die diese Liebe erwidert, lässt sich auf eine Affäre mit dem Hauslehrer ein, die Heirat der beiden scheitert jedoch am Widerstand von Julies Vater, dem standesbewussten Baron d’Étange. Dieser drängt seine Tochter zu einer Ehe mit dem wesentlich älteren Wolmar, in dessen Schuld er steht. Nach sechsjähriger Trennung kommt es zum Widersehen zwischen Julie und Saint-Preux in Clarens, dem Landgut der Wolmars. Beide, Julie und ihr ehemaliger Liebhaber, fühlen sich versucht, ihre Liebesbeziehung wieder aufzunehmen, widerstehen jedoch zunächst. Bevor es zum Ehebruch kommt, stirbt Julie an den Folgen einer Erkältung. In einem letzten Brief gesteht sie SaintPreux ihre Liebe, froh darüber, dass sie im diesseitigen Leben standhaft geblieben ist. Wie schon Richardson zentriert Rousseau seinen Roman um eine junge Frau von allseits gelobter Tugend. Anders als Clarissa willigt Julie jedoch in ihre Verführung ein und nimmt daran aktiven Anteil. Es finden sich eine Reihe leitmotivischer Parallelen zwischen Rousseaus Nouvelle Héloïse und Richardsons Clarissa, in der inhaltlichen Prägung unterscheiden sie sich allerdings oftmals voneinander, dies betrifft sowohl die Figurenkonstellation, als auch die Darstellung von bestimmten (Miss‑)Verhältnissen, wie beispielsweise das Aufeinandertreffen von bürgerlicher Ideologie mit feudalen Denkweisen.

115 Das bestätigt auch R. J. Howells. Vgl. R. J. Howells: Rousseau. Julie ou La Nouvelle Héloïse, London u. a.: Grant & Cutler 1986, S. 72. 116 Vgl. Hans Rudolf Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 1971, S. 72. 117 Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau: Rombach 1994 (= Rombach Wissenschaft; Reihe Litterae, Bd. 23), S. 140.



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3.2.1 Aristokratische Vernunft und bürgerliches Gefühl Zweifellos ist Jean Firges zuzustimmen, wenn er Rousseaus Denkstil als bipolar beschreibt.118 Sein gesamtes Werk scheint von der Betrachtung diverser Oppositionsparadigmen geprägt zu sein, was insbesondere Jean Starobinskis einflussreiche Studie La Transparence et l’obstacle belegt. Demnach zeugen Rousseaus Schriften immer wieder vom Scheitern an der angestrebten Transparenz und den Gründen dafür: Rousseau désire la communication et la transparence des cœurs, mais il est frustré dans son attente, et, choisissant la voie contraire, il accepte – et suscite – l’obstacle, qui lui permet de se replier dans la résignation passive et dans la certitude de son innocence.119

Diese Widerstände thematisiert der Autor auch im Rahmen seines Romans Julie ou La Nouvelle Héloïse. Der Text befasst sich demgemäß mit einer Reihe von Gegensätzen, von denen zunächst der Kontrast zwischen aristokratischem Vernunftdenken und dem bürgerlichen Gefühlsideal besprochen werden soll. Die Kollision von Aristokratie und Bourgeoisie nimmt im Roman einen hohen Stellenwert ein. Die Klassenzugehörigkeit der einzelnen Charaktere besitzt eine identitätskonstituierende Funktion. Während Saint-Preux die einzige Hauptfigur mit einem bürgerlichen Hintergrund ist, lässt sich das übrige Handlungspersonal auf der Seite des Adels verorten. Der Kontrast zwischen adeligen und bürgerlichen Werten tritt allerdings nirgends so eklatant hervor, wie anhand einer Gegenüberstellung Saint-Preuxs mit Julies Vater, dabei führt der Patriarch, M. d’Étange, auf eindringliche Weise das aristokratische Vernunftdenken vor, wohingegen Saint-Preuxs Weltanschauung von empfindsamen Werten geprägt ist. In der Tat könnten die Unterschiede zwischen den beiden Männern kaum größer sein, denn während Julies Vater als Baron in der Gesellschaft arriviert ist, steht SaintPreux buchstäblich vor dem Nichts: Er verfügt weder über eine nennenswerte Herkunft noch über Reichtum oder einflussreiche Beziehungen, alles was über seine Abstammung gesagt wird, ist dass sie „ehrlich“120 sei. Praktisch besitzt

118 Jean Firges: Jean-Jacques Rousseau. Julie oder die neue Héloïse. Briefe zweier Liebender aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Die Genese der bürgerlichen Ideologie, Annweiler am Trifels: Sonnenberg 2004 (= Exemplarische Reihe Literatur u. Philosophie, Bd. 18), S. 118. 119 Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La Transparence et l’obstacle. Sept essais sur Rousseau, Paris: Gallimard 1971, S. 10. 120 Julie berichtet Saint-Preux im 22. Brief des ersten Teils von einer Unterredung ihrer Eltern, während der M. d’Étange Erkundigungen über den Hauslehrer einzieht: „Ensuite, il s’est informé de votre fortune: on lui a dit qu’elle était médiocre; de votre naissance; on lui a dit qu’elle était

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die männliche Hauptfigur des Romans noch nicht einmal einen Namen121, was Anne Srabian de Fabry zu der Feststellung veranlasst, Saint-Preux sei ein Nichts: „Lorsqu’il entre en scene, Saint-Preux est de condition sociale inférieure à celle de tous les personnages importants du roman; sa vie affective est nulle, puisqu’il n’a ni parent, ni amante, ni amis; il n’a aucune gloire personnelle; il n’a même pas de nom; bref, il n’est rien.“122 Den Mangel an äußeren Empfehlungen kompensiert Julies Liebhaber jedoch mit einer Fülle charakterlicher Qualitäten. Eine dementsprechende Beschreibung Saint-Preuxs stammt von Mylord Edouard, einem Engländer, der sich als väterlicher Freund um Saint-Preuxs Wohlergehen sorgt. So ist es Mylord Edouard, der gegenüber M. d’Étange erstmals eine Heirat Julies mit dem Hauslehrer andeutet und in diesem Kontext den vorzüglichen Charakter seines Schützlings lobt: „Tous les dons qui ne dépendent pas des hommes, il les a reçus de la nature, et il y a ajouté tous les talents qui ont dépendu de lui. Il est jeune, grand, bien fait, robuste, adroit; il a de l’éducation, du sens, du mœurs, du courage: il a l’esprit orné, l’âme saine“.123 Damit bezeichnet Edouard SaintPreuxs „Adel des Herzens“ als Entsprechung zu M. d’Étanges Adel der Geburt. Der ausschlaggebende Unterschied zwischen den Angehörigen verschiedener Klassen – dies kritisiert der Sprecher äußerst scharf124 – liegt im Bereich finanzieller Vermögensverhältnisse. Während Geld für Julies Vater offenbar eine große Rolle spielt, drückt sich Saint-Preuxs sensibilité unter anderem in seiner Indifferenz gegenüber finanziellen Erwägungen aus. Von Julie erfährt der Leser, dass Saint-Preux eine Entlohnung seiner Lehrtätigkeit kategorisch ablehnt.125 Unab-

honnête. Ce mot honnête est fort équivoque à l’oreille d’un gentilhomme, et a exité des soupçons que l’éclaircissement a confirmés.“ Jean-Jacques Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amants habintants d’une petite ville au pied des Alpes, hg. v. Michel Launy, Paris: Garnier-Flammarion 1967, Partie I, Lettre 22, S. 42 (in Zukunft kurz: I, L22, S. 42). 121 Von Julies Vertrauter Claire erfahren wir, dass Saint-Preux nicht der richtige Name des Protagonisten ist. Wie dieser tatsächlich lautet, bleibt ungeklärt, stattdessen gebrauchen alle Figuren den angenommenen Namen. Vgl. ebd., III, L14, S. 243. 122 Anne Srabian de Fabry: Études autour de La Nouvelle Héloïse, Sherbrooke: Naaman 1977, S. 24. 123 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, I, L62, S. 113. 124 Dementsprechend schließt Mylord Edouard sein stellvertretendes Werben mit der provokativen Frage: „que lui manque-t-il donc pour mériter votre aveu? La fortune?“ Ebd. 125 Vgl. ebd., I, L22, S. 42. In diesem Zusammenhang äußert Lori Jo Marso eine interessante Beobachtung, laut der Saint-Preux seine Ehre durch die verweigerte Entlohnung bewahrt: „Were he to accept payment, he would be given the absurd responsibility of guarding Julie’s chastity, obviously impossible at this point.“ Lori Jo Marso: (Un)Manly Citizens. Jean-Jacques Rousseau’s and Germaine de Staël’s Subversive Women, Baltimore u. London: John Hopkins University Press 1999, S. 62.



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hängig von der Frage, mit welchen Mitteln er seinen Lebensunterhalt stattdessen bestreitet, wird die Haltung, laut der sich ein tugendhafter Mensch insbesondere dadurch auszeichnet, nicht käuflich zu sein, von Rousseau grundsätzlich unterstützt.126 Demgemäß trägt auch die Protagonistin die besagte Haltung mit und tadelt besitzliebende Menschen als „des âmes abjectes qui mettent l’honneur dans la richesse, et présent les vertus au poid de l’or“127. Julies Kritik betrifft insbesondere ihren Vater, der seine heiratsfähige Tochter zur Ware innerhalb eines Tauschhandels macht, analog zu den Plänen James Harlowes. Baron d’Étange arrangiert die Ehe seiner Tochter mit dem wesentlich älteren M. de Wolmar, um seine Schuld bei diesem zu begleichen. Julie reagiert darauf bestürzt: „Enfin mon père m’a donc vendue! il fait de sa fille une marchandise, une esclave! il s’acquitte à mes dépens! il paye sa vie de la mienne!... car, je le sens bien, je n’y survivrai jamais. Père barbare et dénaturé!“128 Der Umstand, dass es sich bei den Verpflichtungen des Vaters nicht um Geld handelt, sondern um eine ideelle, eine Ehrenschuld – d’Étange schuldet Wolmar sein Leben – spricht nicht gegen die grundsätzlich materielle Haltung des Barons. Der Wunsch seine Tochter mit dem ehemaligen Kriegskameraden Wolmar zu verheiraten, zeigt durchaus die Besorgnis d’Étanges um das finanzielle Wohlergehen seiner Familie, vor allem angesichts seines rigiden Widerstands gegen den mittellosen Saint-Preux. In der Tat erscheint d’Étange die Vorstellung, sein einziges Kind als Frau eines Bürgerlichen zu sehen, nahezu absurd, wie er Mylord Edouard gegenüber klarstellt: „Quoi! milord, [...] un homme d’honneur comme vous peut-il seulement penser que le dernier rejeton d’une famille illustre aille éteindre ou dégrader son nom dans celui d’un quidam sans asile et réduit à vivre d’aumônes?“129 Im Gegensatz dazu scheint Wolmar einen erheblich passenderen Schwiegersohn abzugeben: „M. de Wolmar est un homme d’une grande naissance, distingué par toutes les qualités qui peuvent la soutenir, qui jouit de la considération publique et qui la mérite.“130 Angesichts d’Étanges Haltung bezüglich der Familienehre, die er durch Saint-Preux gefährdet sieht und durch die Fürsprache für Wolmar zu sichern meint, verdeutlicht sich die Grundlage seines Ehrgefühls: Es beruht ausschließlich auf Äußerlichkeiten und die Einhaltung feststehender und nicht

126 Diese Anschauung Rousseaus fand bereits in Kapitel 2.2.2 Erwähnung: Unbestechlichkeit wird auch im Émile als oberster Grundsatz eines idealen Erziehers genannt: „On raisonne beaucoup sur les qualités d’un bon gouverneur: La prémiére que j’en éxigerois, est celle-là seule en suppose beaucoup d’autres, c’est de n’être point un homme à vendre.“ Rousseau: Émile, S. 263. 127 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, I, L17, S. 36. 128 Ebd., I, L28, S. 57. 129 Ebd., I, L62, S. 113. 130 Ebd., III, L18, S. 257.

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hinterfragter Grundsätze genügt, um diesem Ehrgefühl zu entsprechen. Rousseaus Attitüde demgegenüber spiegelt sich in der Einschätzung Mylord Edouards, der d’Étanges Vorbehalte schlichtweg als Eitelkeit bezeichnet.131 Dieses Handeln aufgrund oberflächlicher Kriterien, wie die Wertschätzung von Geld, Titel und Ansehen, lässt sich als beschränkte Form von Rationalität bezeichnen. In jedem Fall handelt es sich um eine äußerst kühle, kalkulierende Haltung, die Julies Vater repräsentiert. Sie widerspricht gänzlich der idealistischen Prägung von Empfindsamkeit, wie sie der mittellose aber integre SaintPreux zur Schau trägt. Insgesamt erweist sich die bourgeoise Gesinnung als aufgeschlossener, denn entgegen dem aristokratischen Standesdünkel ist sie bemüht, innere Werte über materielle Erwägungen zu stellen. Julie erweist sich als Grenzgängerin beider Seiten: Selbst Spross einer adeligen Familie, positioniert sie sich zunächst auf der Seite bürgerlicher Wertvorstellungen, indem sie durch ihre Affäre mit Saint-Preux ausschließlich ihre individuell-affektiven Bedürfnisse befriedigt, sie erkennt schließlich aber doch die väterlich-aristokratische Gesinnung an und leistet durch ihre Ehe mit Wolmar ihren Beitrag dazu, das äußere Ansehen ihrer Familie zu sichern. In der Zerrissenheit Julies zwischen ihren individuellen Bedürfnissen und den Erwartungen, wie sie patriarchalisch determinierte Lebensbedingungen an sie stellen, ist eine wesentliche Parallele zu Richardsons Clarissa zu verzeichnen. Beide Protagonistinnen sind Töchter im Haus eines regelrecht omnipotenten Patriarchen und in beiden Fällen versagt die schwache Mutter als Rollenvorbild.132 Stattdessen fokussieren beide Romane eine außerordentliche Vater-TochterBeziehung, wie Nancy Miller konstatiert: In Clarissa and La Nouvelle Héloïse, the family romance within which the „love stories“ are framed is a scenario that engages fathers and daughters. Julie’s first love, no less than Clarissa’s, is her father. For both heroines their drama is that desire – acknowledged or denied – threatens their place in the father’s house by the challenge it brings to their exemplary filiality, to their primary and privileged definition of self.133

Im Gegensatz allerdings zu Clarissa gelingt es Julie, den Status der pflichttreuen Tochter aufrechtzuerhalten, nicht nur ihrem Vater gegenüber. Mit ihrer Einwilligung in die Ehe mit Wolmar bestätigt Julie unmissverständlich ihre Subordination

131 Edouard spricht wörtlich von der „vanité d’un père barbare“. Ebd., II, L2, S. 134. 132 Über Madame d’Étange heißt es im ersten Brief Julies: „Ma mère est faible et sans autorité“. Ebd., I, L4, S. 15. 133 Nancy K. Miller: The Heroine’s Text. Readings in the French and English Novel 1722–1782, New York: Columbia University Press 1980, S. 96f.



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unter das patriarchalische Gebot, sie bleibt die Tochter ihres Vaters und doppelt das Vater-Tochter-Verhältnis zugleich, schließlich findet sich im Verhältnis der Ehegatten Julie und Wolmar eine Entsprechung des paternalen Machtgefüges, in dem Julie ihre Identität als Kind fortsetzt.134 Wolmars Vaterrolle verdeutlicht sich nicht nur anhand seines fortgeschrittenen Alters, sondern darüber hinaus auch angesichts seines Ordnungssinns und seiner (All‑)Gegenwart als Kontrollinstanz, wie Philip Stewart hervorhebt. Die Ehe der Wolmars, so Stewart, versinnbildlicht letztlich Julies Internalisierung des väterlichen Prinzips von Ordnung und Regelhaftigkeit.135 Tatsächlich scheint das Leben in Clarens, dem Weingut der Wolmars, grundsätzlich von Regeln bestimmt, Saint-Preux erstattet darüber ausführlich Bericht. Die Hausordnung der Wolmars und insbesondere ihr Umgang mit Dienstpersonal ist laut Jean Firges ein weiterer Spiegel der kritisierten patriarchalischen Ideologie, innerhalb derer der Benachteiligte die Notwendigkeit seine Benachteiligung anerkennen soll: „Man bemüht sich, die freie Zustimmung, ja sogar seine Zuneigung zu gewinnen, um aus ihm ein gefügiges Arbeitsinstrument zu machen.“136 Alles in allem porträtiert La Nouvelle Héloïse eine von Standesunterschieden geprägte Welt. Dem Patriarchat eines stolzen Adels, der seine Prinzipien aus vermeintlichen Vernunftgründen bezieht, stellt sich die empfindsame Geisteshaltung entgegen, die weniger um formale bzw. äußerliche Fragen bemüht ist als um ideelle. Zwar ist die von Rousseau vertretene sensiblité aufgrund seines vehementesten Repräsentanten Saint-Preux als Konzept eines bourgeoisen Weltbilds greifbar, Figuren wie Julie und Lord Edouard verdeutlichen jedoch das klassenübergreifende Potenzial des entsprechenden Habitus.

134 Julies Affinität zum Status des Kindes, eine weitere Parallele zu Richardsons Romanheldin, wird insbesondere von Claire aufgegriffen, die ihr eigenes der Mutterrolle entsprechendes Verhalten dem der Freundin gegenüberstellt: „C’est mon métier de quereller, j’y prends plaisir, je m’en acquitte à merveille, et cela me va très bien; mais toi, tu y es gauche on ne peut davantage, et ce n’est point du tout ton fait. En revanche, si tu savais combien tu as de grâce à avoir tort, combien ton air confus et ton œil suppliant te rendent charmante, au lieu de gronder tu passerais ta vie à demander pardon, sinon par devoir, au moins par coquetterie.“ Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, IV, L8, S. 323. 135 Vgl. Philip Stewart: Half-Told Tales. Dilemmas of Meaning in Three French Novels, Chapel Hill: University of North Carolina Department of Romance Languages 1987 (= North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures, Bd. 228), S. 146. 136 Firges: Jean-Jacques Rousseau. Julie oder die neue Héloïse, S. 100.

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3.2.2 Natur und Kultur Die Vorstellung von einem ursprünglichen Naturzustand, zu dem es für den durch die Zivilisation korrumpierten Menschen zurückzukehren gilt, durchzieht Rousseaus gesamtes Werk. Generell stellt die Rousseausche Naturkonzeption ein breites Forschungsfeld dar, dem ich an dieser Stelle keinesfalls gerecht werden kann. In der folgenden Betrachtung der Antithese von Natur und Kultur beschränke ich mich entsprechend ausschließlich auf den Kontext der Nouvelle Héloïse. Die Opposition von Natur und Kultur kündigt sich bereits im Untertitel des Romans an, mit dem Zusatz „Lettres des deux amants habitants d’une petite ville au pied des Alpes“ trifft der Autor eine relativ präzise Beschreibung des Hintergrunds der Romanhandlung, die eben nicht in Paris oder einer anderen Großstadt stattfindet, sondern in der ländlichen Idylle der Alpenlandschaft. Wie Jean Firges richtig konstatiert, assoziiert Rousseau mit dem Widerspruch von Natur und Kultur gleichsam ein zweites Oppositionsparadigma, nämlich das von Laster und Tugend, wobei das Laster an das großstädtische Leben und die Tugend an den ländlichen Raum gekoppelt ist.137 Stellvertretend für die städtischen Übel wird vor allem das Pariser Leben thematisiert. Saint-Preux, der im Laufe des zweiten Teils einige Zeit in Paris verbringt – nachdem Lord Edouards Versuch, die Heirat von Julie und Saint-Preux zu forcieren, gescheitert ist – erstattet seiner Geliebten in mehreren Briefen Bericht vom mondänen Leben der Hauptstadt. Rousseaus Ablehnung demgegenüber offenbart sich bereits anhand der einleitenden Erklärung des Protagonisten: „J’entre avec un secrète horreur dans ce vaste désert du monde.“138 Erwartungsgemäß tadelt Saint-Preux im Folgenden die oberflächliche Geselligkeit und Sensationslust der Pariser und formuliert fragend seine Missbilligung: „Qui reste-t-il à blâmer où la vertu n’est plus estimée et de quoi médirait-on quand on ne trouve plus de mal à rien?“139 Vor allem konstatiert er einen Mangel an echter Empfindsamkeit und Tugendliebe, obwohl, wie der Briefschreiber einräumt, von keinem Thema häufiger gesprochen wird. Malgré cette avilissante doctrine, un des sujets favoris de ces plaisibles entretiens, c’est le sentiment; mot par lequel il ne faut pas entendre un épanchement affectueux dans le sein de l’amour ou de l’amitié, cela serait d’une fadeur à mourrir; c’est le sentiment mis en grandes maximes générales, et quint-essencié par tout ce que la métaphysique a de plus

137 Vgl. ebd., S. 53. 138 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, II, L14, S. 163. 139 Ebd., II, L17, S. 176.



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subtil. Je puis dire n’avoir de ma vie ouï tant parler du sentiment, ni si peu compris ce qu’on en disait.140

Ironisch fügt Saint Preux hinzu: „O Julie! nos cœurs grossiers n’ont jamais rien su de toutes ces belles maximes; et j’ai peur qu’il n’en soit du sentiment chez les gens du monde comme d’Homère chez les pédants qui lui forgent mille beautés chimériques, faute d’apercevoir les véritables.“141 In einem weiteren Brief dehnt sich die Kritik Saint-Preuxs auf die Pariser Frauen aus, deren Freizügigkeit er angreift. So wird im 21. Brief ausführlich die äußere Erscheinung und das Benehmen der Pariser Damen beschrieben. Dabei kritisiert Saint-Preux insbesondere ihren Umgang mit Mode und Schminke, den er zu Julies bescheidenem Auftreten in Bezug setzt: Cette pudeur charmante qui distingue, honore et embellit ton sexe, leur a paru vile et roturière; elles [les Parisiennes] ont animé leur geste et leur propos d’une noble impudence; et il n’y a point d’hônnete omme à qui leur regard assuré ne fasse baisser les yeux. C’est ainsi que cessant d’être femmes, de peur d’être confondues avec les autres femmes, elles préfèrent leur rang à leur sexe, et imitent les filles de jouie, afin de n’être pas imitées.142

Insgesamt spiegelt die Darstellung des Pariser Lebens, mit der Betonung auf dessen Oberflächlichkeit und Lasterhaftigkeit, den Wert des Einfachen und Natürlichen. Wahre sensibilité ist demzufolge nur fernab zivilisatorischer Ballungszentren zu finden, in der ländlichen Idylle, wo sich die menschliche Natur ungekünstelt und frei von Eitelkeiten entfalten kann. Analog zu der Koppelung von menschlicher Eitelkeit und Oberflächlichkeit an den städtischen Raum, assoziiert Rousseau in seinem Roman die Abgeschiedenheit der Natur mit pureté und sincérité. Vor der Folie eindrucksvoller Landschaften und heftiger Naturgewalten werden so die Bewegungen der menschlichen Seele dargestellt, wobei die Natur dem Empfindsamen stets als Zufluchtsort dient bzw. als „Asyl für sublime Freuden“143, wie Jürgen Söring es formuliert. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Ausschnitte zu nennen, die wohl als Schlüsselszenen des Romans gelten dürfen, der Aufenthalt Saint-Preuxs und der Wolmars in Julies Garten, dem sogenannten Elysium, sowie die Bootsfahrt Julies

140 Ebd., S. 177. 141 Ebd. 142 Ebd., II, L21, S. 191. 143 Jürgen Söring: „‚Natürliche Dialektik‘ – Von den Kehrseiten Rousseaus“, in: Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur, hg. v. Jürgen Söring u. Peter Grasser, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1999, S. 12.

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mit ihrem ehemaligen Liebhaber auf dem Genfer See. Saint-Preuxs Bericht vom Spaziergang durch das Elysée lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Ort einen nachhaltigen Eindruck bei dem Protagonisten hinterlässt. Den Stellenwert dieses Gartens veranschaulicht bereits das Gebaren seiner Besitzer, die ein regelrechtes Geheimnis um diesen Ort machen und ihn zunächst wie ein Heiligtum vor Eindringlingen schützen. Auch Saint-Preux muss einige Zeit warten, bevor ihm Zutritt zum Elysium gewährt wird: „Il y avait plusieurs jours que j’entendaus parler de cet Elysée dont on me faisait une espèce de mystère. Enfin hier après dîner, l’extrême chaleur rendant le dehors et le dedans de la maison presque également insupportables, M. de Wolmar proposa à sa femme de se donner congé, cet après-midi, et, [...] de venir avec nous respirer dans le verger“144. Der Obstgarten stellt sich dem Protagonisten als ein abgeschiedener, ja abgeschlossener Raum dar, in den sich seine Besucher vollkommen zurückziehen können.145 Saint-Preux schildert in seinem Brief die Ergriffenheit, die sich seiner beim Betreten des Elysiums bemächtigte: En entrant dans ce prétendu verger, je fus frappé d’une agréable sensation de fraîcheur que d’obscurs ombrages, une verdure animée et vive, des fleurs éparses de tous côtés, un gazouillement d’eau courante, et le chant de mille oiseaux, portèrent à mon imagination du moint autant qu’à mes sens; mais en même temps je crus voir le lieu le plus sauvage, le plus solitaire de la nature, et il me semlait d’être le premier mortel qui jamais eût pénétré dans ce désert. Surpris, saisi, transporté d’un spectacle si peut prévu, je restai un moment immobile, et m’écriai dans un enthousiasme involontaire: „O Tinian! ô Juan-Fernandez! Julie, le bout du monde est à votre porte!“146

Während hier einerseits die Rückkehr zur bzw. das Zurückziehen in die Natur beschworen wird, immerhin erhält Julie Saint-Preuxs Lob für die Gestaltung ihres Obstgartens, ist der menschliche Einfluss, also das Einbrechen der Zivilisation in die natürliche Idylle, andererseits unverkennbar. Wie Saint-Preux in seinem Bericht kritisiert, handelt es sich bei der natürlichen Verwilderung des Gartens nur um eine scheinbare Vernachlässigung. Das Elysée präsentiert eine konstruierte Natürlichkeit, sind doch die Bemühungen der Wolmars, jedes Anzeichen einer gezielten Kultivierung zu verwischen, nur allzu offensichtlich. Laut R.  J. Howells formuliert Rousseaus Roman die Opposition von Natur und Kultur als Paradoxon: Während Julie im Schoße der Gesellschaft glücklich, weil von ihrer

144 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, IV, L11, S. 353. 145 Tatsächlich ist von der Abgeschlossenheit des Elysée wörtlich die Rede: „L’épais feuillage qui l’environne ne permet point à l’œil d’y pénétrer, et il est toujours soigneusement ferme à clef.“ Ebd. 146 Ebd.



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Leidenschaft geheilt, ist, bezieht sie die Fähigkeit glücklich zu sein und den Willen geheilt zu werden aus der Natur.147 Anhand des Elysées lässt sich dieses paradoxe Verhältnis auch umkehren, denn während die Womars größten Wert auf die Ungezwungenheit ihres Gartens legen und somit seine Natürlichkeit betonen, übersehen sie, dass diese künstlich herbeigeführt ist. Die Trennung von Natur und Kultur wird durch Julies Obstgarten prägnant versinnbildlicht: Als scheinbare Oase der Natur inmitten der zivilisatorisch regulierten Hausordnung hebt der Ort die Trennung nicht auf, sondern unterstützt sie. Auf eine echte und ursprüngliche Natur treffen Julie und Saint-Preux bei ihrer Bootsfahrt auf dem Genfer See. Die Abwesenheit M. de Womars lässt diesen Ausflug zu einer Bewährungsprobe für die ehemaligen Liebenden werden. Vor dem Hintergrund der rauen Alpenlandschaft ringen die Figuren kurzzeitig um ihre Beherrschung und kämpfen mit ihren Empfindungen. Ein Sturm zwingt Julie und Saint-Preux dazu, einige Zeit in Meillerie zu verbringen, dem Ort, an den Saint-Preux einst von seiner Geliebten geschickt wurde. Die Interdependenz von Landschaft und den durch diese ausgelösten Gefühlen beschreibt Saint-Preux wie folgt: Ce lieu solitaire formait un réduit sauvage et désert, mais plein de ces sortes de beautés qui ne plaisent qu’aux âmes sensibles, et paraissent horribles aux autres. Un torrent formé par la fonte des neiges roulait à vingt pas de nous une eau bourbeuse, charriait avec bruit du limon, du sables et des pierres. Derrière nous une chaîne de roches inaccessibles séparait l’esplanade où nous étions de cette partie des Alpes qu’on nomme les Glacières, parce que d’énormes sommets de glace qui s’accroissent incessamment les couvrent depuis le commencement du monde. Des forêts de noir sapins nous ombrageaient tristement à droite. Un grand bois de chênes était à gauche au-delà du torrent; et au-dessous de nous cette immense plaine d’eau que le lac forme au sein des Alpes nous séparait des riches côtes du pays de Vaud, dont la cime du majestueux Jura couronnait le tableau.148

Saint-Preux fährt fort, indem er die ruhigere Gegend des Ufers beschreibt: Au milieu de ces grands et superbes objets, le petit terrain où nous étions étalait les charmes d’un séjour riant er champêtre; quelques ruisseaux filtraient à travers les rochers, et roulaient sur la verdure en filets de cristal; quelques arbres fruitiers sauvages penchaient leurs têtes sur les nôtres; la terre humide et fraîche était couverte d’herbe et de fleurs. En comparant un si doux séjour aux objets qui l’environnaient, il semblait que ce lieu dût être l’asile de deux amants échappés seuls au boulversement de la nature.149

147 Vgl. Howells: Rousseau. Julie, ou La Nouvelle Héloïse, S. 46. 148 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, IV, L17, S. 389. 149 Ebd.

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Dieses Naturschauspiel und die daran gebundenen Erinnerungen vereinen sich laut Wolfgang Matzat zu einem symbolischen Komplex: „Es zeichnet sich hier also die romantische Korrespondenz zwischen Mensch und Landschaft ab, bei der ein seelischer Innenbereich diesseits des gesellschaftlichen Rollenverhaltens in einer jenseits der Gesellschaft sich erstreckenden Natur seine Entsprechung findet.“150 Tatsächlich wirkt die Landschaft in eben dieser Weise auf Saint-Preux, er wird wieder zu einem Liebenden und zeigt Julie die Orte, die er mit Erinnerungen an die frühere Liebe verknüpft. Dieses Zurückdenken stürzt Saint-Preux als auch Julie angesichts des zukünftigen Verzichts in tiefe Verzweiflung, die dadurch aufgelöst wird, dass die beiden sich widerstehend immerhin ihr gegenseitiges Verständnis beteuern. So berichtet Saint-Preux: „Quand je me trouvai bien remis, je revins auprès de Julie; je repris sa main. Elle tenait son mouchoir; je le sentis fort mouillé. ,Ah! lui dis-je tout bas, je vois que nos cœurs n’ont jamais cessé de s’entendre! – Il est vrai, dit-elle d’une voix altrérée; mais que ce soit la dernière fois qu’ils auront parlé sur ce ton.‘“151 Der Brief endet mit dem Lob von Julies Standhaftigkeit: „Combien de gens sont faiblement tentés et succombent? Pour Julie, mes yeux le virent et mon cœur le sentit: elle soutint ce jour-là le plus grand combat qu’âme humanine ait pu soutenir; elle vainquit pourtant.“152 Damit ist Julies Tugend endgültig belegt, gleichzeitig aber auch ihre Liebesfähigkeit: Zwar zeigt sich die Heldin empfänglich für die Eindrücke der Natur – was sie nach Saint-Preuxs Auslegung als âme sensible qualifiziert – sie widersteht ihren somit entfesselten Empfindungen aber. Die Naturdarstellung dieser Episode verdeutlicht die enorme Wirkung, die Rousseau der Natur zuschreibt: Sie bringt das Innerste der Protagonisten zum Vorschein und erweist sich als Prüfstein für Empfindsamkeit und Tugend. In diesem Sinne ist Hans Rudolf Picard Recht zu geben, der in Rousseaus Naturkonzeption ein Humanitätsideal erkennt. Die natürliche Idylle ist modellhaft, sie repräsentiert das, was sein kann und soll auf die sie belebenden Figuren reformierend wirken.153 Zweifellos schreibt Rousseau der Natur damit ein außerordentliches Potenzial zu, er sieht sie gleichsam als Spiegel und Motor empfindsamer Regungen, die inmitten des gesellschaftlichen Lebens manipuliert oder unterdrückt würden. Wie Walburga Hülk herausstellt, erweist sich Rousseaus Naturdarstellung für die

150 Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen: Narr 1990 (= Romanica Monacensia, Bd. 35), S. 83. 151 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, IV, L17, S. 392. 152 Ebd. 153 Vgl. Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, S. 73.



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Handlungsebene insofern als Spiegel, als die unbezwingbare Berglandschaft die Passion der Liebenden wiedergibt, während die Abgeschiedenheit des Elysées Julies Versuch repräsentiert, in ihrer Ehe eine sentimentalische Idylle zu verwirklichen.154 Mit dieser Darstellung der Korrespondenz zwischen Naturschauspiel und Bewegungen der Seele begründet Rousseau nahezu eine literarische Tradition und wirkt stilbildend auf die folgende Schriftstellegeneration.155

3.2.3 Leidenschaft der Tugend und Leidenschaft der Liebe Eine ebenso zentrale Rolle wie das Paradigma der Natur, das La Nouvelle Héloïse nahezu leitmotivisch prägt, spielen die Begriffe Tugend und Leidenschaft. Obschon ich Firges Auffassung von Rousseaus bipolarem Denkstil grundsätzlich zustimme, liegt m. E. mit dem Begriffspaar Tugend/Leidenschaft lediglich eine scheinbare Opposition vor. Das Bestreben der Protagonisten Julie und SaintPreux, beiden Vorstellungen zu entsprechen, führt ausschließlich insofern zur jeweiligen Kollision eines Pols mit dem anderen, als man unter Tugend einen konventionell geprägten Begriff versteht. So konfligiert Julies passion durchaus mit dem, was etwa ihr Vater unter Tugend versteht, also der Anpassung an ständestaatliche Normen und Werte.156 Im Rahmen des Rousseauschen Empfindsamkeitsideals vereinen sich jedoch passion und raison der Heldin in dem Konzept der vertu.157 Um sich demnach als empfindsame Seelen, als belles âmes, zu zeigen, müssen sich Rousseaus Figuren sowohl als leidenschaftlich zu erkennen

154 Vgl. Walburga Hülk: „Jean-Jacques Rousseau, Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) und Les Confessions (1782/1789)“, in: 18. Jahrhundert. Roman, hg. v. Dietmar Rieger, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 177. 155 In dieser Hinsicht verweist Philippe van Tieghem auf die Vorromantiker Baculard d’Arnaud, Nicolas-Germain Léonard und Loaisel de Tréogate. Vgl. Philippe van Tieghem: La Nouvelle Héloïse de Jean-Jacques Rousseau, Paris: Librairie Nizet 1956, S. 130. Marlis Lemberg-Welfonder legt dar, dass sich in Rousseaus Naturauffassung das Naturgefühl Thomsons mit Richardsons sensibility verbindet. Vgl. Marlis Lemberg-Welfonder: Ann Radcliffes Beitrag zur englischen RousseauRezeption im Zeitalter der französischen Revolution, Diss. masch. Heidelberg 1989, S. 34. 156 Laut Walburga Hülk versteht sich die gesellschaftliche Konvention, deren Vertreter Julies Vater ist, als eine „naturgemäße Vernunft“, mit der die Liebenden Julie und Saint-Preux in Konflikt geraten. Vgl. Hülk: „Jean-Jacques Rousseau, Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) und Les Confessions (1782/1789)“, S. 186. 157 Ähnlich argumentiert z. B. Gislinde Seybert, die von Rousseaus Hoffnung spricht, die Vernunft möge die Leidenschaft positiv beeinflussen. Vgl. Gislinde Seybert: Liebe als Fiktion. Studien zu einer Literaturgeschichte der Liebe, Bielefeld: Aisthesis 1995, S. 28.

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geben, wie auch als tugendhaft, indem sie diese Leidenschaft durch rationale Impulse mäßigen. Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Julie und Saint-Preux, denn während letzterer sich nahezu ausschließlich seinen passions verschreibt, bemüht sich die Protagonistin durchaus um einen Ausgleich zwischen Leidenschaft und Vernunft. Wie gesehen, zeichnet sich Saint-Preux vor allem durch seine Immunität gegenüber materiellen Angelegenheiten aus. Seine Tugend ist demnach gleichzusetzen mit Reinheit im Sinne von Unbestechlichkeit. Was Julie betrifft, so lässt sich zwar nicht umstandslos dasselbe behaupten – immerhin trübt der Verlust der Unschuld ihre sexuelle und sittliche Reinheit –, allerdings kann auch sie als tugendhaft gelten, indem sie sich durch ihre Heirat den väterlichen Setzungen unterwirft. Ähnlich wie in Bezug auf Rousseaus Konzeption des Natur/Kultur-Paradigmas bezeichnet sein Tugendbegriff ein Ideal, also die Vorstellung, was sein könnte. In diesem Sinne verdient Julie also durchaus die Charakterisierung „tugendhaft“, denn im Bewusstsein des Ideals erkennt sie ihre eigene Schuld. Raison wird dahingehend zur Maxime für Julies Handeln, als sie die Ausweglosigkeit einer übersteigerten Affektivität erkennt und diese einer Anpassung an kollektive Normen unterzieht. Mit dem Gewissen entwirft Rousseau eine Art intuitives moralisches Urteilsvermögen, das die essenzielle Komponente des empfindsamen Menschen darstellt.158 Jean Firges beschreibt diese Verquickung von moralischer Bewertung und emotionalen Impulsen, was also aktuell unter dem Stichwort „emotionale Intelligenz“ kursiert, wie folgt: Alle Regeln eines gottgefälligen Lebens sind von Natur unauslöschlich im menschlichen Herzen eingeschrieben. Das Herz hat eine Stimme, die den Menschen in seinem Handeln leitet: das Gewissen. Die Ratschläge des Gewissens sind keine Urteile, sondern Gefühle. Das Gefühl ist dem Verstand überlegen. Das Gefühl kann nicht irren. Es verhält sich zum Herzen wie der Instinkt zum Körper.159

Tugend ist somit das Ergebnis von Emotion und Ratio: Der sensible Mensch bezieht jedwede handlungsleitenden Maximen und Maßstäbe aus seinen Gefühlen, ist aber zugleich in der Lage, seine Emotionalität zugunsten des Gemeinwohls zu regulieren.

158 Dass Rousseaus Begriff des Gewissens, der sich als Korrelat von natürlichem Gefühl und Vernunft kennzeichnen lässt, die maßgebende Instanz Julies ist, hat Jutta Osinski dargestellt. Vgl. Jutta Osinski: „Zum rousseauistischen Tugendbegriff in Sophie von La Roches SternheimRoman“, in: „Ach wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften.“ Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit, hg. v. Gudrun Loster-Schneider u. Barbara Becker-Cantarino, Tübingen: Francke 2010, S. 60 u. S. 64. 159 Firges: Jean-Jacques Rousseau. Julie oder die neue Héloïse, S. 36.



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Leidenschaft, wie sie die Nouvelle Héloïse porträtiert, ist ein sichtbares Zeichen einer generellen Empfänglichkeit für Emotionen, jenseits aller Regulierungen und Zwänge. Wer leidenschaftlich ist oder handelt, misst dem Chaos der eigenen Gefühle höheren Wert bei als gesellschaftlichen Setzungen, oder wie in Julies Fall den Setzungen der patriarchalen Ordnung. Der chaotische Charakter von Julies Liebe zu Saint-Preux verdeutlicht sich im Kontrast zu ihrer Ehe, die Glück durch Ordnung, Fleiß und Redlichkeit verspricht.160 In dieser Ehe treffen augenscheinlich zwei vollkommen gegensätzliche Personen aufeinander, die sich eben dadurch jedoch perfekt ergänzen. Während wir von Wolmar wissen, dass er ein rationaler Beobachter ist, der selbst von seinem kalten Herzen spricht,161 ist Julie mit einer äußerst lebhaften Gefühlswelt ausgestattet und kennt – zumindest aus der Sicht Saint-Preuxs – keine andere Richtschnur als ihr Herz.162 Die Verbindung Julies mit Wolmar, initiiert von Baron d’Étange, stellt sich als eine reine Vernunftehe dar und wird auch so von der Protagonistin beschrieben: Pour M. de Wolmar, nulle illusion ne nous prévient l’un pour l’autre: nous nous voyons tels que nous sommes; le sentiment que nous joint n’est point l’aveugle transport des cœurs passionés, mais l’immuable et constant attachement de deux personnes honnêtes et raisonnables, qui, destinées à passer ensemble le reste de leur jours, sont contentes de leur sort, et tâchent de se le rendre doux l’un à l’autre.163

Die hier beschriebene konstante Zuneigung wird als das exakte Gegenteil leidenschaftlicher, unbeständiger und unbeherrschter Liebe von Julie als Basis einer funktionierenden Ehe betrachtet, ebenso wie die charakterliche Komplementarität der Ehepartner: S’il [M. de Wolmar] avait le cœur aussi tendre que moi, il serait impossible que tant de sensibilité de part et d’autre ne se heurtât quelquefois, et qu’il n’en résultât des querelles. Si j’etais aussi tranquille que lui, trop de froideur régnerait entre nous, et rendrait la société moins agréable et moins douce. […] Chacun des deux est précisement ce qu’il faut à l’autre; il m’éclaire et je l’anime; nous en valois mieux réunis, et il semble que nous soyons destinés à ne faire entre nous qu’une seule âme, dont il est l’entendement et moi la volonté.164

160 Vgl. ebd., S. 74. 161 Tatsächlich sagt Wolmar von sich selbst: „J’ai naturellement l’âme tranquille et le cœur froid.“ Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, IV, L12, S. 368. 162 Vgl. ebd., V, L2, S. 401. 163 Ebd., III, L 20, S. 275. 164 Ebd., S. 275f.

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Dieses Bekenntnis der Heldin bestätigt die Wahl ihres Vaters, denn was Julie hier zugleich impliziert, ist, dass eine Ehe zwischen ihr und Saint-Preux, zwei übereinstimmend empfindsamen Menschen, keinen Erfolg hätte haben können. Die von Laurence Lerner beschriebene Unvereinbarkeit von ehelicher und romantischer Liebe wird in Rousseaus Roman insbesondere durch die Figur Saint-Preuxs illustriert. Als „Sklave seiner Leidenschaften“165 ist dieser denkbar wenig geeignet für die Ehe, die auf grundsätzlich anderen Prinzipien beruht als die romantische, leidenschaftliche Liebe.166 In der Tat prägt das Attribut der Leidenschaft Saint-Preux so nachhaltig, dass er der ewige Junggeselle bleiben muss, auch eine sich anbahnende Ehe mit Claire scheitert. Saint-Preux lebt ganz und gar in der Welt der Emotionen und liefert sich diesen bedingungslos aus, was sich vor allem innerhalb seiner Beziehung zu Julie äußert. Im Verhältnis der beiden Liebenden zueinander übernimmt Julie die Führung, sie plant sämtliche Treffen und gebietet über die Mobilität Saint-Preuxs, der ihr wiederum bereitwillig folgt. Saint-Preux überträgt Julie nicht nur die Verantwortung für ihre Beziehung, sondern auch die für sein Leben, so schreibt er im 12. Brief: „Dès cet instant je vous remets pour ma vie l’empire de mes volontés“167. Später konstatiert er seine Abhängigkeit von der Geliebten nochmals, indem er Lord Edouard gegenüber bemerkt, die ganze Welt drehe sich für ihn einzig um Julie: „Le monde n’est jamais divisé pour moi qu’en deux régions: celle où elle est, et celle où elle n’est pas.“168 Der Umstand, dass Julie die Beziehung lenkend bestimmt, weist zugleich auf ihre sexuelle Aktivität hin. Mit außerordentlicher Souveränität sucht sie die Orte ihrer Treffen aus und fädelt so nicht nur den ersten Kuss ein, sondern arrangiert auch die Möglichkeit, gemeinsam eine Nacht zu verbringen. Sie plant und dirigiert die Affäre, hier tritt sie viel stärker als Wille und Motor auf als im Kontext ihrer Ehe, innerhalb derer sie sich wie oben gesehen schließlich auch als „volonté“ betrachtet. Stattdessen untersteht Julie als Ehefrau in einem kindähnlichen Status dem Patriarchen Wolmar, nun ist sie es, die angeleitet und dirigiert, ja domestiziert, wird. Lori Jo Marso sieht in dieser Entwicklung den grundsätzlichen Verdacht Rousseaus gegen Frauen bestätigt, wonach

165 Dieses Etikett stammt von Lord Edouard, der von „vos passions, dont vous fûtes longtemps l’esclave“ spricht. Vgl. ebd., V, L1, S. 396. 166 Lerner veranschaulicht die Gegensätzlichkeit von romantischer und ehelicher Liebe in tabellarischer Form und nennt auf der Seite des amour passion die Kriterien Irrationalität, Verschwiegenheit und statischen Charakter, wohingegen sich die eheliche Liebe als rational, öffentlich be- und anerkannt sowie als entwicklungsfähig kennzeichnen lässt. Vgl. Lerner: Love and Marriage, S. 122. 167 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, I, L12, S. 28. 168 Ebd., IV, L6, S. 313.



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diese – verantwortlich für das Begehren der Männer – eine Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft darstellen und daher durch den Prozess des Domestizierens kontrolliert werden müssen.169 Ob die Gefahr tatsächlich auf Seiten des männlichen Begehrens liegt, ist jedoch in Zweifel zu ziehen, schließlich rückt durch die voreheliche Initiative der Heldin vor allem weibliche Leidenschaftlichkeit in den Blickpunkt. Die Ordnung der Wolmarschen Ehe muss also vielmehr als Kontrollinstanz für die potenzielle Bedrohung weiblichen Begehrens gesehen werden. Insgesamt stehen Tugend und Leidenschaftlichkeit gleichrangig nebeneinander. Die Identifikationsfiguren des Romans, Julie und Saint-Preux, kommen nicht ohne Tugend und Leidenschaft aus, insofern schließen sich die Konzepte also nicht aus. Stattdessen handelt es sich um zwei Komponenten einer Haltung: Sowohl Tugend als auch Leidenschaft basieren laut Rousseau auf erhöhter emotionaler Sensibilität und zeichnen ihre Träger zunächst einmal aus. Angesichts gesellschaftlich determinierter Vorstellungen von Tugend, erweist es sich für Julie und Saint-Preux dennoch als schwierig, beiden Prinzipien zu genügen. Laut Roland Galle wird die Vereinbarkeit von amour und vertu, die im höfischen Diskurs des 17. Jahrhunderts noch problemlos gelang, in der bürgerlichen Gesellschaft zum Problem, obwohl Rousseau vorführt, dass Leidenschaft und identitätsbildende Norm nicht gegeneinander opponieren, sondern sich gegenseitig stützen.170 Die eigentliche Opposition ist etwas komplexer und lässt sich in den Worten Hermann Gellers als „Leidenschaft der Tugend gegen Leidenschaft der Liebe“171 formulieren. Gemeint ist damit der Unterschied zwischen Denken und Handeln. Zwar fühlen Julie und Saint-Preux die Schwierigkeit, der Tugend zu gehorchen und ihren Leidenschaften zu widerstehen, d. h. sie sind durchaus in Versuchung, allerdings bleibt es bei einem erwogenen Ehebruch. Wären die Liebenden bei ihrem Ausflug zum Genfer See tatsächlich schwach geworden, so hätten sie sich zur Leidenschaft der Liebe bekannt. Indem sie aber standhaft bleiben, nehmen sie ihre leidenschaftlichen Gefühle zwar wahr – empfindsam wie sie sind – es bleibt jedoch beim gedanklichen Fehltritt, ihr Handeln bleibt der Tugend verhaftet.

169 Vgl. Marso: (Un)Manly Citizens, S. 17. 170 Roland Galle: Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik, München: Fink 1986 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 72), S. 66. 171 Hermann Geller: Die Funktion der Geständnisse in Rousseaus „La Nouvelle Héloise“, Diss. masch. Bonn 1964, S. 85.

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3.2.4 Geständnisse: Die Schuld und ihr Ausweg Wie besprochen zeigt sich das Genre des Briefromans in besonderer Weise geeignet dazu, menschliche Empfindungen und Stimmungen abzubilden und somit eine in der Literatur neue Form der Subjektivität darzustellen. In der intimen Kommunikationssituation des Briefes legen die Figuren einander ihr Innenleben dar und gewähren damit dem Leser die Illusion, Charakter und Beweggründe der Protagonisten genau beurteilen zu können. Ein wesentliches dem Code der Subjektivität entsprechendes Mittel des Autors, das Wesen seiner Figuren zu enthüllen, besteht darin, sie Geständnisse machen zu lassen. Laut Hermann Geller bilden diese Geständnisse das wohl wichtigste Strukturmerkmal des Romans: So sind die Geständnisse Stufen, auf denen die Haupthandlung des Romans erhoben, immer wieder aufgehoben wird, um auf höherer Ebene neu zu beginnen. Es sind die Stufen einer immer erneuten Überwindung. Auf ihnen erhebt sich Julie von der ersten vagen Verliebtheit zur ersten reinen Jugendliebe, von der Verzweiflung über den Verlust ihrer Unschuld zu einer in Schuld und Glück verstrickten Liebe, von Zweifeln und Verlassenheit zur völligen, über jede Eifersucht erhabenen Gewißheit, von dieser geläuterten Liebe zu Ehe, Mutterliebe, Verzicht und idealer Freundschaft, schließlich von idealer Ehe und idealer Freundschaft zu einer in der Sphäre des Absoluten endgültig gewonnenen Liebe ohne Verzicht. Die Geständnisse geben also durch ihre Stufenwirkung der Handlung ihre besondere Spannweite.172

Auch Roland Galle geht der funktionalen Dimension des Geständnisses nach, indem er das aveu jedoch als Medium eines bestimmten Codes betrachtet, dem der Subjektivität. Demnach bieten Geständnisstruktur und Liebeserfahrung in Rousseaus Nouvelle Héloïse und damit der Modus der sincérité den geeigneten Zusammenhang dafür, das Bild der Subjektivität im französischen Roman des 18. Jahrhunderts herauszustellen.173 Sowohl Geller als auch Galle ist sicherlich Recht zu geben, die Geständnisse der Nouvelle Héloïse wirken als Markierungs- und Wendepunkte strukturierend auf den Handlungszusammenhang und verdeutlichen darüber hinaus durch ihre Einbettung in den Diskurs der sincérité das Subjektivitätsideal des 18. Jahrhunderts. Sie illustrieren aber auch – und dies weist den Weg zu meiner Fragestellung – die konfligierenden Impulse der Heldin. Mittels des Geständnisses bekennt Julie ihr Einverständnis mit den handlungsleitenden Prinzipien des Empfängers, das Geständnis ist für die Protagonistin also gleichsam der Versuch einer Anpassung an die jeweils vorherrschende

172 Ebd., S. 50. 173 Vgl. Galle: Geständnis und Subjektivität, S. 63.



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Norm. Tatsächlich enthält bereits der erste Brief Julies ein solches Bekenntnis, ihre Liebeserklärung an Saint-Preux. Die Protagonistin nimmt dafür eine vertrauliche Haltung ein und kündigt die Offenbarung ihrer Gefühle bereits mit den ersten Worten ihres Briefes an: „Il faut donc l’avouer enfin, ce fatal secret trop mal déguisé!“174 Im Folgenden gesteht sie Saint-Preux ihre Liebe, die sie seit ihrer ersten Begegnung empfinde. Julie bekennt sich dabei schuldig, indem sie sich selbst anklagt, nichts gegen ihre aufkeimenden Gefühle für ihren Lehrer unternommen zu haben: „Je n’ai rien négligé pour arrêter le progrès de cette passion funeste.“175 Ihre Leidenschaft beschreibt die Protagonistin als eine Übermacht, gegen die sie sich nicht wehren kann, schon gar nicht mit rationalen Mitteln: „Dès le premier jour que j’eus le malheur de te voir, je sentis le poison qui corrompt mes sens et ma raison; je le sentis du premier instant, et tes yeux, tes sentiments, tes discours, ta plume criminelle, le rendent chaque jour plus mortel.“176 Julie entschuldigt so ihr Abweichen von der konventionellen, elterlichen Norm und erklärt ihre Identifikation mit den Wertvorstellungen Saint-Preuxs, vor denen sie kapituliert: „Tout formente l’ardeur qui me dévore; tout m’abandonne à moi-même, ou plutôt tout me livre à toi; la nature entière semble être ta complice; tous mes efforts sont vains, je t’adore en dépit de moi-même.“177 Da Julies Leidenschaft also den Zwängen der Natur unterworfen ist, muss die Heldin als unschuldig, weil ohnmächtig gelten. Mit ihrer sincérité, dem Bedürfnis, sich in allem zu offenbaren, übernimmt Julie die Haltung der sensibilité. Ihre völlige Anerkennung empfindsamer Werte bestätigt nochmals die Beschreibung ihrer Aufrichtigkeit, so spricht sie von ihrem Herzen, „qui ne sait rien dissimuler“178. Julies (Liebes‑)Geständnis steht als Ausdrucksform der sensibilité für die Identifikation der Heldin mit den Werten derselben. Damit einher geht der Umstand, dass Julie sich jeglicher Eigenverantwortlichkeit entzieht, schließlich beschreibt sie die empfindsame Leidenschaft als eine Kraft, die außerhalb des Kontrollbereichs menschlicher Ratio liegt. Rousseaus Protagonistin vollzieht ihre Hinwendung zu naturgegebenen Zwängen der Leidenschaft jedoch nicht zur Gänze. Die beiden Liebenden hätten ihre Unabhängigkeit von konventionellen Moralvorstellungen durchaus erklären und realisieren können, hätten sie Lord Edouards Angebot, auf seinem englischen Landsitz ohne den väterlichen Segen zusammenzuleben, angenommen.

174 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, I, L4, S. 14. 175 Ebd., S. 15. 176 Ebd. 177 Ebd. 178 Ebd.

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Sattdessen akzeptiert Julie, im Gegensatz zu Clarissa, patriarchalisch determinierte Setzungen und willigt in die Ehe mit Wolmar ein. Sie bekennt sich somit zur väterlichen Autorität und der entsprechenden Normvorstellung. Die Beziehung zwischen Julie und ihrem Mann, wie oben beschrieben eine verschobene Vater-Tochter-Beziehung, basiert grundsätzlich auf dem Abschwören Julies von ihren früheren Idealen und der Übernahme eines herkömmlichen Tugendbegriffs. Allerdings bleibt die Protagonistin ihren Prinzipien insofern treu, als sie Wolmar ihren früheren Lebenswandel letztlich beichtet. Gegenüber Claire beschreibt Julie, wie sie unter ihrer Unaufrichtigkeit leidet: Mon odieux secret me pèse de plus en plus et semble chaque jour devenir plus indispensable. Plus l’honnêteté veut que je le révèle, plus la prudence m’oblige à le garder. Conçois-tu quel état affreux c’est pour une femme de porter la défiance, le mesonge et la crainte jusque dans les bras d’un époux, de n’oser ouvrir son cœur à celui qui le possède, et de lui cacher la moitié de sa vie pour assurer le repos de l’autre?179

Erstaunlicherweise erfährt der Leser über die nachfolgende Beichte kaum mehr, als dass sie stattfindet. In weniger einem Brief, als vielmehr einer Notiz lässt Wolmar Saint-Preux wissen, dass er von der früheren Affäre seiner Frau durchaus unterrichtet ist, den ehemaligen Liebhaber aber dennoch in seinem Haus willkommen heißen will. Über Julies Geständnis heißt es an dieser Stelle schlicht: „La plus sage et la plus chérie des femmes vient d’ouvrir son cœur à son heureux époux.“ Die Knappheit seiner Worte erklärt sich später durch ein Geständnis, das Wolmar seinerseits preisgibt, dass er nämlich schon vor ihrer Ehe von Julies Vorgeschichte wusste. Der Ausgang des Romans verdeutlicht, dass die Offenheit, die sich durchaus als Teil der empfindsamen Haltung bewerten lässt, im Rahmen der Wolmarschen Ehe nicht funktioniert. Wie Erich Meuthen konstatiert, braucht Julie das Geheimnis, um die widerstrebenden Pole in sich zu vereinen: Sie verheimlicht ihre Liebesbeziehung vor ihren Eltern und kann so den Affekt ausagieren, ohne das Tabu zu brechen. Später sieht sie sich Wolmars Transparenzgebot ausgesetzt und scheitert daran.180 Absolute Transparenz bedeutet für Julie, sich unwiderruflich zu entscheiden und zwar gegen das Ausleben ihrer Leidenschaft: „[D]as ‚wahre‘ Wort bietet keinen Schutz – oder besser: es ist ein Versteck, das sie nicht kennt; so bleibt sie außen vor und geht zugrunde“181. Wie gesagt hängt der Ausgang des Romans mit der von Wolmar verlangten Offenheit zusammen, das Transparenzgebot ist es letztlich, was Julies frühen Tod

179 Ebd., IV, L2, S. 298. 180 Vgl. Meuthen: Selbstüberredung, S. 163f. 181 Ebd., S. 164.



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nötig macht. Kritiker sind sich einig, dass kaum ein anderer Ausweg aus der vermeintlichen Menage à trois denkbar wäre, so auch Jean Starobinski: La mort de Julie ne sera pas seulement une catastrophe attendrissante, qui fera pleurer les lectrices. Mourir représente la seule détente possible: Julie mourra heureuse, délivrée de la nécessité dàgir, découvrant dans la joie qu’elle n’a désormais plus à accomplir l’effort que lui imposait la loi du devoir.182

Dem stimmt Picard zu, indem er festhält, dass die von den Wolmars und SaintPreux propagierten Ideale von Tugend nicht haltbar sind, „[d]er Autor als verantwortlicher Erzähler des epischen Geschehens muß eine Peripetie einführen, die einen Abschluß erzwingt.“183 Insofern scheint Julies Tod unausweichlich und ihm wird im Roman, ähnlich wie schon bei Clarissa, breiter Raum zugestanden. Laut David Marshall sprechen beide Protagonistinnen mehr oder weniger aus dem Sarg heraus, denn während Clarissa eine Sammlung posthumer Botschaften hinterlässt, läuft die Korrespondenz des sechsten Teils der Nouvelle Héloïse einzig auf Julies Tod hinaus: „If Clarissa’s coffin comes to feel like her book, Julie’s book comes to feel like her coffin.“184 Die Tatsache, dass ihr der Tod einen glimpflichen Ausweg aus ihrem Dilemma zwischen Pflicht und Neigung gewährt, wird auch von Julie selbst anerkannt. So schreibt sie vom Sterbebett aus an SaintPreux: „Nous songions à nous réunir: cette réunion n’était pas bonne. C’est un bienfait du ciel de l’avoir prévenue; sans doute il prévient des malheurs.“185 Julie wird schließlich noch deutlicher und spricht über ihre Befürchtungen bezüglich ihrer Standhaftigkeit: „J’ose m’honorer du passé; mais qui m’eût pu répondre de l’avenir? Un jour de plus peut-être, et j’étais coupable!“186 Der Tod erlaubt der Protagonistin, ganz wie zuvor Clarissa, Liebende und Tugendideal zugleich zu sein. Zeitlebens standhaft geblieben, stellt sie sicher, dass man sich ihrer als musterhafte Tugend erinnert, zugleich kann sie sich als Sterbende ein letztes (und endgültiges) Mal zu ihrer Liebe und damit ihrer Leidenschaft aus Liebe bekennen.

182 Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La Transparence et l’obstacle, S. 114. Dem stimmt auch Philip Stewart zu: „Julie cannot trust herself to live, because the absolutely unbearable possibility of adultery can no longer be forestalled […]. Death thus becomes a rescue“. Stewart: Half-Told Tales, S. 208f. 183 Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, S. 86f. 184 David Marshall: „Fatal Letters. Clarissa and the Death of Julie“, in: Clarissa and Her Readers. New Essays for the Clarissa Project, hg. v. Carol Houlihan Flynn u. Edward Copeland, New York: AMS Press 1999 (= Clarissa Project, Bd. 9), S. 236. 185 Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse, VI, L12, S. 564. 186 Ebd.

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Quand tu verras cette lettre, les vers rongeront le visage de ton amante, et son cœur où tu ne seras plus. Mais mon âme existerait-elle sans toi? sans toi quelle félicité goûterais-je? Non, je ne te quitte pas, je vais t’attendre. La vertu qui nous sépara sur la terre nous unira dans le séjour éternel. Je meurs dans cette douce attente: trop heureuse d’acheter au prix de ma vie le droit de t’aimer toujours sans crime, et de te le dire encore une fois187

Julie identifiziert sich somit endgültig mit den beiden Idealen, die sie in ihrem Leben als konfligierende Pole erfahren hat. Laut R. J. Howells fixiert der Tod die Liebe, er befreit sie von Schmerzen, Kämpfen und Instabilität.188 Der Tod verewigt Julie als leidenschaftlich Liebende, er bewahrt aber auch ihre Sittsamkeit. Das finale Geständnis der Protagonistin bestätigt ihre Schwierigkeiten, den Widerspruch von reinem Affekthandeln und einem konventionellen Tugendbegriff aufzulösen. Insofern behält Hermann Geller Recht, wenn er das aveu als Mittel beschreibt, die Leidenschaftlichkeit und Widersprüchlichkeit Julies darzustellen.189

3.2.5 Sensibilité: Natur, Tugend und Leidenschaft Im Vergleich zu Samuel Richardson vertritt Rousseau zweifellos eine andere Vorstellung von Empfindsamkeit. Obwohl durchaus Parallelen zwischen den Konzepten zu verzeichnen sind, decken sich sensibility und sensibilité keinesfalls. Aufgrund der vorangehenden Analyse lassen sich Natur, Tugend und Leidenschaft als zentrale Komponenten des französischen Entwurfs einer gefühlszentrierten Weltanschauung ableiten. Dabei meint das Stichwort Natur das Ausleben eines neuen Naturgefühls. Die Natur bietet den Liebenden verschiedene Rückzugsorte und stellt damit eine Alternative zum Treiben der großstädtischen Zivilisation vor. Man mag die Natürlichkeit von Julies Obstgarten in Zweifel ziehen, allein der Name, Elysée, weist jedoch auf seine Funktion als Ort der Idylle, der Ruhe und der Erholung hin. Als Locus amoenus bietet der Obstgarten seinen Besuchern Schutz vor den Anforderungen der Gesellschaft, vertreten durch den das Elysée umgebenden Gutsbetrieb. Eine ebensolche Schutzfunktion besitzen auch der Wald, in dem der erste Kuss des Liebespaars stattfindet: Abgeschieden von gesellschaftlichen Zwängen nähern sich die Liebenden einander an. Seinen Höhepunkt erreicht Rousseaus Naturdarstellung wie oben bereits beschrieben

187 Ebd., S. 566. 188 Vgl. Howells: Rousseau. Julie, ou La Nouvelle Héloïse, S. 16. 189 Vgl. Geller: Die Funktion der Geständnisse in Rousseaus „La Nouvelle Héloise“, S. 86.



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im vierten Teil des Romans, im Zusammenhang mit dem Ausflug in die Alpenlandschaft am Genfer See. Hier tritt die ganze Wirkungsmacht der Natur zutage: Die Landschaft, die Saint-Preux einst Schutz vor seinen Sehnsüchten bot, verliert diese Schutzfunktion. Stattdessen führt sie nun als Spiegel der Erinnerungen den Liebenden diese Sehnsüchte erneut vor Augen. Im Gegensatz zu diesem Erinnern steht das Vergessen, das der städtische Raum fördert. Saint-Preux, der sich zeitweise in den Trubel des städtischen Lebens flüchtet, erkennt und kritisiert dessen illusionären Charakter, das eitle Treiben sei allenfalls geeignet, um über den Mangel an (empfindsamen) Werten hinwegzutäuschen. Im Kontext seines Parisaufenthalts erkennt Saint-Preux die Bedeutung der Natürlichkeit, deren Repräsentantin freilich Julie ist. Natürlichkeit bedeutet hier unverdorben von den Versuchungen der großstädtischen Zivilisation zu sein und sich Zurückhaltung und Bescheidenheit zu bewahren, anstelle der in Paris erlebten Klatschund Gefallsucht anheim zu fallen. Der Protagonist subsumiert diese Auffassung, indem er das Ungeschminkte lobt, die unverstellte, ehrliche Art seiner Geliebten, die als Inbegriff von Natürlichkeit gelten kann. Das Ungeschminkte – der sincérité verhaftete Charakteristika, wie Aufrichtigkeit, Offenheit und Authentizität – ist wiederum Teil von Rousseaus Tugendverständnis. Seine tugendhafte Heldin zeichnet sich insbesondere durch ihren inneren Zwang zur Aufrichtigkeit aus. Wie gesehen, begründet Julies Neigung, sich ihren Mitmenschen gegenüber zu offenbaren ihre charakterlichen Vorzüge, ihr Widerwille gegen die Lüge genügt zum Beweis ihres Moralbewusstseins. Generell beinhaltet der hier vertretene Tugendbegriff eine gewisse Begeisterung für Moral, diese unterliegt aber anderen Grundsätzen als die konventionelle, ständestaatliche. Das Kriterium einer empfindsamen Tugend besteht in ihrer Kompatibilität mit den affektiven Bedürfnissen des Einzelnen. Auch Richardsons Heldin fand sich dem Problem ausgesetzt, ihren individuellen Willen mit herkömmlichen Vorstellungen von Tugend in Einklang zu bringen, allerdings wird im Roman Clarissa weniger stark zwischen generalisierter und individuellempfindsamer Tugend unterschieden. Rousseaus Tugendbegriff weicht insofern stark von dem Richardsons ab, als letzterer durch die Figur der Clarissa Tugend mit sexueller Unberührtheit gleichsetzt und damit gesellschaftlich hergebrachte Moralvorstellungen goutiert, während Rousseau mit Julie eine Heldin zeichnet, der trotz ihrer sexuellen Erfahrung das Prädikat „tugendhaft“ anhaftet. Clarissas Tugend fußt auf dem Verzicht auf Leidenschaft, Julies Tugend kann hingegen ohne Leidenschaft nicht existieren, denn leidenschaftliche Impulse zu ignorieren hieße in ihrem Fall sich als unsensibel zu erkennen zu geben und sich damit auf der Seite gesellschaftlich anerkannter Formen von Tugend und Moral zu positionieren. Um der sensibilité jedoch Genüge zu leisten, muss Rousseaus Heldin

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sowohl die konventionellen Tugendvorstellung als auch einen mit ihren individuellen Bedürfnissen kompatiblen Begriff davon internalisieren. Rousseaus Empfindsamkeitskonzeption impliziert damit den Kampf Julies, Raison und Leidenschaft ineinander aufzulösen. Dabei gilt Leidenschaft als Ausdruck individueller, affektiver Bedürfnisse, deren Befriedigung als äußerst dringlich empfunden wird. In der Tradition der abendländischen Liebessemantik wird Passion auch bei Rousseau als Übermacht charakterisiert, der man sich wehrlos ausliefern muss, sie befällt einen wie eine Krankheit. Leidenschaft steht der ehelichen Liebe konträr gegenüber, das hat Laurence Lerner umfassend dargestellt, sie zeichnet sich durch ihre kurze Dauer und hohe Intensität aus, wohingegen die eheliche Liebe eine weniger intensive, dafür aber dauerhaftere Allianz darstellt. Die leidenschaftliche Liebe findet heimlich, jenseits der gesellschaftlichen Öffentlichkeit statt, während die Ehe als gesellschaftliche Institution öffentlich anerkannt ist. Dieses Verständnis macht es Rousseau, wie Thomas Klinkert betont, unmöglich, einen glücklichen Ausweg für seine Protagonisten zu schaffen. Laut Klinkert besteht ein konstituierendes Element der Passion in ihren Widerständen, eine eheähnliche Verbindung zwischen Julie und Saint-Preux ist deshalb undenkbar: Die nur auf Passion fundierte Liebe ist in sich paradox, denn sie zielt zwar auf eine Realisierung außerhalb gesellschaftlicher Konventionen, lebt aber gerade von dem Widerstand, den ihr die Gesellschaft entgegenstellt. Das heißt, ihre Realisierung in Gestalt einer Liebesheirat bedeutet gleichzeitig ihr Ende. Genau dies vermeidet der Roman, indem er zunächst die Gesellschaft gegen die Passion obsiegen läßt.190

Insofern vertritt Rousseau eine relativ starre Vorstellung von Liebe, innerhalb derer nur zwei einander konträr gegenüberstehende Modelle existieren, der amour passion und die Vernunftehe. Eine Mischform der beiden Pole kann es nicht geben, was es Julie und Saint-Preux unmöglich macht, eine konstante und realisierbare Form für ihre Liebe zu finden. Leidenschaft, als ein Anspruch, den die Figuren unmöglich befriedigen können, ist damit auch als Leidensform zu verstehen. Die Fähigkeit, unter der Unmöglichkeit einer Realisierung leidenschaftlicher Gefühle zu leiden, gilt wiederum als Kennzeichen von Empfindsamkeit. Sensibilité setzt sich aus der Kombination der drei beschriebenen Konzepte zusammen bzw. aus dem Versuch, die Instanzen Natur, Tugend und Leidenschaft miteinander zu versöhnen. Sowohl Julie als auch Saint-Preux verdeutlichen die Schwierigkeiten einer solchen Versöhnung. Für diese beiden Figuren bedeutet

190 Thomas Klinkert: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe, Freiburg: Rombach 2003 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 92), S. 85f.



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Empfindsamkeit, dass sie die Gebote von Natürlichkeit, Moral, Tugend und Leidenschaft in sich wahrnehmen und alles in ihrer Macht stehende versuchen, um allen Prinzipien durch ihr Handeln zu ihrem Recht zu verhelfen.

3.2.6 Resümee: Verstand und Gefühl in Rousseaus Nouvelle Héloïse Rousseaus Romanheldin sieht sich insbesondere den konfligierenden Ansprüchen ihrer individuellen Leidenschaft und der ständestaatlichen Moral ausgesetzt. Ob es sich dabei um einen Konflikt zwischen den Prinzipien Verstand und Gefühl handelt, bleibt zu klären. Zweifellos spielen Verstand und Gefühl – und der dazwischen liegende Konflikt – eine Rolle im Hinblick auf die Charakterisierung einzelner Romanfiguren. Dabei positionieren sich Julie und Saint-Preux auf der Seite einer empfindsamen Vernunft gegenüber der ständestaatlichen Vernunft, die vor allem durch Wolmar und den Baron d’Étange repräsentiert wird. So sind es also insbesondere Angehörige des Adels, die durch Besitzdenken und ein dogmatisch verteidigtes Ehrgefühl den Pol des Verstandes darstellen. Sie verkörpern durch die Verwendung konventioneller Begriffe von Tugend und Moral eine restaurative Gesellschaftsnorm, die auf das Einhalten starrer Regeln beharrt und die Befriedigung individueller Bedürfnisse ihrer strikten Regelhaftigkeit unterordnet. Diese Gesellschaftsordnung verdient durchaus das Attribut rational, wohingegen die dagegen strebenden Figuren für den Einbezug des Gefühls plädieren. Die empfindsamen Charaktere Julie und Saint-Preux zeichnen sich insbesondere durch ihre Sensibilität für individuell-affektive Bedürfnisse jenseits konventioneller Moralvorstellungen aus. Ihre Identifikation als belles âmes bedingt ihren Kampf mit den Anforderungen von Leidenschaft und Tugend, deren Autorität sie jeweils anerkennen. Da die Gegenüberstellung von Leidenschaft und Tugend jedoch wie gesehen nur eine scheinbare Opposition darstellt, kann das Begriffspaar selbstverständlich nicht mit dem Konfliktverhältnis zwischen Verstand und Gefühl gleichgesetzt werden. Eine Lösung bietet wiederum der von Hermann Geller formulierte Umweg einer Opposition zwischen Leidenschaft der Tugend und Leidenschaft der Liebe. Darin wäre durchaus eine Repräsentation des Paradigmas von Verstand und Gefühl zu sehen, wobei Julie, die also einen Konflikt von Tugend und Liebe erlebt, zwischen den Polen Verstand und Gefühl changiert. Deutlich wird ihre Position als Grenzgängerin in ihrer Stellung zwischen zwei vollkommen verschiedenen Männlichkeitstypen. Auf der einen Seite steht Wolmar, der laut Jean

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Firges als Inbegriff aufklärerischer Vernunft gelten kann,191 während Julie sich andererseits Saint-Preux gegenüber sieht, der ihre Neigung zur Gefühlsbetonung noch übertrifft. Die beiden Männerfiguren bilden die Skala, auf der die Heldin versucht, auch ihr Verhalten einzuordnen. In ihrer Beziehung zum Liebhaber gewinnen gefühlsmäßige Ideale die Oberhand über ihr Handeln, so dass Saint-Preux zu Recht behaupten kann, Julies einzige Richtschnur sei ihr Herz. Julie, die Ehefrau, wird hingegen von ihrem Kopf regiert, sie drückt ein vernunftbasiertes Verhaltensideal aus, indem sie dem Ehebruch bewusst widersteht, so auch Daniel Mornet: „Etre adultère, c’est trahir un serment, offenser Dieu, introduire dans la famille des enfants d’un sang étranger, se condamner au mensonge, susciter la discorde et les crimes. La raison est donc cette fois d’accord avec le cœur de Julie.“192 Damit gestaltet sich die Zuordnung der Prinzipien Verstand und Gefühl durchaus komplexer als in Richardsons Roman. Wohl steht im Kontext der Nouvelle Héloïse das Empfindsamkeitsideal einer das empfindsame Gefühl ignorierenden Gesellschaft gegenüber, allerdings sind bereits innerhalb der gefühlsbetonten Weltanschauung Ambivalenzen zu verzeichnen. Von dieser Komplexität spricht auch Jean H. Hagstrum: Richardson’s dramatic light-dark conflict between his villain and his saint of sensibility is replaced by a complex field of force in which the emotions and the reason attract and repel, pull apart and cohere, and mysteriously but impressively confront each other, sometimes to achieve a kind of interpenetration that is quintessentially Rousseauist and Romantic and that perhaps deserves to be identified by Coleridge’s crude but suggestive term, „interanimation.“193

Der wesentliche Unterschied der Romanheldinnen Clarissa und Julie wäre somit darin zu sehen, dass Julie selbst sich inmitten des Kräftefelds von Verstand und Gefühl befindet, wohingegen Richardsons Protagonistin die Vereinigung beider Pole anstrebt. Wie auch bei Richardson bildet Rousseaus Empfindsamkeitsbegriff das Handlungsideal. Anders als im Kontext von Clarissa liegen die Gründe des Scheiterns des empfindsamen Lebensentwurfs nicht in der Ignoranz der Umwelt begründet, sondern in den widersprüchlichen Anforderungen der sensibilité selbst. Gleichwohl gilt bei Rousseau das abschließende Plädoyer dem Gefühl. Julies letzter Brief ist nicht nur eine Liebeserklärung an Saint-Preux, er bedeutet zugleich ihre

191 Vgl. Firges: Jean-Jacques Rousseau. Julie oder die neue Héloïse, S. 86. 192 Daniel Mornet: La Nouvelle Héloïse de J.-J. Rousseau. Étude et Analyse, Paris: Mellottée 1967, S. 176. 193 Hagstrum: Sex and Sensibility, S. 220.



Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) 

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endgültige Hinwendung zur Leidenschaft der Liebe. So schließt die Protagonistin ihren Brief mit dem Schwur, Saint-Preux über den Tod hinaus zu lieben, wie es nur die ‚wahre, leidenschaftliche, unbegrenzbare Liebe‘ vermag. Julies letztes Bekenntnis unterliegt lediglich der Einschränkung, dass sie sich ihr Recht auf leidenschaftliche Liebe mit dem Tod erkauft, wie sie sagt. Durch den Tod endet ihr Kampf um die Vereinbarkeit von Tugend und Leidenschaft und auch die damit verbundene Auseinandersetzung mit den Prinzipien Verstand und Gefühl, diese konträren Impulse lösen sich durch den Tod ineinander auf. Julie zahlt demnach mit dem Tod für die Integration zweier widerstrebender Ansprüche, sie muss sterben, um als gefühlvoll und vernünftig anerkannt zu werden.

3.3 Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) Sophie von La Roches Erstlingsroman, die 1771 veröffentlichte Geschichte des Fräuleins von Sternheim, wird in der Forschungsliteratur immer wieder als Grundstein der deutschsprachigen Frauenliteratur gehandelt.194 Entsprechenden Zuordnungen des Texts in den Bereich des Trivialen leistete der Herausgeber Christoph Martin Wieland in seinem Vorwort Vorschub. Wielands einleitende Bemerkungen machen auf zweierlei aufmerksam, auf die außerordentliche Position der Autorin, die sich als Frau aus der ihr zugewiesenen Sphäre entfernt, und auf die ästhetischen Mängel des Werks, wobei das eine zur Entschuldigung des anderen herangezogen wird. Stilistische Schwächen des Werks werden mit der Geschlechtszugehörigkeit seiner Urheberin entschuldigt. Gleichzeitig wird die anstosserregende Tatsache, dass Sophie von La Roche sich als Frau schreibend an die Öffentlichkeit wendet – und damit von der zeittypischen Frauenrolle abweicht – mittels ihres defizitären Stils entschuldigt: Als Frau kann sie schließlich dem männlich begründeten Ästhetikideal der Zeit nicht beikommen.

194 In Bezugnahme auf Barbara Becker-Cantarino argumentiert so etwa Michaela Krug. Vgl. Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 56; Barbara BeckerCantarino: „Nachwort“, in: Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart: Reclam 1983, S. 397. Urte Helduser untersucht die häufig stattfindende Zuordnung La Roches zur Trivialliteratur genauer: Vgl. Urte Helduser: „Prüderie, Koketterie, Hysterie. Sophie von La Roche und die Topoi des Trivialen“, in: „Bald zierliche Blumen – bald Nahrung des Verstands“. Lektüren zu Sophie von La Roche, hg. v. Monika Lippke, Matthias Luserke-Jaqui u. Nikola Roßbach. Hannover: Wehrhahn 2008, S. 11–38.

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Die Begründung einer Veröffentlichung des Romans basiert auf einem mit dem Weiblichkeitsideal des 18. Jahrhunderts kompatiblen Argument: Als „NaturProdukt“195 zeugt der Text von den Ansichten der Frau Sophie von La Roche, von der „naive[n] Schönheit ihres Geistes, [der] Reinigkeit, [der] unbegrenzte[n] Güte ihres Herzens, [der] Richtigkeit ihres Geschmacks, [der] Wahrheit ihrer Urteile“196. Dabei wird dem Nutzwert des Texts Vorrang vor seinem künstlerischen Gehalt gegeben. Tatsächlich autorisiert die pädagogische Intention, die der Autorin durch den Herausgeber zuerkannt wird, La Roches vermeintlich defizitären Beitrag zur literarischen Öffentlichkeit und so widmet Wieland den Roman stellvertretend für die Autorin „allen tugendhaften Müttern, allen liebenswürdigen jungen Töchtern unsrer Nation“197. La Roche, die sich den Weisungen des Mentors Wieland fügt, äußert sich später selbst zustimmend über ihre erzieherische Absicht als Anlass ihres Schreibens: „Doch ich wollte nun einmal ein papiernes Mädchen erziehen, weil ich meine eigenen nicht mehr hatte, und da half mir meine Einbildungskraft aus der Verlegenheit und schuf den Plan zu Sophiens Geschichte.“198 Obwohl die Geschichte des Fräuleins von Sternheim vom zeitgenössischen Lesepublikum mit Begeisterung aufgenommen wurde und seine Autorin schlagartig berühmt machte, verweist die neuere Literaturgeschichtsschreibung Sophie von La Roche eher auf eine Randposition. Lange Zeit kannte man sie vor allem als Freundin Wielands und Goethes oder als Großmutter Bettina von Arnims und Clemens Brentanos, erst die feministische Literaturkritik der siebziger und achtziger Jahre holte La Roche aus ihrem Schattendasein hervor. Schon von zeitgenössischen Lesern ist der Geschichte des Fräuleins von Sternheim die Verwandtschaft zu Richardsons mehr als zwanzig Jahre zuvor erschienenem Roman Clarissa bescheinigt worden, weisen doch insbesondere die Figuren und in weiten Teilen auch die Handlung als Geschichte der Prüfung und Bewährung einige offensichtliche Parallelen auf. Die neunzehnjährige Waise Sophie von Sternheim wird aus ihrer Heimat, einem bürgerlich-ländlichen Milieu, in ein höfisches Umfeld versetzt. Dorthin wird sie von ihrer Tante geholt, die ihre Nichte dem Fürsten als Mätresse zuführen will, um somit das Fortkommen ihres Mannes zu sichern. Beobachtet wird Sophie dabei von Lord Seymour, der die Protagonistin zwar bereits liebt, sich aber von ihrer Tugend überzeugen will. Einer

195 Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. S. 56. 196 Christoph Martin Wieland: „An D. F. G. R. V.*******“, in: Sophie vonLa Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart: Reclam 1983, S. 16. 197 Ebd., S. 10. 198 „Sophie von La Roche über ihren eigenen Roman (1791)“, in: Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart: Reclam 1983, S. 363.



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öffentlichen Bloßstellung entkommt das Fräulein von Sternheim durch die Heirat mit Lord Derby, der als Äquivalent zu Richardsons Lovelace diese Eheschließung jedoch nur inszeniert. Nachdem Sophie sich dem ehelichen Vollzug verweigert, offenbart Derby ihr den Scheincharakter ihrer Ehe. Enttäuscht und gedemütigt flieht die Heldin und lebt unter dem Namen Madam Leidens als Gesellschafterin verschiedener englischer Damen. Eine erneute Begegnung mit Derby gipfelt in Sophies Entführung in die schottische Einöde, von wo sie durch Lord Seymour befreit wird. Der Roman endet mit der Beschreibung des idyllischen Ehelebens Seymours und Sophies, die gemeinsam mit Seymours Bruder, Lord Rich, in England das Ideal eines tugendhaften Lebens verwirklichen.

3.3.1 Tugend als natürliche Disposition: Sophies Erziehung Sophie von Sternheim hat sich im Laufe ihrer Geschichte einer Reihe von Bewährungsproben zu stellen. Den Erfolg dabei verdankt sie insbesondere ihrer Fähigkeit, jedwede Widrigkeit zu erdulden – auf diese Kompetenz weist nicht zuletzt ihr Pseudonym „Madam Leidens“ hin. Die Grundlagen für Sophies Leistungsfähigkeit sind sicherlich in ihrer Kindheit zu suchen. Diese beschreibt die Erzählerin Rosina, Tochter des mit der Familie von Sternheim befreundeten Pfarrers, im Rahmen ihrer Einleitung zu der folgenden Briefsammlung. Als Halbwaise wird Sophie von ihrem Vater erzogen und zwar nicht gerade dem zeittypischen weiblichen Bildungskanon entsprechend. Auf die Bedeutung der „Mutterlosigkeit“ der Protagonistin hat Ruth P. Dawson hingewiesen: „The dead mother became an adored saint, while the live daughter was justified in doing all kinds of unusual things that a ‚good mother,‘ in person, could not have permitted, but that gave the girl an independent identity.“199 In diesem Sinne besitzt der Umstand, dass Sophie von Sternheim ohne den weiblichen Elternteil aufgewachsen ist, also wie bereits Clarissa und Julie vor ihr ohne weibliches Rollenvorbild, eine identitätskonstituierende Wirkung, zumindest insofern, als der Protagonistin eine weitaus umfassendere Bildung zuteil wird, als den meisten ihrer realen Geschlechtsgenossinnen. Dabei verfolgt Oberst von Sternheim offenbar einen ganzheitlichen Ansatz und lässt seine Tochter „die vortrefflichste Erziehung für ihren Geist und für ihr Herz“200 durchlaufen. Im Einzelnen heißt es über dieses Erziehungsprogramm:

199 Ruth P. Dawson: The Contested Quill. Literature by Women in Germany, 1770–1800, Newark u. London: University of Delaware Press 2002, S. 118. 200 Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart: Reclam 1983, S. 51.

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[W]eil das Fräulein eine große Anlage von Verstand zeigte, beschäftigte er [Sternheim] diesen mit der Philosophie, nach allen ihren Teilen, mit der Geschichte und den Sprachen, von denen sie die englische zur Vollkommenheit lernte. In der Musik brachte sie es, auf der Laute und im Singen, zur Vollkommenheit. Das Tanzen, soviel eine Dame davon wissen soll, war eine Kunst, welche eher von ihr eine Vollkommenheit erhielt, als daß sie dem Fräulein welche hätte geben sollen;201

Den klassischerweise weiblichen Disziplinen Musik und Tanz, die hier kompensatorisch gegen die Beschäftigung mit der „männlichen“ Philosophie aufgewogen werden, fügt die Erzählerin noch eine weitere Bestätigung einer geschlechtsspezifischen Erziehung hinzu: Neben diesen täglichen Übungen erlernte sie mit ungemeiner Leichtigkeit alle Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem sechzehnten Jahre an bekam sie auch die Führung des ganzen Hauses, wobei ihr die Tag- und Rechnungsbücher ihrer Mutter zum Muster gegeben wurden.202

Was sich bereits angesichts der Erziehung abzeichnet, dass La Roches Protagonistin nämlich mit einer Kombination weiblicher und männlicher Charakterzüge ausgestattet ist, versichert ebenfalls eine Äußerung der Großmutter: „Sophie, die Sanftmut, die Güte deiner Mutter, ist ganz in deiner Seele! Du hast den Geist deines Vaters, du bist das glückseligste Geschöpf auf der Erde, weil die Vorsicht die Tugenden deiner Eltern in dir vereiniget hat!“203 Die Exposition schließt mit Rosinas Beschreibung von Sophies Äußerem, wobei die Tatsache, dass zuerst vom Bildungsstand und erst danach vom Aussehen der Heldin die Rede ist, besonders ins Gewicht fällt. Entsprechend dieser Gegenbewegung gegen Oberflächlichkeiten soll die äußerliche Beschreibung vor allem Aufschlüsse über das Innenleben der Heldin geben. Sie war etwas über die mittlere Größe; vortrefflich gewachsen; ein länglich Gesicht voll Seele; schöne brauen Augen voll Geist und Güte, einen schönen Mund, schöne Zähne. Die Stirne hoch, und, um schön zu sein, etwas zu groß, und doch konnte man sie in ihrem Gesichte nicht anders wünschen. Es war so viel Anmut in allen ihren Zügen, so viel Edles in ihren Gebärden, daß sie, wo sie nur erschien, alle Blicke auf sich zog.204

201 Ebd., S. 51f. 202 Ebd., S. 52. 203 Ebd., S. 57. 204 Ebd., S. 59.



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Fraglos wird mit dieser Darstellung der Protagonistin ein Weiblichkeitsideal entworfen, was die Tugend Sophie von Sternheims aber ganz genau angeht, so zeichnet La Roche lediglich ein diffuses Bild. Eben darin liegt jedoch eine erzähltechnische Strategie: Dem Leser, der über Sophie nicht mehr weiß, als dass sie Sanftmut, Güte und Intelligenz in sich vereint, bleibt genug Raum, die Heldin wie eine Art „Tugend-Container“ mit sämtlichen seinerseits für wertvoll erachteten Attributen anzufüllen. Bevor die Protagonistin selbst sich brieflich zu Wort meldet, ist der Leser also bereits überzeugt von ihren Vorzügen. Konkret wissen wir, dass Sophie auf der einen Seite die besten Anlagen zur Empfindsamkeit besitzt, immerhin sagt Sternheim über seine Tochter, sie sei „lauter Empfindung“205. Andererseits hat sie auch eine beispiellose Bildung genossen, womit sie zugleich aufklärerische und empfindsame Positionen in sich vereint. Die beiden Weiblichkeitsentwürfe Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit stehen hier nicht miteinander in Konkurrenz, stattdessen ergänzt die „Herzensbildung“ der Heldin ihre geistig-wissenschaftliche. Die Kritik zeitgenössischer Pädagogen, laut der eine zu gründliche (intellektuelle) Bildung der natürlichen, intuitiven und angeborenen moralischen Kompetenz der Frau schade, kann auf Sophie von Sternheim demnach nicht zutreffen.206 Ganz im Gegenteil zeichnet sich die Heldin durch die Balance zwischen den Größen Empfindsamkeit und Aufklärung bzw. intuitivem Moralverständnis und intellektueller Bildung aus. Auf der einen Seite ist also Margrit Langner zuzustimmen, die im Hinblick auf La Roches Erziehungskonzeption schreibt, wichtiger als bloßes Wissen sei „das Erlernen und Umsetzen moralischer Normen sowie das Vermeiden zu großer Empfindsamkeit. Die geistige Beschäftigung [werde] als Schutz vor emotionaler Schwäche eingesetzt.“207 Auf der anderen Seite gilt allerdings auch die Umkehrung: Emotionalität, d. h. Sophies Sensitivität, wird als Schutz vor dem drohenden Schreckensbild weiblicher Gelehrsamkeit, Pedanterie,208 eingesetzt. Insgesamt geht Sophie von La Roches Konzeption ihrer Heldin über die Erfüllung

205 Ebd., S. 53. 206 Sally Winkle zeigt, wie sich diese Kritik auf die Definition weiblicher Tugenden, wie Bescheidenheit, Empathie etc., als angeboren und nicht erlernt zurückführen lässt. Vgl. Sally Winkle: Woman as Bourgeois Ideal. A Study of Sophie von La Roche’s Geschichte des Fräuleins von Sternheim and Goethe’s Werther, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1988 (= Studies in Modern German Literature, Bd. 16), S. 41. 207 Margrit Langner: Sophie von La Roche – die empfindsame Realistin, Heidelberg: Winter 1995 (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft, Bd. 126), S. 36. 208 Dieses zeitgenössische Vorurteil gegenüber belesenen Frauen reproduziert im Roman die Gräfin Löbau, die über Sophies „pedantische Ideen“ klagt. La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 80.

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eines Weiblichkeitsideals hinaus. Das Fräulein von Sternheim steht der Tugend, verstanden als Sammelbegriff für moralische Vorstellungen, und Empfindsamkeit von Clarissa Harlowe und Julie d’Étange in nichts nach, vielmehr fügt sie diesen Auszeichnungen noch den Verdienst intellektueller Größe hinzu und eben dadurch unterscheidet sie sich von ihren Vorgängerinnen.209 Gerade ihre außerordentliche (geistige) Bildung begründet die Initiative und die Aktivität der Protagonistin,210 immerhin tritt Sophie mit dem Einsetzen der Romanhandlung als autonom handelnde Person in ein fremdes Umfeld ein.

3.3.2 Korrupter Adel, bürgerliche Tugend und die bürgerliche Aristokratin Wie Anita Runge richtig konstatiert, gehört zur literarisierten weiblichen Empfindsamkeit eine Situation der Prüfung, in der sich die vorgestellte Empfindsamkeit bewähren muss.211 Im Falle der Geschichte des Fräuleins von Sternheim stellen sich der Heldin eine Reihe von Bewährungsproben, wovon die erste in der Konfrontation der durch bürgerliche Tugenden geprägten Sophie mit dem Gegenentwurf des aristokratischen Lebens besteht. Tatsächlich bezieht der Roman einen Großteil seines Konfliktpotenzials aus dem Spannungsfeld von höfischer Aristokratie und bürgerlichen Tugenden. Dabei wird im Gegensatz zu Richardson und Rousseau zwischen verschiedenen Ausprägungen des Adels unterschieden. Während der Adel des Hofes, den Sophie im Umfeld ihrer Tante, der Gräfin von Löbau, kennen lernt, als korrupt und intrigant abgelehnt wird, erfährt der ländliche Adel nach dem Vorbild der reformtoleranten englischen gentry die Anerkennung der Protagonistin, nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Abstammung. Rosinas Einleitung, die sich wie eine Vorgeschichte zum eigentlichen Roman liest, widmet sich größtenteils Sophies Eltern und gibt somit Aufschlüsse über Herkunft und Gesinnung der Sternheims. Über Sophies Vater erfahren wir, dass er

209 Gabriele Pendorf konstatiert in dieser Hinsicht, dass Sophie kein Musterbild aufklärerischer weiblicher Tugend abgibt, da ihr Glückskonzept, inspiriert von der Französischen Revolution, auf der Verwirklichung des Einzelnen beruht. Vgl. Gabriele Pendorf: „Weibliche Glückskonzeptionen bei Sophie von La Roche und Wilhelmine Karoline von Wobeser“, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 47 (2011), H. 2, S. 176. 210 Diese Auffassung vertritt auch Michaela Krug. Vgl. Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, S. 79. 211 Vgl. Anita Runge: „Märtyrerinnen des Gefühls: Weibliche Empfindsamkeit, Anthropologie und Briefroman bei Sophie von La Roche und Johann Karl Wezel“, in: Literatur, Psychoanalyse, Gender. Festschrift für Helga Gallas, hg. v. Wolfgang Emmerich u. Eva Kammler, Bremen: Edition Lumière 2006, S. 31.



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der einzige Sohn eines Professors war, also einem bildungsbürgerlichen Kontext entstammt, in welchem er „die sorgfältigste Erziehung genoß“212. Weiter heißt es, „Edelmut, Größe des Geistes, Güte des Herzens“ bildeten die „Grundzüge seines Charakters“213. Durch „Großmut, Menschenliebe und Tapferkeit“214 gelangt Sternheim zu allgemeinem Ansehen und erhält „die Stelle eines Obersten, und den Adelsstand“215. Die so gerühmten Tugenden des Bürgersohns werden schließlich durch die Heirat mit der adeligen Sophie von P. belohnt. Diese wird als Halbschwester von Sternheims Universitätsfreund eingeführt: „Sie war das einzige Kind, welches der Baron von P. mit seiner ersten Gemahlin, einer Lady Watson, die er auf einer Gesandtschaft in England geheiratet, erzeugt hatte.“216 Insbesondere die englischen Wurzeln der Mutter sollen für Sophie von Sternheim eine Rolle spielen, tatsächlich entwirft La Roche die Vorstellung von einem englischen Nationalcharakter, der sich durch Ernsthaftigkeit, Toleranz und Wohltätigkeit auszeichnet. Der Besitz eines „engländische[n] Herz[ens]“ wird bereits in Bezug auf Sophie von P. als Lob angeführt, da es die Nachsicht Sophies gegenüber Sternheims bürgerlicher Herkunft begründet. Die Tochter der beiden kultiviert schließlich einen ausgesprochenen Stolz auf ihre englische Abstammung: „Übrigens war zu allem, was engländisch hieß, ein vorzüglicher Hang in ihrer [Sophies] Seele, und ihr einziger Wunsch war, daß ihr Herr Vater einmal eine Reise dahin machen, und sie den Verwandten ihrer Großmutter zeigen möchte.“217 Zwar kommt es nicht zu dieser Reise, allerdings erfüllt sich der Wunsch Sophies mit dem Ausgang des Romans dennoch: Als Lady Seymour verwirklicht sie ihr Ideal eines tugendhaften Lebens in der Idylle des englischen Landsitzes Seymourhouse. Insgesamt bestimmen die Herkunftsmerkmale der Eltern den Charakter der Protagonistin, Sophie vereint zugleich bürgerliche und aristokratische Werte in sich, wobei sie ihre Identität über ihren Titel definiert, wohingegen ihr Denken und Fühlen, wie Peter Uwe Hohendahl herausstellt, dem Bürgertum verhaftet ist. Laut Hohendahl ist Sophies Position zwischen diesen beiden Lebenswelten als Identitätskonflikt „letztlich bedeutungsvoller als der thematisierte moralische Konflikt, der die Handlung vorantreibt.“218 Wie eingangs festgestellt trifft La Roches Roman eine strikte Unterscheidung zwischen dem ländlichen Adel, dem ja auch die Heldin angehört und der

212 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 19. 213 Ebd. 214 Ebd., S. 20. 215 Ebd., S. 19. 216 Ebd., S. 20. 217 Ebd., S. 52. 218 Hohendahl: „Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewusstsein“, S. 97.

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durchaus positiv bewertet wird, und der Aristokratie im höfischen Kontext. Die Zweifelhaftigkeit des höfischen Lebens verdeutlicht erstmals ein Brief des Oberst von Sternheim, der vor seinem Tod dem befreundeten Pfarrer die Sorge um seine Tochter anvertraut. In diesem Zusammenhang äußert Sternheim die Angst, Sophie könne sich in ihrer Naivität von „Scheintugenden“219 blenden lassen. Auch die Kommentare verschiedener Figuren über die Gräfin Löbau, auf deren Drängen Sophie überhaupt erst das höfische Umfeld betritt und die diese Lebenswelt als Einzelfigur in der Hauptsache repräsentiert, bestärkt den Verdacht des Lesers gegen die defizitäre Moral der höfischen Aristokratie. Bereits innerhalb ihrer Einführung als zukünftige Schwägerin des Oberst von Sternheim gerät die Gräfin Löbau – zu diesem Zeitpunkt noch Charlotte von P. – in Misskredit, da sie Vorurteile gegenüber der Verbindung ihrer Schwester mit dem bürgerlichen Sternheim äußert. Charlottes Ablehnung offenbart ihren Egoismus, indem sie auf die „Unkosten“220 ihres Glücks hinweist und fragt: „Wer wird denn unser Haus zu einer Vermählung suchen, wenn die ältere Tochter so verschleudert ist?“221 Die daraus resultierende ablehnende Lesermeinung über Charlotte bzw. die Gräfin Löbau bestätigen im Folgenden die Beurteilungen der Sternheims. So gesteht Sophies Vater im Brief an den Pfarrer seine kritische Haltung gegenüber der Schwägerin: „Die äußerliche Sanftmut und Güte dieser Frau sind nicht in ihrem Herzen; der bezaubernd angenehme Witz, der feine gefällige Ton, den ihr der Hof gegeben, verbergen viele moralische Fehler.“222 Die Protagonistin pflichtet dieser Auffassung bei, indem sie sich nach dem Tod des Vaters wie folgt äußert: „Ich habe keine Verwandten mehr [...]. Die Gräfin Löbau ist nicht meine Verwandtin; ihre Seele ist mir ganz fremde, ganz fremde, ich liebe sie nur, weil sie die Schwester meines Oheims war.“223 Interessant erscheint dabei der Umstand, dass Sophie die Distanz zu ihrer Tante verstärkt, indem sie diese nicht – was wohl naheliegender wäre – als Schwester ihrer Mutter bezeichnet, sondern ein aus ihrer Perspektive entfernteres Verwandtschaftsverhältnis anzeigt. Durch die vorangehende Charakterisierung der Gräfin von Löbau erfährt der mit ihr zusammenhängende Lebensraum, der Fürstenhof, bereits eine Abwertung, bevor die Protagonistin auch nur einen Brief über ihren dortigen Aufenthalt geschrieben hat. Wie allerdings zu erwarten, bestätigt Sophies Bericht alle zuvor erhobenen Anklagen. Die Kontrastierung der Heldin mit dem höfischen

219 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 53. 220 Ebd., S. 33. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 54. 223 Ebd., S. 58.



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Umfeld beginnt mit ihrem Widerwillen, sich in die Obhut der Löbaus zu begeben. Nachdem die „Gnadenfrist“ des Trauerjahrs verstrichen ist,224 nimmt Sophie einen tränenreichen Abschied von ihrer Heimat, der mit einigen pathetischen Details geschmückt wird – beispielsweise füllt die Heldin ein Schmuckstück mit etwas Erde vom elterlichen Grab. Am Hof angekommen erregen zunächst die allseits vergebenen Schmeicheleien Sophies Missfallen, so dass sie in ihrem ersten Brief an die Vertraute Emilia nicht nur ihre Tante, sondern auch Friseur, Schneider und Putzmacher und deren „albernes Geschwätz“225 tadelt. Die Gräfin Löbau, die wie angedeutet ein Interesse daran hat, ihre Nichte am Hof zu behalten, setzt alles an Sophies „Umerziehung“. Nachdem sich die Protagonistin einigen kosmetischen Veränderungen auszusetzen hatte, unternimmt die Gräfin verschiedene Versuche, sie von ihrer Leidenschaft für Bücher abzubringen. Zunächst versucht sie es mit Bitten, wie Sophie berichtet: Heute spielte meine Tante eine seltsame Szene mit mir. Sie kam, sobald ich angezogen war, in mein Zimmer, wo ich schon bei meinen Büchern saß. „Ich bin eifersüchtig auf deine Bücher“, sagte sie, „du stehst früh auf und bist gleich angezogen; da könntest du zu mir kommen; du weißt wie gern ich mich mit dir unterrede. Dein Oncle ist immer mit seinen düstern Prozeßsachen geplagt; ich arme Frau muß schon wieder an ein Wochenbette denken, und du unfreundliches Mädchen bringst den ganzen Morgen mit deinen trockenen Moralisten hin. Schenke mir die Stunde, und gib mir die ernsthaften Herren zum Unterpfand.“226

Durch die von La Roche vorgenommene Kursivsetzung der Personalpronomen wird nicht nur erneut auf Charlotte von Löbaus Egoismus verwiesen, vielmehr verdeutlicht ihre Ansprache den Unterschied zwischen der Hofdame, deren größte Sorge die Langeweile ist, und der mit bürgerlichen Werten wie Fleiß und Ausdauer charakterisierten Protagonistin. Diesen wesentlichen Unterschied formuliert in der Folge auch Sophie: „Ich bin überzeugt, meine Frau Tante, daß das Hofleben für meinen Charakter nicht taugt; mein Geschmack, meine Neigungen gehen in allem davon ab“227. Auf diese Erklärung hin greift die Gräfin Löbau zu drastischeren Mitteln und lässt kurzerhand Sophies Bücher aus ihren Räumlichkeiten entfernen. Sophies Reaktion bedeutet ihren diesbezüglichen Eigensinn:

224 Rosina berichtet vom Ersuchen der Löbaus, Sophie direkt nach dem Tod Sternheims an den Hof zu führen: „Diese beiden Personen waren, dem Ansehen nach, gegen das Fräulein sehr verbindlich, und wollten sie sogleich mit sich nehmen; aber sie bat sich aus, ihr Trauerjahr in unserm Hause zu halten.“ Ebd. 225 Ebd., S. 62. 226 Ebd., S. 79f. 227 Ebd., S. 80.

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„Ein unartiger Spaß, der sie [die Tante] nichts nützen wird; denn ich will desto mehr schreiben“228. Schlussendliche Prägnanz erhält Sophies Haltung durch eine direkte Kritik der Heldin am Lebenswandel der Hofdamen: „Ich sagte“, so die Protagonistin, „es wäre mir unmöglich am Putztisch immer zuzusehen, nachmittags allezeit zu spielen oder müßig zu sein“229. Ein weiterer Kritikpunkt Sophies am höfischen Leben betrifft die Dekadenz der Hofleute, die im Kontrast einer Mittagsgesellschaft mit dem Auftreten der armen Bevölkerung zutage tritt. Angesichts des sie umgebenden Prunks entrüstet sich die Protagonistin über die offensichtliche Bedürftigkeit der einfacheren Leute: Da ich sehr viele in armseliger Gestalt und Kleidung, und uns hingegen in möglichster Pracht, und die Menge Goldes auf den Spieltischen zerstreut sah; das Fräulein C* aber von einem dergleichen Festin erzählte, dessen Aufwand berechnete, und auch die unzähliche Menge Volks anführte, die von allen Orten herzugelaufen, es zu sehen; kam ich in Bewegung230.

Sophies anschließende Predigt über den mangelnden Großmut des Fürsten führt zu Seymours entschuldigendem Einwurf, der Monarch werde möglicherweise nicht ausreichend über den Zustand seines Volks unterrichtet. Die Entgegnung der Heldin zeugt sowohl von ihrem rhetorischen Geschick als auch von ihren hehren Moralvorstellungen: „Ich will es glauben“, erwidert sie, „aber Mylord, stand nicht das Volk am Ufer, wo die Schiffahrt war? Hat der Fürst nicht Augen, die ihm ohne fremden Unterricht tausend Gegenstände seines Mitleidens zeigen konnten? Warum fühlte er nichts dabei?“231 Insbesondere die letzte Frage weist auf den wesenhaften Unterschied zwischen der Protagonistin und der höfischen Gesellschaft hin: Während Sophies bürgerliche Gesinnung einer gefühlvollen, empfindsamen Haltung entspricht, da sie Mitleid und die Sorge um sozial Unterlegene zentriert, zeichnet sich die höfische Aristokratie durch Gefühlskälte aus, ihre Bestrebungen sind zumeist rein egoistisch motiviert und sollen einzig sozialen Aufstieg und Wohlstand sicherstellen. Insgesamt stellt das Fräulein von Sternheim einen konkreten Gegensatz zum Hofleben dar, anstelle des dort üblichen Müßiggangs und der herrschenden Oberflächlichkeit vertritt Sophie bürgerlich konnotierte Werte wie Fleiß, Ausdauer und soziales Engagement. Mit dieser Gegenüberstellung entwirft La Roche ein sehr schematisches Oppositionsparadigma von höfischer Rationalität

228 Ebd., S. 81. 229 Ebd., S. 81f. 230 Ebd., S. 78. 231 Ebd., S. 80.



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auf der einen Seite und bürgerlicher Empfindsamkeit auf der anderen. Zwar mag die Assoziation des Hofes mit Rationalität zunächst merkwürdig anmuten, da man im höfischen Umfeld offensichtlich von geistigen Beschäftigungen nichts hören will, aber die Zuschreibung des Attributs „rational“ hat durchaus Bestand, wenn man wie Norbert Elias die Intrigen der Hofleute als Verstandesleistungen fokussiert: „Was wir verdinglichend ‚Vernunft‘ oder ‚ratio‘ nennen, tritt allemal dann auf, wenn die Einpassung in eine bestimmte Gesellschaft und das Durchsetzen, das Aufrechterhalten innerhalb ihrer eine spezifische Voraussicht oder Berechnung fordert.“232 Trotz des eklatanten Gegensatzes kann jedoch auch in Bezug auf Sophie von La Roches Roman nicht von einer Funktionalisierung des Kontrasts zwischen Adel und Bürgertum zugunsten einer schematischen Aufwertung bürgerlicher Wertvorstellungen die Rede sein. Zwar findet eine solche Aufwertung im Kontext einer Gegenüberstellung mit einer korrupten höfischen Aristokratie zunächst statt, allerdings wird keinesfalls der gesamte Adelsstand oder gar die Ständegesellschaft verurteilt.233 Die Kontrastierung des höfischen Adels mit einem bürgerliche Tugenden umsetzenden Landadel bildet vielmehr die Folie, vor der sich die Grundüberzeugungen der Heldin bewähren müssen und gleichzeitig einen grundsätzlichen Appell an die Humanität der Gesellschaft.

3.3.3 Empfindsamkeit: Ein bürgerlich-puritanischer Weltentwurf Sophie von La Roche nutzt die stereotype Darstellung der höfischen Gesellschaft und deren zweifelhafte Moralvorstellungen dazu, den Bestand der propagierten Werte zu prüfen. Dabei gehen die Angriffe auf die Tugend der Heldin von mehreren Parteien aus. Zunächst soll Sophie den Plänen der Löbaus zum Opfer fallen, die ihre Nichte dem Fürsten als Mätresse zuführen wollen, um dessen Gunst für einen Prozess zu gewinnen. Laut Lord Seymour weiß der gesamte Hofstaat, mit Ausnahme der Protagonistin, um diese Bestimmung des Fräuleins von Sternheim, was die Hofleute, inklusive Seymour, dazu veranlasst, die Entwicklung der Affäre interessiert zu beobachten. Insbesondere das Verhalten Seymours deutet auf die Vorbildfunktion Clarissas für den Roman La Roches hin. Während Richardson seine Heldin direkt durch den Verführer testen lässt, führt La Roche die Figur

232 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, 2. Aufl., Darmstadt: Luchterhand 1975, S. 168. 233 Ganz im Gegenteil kann Peter Uwe Hohendahl nachweisen, dass La Roches Roman hilft, die alte Ständeordnung zu rechtfertigen. Vgl. Hohendahl: „Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewusstsein“, S. 198.

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des Moralapostels ein, der als stiller Beobachter die Standhaftigkeit der Tugend prüft. Seymour, der Sophie längst liebt, will sie erst heiraten, wenn ihre Ehrbarkeit bewiesen ist und die Heldin somit von jeglichem Verdacht befreit ist: „Alle Züge des Charakters der [sic!] Fräulein geben mir Hoffnung zu einem Triumphe der Tugend. Aber er muß vor den Augen der Welt erlangt werden.“234 Die Intrige der Löbaus kann als Verführungsszenario gelten, geht es doch um die Verführung der prüden Heldin zum ausschweifenden Leben, wie Sophie selbst bemerkt. Sie soll das höfische Leben nicht nur tolerieren, sondern sich vollständig einfügen: „[I]ch soll denken und empfinden wie sie, ich soll freudig über meinen wohlgeratnen Putz, glücklich durch den Beifall der andern, und entzückt über den Entwurf eines Soupé, eines Balls werden.“235 Wie weit Sophie von dieser Anpassung entfernt ist, versteht sich von selbst. Allerdings wird ihr ihre Naivität zum Verhängnis. Bis zu ihrer öffentlichen Bloßstellung ahnt die Heldin nichts von den Plänen ihrer Verwandten, was es einem weiteren Verführer wesentlich erleichtert, einen Angriff auf ihre Unschuld vorzunehmen. Mit Lord Derby tritt ein Musterbeispiel des adeligen Verführers auf den Plan. Er ist zwar Engländer, was ihn in Sophies Ansehen begünstigt, erweist sich aber dennoch als Angehöriger der falschen Sorte von Adel. Nicht umsonst wurde Derby immer wieder mit Richardsons Lovelace verglichen, er steht seinem Vorgänger im Intrigieren in nichts nach. Er nutzt Sophies Unerfahrenheit, also die Schwäche der Protagonistin, um die sich ihr Vater vor seinem Tod sorgte, aus, um sie für sich zu gewinnen. So lässt Sophie sich vom Beginn ihrer Bekanntschaft an über Derbys Charakter täuschen, in der Tat fällt ihr Urteil zunächst wohlwollend aus: „Er ist ein feiner Mann von ungemein vielem Geist und angenehmen Wesen.“236 Derbys wahrer Charakter und seine unlauteren Absichten der Heldin gegenüber offenbaren sich dem Leser anhand der Korrespondenz des Libertins. Wie Lovelace führt auch Derby einen in sich geschlossenen Briefwechsel mit einem männlichen Vertrauten, dessen Name, Mylord B., die Affinität zu den Figuren Richardsons, Lovelaces und Belford, unterstreicht. Gegenüber Mylord B. bekennt Derby also seine Verführungsabsicht: „Für mich soll sie [das Fräulein von Sternheim] geblüht haben, das ist festgesetzt; allem meinem Verstand ist aufgeboten, ihre schwache Seite zu finden.“237 Dabei bedient er sich eben jener Scheintugend, vor der Sophies Vater diese schützen wollte: „Ich bin zu einer beschwerlichen Verstellung gezwungen, da ich meinen Charakter zu einer Harmonie mit dem ihrigen

234 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 93. 235 Ebd., S. 96. 236 Ebd., S. 82. 237 Ebd., S. 101.



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stimmen muß.“238 Diese Verstellung besteht im Wesentlichen in einer Inszenierung Derbys, die Sophie von dessen Wohltätigkeit überzeugen soll. Sorgsam darauf bedacht, dass die Heldin davon erfährt, hilft er einer notleidenden Familie. Derbys Intrigen führen letztlich zu Erfolg: Sophie willigt in seinen Heiratsantrag ein und verlässt mit ihm den Hof. Bereits über das Wesen Derbys getäuscht, fällt die Protagonistin damit einer weiteren Täuschung zum Opfer, indem sie glaubt, ihn geheiratet zu haben. Trotz ihrer Überzeugung von der Legitimität ihrer Ehe, widersetzt sich Sophie den sexuellen Annäherungsversuchen Derbys, der daraufhin die Beherrschung verliert. In einem weiteren Brief an B. schildert er, wie er Sophie am Frisiertisch vorfindet: Miltons Bild der Eva kam mir in den Sinn. Ich schickte ihr Kammermensch weg, und bat sie, sich auf einen Augenblick zu entkleiden, um mich so glücklich zu machen, in ihr den Abdruck des ersten Meisterstücks der Natur zu bewundern. Schamröte überzog ihr ganzes Gesicht; aber sie versagte mir meine Bitte geradezu; ich drang in sie, und sie sträubte sich so lange, bis Ungeduld und Begierde mir eingaben ihre Kleidung vom Hals an durchzureißen, um auch wider ihren Willen zu meinem Endzweck zu gelangen.239

Obschon die Wortwahl der Autorin („drang in sie ein“, „Endzweck“) den sexuellen Vollzug andeutet, lässt die Beschreibung auch den Schluss zu, Derbys Übergriff bestünde ausschließlich darin, dass er Sophie buchstäblich die Kleider vom Leib gerissen hat. Die Frage, ob es tatsächlich zur Vergewaltigung kommt, wird damit nicht ganz geklärt.240 Meines Erachtens spricht der Umstand, dass La Roche ihre Heldin sich als büßende Madam Leidens rehabilitieren lässt und ihr somit den Tod erspart, gegen den Verlust der Unschuld. Unabhängig von einer Antwort auf diese Frage kommt der Unklarheit der Vergewaltigung eine spezifische Bedeutung zu: Anscheinend spielt es keine Rolle, ob es zum sexuellen Vollzug kommt oder nicht, denn die Protagonistin, die sich zu diesem Zeitpunkt ja als rechtmäßige Ehefrau des Angreifers wähnt, empfindet bereits den Versuch

238 Ebd. 239 Ebd., S. 222. 240 Auch die Forschungsliteratur scheidet sich an dieser Frage. Während Hans-Joachim Maier das Stattfinden der Vergewaltigung konstatiert (Vgl. Hans-Joachim Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie. Erziehung, Bildung und Liebe im Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Eine literatursoziologische Studie von Christian F. Gellerts „Leben der schwedischen Gräfin von G***“ und Sophie von La Roches „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“, Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2001 (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 65), S. 269), spricht sich Michaela Krug zugunsten einer Bewährung der Tugend aus (Vgl. Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, S. 103). Auch Christine Lehmann zufolge, geht Derbys Übergriff auf Sophie nicht über deren Entkleidung hinaus (Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 46).

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Derbys, sich ihr gegen ihren Willen und mit solcher Exzessivität zu nähern, als unerträglich. In dem Moment, in dem Sophie schließlich den Scheincharakter ihrer Ehe entdeckt, wird ihr Selbstverständnis auf eine harte Probe gestellt, wie Anita Runge feststellt: Die Bewährungsproben, denen Sophies „Selbstgefühl der Vollkommenheit“ ausgesetzt wird, bestehen nicht hauptsächlich im Widerstand von Sophies Tugend gegen die sexuellen Angriffe des Verführers Derby. Zu bewähren hat sich vor allem ihre empfindsame Identität, deren Selbstgewißheit durch Derbys gelungene Täuschung empfindlich gekränkt ist. Sophie befindet sich in der innerhalb ihres Selbstentwurfs widersprüchlichen Situation, daß sie nicht wirklich gegen moralische Grundsätze verstoßen hat und sich trotzdem unglücklich fühlt.241

Die These, dass der Roman vor allem die Vulnerabilität von Sophies Selbstbild thematisiert, bestätigt wie gesehen die Tatsache, dass die Schilderung ihrer Vergewaltigung eher diffus ausfällt. Wichtiger als die Frage, ob Sophie tatsächlich ihre (sexuelle) Unschuld verliert, ist der Umgang der Heldin mit der bloßen Möglichkeit, denn ihre Tugend als angreifbar zu erfahren hieße für Sophie, ihre Selbstachtung zu verlieren. Tatsächlich deutet sich der Verlust des Selbstbilds an, indem Sophie ihre bisherige Identität ablegt und als Madam Leidens weiterlebt. Der Begriff von Empfindsamkeit, den Sophie von La Roche mit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim konzipiert, unterscheidet sich maßgeblich von den zuvor erörterten Äquivalenten der sensibility und der sensibilité. Er beruht vor allem auf dem Erhalt der Unschuld, sowohl im sexuellen Sinn als auch in Bezug auf einen umfassenderen Begriff von Moralität. Die Heldin muss die von den Eltern übernommenen moralisch-sittlichen Ideale gegen die Angriffe einer korrupten Welt verteidigen und sie so behaupten.242 In der Prüfung muss das elterliche Wertemodell, vor allem die Vorstellungen des bürgerlichen Vaters, seine Verbindlichkeit für die Heldin beweisen. Dieses Erbe bildet den Grundstock von La Roches Empfindsamkeitsbegriff, wobei Empfindsamkeit wiederum eng an den Begriff Tugend gekoppelt ist. Die Tugend der Protagonistin beinhaltet neben den oben dargestellten bürgerlichen Werten wie Fleiß und Ausdauer (im Gegensatz zum Müßiggang des Adels) sowie Toleranz und Wohltätigkeit (im Kontrast zur egozentrischen Aristokratie) auch ihre Fähigkeit, Versuchungen und gewaltsa-

241 Runge: „Märtyrerinnen des Gefühls“, S. 34. 242 Osinskis Ansatz, La Roches Tugendbegriff auf Rousseau zurückzuführen, erweist m. E. als schwierig, da La Roche im Gegensatz zum rousseauistischen Konzept des Gewissens als natürlich-intuitiver Instanz die Bedeutung anerzogener Inhalte betont. Vgl. Osinski: „Zum rousseauistischen Tugendbegriff“, S. 67.



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men Übergriffen zu trotzen. In diesem Zusammenhang ist Margrit Langner beizupflichten, die die Besonderheit von La Roches Tugendkonzeption darin sieht, dass die Tugend des Fräulein von Sternheim nicht durch äußere Einwirkungen in Frage gestellt werden kann. Der Folgerung Langners, dass La Roches Protagonistin im Vergleich zu Richardsons Frauengestalten eine menschlichere, lebensechtere Gestaltung der Tugend darstellt, muss allerdings widersprochen werden.243 Meines Erachtens personifizieren sowohl Clarissa Harlowe als auch Sophie von Sternheim unflexible, unumstößliche Ideale und zeichnen sich somit beide durch eine überirdisch anmutende Moral aus. Für die Leblosigkeit des Fräuleins von Sternheim spricht auch, dass sie unfähig zu jeglicher Form der körperlich-sinnlichen Empfindung scheint.244 Die einzige selbstständige Äußerung einer physischen Erregung der Heldin findet sich in einem vergleichsweise harmlosen Kontext, als Sophie nämlich beim Anblick Seymours, wie er dem Fräulein C* die Hand küsst, erschauert.245 Immer wieder warf man La Roches Romanheldin ihre Prüderie vor – eine Eigenschaft, die sicherlich zutrifft und die als den Roman bestimmende Prämisse die Ausgestaltung der idealisierten Heldin überhaupt erst ermöglicht.246 La Roche begründet mit der Sprödigkeit ihrer Heldin deren Tugend und zugleich das den Roman determinierende Konfliktpotenzial, denn wenn Sophie sich ihrem vermeintlichen Ehemann gegenüber nicht so kalt gezeigt hätte, wäre sie tatsächlich – wenn auch unwissentlich – schuldig geworden. Da sie sich aber als frigide Gattin gibt, versichert die Heldin dem Leser auch für den weiteren Handlungsverlauf ihre sittliche Unantastbarkeit. Diesen Zusammenhang, der für den Roman des 18. Jahrhunderts enorme Bedeutung beansprucht, verdeutlicht auch Christine Lehmann: Aus Gründen patriarchalischen Besitzdenkens wird die gute Frau frigide definiert. Die Heldin des 18. Jahrhunderts hat keine sinnlichen und sexuellen Interessen, ihr Lustgenuß wird nicht vorgeführt, im Roman wird von ihrer aktiven Sexualität nicht erzählt. Sie wird als Objekt männlicher Wünsche dargestellt. Was Frauen bleibt, die diesem Ideal anhängen, ist die geistig seelische Regsamkeit und empfindsame Sensationslust. So wird als Kompensation eigener Reglosigkeit ein Modell frigider Liebesabenteuerlichkeit favorisiert, das alle Komponenten des von bürgerlichen Frauen erfahrenen realen Zwangs, der Grausamkeit

243 Vgl. Langner: Sophie von La Roche – die empfindsame Realistin, S. 52. 244 Auf die Fähigkeit der Protagonistin, Leidenschaften zu beherrschen, weist schließlich auch Langner hin. Vgl. ebd. 245 Vgl. La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim,S. 82. 246 Dass sich der Vorwurf der Prüderie als Teilaspekt einer Trivialisierung vor allem auf die Figur des Fräuleins von Sternheim bezieht, verdeutlicht Urte Helduser. Vgl. Helduser: „Prüderie, Koketterie, Hysterie“, S. 16.

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und des Leidens beinhaltet, ohne dabei das bürgerliche Leben selbst anzugreifen. Dennoch wird der bürgerliche Alltag als Konfliktherd fiktional umspielt.247

Sexuelle Unantastbarkeit bildet eine wesentliche Komponente von La Roches Vorstellung von Empfindsamkeit, wobei das Desinteresse ihrer Heldin an allem Sinnlichen durchaus das Attribut prüde rechtfertigt. Innerhalb einer solchen Konzeption ist ein Konflikt zwischen tugendhaften und leidenschaftlichen Impulsen wie im Fall der Nouvelle Héloïse undenkbar. Das Verhalten des Fräuleins von Sternheim lässt nicht einmal die Ahnung einer Leidenschaft aufkeimen, von ihrer Leidenschaft für Bücher einmal abgesehen. Wie Nikolaus Wegmann gezeigt hat, entstammt diese entsexualisierte Weltanschauung dem mit den Empfindsamkeitsdiskursen eng assoziierten Konzept des zärtlichen Gefühls. Im Kontrast zur zeitgleich entstehenden Diskussion um leidenschaftliche Liebe lässt sich Zärtlichkeit als „intellektualisierte Sinnlichkeit“ beschreiben, als „ideale Synthese aus Sinnlichkeit, Vernunft und Moral“248. Das zärtliche Moment der Empfindsamkeit dominiert La Roches Fräulein von Sternheim insofern, als sich die Empfindsamkeit der Hauptfigur tatsächlich als vergeistigtes Ideal kennzeichnen lässt: Sophies Tugend drückt sich vor allem durch Altruismus und Selbstverzicht aus. Der Empfindsamkeitsbegriff, den La Roche mit ihrem Roman vertritt, lässt sich demnach als bürgerlich-puritanische Haltung beschreiben, wobei sich der Aspekt des Gefühls mit dem bourgeoisen Selbstverständnis der Heldin und ihrer daraus resultierenden Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen Benachteiligter erklären lässt. Bescheidenheit, Toleranz, Wohltätigkeit, Einfühlungsvermögen, aber auch Beharrlichkeit und Makellosigkeit, so lauten die Leitgedanken des hier vorgestellten empfindsamen Weltentwurfs.

3.3.4 Autonomie, Initiative und Entwicklung: Das Fräulein von Sternheim als aktive Heldin Eine grundlegende Frage der Forschungsliteratur an La Roches Roman bezieht sich auf das Entwicklungspotenzial der Heldin: Handelt es sich bei Sophie von Sternheim um ein statisches Weiblichkeitsideal, dessen tugendhafte Qualitäten bereits angeboren sind, womit es keiner Entwicklung bedarf, um die sich stellenden Prüfungen zu bestehen, oder entwirft La Roche eine der ersten aktiv handeln-

247 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 51. 248 Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1988, S. 42f.



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den Romanheldinnen, die sich erst über verschiedene Stationen hinweg zu dem Ideal entwickelt, das der Roman propagiert? Im Hinblick auf die hier fokussierte Suche nach autonom auftretenden bzw. – um es mit Barbara Becker-Cantarino zu sagen – ‚mündigen‘249 Romanheldinnen besitzt die Frage, ob sich die Geschichte des Fräuleins von Sternheim als Erziehungs-, Bildungs- oder Entwicklungsroman klassifizieren lässt, durchaus Relevanz und soll an dieser Stelle kurz reflektiert werden. Neben Anja May, die Sophie von Sternheim als Wilhelm Meisters Schwester betitelt,250 liest auch Hans-Joachim Maier La Roches Roman als Entwicklungsgeschichte. Laut Maier erfüllt die Heldin das Idealbild der tugendhaft-empfindsamen Frau keinesfalls von Beginn an, sondern entwickelt sich über verschiedene Lebensphasen hinweg erst zu diesem Ideal.251 In der Tat fällt an La Roches Romankomposition auf, dass sie ihre Heldin zahlreiche Stationen durchlaufen lässt.252 Während die Handlung bereits mit ihrer Umsiedlung an den Fürstenhof einsetzt, tritt sie außerdem eine Reise zu verwandten Stiftsdamen an, nimmt als Madam Leidens diverse Anstellungen auf, wird von Derby nach Schottland entführt und geht schlussendlich als Lady Seymour nach England. Im Rahmen dieser Bewegungen – und einzig darin behält Maier m. E. Recht – gelingt es Sophie, Lebenserfahrung zu sammeln. Sie entwickelt sich insofern, als sie Menschenkenntnis, deren Mangel ihr der Vater in seinem Brief an den Pfarrer unterstellt hatte,253 erwirbt und damit die Fähigkeit, sich den richtigen Lebenspartner zu wählen. Die eigentliche Hilfsquelle aber, durch die die Protagonistin all ihre Prüfungen besteht, besitzt sie von Anfang an. Es ist ihre Erziehung, die der Heldin

249 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur (1500 bis 1800), Stuttgart: Metzler 1987. 250 Vgl. Anja May: Wilhelm Meisters Schwestern, Kapitel II: Sophie von La Roche: „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“. 251 Vgl. Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie, S. 316. 252 Diesem Umstand wird vor allem im Hinblick auf Jane Austens Roman Sense and Sensibility (1811), den ich im folgenden Kapitel diskutieren möchte, Bedeutung zukommen. In Austens Roman steht das räumlich festgelegte weibliche Handlungspersonal dem äußerst mobilen männlichen gegenüber. Im Gegensatz zu Austens Protagonistinnen, die kaum etwas anderes tun können, als die jeweiligen Besuche der Männer zu erwarten, beweist das Fräulein von Sternheim außerordentliche Flexibilität. 253 An dieser Stelle drückt Sternheim nicht nur seine Sorge darum aus, Sophie könnte sich in einen nur „nach ihrer Phantasie tugendhaften Mann“ verlieben, sondern beklagt außerdem die Unfähigkeit seiner Tochter, schlechte Eigenschaften zu erkennen: „Sie faßt das Gute an ihrem Nebenmenschen mit so vielem Eifer auf, und schlüpft dann über die Mängel mit so vieler Nachsicht hinweg, daß ich nur darüber mit Schmerzen auf sie sehe.“ La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 53.

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von Beginn an die Mittel an die Hand gibt, alle Lebenskrisen zu überstehen und diese Erziehung ist im Gegensatz zu Maiers Auffassung wichtiger als die gewonnene Lebenserfahrung.254 Als Enkelin eines Professors hat Sophie gelernt, Lebenshilfe aus geistiger Aktivität zu beziehen, ihre Bildung ermöglicht es ihr, sich jederzeit (brieflich) mitzuteilen und schreibend alle Empfindungen zu verarbeiten. Dass auch Sophie, wie schon zuvor Clarissa, das Schreiben als Form der Krisenbewältigung nutzt, zeigt sich an mehreren Stellen. Wie zuvor besprochen reagiert Sophie auf den Bücherraub ihrer Tante mit der trotzigen Absicht, „desto mehr“ schreiben zu wollen, vor allem aber die Zeit der Gefangenschaft in Schottland zeugt von der Bedeutung des Schreibens. So überwindet die Heldin eine drohende Depression durch die Möglichkeit, sich schriftlich zu artikulieren: „Hoffnungslosigkeit, aller Aussicht auf Hülfe beraubt, kämpfe ich wider mich selbst; ich werfe mir meine Traurigkeit als ein Vergehen vor, und folge dem Zug zum Schreiben.“255 Dabei kann Sophie sich durch die Besinnung auf ihre Erziehung der eigenen Stärke rückversichern: „Wie glücklich bin ich heute noch durch den erhaltenen Anbau meines Geistes und meiner Empfindung gegen Gott und Menschen!“256 Das erworbene Wissen und die angeborene Tugend der Protagonistin unterliegen keinem Entwicklungsprozess, stattdessen ist Sophies Erziehung mit dem Einsetzen der Erzählung bereits abgeschlossen. Die einzige Kompetenz, die sich die Protagonistin tatsächlich erst im Laufe der Handlung aneignen muss, ist Lebenserfahrung. Ob sich Sophies Geschichte durch etwas mehr „Weltklugheit“ jedoch anders gestaltet hätte, ist fraglich, denn auch ohne Lebenserfahrung erkennt die Heldin bereits im ersten Teil der Erzählung in Seymour den idealen Mann für sich. Allein der Umstand, dass Seymour selbst sich auf seinen Beobachterposten zurück- und sich der Heldin damit entzieht, liefert den Grund dafür, dass sich Sophie, ohne auf weitere Bezugspersonen zurückgreifen zu können, an Derby hält. Alles in allem schildert die Geschichte des Fräuleins von Sternheim also keine nutzbringende Entwicklung. Die Protagonistin verkörpert von Beginn an ein Weiblichkeitsideal und die von ihr repräsentierten Werte müssen sich, wie auch Margrit Langner konstatiert, allenfalls noch bewähren. Laut Langner handelt es sich bei La Roches Roman weder um einen Entwicklungs-, noch um einen Erziehungs- oder Bildungsroman:

254 Vgl. Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie, S. 91. 255 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 304. 256 Ebd., S. 310.



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Fräulein von Sternheim wird von Anfang an als abgeschlossener Charakter gezeigt, an dem eine vorbildliche Bewährung vorgeführt wird. Die geschieht ohne eine innere Veränderung, d. h. ohne eine Entwicklung zu vollziehen. Daher fällt das Werk nicht unter die Kategorie des Entwicklungsromans. Eine eindeutige Zuweisung als Typus des Erziehungsromans ist ebenfalls abzulehnen, weil nicht die individuelle Erziehungsgeschichte im Mittelpunkt steht, sondern in einer Umkehrung die Protagonistin ihre Erziehung umsetzt und in verschiedenen Situationen vermittelt. Der Bildungsroman, eine spezifisch deutsche Ausformung des Entwicklungsromans, stellt weniger die Persönlichkeits- und Charakterentwicklung eines Menschen als den Einfluß der Gesellschaft, der Kultur und des personalen Umfelds vor, die die geistig-seelischen Anlagen zu einem harmonischen Ganzen ausbilden. Auch bei diesem Romantypus ist die innere Entwicklung von einer Erfahrungsstufe zur nächsten bestimmend. In der Figur Sophie von Sternheims sind keine Wendepunkte angelegt, von denen eine Veränderung abzuleiten ist.257

Obwohl von einer spezifischen Entwicklung nicht die Rede sein kann, so muss May und Maier doch insofern beigepflichtet werden, als das Fräulein von Sternheim zweifellos eine außerordentlich aktive Romanheldin repräsentiert. Dass es sich bei La Roches Protagonistin um die Vereinbarung zweier Weiblichkeitsmodelle handelt, ein statisches Idealbild ohne Entwicklungspotenzial auf der einen und eine aktiv handelnde Heldin auf der anderen Seite, verdeutlicht Sally Winkle: Sophie von La Roche’s heroine represents both an exemplary female role model as well as a sentimental feminine ideal. The difference is subtle, yet significant; a role model is a consciously constructed character, who nonetheless remains an active protagonist and demonstrates qualities which can be cultivated and learned. A feminine ideal, on the other hand is an embodiment of characteristics which are supposedly intrinsic to her genderspecific naure; her attributes are thus primarily inborn, and her personality is fixed rather than developing.258

Wenn auch Autonomie und Handlungsbereitschaft Sophies nicht zu einem Wandel ihrer Grundüberzeugungen oder gar ihres Charakters führen, so lässt sich diese Romanheldin doch als beispiellos in ihrer Aktivität beschreiben. Wie Barbara Becker-Cantarino festhält, erweist sich das Fräulein von Sternheim als eine der ersten mündigen Frauenfiguren der deutschen Literatur, die gerade durch ihre Aktivität aus der Masse der Heldinnen im 18. Jahrhundert herausfällt.259

257 Langner: Sophie von La Roche – die empfindsame Realistin, S. 43. Dem pflichtet auch Jutta Osinski bei, indem sie das Fräulein von Sternheim allenfalls zu einem „Stationenroman“ erklärt, „der an verschiedenen Orten und wiederholten Beispielen dieselbe Idee demonstriert.“ Osinski: „Zum rousseauistischen Tugendbegriff“, S. 66. 258 Winkle: Woman as Bourgeois Ideal, S. 57. 259 Vgl. Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit, S. 296.

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Das Stereotyp der mitfühlenden, mildtätigen, pflegenden Frau zitierend, findet La Roche einen Weg, die ungewöhnliche Tatkraft ihrer Heldin in angemessene Bahnen zu lenken. Nach dem Vorbild ihrer Eltern widmet sich Madam Leidens der Errichtung eines Armenhauses, nachdem sie als Sophie bereits durch ihre Freigiebigkeit gegenüber Bedürftigen aufgefallen war. Selbst in ihrer Gefangenschaft bleibt das Fräulein von Sternheim ihrer Rolle als Wohltäterin verhaftet, indem sie ein armes Mädchen in einfachen Handarbeiten unterrichtet und diese so in den Stand versetzt, sich ihren Unterhalt zu erwerben. Diese „übenden Tugenden“ erlauben es Sophie laut Becker-Cantarino „in sinnvolle Beziehung zu anderen Frauen (und Männern) zu treten und damit das Bezugsfeld und Herrschaftsverhältnis der patriarchalischen Gesellschaft in ersten Ansätzen umzudeuten.“260 Sophies Selbstbild entwickelt sich zwar nicht, es gewinnt jedoch an Gültigkeit, so dass das Fräulein von Sternheim insgesamt als außergewöhnlich selbstbewusste Romanheldin in Erscheinung tritt.

3.3.5 Resümee: Verstand und Gefühl in La Roches Fräulein von Sternheim Dass die Geschichte des Fräuleins von Sternheim Emotionalität thematisiert, steht fest. Um jedoch zu präzisieren, inwiefern Gefühle hier zum literarischen Thema werden, lohnt es sich, nochmals auf Anna Marx zu verweisen, die den Gefühlsbegriff des 18. Jahrhunderts wie folgt erklärt: Will man Gefühlskritik anstatt wie üblich Vernunftkritik üben, dann läßt sich festhalten, daß die Diskurse der Empfindsamkeit sehr rational darüber reflektierten, welche Affekte natürlich waren und wie diese affektive Natur zum Ausdruck kommen sollte: Nur die Gefühle, die als gedämpft, als prinzipiell beherrschbar galten, wurden in den Kanon der moralisch gerechtfertigten Emotionen aufgenommen und zum unabdingbaren Kennzeichen von Menschlichkeit stilisiert. Offen zur Schau getragene Sinnlichkeit oder rasende Leidenschaft hingegen galten als ungehörig, ungesund und asozial: sowohl zuwenig wie zuviel Pathos sind einer strengen Beurteilung nach dem Maßstab der als normal empfundenen Mitte ausgesetzt.261

Zu den moralisch vertretbaren weiblichen Gefühlen zählt der Geschlechtscharakterdiskurs insbesondere mitfühlende Kompetenzen. Die feminine Prädisposition zu Güte, Empathie und Fürsorgebereitschaft kommt auch in La Roches Roman zum Tragen. Sofern sich das Fräulein von Sternheim also in Aktivitäten flüchtet,

260 Ebd., S. 296f. 261 Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 14f.



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die auf dem typisch weiblichen Mitgefühl beruhen, kann sie ihre Emotionalität ein Stück weit verwirklichen, allerdings bleibt ein wesentlicher Teil ihrer Empfindungen dabei auf der Strecke. Sophies Sozialengagement steht nicht nur unter dem Zeichen des sich Aufopferns, sondern ist auch unter dem Aspekt des sich selbst Vergessens zu betrachten. Mit ihrer Identität als selbstlose Helferin – selbstlos sowohl im Sinne von Uneigennützigkeit, als auch im wörtlichen Sinne, da Sophie wie besprochen Namen und frühere Identität ablegt – errichtet die Protagonistin den Status des Leidens und Kämpfens für ihre humanistischen Grundüberzeugungen, was sie Antita Runges Formulierung zufolge zu einer „Märtyrerin des Gefühls“ macht.262 Die hier beschriebene von La Roche verfochtene Gleichsetzung von Emotionalität mit Mitgefühl legt den Schluss nahe, dass eher selbstzentrierte Aspekte des Gefühls, wie etwa Leidenschaftlichkeit, völlig ausgeblendet werden. Tatsächlich meint Leidenschaftlichkeit in Bezug auf das Fräulein von Sternheim ausschließlich die Leidenschaft für das Leiden. Die Protagonistin widmet sich an keiner Stelle des Romans bewusst ihren individuell-emotionalen Bedürfnissen. Im Gegensatz zu Rousseaus Julie lässt Sophie die Wahrnehmung solcher Empfindungen gar nicht erst zu. Dass sich Sophies Emotionalität als nahezu leidenschaftslos kennzeichnen lässt, zeigt sich im Vergleich der diversen Liebeskonzeptionen, die der Roman vorstellt. Wie Hans-Joachim Maier konstatiert, werden diese Liebesmodelle durch verschiedene Männerfiguren repräsentiert.263 Während Derby die moralisch verfemte zügellose Leidenschaft illustriert, verkörpert Seymour ein immerhin noch leidenschaftliches Liebesmodell, das sinnliche Aspekte mit einbezieht und seine ganze Entfaltung im Modus der Sehnsucht erfährt. Tatsächlich vergleicht Maier Seymour mit Goethes Werther, ein Vergleich, dem durchaus zuzustimmen ist, angesichts Seymours bereitwilliger Einfügung in die Vorstellung einer unmöglichen Erfüllung seines Begehrens.264 Sophie selbst entspricht ihrem Naturell nach am ehesten dem Modell, das Seymours Bruder, Lord Rich, vertritt und das sich als rational und entsexualisiert charakterisieren lässt.265 Mit seinem Heiratsantrag offeriert er der Heldin eine solide Freundschaftsbeziehung, die auf gegenseitiger Achtung basiert. Im Sinne des zeitgenössischen Komplementärgedankens prä-

262 Vgl. Runge: „Märtyrerinnen des Gefühls“, S. 31. 263 Vgl. Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie, S. 238. 264 Anstatt sich seinem Onkel zu widersetzen, der Seymour davon abhält, Sophie über die Pläne der Löbaus und des Fürsten zu unterrichten, fügt der Liebende sich in den Zustand des sich Verzehrens, den er folgendermaßen beschreibt: „Aber ich bin elend, höchst elend, durch die zärtlichste Liebe für einen würdigen Gegenstand, den ich unglücklicherweise mit den Fallstricken des Lasters umgeben sehe.“ La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 93. 265 Vgl. Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie, S. 267.

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feriert Sophie jedoch den Mann, der ein von ihren Vorstellungen abweichendes Liebesmodell repräsentiert. In der Ehe von Seymour und Sophie fügt sich die altruistisch-fürsorgliche Liebe der Heldin mit der romantisch-leidenschaftlichen Seymours zur perfekten empfindsamen Liebe zusammen.266 Bereits die dargestellten unterschiedlichen Liebeskonzeptionen deuten eine Zentrierung des Romans auch um rationale Aspekte an. Am striktesten vernünftigen Werten verhaftet ist sicherlich Lord Rich, aber auch Seymours Liebe gestaltet sich – jedenfalls im Hinblick auf die ausschweifende Gefühlsbestimmung Lord Derbys – gemäßigt, rational. Laut Anna Marx produziert der Unterschied zwischen Derby und Seymour in Form des „antithetischen Männlichkeitsmuster[s] macho : softie“267 die Opposition von Verstand und Gefühl auf anderer Ebene. Aber auch in Person der Protagonistin tritt die Dichotomie von Ratio und Emotion in Erscheinung. Die gemäßigte Form der Emotionalität, durch die das Fräulein von Sternheim sich auszeichnet, wird ergänzt durch ihre Vernunft, die sich als Betonung geistiger Kompetenzen darstellt. Insgesamt repräsentiert Sophie beides, Verstand und Gefühl, und zwar in Gestalt der zwei eminentesten Weiblichkeitsentwürfe des 18. Jahrhunderts, Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit.268 Sophie von La Roche nutzt die Pole Verstand und Gefühl jeweils dazu, einerseits die Übereinstimmung ihrer Heldin mit zeitaktuellen Rollenidealen zu gewährleisten, andererseits aber auch, um ihren Ausnahmecharakter zu begründen. Die Figur Sophie von Sternheims reproduziert verbindliche Normen von idealtypischer Weiblichkeit und ist zugleich als Sonderfall zu betrachten: Ihre Empfänglichkeit für (mitmenschliche) Empfindungen bestätigt ihre Femininität, wohingegen ihre Intelligenz und ihr Wissensdurst sie nicht etwa als unweiblich kennzeichnen, sondern vielmehr die Beispiellosigkeit dieser idealen Frau stützen. Was an dieser Figurenkonstruktion besonders auffällt, worin La Roches Heldin sich also sowohl von Clarissa als auch von Julie unterscheidet, ist die Tatsache, dass in der Gestalt des Fräuleins von Sternheim Empfindsamkeit nicht als unpraktikables Ideal vorgeführt wird, sondern als realisierbare Vereinigung von Verstand und Gefühl. Die Figur Sophies dient als Gegenbeispiel für die hypothetische Unvereinbarkeit der

266 Eine Seelenverwandtschaft zwischen Sophie und Seymour lässt sich dennoch ablesen, immerhin vertreten beide dieselben sittlich-moralischen Anschauungen, was Maier dazu bewegt die Wahl der Heldin als „projektiv narzißtisch“ zu erklären: „Sie liebt weniger den konkreten Menschen, sondern vielmehr die durch ihn personifizierten eigenen Tugenden, die sie in ihm gespiegelt findet. Nicht der Mann ist Ziel ihrer Träume, sondern die Bewunderung ihrer eigenen Moralvorstellungen, die sie bei Seymour zu erkennen glaubt.“ Ebd., S. 263f. 267 Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 144. 268 Neben Silvia Bovenschen argumentiert so beispielsweise auch Sally Winkle. Vgl. Winkle: Woman as Bourgeois Ideal, S. 45.



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Pole, indem sie Rationalität und Emotionalität gleichermaßen kanalisiert. Hier wird nicht ein Pol zugunsten des anderen abgewertet, sondern beide bestehen als gleichwertige Eigenschaften,269 wenn auch in jeweils gemäßigter Form. Ganz im Sinne des Geschlechtscharakterdiktats lässt die Protagonistin beide Prinzipien nur in Maßen zu, sie kultiviert ihren Verstand, insoweit er ihre humanistische Überzeugung unterfüttert, ihre Gefühle dagegen beschränkt Sophie auf dienliche, nämlich mitfühlende Empfindungen. Damit entspricht La Roches Fräulein von Sternheim in ihrer Psyche mehr als Richardsons Clarissa oder Rousseaus Julie dem zeitgenössischen Ideal der „Weiblichkeit als Mäßigkeit“ und kann so die zwei Elemente der Aufklärung, Rationalität und Empfindsamkeit, in sich vereinen.

3.4 Zusammenfassung Die erfolgte Betrachtung prominenter Romane des 18. Jahrhunderts, Richardsons Clarissa, or the History of a Young Lady, Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse und La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim, lässt den Schluss zu, dass der gynozentrische Roman vor 1800 die Opposition von Verstand und Gefühl zwar durchaus thematisiert, seine Heldinnen diesen Widerspruch aber nicht zur Gänze ausagieren lässt. Eine Protagonistin, die in sich selbst widerstreitende Ansprüche wahrnimmt, begegnet dem Leser einzig in Gestalt Julie d’Étanges. Clarissa Harlowe versucht die Integration von Verstand und Gefühl, scheitert jedoch an der einseitigen Orientierung ihres Umfelds an ausschließlich materiellen Aspekten, wohingegen Sophie von Sternheim schließlich die erfolgreiche Vereinigung der beiden Pole vorführt. Richardsons Clarissa schildert die ausgesprochene Empfindsamkeit einer Heldin anhand des Kontrasts zu einer inhumanen, durch materialistische Interessen regulierten Umwelt. Wie gesehen handelt es sich bei Clarissas Konflikt, der sich zunächst als Widerstreit von Pflicht und Neigung darstellt, weniger um einen Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft, als um einen zwischen Gefühl und Unvernunft. Ihre Empfindsamkeit, die sich vor allem aus compassion und reason speist, wird von einer ausschließlichen Rationalität angegriffen, die von außen an sie herangetragen wird. Clarissa selbst distanziert sich von dieser Form des Rationalismus, der sich, insofern er von greed herrührt, auch als Materialismus beschreiben lässt. Ihr Handeln ist durch und durch dem Ideal empfindsamer

269 Die fehlende Hierarchisierung der Konzepte Gefühl und Verstand beschreibt auch HansJoachim Maier. Vgl. Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie, S. 381.

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Moralvorstellungen verpflichtet. Erst durch ihren Tod gelingt es Clarissa, ihrem Wertverständnis Gehör zu verschaffen. Mit dem Tod der Frau wird die Bedrohung eines weiblichen Chaos ausgeräumt und die väterliche Ordnung bestätigt. Indem Richardson seine Protagonistin als schöne Leiche darstellt, ist es ihm möglich, zwar die potenziellen Konfliktpunkte einer patriarchalischen Weltordnung aufzuzeigen, diese aber nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Was hingegen hinterfragt wird, ist das Wertesystem der patriarchalen Gesellschaft, die im Kontrast zu dem von der Heldin vertretenen Konzept der sensibility nicht nur als inhuman und gefühlskalt beschrieben wird, sondern vor allem auch als unvernünftig. Etwas komplexer gestaltet sich das Verhältnis von Verstand und Gefühl im Hinblick auf Rousseaus Romanheldin Julie. Im Widerspruch von Tugend und leidenschaftlicher Liebe findet sich durchaus eine Entsprechung der konfligierenden Prinzipien Ratio und Emotion. Julies Empfindsamkeit zeichnet sich geradezu durch die Gleichzeitigkeit eines konventionellen Moralbewusstseins und einer Sensibilität gegenüber individuell-affektiven Bedürfnissen aus. Die Zerrissenheit der Protagonistin zwischen diesen beiden Aspekten der sensibilité tritt besonders deutlich anhand der Dreieckskonstellation der Figuren zutage. Rousseaus Roman kann in diesem Sinne als Versuch der Heldin gelesen werden, sich und ihre Verhaltensideale auf der Skala zwischen dem aufgeklärt-vernünftigen Wolmar und exzessiv-leidenschaftlichen Saint-Preux zu positionieren. Damit ist Julie durchaus einem Konflikt zwischen verstands- und gefühlsmäßigen Werten unterworfen. Diesen Konflikt, den Saint-Preux dadurch für sich löst, dass er sich radikal der Seite des Gefühls verschreibt und sich damit einer Integration in bürgerliche Existenzformen, wie etwa der Ehe, verschließt, kann Julie nur durch ihren Tod auflösen. Der Tod ist das Hilfsmittel Rousseaus, mit dem er seine Heldin aus der Bredouille einer Entscheidung befreit. Als Mann kann Saint-Preux, wie später Werther, voll und ganz in seiner Affektivität aufgehen, der Frau Julie bleibt dieser Weg verschlossen. Sie findet stattdessen eine provisorisch anmutende Lösung, indem sie sich sterbend mit beiden Idealen zugleich identifiziert. Von den Hinterbliebenen wird sie sowohl als leidenschaftlich Liebende, als auch als musterhafte Tugend erinnert, ihr Konflikt zwischen diesen beiden Identitäten endet mit ihrem Tod. Eine befriedigendere Lösung für den Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl findet Sophie von La Roche, indem sie die beiden Pole in ihrer Protagonistin zu einem Ideal vereint. Das heißt jedoch, dass das Fräulein von Sternheim einen Konflikt zwischen rationalen und emotionalen Ansprüchen gar nicht erst auszukämpfen hat. Stattdessen vereint Sophie mit Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit von Romanbeginn an die beiden der Opposition entsprechenden Weiblichkeitsentwürfe in sich. Dass die Protagonistin sich beide Ideale aneignen kann, verdankt sie ihrer spezifischen Definition, denn sowohl Rationalität als



Zusammenfassung 

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auch Emotionalität kann sie nur in gemilderter Form in ihren Verhaltenskodex integrieren. Während eine zu exzessiv betriebene Gefühlsbetonung die Heldin als unweiblich brandmarken würde, wäre auch eine zu ausgeprägte Rationalität, in Form von wissenschaftlicher Pedanterie, dem Idealbild von Weiblichkeit, das sie verkörpert, abträglich. Der drohenden „Vermännlichung“ entgeht La Roche über den Umweg, dass sie ihrer Heldin jeweils ausschließlich die Eigenschaften zugesteht, deren Besitz auch der Geschlechtscharakterdiskurs vorsieht, was in der Konsequenz bedeutet, dass sowohl der Verstand als auch das Gefühl nur in gemäßigter Form auftreten. Während Sophies Verstand die Grundlage ihres moralisch-sittlichen Werteverständnisses bildet, beschränkt sich ihre Emotionalität auf mitfühlende Kompetenzen, die sich schließlich in karitativen Handlungen äußern. Zumindest im Hinblick auf Richardsons Clarissa und La Roches Sophie lässt sich demnach festhalten, dass literarische Darstellungen weiblicher Emotionalität im 18. Jahrhundert (noch) vollkommen den Vorstellungen des Geschlechtscharakterdiskurses von idealtypischer Weiblichkeit verhaftet sind. Diese beiden Frauenfiguren stehen dem Gefühl insofern nahe, als es sich um Mitgefühl handelt, sich also ausschließlich auf andere bezieht. Individuelle Glückskonzeptionen bzw. der von Lawrence Stone beschriebene affective individualism werden ihnen dagegen nicht zugestanden. Für beide Protagonistinnen ist Standhaftigkeit die zentrale Maxime: Dabei zeigt Clarissa in der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie problematisch die Bewährung ist, wenn Standhaftigkeit sich infolge mangelnder Handlungsoptionen lediglich als Bewegungslosigkeit darstellt. Das empfindsame Seufzen und Wehklagen in Briefform ist der einzige Handlungsersatz. Sophie von Sternheims Standhaftigkeit löst sich zwei Jahrzehnte später ein Stück weit davon, da die Heldin Handlungsalternativen exploriert. Sophie kann eigene Entscheidungen durchsetzen und sogar kurze Zeit gänzlich selbstbestimmt leben. Damit erweitert La Roches Heldin Clarissas „Nein“ zum „Nein, sondern...“. Zwar bleibt sie ebenso wie ihre Vorgängerin ganz dem Geschlechtscharakterdiktat verhaftet, allerdings mündet ihre Geschichte in ein Idealbild häuslichen Glücks. Rousseaus Julie dagegen, die affektive Bedürfnisse erlebt, ohne sie im Rahmen der bürgerlichen Ehe verwirklichen zu können, bezahlt mit dem Tod. Dementsprechend bleiben die Darstellungen eines (weiblichen) Konflikts zwischen Verstand und Gefühl einigen Einschränkungen unterworfen. Als handlungsleitende Impulse werden Verstand und Gefühl zwar in allen drei Romanen thematisiert, die beiden Pole stellen jedoch keineswegs direkte Opponenten dar, zwischen denen es sich zu entscheiden gilt. Während Clarissa im Sinne der sensibility nach einer Vereinigung von Verstand und Gefühl strebt, um letztlich am Widerstand ihrer Umwelt zu scheitern, wohingegen es Sophie von Sternheim gelingt, die perfekte Allianz rationaler und emotionaler Eigenschaften umzuset-

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zen, unternimmt einzig Rousseau den Versuch, die beiden Prinzipien in seiner Protagonistin gegeneinander abzuwiegen, wenn auch unter der Einschränkung, dass Julie ihren Konflikt um den Preis des Todes ausficht. Sie muss sterben, um als gefühlvoll und vernünftig anerkannt zu werden. Romantexte des 19. Jahrhunderts lassen andere Ergebnisse erwarten, deren Heldinnen dürften im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen einen echten Entscheidungsprozess, innerhalb dessen sich Verstand und Gefühl die Balance halten, durchleben.270 Dies herauszuarbeiten ist Ziel des folgenden Kapitels.

270 Darauf, dass jenen Texten, „die ihre Möglichkeiten weitgehend unabhängig von Diskursfestschreibungen und außerliterarischen Normen ausgelotet haben, gerade aufgrund dieser Loslösung nicht nur die literar-historische, sondern auch die kulturelle Zukunft gehören sollte“, weist Annette Gerok-Reiter hin. Annette Gerok-Reiter: „angest/vorhte – literarisch. Möglichkeiten und Grenzen der Emotionsforschung zwischen Text und Kontext“, in: Emotionen, hg. v. Christina Lutter u. Daniela Hammer-Tugendhat, Bielefeld: Transcript 2010 (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften), S. 20.

4 Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl als weibliches Dilemma im Roman des 19. Jahrhunderts Während Konzeptionen von Empfindsamkeit (sensibility/sensibilité) für weite Teile des Romans im 18. Jahrhundert Sinn stiftende Funktion beanspruchen dürfen, wie nicht zuletzt die drei untersuchten Texte des vorangegangenen Kapitels demonstrieren, sucht man ein philosophisches oder ideologisches Konzept mit annähernd vergleichbarer Gültigkeit im 19. Jahrhundert vergebens. Bedingt durch ästhetische, aber auch gesellschaftliche Veränderungen löst sich die relative Geschlossenheit der Romangattung auf. Zwar zentrieren sich eine Reihe literaturgeschichtlicher Analysen um stilistische oder sozialgeschichtliche Parameter, so bezeichnen die Schlagworte Realismus und Bürgerlichkeit – synthetisch in dem Begriff des bürgerlichen Realismus subsumiert – zweifellos prägende Konturen für den Roman des 19. Jahrhunderts, geht man jedoch vom sogenannten langen Jahrhundert aus, dann zerfällt die Gattung in eine Fülle von Subkategorien, gerade was den internationalen Vergleich anbelangt. Die Textauswahl der folgenden Betrachtung muss dementsprechend eine heterogenere Gruppe von Romanen umfassen, um die vermutete Entwicklung einer zunehmenden Abweichung der Romanheldinnen vom Geschlechtscharakterdiktat nachzuverfolgen. Repräsentative Positionen der deutschen, französischen und englischen Romanliteratur des langen 19. Jahrhunderts auf dem Feld des Geschlechtscharakterdiskurses werden im Folgenden anhand von Jane Austens Sense and Sensibility (1811), Emily Brontës Wuthering Heights (1847), George Sands Indiana (1832) und Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95) herausgestellt. Konservative Setzungen des Diskurses werden insbesondere von Jane Austen ins 19. Jahrhundert transportiert, deren Sense and Sensibility einen Nachruf auf die Empfindsamkeit des vorigen Jahrhunderts darstellt.1 In vielerlei Hinsicht markiert Austens Roman den Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert: Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, verwirft die Autorin die ursprünglich angedachte Briefform zugunsten eines neuen Narrationsentwurfs zur Darstellung des Figureninneren. Die Dramatik dieses Inneren, zweifellos ein beson-

1 Im Unterschied zu einer Reihe von Vorgängerinnen (Beispielsweise kritisiert Mary Wollstonecraft mit Maria, or the Wrongs of Woman bereits 1798 die Auswirkungen der sensibility auf die weibliche Biografie) verhandelt Jane Austen die verschiedenen Implikationen der sensibility ausführlich, um schließlich eine geglückte weibliche Empfindsamkeit zu illustrieren, noch bevor Frances Burney eine ähnliche Erfolgsgeschichte in The Wanderer (1814) darstellt.

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deres Verdienst des Briefromans Richardsons, wird mit Sense and Sensibility so entscheidend weiterentwickelt.2 Indem Jane Austen einerseits den Werten ihrer Vorgängergeneration verhaftet bleibt, gleichzeitig aber Heldinnen entwirft, die in ihrem Autonomiestreben bereits einen Vorgriff auf spätere Protagonistinnen leisten, erweist sie sich als Autorin durchaus repräsentativ für die Epochenschwelle, auch wenn die Literaturgeschichtsschreibung sie oft als Außenseiterin betrachtet. Obgleich auch Emily Brontës Werk oft als Ausnahmeerscheinung charakterisiert wird, markiert sie doch im Hinblick auf meine Fragestellung einen für die Entwicklung der Romangattung höchst bedeutsamen Sonderfall: Mittels der homodiegetischen Erzählperspektive in Wuthering Heights findet eine deutliche Betonung der subjektiven, textimmanenten Normativität statt, auf ästhetischer wie auch auf inhaltlicher Ebene.3 Dabei ist Wuthering Heights sowohl als Abkehr von der Haltung der sensibility als auch vom strikten Geschlechtscharakterdiktat zu lesen, womit Brontë die weibliche Normabweichung entschieden konsequenter durchspielt als Austen. Einen plausiblen Übergang zwischen den Positionen Austens und Brontës liefert George Sands Roman Indiana (1832), der die Diskrepanz von individuell-weiblicher Leidenschaftlichkeit und gesellschaftlicher Setzung konkretisiert. Theodor Fontane nutzt wiederum eine rein auktoriale Erzählperspektive, um die Leere und Floskelhaftigkeit normativer Forderungen am Ausgang des Jahrhunderts darzustellen. Effi Briest deutet so schließlich die Erosion des Geschlechtscharakterdiskurses an.4

2 Dass Austens Romane Meilensteine innerhalb der Evolution moderner literarischer Kommunikation markieren, bestätigt auch Christoph Reinfandt. Dementsprechend liefert Austen die Grundlage für eine Umweltbeobachtung, „die die im 18. Jahrhundert abgearbeiteten Legitimationsprobleme umwelt- und systemreferenzieller Natur hinter sich lässt.“ Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 193. 3 Laut Reinfandt findet sich diese Akzentuierung auch in Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) sowie in Charles Dickens’ David Copperfield (1849/50) und Great Expectations (1860/61). Doch im Gegensatz zu diesen homogen perspektivierten fiktionalen Autobiographien „verweist Wuthering Heights mit seiner Thematik und seiner komplexen Erzähl- und Perspektivenstruktur deutlich auf die Problematik subjektiver Weltsichten und ihrer Vermittlung und dringt so bis an den äußersten Rand des realistischen Spielraums vor.“ Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 204. 4 Es ist das besondere Verdienst Fontanes, die zunehmende Distanz zwischen Realität und normativen Setzungen sowie die daraus resultierende Unmöglichkeit idealtypischer Weiblichkeit aufzuzeigen. Wurde die Rebellion gegen die Anforderungen geschlechtsspezifischer Setzungen zuvor bereits von Autorinnen wie Johanna Schopenhauer dargestellt, so versäumt es ihr Roman Gabriele (1819/20) jedoch, eine weibliche Existenzform jenseits der Diskursdiktate aufzuzeigen. Stattdessen gibt sich Johanna Schopenhauer durchweg pessimistisch und überlässt ihre Heldin einzig der Resignation.



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Obgleich es also schwer fällt, die Literatur des 19. Jahrhunderts schlagwortartig auf einen Nenner zu bringen, kann zumindest festgehalten werden, dass Romane nach 1800 wesentlich von ihren Vorgängern des 18. Jahrhunderts abweichen, um 1800 vollzieht sich innerhalb der Gattung ein offensichtlicher Wandel. Dieser lässt sich zunächst einmal als eine perspektivische Verschiebung fassen: An die Stelle des Briefromans, der trotz seines multiperspektivischen Potenzials doch oftmals in einseitigen Ich-Darstellungen verharrt, tritt die umfassende Sichtweise einer einzelnen Erzählerfigur.5 Wie Wolfgang Matzat herausstellt, liegt es zwar nahe, die Abkehr vom Medium Brief als eine Abkehr vom Thema individueller Emotionalität zu verstehen, der Konjunkturverlust der Briefform bringt jedoch keinesfalls einen rein auf Objektivität ausgerichteten Romantyp mit sich, vielmehr rückt der realistische Roman stärker noch als sein sentimentaler Vorgänger subjektiv-affektive Wirklichkeitsbezüge in den Vordergrund.6 Laut Hans Rudolf Picard stellt der Briefroman lediglich eine Übergangsform dar, welche der aufklärerischen Vorstellung von der Emanzipation des Individuums Rechnung trägt, deren Funktion sich indes im Zuge einer wachsenden Skepsis des 19. Jahrhunderts gegenüber der individuellen Selbsterkenntnis verliert.7 Das Vertrauen in die Ratio des Helden/der Heldin, so Picard, löst sich nach 1800 auf, weshalb der Roman neue Erzählstrategien entwickeln muss, um der „Gefahr seelischer und geistiger Leidenschaft“8 gerecht zu werden. In jedem Fall büßt die Problematik des affective individualism auch im 19. Jahrhundert nichts an ihrer Aktualität ein, tatsächlich gewinnen Aussagen des Romans über den Bezug der Innenwelt eines Helden zur Wirklichkeit nach 1800 deutlich an Kontur. Eine dieser Thematik entsprechende Form finden Autoren im Medium des Bildungsromans. Im Folgenden soll nun der Frage nach weiblicher Entwicklung in Romanen des 19. Jahrhunderts nachgegangen werden. Hierzu soll zunächst eine knappe Differenzierung der Begriffe Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungsroman vorgenommen werden, in deren Anschluss geklärt werden muss, inwiefern diese Gattungen im Hinblick auf weibliches Handlungspersonal über-

5 Wie indes Klaus Scherpe aufgezeigt hat, kommt dem Brief in der Literatur des 19. Jahrhunderts durchaus noch Bedeutung zu, nämlich als mediale Intervention des Ehebruchromans. Vgl. Klaus R. Scherpe: „Der Buchstabe ‚A‘ und andere Medien des Ehebruchs im Roman. Goethe, Hawthorne, Flaubert, Fontane, Tolstoi und Thomas Mann“, in: Weimarer Beiträge 56 (2010), H. 3, S. 389. 6 Vgl. Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 8. 7 Vgl. Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, S. 123. Im Hinblick auf die Kehrtwende des 19. Jahrhunderts zur epischen Erzählweise verweist Picard insbesondere auf die Romane Balzacs und Flauberts, deren Erzählerfiguren eine bewusste Distanz zum Erzählgeschehen einnehmen. Vgl. ebd., S. 118. 8 Ebd., S. 123.

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haupt fruchtbare Kategorien bereitstellen. Basierend auf einer Betrachtung der generellen Rolle weiblicher Romanheldinnen um sowie nach 1800, erfolgt anschließend meine Analyse des weiblichen Konflikts zwischen Verstand und Gefühl im Roman des 19. Jahrhunderts.

4.1 Ehefrauen, Mütter und Heldinnen: Weibliches Handlungspersonal in Romanen des 19. Jahrhunderts Die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts bietet ein immenses Aufkommen an weiblichen Hauptfiguren. Diese Heldinnen, so meine These, unterscheiden sich auffallend von ihren Vorgängerinnen und zwar durch das ihnen zugestandene Entwicklungspotenzial sowie die damit verbundene Möglichkeit des Scheiterns. Während empfindsame Romane ihre Protagonistinnen als unantastbare Idealbilder konzipieren und somit personifizierte Tugendkanons entwerfen, treten nach 1800 mehr und mehr betont unvollkommene Frauenfiguren auf den Plan. Dies konstatieren auch Antonie Schweitzer und Simone Sitte, wenn sie schreiben, „[n]icht mehr ‚das Weib, wie es seyn sollte‘, sondern wie es ist – in seinen eingeschränkten Möglichkeiten nämlich“ werde im Roman nach 1800 darge-stellt.9 Zweifellos basiert eine derartige Darstellung realistischer Frauenfiguren auf dem Novum der generellen Anerkennung weiblicher Perfektibilität. Mit dieser Eigenschaft wiederum erfüllt die Frau theoretisch die Grundvoraussetzung, um auch Protagonistin eines Bildungsromans zu sein, und tatsächlich widmen sich neben Schweitzer und Sitte eine Reihe weiterer AutorInnen der Suche nach weiblichen Bildungsromanen.10 Texte wie La Roches Fräulein von Sternheim oder auch Jane Austens Emma (1815) werden in diesem Zusammenhang häufig als Bildungsgeschichten gelesen. Zwar bestreite ich nicht – wie etwa Ursula Geitner11 – die grundsätzliche Perfektibilität weiblicher Romanheldinnen im beginnenden 19. Jahrhundert, allerdings gehe ich insofern mit Geitner konform, als ich die Gattung des Bildungsromans für eine durchweg androzentrische Kategorie halte.

9 Antonie Schweitzer u. Simone Sitte: „Tugend – Opfer – Rebellion. Zum Bild der Frau im weiblichen Erziehungs- und Bildungsroman“, in: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann, 1. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 165. 10 An dieser Stelle sei nochmals auf Hansjürgen Blinn hingewiesen, sowie auf Anja May, die mit ihrer Arbeit über Wilhelm Meisters Schwestern auf die androzentrischen Ursprünge der Gattung Bildungsroman aufmerksam macht. 11 Vgl. Geitner: „Soviel wie nichts?“, S. 35f.



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Der Bildungsroman kann wohl als eine der populärsten Gattungen des 19. Jahrhunderts gelten, dabei sind seine Wurzeln zweifellos bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verorten. Spätestens seit dem Erscheinen von Goethes Text Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), der sozusagen den genrespezifischen Prototyp darstellt, werden Bildungsromane in nahezu inflationärer Weise veröffentlicht. Eine eindeutige Definition des Begriffs scheint schwerlich möglich, variieren inhaltliche sowie formale Schwerpunktsetzungen doch bereits zur Entstehungszeit des Bildungsromans in hohem Maße von Autor zu Autor. Allgemein kann jedoch festgehalten werden, dass es sich zunächst um einen spezifisch deutschen Romantyp der Weimarer Klassik handelt,12 der die Reifung eines jugendlichen Menschen zum verantwortlichen Bürger beschreibt. Der Bildungsroman wird vor allem dadurch konstituiert, dass die Bildungsgeschichte der Handlungsebene den Anspruch erhebt, verbindliche Instanz für den gesamten Roman zu sein.13 Die Verbindlichkeit von Bildung als feststehendem Konzept lässt sich ausschließlich auf der Grundlage des zeittypischen Begriffsverständnisses erklären: Bildung ist in diesem Zusammenhang mit der Entwicklung zum verantwortungsbewussten Mitglied der Gesellschaft gleichzusetzen. Mascha Gemmeke beschreibt den charakteristischen Handlungsverlauf eines Bildungsromans als Reise des Helden, in deren Zuge er einen Reifungsprozess erlebt: The hero sets out from home in order to travel and see the world, and records his right or wrong turns. He falls in love and has his first sexual experiences before finding, and eventually marrying, his ideal companion. He thus gains knowledge of the world and his experiences modify his Weltanschauung.14

Der psychische Lernprozess des Helden wird somit zunächst durch äußere, soziale Faktoren – beispielsweise einen Umgebungswechsel – in Gang gesetzt. Ein weiteres wesentliches Kriterium des Bildungsromans, das in obiger Definition mitschwingt und das bereits angesprochen wurde, ist das Geschlecht des Protagonisten: Der prototypische Bildungsroman beschäftigt sich zuallererst mit

12 Aus Sicht der vorliegenden Arbeit spricht bereits die nationale Eingrenzung der Gattung Bildungsroman gegen den Gebrauch dieser Kategorie. Dazu, dass es sich beim Bildungsroman um ein spezifisch deutsches Genre handelt, das in der französischen Literatur etwa gänzlich unbekannt ist, hat sich insbesondere Rainer Warning geäußert. Vgl. Rainer Warning: „‚Éducation‘ und ‚Bildung‘. Zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich“, in: Lebensläufe um 1800, hg. v. Jürgen Fohrmann, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 121–140. 13 Vgl. z. B. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart: Metzler 1984, S. 40. 14 Mascha Gemmeke: Frances Burney and the Female Bildungsroman, Frankfurt/M. u. a.: Lang 2004, S. 32.

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der Entwicklungsgeschichte eines Mannes. Noch deutlicher tritt die androzentrische Orientierung in der Kritik Karl Morgensterns an den Romanen Goethes und Wielands zutage: Bey allen nicht genug zu preisenden Schönheiten dieser Werke scheint den am meisten mit Liebe behandelten Helden dieser Bildungsromane doch etwas sehr wesentliches zu fehlen, wodurch sie wenigstens für Jugendbildung weniger fruchtbar werden: hohe moralische Kraft, durchgreifender männlicher Charakter. [...] nicht bloß Romanhelden, sondern Helden: Männer. Wahrlich, wir leben in einer Zeit, wo Europa der Männer bedarf.15

Ein weiblicher Bildungsroman erweist sich notwendigerweise als äußerst problematisch. Die Reifung eines Protagonisten geschieht wie besprochen innerhalb eines bestimmten Rahmens, der von gesellschaftlichen und individuellen Kräften bestimmt wird. Wie nicht zuletzt die Analyse des mädchenpädagogischen Diskurses der Zeit gezeigt hat, gestaltet sich der Rahmen, in dem sich Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert bewegen, jedoch als extrem knapp begrenzt. Weibliche Handlungsoptionen sind letztlich durch Konventionen beschränkt, die Männer schlicht nicht betreffen.16 Zur Fokussierung auf den gynozentrischen Roman sei an dieser Stelle auf die weitere Unterscheidung zwischen Erziehungs- und Entwicklungsromanen verwiesen. Beide Romantypen sind vorrangig durch inhaltliche Merkmale bestimmt. Während der Erziehungsroman den Erziehungsverlauf eines jungen Menschen beschreibt, wobei der Held oder die Heldin meist von einer Mentorfigur begleitet wird, stellt der Entwicklungsroman den umfassenderen Begriff für Entwicklungsgeschichten aller Art und Zeit dar. Mittlerweile wird der Begriff Entwicklungsroman vorrangig auf Texte angewendet, die streng genommen nicht dem Bildungsroman zugerechnet werden können, die also nicht klassische Bildungsideale verfolgen, dennoch aber von einer geistigen Reifung handeln.17 Im Hinblick auf Romanheldinnen erweist sich insbesondere der Erziehungsroman als populäre Form. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinen gehäuft Romane,

15 Karl Morgenstern: Bruchstück einer den 12./14. Dezember 1810 in Dorpat im Hauptsaal der Kaiserlichen Universität öffentlich gehaltenen Vorlesung über den Geist und Zusammenhang einer Reihe philosophischer Romane, in: Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, hg. von Karl Morgenstern, Bd. 3, Jg. 1816, Erste Hälfte, Dorpat u. Leipzig: 1817, S. 195. Zit. nach Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, S. 13. 16 Auf die dürftige Vergleichbarkeit männlicher Helden und ihrer Handlungsoptionen mit denen ihrer weiblichen Gegenspielerinnen weist auch Silvia Mergenthal hin. Vgl. Mergenthal: Erziehung zur Tugend, S. 92. 17 Damit lässt sich der Begriff Entwicklungsroman insbesondere auf Texte jüngeren Datums beziehen, etwa Hermann Hesses Demian (1919) oder Günter Grass’ Blechtrommel (1959).



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die sich um eine weibliche Hauptfigur zentrieren und deren Titel oftmals schlicht dem Namen der Heldin entsprechen.18 Diese Texte handeln in der Regel von der jeweiligen Lektion, die die Protagonistin zu lernen hat. Entsprechend definiert Mergenthal das typische Muster des weiblichen Erziehungsromans dahingehend, „daß eine junge Frau durch ein Ereignis aus ihrer vertrauten häuslichen und familiären Welt gerissen und in eine neue Umgebung versetzt wird; in dieser neuen Umgebung muß sie sich behaupten und die wichtigste Entscheidung ihres Lebens, die für den richtigen Lebenspartner, treffen“19. Weiterhin bestimmt Mergenthal drei Variablen, die dem Erziehungsroman seine jeweilige Form geben: (1) der Grad der Aufmerksamkeit, der auf die Erziehung der Protagonistin gelegt wird, (2) die Figur des Mentors und (3) die Ereignisse, die den Entwicklungsprozess überhaupt erst auslösen.20 Unter der Auslassung einer (männlichen) Mentorfigur, lassen sich auch Clarissa sowie die Geschichte des Fräuleins von Sternheim als Erziehungsromane klassifizieren. Wie der Bildungsroman endet auch der Erziehungsroman mit einiger Sicherheit mit der Heirat der Heldin. An dieser Stelle bringt sich wiederum Gemmekes Beschreibung des (männlichen) Bildungsromans in Erinnerung, innerhalb derer ebenfalls von der finalen Eheschließung die Rede ist. Meines Erachtens besteht zwischen der Heirat des Helden und der seines weiblichen Pendants jedoch ein wesentlicher Unterschied. So ist die Heirat des männlichen Protagonisten, die auf die Wanderjahre – also die Jahre des Lernens und der Reifung – folgt, als Belohnung zu verstehen. Sie wird überhaupt erst dadurch möglich, dass der Held sich im Romanverlauf „die Hörner abgestoßen“ hat und gereift ist, wohingegen die Heldin um einiges bewusster auf das Ziel der Eheschließung hinarbeitet. Die Heirat ist für sie nicht so sehr eine Belohnung für erworbene Eigenschaften mit dem Überraschungsmoment eines unerwarteten Zugewinns, sondern vielmehr die logische Konsequenz der erfolgreichen Verbesserung ihrer Persönlichkeit mit dem Ziel, ideale weibliche Kompetenzen zu kultivieren. Während der (männliche) Held sich also auf ein Ziel zu bewegt, so Rachel Brownstein, versucht die Heldin eben jenes Ziel zu sein: „He makes a name for himself; she is concerned with keeping her good name. (But at the end of her story, when it’s happy, she takes

18 An dieser Stelle ließe sich unter Vorbehalt hinzufügen, dass sich der Ausgang eines solchen Romans oftmals anhand der spezifischen Namensnennung ableitet: Trägt ein Text schlicht den Vornamen seiner Protagonistin (z. B. Burneys Evelina oder Jane Austens Emma), so kann der Leser mit einem glücklichen Ausgang rechnen, wohingegen auf die Nennung des Nachnamens aller Wahrscheinlichkeit nach ein tragisches Ende folgt (z. B. Madame Bovary, Anna Karenina oder Effi Briest). 19 Mergenthal: Erziehung zur Tugend, S. 107. 20 Vgl. ebd., S. 107f.

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her husband’s name.)“21 Insbesondere der in Klammern gesetzte Verweis fällt hier ins Auge: Im weiblichen Äquivalent des Bildungsromans muss die Heldin ihr Ich finden, um es sogleich wieder aufzugeben und stattdessen die Identität der Ehefrau anzunehmen. Tatsächlich offenbart sich anhand des Themenspektrums Ehe und Partnerwahl die Divergenz von männlichen und weiblichen Romanfiguren. In der Formulierung Sonjeong Chos lässt der marriage plot weibliche Entwicklung die Gestalt einer Reise ins Innere annehmen, im Gegensatz zu der männlichen „voyage out“22. In diesem Sinne kann erneut Mergenthal zugestimmt werden, die die „Liebes- und Wachstumshandlungen“23 einer Frau für identisch erklärt und den Bildungsroman aus weiblicher Sicht daher mit anderen Typen gynozentrischer Romane wie dem Verführungsroman oder der novel of courtship gleichsetzt. In der Tat erweisen sich genrespezifische Unterscheidungen zwischen Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungsromanen in ihrer weiblichen Version als wenig fruchtbar. Letztlich betrachtet jeder gynozenrische Roman der Zeit die Prüfung und etwaige Bewährung seiner Heldin und zeichnet einzig dadurch deren Entwicklungsgeschichte nach. In Bezug auf die im Folgenden zu erörternden Romane soll daher von Bewährungs- und Prüfungsromanen gesprochen werden. Zweifellos widmen sich gynozentrische Bewährungs- und Prüfungsromane des 19. Jahrhunderts auch der Frage nach idealtypischer Weiblichkeit. Wie sich bereits anhand der von Frauen verfassten Ratgeberliteratur sowie auch anhand von Wielands Vorwort zu La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim abzeichnet, dient die explizite Betonung ausschließlich pädagogischer Absichten vielfach der Legitimation schreibender Frauen. Dies lässt sich offenbar auch auf Romanheldinnen übertragen: Unvollkommene und damit atypische Frauenfiguren treten allein mit der Begründung auf, eine modellhafte Entwicklung zu veranschaulichen. In diesem Sinne sind die Texte Jane Austens und Frances Burneys zu lesen, die ihre jungen Protagonistinnen auf dem Weg zur Eheschließung begleiten: Weiblichkeit als Perfektion ist hier implizit präformiert. Perfektibilität wird diesen Heldinnen lediglich im Rahmen eines eingeschränkten Zeitfensters zugestanden. Vor der Folie idealtypischen weiblichen Verhaltens lässt vor allem Austen ihre Heldinnen minimal davon abweichen, um sie letztlich für das Erreichen der Perfektion – die vollzogene Entwicklung – mit dem idealen

21 Rachel M. Brownstein: Becoming a Heroine. Reading About Women in Novels, New York: Viking Press 1982, S. 82f. 22 Vgl. Sonjeong Cho: An Ethics of Becoming. Configurations of Feminine Subjectivity in Jane Austen, Charlotte Brontë, and George Eliot, New York u. London: Routledge 2006, S. 27. 23 Vgl. Mergenthal: Erziehung zur Tugend, S. 91f.



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Ehepartner zu belohnen. Eine langfristigere Version der Perfektibilität, insofern ist Ursula Geitner durchaus zuzustimmen, hat in Bezug auf Weiblichkeit fatale Konsequenzen, sie führt zu Krankheit, Armut, Ehrverlust und Tod.24 Vor diesem Hintergrund lassen sich weibliche Romanfiguren in lediglich zwei Gruppen aufteilen: zum einen die, welche sämtliche Prüfungen bestehen, Verführungsversuche erfolgreich abwehren und sich nicht kompromittieren lassen, und zum anderen jene, die diesen Versuchungen erliegen – oder kurz gesagt, glückliche und tragische Heldinnen.25 In beiden Fällen jedoch, das kann festgehalten werden, ist es nicht die rundum rollenkonforme Frau, die zur Heldin wird. Während einerseits nonkonforme Protagonistinnen alias unreife junge Mädchen auftreten und andererseits tragische Heldinnen gegen institutionalisierte Konventionen rebellieren, trägt die diskurstreue perfekte Weiblichkeit nur selten einen Roman: Angepasste Frauenfiguren, also mit ihrer Rolle zufriedene Hausfrauen, Mütter und Gattinnen, erscheinen kaum als Romanheldinnen.26 Zu Heldinnen werden ausschließlich solche Figuren, die zumindest zeitweise von der weiblichen Normbiografie abweichen. Ein kritisches Moment stellt dabei die Institution der Ehe dar, denn während unverheiratete Heldinnen ihren Status nutzen, um sich ungestraft zu erproben, können etwaige Entwicklungen ihrer verheirateten Schwestern, in Form von lebensentscheidenden Veränderungen, nur ins Tragische führen. Wie gesagt, ist es niemals die vollkommen konforme Frau, die zur Heldin wird – schließlich hat sie dem Diskurs zufolge gar keine Konflikte auszufechten. Als Heldin geht die verheiratete Frau erst dann in die Literaturgeschichte ein, wenn sie als unglückliche oder unverstandene Frau auftritt.27 Sie erscheint

24 Vgl. Geitner: „Soviel wie nichts?“, S. 36. 25 Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Merryn Williams vor, die jedoch tragische Figuren, „fallen women, heartless fine ladies, shrews, and, towards the end of the century, ‚new‘ or ‚strong-minded‘ women“, überhaupt nicht als Heldin bezeichnet. In Bezugnahme auf Jane Austens Begriffsgebrauch klassifiziert sie als „heroines“ ausschließlich die ihre Prüfungen erfolgreich bestehenden Romanheldinnen. Vgl. Merryn Williams: Women in the English Novel, 1800– 1900, Houndmills: Macmillan 1985, S. 34. 26 Dies halten auch Kimberley Reynolds und Nicola Humble fest: „In fact, the ideal wife-mother, sexless and dutiful, is not the central concern of the typical novel of the period. Although ostensible aim, she is significantly displaced in favour of the adolescent girl or young woman, and the story of her progress towards matrimony and virtue.“ Kimberley Reynolds u. Nicola Humble: Victorian Heroines. Representations of Femininity in Nineteenth-Century Literature and Art, New York u. a.: Harvester Wheatsheaf 1993, S. 15. 27 Diesen Typ Frauenfigur untersucht Bettina Klingler, dabei zieht sie neben Madame Bovary u. a. Anna Karenina und Balzacs Femme de trente ans heran. Vgl. Bettina Klingler: Emma Bovary und ihre Schwestern. Die unverstandene Frau. Variationen eines literarischen Typus von Balzac bis Thomas Mann, Rheinbach-Merzbach: CMZ 1986.

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als Intrigantin, als Ehebrecherin oder in Gestalt der new woman, die versucht, alternative Lebensformen zur Ehe zu verwirklichen.28 Diese Frauentypen sind im Roman des 18. Jahrhunderts undenkbar, wenn sie dort überhaupt in Erscheinung treten, dann nicht als Heldinnen, sondern allenfalls als Nebenfigur und/oder abschreckendes Beispiel. Die erfolgreicheren, meist jungen, ledigen Protagonistinnen sind dagegen stärker ihren Vorgängerinnen verhaftet, schließlich fokussieren auch die drei zuvor betrachteten Beispiele des sentimental-empfindsamen Romans in der Hauptsache unverheiratete junge Frauen. Gleichwohl unterscheiden sich diese von den im Prüfungs- bzw. Verführungsroman auftretenden Frauenfiguren nach 1800. Während das 18. Jahrhundert vor allem „Pamela-Heroines“ hervorgebracht hat, um einen Term von Elizabeth Sabiston zu bemühen, nämlich Heldinnen, die jung, unerfahren und dementsprechend abhängig bzw. schwach erscheinen, stellt das 19. Jahrhundert die sogenannte „Emma-Heroine“ ins Zentrum seiner Romane, die Sabiston als isoliert, begabt und ideenreich charakterisiert: „she displays energy and initiative in her attempts to mould external reality by means of her imaginative creativity.“29 Angesichts dieser Kontrastierung liegt es nahe, die so beschriebene Entwicklung durch die Betrachtung eines Austenromans nachzuvollziehen. Dazu sollen im Folgenden die vermeintlich gegensätzlichen Schwestern Elinor und Marianne Dashwood aus dem 1811 veröffentlichten Roman Sense and Sensibility betrachtet werden.

4.2 Jane Austens Sense and Sensibility (1811) Wie bereits in Sabistons Charakterisierung angeklungen ist, stellen Jane Austens weibliche Romanfiguren, von der Autorin selbst eher ironisch als heroines bezeichnet, einen ganz bestimmten Typ Heldin dar. An den adoleszenten Mädchen, deren Tagesablauf allein von Besuchen, gelegentlichen Dinnerpartys und der Ausübung typisch weiblicher Beschäftigungen wie Klavierspiel, Gesang, Zeichnen und Handarbeiten bestimmt wird, ist freilich wenig „Heroisches“.

28 Eine Ausnahmeerscheinung bildet die Prostituierte, die insbesondere im französischen Roman zu finden ist. In ihrem Fall hängt ihr Scheitern bzw. die Tragik ihrer Geschichte nur indirekt mit dem Ehestand zusammen: Als Frau befindet sich die Prostituierte nicht nur jenseits der gesellschaftlichen Institution Ehe, sondern generell außerhalb der (‚guten‘) Gesellschaft. Da sich die vorliegende Untersuchung auf den gynozentrischen Roman als Prüfungs- und Verführungsroman bezieht, ist die Prostituierte als Heldin nahezu irrelevant, sie ist sozusagen unverführbar, schließlich hat sie keine Unschuld zu verlieren. 29 Elizabeth Jean Sabiston: The Prison of Womanhood. Four Provincial Heroines in NineteenthCentury Fiction, Houndmills u. London: Macmillan 1987, S. 5.



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Dennoch befindet sich Austens heiratsfähiges Mädchen in einer äußerst konfliktträchtigen Situation, schließlich hat sie sich, wie Patricia Spacks konstatiert, im Rahmen der erzählten Zeitspanne mit Entscheidungen von erheblicher Tragweite auseinanderzusetzen: „In adolescence, the woman makes her crucial choices – the choices that must precede her working out of her ambiguities of dependency, her commitment to ‚taking care.‘ Marriage, obviously, is the ‚normal‘ conclusion, the orthodox way for a girl to declare herself adult.“30 In der Tat stellen die Ereignisse, die der Eheschließung vorangehen, im Kontext der Romane Jane Austens den Basis-Plot dar, was zunächst banal erscheinen mag. Im Kontrast zu den melodramatischen Abenteuern, denen Samuel Richardsons Heldinnen ausgesetzt sind, erscheinen Austens Romane fast schon ereignislos. Allerdings behält Ellen Moers Recht, wenn sie in diesem Zusammenhang erklärt, Austen sei wesentlich realistischer als ihr Vorgänger, indem sie die Handlungsoptionen ihrer Heldinnen aus spezifisch weiblicher Perspektive abwägt; aus dieser Sicht gibt es lediglich drei alternaive Lebensentwürfe: „the right marriage, the wrong marriage, or spinsterhood“31. Dieser Auffassung pflichtet auch Rachel Brownstein bei, die den Unterschied zwischen Richardsons und Austens Heldinnen wie folgt erfasst: „Boredom and banality threaten Austen heroines more seriously than wrack and ruin do; the reason a girl must keep her wits about her is that the world is a fearfully quiet place.“32 So ist es also das Alltägliche, das die weibliche Sichtweise in den Romanen Jane Austens bestimmt. Ganz dem Geschlechtscharakterdiskurs entsprechend schließt Austen das Außerordentliche für ihre Protagonistinnen aus. Der einzig wünschenswerte Lebensweg führt ihre Heldinnen unweigerlich vor den Traualtar. Dabei übernimmt die Ehe nicht nur die ihr von Spacks zugeschriebene Bedeutung eines sichtbaren Zeichens des Erwachsenwerdens, sondern enthält daneben die Dimension einer Schutzfunktion.33 Den sprichwörtlichen Ehehafen stellt zumeist das Romanende dar, hierhin zieht sich die Protagonistin zurück, durch ihre nunmehr klar definierte Rolle nimmt sie eine stabile Position im sozialen Gefüge ein. Ihre individuelle Entwicklungsgeschichte formt sie nicht wie den Helden des Bildungsromans zu einem mündigen, verantwortungsvollen und vor allem handlungsberechtigten Mitglied der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, sondern zu einer im Hin-

30 Patricia Ann Meyer Spacks: The Female Imagination. A Literary and Psychological Investigation of Women’s Writing, London: Allen and Unwin 1976, S. 113f. 31 Ellen Moers: Literary Women, London: W. H. Allen 1977, S. 72. 32 Brownstein: Becoming a Heroine, S. 91. 33 Die bestätigt u. a. Jenni Calder, die die Heirat der Romanheldinnen Burneys und Austens als „their only safe refuge“ bezeichnet. Jenni Calder: Women and Marriage in Victorian Fiction, London: Thames and Hudson 1976, S. 17.

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tergrund wirkenden, ewig anonymen Ehefrau. In dieser Rolle ist sie sicher vor den Angriffen der Umwelt auf ihre Unschuld, sowohl allgemein-charakterlich als auch sexuell. Hinsichtlich der Bedeutung des weiblichen Attributs Unschuld unterscheiden Austens Romanheldinnen sich letztlich nicht sehr von den Protagonistinnen des sentimental-didaktischen Romans. Im Unterschied allerdings zum 18. Jahrhundert steht der Begriff Unschuld nun nicht länger unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit. Literarisch ließe sich das beginnende 19. Jahrhundert mit Patricia Thomson wie folgt beschreiben: „Sensibility […] was on its way out; feminism not yet on its way in.“34 Was für Jane Austens Heldinnen gilt, ist zweifellos auch auf die Autorin selbst anzuwenden: Jane Austens Schaffen fällt in eine Zeit des Übergangs, konzeptuell ist sie weder der sensibility noch der englischen Romantik zuzurechnen, auch wenn ihr Schreiben im Zeitraum der letzgenannten Epoche anzusiedeln ist. So wenig Austen sich den literarischen Konventionen ihrer Zeit anschließt, ebenso wenig Interesse bekundet sie dem Zeitgeschehen, was ihr massive Kritik nicht nur seitens viktorianischer Leser einbrachte.35 Tatsächlich liest man bei Austen nichts von der Französischen Revolution oder den Napoleonischen Kriegen, stattdessen konzentriert sie sich auf das Alltagsgeschehen. Dieser begrenzte Themenkreis veranlasst Herbert Foltinek dazu, Jane Austens schriftstellerisches Wirken als Ausgangspunkt einer literarischen Übergangsepoche zwischen der Empfindsamkeit und dem realistischen Roman des viktorianischen Zeitalters zu begreifen. Foltinek definiert den Zeitraum zwischen Austens Tod und dem Auftreten Dickens’, 1815 bis 1837, als Phase des Übergangs, die von einer zunehmenden Fokussierung auf das Alltägliche als Ausdruck realistischer Wirklichkeitsdarstellungen geprägt ist.36 In dieser Phase, so Foltinek, „wandte sich die erzählende Literatur den verschiedenen Wirkungskreisen des Menschen zu, die sie in objektiver und eindrucksvoller Weise wiederzugeben suchte. Nicht das außerordentliche Ereignis, sondern das Alltagsgeschehen stand dabei im Vordergrund

34 Patricia Thomson: The Victorian Heroine. A Changing Ideal, 1837–1873, 2. Aufl., Westport: Greenwood Press 1978 (= Nachdruck der Ausg. London 1956), S. 10. 35 Dieser Kritik schließt sich beispielsweise Marilyn Butler an und interpretiert Austens diesbezügliche Zurückhaltung als Anerkennung der vom Geschlechtscharakterdiskurs vorgegebenen Trennung von männlicher und weiblicher Sphäre. Vgl. Marilyn Butler: Romantics, Rebels and Reactionaries. English Literature and Its Background 1760–1830, Oxford: Oxford University Press 1981, S. 98. 36 Vgl. Herbert Foltinek: Vorstufen zum Viktorianischen Realismus. Der englische Roman von Jane Austen bis Charles Dickens, Wien u. Stuttgart: Braumüller 1968 (= Wiener Beiträge zur englischen Philologie, Bd. 71), S. 1.



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des Interesses“37. Sicherlich steht der Roman damit anderen Gattungen konträr gegenüber und seine bevorzugten Themen, etwa die Ehe, können schließlich als durch und durch prosaisch bezeichnet werden. In diesem Sinne erklärt Laurence Lerner Jane Austen zur Expertin: „If marriage is made of prose, then Jane Austen is just the writer for it“38. In seiner Unterscheidung von Love and Marriage geht Lerner davon aus, dass Liebe ausschließlich im Epos oder der Romanze beschworen werden kann, wohingegen es der realistischen Gattung Roman zukommt, die Ehe darzustellen: „Realism sees the world under the control of reason: and reason and love keep little company together. The difference between romance and realism is exactly appropriate to that between love and marriage.“39 Angesichts dieser klaren Zuschreibung stellt sich die Frage, ob sich hinter den Paradigmen sense und sensibility, die den nun zu erörternden Roman antithetisch überschreiben, nur das Thema Ehe verbirgt, oder ob Austen in ihrem Roman doch auch von außer- bzw. vorehelicher, leidenschaftlicher Liebe erzählt.

4.2.1 Die Prämissen: Elemente des sentimentalen Romans Sense and Sensibility erscheint 1811 als erster der sechs vollendeten Romane Jane Austens und erzählt die Geschichte der Schwestern Elinor und Marianne Dashwood, auf beider Weg zur Heirat. Dem typischen Muster eines Erziehungsromans entsprechend werden die Protagonistinnen zu Beginn der Handlung aus ihrer vertrauten Welt in eine neue Umgebung versetzt, in der sie neue Bekanntschaften schließen und letztlich jeweils den Partner fürs Leben treffen. Die Initialzündung dieses Ortswechsels bilden der Tod des Vaters und das Recht der männlichen Erbfolge, der die Dashwoods dazu zwingt, den Familiensitz zugunsten des Halbbruders John zu verlassen. Damit stürzt Austen ihre Heldinnen in eine finanziell missliche Lage, die ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt empfindlich einschränkt. Im Einklang mit der durch den Titel recht eindimensional anmutenden Charakterisierung der beiden Protagonistinnen – so tritt Elinor zunächst als die vernünftige, Marianne indes als die gefühlvolle Schwester hervor – lässt sich der Romanausgang bewerten: Konträr zur jeweiligen Attribuierung schließt Marianne eine Vernunftehe, wohingegen sich für Elinor die Liebesheirat erfüllt. Mit dem Titel Sense and Sensibility nimmt Jane Austen augenfällig Bezug auf die literarische Konvention des 18. Jahrhunderts, sie zitiert zum einen den zeittypi-

37 Ebd., S. 316. 38 Lerner: Love and Marriage, S. 24. 39 Ebd., S. 35.

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schen Begriff sensibility und reproduziert zugleich die Klischeevorstellung einer Opposition zwischen Ratio und Emotion. In Bezugnahme auf die Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels lässt sich bereits an dieser Stelle festhalten, dass sich die Antithese Sense and Sensibility sicherlich nicht umstandslos in den Widerspruch von Gefühl und Verstand – wie dies in deutschsprachigen Übersetzungen gemeinhin geschieht – übertragen lässt. Jane Austen deutet hier weniger eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von emotionalen und rationalen Prinzipien an, als vielmehr die Kollision zweier unterschiedliches Handeln evozierender Konzepte, Empfindsamkeit und Rationalität. Was das Themenspektrum betrifft, so werden hier einige Anleihen Austens beim sentimentalen Roman erkennbar: In Sense and Sensibility geht es, wie auch in den Romanen Richardsons, um Verführung und Betrug, um Krankheit und (weibliche) Ohnmacht. Zwar zeigt der bereits vor Sense and Sensibility entstandene Roman Northanger Abbey stärkere Züge einer Parodie des sentimentalen Romans – in diesem Zusammenhang werden v. a. die zu Austens Zeit immens populären gothic novels persifliert – doch auch noch im Rahmen ihres zweiten Werks spielt die Autorin mit den Klischees ihrer Vorgängergeneration.40 Beispielsweise greift sie das von Renate Mann für den Roman des 18. Jahrhunderts als typisch klassifizierte Kriterium der „Elternlosigkeit“ der Heldin auf.41 Wie erwähnt öffnet der Roman damit, dass seine Protagonistinnen, Marianne und Elinor, zu Halbwaisen werden. Darüber hinaus beschreibt ein Großteil der Handlung den Aufenthalt der Schwestern in London, den sie ohne ihre eigentliche Mutter unter dem Dach der zwar gutmütig-mütterlichen, aber doch auch indiskreten und leichtfertigen Mrs. Jennings zubringen. Betrachtet man schließlich noch den Umstand, dass Mrs. Dashwood, obgleich von ihren Töchtern respektiert und geachtet, keinesfalls das Musterbeispiel einer integren oder gar autoritären Mutter darstellt – in der Tat übernimmt Elinor in fast allen wichtigen Entscheidungen den Part des Familienoberhaupts – erscheint die Etikettierung „elternlos“ für die Dashwood-Schwestern durchaus angebracht.

40 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Austens eigentliches Erstlingswerk der 1798/99 entstandene Roman Northanger Abbey ist, dessen Publikation jedoch erst 1818 posthum erfolgte. 41 Unter elternlosen Heldinnen versteht Mann nicht nur tatsächliche Waisen, sondern auch solche Protagonistinnen, die der elterlichen Obhut entrissen und in eine neue Umgebung versetzt werden. Vgl. Renate Mann: Jane Austen. Die Rhetorik der Moral, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1975 (= Neue Studien zur Anglistik und Amerikanistik, Bd. 4), S. 19. Eine entsprechende Sichtweise vertritt Rachel M. Brownstein: „The parents of a heroine in a novel of courtship are often absent, unfeeling, or incompetent; relying on her inner lights, she must make something of herself.“ Brownstein: Becoming a Heroine, S. 40.



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Tatsächlich zeichnet dieses Merkmal für ein weiteres typisches Element des sentimentalen Romans verantwortlich, nämlich die moralische Isolation der Heldin. Elternlos in einer fremden Umgebung auf sich selbst gestellt, muss sie sich und ihre Wertvorstellungen behaupten, dabei transportiert die Protagonistin oftmals Werte der einen Welt, etwa die der Eltern, in eine andere (beispielsweise La Roches Fräulein von Sternheim). Zahlreiche empfindsam-sentimentale Romane schaffen für ihre Heldin eine Situation der moralischen Isolation, insbesondere Richardsons Clarissa sieht sich dieser Ausgrenzung gegenüber, sie verfügt mit Ausnahme der letztlich doch machtlosen Anna Howe über keine Vertrauensperson, mit deren Anschauungen sie sich identifizieren könnte. Eine derartige Situation könnte zumindest in Bezug auf Elinor Dashwood konstatiert werden. Aufgrund ihrer emotionalen Selbstzensur verwahrt Elinor sich dem Mitgefühl ihrer Familie. Um dieser nicht zur Last zu fallen, behält sie ihre Sorgen stets für sich und verfolgt ihre moralischen Ideale damit als Einzelgängerin. Auch Marianne kann ansatzweise das Merkmal einer moralischen Isolierung zugeschrieben werden, als empfindsame Heldin bzw. gar „schöne Seele“ inmitten der sie umgebenden unsensiblen und indiskreten Figuren. Als letztes Versatzstück der Romantradition des 18. Jahrhunderts sei an dieser Stelle auf Jane Austens Rückgriff auf den Zufall verwiesen. Obwohl einige handlungsrelevante Wendungen eher als erzähltechnische Notlösungen erscheinen – so hat die Forschung Sense and Sensibility lange Zeit nicht umsonst als stilistisch defizitäres Werk betrachtet – lässt sich durchaus ein bewusster, fast parodistischer Umgang mit dem Zufall beobachten. Die Begegnung Mariannes mit Willoughby, dem heldenhaften Adeligen, in den sie sich sogleich verliebt, findet rein zufällig statt. Mehr noch: Es ist purer Zufall, dass Willoughby ausgerechnet in dem Moment des Weges kommt, in dem die jugendliche Heldin stürzt und auf einen Retter angewiesen ist. In männlich heroischer Manier trägt Willoughby die verletzte Heldin also ungeachtet jeglichen Zeremoniells nach Hause und gibt ihr so Stoff für ihre ohnehin schon romantischen Vorstellungen. Mit Renate Mann muss man sich an dieser Stelle die Frage stellen, ob der grandiose Zufall des ersten Zusammentreffens nicht bereits als Vorzeichen für den zweifelhaften Charakter Willoughbys zu lesen ist. Wie Mann herausstellt, treffen Jane Austens Heldinnen ihre zukünftigen Ehemänner meist im Rahmen einer nachbarschaftlichen Dinnerparty oder eines Balls, nicht aber in wirklichen Ausnahmesituationen.42 Austens Entwurf eines derartig klischeehaften Vorfalls lässt tatsächlich nichts Gutes ahnen und so wird der zunächst heroische Willoughby am Ende als ruchloser Libertin entlarvt. Zumindest was diese Szene betrifft, gebraucht Jane Austen

42 Vgl. Mann: Jane Austen. Die Rhetorik der Moral, S. 128f.

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den Zufall nicht etwa als „Griff in die Trickkiste“43, um die sich nicht direkt aus dem Handlungszusammenhang erklärenden Wendungen einzuleiten, sondern als bewusst gesetztes Mittel in Allusion auf die stereotypen Handlungsverläufe des sentimentalen Romans.

4.2.2 Die Perspektive: Gender und Narratologie Nicht nur dem Titel und einzelnen Motiven nach ist Sense and Sensibility dem empfindsamen Roman verhaftet, auch strukturelle Merkmale deuten auf das literarische Erbe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin.44 Vor allem aufgrund formaler Kriterien lässt sich der Roman als Text des Übergangs vom sentimentalen zum realistischen Roman lesen: Ursprünglich als Briefroman mit dem Titel „Elinor and Marianne“ konzipiert, verwirft die Autorin schließlich die Form ihrer literarischen Vorgänger, um Sense and Sensibility stattdessen aus der objektiveren Perspektive eines heterodiegetischen Erzählers zu schildern. Austens perspektivischer Modus lässt sich weitgehend als auktoriale Erzählsituation kennzeichnen, wobei die Erzählinstanz dem Geschehen ironisch distanziert gegenübersteht; es lassen sich jedoch auch Züge einer personalen Erzählperspektive aufzeigen, die insbesondere das Innenleben der Reflektorfigur Elinor erhellt. Wie Dorrit Cohn bestätigt, schafft Jane Austen mit der Form des inneren Monologs einen fließenden Übergang zwischen dem multiperspektivischen Briefroman Richardsons und dem auktorial erzählten Roman Henry Fieldings.45 Im Unterschied also zu den zuvor erörterten Romanen, meldet sich in Sense and Sensibility erstmals eine außenstehende Erzählerpersönlichkeit zu Wort. In Anbetracht derselben muss zunächst die Frage diskutiert werden, ob die Erzählperspektive im Roman einer Autorin von der eines Autors abweicht und ob bzw. welches Geschlecht der Erzählinstanz zugeschrieben werden kann. Ich gehe grundsätzlich mit Ina Schabert konform, sofern ich die simple Identifizierung von Autorin und Erzählinstanz und eine entsprechende Terminologie à la

43 In diesem Sinne wirft Renate Brosch Austen vor, die glücklichen Romanausgänge von Sense and Sensibility und Persuasion nicht anders bewerkstelligen zu können. Vgl. Renate Brosch: Eleganz und Autonomie. Die Auffassung vom Weiblichen bei Jane Austen, Heidelberg: Winter 1984 (= Anglistische Forschungen, Bd. 175), S. 153. 44 Dies bestätigt u. a. Maria Stewart. Vgl. Maria A. Stewart: Domestic Realities and Imperial Fiction. Jane Austen’s Novels in Eighteenth-Century Contexts, Athens u. London: The University of Georgia Press 1993, S. 73. 45 Vgl. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton: Princeton University Press 1978, S. 113.



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„Jane Austens Erzählerin“ für trivial halte, gleichzeitig erscheint mir hier jedoch auch die allgemein übliche Verwendung des männlichen Pronomens zweifelhaft.46 Um die Trennung zwischen Austen und ihrer erzählerischen Stimme zu betonen, bezieht sich Mieke Bal daher auf die Erzählinstanz als „es“: „In order to keep this distinction in mind, I shall here and there refer to the narrator as ‚it,‘ however odd this may seem.“47 Im Gegensatz zu dieser in der Tat seltsam anmutenden Lösung, erscheint Susan Lansers Vorschlag einer neutralen Terminologie der erzählerischen „Stimme“ durchaus praktikabel. Um die Existenz weiblicher Erzählinstanzen terminologisch zu bekräftigen, stellt sie den Begriff der narrative voice ins Zentrum ihrer Untersuchungen und unterscheidet schließlich zwischen „authorial, personal, and communal voice“48 Angesichts dieses terminologischen Ideenreichtums erscheint Schaberts Hinweis auf die Unzulänglichkeiten der englischen und deutschen Sprache, die in Ermangelung eines geschlechtsneutralen Terms stets vom Erzähler als einer männlichen Vermittlungsinstanz sprechen, nur allzu berechtigt.49 Während der auktoriale Erzähler laut Cohn weniger als Person denn als „mental existence“50 zu sehen ist und somit keine leibliche Determiniertheit besitzt, geht Schabert davon aus, dass, wenn es möglich ist, einer Erzählinstanz Persönlichkeitsmerkmale zuzuschreiben, sie auch geschlechtlich bestimmt werden kann.51 Dabei zieht sie auch die Möglichkeiten eines narrativen cross-dressings in Betracht, bei dem männliche Autoren eine weibliche Erzählperspektive und Autorinnen eine männliche Sichtweise übernehmen könnten.52 Die Kriterien, nach denen das Geschlecht einer Erzählinstanz demnach bestimmt werden kann, stellen sich sehr individuell dar, dazu können beispielsweise der Bildungsstand oder das Maß an Einfühlungsvermögen herangezogen werden. Da eine solche Charakterisierung der erzählerischen Vermittlungsinstanz m. E. nur auf stereotypen

46 Vgl. Ina Schabert: „The Authorial Mind and the Question of Gender“, in: Telling Stories. Studies in Honour of Ulrich Broich on the Occasion of his 60th Birthday, hg. v. Elmar Lehmann u. Bernd Lenz, Amsterdam u. Philadelphia: Grüner 1992, S. 314. 47 Mieke Bal: Narratology. An Introduction to the Theory of Narrative, 2. Aufl., Toronto u. a.: University of Toronto Press 1997, S. 16. 48 Susan Sniader Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice, Ithaca: Cornell University Press 1992, S. 15. 49 Vgl. Schabert: „The Authorial Mind and the Question of Gender“, S. 328. Zudem kritisiert die Autorin die Generalisierung der männlichen Form durch eine Variation auf das Wortspiel „HisStory“: „Auktoriales Er-zählen ist nicht Sie-zählen.“ Vgl. ebd., S. 317. 50 Cohn: Transparent Minds, S. 25. 51 Vgl. Schabert: The Authorial Mind and the Question of Gender, S. 313. 52 Vgl. ebd., S. 315.

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Geschlechtsmerkmalen basieren kann und damit das eigentliche Problem einer patriarchalisch präformierten Narratologie reproduziert, soll im Folgenden auf eine derartige geschlechtsspezifische Festlegung der Erzählinstanz verzichtet werden. Eine Lösung für die Benennung der narrative voice in Sense and Sensibility bietet stattdessen die Unterscheidung Genettes zwischen Narration und Fokalisation an: Der heterodiegetische Erzähler, der insbesondere durch ironische Kommentare auf sich selbst aufmerksam macht, wird als geschlechtslose Sprechinstanz betrachtet, für die sich in Übereinstimmung mit konservativen Erzähltheoretikern die männliche Form führen lässt, wohingegen dem focalizer, also der Figur, die als „central consciousness“53 das Romangeschehen vermittelt, ein eindeutiges Geschlecht zugewiesen werden kann. Sowohl Robyn Warhol als auch Kathy Mezei zeigen, dass sich diese Differenzierung insbesondere im Hinblick auf Jane Austens Romane als fruchtbar erweist. Mittels des „free indirect discourse“54, also einer indirekt wiedergegebenen Sprache, die den Gedanken und dem Tonfall einer Figur entspricht, dieser aber nicht explizit zugeschrieben wird, rückt Austen die Personalperspektive ihrer Protagonistinnen in den Vordergrund, ohne die Einschränkungen der Ich-Perspektive in Kauf nehmen oder aber auf den Briefroman zurückgreifen zu müssen. Wie Warhol herausstellt, besteht der wesentliche Unterschied zwischen narrator und focalizer in ihrer jeweiligen Tätigkeit: Der Erzähler ist derjenige, der spricht, wohingegen die Fokalisierungsfigur sieht.55 Was Warhol damit für den letzten der Romane Jane Austens, Persuasion (1818), herausarbeitet, lässt sich problemlos auf Sense and Sensibility übertragen: Ebenso wie Anne Elliot fungiert Elinor wie bereits gesagt als Reflektorfigur, deren Sichtweise mittels des free indirect discourse vermittelt wird. Durch die Unterscheidung zwischen einer nichtleiblichen Erzählinstanz und einem weiblichen focalizer lässt sich die Problematik genderspezifischer Implikationen der Narratologie zumindest für den Fall Jane Austens lösen.

53 Robyn Warhol: „The Look, the Body, and the Heroine of Persuasion. A Feminist-Narratological View of Jane Austen“, in: Ambiguous Discourse. Feminist Narratology and British Women Writers, hg. v. Kathy Mezei, Chapel Hill u. London: The University of North Carolina Press 1996, S. 22. 54 Kathy Mezei,: „Who is speaking Here? Free Indirect Discourse, Gender and Authority in Emma, Howards End, and Mrs. Dalloway“, in: Ambiguous Discourse. Feminist Narratology and British Women Writers, hg. v. Kathy Mezei, Chapel Hill u. London: The University of North Carolina Press 1996, S. 67. 55 Vgl. Warhol: The Look, the Body, and the Heroine of Persuasion, S. 25.



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4.2.3 Erziehung zur Tugend: Jane Austens heroines und ihre accomplishments Im Gegensatz zu allen übrigen Romanen der Autorin fokussiert Sense and Sensibility die Handlungsstränge zweier gleichrangiger Protagonistinnen. Die Geschichte um diese beiden „Haupttöchter“56 ist zunächst als Kontrastroman angelegt, wie das erste Kapitel zeigt. Innerhalb dieser prototypischen Exposition wird vorerst das durch den Titel angekündigte antithetische Grundmuster bekräftigt, hier werden die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood anhand des Kontrasts zwischen sense und sensibility vorgestellt. Dementsprechend heißt es über die ältere Schwester: „Elinor [...] possessed a strength of understanding, and coolness of judgement, which qualified her, though only nineteen, to be the counsellor of her mother“57. Diese rationalen Eigenschaften Elinors stehen somit an erster Stelle, obwohl auch ihre Feinfühligkeit betont wird: „She had an excellent heart; her disposition was affectionate, and her feelings were strong“58, worauf wiederum das „Aber“ einer Modifikation folgt: „[B]ut she knew how to govern them.“59 Elinors Selbstdisziplin mithin als musterhaft klassifizierend, geht der Erzähler zur Charakterisierung der jüngeren Schwester Marianne über: Marianne’s abilities were, in many respects, quite equal to Elinor’s. She was sensible and clever, but eager in everything; her sorrows, her joys, could have no moderation. She was generous, amiable, interesting: she was everything but prudent. The resemblance between her and her mother was strikingly great.60

Die hier beschriebene Affinität zwischen Marianne und Mrs. Dashwood unterstreicht nochmals Elinors Position in der Familie. Sie opponiert gegen die imprudence von Mutter und Schwester und tritt damit an die Stelle des verstorbenen Vaters. Als inoffizielles Familienoberhaupt erteilt Elinor der Mutter Ratschläge und hält sie zu Besonnenheit und Formwahrung an. Auch ihrer Schwester gegenüber nimmt sie diese Rolle ein und kritisiert das an Mariannes Verhalten, was Mrs. Dashwood versäumt zu kritisieren bzw. für nicht kritikwürdig erachtet.

56 Der Ausdruck stammt von Annegret Schrick, die der Gleichwertigkeit der DashwoodSchwestern jedoch widerspricht und Marianne als Nebenfigur betrachtet, die gegenüber der modellhaften und erfolgreicheren Elinor lediglich die möglichen negativen Folgen weiblicher Normabweichungen illustrieren soll. Vgl. Annegret Schrick: Jane Austen und die weibliche Modellbiographie des 18. Jahrhunderts. Eine strukturelle und ideologiekritische Untersuchung der Zentralfigur bei Jane Austen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1986, S. 115. 57 Jane Austen: Sense and Sensibility, London: Penguin 1994, S. 4. 58 Ebd., S. 4f. 59 Ebd., S. 5. 60 Ebd.

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Das betrifft insbesondere „Marianne’s romance“61: „Elinor saw, with concern, the excess of her sister’s sensibility; but by Mrs. Dashwood it was valued and cherished.“62 Insgesamt werden die beiden Protagonistinnen einander im ersten Kapitel durchweg gegenübergestellt, auf der einen Seite die leidenschaftliche, zum Überschwang neigende jüngere und auf der anderen Seite die kontrollierte, überlegte ältere Schwester. Wenn es also heißt, Marianne sei alles, nur nicht besonnen, kann durchaus hinzugefügt werden: Elinor was everything but imprudent. Obwohl Jane Austen die Schwestern also mit gänzlich unterschiedlichen Charakteren ausstattet, haben Elinor und Marianne doch etwas Wichtiges gemein: ihre gute Erziehung. Diese umfasst laut der Autorin zunächst einmal sogenannte accomplishments, d. h. künstlerische Begabungen und häusliche Fertigkeiten. Das Thema weibliche Begabungen, also die Grundausstattung der Austenschen Protagonistinnen, erhellt ein Dialog aus dem 1813 erschienenen Roman Pride and Prejudice. Miss Bingley subsumiert hier den Kanon weiblicher Tugenden: A woman must have a thorough knowledge of music, singing, drawing, dancing, and the modern languages, to deserve the word; and besides all this, she must possess a certain something in her air and manner of walking, the tone of her voice, her address and expressions, or the word will be but half-deserved.63

Darcy fügt dem die Forderung nach geistiger Bildung hinzu: „and to all this she must yet add something more substantial, in the improvement of her mind by extensive reading.“64 Diese zweifellos hohen Anforderungen gelten auch für Elinor und Marianne, die im Kontext von Sense and Sensibility die einzigen Figuren sind, die den besagten Ansprüchen gerecht werden. In Bezug auf Marianne werden musikalische Fähigkeiten hervorgehoben, wohingegen Elinor künstlerisches Talent zugeschrieben wird. Auf den kindlich naiven Wunsch der jüngsten Dashwood-Tochter, Margaret, jemand möge den Schwestern ein großzügiges Geldgeschenk machen, ersinnt Edward Ferrars die zu erwartenden Ausgaben der Familie und beschreibt mithin die Interessen und Vorzüge Elinors und Mariannes: What magnificent orders would travel from this family to London […] in such an event! What a happy day for booksellers, music-sellers, and print-shops! You, Miss Dashwood, would

61 Ebd. 62 Ebd. 63 Jane Austen: Pride and Prejudice, London: Penguin 1994, S. 33 64 Ebd.



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give a general commission for every new print of merit to be sent to you; and as for Marianne, I know her greatness of soul – there would not be music enough in London to content her. And books! Thomson, Cowper, Scott – she would buy them all over and over again;65

Aus Edwards Ausführungen geht ebenfalls hervor, wie es sich mit Darcys Forderung nach intensiver Lektüre verhält. Dieser nimmt sich Marianne offenkundig an, wobei sie insbesondere romantische Dichter favorisiert. Es bleibt zu fragen, ob sich diese Art der Lektüre mit dem Erziehungsideal der Zeit vereinbaren lässt. Mariannes ausschließlich schöngeistige Lektüregewohnheiten erscheinen fraglos einseitig und entsprechen somit keineswegs dem von conduct books vorgeschlagenen Lektürekanon für junge Mädchen, es fehlen schließlich die obligatorischen Morallehren oder auch historische Werke. Ein weiteres Element des Austenschen Verständnisses von guter Erziehung besteht in der Anerkennung gewisser Umgangsformen. Austens Heldinnen zeichnen sich gemeinhin durch ihre Sensibilität für angemessenes Benehmen aus. Dabei scheint die Autorin durchweg die Parameter John Gregorys zu übernehmen: Was idealtypisches weibliches Verhalten angeht, so herrschen auch in Sense and Sensibility die Stichwörter delicacy, taste, modesty, dignity und prudence vor. In der Konsequenz fallen wohlerzogene junge Frauen hier vor allem dadurch auf, dass sie eben nicht auffallen. In der Gesellschaft anderer aus der Reihe zu fallen, das schickt sich für Austens Protagonistinnen nicht. Ganz im Gegenteil reagieren die wohlerzogenen Heldinnen außerordentlich empfindlich auf nicht ganz so kultivierte Figuren. Auch Marianne und Elinor besitzen eine solche Hypersensibilität, sie selbst beherrschen fraglos die geltenden Umgangsformen, wobei vor allem die ältere Schwester stets einen Drahtseilakt zwischen Aufrichtigkeit und Höflichkeit auszubalancieren hat.66 Durch ihre eigene Sozialisation auf höfliche Zurückhaltung abgerichtet, zeigen sich beide Schwestern äußerst sensibel gegenüber Grenzüberschreitungen anderer. Beispielsweise stürzen die indiskreten Äußerungen seitens Mrs. Jennings sowohl Elinor als auch Marianne immer wieder in Verlegenheit. Dabei verhält sich Elinor durch und durch diskurstreu und versucht gleichsam der eigenen Erziehung, die ihr Indiskretion verbietet,

65 Austen: Sense and Sensibility, S. 89. 66 Der Widerstreit zwischen den Auflagen ihrer guten Erziehung und eher spontanen Reaktionen lässt sich vor allem bei Elinor beobachten. Insbesondere gegenüber Lucy Steele versucht sie sich diskret und zurückhaltend zu verhalten, während sie gleichzeitig die eigene Neugier befriedigen will. Von diesem Konflikt zeugt Elinors umständliche Einleitung, die sie einer erneuten Erörterung von Edwards und Lucys heimlicher Verlobung vorausschickt: „I should be undeserving of the confidence you have honoured me with, if I felt no desire for its continuance, or no farther curiosity on ist subject. I will not apologize therefore for bringing it forward again.“ Ebd., S. 140f.

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sowie den Gesetzen der Höflichkeit gerecht zu werden und ihr Gegenüber nicht zu kränken. Bei Marianne liegt der Fall etwas komplizierter: Sie hat die Erziehung zum Takt so stark verinnerlicht, dass sie auf Mrs. Jennings Vertraulichkeiten mit absoluter Empörung reagiert. In ihrer Intoleranz vergisst sie die Vorgaben des Takts jedoch und macht sich bisweilen sogar der Unhöflichkeit schuldig, indem sie ihr entweder gar nicht antwortet oder aber abrupt den Raum verlässt.67 Laut Walter Gröbel ergänzt Jane Austen die Erziehungsinhalte, die durchaus dem von Anstandslehren vertretenen Kanon weiblicher Qualitäten entsprechen, durch eine Hervorhebung geistiger Fähigkeiten, die dem herrschenden Diskurs zuwiderlaufen: „Die accomplishments von Austens new woman widersprechen den Idealen von conduct books und courtesy books. Hervorzuheben sind die accomplishments geistiger Art: Witz, Bildung, Belesenheit und Schlagfertigkeit – dies durchaus auch Ideale des Libertin – und gute Auffassung.“68 Zweifellos handelt es sich bei Elinor und Marianne um außerordentlich intelligente Frauenfiguren, verglichen beispielsweise mit der naiven Catherine Morland aus Austens Northanger Abbey. Allerdings geht Gröbel m. E. fehl im Vergleich der DashwoodSchwestern mit dem Typus der new woman, der sich durch vollkommene intellektuelle Unabhängigkeit auszeichnet. Dass die Eigenschaft wit eine Auszeichnung bedeutet, hat sicherlich Gültigkeit in Bezug auf die Protagonistinnen von Pride and Prejudice oder Emma. Hinsichtlich Sense and Sensibility muss dies jedoch in Zweifel gezogen werden. Schlagfertigkeit meint im Romanzusammenhang weniger die zugrunde liegende geistige Leistung als vielmehr die akute Aktion vorlauter Äußerungen und wird hauptsächlich negativ auffallenden Charakteren zugeschrieben, wie beispielsweise Mrs. Jennings. Diese wird als witty woman eingeführt: Mrs. Jennings, Lady Middleton’s mother, was a good-humoured, merry, fat, elderly woman, who talked a great deal, seemed very happy, and rather vulgar. She was full of jokes and laughter, and before dinner was over has said many witty things on the subject of lovers and husbands;69

67 Marianne scheint unliebsamer Gesellschaft generell aus dem Weg zu gehen, so verlässt sie den Raum beispielsweise vor Colonel Brandons Ankunft (Vgl. ebd., S. 166), aber auch vor der Lucy Steeles (Vgl. ebd., 213). 68 Vgl. Walter Gröbel: „Der beherrschte Körper. Jane Austens Sense and Sensibility“, in: Leidenschaften literarisch, hg. v. Reingard M. Nischik, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1998 (= Texte zur Weltliteratur, Bd. 1), S. 193. 69 Austen: Sense and Sensibility, S. 32. Die Verknüpfung negativer Wesenszüge mit dem Attribut wit findet auch im Hinblick auf die Schwägerin der Schwestern, Fanny, statt. Diese zeigt sich „proud of her ready wit“, als es ihr gelingt, einem bevorstehenden Besuch Elinor und Mariannes auszuweichen. Vgl. ebd., S. 247.



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Elinor und Marianne fallen dagegen kaum durch vorlaute Meinungsäußerungen auf. Beide finden ihren Weg, sich in dieser Hinsicht den Vorgaben idealtypischer Weiblichkeit anzupassen. Während Marianne Situationen, in denen ihre ehrliche Meinung gefragt ist und in denen sie unter der Vorgabe, ehrlich zu antworten, anecken würde, schlicht aus dem Weg geht, versucht Elinor Kompromisse zu finden. Ihre Äußerungen und ihr gesamtes Benehmen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit unterliegen einer Art freiwilligen Selbstzensur, sie ist vollkommen von den Erwartungen anderer an sie geleitet. Dass diese Selbstkontrolle insbesondere auch Elinors Gefühlshaushalt betrifft, wird der folgende Abschnitt weiter ausführen.

4.2.4 Sense vs. sensibility als weibliches Dilemma Die nahezu mittellosen Dashwood-Töchter stehen am Romananfang der Aufgabe gegenüber, kurzfristig ein neues vorübergehendes Zuhause und mittelfristig ein endgültiges Heim, garantiert durch die passenden Ehemänner, zu finden. Die einleitende Charakterisierung der Protagonistinnen wappnet sie mit unterschiedlichen Grundsätzen, nach denen sie ihre jeweilige Glückssuche gestalten. Die rationale bzw. emotionale Ausrichtung der Schwestern verdeutlicht allerdings nicht nur die Exposition, im weiteren Handlungsverlauf zeugen vor allem die Beziehungen, die die Protagonistinnen zu verschiedenen Männerfiguren eingehen, von ihren jeweiligen Attitüden gegenüber den Polen Verstand und Gefühl. Während Mariannes Vorstellung vom Wunschpartner wesentlich von ihren romantischen Idealen abhängt – so muss ihr potenzieller Ehemann ihre Begeisterung für Scott, Cowper und das Pittoreske nicht nur verstehen, sondern teilen – basiert Elinors Lebensplanung auf einer eher konservativen Gesinnung. Sie sieht die Voraussetzung der vollkommenen Partnerschaft in einer grundsätzlich bestehenden Gleichheit im Intellekt und in Wertanschauungen. Darüber hinaus macht Elinors common sense sie aufmerksam für materielle Erwägungen, denen gegenüber Marianne absolut blind ist. Diese Haltung Elinors offenbart sich zunächst im Kontext ihrer Beurteilung Edward Ferrars’. Während die Familie noch auf dem Landsitz Norland verweilt – mittlerweile das rechtmäßige Eigentum John Dashwoods und nicht länger das Heim seiner Halbschwestern – betritt Edward Ferrars, der Bruder von Johns Frau Fanny, den Schauplatz. Allerdings fällt die Einführung der Figur nicht gerade überschwänglich aus: Edward Ferrars was not recommended to their good opinion by any peculiar graces of person or address. He was not handsome, and his manners required intimacy to make them

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pleasing. He was too diffident to do justice to himself; but when his natural shyness was overcome, his behaviour gave every indication of an open, affectionate heart. His understanding was good, and his education had given it solid improvement [Hervorhebung D. K.].70

Tatsächlich beschreibt das Adjektiv „solide“ den Charakter Edward Ferrars’ wohl am besten. Selbst Elinor, die wie Mrs. Dashwood und Marianne recht früh bemerken eine wachsende Zuneigung zu Edward entwickelt, kann nicht umhin, dessen Unauffälligkeit festzustellen.71 Als Marianne schließlich die Befürchtung äußert, Edward könne der Schwester mit seinem ruhigen, in ihren Augen nahezu lethargischen Temperament unmöglich genügen, stellt Elinor ihre Einschätzung dieses Temperaments, das durchaus mit ihren Erwartungen korrespondiert, heraus: I have seen a great deal of him, have studied his sentiments, and heard his opinions on subjects of literature and taste; and, upon the whole, I venture to pronounce that his mind is well-informed, his enjoyment of books exceedingly great, his imagination lively, his observations just and correct, and his taste delicate and pure. His abilities in every respect improve as much upon acquaintance as his manners and person.72

Diese Beurteilung lässt nicht nur Rückschlüsse auf die Figur Edwards zu, sondern vielmehr auf die Elinors. Sie nimmt sich die Zeit, sich ein umfassendes Bild zu machen und fällt erst dann ihr Urteil. Elinor ist niemand, der sich at first sight verliebt, stattdessen studiert sie ihr Gegenüber, um über die eigenen Gefühle zu entscheiden – in der Tat eine sehr rationale Herangehensweise. Elinor fühlt nicht etwa, ob sie Edward lieben kann, sie muss es wissen. Nur die rationale Gewissheit, dass Edward liebenswert ist, macht ihre Gefühle möglich, denn Elinor Liebesfähigkeit hängt eng mit Achtung zusammen. Mit dieser zurückhaltenden, abwägenden Handlungsweise entspricht die Protagonistin voll und ganz den Vorgaben Dr. Gregorys, der ausdrücklich darauf hinweist, dass Liebe niemals ungebeten auf Seiten der Frau beginnen dürfe.73 Wie oben ausgeführt unterscheidet Gregory maßgeblich zwischen männlicher und weiblicher Liebestätigkeit, dabei versagt er dem weiblichen Geschlecht die Liebe um ihrer selbst willen und hält es stattdessen dazu an, wie Elinor objektivere Maßstäbe geltend zu machen:

70 Ebd., S. 13. 71 Marianne gegenüber räumt Elinor ein: „At first sight, his address is certainly not striking; and his person can hardly be called handsome“. Ebd., S. 18. 72 Ebd. 73 Wörtlich heißt es dazu: „It is a maxim laid among you, and a very prudent one it is, That love is not to begin on your part, but is entirely to be the consequence of our attachment to you.“ Gregory: A Father’s Legacy to His Daughters, S. 80f.



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„A man of taste and delicacy marries a woman because he loves her more than any other. A woman of equal taste and delicacy marries him because she esteems him, and because he gives her that preference.“74 Elinors Versuch, Liebenswürdigkeit zu objektivieren, stößt bei Marianne freilich nicht auf Verständnis. Nach ihren Gefühlen für Edward befragt, gibt Elinor an: „I greatly esteem, [...] I like him.“75, was bei Marianne erhebliches Erstaunen über die „kaltherzige“76 Schwester hervorruft. So wenig sich Elinor Dashwood in Liebesdingen von romantischen Motiven leiten lässt, ebenso wenig weicht sie in anderen Lebensbereichen von ihrer nüchternen Art ab. Insbesondere ihre Haltung gegenüber materiellen Belangen veranschaulicht die Bedeutung des ihr zugeschriebenen Charakteristikums sense. Diese Eigenschaft Elinors, ihr common sense oder hinkend übersetzt ihr gesunder Menschenverstand, beinhaltet ein grundsätzliches Bewusstsein für finanzielle Erwägungen. In allen ihren Romanen gesteht Jane Austen dem Thema Geld einiges an Aufmerksamkeit zu, so wird der Leser oftmals sehr konkret über die Einkommensverhältnisse der einzelnen Figuren informiert. Wir wissen, dass sich das Vermögen von Elinor und Marianne – trotz der zuerst wohlwollenden Absichten des Halbbruders – lediglich auf jeweils eintausend Pfund beläuft, wohingegen andere junge Damen wesentlich mehr besitzen.77 Über Colonel Brandon heißt es, er verfüge über jährliche zweitausend Pfund, während Edward zunächst nicht mehr als zweitausend Pfund besitzt. Darüber hinaus kommt in den Romanen Jane Austens Landbesitz eine eminente Rolle zu. Landbesitz verkörpert offenbar die Allianz von materiellem und moralischem Wohlstand.78 Diese Art des Besitzes ist keinem Wandel unterworfen, sie überdauert die Zeiten und zeichnet die sie besitzenden Familien mit Rang und Würde aus, so wirken Austens estates identitätsstiftend auf ihre Besitzer.79 Die Kritik, die sich aus diesem Interesse Jane

74 Ebd., S. 83. 75 Austen: Sense and Sensibility, S. 19. 76 Marianne spricht ihre Schwester an dieser Stelle tatsächlich als „Cold-hearted Elinor“ an. Ebd. 77 Beispielsweise heißt es über Miss Morton, die die Familie Ferrars gern mit Edward verheiratet sähe, sie besitze dreißigtausend Pfund und Willoughbys Verlobte, Miss Grey, steht gar in dem Ruf, über fünfzigtausend Pfund zu verfügen. 78 Vgl. Stewart: Domestic Realities und Imperial Fiction, S. 4. 79 Am prägnantesten lässt sich dieser Zusammenhang anhand von Austens Pride and Prejudice aufzeigen. Die Besichtigung von Darcys Landsitz Pemberley markiert hier einen Wendepunkt in der Beziehung Elizabeths zu Darcy. Die Protagonistin ist nun nicht nur vom edlen Charakter des Gentleman überzeugt, sie imaginiert sich sogar erstmals an der Seite Darcys: „at that moment she felt that to be mistress of Pemberley might be something!“ Austen: Pride and Prejudice, S. 187.

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Austens für Geld und Besitz ableiten lässt, bezieht sich auf die oftmals bemitleidenswerten finanziellen Lagen der Frauen. Ausgeschlossen von den Strukturen der männlichen Erbfolge ist das einzige, was Frauen dem materiellen Erbgut entgegenzusetzen haben, so Maria Stewart, ein emotionales Erbe.80 Dies trifft in besonderer Weise auf die Dashwood-Schwestern zu: Während sie vom Vater mit lediglich eintausend Pfund versorgt wurden, ist das einzige, was Mrs. Dashwood ihren Töchtern mit auf den Weg geben kann eine ausgeprägte emotionale Kompetenz, nicht aber mütterliche Protektion. Die Aufgabe, die richtigen, d. h. vernünftigen Entscheidungen zu treffen, fällt Elinor zu. In der Tat lässt Elinors „financial realism“81, den sie weder mit ihrer Mutter, noch mit der jüngeren Schwester teilt, sie immer wieder als „Spielverderberin“ auftreten, die ihre Familienmitglieder zur Sparsamkeit ermahnt und ihnen kostspielige Annehmlichkeiten ausredet. So veranlasst sie Mrs. Dashwood, in Zukunft auf den gewohnten „comfort and ease“82 eines Herrenhauses zu verzichten und sich stattdessen um ein Cottage zu bemühen, das der finanziellen Situation der Familie durchaus angemessener erscheint. In diesem Cottage angekommen, redet Elinor ihrer Schwester Marianne ins Gewissen, das ihr von Willoughby geschenkte Pferd nicht anzunehmen, da sich die Familie die Haltung desselben nicht leisten könne. Besonders auffällig wird Elinors Ökonomiestreben an der Stelle, wo sich die Themenbereiche Geld und Liebe kreuzen. Laut Pat Jalland herrschte bis in die viktorianische Zeit hinein Konsens über die materiellen Grundbedingungen einer Eheschließung: „It was generally agreed that a good marriage required good money. Economic interest may not have been the overwhelming criterion for matrimony that it was in the sixteenth century, but it still consumed more time and passion in negotiating matches than all of the other considerations combined.“83 Die Übereinstimmung Elinors mit dieser Einstellung zeigt sich bereits in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft mit Edward Ferrars, die beide wie gesagt in Norland zubringen. Hier erklärt Elinor gegenüber Marianne, dass es bei einer möglichen Verbindung nicht allein auf die gegenseitige Zuneigung ankommt:

80 Stewart interpretiert die Beziehung der Austenschen Heldinnen zu ihren Müttern in diesem Sinne: „Austen draws on the resemblance between mothers and daughters as an entrance to the unofficial tradition of female heritage. What is usually transmitted through the generations with this resemblance is emotion.“ Stewart: Domestic Realities und Imperial Fiction, S. 99. 81 Laurence Lerner benutzt diesen Begriff im Zusammenhang mit Vernunftehen. Vgl. Lerner: Love and Marriage, S. 109. 82 Austen: Sense and Sensibility, S. 12. 83 Pat Jalland: Women, Marriage and Politics 1860–1914, Oxford: Clarendon Press 1986, S. 54.



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But there are other points to be considered besides his inclination. He is very far from being independent. [...] and I am very much mistaken, if Edward is not himself aware that there would be many difficulties in his way, if he were to wish to marry a woman who had not either a great fortune or high rank.84

Nachdem Edward und Elinor das Hindernis einer früheren Verlobung Edwards mit der impertinenten Lucy Steele schließlich überwunden haben und sozusagen im Begriff sind, den Weg zum Traualtar anzutreten, weist der Erzähler nochmals nachdrücklich auf den ökonomischen Realismus des Paares hin: „[T]hey were neither of them quite enough in love to think that three hundred and fifty pounds a year would supply them with the comforts of life.“85 Dementsprechend warten die beiden, ebenso besonnen wie die Charaktere bis dato gehandelt haben, bis Edwards Einkommensverhältnisse geklärt sind, das heißt bis er sich als Pfarrer von Barton eingerichtet hat und sich seines voraussichtlichen Erbes gewiss sein kann, bevor sie tatsächlich heiraten. With an income quite sufficient to their wants thus secured to them, they had nothing to wait for after Edward was in possession of the living, but the readiness of the house, to which Colonel Brandon, with an eager desire for the accommodation of Elinor, was making considerable improvements; and after waiting some time for their completion – after experiencing as usual, a thousand disappointments and delays, from the unaccountable dilatoriness of the workmen, – Elinor, as usual, broke through the first positive resolution of not marrying till everything was ready, and the ceremony took place in Barton church early in the autumn.86

Offensichtlich zeugt diese Beschreibung der Verlobungszeit so wenig von leidenschaftlichen Dispositionen wie nur möglich. Sowohl Edward als auch Elinor handeln aufgrund von durch und durch nüchternen Erwägungen. Sie sind keinesfalls blind vor Liebe, sondern behalten die gesellschaftliche Wirklichkeit im Gegenteil stets im Blick. Dabei wäre es jedoch schlichtweg falsch, der Figur Elinors jegliche emotionale Sensibilität abzusprechen. Bereits in der Exposition heißt es, sie habe ein liebevolles Wesen und starke Gefühle. Auf die anschließende Bemerkung, sie wisse ihre Gefühle jedoch zu beherrschen, folgen wie oben dargestellt zahlreiche Beispiele für die nüchtern abwägende Wesensart der ältesten Dashwood-Tochter. Dennoch lassen sich einige Stellen finden, die Elinors Schwierigkeiten belegen, ihre emotionalen Regungen in jeder Lage zu unterdrücken. Wie zuvor ausgeführt

84 Austen: Sense and Sensibility, S. 19. 85 Ebd., S. 362. 86 Ebd., S. 368.

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fungiert Elinor im Romangefüge auch als focalizer, da fast alle übrigen Figuren sich Elinor zumindest einmal anvertrauen, laufen bei ihr alle Informationen zusammen. Das bedeutet auch, dass die Protagonistin zur Vertrauten von Personen wird, deren Geheimniswahrerin sie selbst nicht sein will. Dies trifft im Besonderen auf Lucy Steele zu, die Elinor in ihre heimliche Verlobung mit Edward einweiht. Lucy, die Elinor wohl als Rivalin fürchtet, gibt sich den Anschein, diese um Rat zu fragen, als sie von ihrer heimlichen Verlobung berichtet. Wahrscheinlicher ist, dass die berechnende Lucy ihrer Konkurrentin bewusst zu verstehen geben will, Edward sei endgültig vergeben – eine Absicht, die auch Elinor selbst durchschaut. Gleichwohl zeigt sich Elinor schockiert von der Nachricht, obschon es ihr Lucy gegenüber gelingt, vorläufig die Fassung zu bewahren: „[T]hough her complexion varied, she stood firm in incredulity, and felt in no danger of an hysterical fit or a swoon.“87 Schwieriger gestaltet sich diese Aufgabe anscheinend gegenüber den restlichen Dashwoods, nachdem Lucy sie verlassen hat, benötigt Elinor immerhin zwei Stunden, um sich zu sammeln, bevor sie ihrer Familie gegenüber tritt: As these considerations occured to her in painful succession, she wept for him [Edward] more than for herself. Supported by the conviction of having done nothing to merit her present unhappiness, and consoled by the belief that Edward had done nothing to forfeit her esteem, she thought she could even now, under the first smart of the heavy blow, command herself enough to guard every suspicion of the truth from her mother and sisters. And so well was she able to answer her own expectations, that when she joined them [her family] at dinner only two hours after she had first suffered the extinction of all her dearest hopes, no one would have supposed from the appearance of the sisters, that Elinor was mourning in secret obstacles which must divide her for ever from her object of love88.

Noch offensichtlicher tritt Elinors Ringen um Fassung zutage, als sich das Hindernis der Verlobung schließlich auflöst. Edward, den Elinor zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet wähnt, erklärt seine Freiheit, da Lucy mittlerweile mit seinem Bruder Robert durchgebrannt ist. Auch Elinors anhaltende Selbstermahnungen, Ruhe zu bewahren – „I will be calm; I will be mistress of myself“89 – helfen nicht länger, sie sieht sich erstmals gezwungen, den Raum zu verlassen, um einen Gefühlsausbruch zu verbergen: „Elinor could sit no longer. She almost ran out of the room, and as soon as the door was closed, burst into tears of joy, which at first she thought would never cease.“90 Augenscheinlich erweist sich Elinor eben

87 Ebd., S. 126. 88 Ebd., S. 134. 89 Ebd., S. 351. 90 Ebd., S. 353.



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nicht als kaltherzig, wie ihr von ihrer Schwester vorgeworfen wurde, stattdessen ist sie durchaus als Heldin der sensibility zu bewerten. Mit der Figur Elinors bestätigt Austen den Empfindsamkeitsbegriff des 18. Jahrhunderts, laut dem Vernunft ein maßgeblicher Teil des Konzepts ist. Die Tatsache, dass Elinor sich bemüht, ihre Gefühle zu regulieren, bedeutet nicht, dass sie diese weniger intensiv erlebt. Wogegen sie sich allerdings verwahrt, ist eine vordergründige Adaption an romantische Vorstellungen, die sich einzig aus klischeehaften Konventionen speist.91 Marianne dagegen gibt sich sehr wohl romantischen Vorstellungen hin. Dabei wird diese Figur stärker als Elinor mit dem Begriff sensibility assoziiert. Zunächst scheint dies das passende Wort zu ihrer Beschreibung zu sein, das geht bereits aus dem ersten Kapitel hervor, wird jedoch auch in ihren eigenen Äußerungen deutlich. Beispielsweise bemängelt sie Edwards fehlende Begeisterung für Lyrik und bemitleidet ihre Schwester eines so unsensiblen Liebhabers halber: „[I]t would have broke my heart had I loved him, to hear him read with so little sensibility.“92 Zweifellos stellt Marianne gänzlich andere Erwartungen an einen potenziellen Partner als ihre ältere Schwester. Während Elinor wie gesehen auf Zuverlässigkeit und Solidität setzt, erwartet Marianne vor allem Übereinstimmungen im Hinblick auf ihre Leidenschaften: „I could not be happy with a man whose taste did not in every point coincide with my own. He must enter into all my feelings, the same books, the same music must charm us both.“93 Diese Übereinstimmungen findet Marianne in der Figur Willoughbys. Dass dieser vollkommen Mariannes romantischen – man könnte auch sagen romanhaften – Idealen entspricht, lässt sich bereits zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens erkennen. Wie schon oben angesprochen, taucht Willoughby als strahlender Retter in der Not auf, als Marianne durch einen Unfall gehindert ist, von ihrem Spaziergang heimzukehren. Das schicksalhafte Treffen wird bereits durch den bedeutungsvollen Unterton des Erzählers eingeleitet, so beginnt die Episode mit den Worten „one memorable morning“.94 Wie schon im Zusammenhang mit Austens Verweisen auf die Tradition des sentimentalen Romans herausgestellt wurde, nimmt der Erzähler einen spöttisch-distanzierten Habitus gegenüber derartig klischeebeladenen Begebenheiten ein und so entbehrt auch die spätere Bezeichnung Will-

91 Austens Kritik an dieser oberflächlichen Form der Sentimentalität wird besonders anhand der Figur Lucy Steeles deutlich, die sich wiederholt in klischeehafte Äußerungen über ihre Liebe zu Edward und die eigene feinfühlige Disposition ergibt. Beispielsweise lässt sie sich von dem Gedanken an die langen Trennungen von ihrem Verlobten zu Tränen rühren. Vgl. ebd., S. 130. 92 Ebd., S. 16. 93 Ebd., S. 15f. 94 Ebd., S. 39.

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oughbys als „Marianne’s preserver“95 nicht einer gewissen Ironie. Willoughby, der sich den Dashwoods durch die Attribute „youth, beauty, and elegance“96 empfiehlt, erweist sich zunächst als Inkarnation sämtlicher von Marianne gehegten Wunschvorstellungen. Was Marianne an Edward Ferrars vermisste, findet sie nun in Willoughby, er schätzt nicht nur dieselben Autoren wie Marianne, er bezeugt seine Vorlieben auch mit derselben Begeisterung wie jene: Their taste was strikingly alike. The same books, the same passages were idolized by each – or, if any difference appeared, any objection arose, it lasted no longer than till the force of her arguments and the brightness of her eyes could be displayed. He acquiesced in all her decisions, caught all her enthusiasm, and long before his visit concluded, they conversed with the familiarity of a long established acquaintance.97

Obwohl Elinor sie unaufhörlich dafür kritisiert, gibt Marianne sich keine Mühe, ihre Vorliebe für Willoughby für sich zu behalten. Tatsächlich tragen beide ihre Zuneigung füreinander offen zur Schau: Sie tanzen auf abendlichen Gesellschaften ausschließlich miteinander und begehen sogar die Unschicklichkeit, sich bei einem Ausflug mehrerer Familien zu Pferde von den anderen abzusondern, um Willoughbys zukünftiges Erbe zu inspizieren. Im Gegensatz zu ihrer Schwester scheint Marianne durchaus an die Liebe auf den ersten Blick zu glauben. Diese romantischen Vorstellungen gehen so weit, dass sie die Idee einer zweiten Ehe grundsätzlich verwirft. Deutlich wird Mariannes Ablehnung sogenannter second attachments anhand ihrer Haltung gegenüber Colonel Brandon, den sie als alten Junggesellen abstempelt.98 Die Möglichkeit, der Colonel könnte sich im Alter von 35 nochmals verlieben und gleichsam Liebe hervorrufen, erscheint Marianne geradezu lächerlich. Die einzige Möglichkeit häuslichen Glücks, die sie ihm einräumt, besteht in einer Vernunftehe, zu der sie jedoch eine ihr entsprechende Meinung hat: „It would be a pact of convenience, and the world would be satisfied. In my eyes it would be no marriage at all, but that would be nothing. To me it would seem only a commercial exchange, in which each wished to be benefited at the expense of the other.“99 Die Kompromisslosigkeit dieser Überzeugung fällt auch Brandon selbst auf, wie ein Dialog zwischen ihm und Elinor zeigt:

95 Ebd., S. 44. 96 Ebd., S. 40. 97 Ebd., S. 45. 98 In der Tat nimmt Marianne Brandon als heiratsfähigen Kandidaten gar nicht wahr. Mit dem Hinweis auf dessen „forlorn condition as an old bachelor“ betrachtet sie die ihm von den Nachbarn unterstellte Affinität zu ihr als Absurdität. Ebd., S. 35. 99 Ebd., S. 36.



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His eyes were fixed on Marianne, and after a silence of some minutes, he said with a faint smile, ‚Your sister, I understand, does not approve of second attachments.‘ ‚No,’ replied Elinor; ’her opinions are all romantic.‘ ‚Or rather, as I believe, she considers them impossible to exist.‘ ‚I believe she does. But how she contrives it without reflecting on the character of her own father, who had himself two wives, I know not. A few years, however, will settle her opinions on the reasonable basis of common sense and observation; and then they may be more easy to define and to justify than they now are, by anybody but herself.‘100

Wenn Marianne von Liebe spricht, meint sie stets romantische Liebe und die hat nichts mit materiellen Vernunftgründen zu tun. So wie sie eine nicht aus Leidenschaft geschlossene Verbindung abschätzig als materielle Transaktion ablehnt, stellt sie die Bedeutung von Geld generell in Frage: „What have wealth and grandeur to do with happiness? [...] money can only give happiness where there is nothing else to give it.“101 Alles in allem entspricht Mariannes Liebesauffassung dem Konzept der Liebe als Passion. Sie ist überzeugt davon, dass man sich nur einmal und zwar ausschließlich in seiner Jugend verlieben kann. Die Erwartungen, die sie an die ideale Partnerschaft stellt, sind von enthusiastischen Wunschvorstellungen durchzogen – einer fancy, die in der Realität kaum Erfüllung finden kann. Mariannes Variante der Empfindsamkeit, die einem „Ganz oder gar nicht“Prinzip folgt, wird sich letztlich als nicht praktikabel erweisen. Geblendet von Willoughbys äußerer Anziehungskraft erkennt sie seinen wahren Charakter erst, als er sich überraschend mit der wohlhabenden Miss Grey verlobt. Mariannes Reaktion auf diesen Treuebruch geht wiederum völlig konform mit ihren romantischen Idealen, die vom Erzähler durchaus als klischeehaft entlarvt werden, so heißt es über die Wirkung von Willoughbys fadenscheinigem Abschied: „Marianne would have thought herself very inexcusable had she been able to sleep at all the first night after parting from Willoughby.“102 Als Willoughby schließlich brieflich seine frühere Zuneigung für Marianne verleugnet, bricht Marianne in romantisch-sentimentaler Manier zusammen. Sie verlässt tagelang nicht ihr Zimmer und erkrankt schließlich ernsthaft. Diese Krankheit – obwohl durch eine starke Erkältung ausgelöst – spricht ebenfalls für die Gültigkeit der Liebe als Passion und zwar im engeren Sinne. Liebe enthält für Austens Protagonistin mithin die Dimension des Leidens, somit bringt sie mit ihrer Krankheit ihren Liebeskummer in adäquat empfindsamer Weise zum Ausdruck. Auch diese patho-

100 Ebd., S. 53f. 101 Ebd., S. 88. 102 Ebd., S. 80.

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logische Komponente von Mariannes Form der sensibility macht ihre Haltung zu einem „unlebbaren“ Ideal.103 Die vorangegangene Charakterisierung der Dashwood-Schwestern hat gezeigt, dass die Attribute sense und sensibility nicht singulär an zwei kontrastierende Figuren gekoppelt werden. Stattdessen umfasst Elinors Handlungsideal sowohl Verstand als auch Gefühl, wohingegen Marianne sich ausschließlich an den emotionalen Aspekten der sensibility orientiert. Mariannes Spielart steht für ein durch und durch selbstbezogenes Verhalten, das wenig geeignet erscheint, den Beifall der Leser zu finden, das erkennt auch die Figur selbst im Lauf der Geschichte. Ihre Krankheit hinterlässt eine fast kathartische Wirkung und lässt sie das eigene Verhalten als unreif und egoistisch erkennen. My illness has made me think – it has given me leisure and calmness for serious recollection. Long before I was enough recovered to talk, I was perfectly able to reflect. I considered the past: I saw in my own behaviour, since the beginning of our acquaintance with him [Willoughby] last autumn, nothing but a series of imprudence towards myself and want of kindness to others. I saw that my own feelings had prepared my sufferings, and that my want of fortitude under them had almost led me to the grave. My illness, I well knew, had been entirely brought on by myself, by such negligence of my own health as I felt even at the time to be wrong. Had I died, it would have been self-destruction.104

Demgegenüber verspricht Elinors „empfindsame Vernunft“ das nachhaltigere Verhaltensmodell zu sein, wie die schlussendlichen Schicksale beider Schwestern beweisen: Während Elinor, die von Beginn an besonnen handelt und ihre Gefühle unter Kontrolle hat, schließlich mit ihrem Wunschpartner, Edward, belohnt wird, lässt Marianne sich zum vernünftigen Handeln und Urteilen bekehren. Nach diesem Sinneswandel nähert sie sich Colonel Brandon an und heiratet schließlich den „alten Junggesellen“. Elinor, deren Verhalten stets im Zeichen der Vernunft steht, ist nicht etwa gefühllos.105 Common sense und prudence implizieren keinesfalls eine kalt regulierende Vernunft, die jegliches Gefühl unterdrückt. Vielmehr besteht das „Konzept Elinor“ aus einer Integration der verschiedenen Pole, es geht um den vernünftigen Umgang mit dem Gefühl, nicht um seine totale Eliminierung. Die Notwendigkeit emotionaler Sensibilität setzt Jane Austen bei ihren Heldinnen voraus, warnt aber vor einseitiger Überbewertung.

103 George S. Rousseau spricht im Zusammenhang mit Marianne Dashwood von einer „nervous sensibility“, was ebenfalls den pathologischen Charakter ihrer Haltung unterstreicht. Vgl. George S. Rousseau: Nervous Acts, S. 44. 104 Ebd., S. 339. 105 So argumentiert auch Wolfgang Müller. Vgl. Wolfgang G. Müller: „Gefühlsdarstellung bei Jane Austen“, in: Sprachkunst 8 (1977), S. 92.



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Dass indes die Alleinherrschaft der Vernunft ebenso verwerflich wäre wie eine uneingeschränkte Emotionalität, illustrieren einige Nebenfiguren. Vor allem John und Fanny Dashwood tragen eine negativ konnotierte Form der Vernunftbestimmung zur Schau, die ebenso egoistisch erscheint wie die selbstbezogene sensibility. Das Interesse des Paares gilt ausschließlich dem eigenen materiellen Vorteil, so überredet Fanny John nach und nach, den Auftrag des verstorbenen Mr. Dashwood, John solle die finanzielle Situation seiner Halbschwestern sichern, aufzuschieben. Tatsächlich geht Fannys Missgunst so weit, dass sie Mrs. Dashwood das wenige, was diese nach dem Tod ihres Mannes noch besitzt, neidet.106 Auch Johns Denken zentriert sich ausschließlich um materielle Belange, zwar beabsichtigt er zunächst, Elinor und Marianne finanziell zu unterstützen, gibt den Argumenten seiner Frau dann jedoch nur allzu bereitwillig nach. Insgesamt zeigt er wenig Verständnis für selbstlose Taten, so wundert er sich beispielsweise darüber, dass Colonel Brandon Edward die Pfarrstelle seines Guts anbietet: „Well, this is astonishing! – no relationship! – no connection between them! – and now that livings fetch such a price! – what was the value of this?“107 An anderer Stelle bezeugt John seine insensibility dadurch, dass er Miss Morton nach Bekanntwerden von Edwards heimlicher Verlobung mit Lucy Steele kurzum zur Wunschpartie für den jüngeren Bruder Robert Ferrars macht: „‚We think now,‘ said Mr. Dashwood, after a short pause, ‚of Robert’s marrying Miss Morton.‘“ Elinor reagiert amüsiert auf diese Ankündigung: „‚The lady, I suppose, has no choice in the affair.‘“, was wiederum Johns Erstaunen hervorruft: „‚Choice! – how do you mean?‘“108 Diese Art der Vernunftbestimmung, die mit der absoluten Ignoranz (mit‑)menschlicher Gefühle einhergeht, ist freilich nicht als praktikabler Gegenentwurf zur übersteigerten Leidenschaftlichkeit zu lesen. Während Austen sense im Sinne einer rein materiellen Weltanschauung verwirft und Mariannes romantische sensibility lediglich als Übergangsstadium zu betrachten ist, dem die adoleszente Heldin entwächst, bildet Elinors Verhalten, das die Integration von Verstand und Gefühl umfasst, das normative Ideal ab.

106 Gemeint ist hier eine Unterhaltung zwischen John und Fanny, im Laufe derer letztere bedauert, das Geschirr der Familie nicht mitsamt dem Landsitz behalten zu dürfen: „the set of breakfast china is twice as handsome as what belongs to this house. A great deal too handsome, in my opinion, for any place they can ever afford to live in.“ Austen: Sense and Sensibility, S. 11. 107 Ebd., S. 287. 108 Ebd., S. 289.

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4.2.5 Sense vs. sensibility als männliches Dilemma Jane Austen spannt in ihrem Roman Sense and Sensibility ein Kräftefeld zwischen den Polen Verstand und Gefühl, in dem sich alle Figuren zu positionieren haben, dabei stehen John und Fanny Dashwood wie gesehen auf der Seite des alleinigen Vernunfthandelns. Die gegensätzlichen Anforderungen von sense und sensibility, reason und passion betreffen also nicht nur Elinor und Marianne. Auch männliche Figuren sind dem Kräftefeld ausgesetzt und müssen ihre Identität zwischen den Extremen des man of feeling und des man of sense bestimmen. Die männliche Version dieser Performanz lässt sich insbesondere bei den Figuren Willoughby und Colonel Brandon beobachten: Beide erweisen sich, wie Michael Kramp festhält, als Schüler der empfindsamen Tradition und müssen ihre Handlungen durch vernunftbestimmte Maximen modifizieren.109 Auf den ersten Blick vereint die Figur Willoughbys sicherlich mehr von dem Konzept empfindsamer Emotionalität in sich, als dies bei Colonel Brandon der Fall ist. Wie zuvor geschildert haftet bereits dem ersten Auftreten dieser Figur das Stereotyp des romantischen Helden an. Entsprechend heroisch fällt auch seine Charakterisierung aus, nachdem zunächst lediglich von einem Mann mit Gewehr und Hund die Rede war, präzisiert der Erzähler die Beschreibung etwas: „His manly beauty and more than common gracefulness were instantly the theme of general admiration, and the laugh which his gallantry raised against Marianne received particular spirit from his exterior attractions.“110 Eben diese Attraktivität übt seine Faszination auf Marianne aus, die in Willoughby schnell die Erfüllung ihrer Idealvorstellungen zu sehen meint: „His person and air were equal to what her fancy had ever drawn for the hero of a favourite story; and in his carrying her into the house with so little previous formality, there was a rapidity of thought which particularly recommended the action to her.“111 Generell spricht auch seine Beziehung zu Marianne, d. h. wie er ihre leidenschaftliche Begeisterung für Literatur, Musik und Tanz teilt, für Willoughbys Adaption des Konzepts Empfindsamkeit. In seinen Begegnungen mit Marianne wendet Willoughby den Code der sensibility in Reinform an, dabei bestärken sich die beiden nicht nur in ihrem Enthusiasmus für die schönen Künste, sondern teilen darüber hinaus dieselbe Abneigung für strikte Verhaltensnormen miteinander: Erscheint in Elinors Augen bereits Mariannes Rettung durch den Unbe-

109 Vgl. Michael Kramp: Disciplining Love. Austen and the Modern Man, Columbus: Ohio State University Press 2007, S. 56. 110 Austen: Sense and Sensibility, S. 41. 111 Ebd.



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kannten als unschicklich, so löst der geheime Ausflug der Liebenden zu Willoughbys zukünftigem Landsitz erst recht Elinors Empörung aus. Sie deutet dieses leichtfertige Verhalten letztlich als Indiz für ihre heimliche Verlobung. Umso mehr erstaunt schließlich auch Elinor Willoughbys plötzlicher Sinneswandel. Aus zunächst unerfindlichen Gründen nimmt Willoughby von den Dashwoods Abschied und reist nach London, als er Marianne dort fast nicht wieder zu erkennen scheint, ist die Bestürzung der Schwestern perfekt. Nachdem Willoughby Elinor und Marianne auf einer öffentlichen Abendveranstaltung äußerst kühl begegnet ist, vollzieht er durch einen Brief den endgültigen Bruch mit Marianne. Dieser Brief hat indes gar nichts mit seinem vorigen liebenswürdigen Tonfall gemein, in der Tat legt er einen äußerst nüchternen Duktus an den Tag, angefangen damit, dass er Marianne, die er zuvor bereits beim Vornamen nannte, mit „My Dear Madam“112 anspricht. Im Folgenden leugnet er, jemals andere Gefühle als freundschaftliche für Marianne gehegt zu haben, da er bereits anderweitig gebunden sei. Das eigentliche Motiv erhellt schließlich der Klatsch der Londoner Gesellschaft, wie sich zeigt, heiratet Willoughby eine äußerst vermögende Frau. Auf diese Diskreditierung der vormals so liebenswerten Figur folgt eine weitere Einsicht in deren Charakter: Colonel Brandon entlarvt Willoughby Elinor gegenüber als ruchlosen Libertin, der Brandons Mündel Eliza verführt, geschwängert und verlassen hat. Eine unmittelbarere Version von Willoughbys unrühmlicher Vergangenheit folgt einige Zeit später, als er während Mariannes lebensbedrohlicher Krankheit eine Art Lebensbeichte ablegt. Wieder ist es Elinor, die zur Eingeweihten wird. In schönster gothic-Manier – auch dies ein Element des romantisch-heroischen Flairs, das Willoughby stets umgibt – wird die Begegnung der beiden eingeleitet: „The night was cold and stormy. The wind roared around the house, and the rain beat against the windows“113. Der Leser kann fast den Widerhall einer Standuhr hören, wenn es heißt, „The clock struck eight“114und Elinor einen Wagen vorfahren hört. Im Zuge seiner Erzählung enthüllt Willoughby schließlich wie er sich tatsächlich in Marianne verliebt und die Zeit ihrer Bekanntschaft und gemeinsamen Schwelgens in empfindsamen Regungen ausgekostet, bald aber die Unmöglichkeit der Verbindung erkannt habe. Sein bis dato verschwenderischer Lebenswandel brachte ihn letztlich zu dem Entschluss, sich Marianne Dashwood aus dem Kopf zu schlagen und stattdessen eine reiche Erbin zu heiraten. An dieser Stelle wird deutlich, dass Willoughbys

112 Ebd., S. 176. 113 Ebd., S. 308. 114 Ebd.

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sensibility ebenso wenig alltagstauglich ist wie Mariannes, er gibt sie letztlich um den Preis reiner Vernunftbestimmung auf, so argumentiert auch Kramp: Austen illustrates how Willoughby must now dismiss his romantic passions for Marianne to acquire a socially sanctioned masculine subjectivity; modern England cannot allow its young men to act impulsively with fervent passion. Austen specifically demonstrates that he must address the dictates of Enlightenment feminist thought: Willoughby must establish a new appreciation for the social potential of women, relinquish his identity as a lover, and adopt rational principles to craft a nationally proper masculinity.115

Die ungestüme Leidenschaft des Liebhabers, das wissen wir bereits von Laurence Lerner, kann die Zeit nicht überdauern und so eignet sich Willoughby „aufgeklärte“ Verhaltensstandards in dem Sinne an, als er vernünftigen, aufs diesseitige Leben bezogenen Beweggründen den Vorrang in seinen Entscheidungen einräumt. Zuvor nutzt Willoughby den Modus der sensibility als Code, um zu Marianne in Bezug zu treten. Indem er den Kontakt zu Marianne abbricht, verwirft er den gemeinsamen Code zugunsten einer eingreifenden Vernunft. Obwohl nicht so offensichtlich wie Willoughby, zeichnet sich auch Colonel Brandon als empfindsamer Held aus. Das Attribut der sensibility speist sich in seinem Fall vor allem aus seiner romantisch-tragischen Vergangenheit. Zunächst lässt Brandon Elinor – und mit ihr den Leser – nur erahnen, dass er sich bereits als Protagonist einer romantischen Tragödie verdient gemacht hat. So beginnt er von einer früheren Bekanntschaft zu sprechen: „I once knew a lady who in temper and mind greatly resembled your sister, who thought and judged like her, but who from an enforced change – from a series of unfortunate circumstances –“116. Gerade die Tatsache, dass Brandon an dieser Stelle abbricht, illustriert seine Sensibilität, er ist schlicht zu bewegt, um weiter zu sprechen. Zudem regt seine Diskretion die Fantasie an, ähnlich wie die prospektive Reaktion Mariannes fällt denn auch die Erwartungshaltung des Lesers aus, der sich die ganze Geschichte „in the most melancholy order of disastrous love“117 ausmalt. Später bestätigt sich diese Vermutung, Brandon selbst offenbart seine Vergangenheit und erzählt von seiner unglücklichen Liebe zu seiner Schwägerin Eliza, die ihm nach mehreren unverzeihlichen Fehltritten ihre uneheliche Tochter Eliza Williams anvertraut hat. Vor allem Brandons offensichtliche Gemütsbewegung während seines Gesprächs mit Elinor bezeugt seine feinfühlige Konstitution, so ist er gezwungen, vor lauter Ergriffenheit minutenlang innezuhalten. Diese emotionale Bewegung

115 Kramp: Disciplining Love, S. 64. 116 Austen: Sense and Sensibility, S. 54f. 117 Ebd., S. 55.



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kontrolliert Brandon durch physische Bewegung: „He could say no more, and rising hastily walked for a few minutes about the room.“118. Während der Colonel meistenteils durch seine im wahrsten Wortsinn vornehme Zurückhaltung auf sich aufmerksam macht – so zeugt beispielsweise sein zurückhaltendes Lob für Mariannes musikalisches Talent im Kontrast zum oberflächlichen Beifall der restlichen Gesellschaft von seiner distinguierten Wesensart – bekommt er im Laufe des Romans dennoch Gelegenheit, durch resolutes Handeln in Erscheinung zu treten. Insbesondere während Mariannes Krankheit schlüpft Brandon in die vormals Willoughby vorbehaltene Rolle des leidenschaftlichen Helden: Spontan und voll Nichtachtung fürs gesellschaftliche Formular bietet er sich an, Mrs. Dashwood persönlich von dem bedenklichen Zustand ihrer jüngeren Tochter zu unterrichten und ihre Reise zu dieser zu begleiten. Seine Handlung selbst führt Brandon dann ebenso resolut wie geistesgegenwärtig aus: He, meanwhile, whatever he might feel, acted with all the firmness of a collected mind, made every necessary arrangement with the utmost dispatch, and calculated with exactness the time in which she [Elinor] might look for his return. Not a moment was lost in delay of any kind.119

Brandon hält sich in Konversationen zwar stets zurück, tritt dafür aber umso beherzter als aktiv Handelnder in Erscheinung.120 Insgesamt trägt Colonel Brandon eine Form der sensibility zur Schau, deren Intensität durch sein Vermögen, sie zu regulieren, nicht geschmälert wird. Ähnlich wie Elinor Dashwood ist es ihm möglich, trotz seiner lebhaften Gefühlswelt nach organisierten und regulierten Prinzipien zu handeln.121 Während Willoughby, der zunächst als empfindsamer Held erscheint, sich die Standards der sensibility nur ihrer Form nach und vorübergehend zu Eigen macht, ist der vermeintlich vernunftbestimmte Brandon dem Konzept stärker verhaftet. Laut Kramp zeigt Austen anhand ihrer männlichen Figuren zwei Modelle, wie übersteigerte Emotionalität reguliert werden kann: zum einen die Übernahme eines originär aufklärerischen Vernunftdenkens mit dem Ziel unberechenbare Leidenschaften und impulsive Handlungen zu überwinden sowie auf der anderen Seite die Assimilation an ein Konzept ritterlichen Konservativismus’,

118 Ebd., S. 200. 119 Ebd., S. 304. 120 Neben dem bereits zitierten Beispiel für Brandons Tatkraft sei hier noch auf seine plötzliche Abreise von Barton Park verwiesen. Auch hier fällt er durch sein energisches Auftreten auf und trifft seine Entscheidungen ohne Zögern. Vgl. ebd., Kapitel XIII, S. 60ff 121 Vgl. dazu auch Kramp: Disciplining Love, S. 68.

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das Kramp auf Edmund Burke zurückführt.122 Während Brandon bereits vor dem Einsetzen der Handlung darin versiert ist, seine Empfindungen insofern durch die Übernahme konservativer Verhaltensnormen zu kontrollieren, als er die Rolle des modernen Ritters bzw. Gentlemans übernimmt, muss Willoughby seine Lektion erst noch lernen. Es gilt, seine unbegrenzten Leidenschaften in gemäßigtere Bahnen zu lenken und die vormalige Leichfertigkeit zugunsten nachhaltigerer Prinzipien zu überwinden. Neither Willoughby nor Brandon is able to exist as an unchecked man of sensibility, and Austen demonstrates how each suitor must avoid amorous emotions to ensure his secure domestic life. Willoughby restrains his susceptibility to romantic love by relying upon rationality to direct his behavior, while Brandon consistently relies upon the socially accepted chivalric model of behavior to order his sexuality.123

Insgesamt zeigen auch die männlichen Protagonisten des Romans, dass sensibility ohne sense im Lebensalltag des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht funktionieren kann. Pure Gefühlsbetonung wird aus der männlichen Perspektive als leere Floskel entlarvt, die letztlich zugunsten einer alltagstauglicheren Emotionalität, also reguliert durch vernünftige Prinzipien wie etwa den Einbezug materieller Erwägungen oder das Bedenken von Schicklichkeitsfragen, ersetzt werden muss.

4.2.6 Der Weg zum privaten Glück: Die Lektion, die Entwicklung, die Belohnung Wie die meisten Romane Jane Austens erzählt auch Sense and Sensibility die Geschichte einer Reifung, von den anfänglichen Fehleinschätzungen der Protagonistin über die Korrektur ihrer Grundsätze bis hin zur Verbesserung ihres Verhaltens auf Grund der neu erworbenen Einsichten. Liest man den Text als Plädoyer für Gefühlskontrolle bzw. als Warnung vor den Folgen unbeherrschter Emotionalität, so wird deutlich, dass einzig Marianne Dashwood den eben vorgezeichneten Reifeprozess durchläuft. Elinor beherrscht dagegen von Anfang an das Instrumentarium kontrollierender und regulierender Maßnahmen, ihre Heirat mit ihrem Wunschpartner Edward Ferrars erscheint daher logisch und verdient. Die jugendliche, überschwängliche Marianne entspricht da schon eher dem von Elizabeth Sabiston als „Emma-Heroine“ bezeichneten Modell der adoleszenten Heldin, die sich erst im Laufe der Romanhandlung zur verantwor-

122 Vgl. ebd., S. 56f. 123 Ebd., S. 72.



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tungsbewussten, reifen Frau entwickelt. Sie durchläuft einen langen Weg auf ihrer Glückssuche, schmerzlich muss sie ihre Lektion lernen, um letztlich für die daraus hervorgehende Reifung belohnt zu werden. Dass Mariannes Weltanschauung sich möglicherweise noch ändern wird, deutet bereits das erste Kapitel an. Dort heißt es in Bezug auf Elinors Fähigkeit, ihre emotionalen Regungen unter Kontrolle zu halten: „[I]t was a knowledge which her mother had yet to learn, and which one of her sisters had resolved never to be taught.“124 Gemeint ist natürlich Marianne, die vorerst ganz anderen Prinzipien folgt. Hinsichtlich ihrer letztlich doch stattfindenden Entwicklung lassen sich fünf Stadien benennen, die Austens Protagonistin durchläuft. Zunächst werden Mariannes erste Anschauungen und Grundsätze dargestellt (1), diese werden wie oben bereits beschrieben insbesondere im Kontext ihrer Bekanntschaft mit Willoughby deutlich. Mariannes Empfindsamkeit lässt sich in erster Linie als fancy beschreiben: Sie glaubt an die Liebe auf den ersten Blick, an die Notwendigkeit absoluter Gleichheit zwischen den Partnern und hält die Vorstellung, jemand könne sich in seinem Leben zweimal verlieben, für unmöglich. Laut Colonel Brandon ist es gerade die Kompromisslosigkeit ihrer Überzeugungen, die Mariannes Charme ausmacht. Über diese Grundsätze äußert er sich gegenüber Elinor wie folgt: „This [...] cannot hold; but a change, a total change of sentiments – No, no, do not desire it, – for when the romantic refinements of a young mind are obliged to give way, how frequently are they succeeded by such opinions as are but too common, and too dangerous!“ Am Ausgangspunkt ihrer Geschichte bezeigt Marianne zwar große Ähnlichkeiten zu ihrer Mutter, sie erweist sich jedoch zugleich als elternlos, insofern Mrs. Dashwood kein adäquates Rollenvorbild liefert. In ihrer Sentimentalität passt sich die Mutter der Tochter an, nicht umgekehrt. Mrs. Dashwood kann Marianne daher keine traditionelle mütterliche Protektion angedeihen lassen, sondern erliegt ganz im Gegenteil denselben Fehleinschätzungen wie ihre Tochter, immerhin lässt auch sie sich von Willoughby täuschen.125 Die romantischen Erwartungen und Vorstellungen der jugendlichen Heldin werden schließlich enttäuscht (2), worauf eine Krise (3) folgt. Diese Krise stellt sich bei Marianne als lebensverändernde Krankheit dar, im Zuge derer sie die Ich-Bezogenheit ihrer Gefühlsbetonung einsieht und Elinors selbstaufopfernde Gefühlskontrolle als Verhaltensideal anerkennt, was sie der Schwester gegen-

124 Austen: Sense and Sensibility, S. 5. 125 Nachdem Elinor Marianne von Willoughbys nächtlichem Besuch erzählt und seinen Bericht wiedergegeben hat, obliegt es auch ihr, der Mutter die Augen über den Libertin zu öffnen, der nun dezidiert als Mrs. Dashwoods „former favourite“ bezeichnet wird. Vgl. ebd., S. 342.

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über offen zugibt. Angesichts von Mariannes Selbstvorwürfen fragt Elinor diese, ob sie das eigene Verhalten denn mit dem Willoughbys vergleiche. Marianne verneint: „No. I compare it with what it ought to have been; I compare it with yours.“126 Aus dieser Erkenntnis resultiert das Restrukturieren alter Verhaltensnormen (4), Marianne lässt von ihren früheren Überzeugungen ab. Dies äußert sich vor allem in ihrer Haltung gegenüber Colonel Brandon. Ihre erste Voreingenommenheit gegen den old bachelor, der ihren Spott insbesondere durch die Erwähnung seines rheumatischen Leidens und die Bevorzugung einer Wollweste erregte,127 macht einer tiefen Dankbarkeit Platz, die ihre Bereitschaft fördert, sich weiter von Brandons charakterlichen Vorzügen zu überzeugen. Die wachsende Zuneigung Mariannes wird freilich von ihrer ganzen Familie gefördert, gilt doch die Heirat des ungleichen Paares als beider Belohnung (5) für ihre früheren Leidenswege.128 In der Tat scheint es, als habe Marianne gar keine andere Wahl, als sich in ihr Schicksal als Mrs. Brandon zu fügen, so heißt es: „With such a confederacy against her – with a knowledge so intimate of his goodness – with a conviction of his fond attachment to herself, which at last, though long after it was observable to everybody else, burst on her – what could she do?“ Auf diese zweifelhafte Vorankündigung von Mariannes Einwilligung folgt jedoch eine weniger ironische Bestätigung ihres häuslichen Glücks: Colonel Brandon was now as happy as all those who best loved him believed he deserved to be; – in Marianne he was consoled for every past affliction; – her regard and her society restored his mind to animation and his spirits to cheerfulness: and that Marianne found her own happiness in forming his, was equally the persuasion and delight of each observing friend. Marianne could never love by halves; and her whole heart became, in time, as much devoted to her husband, as it has once been to Willoughby.129

126 Ebd., S. 338. 127 Brandons Klage über rheumatische Schmerzen nimmt Marianne voller Empörung wahr: „Did not you hear him complain of the rheumatism? And is not that the commonest infirmity of decling life?“ Ebd., S. 35. Auch gegen die Wollweste bezeugt Marianne Vorbehalte: „with me a flannel waistcoat is invariably connected with aches, cramps, rheumatisms, and every species of ailment that can afflict the old and the feeble.“ Ebd., S. 36f. 128 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „reward“ zunächst nur auf Colonel Brandon angewandt wird, den Marianne nach Ansicht ihrer Familie für seine unglückliche erste Liebe entschädigen soll. Vgl. ebd., S. 372. 129 Ebd., S. 373.



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Mag der Ausgang von Mariannes Geschichte moderne Leser bisweilen enttäuschen, der Erzähler betrachtet das Schicksal der Protagonistin eindeutig als beneidenswert und fasst ihre Entwicklung wie folgt zusammen: Marianne Dashwood was born to an extraordinary fate. She was born to discover the falsehood of her own opinions, and to counteract, by her conduct, her most favourite maxims. She was born to overcome an affection formed so late in life as at seventeen, and with no sentiment superior to strong esteem and lively friendship, voluntarily to give her hand to another! – and that other, a man who had suffered no less than herself under the event of a former attachment, – whom, two years before, she had considered too old to be married, – and who still sought the constitutional safeguard of a flannel waistcoat!130

Obwohl Austen nichts unversucht lässt, ihre Leser davon zu überzeugen, dass Marianne Dashwood mit Colonel Brandon nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in romantischer eine hervorragende Partie macht, bleibt der Beigeschmack des Trostpreises. Es will nicht so recht einleuchten, wie die vormals so lebhafte Heldin ihr Glück in einer derartig soliden Verbindung finden kann. Nichtsdestotrotz belohnt die Autorin die Entwicklung ihrer Heldin mit dieser Heirat und rundet so deren Glückssuche mit konventionellen Mitteln ab. Wie gesehen geht der finalen Belohnung der Protagonistin ihr kompletter Sinneswandel voraus. Glück ist im Zusammenhang von Sense and Sensibility nicht unbedingt gleichbedeutend mit den Wunschvorstellungen der Protagonistinnen. Jane Austen hält Glück offenbar ausschließlich in einem begrenzten Rahmen für realisierbar. Die Sehnsüchte ihrer Figur Marianne, welche jenseits von konservativen gesellschaftlichen Normen liegen, kann die Autorin nicht erfüllen. Mariannes Reifeprozess findet noch in anderer Hinsicht unter Einschränkungen statt. Austens Frauenfiguren sind im Wesentlichen unmobil, was sie maßgeblich von den Männerfiguren unterscheidet. Sie können nichts tun, als zu Hause auf die frei reisenden Männer zu warten, allenfalls können sie selbst auf eine Einladung hoffen, die einen Umgebungswechsel ermöglichen würde. Damit sind sie von grundsätzlichen Möglichkeiten der freien Entscheidung ausgeschlossen. Geschlecht und Wohlstand bilden die jeweiligen Achsen, anhand derer der Roman die Themen „[c]hoice, agency and mobility“131 einordnet, so Gene W. Ruoff. Trotz etwaiger Vorbehalte moderner Leser gegenüber dem Glücksversprechen von Mariannes Schicksal, konzipiert Jane Austen mit dieser Figur eine Roman-

130 Ebd., S. 372. 131 Gene W. Ruoff: Jane Austen’s Sense and Sensibility, New York, London u. a.: Harvester Wheatsheaf 1992 (= Critical Studies of Key Texts), S. 96.

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heldin, die ihren Vorgängerinnen des 18. Jahrhunderts einiges an Perfektibilität voraus hat. Tatsächlich zeichnet Marianne sich durch ihre Wandelbarkeit bwz. ihre Fähigkeit, erwachsen zu werden, aus. Laut Maria Stewart ist sie die erste der Austenschen Heldinnen, denen eine solche Persönlichkeitsreifung gelingt: „Like the later Elizabeth Bennet, Emma Woodhouse, and Anne Elliot, Marianne learns to accept the temporal dimension of human life that even changes the personal configuration of that which constitutes the self.“132 Dabei scheint das wesentliche Novum dieser Entwicklung in den Faktoren zu liegen, die sie auslösen. Während Elinor auf ihrem Weg ausschließlich äußere Widerstände zu bekämpfen hat, zuerst die Verlobung Edwards mit Lucy Steele und dann die Borniertheit ihrer zukünftigen Schwiegermutter, hindern Marianne ihre eigenen Vorstellungen zunächst daran, ihr Glück zu finden.133 Mariannes Fähigkeit, sich im Innersten zu verändern, die eigenen Überzeugungen zu überdenken und grundsätzlich neue Verhaltensideale zu assimilieren, macht sie zu einer wesentlich flexibleren und auch moderneren Romanheldin als ihre Schwester Elinor, die ähnlich wie die betrachteten Romanheldinnen des 18. Jahrhunderts ein starres Ideal kanonischer Verhaltensnormen darstellt. Ein Charakteristikum, das allerdings auf beide Schwestern zutrifft und das sie beide als moderne Heldinnen auszeichnet, ist ihr Anspruch auf individuelle Glückserfahrung. Renate Mann spricht in diesem Zusammenhang von der „Privatisierung des Glücks“134, sowohl das Schicksal Mariannes als auch das ihrer Schwester bezeugen die Gültigkeit dieses Konzepts. Glück als umfassende Erfüllung in allen Lebensbereichen ist laut Sense and Sensibility Privatsache. Mehr noch: Einzig die Heldin ist für ihr Glück verantwortlich: Zum einen muss sie ihren Charakter nach den besten Grundsätzen bilden, um Glück zu verdienen, zum anderen obliegt ihr allein die Wahl für den richtigen Lebenspartner. Beide, Elinor und Marianne bestimmen grundsätzlich eigenverantwortlich ihr jeweiliges Schicksal.

132 Stewart: Domestic Realities and Imperial Fiction, S. 103. 133 Dies bestätigt auch Bernard J. Paris, indem er Marianne ebenso wie Stewart in eine Reihe mit Elizabeth Bennet und Emma Woodhouse stellt. Vgl. Bernard J. Paris: Character and Conflict in Jane Austen’s Novels. A Psychological Approach, Detroit: Wayne State University Press 1978, S. 14f. 134 Mann: Die Rhetorik der Moral, S. 171.



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4.2.7 Sense oder sensibility? Glaubt man Charlotte Brontë, dann ist das Wesen menschlicher Emotionalität nicht gerade das thematische Ressort Jane Austens: [S]he ruffles her reader by nothing vehement, disturbs him by nothing profound: the Passions are perfectly unknown to her; she rejects even a speaking acquaintance with that stormy Sisterhood; even to the Feelings she vouchsafes no more than an occasional graceful but distant recognition; too frequent converse with them would ruffle the smooth elegance of her progress. Her business is not half so much with the human heart as with the human eyes, mouth, hands and feet135.

Zweifellos liegt dieser Kritik ein grundsätzlich anderes Verständnis von affektiven Regungen zugrunde als Austen es im Rahmen von Sense and Sensibility ausdrückt. In Austens Roman steht sense nicht einfach für Vernunft und auch sensibility ist nicht mit dem Gefühl per se gleichzusetzen. Elinor und Marianne verkörpern nicht einfach zwei verschiedene, einander oppositionell ausschließende Weltanschauungen, reason auf der einen und passion auf der anderen Seite, obwohl sense und sensibility, wie auch Tony Tanner bemerkt, durchaus unterschiedliche Zugänge zur Welt andeuten.136 Stattdessen zeigt der Roman, dass die zwei Lebensauffassungen, die laut Walter Gröbel das späte 17. und 18. Jahrhundert beherrscht haben, ihre Verfechter zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor unlösbare Aufgaben stellen.137 Weder das eine noch das andere Konzept stellt im Romanzusammenhang ein praktikables Handlungsmodell dar, stattdessen führt die jeweilige Überbewertung von sense oder sensibility zum Verlust des Realitätsbezuges. Folglich herrscht bei keiner der beiden Identifikationsfiguren eines der Konzepte in Reinform vor: Während Elinor den Umgang mit ihren Gefühlen bereits auf den Einbezug vernünftiger Erwägungen hin abgestimmt hat, muss Marianne schmerzlich lernen was passiert, wenn die menschliche Ratio nicht lenkend in die emotionale Entäußerung eingreift. Bei Elinors Vernunft handelt es sich weniger um sense als um prudence. Der Verstand wird hier vorrangig dazu gebraucht, den Umgang mit Gefühlen

135 Charlotte Brontë: „On Jane Austen“, in: Jane Austen. The Critical Heritage, hg. v. B. C. Southam, London: Routledge & Kegan Paul 1986, S. 128. 136 Tony Tanner: „Secrecy and Sickness in Sense and Sensibility“, in: Jane Austen. Sense and Sensibility, Pride and Prejudice and Mansfield Park. A Casebook, hg. v. B. C. Southam, London: Macmillan 1976, S. 142. 137 Gröbel definiert die rationale Haltung Elinors als eine tugendhaft-empfindsame gegenüber Mariannes epikureisch-hedonistischer Leidenschaftlichkeit. Vgl. Gröbel: Der beherrschte Körper, S. 184.

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zu organisieren. Laut Renate Brosch dient eine so regulierte Emotionalität, die nach innen gerichtete Gefühle kontrolliert und empathische Kompetenzen kultiviert, der Förderung des Kollektivbewusstseins.138 Die einseitige Betonung von Vernunftgründen in Form von Geldgier oder sonstigem Egoismus – das illustrieren vor allem die Nebenfiguren – ist selbstverständlich ebenso verwerflich wie eine übersteigerte Emotionalität. Empfindsames Schwärmen und das Schwelgen in ausschließlich ich-bezogenen Betrachtungen werden als unreifes Verhalten abgeurteilt. Es kann allenfalls als Übergangsstadium gelten, dem die Heldin Marianne entwachsen muss, um ihre Integrität zu wahren.139 Damit lehnt Austen sich durchaus an die Anschauungen ihrer wesentlich progressiveren Vordenkerin Mary Wollstonecraft an. Auch diese bewertet die Überbetonung weiblicher Emotionalität im Rahmen des Konzepts sensibility als Schwäche und appelliert stattdessen an den Intellekt ihrer Leserinnen: My own sex, I hope, will excuse me, if I treat them like rational creatures, instead of flattering their fascinating graces, and viewing them as if they were in a state of perpetual childhood, unable to stand alone. […] I wish to persuade women to endeavour to acquire strength, both of mind and body, and to convince them that the soft phrases, susceptibility of heart, delicacy of sentiment, and refinement of taste, are almost synonymous with epithets of weakness, and that those beings who are only the objects of pity and that kind of love, which has been termed its sister, will soon become objects of contempt.140

Während Wollstonecraft die Bedeutung emotionaler Kompetenzen hier jedoch gänzlich verwirft, zeigt sich Jane Austen überzeugt von ihr. In modifizierter Form, das heißt durch die Vernunft reguliert, erweisen sich auch emotionale Handlungsstrategien als unabdinglich für ideales weibliches Verhalten. Wie bereits Richardsons Clarissa ist Sense and Sensibility als Plädoyer für die Versöhnung von Gefühl und Verstand zu verstehen, allerdings weist Austen im Unterschied zu ihrem Vorgänger auf die Gefahren einer rein emotional begründeten sensibility hin. Grundsätzlich ist die Opposition sense vs. sensibility nicht mit der zwischen Verstand und Gefühl gleichbedeutend, stattdessen deutet der antithetische Titel auf den Widerspruch von prudence und romance hin, auf die Bedeutung von nüchterner Geistesgegenwart angesichts der Gefahren romantischer Verklärun-

138 Vgl. Brosch: Eleganz und Autonomie, S. 104. 139 In diesem Sinne bewertet Bernard J. Paris Figuren, die sich langfristig mit dem Konzept sensibility identifizieren als Stehengebliebene auf einer frühen Entwicklungsstufe. Vgl. Paris: Character and Conflict in Jane Austen’s Novels, S. 174. 140 Wollstonecraft: A Vindication of the Rights of Woman, S. 6.



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gen. Wie der Vergleich von Elinor und Marianne Dashwood ergeben hat, repräsentiert nicht etwa eine Schwester das Prinzip sense, wohingegen die andere für sensibility stünde. Vielmehr werden zwei Formen von Empfindsamkeit gegeneinander aufgewogen: eine ganzheitliche, vernunftregulierte sensibility und eine übersteigerte, pathologische sensibility. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, welches der beiden Konzepte zu favorisieren ist: Eine Empfindsamkeit, die im Sinne einer zum Überschwang neigenden fancy das rechte Maß vernachlässigt, impliziert ausschließlich Egoismus und muss daher überwunden werden. Am Ende eines derartigen Reifprozesses steht der Gewinn an sense – die Fähigkeit, das eigene Empfinden sowie das daraus resultierende Verhalten zu kontrollieren. Ein Konflikt zwischen den beiden Konzepten findet im eigentlichen Sinne nicht statt, wenigstens nicht innerhalb einer Figur, er wird allenfalls durch die Kontrastierung der zwei Schwestern angedeutet.141 Obwohl hinzuzufügen wäre, dass zumindest bei Elinor Ansätze eines solchen Konflikts vorhanden sind: Ihre emotionalen Reaktionen lassen sich wie gesehen nicht immer völlig unterdrücken, bisweilen besiegt auch bei ihr das Gefühl den Verstand. Im Hinblick auf ihre Skepsis gegenüber uneingeschränkter Gefühlsbetonung ist Jane Austen ohne Zweifel als Vertreterin des 18. Jahrhunderts zu bezeichnen.142 Ihre konservative Weltauffassung, laut der die Ratio dem irrationalen, überschwänglichen Gefühl übergeordnet ist, verortet Wolfgang Müller im Klassizismus.143 Von unbezähmbaren Leidenschaften jedenfalls, von dem, was Charlotte Brontë unter Gefühlen versteht, ist bei Jane Austen nicht die Rede. Das ist es schließlich, was oftmals die Kritik moderner Leser erregt. Von ihrer Warte aus erscheint der Ausgang von Sense and Sensibility unbefriedigend: Während Elinors perfekte Gefühlsbeherrschung fast schon unmenschlich wirkt, verliert Marianne durch die neuerliche Übernahme vernünftiger Betrachtungen einiges von dem Charme, den die Figur bis dato auszeichnete.144 Eine hinreichende Antwort auf die Frage nach dem Dilemma weiblicher Emotionalität findet Austen, so Brosch, erst in ihrem letzten vollendeten Roman

141 So argumentieren auch Sandra Gilbert und Susan Gubar: „The complementarity of the lively and the quiet sisters, moreover, suggests that these two inadequate responses to the female situation are inseparable.“ Gilbert u. Gubar: The Madwoman in the Attic, S. 162. 142 Dem stimmt u. a. auch Renate Mann zu. Vgl. Mann: Jane Austen. Die Rhetorik der Moral, S. 10. 143 Müller: Gefühlsdarstellung bei Jane Austen, S. 89. 144 Vgl. dazu Laura G. Mooneyham: „The Failure of Resolution in Sense and Sensibility“, in: Dies.: Romance, Language and Education in Jane Austen’s Novels, Basingstroke u. a.: Macmillan 1988, S. 44.

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Persuasion.145 In der Tat scheint die Autorin in der Figur Anne Elliots die Charakteristika von Elinor und Marianne zu vereinen. Einerseits beherrscht Anne eine weniger dogmatische Version von Elinors rationalen Dispositionen, andererseits ist auch Robert Garis Recht zu geben, der auf die Verwandtschaft Annes mit Marianne hinweist, immerhin beweist Persuasion, dass second attachments letztlich doch nicht möglich sind.146 Mit Anne Elliot zeichnet Jane Austen eine Romanheldin, die den Konflikt, den die Autorin sechs Jahre zuvor noch anhand zweier Schwestern entfaltete, in sich auflöst. Elinor und Marianne wirken demgegenüber bisweilen unvollständig.

4.2.8 Normative Konzepte von Weiblichkeit in Sense and Sensibility Die Romane Jane Austens lassen sich, sofern man sie als novels of manners liest, in engen Zusammenhang mit dem Genre des conduct books bringen. In der Tat kann der Autorin unterstellt werden, einige zeitgenössische Erziehungsschriften gekannt zu haben. Während sich ihre Vertrautheit mit Gregorys Legacy schlichtweg voraussetzen lässt – Nancy Armstrong bezeichnet ihn immerhin als „darling of Austen’s generation“147 – kann Austens Kenntnis der Schriften James Fordyces sogar nachhaltig belegt werden, schließlich liest einer ihrer Charaktere aus dessen Sermons to Young Women vor.148 Offenbar erreicht die Popularität dieser Anstandslehren um 1800 ihren Höhepunkt, was unter anderem die zahlreichen Neuauflagen der beiden genannten Autoren bzw. ihrer Schriften zeigen. Angesichts der sicheren Annahme von Jane Austens Vertrautheit mit zeitgenössischen Konzeptionen idealtypischer Weiblichkeit, liegt es auf der Hand, dass einige der Verhaltensnormen, die mädchenpädagogische Schriften im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts aufstellen, auch Eingang in Sense and Sensibility gefunden haben. Wie ich im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit herausgestellt habe, hält der Geschlechtscharakterdiskurs Frauen seit dem späten 18. Jahrhundert dazu an, in allen psychischen Bewegungen Mäßigkeit zu üben. Die Schreckensbilder von überbordender Leidenschaftlichkeit auf der einen und kaltem Vernunftden-

145 Vgl. Brosch: Eleganz und Autonomie, S. 142. 146 Vgl. Robert Garis: „Learning Experience and Change“, in: Critical Essays on Jane Austen, hg. v. B. C. Southam, London u. Henley: Routledge & Kegan Paul 1968, S. 82. 147 Armstrong: „The Rise of the Domestic Woman“, S. 103. 148 Es handelt sich dabei um Mr. Collins in Pride and Prejudice. Vgl. Austen: Pride and Prejudice, S. 56.



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ken bzw. Pedanterie auf der anderen Seite gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Wünschenswertes weibliches Verhalten positioniert sich dazwischen, das „vernünftige Gefühl“ und die „fühlende Vernunft“ sind seine Ziele. Dabei wird Emotionalität besonders auf mitfühlende Kompetenzen reduziert: Die Frau soll für und mit anderen fühlen, Güte, Empathie und Altruismus sind ihre Stärken. Laut Diskurs lässt sich Emotionalität nur dann positiv weiblich konnotieren, wenn sie vom eigenen Selbst abstrahiert und sich nach außen richtet, das weibliche Ich hat in dieser Beziehung wie auch in allen anderen in den Hintergrund zu treten. Folglich werden vor allem selbstentsagende Qualitäten wie Milde und Bescheidenheit von der idealtypischen Frau gefordert. Emotionale Selbstentsagung ist auch das Thema von Sense and Sensibility, insoweit geht Jane Austen mit dem nichtliterarischen Diskurs konform. Die ideale weibliche Emotionalität wird auch im Romanzusammenhang als selbstloses Konzept definiert. In diesem Sinne tritt Elinor Dashwood als Idealbesetzung eines jeden conduct books auf, kann sie doch als lückenlose Personifizierung des „vernünftigen Gefühls“ gelten. Elinors Verstand hält die eigenen Gefühle, zumindest deren direkten Ausdruck, unter der Oberfläche, um ihre Mitmenschen damit nicht zu belasten. Die Gebote von Schicklichkeit und Höflichkeit sind den eigenen Bedürfnissen stets übergeordnet, daher könnte das Motto von Sense and Sensibility auch Kontrolle bis hin zur Selbstverleugnung heißen. Dabei wird dem Verstand, als dem regulierenden Element, eine durchaus positive Bewertung erteilt. Im Hinblick auf die Korrespondenz der Haltung Jane Austens mit normativen Diktaten mag die fehlende Kritik an weiblicher Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Pedanterie zunächst erstaunen. Gleichwohl enthält der Roman eine solche, indem er die Existenz weiblicher Gelehrsamkeit im Sinne von Bildung, die über die klassischen weiblichen accomplishments hinausgeht, gar nicht erst in Betracht zieht. So wenig wir bei Jane Austen dem Stereotyp des „Blaustrumpfs“ begegnen, so rar sind positive Bilder von weiblichem Bücherwissen gesät. Der Bildungskanon, den Austen ihren Heldinnen abverlangt, deckt sich in Gänze mit entsprechenden Vorstellungen erzieherischer Texte, obwohl sich einräumen ließe, dass die Autorin zumindest insofern für die Gleichwertigkeit des weiblichen Intellekts eintritt, als sie spätere Heldinnen durch ihre geistige Gewandtheit und Schlagfertigkeit, kurz wit, glänzen lässt. Wie gesehen gilt dies jedoch nicht für Austens Erstlingsroman; obgleich beide über den nötigen Scharfsinn verfügen, tragen weder Elinor noch Marianne eine ausgesprochene Schlagfertigkeit zur Schau, die sich mit der Elizabeth Bennets oder Emma Woodhouses vergleichen ließe. Ganz im Gegenteil assoziiert die Autorin das Attribut wit im Kontext von Sense and Sensibility vorrangig mit unsympathischen Charakteren. Verstandeskräfte werden damit insoweit abgelehnt, als sie Verursacher von egoistischen Handlungen sind, wie beispielsweise das

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beschränkte Besitzdenken John Dashwoods. Die rationalen Kompetenzen Elinors werden dagegen durch und durch gelobt, während der Mangel vergleichbarer Fähigkeiten bei anderen Figuren angeprangert wird. In diesem Sinne wird mehrfach auf Lucy Steeles defizitäre Bildung hingewiesen, die sich im schlechten Stil ihrer Briefe zu erkennen gibt. Da Lucy nicht die entsprechende Herzensbildung besitzt, um den Mangel an Erziehung wettzumachen, versagt sie als Identifikationsfigur. Der Mangel an ‚echtem‘ bzw. normkompatiblem Verstand bei Lucy und die ausgezeichnete Fähigkeit Elinors, rationale Motive in ihr Handeln einzubeziehen, verdeutlichen Austens Standpunkt als konservative Diskursvertreterin. Eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete Vernunft lässt sich ebenso in den Kanon idealtypischer weiblicher Qualitäten integrieren wie eine nach außen, also auf andere gerichtete Emotionalität. Insgesamt führt Jane Austens Sense and Sensibility die Gefahren eines Ungleichgewichts von Verstand und Gefühl vor Augen und stützt somit die konservative Richtung des Geschlechtscharakterdiskurses. Insbesondere die Entwicklung der jüngeren Schwester Marianne verdeutlicht die Risiken eines unbalancierten Gefühlshaushalts. Im Sinne der ihm von Annegret Schrick unterstellten Darstellung einer negativen Handlungshypothese der weiblichen Modellbiografie zeigt das Schicksal Mariannes, wie leicht das unbeherrschte Ausleben von per se egoistischen Gefühlen das Leben zerstören kann. Vollständig abgewendet werden können derlei Gefahren nur durch die generelle Mäßigung der Emotionalität.149 Der Verstand muss lenkend eingreifen und Ordnung ins Chaos der Gefühle bringen. Besser zu wenig Gefühle zeigen als zuviel, so lautet der Tenor des Romans. Obwohl sich aus dieser Ansicht Jane Austens die Übereinstimmung mit einigen der frühfeministischen Maximen Mary Wollstonecrafts folgern lässt – so lehnt auch diese das Konzept Empfindsamkeit als unrentable Affektiertheit ab – kann die Autorin mitnichten als revolutionäre Stimme bezeichnet werden. Zwar tritt Austen im Zusammenhang mit Sense and Sensibility für die Emanzipation ihrer Heldinnen von den leeren Hüllen normativer Weiblichkeit ein, wie etwa einer übersteigerten, nicht zweckgebundenen Emotionalität, allerdings löst sie sich nicht etwa in Wollstonecrafts Sinn von der sensibility, um weibliches Verhalten dem männlichen anzugleichen und Frauen damit die aktive Partizipation am gesellschaftspolitischen Leben zu ermöglichen. Vielmehr geht es Austen im Einklang mit konservativen Diskursvertretern darum, den Blick ihrer Protagonistinnen vom eigenen Selbst auf andere zu lenken und somit empathische, altruistische Qualitäten des Gefühls in den Vordergrund zu rücken.

149 Vgl. Schrick: Jane Austen und die weibliche Modellbiographie, S. 115.



Emily Brontës Wuthering Heights (1847) 

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Alles in allem verharren Jane Austens Heldinnen in einem Übergangsstadium zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“: Befreit von der noch im ausgehenden 18. Jahrhundert mit Unschuld verbundenen Schwäche einer Clarissa Harlowe, können sie doch längst noch nicht den ganzen Schritt zur Mündigkeit vollziehen und ihr Leben etwa gänzlich selbstständig gestalten. Die Ehe bildet immer noch das unausweichliche Fundament der weiblichen Normbiografie, allerdings – und insofern unterscheiden sich die Dashwood-Schwestern ganz klar von Clarissa und Julie – obliegt die laut Austen wichtigste Lebensentscheidung allein den davon Betroffenen. Austen garantiert ihren Protagonistinnen das Recht, ihren Wunschpartner selbst wählen zu dürfen, auch wenn sich die freie Wahl als falsch herausstellt. Dabei wird auch elterliches Fehlurteil eingeräumt und immer wieder illustriert, so gilt Willoughby lange Zeit als der erklärte Liebling Mrs. Dashwoods. Mit der Aufgabe, die richtige Wahl für sich zu treffen, sind Austens Protagonistinnen letztlich allein auf sich gestellt. An dieser Stelle tritt die Autorin kompromisslos für weibliche Selbstständigkeit ein, was durchaus als Ausblick auf kommende Rollenzuschreibungen zu bewerten ist. Austen erweist sich insofern als fortschrittlich, als sich bei ihr erstmals die Privatisierung des Glücks ablesen lässt, die sich als konstituiv für den viktorianischen Roman erweisen wird.150 Während Jane Austen allerdings noch davon Abstand nimmt, die ganze Konsequenz unbedingter Leidenschaft aufzuzeigen und Marianne stattdessen eine grundsätzliche Wandlung durchlaufen lässt, gehen spätere Autorinnen weiter.151 Die vielleicht leidenschaftlichste Romanheldin der englischen Literaturgeschichte, Emily Brontës Catherine Earnshaw, soll im Folgenden betrachtet werden.

4.3 Emily Brontës Wuthering Heights (1847) Im direkten Vergleich mit der kultivierten Welt der Austenschen Heldinnen – den imposanten Herrenhäusern, eleganten Tanzveranstaltungen und distinguierten Gesprächen – stellt sich die Handlung von Emily Brontës 1847 veröffentlichtem Roman Wuthering Heights nahezu brutal und verroht dar. Mit ihrem ersten und einzigen Roman erzählt die Autorin die Liebesgeschichte zwischen Catherine

150 Die dahingehende Pionierfunktion Austens für viktorianische AutorInnen konstatiert auch Renate Mann. Vgl. Mann: Die Rhetorik der Moral, S. 171. 151 In diesem Zusammenhang weist Tony Tanner u. a. auf George Eliot und die Heldin ihres 1860 erschienenen Romans The Mill on the Floss, Maggie Tulliver, hin: „What George Eliot does have the courage to show is that Maggie can only die; constituted as she is there is literally no place for her in society.“ Tanner: „Secrecy and Sickness in Sense and Sensibility“, S. 144.

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und dem Findelkind Heathcliff. Die beiden wachsen gemeinsam auf Wuthering Heights, dem Landgut der Earnshaws, auf. Ihre Wege trennen sich als Catherine sich mit dem kultivierten Edgar Linton verlobt. Nach drei Jahren kehrt Heathcliff schließlich zurück, um an Hindley Earnshaw, der ihn in Kindertagen gequält hat, und an Edgar Linton Rache zu nehmen. Selbst Catherines Tod kann Heathcliffs rasende Leidenschaft für sie und seine Rachelust nicht beenden, so dehnt er seine Abrechnung auch auf die Folgegeneration aus. Brontës dämonischer Held stirbt schließlich, nachdem er sowohl den Besitz der Earnshaws als auch den der Lintons in seine Gewalt gebracht hat. Dennoch gestaltet der Text mit der finalen Heirat von Catherines und Edgars Tochter Cathy mit Hindleys Sohn Hareton ein optimistisches Ende. Angesichts der dargestellten Laster sowie der gewissenlosen Figur Heathcliffs erscheinen die ablehnenden Reaktionen zeitgenössischer Leser auf Wuthering Heights mitunter verständlich. Die raue Umgebung der Yorkshiremoore und ihre nicht minder rauen, ständig fluchenden Bewohner scheinen wenig geneigt, den Beifall des viktorianischen Publikums zu erregen. Zeitgenössische Kritiker warfen Ellis Bell152 dementsprechend vor, den Roman mit unnatürlicher Brutalität überfrachtet zu haben, „coarse“, „immoral“ und „irreligious“ seien Themen sowie Charaktere. „In Wuthering Heights“, so heißt es beispielsweise in Douglas Jerrold’s Weekly Newspaper, „the reader is shocked, disgusted, almost sickened by details of cruelty, inhumanity, and the most diabolical hate and vengeance“153. Auch Charlotte Brontë äußert Vorbehalte gegenüber dem Text ihrer Schwester. Anlässlich der zweiten Auflage von Wuthering Heights verfasst die älteste der Brontës eine biographische Notiz über die beiden mittlerweile verstorbenen Schwestern sowie ein editorisches Vorwort. Innerhalb der biographischen Anmerkungen zeichnet sie ein verklärtes Bild von Emily als einer menschenscheuen

152 Die Brontë-Schwestern publizierten zunächst unter den Pseudonymen Currer (Charlotte), Ellis (Emily) und Acton (Anne) Bell, doch bereits 1850, kurz nach dem Tod beider Schwestern, enthüllt Charlotte Brontë deren Identität. In einer biographischen Notiz begründet sie die Wahl männlicher Namen wie folgt: „Averse to personal publicity, we veiled our names under those of Currer, Ellis, and Acton Bell; the ambiguous choice being dictated by a sort of conscientious scruple at assuming Christian names positively masculine, while we did not like to declare ourselves women, because – without at that time suspecting that our mode of writing was not what is called ‚feminine‘ – we had a vague impression that authoresses are liable to be looked on with prejudice;“ Charlotte Brontë: „Biographical Notice of Ellis and Acton Bell“, in: Emily Brontë: Wuthering Heights, Penguin: London 1994, S. 6. 153 „Unsigned Review“, in: Douglas Jerrold’s Weekly Newspaper (15.1.1848), S. 77. Zit. nach The Brontës. The Critical Heritage, hg. v. Miriam Allott, London u. Boston: Routledge & Kegan Paul 1974, S. 228.



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und weltentrückten Persönlichkeit: „An interpreter ought always to have stood between her and the world.“154 Der Aufgabe eines solchen Interpreten nimmt sich Charlotte augenscheinlich selbst mit ihrem Herausgebervorwort an, darin räumt sie Kritikern gegenüber ein: [T]o strangers who know nothing of the author; who are unanquainted with the locality where scenes of the story are laid; to whom the inhabitants, the customs, the natural characteristics of the outlying hills and hamlets in the West Riding of Yorkshire are things alien and unfamiliar [...], ‚Wuthering Heights‘ must appear a rude and strange production.155

Mit dem Verweis auf die regionalen Ursprünge des Texts wertet Brontë den zuvor unterstellten schroffen Charakter des Romans in Rustikalität um: „It is rustic all through. It is moorish, and wild, and knotty as a root of heath. Nor was it natural that it should be otherwise; the author being herself a native and nursling of the moors.“156 Wirklich zu erklären, wie ihre Schwester derartig dämonische und, insofern sie von der geltenden Norm abweichen, gänzlich „unweibliche“ Charaktere erdichten konnte, vermag Charlotte schließlich jedoch nicht. Sie führt lediglich aus, dass Emily durchaus mit der ländlichen Bevölkerung um sie herum vertraut war, tatsächlich aber keinen Umgang mit ihr pflegte,157 um dann wiederum auf die vermeintlich naive Weltfremdheit ihrer Schwester hinzuweisen: „Having formed these beings [Catherine and Heathcliff] she did not know what she had done.“158 Letztlich entzieht sich nicht nur Charlotte Brontë einer eindeutigen Stellungnahme zu Wuthering Heights, sie stellt auch das bewusste Urteilsvermögen der Autorin in Frage und schreibt die unfemininen, brutalen Züge des Romans einer diffusen, unbewussten schriftstellerischen Eingebung zu: Whether it is right or advisable to create beings like Heathcliff, I do not know: I scarcely think it is. But this I know: the writer who possesses the creative gift owns something of which he is not always master – something that, at times, strangely wills and works for itself.159

Trotz aller Vorbehalte seitens der Kritik lässt sich die Faszination, die Wuthering Heights seit seinem Erscheinen bei Lesern auslöste, nicht von der Hand weisen.

154 Charlotte Brontë: Biographical Notice, S. 10. 155 Charlotte Brontë: „Editor’s Preface to the New Edition of ‚Wuthering Heights‘“, in: Brontë, Emily: Wuthering Heights, Penguin: London 1994, S. 13. 156 Ebd., S. 14. 157 Vgl. ebd. 158 Ebd., S. 15. 159 Ebd., S. 16.

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Während Charlotte Brontë nicht umhin kann, „[t]he immature but very real power“160 des Romans hervorzuheben, loben auch andere Zeitgenossen seine Bildgewalt.161 In der heutigen Rezeption wird Wuthering Heights gemeinhin als der originellste der Brontë-Romane gehandelt. Seiner eigenen Zeit war er zweifellos um einiges voraus, obwohl ihm der Verdienst zugesprochen wird, romantische Motive in den viktorianischen Roman eingeführt zu haben. In der Tat geht Donald Stone so weit, die Autorin selbst als Romantikerin par excellence zu bezeichnen.162 Naturgewalten gehen in Brontës Roman Hand in Hand mit menschlichen Leidenschaften, dementsprechend beschreibt Stone die bedeutendste Leistung des viktorianischen Romans als „the creation of a form large enough to include Romantic values within a realistic context, to allow for the coexistence of the competing claims of society and the individual, authority and the imagination, urban and rural ways of life“163. Im Zusammenhang mit den thematisierten Ansprüchen der Gesellschaft an das Individuum rückt wiederum die affektive Natur des Subjekts in den Vordergrund, so handelt auch Wuthering Heights von übersteigerter Emotionalität. Lawrence Stone reiht den Text daher in eine Folge von Romanen ein, die beginnend bei Richardson zusehends das Thema menschlicher Affektivität fokussiert, im Gegensatz etwa zu den laut Stone oberflächlichen pikaresken Romanen des 18. Jahrhunderts.164 Tatsächlich handelt Wuthering Heights von einer Reihe konfligierender Polaritäten: Diesseits und Jenseits, innen und außen, Liebe und Hass, Ruhe und Sturm, hell und dunkel sowie ohne Frage dem Widerspruch von Fühlen und Denken.

160 Charlotte Brontë: Biographical Notice, S. 8. 161 In diesem Zusammenhang schreibt beispielsweise G. W. Peck: „Respecting a book so original as this, and written with so much power of imagination, it is natural that there should be many opinions.“ G. W. Peck: „Review of Wuthering Heights“, in: American Review 3 (1848), S. 572–585. Zit. nach The Brontës. The Critical Heritage, hg. v. Miriam Allott, S. 235. Auch britische Rezensenten bemerkten die künstlerische Qualität des Romans, obgleich auch sie die Zweifelhaftigkeit der Themenwahl betonen, so etwa im Examiner: „This is a strange book. It is not without evidences of considerable power: but, as a whole, it is wild, confused, disjointed, and impropable; and the people who make up the drama, which is tragic enough in its consequences, are savages ruder than those who lived before the days of Homer.“ „Unsigned Review of Wuthering Heights“, in: The Examiner (Januar 1848), S. 21–22. Zit. nach: The Brontës. The Critical Heritage, hg. v. Miriam Allott, S. 220. 162 Vgl. Donald D. Stone: The Romantic Impulse in Victorian Fiction, Cambridge u. London: Harvard University Press 1980, S. 43. 163 Ebd., S. 45. 164 Vgl. Stone: The Family, Sex and Marriage, S. 228.



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4.3.1 Multiperspektivisches Erzählen außerhalb der Briefform Im Gegensatz zur Erzählsituation in Austens Sense and Sensibility lassen sich die narrative Struktur und damit verbundene genderspezifische Implikationen in Wuthering Heights eindeutig bestimmen. Emily Brontës Roman setzt sich aus einer Pluralität erzählerischer Stimmen zusammen, dabei wird die Handlung mehrfach gerahmt. Eine erste Instanz stellt der extradiegetische Ich-Erzähler Lockwood dar, ein Angehöriger der städtischen Oberschicht, der sich vorübergehend in der Nachbarschaft von Wuthering Heights aufhält. Die Sichtweise dieses Außenseiters wird wiederum gebrochen durch die Erzählung der Haushälterin Ellen Dean, in deren Worten schließlich die eigentliche Romanhandlung dargestellt wird. Darüber hinaus kommen im Laufe der Handlung durch Tagebucheinträge und Briefe einige weitere Figuren zu Wort. Im Gegensatz zu diesen „Primärquellen“, überzeugen die beiden Erzählerfiguren – das wird im Handlungsverlauf deutlich – nicht durch ihre Objektivität: Während Lockwood mit romantisch verklärten Vorurteilen in die Einöde der Moor- und Heidelandschaft kommt und nicht in der Lage ist, die Charaktere und ihre Handlungen empathisch zu verstehen, ist die Schilderung der intradiegetischen Erzählerin Nelly stark durch ihre persönliche Involviertheit in die Ereignisse determiniert. Hintergrundinformationen über den Erzähler Lockwood sind zwar recht spärlich gesät, es lassen sich jedoch immerhin einige Eckdaten bezüglich dieser Figur nennen. Nach eigenen Angaben betritt er den Schauplatz, um sich in der Einsamkeit vom gesellschaftlichen Treiben der Stadt zu erholen. Ironischerweise sucht der Erzähler direkt nach seiner Ankunft den Kontakt zu seinem Pachtherren, in dem er einen Seelenverwandten zu finden meint: I have just returned from a visit to my landlord – the solitary neighbour that I shall be troubled with. This is certainly a beautiful country! In all England I do not believe that I could have fixed on a situation so completely removed from the stir of society. A perfect misanthropist’s heaven: and Mr. Heathcliff and I are such a suitable pair to divide the desolation between us.165

Damit beginnt Lockwood seine Erzählung mit einer beträchtlichen Fehleinschätzung. Wie sich herausstellen wird, handelt es sich bei Heathcliff keineswegs um den „capital fellow“166, für den er von seinem Pächter gehalten wird. Durchdrungen von konventionellen Vorstellungen über allgemeines Benehmen und Geselligkeit, hält Lockwood Heathcliffs Schroffheit für eine Fassade, hinter

165 Brontë: Wuthering Heights, Penguin: London 1994, S. 19. 166 Ebd.

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der er, so scheint es, einen weichen Kern vermutet. Sein zweiter Besuch in Wuthering Heights soll ihn jedoch eines besseren belehren. Die kalte Atmosphäre zwischen den Heights-Bewohnern versetzt den Besucher in Erstaunen: „They could not every day sit so grim and taciturn; and it was impossible, however illtempered they might be, that the universal scowl they wore was their everyday countenance.“167 Allerdings bringt ihn Heathcliffs barscher Ton zu einer anderen Überzeugung: „I no longer felt inclined to call Heathcliff a capital fellow.“168 Aufgrund des Wetters ist Lockwood gezwungen, die Nacht unter dem Dach seines Nachbarn zu verbringen, Heathcliff heißt seinen Gast jedoch alles andere als herzlich willkommen. Nachdem er ihm erklärt hat, es gebe kein Gästezimmer für ihn und er müsse sich das Bett mit einem der Bewohner teilen, schlägt er dem Erzähler den Wunsch, die Nacht über im Wohnraum zu bleiben, auf äußerst ruppige Weise ab: „A stranger is a stranger, be he rich or poor; it will not suit me to permit any one the range of the place while I am off guard!“169 Lockwoods Interesse an seinem mysteriösen Pachtherren wird insbesondere durch einen Vorfall während dieses zweiten Besuchs in Wuthering Heights geweckt. Im Traum meint er die Zweige ans Fenster schlagen zu hören, woraufhin ihm der kindliche Geist einer gewissen Catherine erscheint, für den Erzähler bis dato eine Unbekannte, und ihn bittet, sie einzulassen: I muttered, knocking my knuckles through the glass, and stretching an arm out to seize the importunate branch; instead of which, my fingers closed on the fingers of a little, ice-cold hand! The intense horror of nightmare came over me: I tried to draw back my arm, but the hand clung to it, and a most melancholy voice sobbed, „Let me in – let me in!“170

Nachdem Lockwood noch im Traum versucht, die geisterhafte Erscheinung mit Hilfe physischer Gewalt loszuwerden – „Terror made me cruel; and, finding it useless to attempt shaking the creature off, I pulled its wrists on to the broken pane, and rubbed it to and fro till the blood ran down and soaked the bedclothes“171 – ruft sein Schrei Heathcliff herbei. Schließlich wird der Erzähler Zeuge des höchst ungewöhnlichen Verhaltens des Hausherren. „He got onto the bed, and wrenched open the lattice, bursting, as he pulled at it, into an uncon-

167 Ebd., S. 26. 168 Ebd. 169 Ebd., S. 30. 170 Ebd., S. 36. 171 Ebd.



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trollable passion of tears. ‚Come in! come in!‘ he sobbed. ‚Cathy, do come. Oh, do – once more! Oh! my heart’s darling! hear me this time, Catherine, at last!‘“172 Lockwood sieht schließlich ein, dass ihn nicht viel mit seinem Nachbarn verbindet, wenn er zugibt: „It is astonishing how sociable I feel myself compared with him.“173 Der Menschenfeind, für den sich der Erzähler zunächst ausgibt, ist er freilich nicht. Wie der Leser bereits im ersten Kapitel erfährt, flieht Lockwood nicht etwa grundsätzlich die Gesellschaft anderer, sondern vor allem die einer bestimmten Person. Er selbst deutet eine unglückliche Liebschaft an, die ihn zu seiner Flucht aus einem überfüllten Badeort – vermutlich Bath – veranlasst hat. While enjoying a month of fine weather at the sea-coast, I was thrown into the company of a most fascinating creature: a real goddess in my eyes, as long as she took no notice of me. I never told my love „vocally; still, if looks have language, the merest idiot might have guessed I was over head and ears: she understood me at last, and looked a return – the sweetest of all imaginable looks. And what did I do? I confess it with shame – shrank icily into myself, like a snail; at every glance retired colder and farther; till finally the poor innocent was led to doubt her own senses, and, overwhelmed with confusion at her supposed mistake, persuaded her mamma to decamp. By this curious turn of disposition I have gained the reputation of deliberate heartlessness, how undeserved, I alone can appreciate.174

Vor allem diese Episode ist es, die zur Charakterisierung des extradiegetischen Erzählers beiträgt. Von sich aus neigt Lockwood zwar nicht zum Einsiedler, doch lässt er zweifellos eine gestörte Sozialkompetenz erkennen. Ganz offensichtlich hat der Erzähler Angst vor Vertrautheit und Nähe, wahrscheinlich auch vor sexueller Intimität. In ähnlicher Weise begründet Martha Nussbaum seinen unvermittelten Rückzug: „Because to him the reciprocation of love is more terrifying than its non-reciprocation, because the gaze of desire, seeing into his own desire, makes him passive and ashamed of his own softness, the snail without its shell. Because a life of watching and romantic narration is manageable, and a life of passion is not.“175 Dementsprechend beschränkt sich der Erzähler im Romanzusammenhang auf einen Beobachterposten, die Geschichte der Haushälterin dient lediglich seiner Unterhaltung. Er selbst tritt nicht als aktiv Handelnder in Erscheinung und die Personen, deren Geschichte er hört, sowie deren übersteigerte Leidenschaft bleiben ihm fremd.

172 Ebd., S. 39. 173 Ebd., S. 23. 174 Ebd., S. 21. 175 Martha Nussbaum: „Wuthering Heights. The Romantic Ascent“, in: Philosophy and Literature 20 (1996), H. 2, S. 368.

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Analog zu der Differenzierung zwischen extradiegetischer und intradiegetischer Erzählinstanz lässt sich der Unterschied zwischen den Erzählerfiguren Lockwood und Ellen Dean beschreiben: Während Lockwood der Erzähler des Romans ist, kann Ellen Dean – von den meisten der beteiligten Figuren Nelly genannt – als die Erzählerin der eigentlichen Handlung gelten. Nach Lockwoods Nacht in Wuthering Heights bittet er die Haushälterin von Thrushcross Grange, „hoping sincerely she would prove a regular gossip176“, ihm Näheres über seine Nachbarn zu berichten und leitet damit die eigentliche Erzählung ein. In der Retrospektive erzählt Nelly die Geschichte von Heathcliff und Catherine Earnshaw, der Tochter der ursprünglichen Besitzer der Heights. Das Findelkind Heathcliff, so beginnt die Erzählerin, brachte Mr. Earnshaw von einer Reise nach Liverpool mit und ließ es gemeinsam mit seinen eigenen Kindern, Hindley und Catherine, aufwachsen. „[A] dirty, ragged, black-haired child; big enough to walk and talk [...]; yet when it was set on its feet, it only stared round, and repeated over and over again some gibberish that nobody could understand“177, so beschreibt die Haushälterin ihren ersten Eindruck von Heathcliff und auch Mr. Earnshaw weist seine Familie auf die Fremdheit und das exotische Äußere des Neuankömmlings hin: „I was never so beaten with anything in my life: but you must e’en take it as a gift of God; though it’s as dark almost as if it came from the devil.“178 Nelly erzählt, wie Heathcliff und Catherine sich anfreunden, wie Hindley den Fremden nach dem Tod des Vaters tyrannisiert und wie Catherine trotz ihrer Verbundenheit zu Heathcliff Edgar Linton, den Erben der Thrushcross Grange, heiratet. Dabei erfährt die Erzählung eine starke subjektive Färbung, denn die Erzählerin kann ihre eigene emotionale Involviertheit nicht leugnen. Nelly Dean hält ihre Kommentare und Wertungen kaum einmal zurück, stattdessen gibt sie ihrem Zuhörer einen genauen Bericht über die eigenen Sympathien und Antipathien. Laut Nelly selbst scheint vor allem ihre Beziehung zu Heathcliff einem ständigen Wandel unterworfen zu sein. Zunächst zeigt sich Nelly ihm gegenüber äußerst misstrauisch: Noch am Abend seiner Ankunft überlässt sie das Kind sich selbst, in der Hoffnung, es möge am nächsten Tag von selbst verschwunden sein.179 Ihre ersten Gefühle gegenüber dem Fremdling beschreibt sie folgendermaßen: „Miss Cathy and he [Heathcliff] were now very thick; but Hindley hated him: and to say the truth I did the same, and we plagued and

176 Brontë: Wuthering Heights, S. 42. 177 Ebd., S. 45. 178 Ebd. 179 „I put it [the child Heathcliff] on the landing of the stairs, hoping it might be gone on the morrow.“ Ebd., S. 46.



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went on with him shamefully“180. Ihr Verhalten ändert sich, als sie während einer Krankheit der Kinder den Unterschied zwischen Heathcliffs Duldsamkeit und Catherines und Hindleys unablässigen Klagen vergleicht.181 Eine Weile zeigt Nelly Mitleid mit Heathcliffs desolater Situation im Haushalt, beispielsweise versucht sie ihn vor der Familie gesellschaftsfähig erscheinen zu lassen und hilft ihm, sich zu waschen und anzuziehen. Nachdem er jedoch für drei Jahre spurlos verschwunden ist, kehrt das alte Misstrauen zurück, so beschreibt sie Heathcliff Isabella Linton gegenüber als „a bird of bad omen“182. Deutlich entschiedener stellt sich Nellys Meinung von Catherine dar, deren Schicksal gegenüber sie sich äußerst ungerührt gibt. Ihre wenig mitfühlende Haltung der eigenen Herrin gegenüber erklärt Nelly mit Catherines eigensinnigem Temperament, das sie bereits als Kind zur Schau stellte. So heißt es über die kindliche Protagonistin: „In play, she liked exceedingly to act the little mistress; using her hands freely, and commanding her companions: she did so to me, but I would not bear slapping and ordering; and so I let her know.“183 Obwohl Nelly in Catherines schlechtem Benehmen keine Arglist erkennt, missbilligt sie das, was sie als Selbstsucht ansieht und mokiert sich über den Stolz der Herrin: „I’ve had many a laugh at her perplexities and untold troubles, which she vainly strove to hide from my mockery. That sounds ill-natured: but she was so proud, it became really impossible to pity her distresses, till she should be chastened into more humility.“184 Verglichen etwa mit dem Maß an Mitleid, das die Erzählerin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim ihrer Protagonistin gegenüber bezeugt – schließlich erzählt auch hier eine Dienerin die Geschichte ihrer Herrin – erscheint Ellen Dean nahezu teilnahmslos. Sie selbst gibt offen zu, ihrer ehemaligen Herrin keine besondere Zuneigung entgegengebracht zu haben: „At fifteen she was the queen of the country-side; she had no peer; and she did turn out a haughty, headstrong creature! I own I did not like her, after her infancy was past“185. Die Erzählerin macht einen Unterschied zwischen sich und den Figuren ihrer Geschichte, deren Verhalten sie oftmals als albern ansieht. So ist Nelly während eines familiären Krachs im Haus der Lintons überzeugt, „that the Grange had but one sensible soul in its walls, and that lodged in my body.“186

180 Ebd. 181 In diesem Zusammenhang erklärt Ellen Dean: „The difference between him and the others forced me to be less partial.“ Ebd. 182 Ebd., S. 98. 183 Ebd., S. 49. 184 Ebd., S. 69. 185 Ebd., S. 68. 186 Ebd., S. 111.

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Offenbar bringt Nelly den wenigsten Figuren ihrer Erzählung uneingeschränkte Sympathie entgegen, was sie zweifellos zu einer unzuverlässigen Erzählinstanz macht. Wie auch Marianne Thormählen konstatiert, bleibt es gänzlich dem Urteil des Lesers überlassen, sich mit einer oder mehreren Romanfiguren zu identifizieren.187 Weder das Urteil Lockwoods, der von seiner Außenseiterposition aus zu Fehlschlüssen neigt, noch die parteiischen Kommentare Ellen Deans bestimmen den Standpunkt des Lesers. Trotzdem, das bestätigt auch Thormählen, wird Wuthering Heights in der modernen Rezeption gemeinhin als Liebesgeschichte von Heathcliff und Catherine gelesen, wobei die Protagonisten, sobald sie als solche wahrgenommen werden, automatisch zu Sympathieträgern werden.188 Angesichts der Vorbehalte viktorianischer Kritiker dem Roman gegenüber, erscheint vor allem das mangelnde Mitgefühl Ellen Deans verständlich, denn mit dieser Erzählsituation ist es Emily Brontë möglich, eine angemessene Distanz zu den „groben“ und „brutalen“ Ereignissen ihres Romans zu wahren, diese gleichzeitig aber zu erzählen. In diese Richtung weist auch Gaby Allraths Argumentation, laut der unglaubwürdige PerspektiventrägerInnen in (Frauen‑) Romanen des 19. Jahrhunderts dazu beitragen, die Darstellung marginalisierter Diskurse zu ermöglichen und so dominante Wirklichkeitsmodelle zu unterwandern.189 Heutige Leser lassen sich wohl kaum mehr von den schroffen Charakteren des Romans abschrecken, stattdessen nehmen sie den Handlungszweig um Catherine und Heathcliff als hauptsächlichen Gegenstand des Romans wahr.190

187 Marianne Thormählen schreibt dazu: „The result is that the reader is liberated from any pressure to identify with any person or persons in the novel. Emily Brontë forces us to take up our own standpoint, or to decide to forgo the adoption of any point of view at all.“ Marianne Thormählen: „The Lunatic and the Devil’s Disciple. The ‚Lovers‘ in Wuthering Heights“, in: The Review of English Studies 48 (1997), S. 185. 188 Die Autorin beschreibt die Reaktionen moderner Leser auf den Roman wie folgt: „Any discussion of Wuthering Heights, whether among ‚common readers‘, in classrooms, or in the pages of scholarly works, is bound to focus on the relationship between Catherine Earnshaw and Heathcliff. That relationship is usually referred to as ‚love‘ – ‚the passion of elemental love‘, ‚the love that devours life itself‘, and so on. […] The adolescent reader is easily swept along by this force and tends to remember Catherine and Heathcliff as the protagonists of the grand romantic passion of English fiction.“ Ebd., S. 183. 189 Vgl. Gaby Allrath: „Multiperspektivisches Erzählen und synthesestörende Strategien im englischen Frauenroman des 19. Jahrhunderts aus der Sicht einer feministischen Literaturwissenschaft. Subversive Varianten des single-point perspective system bei Jane Austen, Emily Brontë und George Eliot“, in: Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. v. Vera u. Ansgar Nünning, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000, S. 195. 190 In diesem Sinne fragt etwa Alan Gardiner, ob Wuthering Heights nach dem Tod der Protagonistin an Signifikanz nachlässt. Vgl. Alan Gardiner: „Does the Novel Deteriorate after the Death



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Dementsprechend fokussiert auch meine Analyse die erste Generation der Romanfiguren, insbesondere die Beziehungen Catherine Earnshaws zu den sie umgebenden Männerfiguren. Im Hinblick auf die Frage, inwiefern die Protagonistin dem zeitgenössischen Bild von idealtypischer Weiblichkeit entspricht, soll zunächst auf ihre Erziehung eingegangen werden.

4.3.2 Die Sozialisation der Heldin: Zwischen Wuthering Heights und Thrushcross Grange Es erscheint mir strittig, in Bezug auf Brontës Catherine Earnshaw den Begriff Erziehung zu gebrauchen, zu weit entrückt von konventionellen Vorstellungen über Mädchenerziehung stellen sich die romanimmanenten Erziehungsmaximen und ‑praktiken dar. An die Stelle eines organisierten Bildungsprogramms, mit Hilfe dessen die jugendliche Heldin angeleitet wird, so wie es etwa La Roches Fräulein von Sternheim durchläuft, treten in Brontës Roman eine Reihe unterschiedlicher Faktoren, die die Sozialisation der Protagonistin bestimmen. Catherines Entwicklung hängt nicht von einer einzelnen Erzieherfigur ab, sondern von diversen Gegebenheiten in ihrem Umfeld. In diesem Zusammenhang muss zunächst auf das Setting des Romans hingewiesen werden: Wuthering Heights fehlt nahezu jegliche gesellschaftliche Einbettung. Bereits der Name des Hauses impliziert die Abgeschiedenheit der spröden Landschaft um es herum. Wie Lockwood erklärt, bezieht sich der Name des Hauses auf die regionalen Beschaffenheiten: „Wuthering Heights is the name of Mr. Heathcliff’s dwelling, ‚Wuthering‘ being a significant provincial adjective, descriptive of the atmospheric tumult to which its station is exposed in stormy weather.“191 Das Anwesen liegt isoliert von einem dörflichen oder gar städtischen Kontext. Zwar fällt des Öfteren der Name eines nahen Orts, Gimmerton – etwa wenn nach einem Arzt oder dem Pfarrer geschickt wird – die Beschreibung dieses Orts bleibt jedoch ganz der Vorstellungskraft des Lesers überlassen. Obwohl einige Figuren zumindest andeutungsweise in Gimmerton verkehren (so erfahren wir, dass Hindley den dortigen Pub aufsucht, während Edgar Lintons Kontakte zum Dorf durch seine Funktion als Friedensrichter zumindest indirekt bestätigt werden), bleiben die Besuche im Dorf stets im erzählerischen Dunkel. Was erzählt wird, geschieht ausschließlich

of Catherine?“, in: Critical Essays on Wuthering Heights, hg. v. Linda Cookson u. Bryan Loughrey, Harlow: Longman 1988 (= Longman Literature Guides), S. 88–96. 191 Brontë: Wuthering Heights, S. 20.

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in Wuthering Heights oder Thrushcross Grange. Charaktere, die sich anderswo aufhalten, entziehen sich damit dem Blick der intradiegetischen Erzählerin. In seiner Abgeschiedenheit und der von Lockwood bemerkten soliden Bauweise ähnelt Wuthering Heights einer Festung und erinnert fast schon an die einsam gelegenen Burgen der Radcliffeschen gothic novels. Vor seinem Eintreten nimmt der Erzähler die Schnitzereien über dem Eingang wahr, die neben dem Familiennamen und der Jahreszahl 1500 einige seltsame Figuren zeigen. Diese „wilderness of crumbling griffins and shameless little boys“192 kann beinahe als Vorausdeutung auf das Temperament der Bewohner gelten. Das Innere des Hauses gibt sich offensichtlich bäurisch und rustikal, so beschreibt Lockwood den Wohnraum des Hauses vor allem als funktional: Das Geschirr stapelt sich sichtbar für jeden Gast an der Wand, die fehlende Deckenverkleidung gibt den Blick auf trocknendes Fleisch und andere Lebensmittel frei und der Fußboden besteht aus einfachem Stein.193 Dies ist also das engere Umfeld, in dem Catherine Earnshaw aufwächst, dabei halten sie und Heathcliff sich oftmals außerhalb des eigentlichen Wohnraums auf, in der Küche, im Stall oder auf dem Dachboden. Damit wird nochmals auf die Funktion der Wohnung als Bauernhaus verwiesen. Müßiggang ist in diesem Räumen nicht vorgesehen, stattdessen sieht sich Catherine entweder mit der arbeitenden Dienerschaft konfrontiert, oder den ihr auferlegten Zwängen. Vor allem religiöse Zwänge bestimmen die Erziehung Catherines. In ihr Tagebuch schreibt sie, wie sie und Heathcliff an einem Regentag gezwungen werden, anstelle des Kirchgangs einer dreistündigen Predigt von Joseph, dem Knecht, auf dem Dachboden beizuwohnen.194 Joseph und der Pfarrer sind die einzigen Personen, die Mr. Earnshaw mit der formalen Erziehung seiner Kinder betraut. Während über den Unterricht des Geistlichen nichts weiter bekannt ist, als dass auch die benachbarten Lintons von ihm unterwiesen werden, weiß Ellen Dean weitaus mehr über Joseph zu berichten: „He was, and is yet most likely, the wearisomest self-righteous Pharisee that ever ransacked a Bible to rake the promises to himself and fling the curses on his neighbours. By his knack of sermonizing and pious discoursing, he contrived to make a great impression on Mr. Earnshaw“195. Seine Erziehungsmethoden bestehen im Wesentlichen aus moralischen Vorhal-

192 Ebd. 193 Vgl. ebd. Dabei wundert sich der Erzähler über den Kontrast zwischen dem bäurischen Erscheinen des Wohnraums und dem vornehmen Auftreten Heathcliffs, den er als Gentleman „in dress and manners“ bezeichnet. Ebd., S. 21. 194 Ebd., S. 32f. 195 Ebd., S. 48f.



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tungen, dabei werden bereits die leisesten Fehltritte bestraft. So berichtet Catherine in ihrem Tagebuch von seinem Verbot, sonntagabends zu spielen. Joseph hält sie stattdessen dazu an, Moralschriften zu lesen „Sabbath no o’ered, und t’ sound o’ t’ gospel still i’ yer lungs, and ye darr be laiking! Shame on ye! sit ye down, ill childer! there’s good books enough if ye’ll read ’em! sit ye down and think o’ yer sowls!“196 Catherine verweigert sich dieser Anordnung: „I could not bear the employment. I took my dingy volume by the scroop, and hurled it into the dog-kennel, vowing I hated a good book.“197 Wie Nicole Plyler Fisk herausstellt, führt die Bevormundung des religiös motivierten Erziehers dazu, dass Catherine Bücher insgesamt mit einer patriarchalen Autorität assoziiert.198 Mittels ihres Tagebuchs, so argumentiert Fisk weiter, unternimmt die Protagonistin den Versuch, patriarchale Texte umzuschreiben.199 Diese Interpretation liegt tatsächlich nahe, immerhin schreibt Catherine nicht etwa in ein Notizbuch oder Ähnliches, sondern füllt den ausgesparten Platz in vorhandenen Büchern mit ihren Eintragungen, als hinterließe sie Randnotizen. Die übrigen Personen des Haushalts, insbesondere die Familienmitglieder, sind nur geringfügig an Catherines Erziehung beteiligt. Über ihre Mutter ist nicht allzu viel bekannt, sie stirbt zu früh, um einen nachhaltigen Eindruck bei ihrer Tochter zu hinterlassen. Der Vater, Mr. Earnshaw, bezeugt der Ausbildung seiner Kinder, wie bereits erwähnt, kein allzu großes Interesse, die Bemühungen der religiösen Autoritätspersonen genügen ihm. Er selbst hält sich nicht weiter mit erzieherischen Maßnahmen auf, bemängelt allerdings Catherines unartiges, in seinen Augen unweibliches Verhalten. Als diese sich nach einer Krankheit ausgesprochen still verhält, kommentiert der Vater dieses unübliche Betragen mit einem Seufzer: „Why canst thou not always be a good lass, Cathy?“200 Dieser Tadel erweist sich als Mr. Earnshaws letzte Äußerung, er stirbt noch am selben Abend und überlässt die noch minderjährige Catherine der Obhut ihres Bruders Hindley. Die erzieherischen Bemühungen Hindleys beschränken sich darauf, für Ruhe in seinem Haus zu sorgen. Während er und seine Frau sich im Wohnraum aufhalten, „doing anything but reading their Bibles“201, müssen Catherine und Heathcliff wie bereits beschrieben auf dem kalten Dachboden Josephs Predigt anhören.

196 Ebd., S. 33. 197 Ebd. 198 Vgl. Nicole Plyler Fisk: „‚A Wild, Wick Slip She Was‘. The Passionate Female in Wuthering Heights and The Memoirs of Emma Courtney“, in: Brontë Studies. The Journal of the Brontë Society 31 (2006), S. 135. 199 Vgl. ebd., S. 136. 200 Brontë: Wuthering Heights, S. 50. 201 Ebd., S. 32.

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Insgesamt scheint die Erziehung in Wuthering Heights vor allem aus Strafen zu bestehen, was Heathcliff und Catherine dazu veranlasst sich zu fragen, ob die Kinder der benachbarten Thrushcross Grange ebenso behandelt werden. So jedenfalls begründet Heathcliff Nelly gegenüber den nächtlichen Ausflug der Kinder dorthin: [W]e thought we would just go and see whether the Lintons passed their Sunday evenings standing shivering in corners, while their father and mother sat eating and drinking, and singing and laughing, and burning their eyes out before the fire. [...] Or reading sermons, and being catechised by their man-servant, and set to learn a column of Scripture names, if they don’t answer properly?202

Tatsächlich gestaltet sich der Sonntagabend bei den Lintons ganz anders, das bedeutet schon Heathcliffs Beschreibung ihrer Wohnung. Both of us were able to look in by standing on the basement, and clinging to the ledge, and we saw – ah! it was beautiful – a splendid place carpeted with crimson, and crimsoncovered chairs and tables, and a pure white ceiling bordered by gold, a shower of glassdrops hanging in silver chains from the centre, and shimmering with little soft tapers. Old Mr. And Mrs. Linton were not there; Edgar and his sister had it entirely to themselves.203

Das Anwesen der Lintons, Thrushcross Grange, bildet einen scharfen Kontrast zu Wuthering Heights: Hier frieren die Kinder nicht auf dem Dachboden, in einer aus Heathcliffs Sicht himmlischen Umgebung können sie sich ganz dem Müßiggang hingeben. Dass ein Gegensatz zwischen den beiden Häusern besteht, bedeutet schon die Namensgebung: Der Singvogel, dem die Grange ihren Titel zollt, besitzt das Konnotat des Zierlichen und Zerbrechlichen, wohingegen in Wuthering Heights die Rauheit des Sturms vorherrscht.204 Thrushcross Grange steht insofern in Bezug zu Catherines Sozialisation, als sie eine beträchtliche Zeit dort verbringt, nach deren Ablauf ihre Familie sie nicht länger als Kind betrachtet. Catherines und Heathcliffs nächtlicher Ausflug zu den Nachbarn endet damit, dass die Protagonistin von einem der Hofhunde gebissen wird. Nachdem die Lintons erkennen, auf wen sie ihre Hunde losgelassen haben, behalten sie Catherine bis zu ihrer Genesung bei sich. Als sie schließlich nach fünf Wochen nach Wuthering Heights

202 Ebd., S. 53. 203 Ebd. 204 Entsprechend der Attribution des Hauses wird auch Isabella von Catherine mit einem Vogel verglichen als letztere ihre Schwägerin vor Heathcliff warnt: „I’d as soon put that little canary into the park on a winter’s day, as recommend you to bestow your heart on him!“ Ebd., S. 97f. Der Kanarienvogel als domestiziertes Tier spiegelt erneut das Charakteristikum des Verweichlichten, das den Lintons und ihrer Umgebung anhaftet.



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zurückkehrt, erscheint sie so verändert, dass Hindley sie zur Dame erklärt: „Why Cathy, you are quite a beauty! I should scarcely have known you: you look like a lady now.“205 Somit gelingt Hindleys Versuch, Heathcliff von seiner Schwester fernzuhalten, zuletzt doch. Solange Heathcliff und Catherine unter einem Dach lebten, fand letztere stets eine Möglichkeit mit ihrem Gefährten zusammen zu sein, obgleich er unter der Herrschaft Hindleys zum Knecht degradiert wird. Nach Catherines Aufenthalt bei den Lintons verändert sich ihr Verhältnis zu Heathcliff, sie sind nicht länger Ebenbürtige, da sie nicht länger Kinder sind. In der Tat ist Jamie Crouse in der Annahme Recht zu geben, Catherines Besuch in Thrushcross Grange markiere das Ende ihrer Kindheit und den Anfang ihrer Adaption an die traditionelle weibliche Geschlechterrolle.206 Wie der Roman Geschlechterrollen insgesamt definiert, soll im folgenden Abschnitt erörtert werden.

4.3.3 „Wild, wicked slips“ und „petted things“: Geschlechterrollen Durch die verschiedenen Figuren des Romans werden Männlichkeit und Weiblichkeit in Wuthering Heights auf sehr unterschiedliche Weise definiert. Brontë füllt beide Geschlechterrollen mit divergierenden Implikationen und zeigt sowohl normkompatible als auch -abweichende Geschlechtsperformanzen. Weiblichkeit scheint sich irgendwo zwischen den gegensätzlichen Figuren Catherine Earnshaw und Isabella Linton zu situieren, wohingegen Heathcliff und Edgar Linton die Endpole des maskulinen Verhaltens demonstrieren. Catherine Earnshaw und Edgars Schwester, Isabella Linton, treten in gewisser Weise als Repräsentantinnen verschiedener Welten auf. Dabei besteht hier anders als im Falle der komplementären Figuren Elinor und Marianne Dashwood ein einseitiges Beschreibungsverhältnis, denn Isabella dient als Nebenfigur weit mehr dazu, Catherines Wesen differenzierter darzustellen als umgekehrt. Sowohl was ihre äußere Erscheinung anbelangt, als auch in Bezug auf ihr Benehmen unterscheiden sich die Frauenfiguren voneinander. Wie bereits im Zusammenhang mit Nellys Haltung Catherine gegenüber anklang, zeichnet sich die Protagonistin vor allem durch ihr unbändiges Verhalten aus. Die Erzählerin beschreibt die kindliche Heldin wie folgt:

205 Ebd, S. 57. 206 Vgl. Jamie S. Crouse: „‚This Shattered Prison‘. Confinement and Control in Wuthering Heights“, in: Brontë Studies. The Journal of the Brontë Society 33 (2008), S. 183.

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Certainly, she had ways with her such as I never saw a child take up before; and she put all of us past our patience fifty times or oftener in a day: from the hour she came downstairs till the hour she went to bed, we had not a minute’s security that she wouldn’t be in mischief. Her spirits were always at high-water mark, her tongue always going – singing, laughing, and plaguing everybody who would not do the same. A wild, wicked slip she was – but she had the bonniest eye, the sweetest smile, and lightest foot in the parish;207

Laut Nellys Beschreibung sucht das Kind mit seinen Ungezogenheiten die Aufmerksamkeit der Autoritätspersonen, dementsprechend heißt es, „she was never so happy as when we were all scolding her at once“208. Die Erzählerin entwirft das vollkommene Bild eines Wildfangs, die junge Catherine lehnt es offensichtlich ab, der konventionellen weiblichen Rolle entsprechend Bescheidenheit und Zurückhaltung zu zeigen. Ganz im Gegensatz etwa zu den Austenschen Heldinnen, deren Leben sich größtenteils im Salon abspielt, sucht Catherine die Freiheit der Außenwelt. Bei entsprechenden Unternehmungen findet sie in Heathcliff einen bedingungslosen Gefährten: „[I]t was one of their chief amusements to run away to the moors in the morning and remain there all day, and the after punishment grew a mere thing to laugh at“209. Catherines burschikoses Wesen offenbart sich einmal mehr durch Heathcliffs Bericht über den bereits erwähnten gemeinsamen Ausflug zum Anwesen der Lintons: Hierin unternehmen die beiden ein Wettrennen, das Catherine verliert. Laut Heathcliff jedoch nicht, weil sie als Mädchen dem älteren Jungen unterliegen musste, sondern weil sie barfuss lief.210 Wie schon im vorigen Abschnitt angedeutet, ändert sich das Auftreten der Protagonistin nach ihrer Rückkehr aus Thrushcross Grange, dabei zeigt sich auch Nelly erstaunt über Catherines Veränderung: [I]nstead of a wild, hatless little savage jumping into the house, and rushing to squeeze us all breathless, there lighted from a handsome black pony a very dignified person, with brown ringlets falling from the cover of a feathered beaver, and a long cloth habit, which she was obliged to hold up with both hands that she might sail in.211

Catherine entspricht dieser Beschreibung, indem sie sich bemüht, ihre neu erworbene, damenhafte Kleidung zu schonen. Heathcliffs Aufzug, er gibt sich

207 Brontë: Wuthering Heights, S. 49. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 52. 210 Vgl. ebd., S. 53. 211 Ebd., S. 57.



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nach wie vor schmutzig und ungepflegt, erscheint ihr erstmals ungehörig.212 Zunächst scheint es, als hätte Brontës Heldin das Wildfangverhalten ihrer Kindertage abgelegt, von Nelly erfahren wir jedoch, dass sie sich lediglich eines „double character[s]“213 bemächtigt, um sowohl Edgar Linton zu beeindrucken, als auch ihren alten Freund weiterhin zu halten. Schließlich kann sie jedoch Edgar gegenüber ihr gemäßigtes Benehmen nicht länger durchhalten und offenbart das, was Nelly „her genuine disposition“214 nennt. In einem Streit mit der Haushälterin bricht sich Catherines Leidenschaftlichkeit Bahn, sie steigert ihre Wut dermaßen, dass sie Edgar schließlich ohrfeigt. Laut Nelly ist Catherine ihren Affekten stets rettungslos ausgeliefert: „She never had power to conceal her passion, it always set her whole complexion in a blaze“215. Die Lebhaftigkeit ihres Wesens spiegelt sich auch in ihrer äußeren Erscheinung, so nimmt Heathcliff ihren Ausdruck als „enchanting“216 wahr. Sie besitzt die dunklen Augen aller Earnshaws, auf die Nelly im Laufe ihrer Erzählung wiederholt zu sprechen kommt, und dickes, dunkles Haar.217 Während die Protagonistin Catherine als dunkelhaarig und schwarzäugig beschrieben wird und somit äußerlich wie auch charakterlich die robuste Welt von Wuthering Heights vertritt, spiegelt sich Isabellas Herkunft in ihrem blassen Teint und hellem Haar. Heathcliff ist von Catherines Überlegenheit gegenüber den Lintons mit ihren „vacant blue eyes“218 überzeugt. Catherine selbst spricht anerkennend über Isabellas vornehmes Äußeres, obwohl sie es der Schwägerin nicht neidet: „I’m not envious: I never feel hurt at the brightness of Isabella’s yellow hair and the whiteness of her skin, at her dainty elegance“219. Während Catherine durch ihre veränderte Kleidung laut Hindley lediglich wie eine Dame aussieht, zeigt sich Isabella Linton vollkommen der traditionellen weiblichen Geschlechterrolle verhaftet. Sowohl ihr Benehmen ist an normative Vorstellungen von idealer Weiblichkeit angepasst, so spricht sie beispielsweise nie ohne

212 „[She] burst into a laugh, exclaiming, ‚Why, how very black and cross you look! and how – how funny and grim!‘“ Ebd., S. 58. 213 Ebd., S. 68. 214 Ebd., S. 72. 215 Ebd. 216 Ebd., S. 56. 217 Dass die dunklen Augen in der Familie liegen, erklärt Nelly bei ihrer Beschreibung von Catherines und Edgars Tochter Cathy. Vgl. ebd., S. 165. Das dicke, lange Haar der Protagonistin bezeichnet sie erst, als man es ihr im Zuge einer Krankheit abschneidet. Vgl. ebd., S. 139. 218 Als er Nelly vom Ausflug nach Thrushcross Grange berichtet fragt er sie: „she is so immeasurably superior to them – to everybody on earth, is she not, Nelly?“ Ebd., S. 56. 219 Ebd., S. 94.

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Aufforderung, als auch die sie umgebenden Attribute, wie etwa ihr Schoßhündchen, das mit eindeutig femininen Implikationen belegt ist. Der Unterschied zwischen dem bäurischen Wuthering Heights und der feudaleren Thrushcross Grange, der oben bereits beschrieben wurde, dehnt sich auf seine Bewohner aus, Isabella vertritt angesichts der ungehobelten Heights-Bewohner die Zivilisation per se. Was jedoch die Tiefe von Isabellas Kultiviertheit betrifft, so zeigt bereits die erste Begegnung der beiden Frauen, dass die vornehme Umgebung von Thrushcross Grange Edgar und Isabella keineswegs zu besseren Manieren als die Bewohner von Wuthering Heights befähigt hat. Ganz im Gegenteil beobachten Heathcliff und Catherine die Geschwister dabei, wie sie sich recht kindisch um einen Hund streiten. Isabella [...] lay screaming at the farther end of the room, shrieking as if witches were running red-hot needles into her. Edgar stood on the hearth weeping silently, and in the middle of the table sat a little dog, shaking its paw and yelping; which, from their mutual accusations, we understood they had nearly pulled in two between them.“220

Heathcliff hat für die verwöhnten Lintons nur Hohn übrig: „The idiots! That was their pleasure! To quarrel who should hold a heap of warm hair, and each begin to cry because both, after struggling to get it, refused to take it. We laughed outright at the petted things; we did despise them!“221 Auch Catherine kritisiert den verzärtelten Charakter beider Geschwister, als Isabella im Anschluss an eine Konfrontation Edgars mit Heathcliff anfängt zu weinen. An Edgar gewandt fordert sie: „Well, don’t cry, [...] you’re not killed. Don’t make more mischief; my brother is coming: be quiet!“, um sich dann an Isabella zu wenden: „Give over, Isabella! Has anybody hurt you?“222 In diesem Sinne trägt Isabella in ihrer Eigenschaft als verzogenes Kind vor allem der positiven Konnotation der leidenschaftlichen, dabei jedoch auch weniger empfindlichen Catherine bei, Isabellas Noblesse stattet diese dagegen mit einer Hypersensibilität aus und macht sie insgesamt zu einer blassen, leblosen Figur. Man mag sich darüber streiten, ob Catherine Earnshaw als femme fatale gelten kann, sicher ist jedoch, dass Isabella Linton den archetypischen Gegenpol, die femme fragile, darstellt. Parallel zu der Gegenüberstellung komplementärer Protagonistinnen findet in Brontës Roman eine entsprechende Konfrontation männlicher Figuren statt. Dabei möchte ich bewusst von Männertypen sprechen, da diese zwei männli-

220 Ebd., S. 54. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 62.



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chen Romanfiguren entscheidend voneinander differieren. Edgar Linton und Heathcliff vertreten eine ähnliche Differenz wie Catherine und Isabella, wobei Edgar die Zivilisation verkörpert, wohingegen Heathcliff als Naturmensch auftritt. Edgar, der sich durchaus als femininer Typ beschreiben lässt, verkörpert ebenso wie seine Schwester Isabella die zivilisierte Gesellschaft, das bedeuten schon die äußerlichen Ähnlichkeiten der Geschwister. Lockwood betrachtet das Porträt Lintons in Thrushcross Grange und bemerkt „a soft-featured face [...]. It formed a sweet picture. The long light hair curled slightly on the temples; the eyes were large and serious; the figure almost too graceful.“223 Ferner zeigt sich Edgars weicher Charakter besonders in Auseinandersetzungen mit Catherine, innerhalb derer er sich oftmals aufs Lamentieren verlegt. Catherine verachtet diesen Wesenszug an Edgar, den sie als verhätschelt ansieht, ebenso wie Heathcliff, davon zeugt insbesondere eine Szene des ehelichen Zusammenlebens, die sie Nelly schildert: Edgar is sulky, because I’m glad of a thing that does not interest him [Heathcliff’s return]: he refuses to open his mouth, except to utter pettish, silly speeches; and he affirmed I was cruel and selfish for wishing to talk when he was so sick and sleepy. He always contrives to be sick at the least cross! I gave a few sentences of commendation to Heathcliff, and he, either for a headache or a pang of envy, began to cry: so I got up and left him.224

Neben den weichen, femininen Attributen seines Äußeren und seines Verhaltens erweist sich Edgar insofern als Repräsentant der Zivilisation, als er durch seine Funktion als Friedensrichter einen Kontakt zur Außenwelt herstellt, dem Heathcliff sich spätestens nach Catherines Tod strikt verweigert. Mit ziemlicher Sicherheit könnte man Heathcliff aus heutiger Sicht als Soziopathen bezeichnen. Er scheint unfähig, Mitgefühl zu empfinden und unternimmt erst gar keinen Versuch, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen. Heathcliff selbst sagt von sich: „I have no pity! I have no pity! The more the worms writhe, the more I yearn to crush out their entrails!225“ Ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht, dienen alle seine Handlungen einem bestimmten Plan, so nimmt er nicht ohne Grund nach seiner Rückkehr Quartier in Wuthering Heights, unter dem Dach seines früheren Tyrannen Hindley. Allmählich gelingt es ihm, den Alkoholiker in den finanziellen Ruin zu treiben, bis er schließlich selbst der Herr des Hauses ist. Auch Isabella gegenüber sind seine Beweggründe eindeutig, bevor er sie entführt und heiratet, erkundigt er sich ausgiebig bei Catherine nach

223 Ebd., S. 68. 224 Ebd., S. 93f. 225 Ebd., S. 137.

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der Erbschaftspolitik der Lintons.226 Selbst Catherine hat wenig schmeichelhafte Worte für den Freund ihrer Jugend übrig, als sie ihn Isabella beschreibt: „Pray, don’t imagine that he conceals depths of benevolence and affection beneath a stern exterior! He’s not a rough diamond – a pearl containing oyster of a rustic: he’s a fierce, pitiless, wolfish man.“227 Während Edgar augenscheinlich versucht, Konflikte mit Klagen und Bitten zu lösen, lässt Heathcliff eher körperliche Brutalität walten. Er misshandelt ohne jede Reue Isabella und die zweite Catherine. Im Gegensatz zu Edgar Linton ist Heathcliff ein „Macher“, in seiner Aggressivität ist er es, der die Handlung weitgehend voran treibt, das konstatiert auch Melvin Watson.228 Der ersten Catherine gegenüber offenbart sich Heathcliffs triebhafte Aggressivität insofern, als er auf jegliche Weise versucht, von ihr physisch Besitz zu ergreifen. Während ihrer letzten Begegnung fürchtet die Haushälterin Nelly Dean, er könne Catherine in seiner wilden Umarmung erdrücken.229 Später versucht Heathcliff sogar noch zu Catherines Leiche in körperlichen Kontakt zu treten, indem er nachts ihr Grab öffnet. Wiederum ist es Nelly, der Heathcliff sich anvertraut: I’ll tell you what I did yesterday! I got the sexton who was digging [Edgar] Linton’s grave, to remove the earth off her [Catherine’s] coffin-lid, and I opened it. I thought, once, I would have stayed there: when I saw her face again – it is hers yet – he had hard work to stir me; but he said it would change if the air blew on it, and so I struck one side from the coffin loose, and covered it up: not Linton’s side, damn him! I wish he’d been soldered in lead. And I bribed the sexton to pull it away when I’m laid there, and slide mine out too; I’ll have it made so: and then, by the time Linton gets to us, he’ll not know which is which!230

226 Catherine reagiert auf Heathcliffs Erkundigung über Isabella „She’s her brother’s heir, is she not?“ sehr bestimmt: „Half a dozen nephews shall erase her title, please Heaven!“ Ebd., S. 101. 227 Ebd., S. 98. 228 Tatsächlich schreibt Watson, Heathcliff sei die Geschichte: „He not only acts and suffers, but causes others to act and suffer; his strength permeates the story; his power for good and for evil shocks and surprises the reader; his deeds and his reactions from the ghastly beginning to the pastoral close make a coherent whole out of what might have been a chaotic heap. Melvin Watson: „Tempest in the Soul. The Theme and Structure of Wuthering Heights“, in: Critical Essays on Emily Brontë, hg. v. Thomas John Winnifrith, New York u. a.: Hall & Co. 1997, S. 152. 229 Dazu heißt es: „An instant they held asunder, and then how they met I hardly saw, but Catherine made a spring, and he caught her, and they were locked in an embrace from which I thought my mistress would never be released alive [...].“ Brontë: Wuthering Heights, S. 143. 230 Ebd., S. 241.



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Bereits Heathcliffs Name, der sich aus verschiedenen landschaftlichen Motiven zusammensetzt, begründet seine Naturverbundenheit.231 Durch seinen makabren Wunsch, physisch eins mit seiner Geliebten zu werden, erreicht die Assoziation dieser Figur mit der Natur jedoch ihren Höhepunkt. In Bezug auf diesen Männertyp spricht Annis Pratt vom „green-world lover“, einer dionysischen Figur, der sich die Heldin in ihrer Flucht vor dem engen Korsett gesellschaftlicher Konventionen zuwendet: „This figure is closely associated with the naturistic epiphamy, a vision of the green world that calls up from the feminine unconscious the image of an ideal lover and almost always includes a rejection of social expectations concerning engagement and marriage.“232 Ebenso könnte man Heathcliff als „Macho“ in das von Anna Marx für die Geschichte des Fräuleins von Sternheim aufgestellte Männlichkeitsmuster Macho vs. Softie einordnen, wohingegen Edgar Linton eindeutig die Rolle des „Softie“ übernähme.233 Der Gegensatz zwischen Heathcliff und Edgar, wie auch der zwischen Catherine und Isabella entspricht einem grundsätzlichen Unterschied der jeweiligen Lebenswelten. Die vornehme Thrushcross Grange ist das genaue Gegenteil von Wuthering Heights, wo sich die Bewohner dem Alkohol und Spiel hingeben (Hindley), unablässig fluchen (Hareton) und selten etwas Gutes im Schilde führen (Heathcliff). Wie Merryn Williams bestätigt, enthält bereits die unterschiedliche Gestaltung der Lebenswelten genderspezifische Implikationen. „Wuthering Heights represents ‚masculine‘ qualities, like courage and toughness, but those who live there tend to become brutal. Thrushcross Grange is a stronghold of ‚feminine‘ values – comfort, kindness, civilisation – but the Linton’s tend to be oversoft“234 Der hier anklingenden Kritik an der Überempfindlichkeit der Lintons stimmt auch Martha Nussbaum zu, indem sie deren Welt, die sich ausschließlich als Innenwelt kennzeichnen lässt, als hohl bezeichnet, im Kontrast zu Heathcliffs und Catherines wilder, leidenschaftlicher (Außen‑)Welt der Moore.235 Sowohl Edgar als auch Isabella stellen feminine Typen dar, das verdeutlicht bereits die Bezeichnung der beiden als „petted things“, wobei Edgars Femininität durchaus mit zeitgenössischen Konzeptionen von Männlichkeit einhergeht, insofern er die Personifizierung des homme sensible darstellt.

231 Auf die Bedeutung des Namens weist auch Annis Pratt hin. Vgl. Annis Pratt u. a.: Archetypal Patterns in Women’s Fiction, Brighton: Harvester Press 1981, S. 22. 232 Ebd., S. 22 f. 233 Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 144. Siehe oben, S. 210. 234 Williams: Women in the English Novel, S. 100f. 235 Vgl. Nussbaum: „Wuthering Heights: The Romantic Ascent“, S. 372.

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Während Edgar also einen weichen, femininen Männertyp darstellt, Heathcliff nicht maskuliner sein könnte und Isabella die weibliche Genderrolle zur Perfektion bringt, ist Catherines Performanz schwieriger einzustufen: Als Kind gibt sie sich jungenhaft in ihrem ungebändigten Verhalten, weshalb Nelly sie als „slip“ beschreibt und damit eine geschlechtlich unspezifische Beschreibung für ein schmächtiges Kind gebraucht. Mit ihrer Heirat nähert sich die Protagonistin dann der weiblichen Rolle an. Wie bereits erwähnt, fungiert ihr Aufenthalt in der Grange als Wendepunkt, schließlich erscheint sie danach nicht nur dem Bruder als Dame, sondern besiegelt ihr Erwachsenwerden durch die Heirat mit Edgar. Als Kind findet Catherine ihre Identität in dem, was Sandra Gilbert und Susan Gubar als androgyne Ganzheitlichkeit bezeichnen, ihrer Einheit mit Heathcliff.236 In diesem Sinne ist auch Catherines viel zitierter Monolog zu lesen, in dem sie ihre Seelenverwandtschaft zu Heathcliff erklärt: My great miseries in this world have been Heathcliff’s miseries, and I watched and felt each from the beginning: my great thought in living is himself. If all else perished, and he remained, I should still continue to be; and if all else remained, and he were annihilated, the universe would turn to a mighty stranger: I should not seem a part of it. My love for Linton is like the foliage in the woods: time will change it, I’m well aware, as winter changes the trees. My love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath: a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff! He’s always, always in my mind: not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself, but as my own being.237

Catherines Beziehung zu Heathcliff fußt auf der fundamentalen Gleichheit der beiden: In ihrer vollkommenen Identifikation mit Heathcliff macht Catherine keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Verhalten. Ihre Sichtweise ändert sich in dem Moment, in dem sie die Kindheit hinter sich lässt, so dass die erwachsene Catherine dann vor dem Problem steht, sich unweigerlich mit der traditionellen Mutter- und Gattinnenrolle identifizieren zu müssen, ein Konflikt, an dem die Protagonistin schließlich erkrankt.

4.3.4 The Madwoman in the Attic: Krankheit und Wahnsinn Obgleich Frauen laut Geschlechtscharakterdiskurs die Schwäche der Emotionalität zugestanden wird, bleibt weibliche Passion verfemt. Mit Emotionalität meint man gemeinhin die Fähigkeit zum Mitgefühl oder allenfalls ein zurückge-

236 Vgl. Gilbert u. Gubar: The Madwoman in the Attic, S. 264f. 237 Brontë: Wuthering Heights, S. 81.



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zogenes, inneres, Schwelgen in Gefühlen. Sobald sich weibliche Emotionalität jedoch nach außen wendet, in Form von aggressiveren Eigenschaften, wie Impulsivität, Spontaneität oder Handlungsdrang, definiert man die betreffende Frau als leidenschaftlich. Leidenschaftlichkeit wird in dieser Zeit nicht nur negativ konnotiert, sondern gilt ferner, wie sich anhand zeitgenössischer Aussagen verdeutlicht, als unweiblich. Die leidenschaftliche Frau wird somit als unnormal klassifiziert. Ein besonders pointiertes Beispiel für eine derartige Aussage liefert Jakob Glatz’ Rosaliens Vermächtniß: Im Rahmen dieses pädagogischen Romans wird die fingierte Adressatin Amanda eindrücklich vor den Gefahren der Leidenschaft gewarnt: Nichts untergräbt die Gesundheit so sehr und so schnell, als ungestüme Leidenschaften. Wo die im Innern wüten, da nagt ein gefährlicher Wurm an dem edelsten Keime des Lebens. Geliebte Amanda! nie möge dieser Feind menschlicher Gesundheit deine Kräfte schwächen und deine Tage verkürzen. Die goldene Regel: „mäßige deine Affecte und Leidenschaften“ laß daher nie unerwogen und unbefolgt.238

Weibliche Unangepasstheit in Form von affektiver Heftigkeit wird hier umstandslos als krankhaft eingestuft. Wie Sandra Gilbert und Susan Gubar in The Madwoman in the Attic bestätigen, gehen weibliche Passion und Rebellion in vielen Romanen einher mit Krankheit und Wahnsinn Dabei gilt Wahnsinn als das Ergebnis einer normativ erzwungenen Weiblichkeit: In the nineteenth century, however, the complex of social prescriptions these diseases parody did not merely urge women to act in ways which would cause them to become ill; nineteenth-century culture seems to have actually admonished women to be ill. In other words, the ‚female diseases‘ from which Victorian women suffered were not always byproducts of their training in femininity; they were the goals of such training.239

Der Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts um Frauen und Krankheit bzw. Wahnsinn bildet ein komplexes Feld von Sinnzusammenhängen. Laut Birgit PankeKochinke schreibt man kranken Frauen in dieser Zeit die Schuld an ihrer Indisposition zu: „[Die kranke Frau] will krank sein, belügen, schauspielern. Sie lebt ein müßiges äußeres und gleichzeitig durch Romansucht erregtes inneres Leben, das zu Überreizungen führt.“240 Einerseits wird der Frau eine generelle Prädisposition zu mentaler Schwäche unterstellt, auf der anderen Seite schützt diese

238 Glatz: Rosaliens Vermächtniß, S. 49. Siehe oben, Kap. 2.4.3, S. 122 239 Gilbert u. Gubar: The Madwoman in the Attic, S. 54. 240 Panke-Kochinke: Die anständige Frau, S. 65.

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größere Vulnerabilität die Kranke nicht davor, als abnorm und unnatürlich kategorisiert zu werden. Es bleibt die Frage, ob Gilbert und Gubars madwoman die weibliche Reaktion auf den Diskurs darstellt oder seine Ursache. In jedem Fall begegnen uns die Themen Krankheit und Wahnsinn im gynozentrischen Roman des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Variationen. Wie nicht zuletzt die Figur Catherine Earnshaws illustriert, lässt sich zumindest vermuten, dass in Krankheit und Wahnsinn spezifisch weibliche Strategien zur Konfliktbewältigung zu sehen sind. In der Tat gestaltet Emily Brontë mit Catherine eine Heldin, die sich sämtlichen Verhaltensstandards der viktorianischen Gesellschaft verweigert, wie Patricia Spacks beobachtet: „She is neither innocent nor ignorant, nor is she, in fact, ‚brought up‘ at all. […] Ravaged by sexual feeling of some confusing variety, she seems an anti-heroine, in every respect opposed to her century’s ideal prototype of the adolescent woman.“241 Bereits als Kind rebelliert Catherine gegen die Erwartungen, die an sie als weibliches Individuum gestellt werden und lässt ihren Launen freien Lauf. Wie schon oben angeführt, erhält die Protagonistin nur dann die Anerkennung des Vaters, wenn sie sich still, d. h. rollenkonform verhält. Interessanterweise resultiert dieses „brave“ Verhalten nicht etwa aus Einsicht oder Demut, sondern aus einer krankheitsbedingten Schwächung, dementsprechend heißt es: „Miss Cathy had been sick, and that made her still“242. Es ist also nicht die gesunde Heldin, die sich den an sie gestellten Erwartungen unterwirft, ihr Verhalten lässt sich stattdessen als erzwungen und unnatürlich kennzeichnen. In der Konsequenz lernt die Protagonistin, dass ihr am meisten Anerkennung und Liebe zuteil werden, wenn sie nicht sie selbst ist, sondern ein krankes Abbild ihrer selbst. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter steht Catherine zusehends dem Problem gegenüber, sich den geltenden Normen idealtypischer Weiblichkeit zu fügen, oder von ihren Mitmenschen, insbesondere ihrem Mann Edgar, für abnorm und verrückt gehalten zu werden. Eine Zuflucht aus diesem Dilemma sucht Catherine in der Folge in Unpässlichkeiten und Krankheitszuständen. Den Vorwurf, den sie ihrem Gatten macht, er manövriere sich schon aufgrund der kleinsten Auseinandersetzung in eine Krankheit, trifft ebenso auf sie selbst zu. Catherine benutzt ihre eigene Gesundheit, um ihre Mitmenschen zu manipulieren, das unterstellt zumindest Nelly Dean, die mehr als einmal behauptet, ihre Herrin würde ihre Beschwerden mit voller Absicht provozieren. Ähnlich wie Austens Marianne Dashwood schlüpft auch Catherine Earnshaw in die Rolle der

241 Spacks: The Female Imagination, S. 134. 242 Brontë: Wuthering Heights, S. 50.



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im Regen herumirrenden romantischen Heldin. In der Nacht ihrer emotionalen Beichte, nachdem sie bemerkt, dass Heathcliff sie und Nelly belauscht hat und davongelaufen ist, harrt sie im strömenden Regen vor den Toren von Wuthering Heights bis zum Morgengrauen aus. Fraglos spiegelt die Wetterlage in Brontës Roman wesentlich stärker als bei Jane Austen den Seelenzustand der Figuren wider, womit die Autorin bezeichnenderweise eine erzählerische Technik von Austens Zeitgenossen, den Romantikern, anwendet. Dementsprechend decken sich in dieser Nacht für Catherine äußere und innere Unruhe: However Catherine would not be persuaded into tranquillity: She kept wandering to and fro, from the gate to the door, in a state of agitation which permitted no repose; and at length took up a permanent position on one side of the wall, near the road: where, heedless of my [Nelly’s] expostulations and the growling thunder, and the great drops that began to splash around her, she remained, calling at intervals, and then listening, and then crying outright.243

Die Erzählerin zeigt indes kein Mitleid mit der verstörten Heldin, als diese sich weigert, die regennassen Kleider abzulegen: „Well, Miss! [...] you are not bent on getting your death, are you?“244 Hindley gegenüber bezeichnet sie Catherines Verhalten, aus dem ein ernsthaftes Fieber resultiert, schlicht als „naughty“245 und bemerkt, dass sie selbst keine nachsichtige Pflegerin abgab. Schließlich heißt es über Catherines Genesung, „[she] returned to us, saucier and more passionate, and haughtier than ever.“246 Dass es fortan zum unabkömmlichen Handlungsinventar dieser Figur gehört, auf mentale Aufregung physisch zu reagieren, verdeutlicht sich anhand einer zweiten, ernsteren Krankheit. Nachdem Catherine im Anschluss an eine Konfrontation zwischen Heathcliff und Edgar, innerhalb derer letzterer als „sucking leveret“247 und „milk-blooded coward“248 verunglimpft wird, von ihrem Mann vor die Wahl zwischen ihm selbst und Heathcliff gestellt worden ist, verbarrikadiert sich die Protagonistin für einige Tage auf ihrem Zimmer. Nelly leugnet die Ernsthaftigkeit der Krankheit zunächst. Auf einen Wutausbruch ihrer Herrin, währenddessen diese ihren Kopf gegen die Sofalehne schlägt, „grinding her teeth, so that you might fancy she would crash them to splinters“, reagiert die Haushälterin mit der Bemerkung:

243 Ebd., S. 83. 244 Ebd., S. 84. 245 Ebd., S. 85. 246 Ebd., S. 86. 247 Ebd., S. 108. 248 Ebd.

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„There is nothing in the world the matter“249. Tatsächlich hat die Protagonistin zuvor bereits angekündigt, sie wünsche sich eine Krankheit herbei: „Nelly, say to Edgar, if you see him again to-night, that I’m in danger of being seriously ill. I wish it may prove true. He has startled and distressed me shockingly!“250 Catherines Resolution, ihren Mann durch eine Erkrankung zu bestrafen, bestätigt wiederum den Charakter der Problemlösung, den ihre Krankheiten offensichtlich besitzen. Ursache von Catherines Erkrankungen sind stets zwischenmenschliche „Störfälle“ und Konflikte, das durchschaut auch Nelly Dean, die dem Arzt den Beginn der Krankheit beschreibt: „[Y]ou are acquainted with the Earnshaws’ violent dispositions, and Mrs. Linton caps them all. I may say this: it [the disease] commenced in a quarrel. She was struck during a tempest of passion with a kind of fit.“251 Als Nelly schließlich am dritten Abend ins Zimmer ihrer Herrin gelangt, muss sie feststellen, dass diese tatsächlich Anzeichen fiebriger Verwirrung aufweist. Nelly spricht an dieser Stelle sogar von Wahnsinn: „Tossing about, she increased her feverish bewilderment to madness, and tore the pillow with her teeth; then raising herself up all burning, desired that I would open the window.“252 Nachdem Catherine den Inhalt ihres Kissens vor sich ausgebreitet hat, wähnt sie sich plötzlich in Wuthering Heights, erkennt aber bald ihre wirkliche Umgebung. Die eigene Wandlung vom Kind zur Ehefrau versetzt die Protagonistin selbst jedoch in offensichtliches Erstaunen: I had been wrenched from the Heights and every early association, and my all in all, as Heathcliff was at that time, and been converted at a stroke into Mrs. Linton, the lady of Thrushcross Grange, and the wife of a stranger: an exile and outcast, thenceforth, from what had been my world.253

Auf diese scheinbar geistesgegenwärtige Aussage folgt erneut ein Moment der Verwirrung, in dem Catherine meint, Licht in ihrem alten Zimmer in Wuthering Heights zu erblicken. Nelly wendet ein, man könne von Thrushcross Grange aus gar nicht bis zu den Heights sehen. Das Wuthering Heights ihrer Kindheit repräsentiert für die Protagonistin ihre Freiheit, wohingegen sie ihre Ehe als ein Gefängnis wahrnimmt.254 Zu der vollen Erkenntnis dieses Zusammenhangs

249 Ebd., S. 110. 250 Ebd., S. 109. 251 Ebd., S. 119f. 252 Ebd., S. 113. 253 Ebd., S. 116. 254 So argumentiert auch Nicole Fisk, die darauf hinweist, dass Catherine ihre Ehe mit Linton, die ihr vormals die Freiheit finanziellen Spielraums gewährte, genau ab dem Moment als Falle



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gelangt Catherine selbst erst kurz vor ihrem Tod, indem sie Heathcliff anvertraut: „[T]he thing that irks me most is this shattered prison, after all. I’m tired of being enclosed here.“255 Gerade das Motiv des Gefangenseins ist entscheidend für Catherines Zugehörigkeit in die von Gilbert und Gubar etablierte Kategorie der madwomen in the attic. Zwar ist diese Heldin nicht wie Charlotte Brontës Bertha Rochester auf dem Dachboden eingesperrt, gleichwohl nimmt auch sie ihr Krankenzimmer als ein Gefängnis wahr.256 Catherine gibt inmitten ihres Fieberwahns direkte Verweise auf die grundlegende Problematik ihres Lebens: Wenn das Dilemma dieser Figur darin besteht, sich entwurzelt zu fühlen, nicht nach Hause zu finden, wie die geisterhafte Erscheinung in Lockwoods Traumvision sagt, so spiegelt der Zustand der Heimatlosigkeit die Schwierigkeit des Kindes, erwachsen und somit zur Frau zu werden, wider. „Gegen den Fluch der Weiblichkeit erscheint die Kindheit oft als Zustand der Unschuld und Unberührtheit,“257 so Christine Lehmann. Dieser Auffassung pflichtet die Figur Catherine selbst bei, indem sie sich in ihre Kindheit zurücksehnt: „Oh, I’m burning! I wish I were out of doors! I wish I were a girl again, half savage and hardy, and free; and laughing at injuries, not maddening under them!“258 Während sich das unbefangene Kind Catherine in ihrer androgynen Einheit mit Heathcliff über gesellschaftliche Zwänge hinwegsetzen kann, bleibt der erwachsenen Frau nur die Flucht in die geistige Verwirrung und letztlich den Tod. Ähnlich formuliert es Patricia Spacks: „The progress of growing up, for most people, involves discovering their limits; Catherine dies in testing hers.“259 Dass Catherine sich durch übersteigerte Leidenschaft in ihre Krankheit hineinmanövriert, darüber besteht kaum ein Zweifel, und auch nach der Begründung muss man nicht lange suchen. Krankheit und Wahnsinn bieten der Heldin tatsächlich die Möglichkeit, der Konfrontation mit der Gesellschaft zu entkommen, und damit der vorgegebenen Rolle zu entsagen. Eine ähnliche Position vertritt Robert M. Polhemus, der die Spukszene im dritten Kapitel daraufhin deutet. Nach seiner Argumentation verweist das Blut, „[that] ran down and soaked the bedclothes,“260 aus Lockwoods Traumbegegnung mit dem kindlichen Geist Cathe-

wahrnimmt, in dem Heathcliff erneut den Schauplatz betritt. Vgl. Fisk: „‚A Wild, Wick Slip She Was‘“, S. 139. 255 Brontë: Wuthering Heights, S. 143. 256 Tatsächlich ist von Catherines „dreary associations investing her hated sick-chamber“ die Rede. Ebd., S. 123. 257 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 138. 258 Brontë: Wuthering Heights, S. 116. 259 Spacks: The Female Imagination, S. 140. 260 Brontë: Wuthering Heights, S. 36.

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rines, symbolisch auf Menstruationsblut, das den Zustand der Entfremdung und Trennung von Catherine und Heathcliff überhaupt erst herbeiführt.261 Wie gesagt beginnt sich die Intimität zwischen den beiden Figuren in der Tat zum Zeitpunkt der einsetzenden Pubertät aufzulösen, als Catherine sich den Lintons anschließt. Ein weiteres Indiz für diese Deutung besteht darin, dass Catherine zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung am Anfang ihrer Schwangerschaft steht. Ihre Krankheit kann also auch insofern als Rebellion gegen die ihr vorgegebene Rolle gelesen werden, als sie eine Reaktion auf ihre Schwangerschaft darstellt. Catherine deutet dies zumindest an, indem sie im Fieber auf ihren veränderten Zustand hinweist: „Why am I so changed? Why does my blood rush into a hell of tumult at a few words?“262 Unbewusst könnte Catherine die Ursache ihrer gesteigerten Reizbarkeit bereits als hormonelle Umstellung erkennen. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter verliert Catherine ihre wirkliche sowie ihre seelische Heimat. Emotionale Ganzheitlichkeit scheint die Romanheldin nur in der Kindheit verwirklichen zu können. Krankheit und Wahnsinn sind somit als logische Folgen einer entgrenzten Weiblichkeit aufzufassen, als spezifisch weibliche Strategie zur Verweigerung gesellschaftlicher Erwartungen, hier repräsentiert durch das Verbot einer Beziehung der verheirateten Catherine zu ihrem Seelenfreund Heathcliff.

4.3.5 Leidenschaft als Passion: Liebe und Hass, Leben und Tod, Verstand und Gefühl In einem Vergleich von Wuthering Heights mit Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) stellt Virginia Woolf heraus, dass die von Emily Brontë beschriebenen Emotionen nicht nur umfassender erscheinen als die der Gouvernante Jane, sondern über das Individuum im Roman hinaus ihre Gültigkeit beanspruchen: Wuthering Heights is a more difficult book to understand than Jane Eyre, because Emily was a greater poet than Charlotte. When Charlotte wrote she said with eloquence and splendour and passion „I love,“ „I hate,“ „I suffer.“ Her experience, though more intense, is on a level with our own. But there is no „I“ in Wuthering Heights. There are no governesses. There are no employers. There is love, but it is not the love of men and women. Emily was inspired by some more general conception. The impulse which urged her to create was not her own suffering or her own injuries. She looked out upon a world cleft into gigantic disorder and felt within her the power to unite it in a book. That gigantic ambition is to be felt throughout

261 Vgl. Robert M. Polhemus: Erotic Faith. Being in Love from Jane Austen to D. H. Lawrence, Chicago u. London: The University of Chicago Press 1990, S. 89. 262 Brontë: Wuthering Heights, S. 116.



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the novel – a struggle, half thwarted by of superb conviction, to say something through the mouths of her characters which is not merely „I love“ or „I hate,“ but „we, the whole human race“ and „you, the eternal powers…“ the sentence remains unfinished.263

In der Tat spielen auch in Wuthering Heights die Konzepte Liebe, Hass und Leid eine eminente Rolle und zweifellos ist Virginia Woolf darin Recht zu geben, dass sie mehr ausdrücken als ein bloß subjektives Erleben. Diese affektiven Regungen, vor allem aber die dahinter stehende Leidenschaft ist es, die den gesamten Roman vorantreibt.264 Dementsprechend entwirft Emily Brontë Charaktere, die in ihrer Leidenschaftlichkeit keine Moderation kennen, allen voran Catherine Earnshaw. Von Nelly Dean als wildes und zügelloses Kind beschrieben, besitzt die Protagonistin augenscheinlich auch als Erwachsene noch das impulsive Temperament ihrer Familie. Catherine verkörpert die Leidenschaft selbst, so argumentiert auch Patricia Spacks: „She feels, therefore she exists; feeling passionately, she exists passionately.“265 Als leidenschaftliche Heldin übertrifft Brontës Protagonistin ihre Vorgängerin Marianne Dashwood bei weitem: Passion gilt ihr nicht als ein Stadium, dem sie mit der Adoleszenz entwächst, Leidenschaft ist vielmehr der Motor ihres gesamten Handelns, sie ist Catherines Perspektive auf alle Teilbereiche des Lebens und darüber hinaus. Die Signifikanz, die den Bewusstseinszuständen Liebe, Hass, Leben und Tod in Wuthering Heights zukommt, verdeutlicht insbesondere Catherines Beziehung zu Heathcliff im Kontrast zu ihrer Ehe mit Edgar Linton. In der Nacht nach ihrer Verlobung vertraut Catherine sich Nelly an und erklärt ihr jeweiliges Verhältnis zu den beiden Männern; dabei wähnt sie Heathcliff wie gesagt als Seelenverwandten, sie selbst ist der Geliebte: „Whatever souls are made of, his and mine are the same.“266 Dagegen nimmt die Protagonistin zwischen sich und ihrem zukünftigen Ehemann einen fundamentalen Unterschied wahr: „Linton’s [soul] is as different as a moonbeam from lightning, or frost from fire.“267 Während Catherine ihre Beziehung zu Heathcliff mit einem unverwüstlichen Felsen vergleicht, zeichnet sich ihre Liebe zu Edgar durch weniger dauerhafte Assoziationen aus, schließlich

263 Virginia Woolf: „Jane Eyre and Wuthering Heights“, in: Critical Essays on Emily Brontë, hg. v. Thomas John Winnifrith, New York u. a.: G. K. Hall & Co. 1997, S. 130. 264 Eben das konstatiert auch Patricia Spacks: „Passion, that ambiguously valued state of feeling, dictates the plot of Wuthering Heights, itself an outpouring of a creative passion with some analogies to the less productive emotion that dominates Catherine and Heathcliff.“ Spacks: The Female Imagination, S. 136. 265 Ebd., S. 140. 266 Brontë: Wuthering Heights, S. 80. 267 Ebd.

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erwartet die Protagonistin mit dem Bild des verwelkenden Laubs bereits vor der Eheschließung die Reduktion ihrer Zuneigung. Nach dieser Erklärung fragt sich schlechterdings, warum die Protagonistin dennoch entschlossen ist, Mrs. Linton zu werden. Die Antwort gibt sie selbst: „[I]f I marry Linton; I can aid Heathcliff to rise, and place him out of my brother’s power.“268 Nellys Einwand, dies sei der schlechteste Grund Edgar zu heiraten, kann so nicht gelten. Tatsächlich ist es eine Frage der Perspektive, ob Catherines Vorhaben schlechten Motiven – Linton gegenüber – oder aber den besten – in Bezug auf Heathcliff – entspricht. Der Unterschied zwischen den beiden Männern lässt sich metaphorisch auch so ausdrücken: Während Catherines Beziehung zu Heathcliff meterhohe Wellen schlägt, stellt sich das Verhältnis zu ihrem Ehegatten als sanft dahinplätschernder Bach dar. Linton bewirkt eine Beruhigung ihres Temperaments, wohingegen Heathcliff eben jene leidenschaftlichen Regungen in Catherine weckt, zu denen auch er fähig ist. Dieser Verdacht bestätigt sich angesichts der Tatsache, dass die Ehe der Lintons bis zur Rückkehr Heathcliffs offenbar ereignislos verläuft, schließlich wird diese Zeit in Nelly Deans Erzählung ausgespart. Obwohl sie versucht, ihrem Mann und seiner Familie gegenüber auch weiterhin loyal zu sein – so verteidigt sie Edgar gegenüber Heathcliff und zeigt sich entschlossen, die Werbung des letzteren um Isabella zu unterbinden – kommt Catherine nicht umhin, die (Gefühls‑)Kälte ihres Gatten im Gegensatz zu der ihr und Heathcliff eigenen affektiven Heftigkeit zu bemerken. So entgegnet sie Edgar, als dieser den Umgang seiner Frau mit Heathcliff unterbinden will: „Your cold blood cannot be worked into a fever: your veins are full of ice-water; but mine are boiling, and the sight of such chilliness makes them dance.“269 Damit spricht die Protagonistin aus, dass die Ehe, als einzige gesellschaftlich anerkannte Form der Liebe, für sie nicht genug sein kann. Die Bedürfnisse der leidenschaftlichen Heldin gehen fraglos über „normale“, d. h. normativ abgesegnete Maßstäbe hinaus. Catherines Liebe zu Edgar ist ganz weltlichen, materiellen Belangen geschuldet, ihre Liebe zu Heathcliff geht hingegen über die „Normalität“ hinaus, insofern sie über das irdische Dasein hinaus Bedeutung hat. Sowohl Leben als auch Tod besitzen für Catherines und Heathcliffs Liebe Relevanz. Im Diesseits bedeutet jeder für den anderen das Leben, das bekräftigt Catherine mit ihrer Aussage „I am Heathcliff“ und auch Heathcliff nimmt mehr als einmal Bezug auf Catherine als „my life“270. Nach Catherines Tod bekräftigt sich dieser Zusammenhang, denn

268 Ebd., S. 81. 269 Ebd., S. 110. 270 So nennt er sie z. B. bei ihrem letzten Treffen (Vgl. ebd., S. 141) und auch auf die Nachricht von Catherines Tod regiert Heathcliff entsprechend: „I cannot live without my life“ Ebd., S. 148.



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bis zu seinem eigenen Ende scheint Heathcliff auf der Suche nach seiner verlorenen Hälfte bzw. deren Geist zu sein. In gespensterhaften Abbildern meint Heathcliff die Geliebte zu finden und in der Tat erscheint Catherines Geist nicht nur ihm. Wie bereits ausgeführt erlebt zunächst der Erzähler Lockwood eine Traumvision, innerhalb derer der Geist der kindlichen Catherine auftritt. Der nachhaltige Eindruck, den dieser Auftritt auf den Leser bewirkt, ist sicher den frappierenden Wirklichkeitsbezügen des Traums geschuldet. Zum Zeitpunkt seines Traums kann Lockwood nicht wissen, dass Catherine – sie selbst hat sich im Fieberwahn als gefangenes, heimatloses Geschöpf bezeichnet – bereits seit zwanzig Jahren tot ist. Nichtsdestotrotz stellt sich das kindliche Gespenst als Catherine Lintons heimatlose Seele vor, die seit zwanzig Jahren herumirrt.271 Heathcliff selbst fordert Catherines Geist heraus, ihn heimzusuchen. Kurz nach ihrem Tod wird Nelly Zeuge einer regelrechten Geisterbeschwörung: „Catherine Earnshaw, may you not rest as long as I am living! You said I killed you – haunt me, then! The murdered do haunt their murderers, I believe. I know that ghosts have wandered on earth. Be with me always – take any form – drive me mad! only do not leave me in this abyss, where I cannot find you!“272 Später berichtet Heathcliff tatsächlich von einer gespenstischen Begegnung mit der toten Geliebten, zwar tritt sie nicht in Erscheinung, wird gleichwohl aber von Heathcliff wahrgenommen als dieser davor steht, Catherines Grab zu öffnen. I knew no living thing in flesh and blood was by; but, as certainly as you perceive the approach to some substantial body in the dark, though it cannot be discerned, so certainly I felt that Cathy was there: not under me, but on the earth. A sudden sense of relief flowed from my heart through every limb. [...] Her presence was with me: it remained while I refilled the grave, and led me home.273

Während Heathcliff Catherines Geist jedoch nur fast zu sehen bekommt, so klagt er „I could almost see her, and yet I could not!“274, zeigt sich das launische Gespenst Fremden wie Lockwood gegenüber zutraulicher. Zumindest berichtet Nelly Dean von der abergläubischen Landbevölkerung, die Catherine und nach dessen Tod auch Heathcliff als Widergänger zu sehen meinen.275 Diese Spuksze-

271 Auf Lockwoods Abweisung „I’ll never let you in, not if you beg for twenty years“ entgegnet das Gespenst „It is twenty years [...]. I’ve been a waif for twenty years!“ Ebd., S. 37. 272 Ebd., S. 148. 273 Ebd., S. 242. 274 Ebd. 275 Laut Nelly Dean ängstigen die Gespenster einem Hirtenjungen, der sich bei ihr beklagt: „‚There’s Heathcliff and a woman, yonder, under t’ nab,‘ he blubbered, ‚un I darnut pass ’em.‘“ Ebd., S. 278.

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nen ergänzen den Roman um eine Dimension, wobei Emily Brontë die Autorität ihrer Erzählerin Nelly in Frage stellt, die der Auffassung ist, sämtliche Geistererscheinungen entsprächen allein dem menschlichen Aberglauben. Dagegen spricht nicht nur, dass Nelly selbst äußerst abergläubisch ist, sondern ebenfalls, dass auch außenstehende Personen wie Lockwood und sogar Tiere die Gespenster wahrzunehmen scheinen.276 Während Catherine und Heathcliff als Liebende im Leben gezwungen waren, ihre androgyne Einheit aufzulösen, scheinen sie im Tod zueinander zu finden. Das jedenfalls sieht Catherine in ihrem Fieberwahn voraus, indem sie Wuthering Heights als Ort ihrer unbeschwerten Kindheit mit Heathcliff identifiziert und den einzigen Weg nach Hause, d. h. die Rückkehr in die frühere Einheit, als Pass über den Friedhof beschreibt: It’s a rough journey, and a sad heart to travel it; and we must pass by Gimmerton Kirk, to go that journey! We’ve braved its ghosts often together, and dared each other to stand among the graves and ask them to come. But, Heathcliff, if I dare you now, will you venture? If you do, I’ll keep you. I’ll not lie there by myself: they may bury me twelve feet deep, and throw the church down over me, but I won’t rest till you are with me. I never will!277

Wuthering Heights steht damit für die undurchdringliche Verbundenheit zwischen der Protagonistin und Heathcliff. Catherines Wunsch heimzukehren lässt sich also gleichsam als Wunsch lesen, sich erneut mit dem Geliebten zu vereinigen, wenn nötig durch ihren Tod. Eine Liebe wie die zwischen Catherine und Heathcliff, so lässt Brontë uns glauben, besteht jenseits irdischer Parameter. Als etwas Unfassbares geht sie über konventionellere Formen der Liebe, wie etwa die Ehe, hinaus, dabei umfasst sie nicht nur Glücksgefühle. Wie Catherine in ihrer „I am Heathcliff“-Ansprache ausführt, stellt sich ihr zweites Ich nicht nur als Ursprung erbaulicher Gefühle dar, dementsprechend gestaltet sich auch ihre Beziehung mitunter als Last. Heathcliffs und Catherines Liebe ist keinesfalls zu vergleichen mit ritualisierten Liebesformen, wie etwa der Minne, innerhalb derer die Geliebte zum Objekt bedingungsloser Anbetung und Verehrung wird. Stattdessen gehören gegenseitige Schuldzuweisungen und Vorwürfe zu ihrer Beziehung. Sie umfasst offensichtlich alle vorstellbaren Emotionen, indem sie einander ihre jeweiligen Zurückweisungen nicht vergeben können, bezeugen sie sich gleichsam ihren gegenseitigen Hass. So hasst Heathcliff Catherine trotz seiner Liebe für ihre Heirat mit Linton,

276 Über besagten Hirtenjungen und seine Herde heißt es „neither the sheep nor he would go on.“ Ebd. 277 Ebd., S. 116f.



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obwohl er an ihr wie er versichert keine Rache nehmen will.278 Ihre gegenseitigen Beschuldigungen erreichen ihren Höhepunkt beim letzten Treffen der beiden. An dieser Stelle wirft Catherine Heathcliff vor, die Schuld an ihrem Tod zu tragen: „You and Edgar have broken my heart, Heathcliff! And you both come to bewail the deed to me, as if you were the people to be pitied! I shall not pity you, not I. You have killed me – and thriven on it, I think.“279 Tatsächlich zeigt die Protagonistin so kurz vor ihrem Tod kein Interesse an einer Versöhnung, vielmehr sucht sie Vergeltung: „I shouldn’t care what you suffered. I care nothing for your sufferings. Why shouldn’t you suffer? I do!“280 Heathcliff, der sich im Klaren darüber ist, dass Catherine bereits mit einem Bein im Grab steht, klagt sie seinerseits an: You teach me now how cruel you’ve been – cruel and false. Why did you despise me? Why did you betray your own heart, Cathy? I have not one word of comfort. You deserve this. You have killed yourself. Yes, you may kiss me, and cry; and wring out my kisses and tears: they’ll blight you. You loved me – then what right had you to leave me? What right – answer me – for the poor fancy you felt for Linton? [...] I have not broken your heart – you have broken it, and in breaking it, you have broken mine.281

Zur Vergebung sieht er sich nicht imstande: „I forgive what you have done to me. I love my murderer – but yours! How can I?“282 Mit dieser letzten Begegnung erreicht der Spannungsbogen von Catherines Beziehung zu Heathcliff seinen Höhepunkt. In der Nacht, die auf dieses Treffen folgt, stirbt die Protagonistin, nachdem sie Lintons Tochter Cathy zur Welt gebracht hat. Damit endet die diesseitige Repräsentation einer außerordentlichen Liebe, die wohl kaum ein Autor zuvor beschrieben hat und die sich, wie Anthony Cockshut konstatiert, von allem bisher Dagewesenen abhebt. „All readers of Wuthering Heights are aware that the book presents two different kinds of love, the love between Heathcliff and Catherine, and the ordinary love of which the world knows as it goes about its business of marrying and giving in

278 In diesem Zusammenhang bekennt Heathcliff, dass seine Rache an Hindley und Edgar stellvertretend das Unrecht, das er durch Catherine erfahren hat, sühnen soll. So teilt er Catherine mit: „I seek no revenge on you [...]. That’s not the plan. The tyrant grinds down his slaves and they don’t turn against him; they crush those beneath them. You are welcome to torture me to death for your amusement, only allow me to amuse myself a little in the same style, and refrain from insult as much as you are able.“ Ebd., S. 105f. 279 Ebd., S. 141. 280 Ebd., S. 142. 281 Ebd., S. 144. 282 Ebd.

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marriage.“283 Die von Emily Brontë beschriebene Leidenschaft, die als Katalysator die gesamte Romanhandlung determiniert, will sich als etwas Überirdisches verstanden wissen. Ganz im Gegensatz zu dem von Jane Austen beschriebenen Charme des Alltäglichen konzipiert Brontë in Wuthering Heights eine Form der Passion, die eben nicht allgegenwärtig ist, sondern über das Alltagsgeschehen, über Leben und Tod hinausgeht. Diese unbedingte Leidenschaftlichkeit stellt freilich hohe Anforderungen an die Charaktere und führt sie, insbesondere die Protagonistin Catherine, immer wieder vor unlösbare Konflikte. Wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, werden im Roman eine Reihe von Oppositionsparadigmen thematisiert: männlich/weiblich, Leben/Tod, Liebe/Hass. Ebenso erfährt der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl die Aufmerksamkeit der Autorin, dabei steht er in engem Zusammenhang mit den leidenschaftlichen Maximen der Protagonistin. Catherine erlebt in der Tat eine Diskrepanz zwischen Kopf und Herz, auf die sie selbst hindeutet. Von Nelly gefragt, wo denn die Hinderungsgründe liegen, Linton zu heiraten, bedeutet sie gestisch eine Einheit zwischen Seele und Herz: „‚Here! and here!‘ replied Catherine, striking one hand on her forehead, and the other on her breast: ‚in whichever place the soul lives. In my soul and in my heart, I’m convinced I’m wrong!‘“284 Catherines Intuition – als solche lassen sich Seele und Herz zweifellos zusammenfassen – sagt ihr also, es sei falsch Linton zu heiraten. Mit anderen Worten, sie fühlt die Ungerechtigkeit Heathcliff gegenüber. Indem Catherine einwilligt, Mrs. Linton zu werden, gibt sie letztlich ihrem Verstand nach, denn wie bereits angedeutet, sind es vor allem rationale Erwägungen, die sich als ausschlaggebend erweisen. Es sind rein materielle Überlegungen, die Catherine dazu bewegen, Linton zu heiraten, schließlich gibt sie zu: „[I]f Heathcliff and I married, we should be beggars“285. Edgar aus dem Grund zu heiraten, ihr eigenes Wohlergehen abzusichern und zugleich Heathcliffs Lage verbessern zu können, betrachtet Catherine als ihr bestes Motiv: „The others were the satisfaction of my whims: and for Edgar’s sake, too, to satisfy him. This is for the sake of one who comprehends in his person my feelings to Edgar and myself.“286 Die Heirat mit Edgar ist somit eine Vernunftehe, in ihrer Liebe zu Heathcliff entspricht die Protagonistin dagegen ihrem Herzen (und ihrer Seele).

283 Anthony Oliver John Cockshut: Man and Woman. A Study of Love and the Novel 1740–1940, London: Collins 1977, S. 107. 284 Brontë: Wuthering Heights, S. 79. 285 Ebd., S. 81. 286 Ebd.



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Diesen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl erlebt Catherine zugleich als einen Widerspruch ihrer individuellen Bedürfnisse und den Anforderungen der Gesellschaft. Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft stellt ohne Frage eines der zentralen Romanthemen des 19. Jahrhunderts dar, ihre Bemühungen, die eigene unangepasste Individualität mit den Maßstäben ihrer Umwelt in Einklang zu bringen verbinden Catherine Earnshaw mit zahlreichen anderen Romanhelden. So vergleicht Paola Tonussi Brontës Heldin mit Goethes Werther, der sicherlich nicht weniger leidenschaftlich gegen die Normen seiner Zeit rebelliert. Dabei vergleicht Tonussi insbesondere die Naturmotive der Romane miteinander, beispielsweise weist sie darauf hin, dass sowohl Werther als auch Catherine sich bzw. ihre Liebe mit welkem Laub assoziieren.287 Insgesamt setzt die Autorin jedoch eher die Figuren Werther und Heathcliff zueinander in Bezug, wobei sie die Parallelität der Dreiecksbeziehung hervorhebt. Dass Brontës Catherine allerdings kaum etwas mit Goethes Lotte gemein hat, lässt sie außer Acht: Anstelle eines Dreiecks zwischen Lotte, Werther und Albert liegt in Wuthering Heights eher eine Dyade zwischen Heathcliff und Catherine auf der einen und Edgar auf der anderen Seite vor. Während Lotte sich ganz dem Geschlechtscharakterdiskurs entsprechend als bescheidene Hausfrau und (Ersatz‑)Mutter inszeniert, stößt Catherine die traditionelle Frauenrolle von sich, obwohl auch sie äußerlich zunächst diesen Weg einschlägt. Eine Entsprechung der beiden Romane einmal vorausgesetzt, spielt Catherine also sicher nicht die Rolle der Lotte, vielmehr nimmt sie die Züge Werthers an. Der (individuelle) Kampf dieses weiblichen Werthers gegen die Gesellschaft gestaltet sich allein aufgrund genderspezifischer Implikationen sehr viel konkreter als beim Original. Die Regeln, denen Goethes Protagonist ausgesetzt ist – etwa das christliche Gebot, das Weib des Nachbarn nicht zu begehren – stellen sich für Catherine wesentlich enger dar: Selbst als verheiratete Frau hat sie ihr Begehren zu verleugnen. Für sie gibt es keinen anderen Weg, als Erfüllung in der traditionellen Frauen- und Mutterrolle zu suchen, Werther steht es hingegen prinzipiell frei, Junggeselle zu bleiben. Er kann sich den sozialen Pflichten seiner Geschlechterrolle entziehen, wohingegen Brontës Catherine durch die Verweigerung der weiblichen Bestimmung mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft rechnen muss. Es kann daher nicht verwundern, dass sie sich in ihre Kindheit zurücksehnt, in eine Zeit, in der es noch möglich war, gesellschaftliche Schranken ungestraft zu missachten.

287 Vgl. Paola Tonussi: „From Werther to Wuthering Heights. Possible Convergences“, in: Brontë Studies. The Journal of the Brontë Society 33 (2008), S. 33.

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Wie auch Nicole Fisk bestätigt, muss Catherine Earnshaw an dem Versuch, sich eben diesen Schranken zu unterwerfen scheitern.288 Sie scheitert damit an der eigenen Leidenschaftlichkeit: Während Jane Austen ihre Heldin Marianne eine Wandlung durchlaufen lässt und ihre romantischen Maximen schließlich relativiert, zeigt Emily Brontë die ganze Konsequenz unbedingter Leidenschaft auf. Es ist die Passion selbst, die für ihre Heldin zur Passion wird, zur Lebenseinstellung und grundsätzlichen Triebkraft. Dass sich laut Diskurs diese Art von Leidenschaft, die ausschließlich selbstbezogen ist und darüber hinaus triebhafte Züge annimmt, für Frauen nicht gehört, liegt auf der Hand. Catherine Earnshaw illustriert somit die Folgen einer Abweichung von der weiblichen Normbiografie, sie verkörpert ein vollkommen nonkonformes Konzept von Weiblichkeit.

4.3.6 Ein alternativer Lebensentwurf: Catherine II Emily Brontë relativiert die durch das Schicksal ihrer Protagonistin illustrierte Position, dass es für Frauen nahezu unmöglich ist, emotionale Ganzheitlichkeit im diesseitigen, gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen, indem sie noch einen weiteren weiblichen Lebensweg aufzeigt. Mit Catherines Tochter entwirft die Autorin ein Double der Heldin, das ihr in äußerlichen Attributen auffallend ähnelt, dessen Biografie jedoch maßgeblich von der seiner Vorgängerin abweicht.289 Die Spiegelfunktion dieser Figur verdeutlicht bereits ihr Name, wie ihre Mutter heißt auch sie Catherine. In der Benennung der zwei Catherines findet eine Überkreuzung statt, denn während Heathcliff mit Ausnahme von Mr. Earnshaw der einzige ist, der die erste Catherine mit Cathy anspricht, wohingegen Edgar und Ellen Dean diese stets als Catherine bezeichnen, wird die zweite Catherine in ihrem familiären Umfeld ausschließlich in der Kurzform gerufen.290 Wie Nelly erklärt, trifft Edgar Linton durch den Gebrauch des Kosenamens für seine Tochter eine Unterscheidung zwischen dieser und ihrer Mutter und stellt zugleich einen Bezug

288 Vgl. Fisk: „‚A Wild, Wick Slip She Was‘“, S. 139. 289 Christine Lehmann hat herausgestellt, dass Autorinnen den sexuellen Vollzug oftmals auslassen und stattdessen eine Nebenfigur einführen, die anstelle der eigentlichen Heldin dem Sündenfall erliegt und stirbt. Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 11. Bei Brontë lässt sich dies in der Umkehrung konstatieren: Nicht Cathy stirbt zugunsten von Catherines Glück, sondern die Nebenfigur illustriert im Sinne eines Reflexionsdoubles die Möglichkeiten der (vorigen) Heldin. 290 Wie Ellen Dean ausführt, findet diese Unterscheidung seitens Edgar Lintons statt, um die schmerzliche Erinnerung an die erste Catherine zu verdrängen. Vgl. Brontë: Wuthering Heights, S. 161. Im Rahmen meiner Argumentation schließe ich mich dieser Differenzierung an.



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zwischen den beiden her.291 Cathy stellt sich als die perfekte Kombination ihrer Eltern dar, was ihr Äußeres bestätigt: „[She was] a real beauty in face, with the Earnshaws’ handsome dark eyes, but the Lintons’ fair skin and small features, and yellow curling hair.“292 Im Gegensatz zu ihrer Mutter wächst Cathy äußerst behütet auf, was Nelly bestätigt, indem sie die ersten zwölf Jahre nach Catherines Tod, in denen sie als Cathys Ersatzmutter fungiert, als die glücklichsten ihres Lebens bezeichnet.293 Mit ihrer Beschreibung von Cathys Jugend konfrontiert sie Lockwood zu einem Zeitpunkt, an dem dieser bereits Bekanntschaft mit der mittlerweile erwachsenen Frau gemacht hat. Bei seinem Besuch auf Wuthering Heights nimmt der Erzähler Cathy, die er irrtümlicherweise zunächst für Heathcliffs Frau und dann für Hareton Earnshaws Frau hält, als wenig liebenswürdig wahr. Der Widerspruch zwischen ihrem Äußeren, durch das Lockwood auf eine vornehme Herkunft schließt, und Cathys schroffen Benehmen ihm sowie den anderen Heights-Bewohnern gegenüber erregt die Neugier des Erzählers und so fragt er Ellen Dean explizit nach ihrer Geschichte.294 Tatsächlich erweist sich die Figur Cathys somit als Ausgangspunkt für Nelly Deans Erzählung, wobei die Haushälterin erst auf diese zu sprechen kommt, nachdem sie, wie oben dargestellt, einen ausführlichen Bericht über die Vorgängergeneration abgegeben hat. Cathys Geschichte beginnt mit Catherines Tod – dies und der Umstand, dass sie äußerlich ein steter Beweis für die Verbindung der ersten Catherine mit Edgar Linton ist, prägen Heathcliffs Hass auf die junge Frau. Ebenso wie Isabella stellt die behütete und daher weitgehend naive Cathy ein leichtes Opfer für Heathcliffs Rachsucht dar. Durch verschiedene Intrigen bewegt Heathcliff die Erbin der Lintons zur Heirat mit seinem Sohn aus der Ehe mit Isabella. Durch dessen baldigen Tod und das zeitnah erfolgende Ableben Edgar Lintons gelingt es Heathcliff, den gesamten Lintonschen Besitz in seine Gewalt zu bringen – womit letztlich auch die Frage geklärt wird, weshalb der Erzähler Lockwood als Heathcliffs Pächter auftritt. Zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung lebt die verwitwete Cathy als eine Art Gefangene auf Wuthering Heights. Diesen Status betont sie auch Lockwood gegenüber, indem sie ihr Unvermögen, ihn zurück nach Thrushcross Grange zu begleiten, wie folgt begründet: „They wouldn’t let me go to the end of the garden wall.“295 Bis zu Lockwoods nächstem Besuch soll sich ihre Situation jedoch bedeutend verändern. Bei seinem Eintref-

291 Vgl. ebd. 292 Ebd., S. 165. 293 Ebd., S. 164. 294 Vgl. ebd., S. 42. 295 Ebd., S. 29.

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fen auf Wuthering Heights findet der Erzähler Cathy und Hareton als Paar vor, in einer gänzlich neuen Vertrautheit sitzen sie beieinander, während Cathy ihrem Cousin im Lesen unterrichtet. Erneut ist es Ellen Dean, die Lockwood in die Ereignisse einweiht und so die Geschichte zu ihrem Abschluss bringt: Mittlerweile ist auch Heathcliff verstorben, sein Tod wiederum macht Cathy als seine Schwiegertochter zur Erbin von Thrushcross Grange und Wuthering Heights. Diese aus der Sicht beider Erzähler glückliche Wendung spiegelt sich im gesamten Setting wider: Bereits auf seinem Weg nach Wuthering Heights nimmt Lockwood die Tatsache, dass das Tor nicht länger verschlossen ist als eine Verbesserung wahr.296 Die Idylle wird komplettiert durch Nelly, die singend an der Küchentür sitzt, gelegentlich unterbrochen durch die missbilligenden Kommentare Josephs. Nachdem Nelly ihre Erzählung vervollständigt und damit auch die Annäherung zwischen Cathy und Hareton geschildert hat, treten diese wiederum ins Blickfeld des Erzählers. Ganz im Widerspruch zu den tragischen Helden von Nellys Geschichte, Catherine und Heathcliff, deren Geister angeblich noch immer herumirren, bieten die jungen Liebenden, die gerade von einem Spaziergang heimkehren, einen optimistischen Ausblick. Sie gleichen ihren rastlosen Vorfahren in keiner Weise, wie Lockwood bemerkt: „They are afraid of nothing [...]. Together they would brave Satan and all his legions.“297 Der Gegensatz zwischen Catherine und ihrer Tochter Cathy erlaubt es der Autorin Brontë nicht nur, ein versöhnliches Romanende zu gestalten, ohne die Tragik um Heathcliff und die erste Catherine abzumildern, er trägt darüber hinaus dazu bei, die Figur Catherines um eine Möglichkeitsdimension zu erweitern. Cathys Lebenslauf, insbesondere die finale Heirat mit Hareton, wirkt sich insofern auf die Wahrnehmung von Catherines Schicksal aus, als dieses noch außergewöhnlicher erscheint, ganz im Sinne der Differenzierung Anthony Cockshuts, der einen Unterschied zwischen gewöhnlichen Liebeserfahrungen und denen Catherines und Heathcliffs zieht.298 In vielerlei Hinsicht bildet Cathy das Negativbild ihrer Mutter: Während die erste Catherine sich bewusst für den falschen Mann entscheidet, indem sie Edgars Heiratsantrag trotz ihrer Liebe zu Heathcliff annimmt, fällt Cathy unbewusst eine falsche Wahl. Mit ihrer Heirat mit Linton Heathcliff meint sie, ihrem Herzen zu folgen, wohingegen die Mutter eine Kopfentscheidung trifft. Ein weiterer Kontrast betrifft die Konsequenzen der jeweiligen Entscheidungen. Ihre Vernunftehe löst bei Catherine ihre Entfremdung von beiden Männern aus, was die Heldin in der Folge in einen Verzweiflungszustand

296 Ebd., S. 255. 297 Ebd., S. 279. 298 Vgl. Cockshut: Man and Woman, S. 107.



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bis hin zum Wahnsinn stürzt. Dagegen überdauert die zweite Catherine ihre Fehlentscheidung: Sie überlebt nicht nur ihren Mann, sondern auch den tyrannischen Schwiegervater und erhält somit die Gelegenheit, eine zweite – möglicherweise weisere – Wahl zu treffen. Eine zweite Chance bietet sich ihrer Mutter hingegen lediglich im jenseitigen Leben. Zumindest scheint das Kindesalter, in das Catherine sich während ihrer Krankheit hinein imaginiert, die Repräsentation eines paradiesischen Zustands darzustellen, insofern hier keine folgenträchtigen Entscheidungen zu treffen sind. In der Tat sieht es so aus, als gelänge Cathy eben das, was der Mutter zeitlebens verwehrt blieb: Sie nutzt ihre zweite Chance mit ihrer Entscheidung für Hareton Earnshaw. Dabei vollzieht sie einerseits den Schritt, vor dem ihre Mutter zurückschreckte, nämlich den Abstieg durch die Heirat – immerhin steht Hareton, dessen Sozialisation die eines Knechts ist, ihr in Auftreten und Benehmen um einiges nach. Andererseits handelt es sich nicht wirklich um einen Abstieg, da Hareton als der letzte der Earnshaws dem tatsächlichen Rang nach auf Augenhöhe mit Cathy steht. In Bezug auf die Heirat Cathys mit Hareton Earnshaw lässt sich festhalten, dass es Catherines Reflexionsdouble letztlich gelingt, ihre affektiven Wunschvorstellungen zu realisieren. Cathy ist es somit möglich, ihre individuellen Bedürfnisse mit den Erwartungen der Außenwelt an sie in Einklang zu bringen, wobei sicherlich eingeräumt werden muss, dass diese Außenwelt für die Figuren nicht direkt spürbar ist. Am Ausgang des Romans hat sich das Handlungspersonal auf Hareton und Cathy eingeschränkt, sieht man von den Dienstboten Joseph und Nelly ab. Die beiden letzten Nachfahren der Earnshaws bzw. Lintons stehen damit buchstäblich vor einem Neuanfang. Ihnen bietet sich die Möglichkeit, ein gemeinsames Leben nach selbst gewählten Werten zu gestalten, ganz im Gegensatz zu Catherine und Heahcliff, die an der Diskrepanz zwischen individuell-affektiven Bedürfnissen und den zu eng gesetzten normativen Vorgaben ihrer Umwelt zugrunde gehen.

4.3.7 Normabweichende Konzepte von Weiblichkeit in Wuthering Heights Die Diktate von modesty, prudence und common sense, die in Bezug auf Jane Austens Heldinnen absolute Verbindlichkeit beanspruchen, erweisen sich für sämtliche Figuren in Emily Brontës Wuthering Heights als leere Floskeln, gegen deren Gültigkeit die meisten Charaktere ankämpfen. Selbst die intradiegetische Erzählerin Nelly, die sich selbst als einzige vernünftige Seele in Thrushcross

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Grange wähnt und sich als „a steady, reasonable kind of body“299 beschreibt, unterliegt einer emotionalen Involviertheit in die Ereignisse, die sie daran hindert, als objektive und verlässliche Perspektiventrägerin eine Instanz der Vernunft darzustellen. Da die Welt der Moor- und Heidelandschaft in Wuthering Heights sich gänzlich abseits einer Einbettung in einen gesellschaftlichen Kontext situiert, insofern sie nicht an eine dörfliche oder städtische Gemeinschaft angegliedert ist, gelten zeittypische soziale Normen und Konventionen hier nicht. Die einzige Maxime, die das Handeln der verschiedenen Personen reguliert, ist die Passion. Damit verstößt vor allem die Protagonistin gegen normative Konventionen, schließlich wird in mädchenpädagogischen Handbüchern immer wieder vor affektiver Heftigkeit gewarnt. Das diskursiv erzeugte Idealbild von Weiblichkeit als selbstlos und submissiv findet daher in Catherine Earnshaw den personifizierten Gegenpol. Während Jane Austens Heldinnen anhand gesellschaftlicher Normen geformt werden, sofern sie nicht von Romanbeginn an konventionellen Vorstellungen von weiblicher Perfektion entsprechen, entwirft Emily Brontë eine Protagonistin, die aktiv gegen soziale Konventionen verstößt. Für Catherine Earnshaw besteht ein genereller Widerspruch zwischen individuellem und gesellschaftlichem Wertesystem. Die Konfrontation des Individuums mit der Gesellschaft bildet sicherlich eines der zentralen Themen der Romanliteratur, nicht nur aus weiblicher Perspektive. Nach Georg Lukács beruht diese Unangemessenheit im Roman des 19. Jahrhunderts darauf, dass die Seele des Helden breiter angelegt ist als die Außenwelt.300 In dem Moment, in dem die Protagonistin als Rebellin auftritt, wie es sich in einer Vielzahl viktorianischer Romane beobachten lässt, wird die Kollision von Individuum und Gesellschaft auch zu einem spezifisch weiblichen Konflikt.301 Das Individuum ist im Hinblick auf Brontës Catherine insofern an das Gefühlsprinzip gekoppelt, als das Handeln dieser Heldin auf außerordentlicher Leidenschaftlichkeit beruht. Dabei schließt Passion, als Leitsymbol romantischer Liebe, Vernunft im Sinne von Maß und Kalkulation aus. Mit Angemessenheit beschäftigt sich hingegen der Pol der Gesellschaft, indem er soziale Normen konstruiert, die generell ein funktionierendes Zusammenleben gewährleisten sollen. Insofern normative Setzungen eines weiblichen Geschlechtscharakters also anstreben, eine theoretische Vernunft prak-

299 Brontë: Wuthering Heights, S. 65. 300 Vgl. Lukács: Die Theorie des Romans, S. 98. 301 Wie Carol Pearson und Katherine Pope herausstellen, bergen gynozentrische Romane insofern großes Konfliktpotenzial, als die Diskrepanz zwischen den engen Grenzen der patriarchalen Gesellschaft und dem subjektiven Erleben des Romansubjekts größer ist als in androzentrischen Texten. Vgl. Carol Pearson u. Katherine Pope: The Female Hero in American and British Literature, New York u. London: Bowker 1981, S. 338.



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tisch umzusetzen, verkörpern sie das Prinzip der Ratio. Catherine und Heathcliff folgen einem eigenen Wertesystem, das im Wesentlichen von der Passion als solcher vorgeschrieben ist. Dabei assoziiert Catherines impulsive Leidenschaftlichkeit die Figur im Kontrast zu der zivilisierten Welt der Lintons mit dem Animalischen. Heathcliff als auch Catherine vermögen ihre animalische Natur nicht zu beherrschen und stehen damit den disziplinierten Vertretern einer kultivierten Gesellschaft, wie den Lintons, oppositionell gegenüber, auch durch ihre androgyne Einheit. Die Leidenschaft, die sie miteinander teilen, ist eine existenzielle. Dieser Zusammenhang verdeutlicht wiederum die Tatsache, dass die Figur Catherines keine Wahl hat, anders zu handeln. Passion, als ihr beständiger Antrieb, erweist sich zugleich als maßgebende Kraft des Romans. Ganz im Sinne der romantischen Liebessemantik sind Heathcliff als auch Catherine ihrer Leidenschaft machtlos ausgeliefert, wohingegen solche Figuren wie Edgar Linton oder auch Ellen Dean in ihrer Fähigkeit, sich zu beherrschen und ihre animalischen Triebe zu kontrollieren, auf eine kühle Weise rational erscheinen. Von sensibility und dem damit verbundenen Konzept eines vernünftigen Gefühls ist hier keine Rede mehr: In der Mitte des 19. Jahrhunderts büßt das Verhaltensideal der Vernunft seine Glücksverheißungen ein. Wie Gillian Frith bestätigt, wurde Wuthering Heights von je her als Illustration widerstreitender Polaritäten, wie Himmel und Hölle oder Ruhe und Sturm, gelesen.302 Neben dem Widerspruch zwischen individueller Affektivität und gesellschaftlicher Rationalität erweist sich vor allem der Konflikt zwischen Kultur und Natur als relevant. Catherine scheitert deshalb, weil die zivilisierte Gesellschaft ihre Bindung an die Natur, an ihre animalischen Wurzeln, sanktioniert. Während sie die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen im Kindesalter noch realisieren kann, muss sie sich als erwachsene Frau entweder den geltenden Konventionen unterwerfen, oder am Widerstand dagegen zugrunde gehen. Wie sich gezeigt hat, stellt sich mit der Geschlechtsreife der Heldin tatsächlich eine Wandlung ihres Verhaltens ein: Sie inszeniert sich als würdevolle Dame und überwindet so scheinbar ihr früheres Wildfanggebaren. In der Tat unternimmt die Protagonistin den Versuch, sich an die vorgegebene Rolle idealtypischer Weiblichkeit anzupassen, indem sie mit ihrer Heirat zunächst den Weg der weiblichen Modellbiografie einschlägt. Indem Catherine einwilligt, Mrs. Linton zu werden, versucht sie gleichsam, sich von dem wilden, leidenschaftlichen und animalischen Ich ihrer

302 Vgl. Gillian Frith: „Decoding Wuthering Heights“, in: Critical Essays on Emily Brontë, hg. v. Thomas John Winnifrith, New York u. a.: Hall & Co. 1997, S. 243.

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Kindheit zu lösen.303 Ebenso wenig wie die Trennung zwischen Catherine und ihrem zweiten Selbst Heathcliff von Dauer ist, hat auch ihre Adaption an normative Maßstäbe von Weiblichkeit Bestand. Tatsächlich kehrt das ungezügelte Temperament der Heldin zusammen mit dem Wiedererscheinen Heathcliffs zurück an die Oberfläche. Catherine muss erkennen, dass sie emotionale Ganzheitlichkeit nicht innerhalb der Grenzen, die ihre Ehe ihr vorgibt, verwirklichen kann. Es bleibt ihr keine andere Möglichkeit, als ihren Protest gegen normative Zwänge durch Krankheit und Wahnsinn als wohl größte Abweichung vom traditionellen weiblichen Rollenmodell zu artikulieren. Indem sie als Wahnsinnige ein entschieden irrationales Verhalten zeigt, erfährt ihre affektive Heftigkeit nochmals eine Steigerung. Emily Brontës Catherine Earnshaw scheitert letztlich an dem Konflikt zwischen Verstand und Gefühl, den sie insbesondere als Konflikt zwischen ihrer individuellen Affektivität und den Vorgaben gesellschaftlicher Moralvorstellungen erlebt. Konventionelle geschlechtsspezifische Determinationen, wie sie erzieherische Texte treffen, unterwandert diese Heldin dabei.

4.4 George Sands Indiana (1832) Die vorangegangene Analyse hat insbesondere verdeutlicht, dass eine enorme Diskrepanz zwischen dem Schreiben Jane Austens und dem viktorianischer Schriftstellerinnen, wie Emily Brontë, besteht. Wie gesehen, führt Charlotte Brontë diese Differenz auf die unterschiedlichen Haltungen der Repräsentantinnen ihrer jeweiligen Zeit zu Leidenschaft und Affektivität zurück. Während Austen noch davon ausgeht, der Mensch könne und müsse seine individuelle Affektivität zugunsten des Gemeinwohls regulieren, vertritt Emily Brontë die Auffassung, dass sich wahre Leidenschaftlichkeit jeglicher Kontrollinstanz entzieht. Mit George Sand rückt nun eine der bedeutendsten Autorinnen der französischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts in den Blickpunkt, deren Werk nach Ansicht Patricia Thomsons die Lücke zwischen Austen und den Brontës schließt. Tatsächlich bezeichnet Thomson Sand als „missing link between the earlier nineteenth-century writers and those of the Victorian period, in her introduction

303 Martha Nussbaum vergleicht Catherine in diesem Zusammenhang mit dem Erzähler Lockwood. Ebenso wie er habe die Protagonistin Angst vor der Nacktheit der eigenen animalischen Natur und bedecke diese in der Folge unter dem Aufzug des Lintonschen Lebensstils. Vgl. Nussbaum: „Wuthering Heights. The Romantic Ascent“, S. 378.



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of passion as a major theme in the novel.“304 Diese Zuschreibung kann eigens für Sands Erstlingsroman Indiana (1832) geltend gemacht werden: Laut Kristina Wingård Vareille zeichnet sich gerade Sands erste Schaffensphase durch die Thematisierung individueller Leidenschaftlichkeit im Kontrast zu den gesellschaftlichen Setzungen aus, dabei verfolgt die Autorin einen offensichtlich sozialkritischen Ansatz, indem sie die Problematik der Ehe und der jeweiligen Rollen, die Männern und Frauen von der Gesellschaft vorgeschrieben werden, ins Zentrum der beiden 1832 erschienenen Romane, Indiana und Valentine, stellt.305 Für die neunzehnjährige Kreolin Indiana stellt sich ihre Ehe mit dem bereits pensionierten Oberst Delmare als Form der Sklaverei dar, weder Zuneigung noch Achtung verbinden sie mit ihrem brutalen Ehemann. Indianas Situation wird ausschließlich durch die Anwesenheit ihres Cousins und Arztes, Sir Ralph Brown, gemildert, der als Vertrauter beider Ehegatten aufkommende Konflikte stets beschwichtigt. Einen Sinn in ihrem Leben sieht die Protagonistin erst, als sie sich in den adeligen Raymon de Ramière verliebt. Nach dem Ruin Delmares und nachdem sie sich Raymon vergeblich als Geliebte angeboten hat, fügt sich Indiana in den Willen des Gatten und folgt ihm in ihre alte Heimat, auf die Île Bourbon. In der Nacht von Delmares Tod gelingt ihr schließlich die Flucht zurück nach Frankreich, wo sie jedoch feststellen muss, dass der Geliebte mittlerweile anderweitig gebunden ist. Ralph, der Indiana gefolgt ist, schlägt ihr den gemeinsamen Selbstmord auf der Île Bourbon vor. Der Versuch dazu scheitert allerdings, so dass Ralph und Indiana ihre gegenseitige Liebe erkennen können und ein nahezu utopisches Zusammenleben in der naturhaften Idylle der Schlucht Bernica aufnehmen. Im Gegensatz zum übrigen Roman wird das letzte Kapitel, das um die Schilderung eben dieser Utopie kreist, durch einen homodiegetischen Erzähler vermittelt. Anstatt die Kapitelnummerierung fortlaufen zu lassen, überschreibt Sand den letzten Abschnitt als conclusion und führt einen jungen Abenteurer ein, der von seinem Zusammentreffen mit den Einsiedlern von Bernica berichtet und ihr harmonisches Miteinander bezeugt. Dieser homodiegetische Erzähler ließe sich als conteur bezeichnen, in Abgrenzung zum eigentlichen narrateur, einer heterodiegetischen Erzählinstanz, die bis hin zur conclusion als Sprecher agiert.306

304 Patricia Thomson: George Sand and the Victorians. Her Influence and Reputation in Nineteenth-Century England, London: Macmillan 1977, S. 9. 305 Vgl. Kristina Wingård Vareille: Socialité, sexualité et les impasses de l’histoire. L’Évolution de la thématique sandienne d’Indianna (1832) à Mauprat (1837), Stockholm: Almqvist & Wiksell 1987, S. 471. 306 Entgegen der Annahme Christine Lehmanns, die die heterodiegetische Erzählinstanz mit dem Erzähler der conclusion gleichsetzt, schließe ich mich mit der Unterscheidung zwischen

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Sands Erzählstil lässt sich durchaus als androgyn bezeichnen, obwohl sich Hinweise darauf finden lassen, dass es sich bei ihrem narrateur um einen männlichen Sprecher handelt.307 Auf den androgynen Charakter des heterodiegetischen Erzählers weist auch Éric Bordas hin: „Le narrateur d’Indiana n’est ni une personne ni un personnage, sans être pour autant une simple fonction abstraite. Singularisé par son style, il est une voix, une disponibilité, qui rend vaine l’opposition du masculin et du féminin, par example.“308 In der Tat erweist sich der narrateur in Indiana insofern als gender bender, als er Einsicht in die Psyche beider Geschlechter nimmt. Demgemäß werden die Handlungsweisen der männlichen Figuren anhand ihrer Beziehungen zur Außenwelt erklärt, der Erzähler widmet sich in diversen Digressionen der politischen Prägung Delmares und Raymons sowie der Sozialisation Sir Ralphs. Wie die folgende Betrachtung zeigen wird, werden die Motivationen des weiblichen Handlungspersonals, insbesondere die der Protagonistin, demgegenüber aus ihrem emotionalen Innenleben abgeleitet. Darüber hinaus kommentiert und bewertet der heterodiegetische Erzähler aktiv das Handeln der Figuren und erteilt sowohl den männlichen als auch den weiblichen Figuren seine Ratschläge. Dabei macht die erzählerische Stimme insbesondere durch generalisierende Aussagen wie die folgende auf sich aufmerksam: „En général, et les femmes le savent bien, un homme qui parle d’amour avec d’esprit est médiocrement amoureux.“309 An anderer Stelle heißt es: „La femme est imbécile par nature; il semble que, pour contre-balacer l’éminente supériorité que ses délicates perceptions lui donnent sur nous, le ciel ait mis à dessein dans son cœur une vanité aveugle, une idiote crédulité.“310 Dabei bestätigt der Gebrauch der ersten Person Plural, wodurch der Sprecher sich in die Gruppe der von Frauen durchschauten Männer einbezieht, nochmals die Entscheidung, diese Erzählinstanz als eine männliche anzusehen. Dem stimmt auch Gisela Schlientz zu und weist darauf hin, dass Sands narrateur, indem er gegen sein eigenes männliches Geschlecht argumentiert, es der Autorin gleichtut, die als George Sand gegen ihr eigenes weibliches Geschlecht spricht, woraus eine androgyne Poetik resultiert.311

beiden Éric Bordas an. Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 64; Éric Bordas: Indiana de George Sand, Paris: Gallimard 2004, S. 136. 307 Sands Anspruch, sprachlich vom eigenen Geschlecht zu abstrahieren, verdeutlicht die Tatsache, dass sie seit ihrer ersten Veröffentlichung von sich in der männlichen Form sprach. 308 Ebd., S. 143. 309 George Sand: Indiana, Paris: Garnier 1962, S. 62. 310 Ebd., S. 245. 311 Vgl. Gisela Schlientz: „George Sand. Eros und Maskerade. Rollentausch und weibliche Autorschaft“, in: George Sand – jenseits des Identischen, hg. v. Gislinde Seybert u. Gisela Schlientz, Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 60.



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Für diese androgyne Poetik spricht auch die Einführung des homodiegetischen Erzählers der conclusion: Folgt man der Argumentation Bordas’, so vertritt der heterodiegetische Erzähler die männlich dominierte schriftbezogene Narration, wohingegen der conteur auf die weiblich konnotierte Tradition der mündlichen Überlieferung rekurriert.312 In der Folge findet eine Vermengung von Produktion und Reproduktion statt, aus der eine neue, umfassendere Perspektive entsteht. Generell scheint George Sand in der Demontage tradierter Genderrollen die Lösung sozialer Probleme zu sehen, so spielt das Thema Androgynität in Indiana auch auf inhaltlicher Ebene eine eminente Rolle. Obwohl die Autorin mit ihrer Protagonistin eine Romanheldin zeichnet, die sich im Vergleich etwa zu Catherine Earnshaw äußerst passiv verhält, opponiert auch Indiana gegen normative Zwänge, indem sie statische Geschlechtsidentitäten hinterfragt. Ihr Protest gegen gesellschaftliche Setzungen findet auf anderem Weg als durch Wahnsinn und Hysterie statt. Gleichwohl demonstriert auch Sands Roman die Suppression des weiblichen Geschlechts durch die Geschlechtscharakterdiktate, vor allem durch die Darstellung der leidenschaftlichen Liebe, die keinesfalls eine Alternative zur ehelichen Knechtschaft darstellt, sondern vielmehr eine vergleichbare Form der Unfreiheit darstellt.

4.4.1 Paradigmen der Versklavung: Fremdbestimmt und selbstgewählt Die Institution der Ehe erfährt in Indiana eine ausnehmend scharfe Kritik. Laut Uwe Dethloff zeugt Sands Erstlingsroman von der fortschreitenden „literarische[n] Erosion des männlichen Vorherrschaftsanspruchs in der bürgerlichen Gesellschaft zur Zeit der Restauration und der Julimonarchie“313. In der Tat beginnt der Roman mit der Darstellung dieser Vormachtstellung, indem er die häusliche Situation der Delmares ausführlich schildert. Dabei fällt zunächst auf, dass bereits der erste Satz der Exposition eine Dreieckskonstellation ankündigt und somit auf den Handlungsverlauf, innerhalb dessen die eheliche Einheit gestört wird, vorausdeutet. Entsprechend eröffnet der Roman: „Par une soirée d’automne pluvieuse et fraîche, trois personnes rêveuses étaient gravement occupées, au fond d’un petit castel de la Brie, à regarder brûler les tisons du foyer et

312 Vgl. Bordas: Indiana de George Sand, S. 136. 313 Uwe Dethloff: Die literarische Demontage des bürgerlichen Patriarchalismus. Zur Entwicklung des Weiblichkeitsbildes im französischen Roman des 19. Jahrhunderts, Tübingen: Stauffenburg 1988 (= Romanica et comparatistica, Bd. 9), S. 89.

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cheminer lentement l’aiguille de la pendule.“314 Dieses Bild häuslicher Harmonie wird sogleich unterbrochen von dem nervösen Gebaren Delmares, der als erste der Figuren eine Charakterisierung durchläuft. Bereits seine erste Beschreibung zeugt von wenig Liebenswürdigkeit: „Ce personnage, beaucoup plus âgé que les deux autres, était le maître de la maison, le colonel Delmare, vielle bravoure en demi-solde, homme jadis beau, maintenant épais, au front chauve, à la moustache grise, à l’œil terrible; excellent maître devant qui tout tremblait, femme, serviteurs, chevaux et chiens.“315 Im Kontrast zur herrischen Persönlichkeit Delmares wird Indiana durch ihre erste Vorstellung als die Unterlegene gekennzeichnet: „toute fluette, toute pâle, toute triste“316. Über diese Personenbeschreibungen hinaus enthält das erste Kapitel eine Schlüsselszene, die der Erzähler durchaus als solche ankündigt. Nachdem geschildert wurde, wie Delmare den Hund seiner Frau, mit dem bedeutungsvollen Namen Ophélia317, zurechtweist, kommentiert der Erzähler die Geschichte wie folgt: „Si quelqu’un alors eût observé de près madame Delmare, il eût pu deviner, dans cette circonstante minime et vulgaire de sa vie privée, le secret douloureux de sa vie entière.“ Infolge dieser Ankündigung wird erzählt, wie Indiana ihren Mann bittet, den Hund nicht zu töten, was dem Leser freilich als übertriebene Angst erscheinen muss. Die Reaktion Delmares bestätigt allerdings ihre Notwendigkeit, da er sich darüber ärgert, von seiner Frau daran erinnert zu werden, einen Jagdhund im Zorn erschossen zu haben. Seine Frau wendet ein, ihm keinen Vorwurf machen zu wollen; die Art, in der sie dies tut, verdeutlicht wiederum ihre charakterliche Disposition wie auch die Verfassung ihrer Ehe. Demgemäß antwortet sie Delmare „avec cette douceur qu’on a par générosité avec les gens qu’on aime, et par ègard pour soi-même avex ceux qu’on n’aime pas.“ Damit ist die Ausgangssituation der Protagonistin hinreichend erklärt: Allein im Zuge des ersten Kapitels erhält der Leser darüber Aufschluss, dass Indiana ihren Gatten nicht liebt und unter ihrer Ehe leidet, immerhin hält Delmare ihr

314 Sand: Indiana, S. 23. 315 Ebd., S. 23f. 316 Ebd., S. 25. 317 Mittels des Namens Ophélia deutet Sand bereits im ersten Kapitel auf das mehrfach im Roman auftauchende Motiv der sich ertränkenden Frau hin. Neben der Dienerin Noun, die so den Tod findet, versucht auch die Protagonistin dem literarischen Vorbild Shakespeares zu folgen. Dabei verdeutlicht sich die Schicksalhaftigkeit der Namensgebung vor allem an zwei Punkten der Handlung: Während Ophélias Gebell als erstes Zeichen der Rettung zu Indiana durchdringt, als diese in einem tranceähnlichen Zustand im Begriff ist, sich in der Seine das Leben zu nehmen (Vgl. ebd., S. 220), erweist sich das Element des Wassers ein weiteres Mal als fatal, indem der Hund selbst im Meer vor der Île Boubon ertrinkt (Vgl. ebd., S. 284).



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die zweifellos vom Kummer verursachten roten Augen vor.318 Wie es sich dagegen mit Delmares Empfindungen gegenüber seiner jungen Frau verhält, wird erst im weiteren Handlungsverlauf geklärt. Während seine Eifersucht direkt in den folgenden Kapiteln illustriert wird – so hält er Raymon, der in den Park der Delmares einbricht, augenblicklich für einen Verehrer seiner Frau – werden seine eigentlichen Erwartungen an die Ehe erst im vierten und letzten Part des Romans offen gelegt. Trop affaibli par l’âge et les fatigues pour aspirer à dévenir père de famille, il était resté vieux garçon dans son ménage, et il avait pris une femme comme il eût pris une gouvernante. Ce n’était donc pas par tendresse pour elle qu’il lui pardonnait de ne l’aimer pas, c’était par intérêt pour lui-même; et s’il s’affligeait de ne pas régner sur ses affections, c’était parce qu’il craignait d’être moins bien soigné sur ses vieux jours.319

Diese Innensicht Delmares weist auf eben den Vergleich hin, den Indiana selbst zuvor im Handlungsverlauf gezogen hat, dass nämlich ihr Status als Ehefrau dem einer Sklavin gleicht. Dennoch behauptet die Protagonistin sich gegenüber ihrem Unterdrücker: Je sais que je suis l’esclave et vous le seigneur. La loi de ce pays vous a fait mon maître. Vous pouvez lier mon corps, garrotter mes mains, gouverner mes actions. Vous avait le droit du plus fort, et la société vous le confirme; mais sur ma volonté, moinsieur, vous ne pouvez rien, Dieu seul peut la courber et la réduire. Cherchez donc une loi, un chacot, un instrument de supplice qui vous donne prise sur elle! C’est comme si vous vouliez manier l’air et saisir le vide.320

Damit formuliert Indiana genau das, was erzieherische Texte als größte Gefahr der herrschenden Geschlechterordnung einstufen und folglich aus den Köpfen der Frauen zu bannen suchen. Auch Julie Burow hat den Vergleich zur Knechtschaft unternommen, indem sie eine Ehe ohne Zuneigung und gegenseitige Anerkennung als „furchtbarste aller Sklavenarbeiten“321 bezeichnete. Umso vehementer argumentierte sie zugunsten der Rhetorik des ‚Liebesdienstes‘, um ihre Zöglinge auf den ihnen zugedachten Platz im Haus zu verweisen. Da sich Liebe für Indiana im Kontext ihrer Ehe auf keinen Fall verwirklichen lässt, muss sie ihre Bindung

318 In diesem Zusammenhang heißt es. „Eh! ne vous vois-je pas sans cesse les yeux rouges!“ Indiana verteidigt sich, indem sie darauf beharrt, niemals vor den Augen des Gatten zu weinen. Vgl. ebd., S. 30. 319 Ebd., S. 271. 320 Ebd., S. 225. 321 Burow: Herzensworte, S. 115.

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zwangsläufig als Versklavung erleben, insoweit würden pädagogische Schriften der Autorin George Sand zweifellos Recht geben. Allerdings fordern AutorInnen wie Burow in der Konsequenz von der (Ehe‑)Frau, sie müsse sich unbedingt in ihr Schicksal fügen und dem Gatten umso mehr Respekt zollen, als sie auch ohne Liebe ihre Stellung im Haushalt gebührend erfüllen muss. George Sand stimmt dem oberflächlich zu, indem sie ihre Heldin dem Unterdrücker mit Sanftmut (douceur) entgegentreten lässt, allerdings eröffnet sie Indiana gleichsam die Möglichkeit, sich außerhalb der Ehe als Liebende zu verwirklichen. In der Tat hat es zunächst den Anschein, als fände Indiana in ihrer Liebe zu Raymon de Ramière ihre wahre Bestimmung. In der Formulierung des Erzählers scheint es, als habe die Heldin bereits ihr ganzes Leben auf Raymon gewartet: „[E]lle n’avait pas encore aimé, et son cœur était depuis longetemps mûr pour un sentiment que n’avait pu lui inspirer aucun des hommes qu’elle avait rencontrés.“322 Offensichtlich rekurriert Sand auf Bilder von Frigidität, indem sie Indianas emotionale Jungfräulichkeit metaphorisch als „Eisatmosphäre“ beschreibt, die der Liebhaber zu durchdringen hat. Madame Delmare était vraiment malheureuse, et, la première fois qu’elle sentit dans son atmosphère glacée pénétrer le souffle embrasé d’un homme jeune et ardent, la première fois qu’une parole tendre et caressante enivra son oreille, et qu’une bouche frémissante vint comme un fer rouge marquer sa main, elle ne pensa ni aux devoirs qu’on lui avait imposés, ni à la prudence qu’on lui avait recommandée, ni à l’avenir qu’on lui a prédit“323.

In Form der rhetorischen Frage stellt der Erzähler schließlich fest, dass Indiana durchaus die geschaffene Liebende darstellt: „N’était-elle pas née pour l’aimer, cette femme esclave qui n’attendiat qu’un signe pour briser sa chaîne, qu’un mot pour le suivre?“324 Allerdings wird im Verlauf ihrer Liebschaft mit Raymon deutlich, dass diese Beziehung für Indiana keineswegs eine Befreiung bedeutet, vielmehr tauscht sie lediglich einen Tyrannen gegen den anderen aus. Zwar ist es Raymon, der sich wiederholt als Sklave seiner Liebe bezeichnet, allerdings passt er sich mit diesem Wortgebrauch lediglich dem Code des amour passion an. Tatsächlich geht einem seiner devotesten Briefe an Indiana die erzählerische Bemerkung voran, seine Liebe habe bereits bedeutend abgenommen.325 Einzig in der Absicht, das Ziel seiner Verführungskunst zu erreichen, bedient sich Raymon also der Metapher des Sklaven, wenn er schreibt: „A présent, ordonne, Indiana!

322 Sand: Indiana, S. 68. 323 Ebd., S. 71. 324 Ebd. 325 Vgl., ebd. S. 190.



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je suis ton esclave, tu le sais bien.“326 Dabei ist das vertrauliche Du ebenfalls dem Code der leidenschaftlichen Liebe geschuldet, mit Hilfe dessen der Verführer die Protagonistin bezwingen will. Der Leser weiß zu diesem Zeitpunkt bereits von Raymons erkalteten Gefühlen sowie von dem eigentlichen Machtverhältnis zwischen den Liebenden. Aus Ärger über Indianas Widerstand will Raymon sich letztlich Indiana gegenüber als Herr positionieren: Alors il jura, dans son dépit, qu’il triompherait d’elle; il ne le jura plus pas orgueil, mais par vengeance. Il ne s’agissait plus pour lui de conquérir un bonheur, mais de punir un affront; de posséder une femme, mais de la réduire. Il jura qu’il serait son maître, ne fût-ce qu’un jour, et qu’ensuite til l’abandonnerait pour avoir le plaisir de la voir à ses pieds.327

Dieses Ziel erfüllt sich schließlich: Indiana wirft sich ihrem Geliebten tatsächlich zu Füßen, einmal im übertragenen und einmal im wörtlichen Sinne. Nachdem sie Raymon angeboten hat, als Geliebte an seiner Seite zu leben und damit bewusst die gesellschaftliche Ächtung in Kauf nimmt, unterwirft sich Indiana ein weiteres Mal dem Willen ihres Verführers. Obwohl sie bereits einmal von Raymon zurückgewiesen wurde – de facto holt dieser seine Mutter zur Hilfe, um Indiana zur Rückkehr ins Haus ihres Gatten zu überreden – kehrt die Protagonistin Delmare noch einmal den Rücken, um dem Ruf des Liebhabers zu folgen. Aus einer Laune heraus stiftet Raymon Indiana zur Flucht von der Île Bourbon an, woraufhin die Protagonistin die beschwerliche Reise zurück nach Frankreich unternimmt, um sich endlich ihrem selbstgewählten Herren zu unterwerfen: Tu m’attendais! s’écria-t-elle en tombant sur ses genoux et en appuyant sa tête défaillante sur le sein de Raymon [...]. Reconnais-mois, donc, s’écria-t-elle; c’est moi, c’est ton Indiana, c’est ton esclave que tu as rappelée de l’exil et qui est venue de trois mille lieues pour t’aimer et te servir; c’est la compagne de ton choix qui a tout quitté, tout risqué, tout bravé pour t’apporter cet instant de joie!328

Die Kompromisslosigkeit ihrer Leidenschaft wird umso deutlicher, als Indiana jeglichen Lebenswillen verliert, sobald sie die eigene Täuschung erkennt und sich Raymons Frau gegenübersieht. Während Indiana dem tyrannischen Ehemann gegenüber zumindest ihren freien Willen und freien Geist behauptet, verschreibt sie sich dem Geliebten ganz und gar.

326 Ebd., S. 192. 327 Ebd., S. 191. 328 Ebd., S. 300f.

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Damit zeigt George Sand zwei Paradigmen der Versklavung auf, zum einen ein fremdbestimmtes und zum anderen ein selbstgewähltes. Die Protagonistin muss ihre Ehe als eine ihr von der Gesellschaft aufoktroyierte Form der Knechtung akzeptieren, innerhalb derer sie indes frei über ihr Innerstes bestimmen kann. Dagegen ist sie bereit, sich dem Herrn ihrer Gefühlswelt, Raymon, vollständig auszuliefern und ihm ihre gesamte Existenz zu opfern. Dieser Zusammenhang führt Gislinde Seybert zu der Aussage, ausschließlich für Delmare sei Indiana Sklavin, für Raymon stelle sie vielmehr ein Opfer dar.329 Für diese Zuschreibung spricht auch der Umstand, dass die Protagonistin im Zusammenhang ihrer Ehe durchaus ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeit ihrer Lage entwickelt, wohingegen sie in die „Sklaverei der Liebe“ jedoch ohne darüber zu reflektieren einwilligt.330 In der Liebe, das bestätigt auch Gisela Schlientz, liegt für Sands Heldinnen eine weitaus größere Gefahr als in der fremdbestimmten Versklavung: „Die Zerstörung, das Dahinschwinden beginnt erst, wenn sie lieben. Was der Tyrann nicht vermag, gelingt dem Verführer, dem Schmeichler mit der Beredsamkeit der Begierde, mit der erotischen Perfidie, die wegwirft, was sie genossen hat.“331 Damit entlarvt George Sand die leidenschaftliche Liebe als eine Form der Rhetorik, die ebenso wie die Institution der Ehe darauf abzielt, Frauen in den ‚Liebesdienst‘ zu stellen und somit letztlich die männliche Vorherrschaft zu sichern. Egal, ob in oder außerhalb gesellschaftlich akzeptierter Liebesformen, die Frau bleibt stets die Dienende. Sie ist niemals Nutznießerin ihrer Beziehungen, sondern ist vom Diskurs dazu bestimmt, sich ausschließlich in der Selbstentsagung zu realisieren. Dass sich weibliche Leidenschaftlichkeit demnach maßgeblich von der männlichen unterscheidet, wird der folgende Abschnitt ausführen.

329 Vgl. Gislinde Seybert: Die unmögliche Emanzipation der Gefühle. Literatursoziologische und psychoanalytische Untersuchungen zu George Sand und Balzac, Frankfurt/M.: MaterialisVerlag 1982, S. 52. 330 Auf diesen Zusammenhang weist auch Kerstin Wiedemann hin. Vgl. Kerstin Wiedemann: „Gefangene von Eros und Macht. Sexualität und weibliche Identität in George Sands Indiana (1832) und Verarbeitungen bei Ida Hahn-Hahn und Louise Aston“, in: Emancipation des Fleisches. Erotik und Sexualität im Vormärz, Bielefeld: Aisthesis 1999 (= Forum Vormärz Forschung, Bd. 5), S. 129. 331 Gisela Schlientz: „Ich liebe, also bin ich“. Leben und Werk von George Sand, München: Beck 1989, S. 61.



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4.4.2 Männliche Leidenschaft – Weibliche Leidenschaft Der strukturelle Verlauf der Beziehung zwischen Indiana und Raymon de Ramière lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven verfolgen, der männlichen und der weiblichen, wobei die jeweiligen Konzeptionen von Leidenschaft deutlich als divergierend hervortreten. Wie bereits angedeutet, trägt Raymon nur vordergründig eine leidenschaftliche Liebe zur Schau. Er widmet sich der Passion keinesfalls mit derselben Ausschließlichkeit wie Indiana, stattdessen misst er den Platz, den amouröse Abenteuer in seinem Lebenszusammenhang einnehmen, streng ab. Dass Raymon Liebe als konventionalisiertes und ritualisiertes Spiel seiner Gesellschaftsklasse begreift, verdeutlicht der Erzähler durch einen Hinweis auf die erotische Vergangenheit des prospektiven Verführers. Dabei wird diesem der Anschein eines dem amour passion machtlos gegenüberstehenden Liebenden angeheftet: „[M]ais Raymon avait fait par amour ce qu’on appelle des folies: il avait enlevé une jeune personne bien née; il avait compromis des femmes établis très haut; il avait eu trois duels éclatants; il avait laissé voir à tout un rout, à toute une salle de spectacle, le désordre de son cœur et le délire de ses pensées.“332 Offensichtlich tritt Raymon also nicht zum ersten Mal als Verführer in Aktion, sein angedeuteter Erfahrungsschatz, vor allem aber die verblüffende Anzahl dreier Duelle weisen auf einen gewohnheitsmäßigen Habitus des Frauenhelden hin. Demgemäß wird Raymon nicht als Verehrer Indianas in die Handlung eingeführt, sondern als der Liebhaber Nouns, der Dienerin der Protagonistin. Da Noun, wie im Folgenden noch auszuführen sein wird, als Spiegelbild Indianas gelten kann, erhält der Leser bereits im Zuge der ersten Kapitel Aufschluss über die kommende Entwicklung seiner Beziehung zu der Protagonistin. Beim Leser wird zunächst insofern Sympathie für Raymon geweckt, als der Erzähler ihn als gefühlsbeherrschtes Opfer seiner Leidenschaften einführt: „C’était un homme à principes quand il raisonnait avec lui-même; mais de fougueuses passions l’entraînaient souvent hors de ses systèmes. Alors il n’était plus capable de réfléchir, ou bien il évitait de se traduir au tribunal de sa conscience“.333 Somit wird sogleich einer Erklärung von Raymons Sinneswandel bezüglich Noun und Indiana Vorschub geleistet: Als „Sklave seiner Leidenschaft“ trifft Raymon keine Schuld für seine Untreue. Zudem wird zwischen Liebe und einfacher Verliebtheit unterschieden, um seine Ausschweifungen zu rechtfertigen. Dementsprechend heißt es über Raymons Gefühle für Noun, er sei nur verliebt gewesen: „amoureux

332 Sand: Indiana, S. 63. 333 Ebd., S. 49.

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et rien de plus“334. Das Verhältnis Raymons zur Protagonistin stellt sich dagegen komplexer dar, so ist dem Liebhaber bewusst, dass er Madame Delmares Ehre wesentlich mehr Achtung schuldig ist als ihrer Dienerin Noun. Folglich ist es eine vollkommen andere Liebe, die er für Indiana empfindet: „Il avait aimé Noun avec les sens; il aimait madame Delmare de toute son âme.“335 Augenscheinlich respektiert Raymon Indianas Tugendhaftigkeit zunächst und begnügt sich mit stiller Anbetung, nachdem er sich zumindest die Position eines ständigen Gasts im Hause der Delmares sichern konnte. In dem Moment allerdings, in dem Indiana ihn mit seiner Schuld an Nouns Selbstmord konfrontiert, sinkt die Geliebte in seiner Achtung und mit ihr der Respekt für ihre Tugend. Angesichts Indianas beständigem Widerstand bestätigt sich einmal mehr die impulsive Natur von Raymons Gefühlshaushalt: „De ce moment, il ne l’aima plus. Elle avait froissé son amour-propre; elle avait deçu l’espoir d’un de ses triomphes, déjoué l’attente d’un de ses plaisirs. Pour lui, elle n’était même plus ce qu’avait été Noun.“336 Diese Veränderung seiner Haltung hält Raymon jedoch nicht von weiteren Verführungsversuchen ab. Wie bereits angeführt, macht Raymon es sich aus Zorn über die Geliebte zum Ziel, ihren Widerstand um des Siegens willen zu brechen. Fortan verschreibt Raymon sich weniger der Leidenschaft selbst, als vielmehr einer Sprache der Leidenschaft, dem Code des amour passion. Wie der Erzählerkommentar zuvor bereits bestätigte, spielt Sprache als Medium des Gefühls ohnehin eine außerordentliche Rolle für Raymon: „Seulement, ce n’était pas la passion qui le rendait éloquent, c’était l’éloquence qui le rendait passioné.“337 Im Sinne also eines intendiert eingesetzten Codes gebraucht Raymon in der Auseinandersetzung mit der Protagonistin ganz bewusst die verschiedenen Anredeformen. Besonders deutlich tritt dieser Sprachgebrauch zutage, als Indiana ihren Mann vor der Abreise auf die Île Bourbon kurzfristig verlässt, um Schutz bei ihrem Geliebten zu suchen. Raymon, der Indianas „importun dévouement“338 bereits überdrüssig ist, verlegt sich auf Schmeicheleien, um die Protagonistin letztlich doch zu verführen: „Tu as raison, mon Indiana, s’ecria-t-il avec feu, tu me rend à moi-même, tu réveilles mes transports, que l’idée de tes dangers et la crainte de te nuire avaient glacés. Pardonne à ma puérile sollicitude et comprends tout ce qu’elle renferme de tendresse et de véritable amour.“339 Das vertrauliche Du soll

334 Ebd., S. 50. 335 Ebd., S. 80. 336 Ebd., S. 191. 337 Ebd., S. 62. 338 Ebd., S. 212. 339 Ebd.



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der Protagonistin hier signalisieren, sie werde als sie selbst, als Indiana, wahrgenommen, nicht als Tochter oder Ehefrau.340 Als Indiana die folgenden Annäherungsversuche jedoch abwehrt, sieht Raymon sich gezwungen, den Code aufzugeben. Da er sein Ziel offensichtlich nicht erreichen kann, wechselt er wiederum zum vous über: „Allons, madame, il est temps de vous retirer.“341 Wie sich zeigt, trägt Raymons Leidenschaft grundsätzlich seiner Eigenliebe Rechnung: So lange er sich von Indiana bedingungslos geliebt wähnt, liebt er auch sie. In dem Moment jedoch, in dem er ihren Widerstand als zu groß erkennt, ist er ihrer bereits überdrüssig. So ist es also einerseits Langeweile aber auch Frustration über ihre Standhaftigkeit, die ihn dazu bringt, Indiana zurückzuweisen. Dabei kommt Raymon freilich die Gelegenheit zur Hilfe, schließlich hat Delmare ohnehin den Beschluss gefasst, mit seiner Frau zurück in die Kolonien zu gehen. Eben dieser amour-propre ist es schließlich auch, der Raymon dazu veranlasst, Indiana zurückzurufen. Wie bereits in seiner Einführung betont wird, handelt es sich bei Raymon de Ramière keineswegs um den klassischen Libertin, der seine Eroberungen kalt regulierend inszeniert.342 Sands Verführer geht nicht per se skrupellos vor, allerdings handelt er dennoch rücksichtslos, insofern er ausschließlich die eigenen Launen befriedigt. Wie der Erzähler erklärt, trifft Raymon selbst dafür keine Schuld, seine charakterlichen Mängel werden der übergroßen Nachsicht seiner Mutter zugeschrieben. Sa [madame de Ramières] vie s’était flétrie et usée de tiout ce que la vie de Raymon avait acquis et recouvré. Le caractère de ce fils impétueux et frois, raisonneur et passioné, était une conséquence de son inépuisable amour et de sa tendresse généreuse pour lui. Il eût été meilleur avec une mère moins bonne; mais elle l’avait habitué à profiter de tous les sacrifices qu’elle consentait à lui faire343.

Was Raymon maßgeblich vom libertinen Verführer à la Richardson unterscheidet, ist seine Selbstwahrnehmung, denn während Lovelace und auch La Roches Lord Derby sich die eigene moralische Verworfenheit durchaus bewusst machen, wirft sich Sands Verführer nichts vor. Infolge des Todes seiner Mutter erlebt Raymon einen Anfall von Selbstmitleid und bedeutet Indiana in einem Brief, zu

340 John Booker weist darauf hin, dass Raymon es in seinem bewussten Gebrauch des Dus Flauberts Rodolphe gleichtut, der Emma Bovary ebenfalls die Wertschätzung ihrer eigenen Person bedeutet, indem er sie duzt. Vgl. John T. Booker: „Indiana and Madame Bovary: Intertextual Echoes“, in: Nineteenth-Century French Studies 31 (2003), H. 3 u. 4, S. 228. 341 Sand: Indiana, S. 214. 342 In der Tat heißt es zu der Person Raymons: „M. de Ramière n’était pourtant ni un fat ni un libertin.“ Ebd., S. 49. 343 Ebd., S 216.

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ihm zurückzukehren. Während der Wartezeit vergisst er diese Laune jedoch, um stattdessen einer anderen nachzukommen. Dass Raymon nach seiner Hochzeit ob der Möglichkeit, Indiana könne seinem Ruf doch noch folgen, ein schlechtes Gewissen plagt, verdeutlicht schon die Notwendigkeit, mit der er sich vor sich selbst rechtfertigt. Entsprechend seiner Bequemlichkeit gelingt es Raymon indes schnell, sich vor sich selbst zu entlasten: „[E]nfin il réussit à s’abuser luimême et à ne se pas croire coupable, car Raymon eût eu en horreur de se trouver égoïste. Il n’était pas de ces scélérats ingénus qui viennent sur la scène faire à leur propre cœur la naïve confession de leurs vices.“344 In seiner Selbstsucht übertrifft Raymon letztlich den Prototyp des skrupellosen Libertins: Während Lovelace seine Aufrichtigkeit insofern unter Beweis stellt, als er zumindest Belford gegenüber stets mit offenen Karten spielt und sich seine Schuld an Clarissas Tod unumwunden eingesteht, gibt sich Raymon durchweg der Selbsttäuschung hin. Mit seinem Egoismus trägt er nicht nur zum Tod Nouns bei, sondern ruiniert auch Indianas (Ehe‑)Leben. Sein eigentliches Verbrechen, so scheint es, besteht allerdings in seiner Unfähigkeit, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. In seiner Frau, Laure de Nangy, findet Raymon nicht nur sein weibliches Pendant – wie er widmet sie sich der Liebe wie einem Spiel – sondern auch das komplette Gegenteil zu Indiana: „[E]lle faisait, en un mot, consister son héroïsme à échapper à l’amour, comme madame Delmare mettait le sien à s’y livrer.“345 In der Tat liefert sich Sands Titelheldin ihrer Liebe bedingungslos aus. Wie oben erörtert, scheint es, als habe Indiana nur auf den richtigen Zeitpunkt bzw. den richtigen Mann gewartet, um sich vollends der Liebe hinzugeben. Dabei beweist die als schwach und blass beschriebene Protagonistin außerordentliche Entschlossenheit, vor der Raymon nicht umsonst zurückschreckt. Die Liebe, so argumentiert George Sand, erfordert von der Frau wesentlich größeren Mut als vom Mann, schließlich setzt sie ihr gesamtes Dasein aufs Spiel. Der Protagonistin ist die ungleiche Verteilung der Einsätze durchaus bewusst, so fordert sie Raymon zu gleicher Hingabe auf: Je n’ai pas besoin d’hommages, mais d’affection. Il faut m’aimer sans partage, sans retour, sans réserve, il faut être prêt à me sacrifier tout, fortune, réputation, devoir, affaires, principes, famille; tout, monsieur, parce que je mettrai le même dévouement dans la balance et que je la veux égale. Vous voyez bien que vous ne pouvez pas m’aimer ainsi!346

344 Ebd., S. 292. 345 Ebd., S. 293. 346 Ebd. S., 136.



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Obwohl Indiana die Tragweite ihrer Entscheidungen abzumessen scheint, begegnet sie Raymon mit einer vollkommen unschuldigen Liebe. Den Ehebruch zieht sie tatsächlich nicht in Betracht und zwar aus Rücksicht auf den Geliebten und die Folgen, die ein Bekanntwerden ihrer Affäre für ihn haben könnte. Der Erzähler bewertet diese Haltung Indianas als Naivität: „Elle connaissait si peu la société, qu’elle se faisait de la vie un roman tragique; timide créature qui n’osait aimer, dans la crainte d’exposer son amant à périr, elle ne songeait nullement au danger de se perdre.“347 Dieselbe reine Liebe, mit der Indiana sich begnügt, erwartet sie auch von Raymon, dem sie schreibt, sie wolle eher sterben, als zu seiner „maîtresse“348 herabzusinken. Stattdessen will sie mehr für ihn sein: „[D]ites, voulez-vous renoncer à m’aimer de la sorte? Moi qui vous aime avec le cœur, j’ai cru jusqu’ici que je pourrais vous inspirer un amour aussi pur que le mien.“349 Angesichts der Liebeskonzeption Indianas, die sich als entsexualisiert beschreiben lässt – wie Raymon bedauert, genügen ihr bereits Blicke und Gesten – überrascht die Konsequenz, mit der sich die Protagonistin ihrer Liebe verschreibt. Die Begründung dafür ist in Indianas Hingabebereitschaft zu suchen: In der Liebe ist sie letztlich selbstlos. Obwohl sie weiß, dass der Geliebte ihr nicht dieselbe Hingabe entgegenbringen kann, ist sie bereit, ihm alles zu opfern. Am eindringlichsten offenbart sich die Entschlossenheit und Willensstärke der Protagonistin anhand der Jagdszene. An einer von Ralph ausgerichteten Jagd nehmen auch Raymon und Indiana teil, die dem Geliebten in männlicher Reitkleidung gegenübertritt. Ihr androgyner Aufzug übt offensichtlich eine belebende Wirkung auf sie aus: „En descendant sous le péristyle, Raymon vit madame Delmare en amazone, jouant gaiement avec Ophélia, qui déchirait son mouchoir de batiste. Ses joues avaienr retrouvé une légère teinte purpurine, ses yeux brillaient d’un éclat longtemps perdu.“350 Eine Steigerung erfährt diese Erscheinung Indianas in Raymons Augen, als er sie beim Reiten sieht: Lorsque les limiers furent lancées, Raymon s’étonna de ce qui semblait se passee dans l’âme de Indiana. Ses yeux et ses joues s’animèrent; le gonflement de ses narines trahit je ne sais quel sentiment de terreur ou de plaisir [...]. Il [Raymon] ne se doutait pas non plus que, dans cette femme si frêle et en apparence si timide, résidât un courage plus que masculin, cette sorte d’intrépidité délirante qui se manifeste parfois comme une crise nerveuse chez les êtres les plus faibles.351

347 Ebd. S., 71f. 348 Ebd. S., 191. 349 Ebd. S., 190. 350 Ebd., S. 141. 351 Ebd., S. 150.

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Angesichts dieses Ausbruchs von Leidenschaft schreckt Raymon vor Indiana zurück: Raymon fut effrayé de la voir courir ainsi, se livrant sans peur à la fougue de ce cheval qu’elle connaissait à peine [...]. Tant de résolution l’effraya et faillit le dégoûter madame Delmare. Les hommes, et les amants surtout, ont la fatuité innocente de vouloir protéger la faiblesse plutôt que d’admirer le courage chez les femmes. L’avouerai-je? Raymon se sentit épouvanté de tout ce qu’un esprit si intrépide promettait de hardiesse et de ténacité en amour. Ce n’était pas le cœur résigné de la pauvre Noun352.

Raymons Befürchtungen ob dieser Entschlossenheit bewahrheiten sich schließlich: Indiana beweist in ihrer Liebe zu ihm dieselbe Unerschrockenheit und zeigt die Bereitschaft, ihre gesamte Existenz für den Geliebten aufzugeben. Kurz vor der Abreise der Delmares auf die Île Bourbon flüchtet sich die Protagonistin zu dem ahnungslosen Raymon, dabei ist ihr die Bedeutung ihres Schrittes durchaus bewusst. A l’heure qu’il est, Raymon, je suis déshonorée. En votre absence, j’ai compté à cette pendule les heures qui consommaient mon opprobre; et maintenant, quoique le jour naissant trouve mon front aussi pur qu’il était hier, je suis une femme perdue dans l’opinion publique. Hier, il y avait encore de la compassion pour moi dans le cœur des femmes; aujourd’hui, il n’y a aura plus que de mépris. J’ai pesé tout cela avant d’agir.353

Indianas Courage erschreckt Raymon abermals so sehr, dass er in ihrem Handeln ausschließlich romanhafte Vorstellungen zu sehen meint: „Vous êtes une folle! [...] Où avez-vous rêvé l’amour? dans quel roman à l’usage des femmes de chambre avez-vous étudié la société, je vous prie?“354 Raymon hält Indianas Verhalten für naiv, tatsächlich ist es aber kaltblütiger als er meint, entsprechend weiß die Protagonistin bereits vor ihrem Überraschungsbesuch bei Raymon, was sie im Falle einer Zurückweisung zu tun gedenkt. „Elle y pensait souvent; elle se disait que, si Raymon la traitait comme Noun, il ne lui resterait plus d’autres ressource, pour échapper à un avenir insupportable, que de rejoindre Noun.“355 Indem Indiana also in der Folge von Raymons Zurückweisung auf direktem Wege einen Suizidversuch unternimmt, bezeugt sie erneut die Intensität ihrer Leidenschaft. Diese Handlung der Protagonistin ist nicht etwa als Trotzreaktion zu bewerten, sondern als natürliche Folge der enttäuschten

352 Ebd., S. 151. 353 Ebd., S. 211. 354 Ebd., S. 210. 355 Ebd,. S. 205.



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Liebe. Offenbar hat Indiana zu diesem Zeitpunkt gar keine Kontrolle mehr über ihr Handeln, mechanisch gibt sie sich ihrem Leid hin: „[E]lle marchait, se rapprochant toujours de la rive, obéissant à l’instinct du malheur et au magnétisme de la souffrance.“356 Letztlich ist es Ralph, der Indiana, die mit den Füßen bereits in der Seine steht, aus ihrem Schlafwandel in die Gegenwart zurückholt und damit vor dem Tod bewahrt. Ironischerweise folgt auf die Darstellung von Indianas Verstörtheit, wobei mehrfach von ihren nassen, kalten Füßen die Rede ist – sie selbst meint sie im Kies zurückgelassen zu haben357 – die Beschreibung von Raymons häuslicher Bequemlichkeit: „Madame Ramière, en rentrant chez elle vers le soir, trouva Raymon, qui chauffait voluptueusement ses pieds enveloppés de pantoufles de cachemire, et qui prenait du thé pour achever de dissiper les agitations nerveuses de la matinée.“358 Dieses Bild von Raymon in seinen Kaschmirpantoffeln im Gegensatz zu der geistig verwirrten Indiana, die ihre erkalteten Füße gar nicht mehr wahrnimmt, weist in pointierter Weise auf den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Leidenschaft hin: Während die Liebe für Raymon lediglich einen Zeitvertreib darstellt, der seinen Lebenswandel im Ganzen nicht beeinflusst, bedeutet sie für Indiana ein Spiel auf Leben und Tod. Da die Frau mit ihrem Ansehen ihre gesamte Existenz riskiert, verlangt die Liebe von ihr mehr Mut als vom männlichen Geschlecht. Diesen Unterschied benennt auch der Erzähler: „Les femmes“, so heißt es, „ont rarement le courage physique qui constiste à lutter d’inertie contre la douleur ou le danger; mais elles ont souvent le courage moral qui s’exalte avec le péril ou la souffrance“359 Wie Wingård Vareille konstatiert, ist der weibliche Mut dem männlichen laut Sand überlegen, insofern Frauen in der Liebe die Kraft finden, sich der Gesellschaft entgegenzustellen, wohingegen die Männer des Romans die sozialen Setzungen nicht angreifen.360 Die männliche Leidenschaft, wie Raymon sie illustriert, ist im eigentlichen Sinne keine Leidenschaft, schließlich macht der Held sich ausschließlich eine entsprechende Sprache zu eigen. Er unterwirft nicht sich seiner Passion, sondern die Passion seinen Launen. Zwar gefällt sich Raymon in der Position des leidenschaftlich Liebenden, allerdings bleibt er damit stets einer Rolle verhaftet. Indiana verschreibt sich hingegen voll und ganz dem Konzept des amour passion, dabei geht es ihr nicht um den körperlichen Vollzug ihrer Liebe, sondern um ein reines, entsexualisiertes Konzept,

356 Ebd., S. 220. 357 Vgl. ebd., S. 221. 358 Ebd., S. 231. 359 Ebd., S. 150. 360 Vgl. Wingård Vareille: Socialité, sexualité et les impasses de l’histoire, S. 31.

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das die Seele beherrscht. Die Entschlossenheit, mit der die Protagonistin bereit ist, alles für den Geliebten zu opfern, zeugt allerdings auch von den Gefahren der Liebe. Zwar verleiht sie den Frauen außerordentlichen Mut, zugleich macht sie sie jedoch äußerst angreifbar.361 Die Konsequenzen, die sich aus der leidenschaftlichen Liebe für Frauen ergeben, verdeutlicht ein Nebenzweig der Handlung, der die Geschichte von Indianas Dienerin Noun als Parallelebene zum Schicksal der Protagonistin erzählt.

4.4.3 Noun und die negative Handlungshypothese Nicht nur in ihrem Erstlingsroman greift George Sand auf Nebenfiguren zur Doppelung ihres Handlungspersonals zurück, das konstatiert auch Gisela Schlientz: „Immer wieder, und vor allem in den frühen Romanen von Sand, treten Doppelgänger auf, in denen die Autorin Energien, die in ihr selbst im Streit miteinander lagen, freisetzt. In diesem Spiegelspiel dienen die Figuren als Mittel, als Medium zur Erweiterung ihres Selbst, ohne daß eine Identifikation möglich wäre. Zwischen beiden bestehen, trotz der unterschiedlichen sozialen Positionen, geheime Verwandtschaften, die sich oft als Blutsverwandtschaften enthüllen.“362 Im Falle von Indiana und ihrer Dienerin Noun, die ebenfalls Kreolin ist, handelt es sich um Milchschwestern. Die beiden Frauen sind gemeinsam auf der Île Bourbon aufgewachsen und bis zu dem Zeitpunkt, als die Protagonistin Raymon begegnet, ist Noun das Wesen, das sie am meisten liebte, „la compagne enjouée et courageuse de ses ennuis“363. Vor allem das Attribut der Fröhlichkeit charakterisiert die Figur Nouns und kennzeichnet sie als leichtfertiges Double Indianas. Dementsprechend tritt die Differenz zwischen den beiden Frauen anhand ihrer jeweiligen Beziehung zu Raymon de Ramière zutage, dessen Sinne wie bereits beschrieben von Noun angesprochen und befriedigt werden. Die Unterscheidung Raymons zwischen der Liebe, die er für Indiana zu empfinden meint, und der Verliebtheit, die ihn an Noun bindet, entspricht seinem Standesbewusstsein. Als Noun parallel zu den Liebesbeweisen Indianas dem Liebhaber ihren Ruf opfern will, bewertet Raymon dieses Angebot aufgrund von Nouns untergeordnetem Rang als

361 Dies bestätigt auch Wingård Vareille. Vgl. Ebd., S. 32. 362 Schlientz: „Ich liebe, also bin ich“, S. 54. Anstelle des eng definierten Doppelgänger-Begriffs erscheint mir hier wie schon in Hinblick Brontës Cathy der Term eines „Reflexionsdoubles“ angebrachter. 363 Sand: Indiana, S. 70. In der Tat heißt es an dieser Stelle ebenfalls: „L’être qu’elle avait le plus aimé jusque-là, c’était Noun“.



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Unverschämtheit: „[C]e courage avec lequel elle lui sacrifiait sa réputation, ce courage qui eût dû la faire aimer davantage, déplut à M. de Ramière. La femme d’un pair de France qui s’immolerait de la sorte serait une conquête précieuse; mais une femme de chambre! Ce qui est héroïsme chez l’une devient effronterie chez l’autre.“364 Zwischen Indiana und ihrer Dienerin trifft Raymon eine äußerst strenge Unterscheidung: „Pour lui une grisette n’était pas une femme“365. Diese Haltung ist seiner Erziehung geschuldet, wie der Erzähler betont. Folglich trifft Raymon auch keine Schuld für seine Untreue gegenüber Noun: Que voulez-vous! Raymon était un homme de mœurs élégantes, de vie recherchée, d’amour poétique. [...] Tout cela n’était pas la faute de Raymon; on l’avait élevé pour le monde, on avait dirigé toutes ses pensées vers un but élevé, on avait pétri toutes ses facultés pour un bonheur de prince, et c’était malgré lui que l’ardeur du sang l’avait entraîné dans de bourgeoises amours.366

Raymons Affäre mit Noun, der Grisette, ist für ihn, noch stärker als seine Liebesbeziehung zu Indiana, ein bloßes Abenteuer. Seit dem ersten Treffen mit ihr weiß er um die Endlichkeit dieser Beziehung, rechnet allerdings nicht mit der Courage, mit der Noun ebenso wie die Protagonistin ihre Liebe verteidigt. Noun kann durchaus als Indianas Reflexionsdouble gelten und stellt insgesamt eine irdischere Indiana dar: Ihre Schönheit ist lebensechter und auch ihre Ehre gestaltet sich weniger unantastbar. So heißt es über Noun, sie sei eigentlich schöner als ihre Herrin: „Noun, grande, forte, brillante de santé, vive, alerte, et pleine de sang créole ardent et passioné, effaçait de beaucoup, par sa beauté resplendissante, la beauté pâle et frêle de madame Delmare“367. Raymon allerdings nimmt Nouns Äußeres im Vergleich zu Indiana als mangelhaft wahr: „Elle avait de la grâce, mais de la grâce sans noblesse; elle était belle comme une femme et non comme une fée; elle appelait le plaisir et ne promettait pas la volupté.“368 Die Doublefunktion Nouns tritt besonders eklatant anhand einer nächtlichen Zusammenkunft zwischen ihr und Raymon zutage, zu der Noun ihren Liebhaber in Indianas Zimmer empfängt. Verursacht durch diese Räumlichkeiten, verschmelzen Noun und Indiana für Raymon zu einer Person: Peu à peu le souvenir vague et flottant d’Indiana vint se mêler à l’ivresse de Raymon. Les deux panneaux de glace qui se renvoyaient l’un à l’autre l’image de Noun jusqu’à l’infini

364 Ebd., S. 52. 365 Ebd. 366 Ebd. 367 Ebd., S. 36. 368 Ebd., S. 83.

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semblaient se peupler de mille fantômes. Il épiait dans le profondeur de cette double réverbération une forme plus d’deliée, et il lui semblait saisir, dans la dernière ombre vaporeuse et confuse que Noun y reflétait, la taille fine et souple de madame Delmare.369

Die Identifikation der Dienerin mit ihrer Herrin wird durch Noun selbst evoziert, indem sie Raymon in Indianas Kleidung gegenübertritt. Während sie jedoch nicht ahnt, dass Raymon eine andere in ihr sieht, gibt dieser sich der Illusion vollkommen hin: Raymon ne voyait d’elle que la robe d’Indiana. S’il baisait ses cheveux noirs, il croyait baiser les cheveux noirs d’Indiana. C’était Indiana qu’il voyait dans le nuage du punch que la main de Noun vait d’allumer; c’était elle qui l’appelait et qui lui souriait derrière ces blancs rideaux de mousseline; ce fut elle encore qu’il rêva sur cette couche modeste et sans tache, lorsque, succombant sous l’amour et le vin, il y entraîna sa créole échevelée.370

Aufgrund des sexuellen Vollzugs stellt die Episode um Noun die negative Handlungshypothese zum Schicksal der Protagonistin dar; sie illustriert, was hätte sein können. Während Indiana sich ihrem Verführer bis zuletzt verweigert, gewährt Noun ohne zu zögern. Mit derselben Entschlossenheit wie die Protagonistin liefert Noun sich ihrem Geliebten in emotionaler Hinsicht aus. Im Gegensatz allerdings zu Indiana durchschaut die Dienerin Raymon zuletzt. Als sie begreift, dass Raymons Liebe längst einer anderen gilt, wählt Noun mit dem Selbstmord denselben Ausweg wie später ihre Herrin, wobei es hier nicht beim Versuch bleibt. Aus der Perspektive des Lesers ist der Handlungszweig um Noun mit seinem tragischen Ausgang zwar als Warnsignal lesbar, nicht jedoch aus Sicht der Protagonistin. Nouns Tod beeinflusst das Handeln der Protagonistin nur indirekt. Da sie zunächst keine Kenntnis von der Affäre ihrer Dienerin hat, zieht Indiana nicht sofort Parallelen zwischen Nouns und ihrem eigenen Schicksal. Gleichwohl öffnet Nouns Tod Indiana die Augen für Raymons Charakter, denn er fällt mit ihrer Enttäuschung über ihren Verführer zusammen. Als die Protagonistin Raymon in ihrem Zimmer entdeckt, geht sie davon aus, seine Anwesenheit gälte ihr selbst und fühlt sich ob dieser vermeintlichen Anmaßung beleidigt. Enttäuscht über Raymons Vermessenheit und den Treuebruch ihrer Dienerin, die sie als Raymons Komplizin sieht, mischen sich Indianas Empfindungen: En pleurant ainsi sa compagne [Noun], Indiana pleurait aussi à l’insu d’elle-même, les illusions de trois jours, trois jours les plus beaux de sa vie, les seuls qu’elle eût vécus; car elle

369 Ebd., S. 86. 370 Ebd.



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avait aimé durant ces trois jours avec une passion que Raymon, eût-il été le plus présomptueux des hommes, n’eût jamais pu imaginer.371

Als Indiana später im Handlungsverlauf den wahren Grund von Nouns Selbstmord und Raymons Anteil daran entdeckt, hat sie sich bereits so weit ihrer Liebe verschrieben, dass sie das Warnsignal der negativen Handlungshypothese missachtet und den Geliebten von Schuldvorwürfen freispricht. In der Tat bleibt der Protagonistin angesichts Raymons reueloser Haltung keine andere Wahl, als das Geschehene buchstäblich zu verdrängen. Um den Geliebten nicht mit seiner Schuld zu konfrontieren und damit den Verlust seiner Liebe zu riskieren, bemüht sich Indiana, Noun aus ihrer beider Gedanken zu verbannen: „Je ne sais pas si vous êtes coupable, je ne veux pas le savoir; nous ne reveindrons jamais sur ce sujet, n’est-ce pas? Il nous fait trop de mal à tous deux; qu’il en soit donc question maintenant pour la dernière fois.“372 Wie oben dargestellt, bewirken Indianas Bemühungen das Gegenteil ihrer Intention: Anstatt sich Raymons Liebe zu sichern, erregt sie den Ärger des stolzen Liebhabers und verliert dessen Achtung. Dabei scheint die Protagonistin sich den Gefahren ihrer Leidenschaft durchaus bewusst zu sein. Ihr Bekenntnis Raymon gegenüber, sie habe dieses Leben der Leidenschaft, „cette vie orageuse“373, schließlich gewollt, zeugt von ihrer Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Setzungen sowie ihrer absoluten Identifikation mit dem Konzept der Liebe als Passion.

4.4.4 Passions vs. lois: Zwei antagonistische Weltentwürfe Leidenschaften und gesellschaftliche Setzungen, passions und lois, bilden in George Sands Indiana ein zentrales Oppositionsparadigma, das durchaus den Konflikt zwischen Verstand und Gefühl transportiert. Dass es sich dabei vorrangig um einen weiblichen Konflikt handelt, verdeutlichen erneut die Parallelen zwischen der Protagonistin und ihrer Dienerin Noun: Als Frauen sind sie den widerstreitenden Anforderungen von Leidenschaft und dem Gesetz wesentlich stärker unterworfen als das männliche Handlungspersonal. Im Gegensatz zu den männlichen Figuren situieren sich Indiana und ihr Reflexionsdouble Noun abseits gesellschaftlicher Setzungen, wie bereits das fehlende politische und historische Interesse der beiden Frauen beweist. Mittels ihrer drei männlichen

371 Ebd., S. 112. 372 Ebd., S. 190. 373 Ebd.

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Hauptfiguren zeigt Sand das politische Spektrum Frankreichs im Zuge der Revolution von 1830 auf. Während sich Delmare als beständiger Bonapartist zu erkennen gibt, wohingegen Raymon als Legitimist die Ansprüche des rechtmäßigen Monarchen unterstützt, zeichnet sich Ralph als uneingeschränkter Republikaner aus.374 Dagegen lassen sich die Protagonistin sowie Noun als apolitisch charakterisieren, durch ihre Geschlechtszugehörigkeit verharren sie in einem Zustand der Passivität, abgeschirmt vom historischen und politischen Geschehen. Insbesondere Indiana tritt einzig durch ihre männlichen Bezugspersonen in Kontakt mit der gesetzgebenden Öffentlichkeit, dabei bleibt sie ähnlich wie Richardsons Clarissa dem Kindstatus verhaftet und untersteht dementsprechend der Bevormundung der männlichen Figuren. Dass Indiana ihre Ehe als Abhängigkeitsverhältnis erlebt, wurde hinlänglich beschrieben. Mit ihrer Heirat tauscht sie folglich die Vorherrschaft ihres Vaters gegen die des Ehemannes ein: „En épousant Delmare, elle ne fit que changer de maître; en venant habiter a Lagny, que changer de prison et de solitude.“375 Es sind stets die Männer, die für Indiana entscheiden und handeln, allerdings mit variierenden Bewusstseinsgraden. Während Delmare sich und seiner Frau keine Illusion über seine Autorität über dieselbe macht, wenn er sagt: „[L]es femmes sont faites pour obéir et non pour conseiller“376, gestaltet Raymon seinen Einfluss auf Indianas Überzeugungen weniger offensichtlich. So nutzt er die politischen Diskussionen mit Delmare und Ralph, um Indiana zu seiner Schülerin zu machen: „Raymon se plut à éclairer cet esprit vierge qui semblait devoir s’ouvrir à ses principes [...]. Il s’appliquait comme à un travail sérieux, il se faisait une tâche importante de l’amener peu à peu à ses croyances, à ses principes.“377 Die Bevormundung der Protagonistin seitens ihres Cousins Ralph findet dagegen auf noch subtilere Weise statt. Wie Gaspara Giovannini festhält, fungiert er im Romangefüge als deus ex machina, indem er lenkend in den Handlungsgang eingreift.378 Die Liebesbeziehung der Protagonistin zu Raymon entwickelt sich von Beginn an unter der Beobachtung Ralphs, der diese zwar nicht aktiv unterbindet, Indianas Handeln jedoch immer wieder führt. So ist es Ralph, der die Protagonistin von der Beziehung Raymons zu Noun unterrichtet, um sie so zu warnen. Später tritt er mehrfach als Retter in

374 So beschreibt auch Éric Bordas die politische Prägung der Figuren. Vgl. Bordas: Indiana de George Sand, S. 22. 375 Sand: Indiana, S. 68. 376 Ebd., S. 195. 377 Ebd., S. 164. 378 Vgl. Gaspara Giovannini: Emanzipation zur Androgynie. Die „Moralité“ in den Werken George Sands, Diss. masch. Heidelberg 1983, S. 69.



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der Not auf, wobei er Indiana einmal vom Selbstmord abhält, ein anderes Mal hingegen dazu überredet. Zweifellos identifizieren sich die drei männlichen Romanfiguren ausnahmslos mit den lois. Als konsequentester Vertreter der staatlichen Setzung muss Delmare gelten, der im Gesetz die unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung sieht. Dabei bezieht sich Delmares strenge Moralvorstellung ausschließlich auf seine Handlungen im öffentlichen Raum. Wie der Erzähler betont, unterscheiden sich laut Delmare die Regeln der privaten und der öffentlichen Sphäre: [Un homme] peut battre sa femme, maltraiter ses gens, ruiner ses enfants, cela ne regarde personne. La société ne condamne que les actes qui lui sont nuisibles; la vie privée n’est pas son ressort. Telle était la morale de M. Delmare. Il n’avait jamais étudié d’autre contrat social que celui-ci: Chacun chez soi.379

Die gesellschaftliche Prägung Raymons wurde bereits im Rahmen seiner Liebeskonzeption diskutiert: Sein Handeln ist im Wesentlichen abhängig von der öffentlichen Meinung. Raymon versucht sich Nouns ausschließlich deshalb zu entledigen, weil er den Hohn der guten Gesellschaft ob einer so unstandesgemäßen Liaison fürchtet. Madame Delmare gibt in seinen Augen zumindest eine würdigere Mätresse ab, mehr soll sie für ihn nicht sein. Die Übereinstimmung von Raymons persönlichen Interessen mit den gesellschaftlichen Erwartungen verdeutlicht sich zuletzt anhand seiner Heirat. Mit Laure de Nangy wählt er eine ihm dem Namen und Wohlstand nach angemessene Frau und fügt sich somit in soziale Konventionen. Sir Ralph zeigt sich dagegen weniger bereit, sich sozialen Konventionen zu fügen. Stattdessen hinterfragt er die gesellschaftliche Moral mit unerbittlicher Strenge. Wie Raymon bemerkt, gleicht Ralphs moralische Strenge, „[ses] systèmes généreux [...], sa haine rigide pour les vices de la société, son âpre impatience de voir régner d’autres lois et d’autres mœurs“380, in gewisser Weise der naiven Weltanschauung Indianas. Allerdings ist auch Ralph zumindest partiell gesellschaftlichen Setzungen verpflichtet. Er bekennt sich zum staatlichen und zum normativen Gesetz, indem er sich vor dem gemeinsamen Suizid der Unschuld Indianas versichert. Es bleibt durchaus zu fragen, was gewesen wäre, wenn die Protagonistin den Ehebruch tatsächlich vollzogen hätte. Als Frau ist Indiana nur vordergründig an die geltenden lois gebunden. Sofern sie ihrem Gatten den geforderten Gehorsam zollt und somit ihre

379 Sand: Indiana, S. 119. 380 Ebd., S. 164.

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Geschlechterrolle nach außen hin akzeptiert, unterwirft sie sich der staatlichen Setzung. Ein darüber hinausgehendes Interesse am Weltgeschehen bezeugt sie nicht: „Elle savait donc à peine l’histoire abrégée du monde, et toute dissertation sérieuse l’accablait d’ennui.“381 Ihre eigene Weltanschauung ist frei von zivilisatorischen Implikationen: „Indiana opposait aux intérêt de la civilisation érigés en principes, les idées droites et les lois simples du bon sens et de humanité; ses objections avaient un caractère de franchise sauvage qui embarrassait quelquefois Raymon“382. Ähnlich wie Ralph erkennt die Protagonistin normative Setzungen nicht unreflektiert an, sondern bemisst sie anhand ihrer individuellen, intuitiven Moral. Mit ihrer Entscheidung, ihre Identität als Ehefrau abzulegen und dem Liebhaber somit die Legitimität ihres Daseins vollständig zu opfern, versucht Indiana, sich schließlich von den normativen Diktaten der Gesellschaft zu befreien. Sands Protagonistin stellt ihre individuelle Affektivität entschieden über die Anforderungen sozialer Normen, wobei sie dennoch unfrei bleibt. Passions und lois, so Kerstin Wiedemann, „sind antagonistische Kräfte, in deren Zusammenwirken Indianas ‚doppelte Versklavung‘ verankert ist.“383 Den weiblichen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl, der sich für George Sands Indiana als Konflikt zwischen passions und lois darstellt, kann die Protagonistin in ihrer Liebe zu Raymon, der selbst zu sehr der Gesellschaftsnorm verpflichtet ist, nicht auflösen. Sowohl die Liebe als auch die gesellschaftliche Setzung erfährt Indiana als Paradigmen der Unterdrückung. Dementsprechend muss sie sich sowohl in ihrer Ehe als auch in der Beziehung zu Raymon stets dem Gegenüber opfern und sich selbst verleugnen. Mit dieser Form der weiblichen Liebesfähigkeit reproduziert die Autorin laut Uwe Dethloff „die romantischen, der männlichen Phantasie entsprungenen Leitbilder der unbefleckten, entsagungsvollen und selbstzerstörerischen Liebe“384. Allerdings erkennt auch Dethloff das Potenzial, das Sand der Liebe im Kontext ihres Erstlingsromans zuschreibt, an: Indiana versucht zumindest, ihre Liebe zu Raymon zu nutzen, um sich aus der Versklavung zu befreien. Dem weiblichen Gefühl steht es in der Tat frei, sich in die Unfreiheit zu fügen.385 Wirkliche Freiheit des Gefühls erfährt Indiana erst infolge ihrer buchstäblichen „Ent-Täuschung“ über Raymon. Erst als es der Protagonistin gelingt, sich von ihrer Liebe als Passion zu befreien, ist sie fähig, in Ralph ihren Seelenverwandten und Ebenbürtigen zu erkennen. In einer nahezu utopischen Idylle können die

381 Ebd. 382 Ebd. 383 Wiedemann: „Gefangene von Eros und Macht“, S. 129. 384 Dethloff: Die literarische Demontage des bürgerlichen Patriarchalismus, S. 99. 385 Vgl. ebd., S. 114.



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beiden schließlich ein gemeinsames Leben jenseits der staatlichen Setzung und den damit verbundenen Vorgaben über Geschlechterrollen verwirklichen.

4.4.5 Die Utopie: Androgynie im âge d’or Die Schilderung des idyllischen Zusammenlebens Indianas mit ihrem Weggefährten auf der Île Bourbon bindet George Sand nicht direkt in den Roman ein. Im Zuge einer conclusion, die sich an das letzte Kapitel anschließt, lässt die Autorin einen jungen Reisenden von seiner Begegnung mit den Einsiedlern berichten. Dieser conteur wendet sich in einem Nachtrag zur eigentlichen Handlung explizit an Jules Néraud, einen Botaniker und Zeitgenossen Sands, der sich insbesondere mit der Île Bourbon befasst hat. Der Perspektivenwechsel findet direkt im Anschluss an die Beschreibung des gemeinsamen Suizids der Liebenden statt. Nachdem der zuvor verschlossene Ralph, von seinen Mitmenschen oftmals des Egoismus bezichtigt, sich Indiana endlich anvertraut und ihr „le secret de [s]a vie“386 offenbart hat, wird der eigentliche Selbstmord nur angedeutet: „Alors Ralph prit sa fiancée dans ses bras, et l’emporta pour la précipiter avec lui dans le torrent...“387 Umso effektvoller wirkt das Überraschungsmoment, wenn der Erzähler der conclusion im Folgenden berichtet, den vermeintlich toten Sir Ralph inmitten der Bernica-Schlucht getroffen zu haben. Wie der nachträgliche Bericht des Fremden zeigt, führen Indiana und Ralph im Urwald der Insel ein vollends zurückgezogenes Leben, jenseits jeglicher zivilisatorischer Einbindung. Sie erfüllen sich somit im Leben die Rückkehr ins âge d’or, deren Verwirklichung sie zunächst nur durch den Tod für möglich hielten. Im Sinne einer Wiederkehr zum Ursprünglichen schlägt Ralph Indiana besagte Schlucht für den gemeinsamen Suizid vor. Zum einen kehren sie so an den Schauplatz ihrer Kindheit zurück – „C’est là que nous avons passé les plus douces heures de notre enfance“388 – zum anderen beschließt Ralph durch diese Ortswahl auch die Abkehr von der Zivilisation per se: „Retournons donc au désert, afin de pouvoir prier. Ici, dans cette contrée pullulante d’hommes et de vices, au sein de cette civilisation qui renie Dieu ou le mutile, je sens que je serais gêné, distrait et attristé. Je voudrais mourir joyeux, le front serein, les yeux levés au ciel.“389 Den

386 Sand: Indiana, S. 320. 387 Ebd., S. 338. 388 Ebd., S. 313. 389 Ebd., S. 312f.

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Erwartungen der beiden Zivilisationsflüchtlinge entsprechend, gestaltet sich die Szenerie der Natur am Abend ihres Vorhabens als vollkommene Idylle: Le hasard volut que ce fût une des plus belles soirées que la lune eût éclairées sous les tropiques. [...] Les oiseaux de mer se taisaient dans les crevasses du rocher, et quelques pigeons bleus, cachés derrière les corniches de la montagne, faisaient seuls entendre au loin leur voix triste et passionée. De beaux scarabées, vivantes pierreries, bruissaient faiblement dans les caféiers, ou rasaient, en bourdonnant, la surface du lac, et le bruit uniforme de la cascade semblait échanger des paroles mystérieuses avec les échos de ses rives.390

Dem Erzähler der conclusion gegenüber schildert Ralph zuletzt das Scheitern des gemeinsamen Suizids, das zwar ungewollt geschah, die beiden Liebenden aber dennoch vom Sinn des Weiterlebens überzeugte. Nachdem sie sich ihrer Liebe versichert haben, richten sich die Überlebenden in der Schlucht ein und ziehen also in das diesseitige Paradies ein. Von dem paradiesischen Charakter des Lebens der beiden Einsiedler zeugt schließlich auch der conteur, indem er Ralphs Beschreibung ihrer Tagesabläufe wiedergibt: „Tous nos jours se ressemblent; ils sont tous calmes et beaux; ils passent rapides et purs comme ceux de notre enfance. Chaque soir, nous bénissons le ciel; nous l’implorons chaque matin, nous lui demandons le soleil et les ombrages de la vielle.“391 Die zahllosen „journées libres et paisible“392, die Ralph und Indiana als Kinder in der Schlucht verbracht haben, setzten sich nun also fort. Indiana findet unter der schützenden Hand Sir Ralphs zurück in die androgyne Ganzheitlichkeit, die Brontës Catherine im Erwachsenenalter verschlossen blieb. Ähnlich wie zwischen Catherine und Heathcliff besteht auch zwischen Indiana und Ralph in ihren Kindertagen eine androgyne Einheit. Ralph wartet zwar darauf, diese Einheit zu durchbrechen, wie er Indiana gegenüber im letzten Kapitel gesteht,393 tatsächlich muss er sie jedoch verlassen, bevor er sie als Frau wahrnehmen kann. Durch Indianas Ehe mit Delmare wird diese Einheit nur scheinbar gestört; da Ralph nicht in Konkurrenz zum Ehemann tritt, besteht auch weiterhin die geschwisterliche Gleichrangigkeit der beiden. Indianas Versuch, sich außerhalb dieser Einheit in der Liebe zu Raymon zu verwirklichen, scheitert. Die „reine“ Liebe, die Indiana von Raymon vergeblich fordert, erfährt sie schließlich durch Ralph. Schülerin, Schwester, Braut – all diese Funktionen besitzt die Protago-

390 Ebd., S. 316. 391 Ebd., S. 352. 392 Ebd., S. 325. 393 Ralph gesteht diesbezüglich: „[J]e m’habituai à penser que vous seriez ma femme; tout enfant, je vous regardai comme ma fiancée“. Ebd., S. 322.



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nistin für diesen. Im Gegensatz zu Raymon nimmt Ralph Indiana nicht nur als Geschlechtswesen wahr und ist somit fähig, ihr eine andere Art von Liebe entgegenzubringen. Der „amour pur“394 zwischen Ralph und Indiana hat in der Tat nichts mit der von Raymon praktizierten Spielart des amour passion zu tun. Während Indiana für Raymon nur die maîtresse hätte sein können, begegnet sie Ralph als „compagne de [s]a vie“395 auf verschiedenen Ebenen. Dabei übernimmt Ralph den aktiven, wenn auch für Indiana zunächst unsichtbaren Part ihrer Beziehung. Im Zuge seiner Lebensbeichte, die Ralph vor dem anstehenden Suizidversuch ablegt, öffnet er Indiana die Augen für sein Mitwirken an ihrem Lebenslauf. Von frühester Kindheit an nimmt Ralph die jüngere Indiana als seine zukünftige Frau wahr und versucht, sie zu dieser Bestimmung zu erziehen. Die Erzieherrolle wird somit zu seinem Lebenszweck, vor allem da sich seine Wunschphantasie zu keinem Zeitpunkt verwirklichen lässt – während die kindliche Indiana allein aufgrund ihrer Unreife nicht in der gewünschten Weise zu Ralph in Bezug treten kann, hindert die Erwachsene ihr Status als Ehefrau daran. Ralphs Übernahme der Erzieherrolle besitzt zunächst demiurgische Implikationen, insofern er den Plan verfolgt, sich selbst die ideale Gefährtin zu schaffen. In dem Moment allerdings, als sich diesem Vorhaben Hindernisse in den Weg stellen – die abweichenden Absichten von Ralphs Familie und später Indianas Ehe – wird seine Rolle zum Selbstzweck. Einzig durch die Beziehung zu Indiana als seinem Zögling, vermag Ralph sich selbst zu realisieren, wie er der Protagonistin gegenüber angibt: „Je fis de vous ma sœur, ma fille, ma compagne, mon élève, ma société. Le besoin que vous aviez de moi fit de ma vie quelque chose de plus que celle d’un animal sauvage; je sortis pour vous de l’abbatement où le mépris de mes proches m’avait jeté. Je commençai à m’estimer en vous devenant utile.“396 Demgemäß bleibt Ralph mit Ausnahme einiger kürzerer Unterbrechungen stets an Indianas Seite, um den Gang ihres Lebenswandels zu überwachen. Im Gegensatz zu dem Despoten Delmare, der über die Handlungen seiner Frau mit gebieterischer Strenge wacht, lenkt Ralph die Protagonistin aus dem Schatten heraus. Er agiert als ihr Beschützer, ohne die Protagonistin explizit zu bevormunden. Er dirigiert, ohne zu maßregeln: So klärt Ralph Indiana erst nach eingehender Überlegung über Raymons Mitschuld an Nouns Tod auf, um die Protagonistin so vor dem Verführer zu warnen. Aktiv greift Ralph erst angesichts der drohenden Katastrophe ins Geschehen ein. Als Indianas Schutzengel bewahrt er sie zunächst vor dem Tod, um ihr den Suizid später als erlösenden

394 Ebd., S. 328. 395 Ebd., S. 329. 396 Ebd., S. 322.

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Ausweg zu präsentieren. Aufgrund dieser Funktion der Figur, die sich als Rolle eines gottähnlichen Mentors der Protagonistin kennzeichnen lässt, beschreibt Gaspara Giovannini Ralph zu Recht als deus ex machina, mit Hilfe dessen George Sand die moralité in ihrem Roman wirken lässt.397 Als Beobachter und Führer überwacht und verfolgt Ralph die Protagonistin und versucht zumindest, sie vor den heuchlerischen Glücksversprechungen Raymons zu bewahren. Als die totale Desillusionierung Indianas schließlich erfolgt ist, ist es Ralph endlich möglich, Indiana seine „reine“ Liebe zu offenbaren und sie an den Platz zu versetzen, den er ihr bereits seit ihrer Kindheit zugeschrieben hat. Als Educandin, Schwester, Freundin und Geliebte taucht die Protagonistin zuletzt zu Ralph in eine Beziehung, die absolute Ganzheitlichkeit verspricht. Der utopische Ausgang des Romans, die naturhafte Idylle, in der Indiana und Ralph sich als androgynes Ganzes verwirklichen können, unterliegt zwei wesentlichen Einschränkungen. Zunächst einmal verblasst die Wirkung des idyllischen Zusammenlebens, da sich die Harmonie der Geschlechter offensichtlich nur innerhalb des begrenzten Rahmens des Einsiedlertums erfüllt: Ein Leben in Frieden und Freiheit kann einzig und allein jenseits gesellschaftlicher Setzungen stattfinden. Laut George Sand ist emotionale Ganzheitlichkeit für die Frau also nur in einem utopischen Urzustand denkbar. Innerhalb einer zivilisatorischen Ordnung, sprich der Realität, erscheint sie indes unmöglich.398 Der schale Beigeschmack dieses Happy Ends wird nicht zuletzt durch die narrative Form evoziert. Wie Gaspara Giovannini aufzeigt, wirkt die Einführung einer weiteren Erzählerfigur im Rahmen der conclusion als erzähltechnische Notlösung.399 Wenn die emotionale Ganzheitlichkeit der Frau schon nur in einer naturhaften Exklusivität stattfinden kann, so braucht sie zumindest einen (männlichen) Zeugen, so könnte die Begründung dieser formalen Besonderheit lauten. Darüber hinaus gewährt die Autorin ihrer Protagonistin lediglich einen verschwindend geringen Eigenanteil an ihrem Ausnahmeschicksal. Als Erzieher und deus ex machina zeichnet ausschließlich die Figur Ralphs verantwortlich für den optimistischen Ausgang des Romans. Ralph gelingt es schließlich, Indiana dahin zu lenken, dass sie ihm in die Androgynität verheißende Idylle von Bernica folgt. Als Mentor lässt Ralph die Protagonistin sich in der Beziehung zu Raymon erproben und letztlich das Konzept der Liebe als Passion verwerfen. Die Titelheldin fügt sich damit selbst innerhalb der androgynen Einheit einer männlichen Vorherrschaft, die

397 Vgl. Giovannini: Emanzipation zur Androgynie, S. 95. 398 Diesen Kritikpunkt führt auch Wingård Vareille an. Vgl. Wingård Vareille: Socialité, sexualité et les impasses de l’histoire, S. 68. 399 Vgl. Giovannini: Emanzipation zur Androgynie, S. 95.



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Gleichrangigkeit der Liebenden kann insofern durchaus angezweifelt werden. Indiana bleibt durch ihre Passivität auch im Paradies des âge d’or den Gesetzen des Geschlechtscharakterdiskurses verhaftet.

4.4.6 Der stumme Protest gegen den Diskurs Mit dem Frauenbild, wie es die Protagonistin ihres Erstlingsromans Indiana inkarniert, opponiert George Sand gegen die vom Geschlechtscharakterdiskurs formierte Norm idealer Weiblichkeit. Zwar zeichnet sich Indiana nicht unbedingt durch diskursspezifisch „unweibliche“ Attribute aus, sondern entspricht ganz im Gegenteil in ihrer passiven und submissiven Art den normativen Setzungen ihrer Zeit, allerdings zeigt der Roman insofern die Insuffizienz normativer Weiblichkeitsideale auf, als sich die Konformität der Heldin nicht als förderlich für das individuelle Glück derselben erweist. Indiana ist als Sozialkritik zu verstehen, wobei Sand anhand einer zunächst durch und durch rollenkonformen Frau die Grenzen der durch unterschiedlichste Diskursvertreter beschworenen Verheißungen der weiblichen Normbiografie vorführt. Tatsächlich konzipiert die Autorin hier eine Romanheldin, die als schwächstes Glied in der Kette gesellschaftlichen Setzungen machtlos ausgeliefert ist. Indianas Schwäche repräsentiert sich auf diversen Ebenen, wie Bordas eindrücklich darstellt: „Irrémédiable marginale, Indiana, femme, créole, épouse, maîtresse – quatre variations du même paradigme: celle qui n’existe pas par elle même –, n’est rien.“400 In ihrer Schwäche und Machtlosigkeit ist Indiana vollkommen isoliert. Sie selbst betrachtet ihr Heim, da es im Wesentlichen ihre rechtliche und materielle Abhängigkeit von den jeweiligen männlichen Bezugspersonen reflektiert, als Gefängnis. Diese kraftlose Heldin behauptet sich nicht aktiv, ihr Protest wird nicht laut. Wie sich an Indianas Verhalten dem Ehemann gegenüber ablesen lässt, findet ihre Behauptung schweigend statt.401 Sie begegnet der Rohheit ihres Mannes mit gleich bleibender Sanftmut, insistiert allerdings auf der Freiheit ihrer Gedanken. In der Tat gelingt es der Protagonistin, ihre Innenwelt dem Einflussbereich Delmares zu entziehen, nicht aber den Männern generell. Mittels des Codes des amour passion ist es Raymon möglich, Indiana an die Grenzen ihrer Existenz zu treiben. Allerdings liegt im affektiven Vermögen der Heldin durchaus das Potenzial zu ihrer Emanzipation. Den geltenden lois, vor allem vertreten durch den Ehemann, kann Sands Heldin sich durch ihre emotionale Rebellion

400 Bordas: Indiana de George Sand, S. 46. 401 Dies bestätigt auch Gisela Schlientz. Vgl. Schlientz: „Ich liebe, also bin ich“, S. 278f.

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entziehen. Die gefühlsmäßige Selbstverwirklichung, die die leidenschaftliche Liebe verspricht, ist tatsächlich dazu angelegt, Indiana einen Ausweg aus ihrer moralischen Isolation zu weisen. Die Entschlossenheit, mit der die Protagonistin ihre passion über gesellschaftliche und staatliche Setzungen stellt, lässt sich durchaus als Protest gegen die herrschende Geschlechterordnung werten. Indianas „Liebesmühen“ repräsentieren ihren Entschluss, sich bewusst außerhalb gesellschaftlicher Setzungen zu positionieren. Sie unternimmt in dieser Hinsicht also bewusst eine Form der Auflehnung gegen diskursive Vorstellungen von der weiblichen Normbiografie. Dass der Versuch einer derartigen Emanzipation scheitert, liegt ebenfalls im Charakter der weiblichen Liebe begründet. Laut Sand versieht die Liebe Frauen zwar mit größerem Mut als Männer, allerdings stellt sie sie auch vor größere Gefahren. Die Intensität ihrer Gefühle macht die Protagonistin blind für die damit verbundenen Gefahren. Während das Konzept der weiblichen Identitätsfindung in der leidenschaftlichen Liebe an sich durchaus schlüssig erscheint, widersprechen die äußeren Umstände dieser Lösung: Innerhalb eines zivilisatorischen Kontexts lässt sich die emotionale Verwirklichung offenbar nicht realisieren und überhaupt stellt sich Raymon schlicht als der „falsche“ Mann dafür heraus. Eine Alternativmöglichkeit zur Durchsetzung emotionaler Ganzheitlichkeit jenseits festgeschriebener Geschlechtsnormen bietet der Ausgang des Romans mit Ralph und Indianas utopischem Einsiedlerdasein in Bernica. Damit offeriert Sand ihrer Heldin freilich nur eine defizitäre Konfliktlösung, sozusagen einen Trostpreis: Eine Veränderung der Gesellschaft hält sie nicht für möglich, stattdessen lässt sie ihre Protagonisten sich aus der Zivilisation zurückziehen. Emotionale Ganzheitlichkeit scheint für die Frau demnach nur in einem utopischen Urzustand denkbar zu sein. Und noch eine weitere Einschränkung betrifft die emanzipatorischen Bemühungen Sands: Indiana ist und bleibt stumm. Die Loslösung von den Paradigmen der Versklavung, der Ehe und dem amour passion, bedeutet nicht, dass die Protagonistin ihre (eigene) Sprache findet. Stattdessen wird sie zuletzt mundtot gemacht, in der conclusion wird Ralph zu ihrem Fürsprecher, die weibliche Hälfte des androgynen Ganzen schweigt auch weiterhin.402

4.5 Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95) Theodor Fontanes Effi Briest wurde zunächst in den Jahren 1894 bis 1895 als Fortsetzungsroman in der Deutschen Rundschau publiziert, bevor der Text 1896

402 Dies bemerkt auch Schlientz. Vgl. ebd.



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erstmals in Buchform erschien. Wie Rudolf Helmstetter belegt, orientiert sich der Autor bewusst am „Geschmack“ des Zielpublikums. Fontane akzeptiert, so Helmstetter, „die nichtästhetischen und unliterarischen Bedingungen des Zeitschriftenmarktes als Vorgabe und Bedingungskontext literarischer Kommunikation.“403 So kann also die Sujetwahl als konventionell gelten, immerhin rekurriert Fontane mit seinem Ehebruchroman, wie er nicht zuletzt selbst bestätigte, auf aktuelle Zeitungsmeldungen über Ehrenduelle. In der Tat deutet der Autor an, seine Geschichte direkt aus dem Leben gegriffen zu haben, er attestiert sich sozusagen seinen Realismus. Kritiker werden seither nicht müde, auf die Existenz der „echten“ Effi Briest, Elisabeth von Ardenne, zu verweisen. Interessanter als die Gemeinsamkeiten und Abweichungen der Romanheldin mit und von ihrem historischen Vorbild erscheint allerdings der Umstand, dass der Ehebruch gegen Ende des 19. Jahrhunderts offenbar so sehr zur Konvention und literarischen Mode geronnen ist, dass Fontane ihn gerade noch nebenbei, nahezu im Plauderton, schildert.404 Effi Briest, die siebzehnjährig mit dem weitaus älteren Baron von Innstetten verheiratet wird und diesem in den verschlafenen Badeort Kessin folgt, wird nicht etwa zur Ehebrecherin, weil sie romantische Liebe sucht (oder gar findet), sondern weil es nichts anderes gibt, um ihr die Langeweile zu vertreiben und ihr Leben in der Rolle der repräsentativen Gattin zu durchbrechen. Als Innstetten den Fehltritt seiner Frau nach sieben Jahren zufällig entdeckt, kommen wiederum konventionelle Setzungen zum Tragen. Während Innstetten noch über Verjährung nachdenkt, fordert er Effis Verführer bereits zum Duell, in dem Crampas sich bereitwillig „totschießen“ lässt, um Innstettens Ehre wieder herzustellen. Zwischen Effi und ihrem Mann kommt es zum totalen Bruch, was Effis Ausschluss aus der Gesellschaft zur Folge hat. Kurz vor ihrem Tod kann sie allerdings nach Hohen-Cremmen, das Anwesen der Briests, zurückkehren und stirbt unter der Obhut ihrer Eltern – nach eigener Aussage versöhnt mit der Welt. Während die zuvor betrachteten Romane des 19. Jahrhunderts den Sündenfall ihrer Heldinnen umgehen, erklärt Fontane den Fall sowie das Fallen Effi Briests zur Banalität. Fontane, als der einzige männliche Autor meiner Betrachtung, ist der einzige, der seine Heldin den Treue- bzw. Ehebruch (auch und vor

403 Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München: Fink 1997, S. 39. 404 Dass das Sujet bei Fontanes bereits den „Reizwert des Außerordentlichen“ eingebüßt hat, führt Scherpe auf die Liberalisierung des preußischen Scheidungsrechts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Vgl. Scherpe: „Der Buchstabe ‚A‘ und andere Medien des Ehebruchs“, S. 396.

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allem sexuell) vollziehen lässt. Während Jane Austens Marianne der vorehelichen Verführung glücklich entgeht, entbehren auch die Geschichten der verheirateten Heldinnen Catherine und Indiana die sexuelle Dimension: Brontës Catherine identifiziert sich im Kontext eines regelrecht pantheistischen Liebeskonzepts mit dem Geliebten Heathcliff auf eine Weise, die den Ehebruch als Akt überflüssig macht, wohingegen bei Sands Heldin die Adaption an die Vorstellung einer „reinen“ Liebe dem sexuellen Vollzug widerspricht.405 Sowohl für Marianne als auch für Catherine und Indiana wiegt der „Schritt vom Wege“ im Kopf schwerer als seine tatsächliche Erfüllung, ihre Entehrung findet zwar nicht wirklich statt, die möglichen Folgen treten jedoch umso deutlicher hervor. Auf Christine Lehmanns Unterscheidung zwischen den Perspektiven männlicher und weiblicher Autoren von Verführungsromanen, wobei die weibliche Variante den sexuellen Vollzug auslässt, wurde oben bereits hingewiesen.406 Was nun den hier untersuchten gynozentrischen Prüfungs- und Bewährungsroman anbelangt, so lässt sich ein ebensolcher Unterschied festhalten. Es stellt sich die Frage, ob der Sexualität einer Romanheldin aus Sicht männlicher Autoren eine andere Bedeutung zufällt als weiblichen Autorinnen. Fällt es Fontane aufgrund seiner eigenen Geschlechtszugehörigkeit weniger schwer, Effi trotz ihres Unwissens und des Nichtvorhandenseins erotischen Begehrens explizit in sexuellen Kontakt zu einem anderen Mann treten zu lassen als den zuvor betrachteten Autorinnen?407Oder ist Effis Ehebruch – so unmotiviert er angesichts des mittelmäßigen Verführers Crampas, in den Effi nicht einmal verliebt ist, erscheinen mag – der einzige Weg für die Heldin, ihrer Leidenschaftlichkeit und Individualität Ausdruck zu verleihen? Im Gegensatz nämlich zu Marianne und Catherine verfügt Effi nicht über Raum oder Zeit, sich zu erproben. Mit der Heirat endet ihre Kindheit so abrupt, dass Jhy-Wey Shieh zuzustimmen ist, der konstatiert: „Wo für die Frauen ‚Zukunft‘ und ‚Heira-

405 Von einem „kosmisch-pantheistischem“ Konzept spricht Hartmut Eggert auch in Bezug auf Goethes Wahlverwandtschaften und grenzt es klar von Fontanes Liebeskonzeption als den regressiven Wunschbildern der bürgerlichen Familie untergeordnet ab. Vgl. Hartmut Eggert: „Ehe und Sexualität. Erzählerischer Umgang mit gesellschaftlichen Normen von Goethes Wahlverwandtschaften bis Fontanes Effi Briest“, in: Sitten und Sittlichkeit im 19. Jahrhundert, hg. v. Peter Brockmeier, Stuttgart: M & P-Verlag 1993, S. 80. 406 Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 11. Siehe oben, Kap. 4.3.6, S. 298. 407 Dass Fontane durchaus als repräsentativ für die männliche Perspektive betrachtet werden kann und nicht etwa eine spezielle Ausnahme darstellt, bestätigt der Verweis auf einen weiteren Verführungsroman eines männlichen Autors am Ausgang des 19. Jahrhunderts: In Tess of the d’Urbervilles (1891) lässt auch Thomas Hardy den sexuellen Vollzug auf der Handlungsebene in Erscheinung treten, um eine zum Selbstzweck verkommene Gesellschaftsnorm und die sexuelle Doppelmoral anzugreifen.



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ten‘ Synonyme sind und die Gesellschaft das für ‚vernünftig‘ hält, wird aus der Ehefrage leicht ein Eheproblem.“408

4.5.1 Naturkind, Kindfrau, Ehefrau: Geschlechterperformanzen Die Geschichte von Effi Briest wird durch verschiedene Umgebungswechsel strukturiert, wobei die jeweilige Behausung zurückwirkt auf die diversen Rollen der Protagonistin, so Jhy-Wey Shieh.409 Effi durchläuft im Zuge der Handlung verschiedene Stationen, an denen sie die eigene Identität an die Umgebung anpasst und entsprechende Performanzen zeigt. Über alle Stationen hinweg behält die Protagonistin Attribute des Kindlichen; in unterschiedlicher Prägnanz tritt sie als Naturkind im Garten ihrer Eltern oder als Kindfrau im landrätlichen Haus in Kessin auf, eigentlich Frau kann Effi an keiner Stelle des Romans genannt werden. Ausgangs- und Endpunkt der Handlung bildet der Familiensitz der Briests in Hohen-Cremmen: Effis Geschichte beginnt und endet dort, im Kreis ihrer Familie. Tatsächlich schlüpft die Protagonistin am Ausgang des Romans wieder in die Kleider ihrer Kindheit, nachdem sie die Identität der Ehefrau hinter sich gelassen hat. Diese Rückkehr in die Kindheit wird insbesondere durch den Wunsch der Heldin, unter ihrem Mädchennamen beerdigt zu werden, verdeutlicht. Auch der Umstand, dass der Roman im Unterschied zu Flauberts Madame Bovary – der ja eine ähnliche (Ehe‑)Geschichte erzählt – mit dem Mädchennamen der Protagonistin betitelt ist, unterstreicht den kindlichen Charakter der Heldin. Mit dem Einsetzen der Handlung ist die siebzehnjährige Heldin ein Kind und wird, wie viele junge Frauen ihrer Generation, diesem Status allein durch ihre Verlobung entrissen. In der Tat kommt es aus Sicht Effis recht unvermittelt zu der Verlobung mit Geert von Innstetten. Obwohl Effis Mutter, Luise Briest, den Grund von Innstettens Besuch durchaus erkennt und billigt, ahnt die Protagonistin selbst noch nichts von ihrer anstehenden Heirat, als sie ihren Freundinnen von dem erwarteten Besucher berichtet. Effi bringt den Besucher nicht im Mindesten mit ihrer eigenen Person in Verbindung, sondern betrachtet Innstetten als den Besucher ihrer Mutter, „sie erwartet nämlich Besuch“410. Zu diesem Zeitpunkt wähnt die

408 Jhy-Wey Shieh: Liebe, Ehe, Hausstand. Die sprachliche und bildliche Darstellung des ‚Frauenzimmers im Herrenhaus‘ in Fontanes Gesellschaftsroman „Effi Briest“, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1987 (= Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, Bd. 3), S. 44f. 409 Vgl. ebd., S. 20f. 410 Theodor Fontane: Effi Briest, Frankfurt/M.: Insel 2006, S. 13 (Hervorhebung D. K.).

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Protagonistin sich frei von jeglicher Verpflichtung diesem Besucher gegenüber und gibt sich voll und ganz dem Spiel mit ihren Freundinnen hin. Über Effis kindliches, fast schon androgyn anmutendes Auftreten gibt der Erzähler bereits Aufschluss, noch bevor Hertha, Bertha und Hulda eintreffen. Nachdem zunächst die örtlichen Gegebenheiten Hohen-Cremmens geschildert werden, wobei der erzählerische Blick insbesondere eine Schaukelanlage streift, die zweifellos der Protagonistin gehört, fällt der Fokus auf das Handlungspersonal. Dabei setzt sich Effi, die gemeinsam mit ihrer Mutter an einem Altarteppich stickt, deutlich von Luise Briest ab, indem sie die „Frauenarbeit“ unterbricht, „um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen.“411 Diese gesuchte Unterbrechung, mit der Effi sich der lästigen Handarbeit entledigt, deutet bereits auf ein wesentliches Charakteristikum der Protagonistin hin, ihre ausgeprägte Aversion gegen Langeweile. Entsprechend äußert sie sich den Freundinnen gegenüber, die ihr eine willkommene Abwechslung von der „langweilige[n] Stickerei“412 liefern. Im Kommentar der Mutter zu Effis Ungeduld klingt zunächst nur unterschwellig Kritik an: „Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, daß du so was möchtest.“413 Die Heldin gibt den latenten Vorwurf zurück, indem sie auf die Verantwortlichkeit ihrer Eltern verweist, die sie nach wie vor als Kind behandeln, statt sie an die Frauenrolle zu gewöhnen. Effi definiert ihren Kindstatus vor allem anhand ihrer äußeren Erscheinung, die mädchenhaft ungezwungen ausfällt: „Effi trug ein blau- und weißgestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen.“414 Aufgrund dieses Aufzugs unterstellt Effi ihrer Mutter nun eine Mitschuld an ihrer burschikosen Vitalität: „Und dann, warum steckst Du mich in diesen Hänger, in diesen Jungenskittel? Mitunter denk’ ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. [...] Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum machst du keine Dame aus mir?“415 Die Haltung der Mutter dazu erscheint ambivalent: Einerseits zeigt sie sich verständnisvoll angesichts der Vorbehalte Effis gegenüber einer Erziehung zur Dame, wenn sie dieser fragend

411 Ebd., S. 10. 412 Ebd., S. 13. 413 Ebd., S. 11. 414 Ebd., S. 10f. 415 Ebd., S. 11.



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entgegnet: „Möchtest du’s?“416. Andererseits erschrickt sie vor dem Wildfangverhalten ihrer Tochter. So wird Luise Briest deutlicher in ihrer Kritik und spricht einen Tadel aus: „Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe...“417 Diese Zuschreibung der Mutter bestätigt im Folgenden das Zusammentreffen mit den Nachbarsmädchen. Von ihren Geschlechtsgenossinnen grenzt Effi sich nicht nur indirekt durch ihr ungestümes Wesen und die Übernahme einer Anführerrolle ab – so ist es die Protagonistin, die Lieder und Spiele bestimmt – sondern auch explizit, indem sie sich und ihren Freundinnen eine Situation ausmalt, in der sie als „Midshipman“418 auftreten und Hulda auf einer Strickleiter einen Kuss geben will. Die Protagonistin wird so im Zuge des ersten Kapitels als Wildfang gekennzeichnet, dem insbesondere Assoziationen des Knabenhaften anhaften. Wie Effi richtig erkennt, tragen die Eltern eine Mitschuld an ihrer mangelnden Identifikation mit der weiblichen Geschlechterrolle. Sowohl Briest als auch seine Frau belassen ihre Tochter im Stadium der Kindheit, was sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass „man“ Effi im Allgemeinen nur die „Kleine“ nennt.419 Wie bereits angedeutet, hegt Luise Briest gespaltene Gefühle gegenüber dem unangepassten Wesen der Tochter bzw. dem Laisser-faire-Charakter ihrer eigenen Erziehung. Diese Ambivalenz verdeutlicht sich nochmals anhand ihrer Reaktion auf Innstettens Ankunft. Wohl wissend um den bevorstehenden Antrag mustert sie Effi auf deren Erscheinung hin, wobei sie die Ungezwungenheit des Aufzugs zunächst ablehnend zur Kenntnis nimmt: „Nun bist du doch noch in deinem Kittel, und der Besuch ist da. Nie hältst du Zeit.“420 Als Effi jedoch anbietet, sich umzuziehen, erkennt die Mutter den Reiz der unprätentiösen Erscheinung. „[D]as jugendlich reizende Geschöpf, das, noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten Lebens vor ihr stand“421, findet letztlich aus demselben Motiv Luise Briests Beifall, das diese bislang davon abhielt, eine Dame aus ihrer Tochter zu machen. In Hohen-Cremmen gilt offensichtlich ein aufgeklärter Erziehungsstil, bei dem Kinder nicht gewaltsam gebeugt und geformt werden, sondern in ihrer natürlichen Entfaltung gefördert werden. Natürlichkeit erweist sich hier in der Tat als zentrales Stichwort, ist es doch gerade diese Eigenschaft, die die Prot-

416 Ebd. 417 Ebd. 418 Ebd., S. 19. 419 Ebd., S. 11. 420 Ebd., S. 21. 421 Ebd., S. 22.

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agonistin im Gegensatz zur affektierten Damenhaftigkeit auszeichnet. So lässt sich Effi zu Beginn des Romans insofern als Naturkind kennzeichnen, als die Briests ihrer Tochter eine kindliche „Natürlichkeit“ zugestehen. Effi ist keine kleine Dame, kein Korsett engt sie ein – weder ein wirkliches (lediglich ein Gürtel tailliert ihre Silhouette), noch ein übertragenes aus normativen Verhaltensregeln begrenzt ihre kindliche Freiheit. Im Unterschied allerdings zu Sands Indiana, die als „edle Wilde“ naive, vorzivilisatorische Moralvorstellungen ausbildet, ist Effi nicht gänzlich frei von gesellschaftlich präfigurierten Wertzusammenhängen. So übernimmt sie etwa die redensartliche Direktive des Vaters, „Weiber weiblich, Männer männlich“422, und strukturiert ihr eigenes Werteverständnis um derlei konventionelle Setzungen herum. In der Konsequenz ist Rudolf Helmstetter zuzustimmen, der Effi als Grenzgängerin des Verhältnisses zwischen Natur und sozialer Überformung beschreibt und sie als „Schnittpunkt in der Reihe der Attitüden, Typen und Rollen, die sie durchläuft“423, kennzeichnet. Anhand ihres Eintritts in den Ehestand verdeutlicht sich dieses zwiespältige Verhältnis Effis: Wie sie ihrer Mutter als auch Innstetten gegenüber zugibt, besitzt sie durchaus einen Ehrgeiz auf ihre gesellschaftliche Position bezogen – auch dies ein Zeichen für ihre konventionelle Prägung – dennoch schreckt die Protagonistin vor der Bedeutung ihrer Rolle der Landratsgattin mit entsprechenden repräsentativen Funktionen zurück. Luise Briest beweist große Einsicht in die Psyche ihrer Tochter, wenn sie ihrem Mann gegenüber Effis grundsätzliche Schwäche auf zwei Eigenschaften zurückführt: „Vergnügungssucht und Ehrgeiz“424. Tatsächlich tritt der Rollenkonflikt der Protagonistin, ganz so wie es die Mutter befürchtet, am Knotenpunkt dieser beiden Triebkräfte Effis auf. Ihre Rolle als Gattin Innstettens, der den Briests als ausnahmsloser „Karrieremacher“425 gilt, spricht nur eine dieser beiden Interessen an: Effis Ehrgeiz wird durch ihre soziale Position und die voraussichtlichen Entwicklungen derselben zweifellos befriedigt, nicht aber ihre Abscheu vor Langeweile oder ihre Vergnügungssucht, wie die Mutter diesen Zug nennt. In der Folge verweigert sich Effi ihren rollenspezifischen Aufgaben, was sich insbesondere in ihrer Angst vor dem Kessiner Spukhaus spiegelt. Angesichts ihrer frühen Eheschließung und des damit verbundenen Ortswechsels, im Zuge dessen sich die Siebzehnjährige sprichwörtlich mutterseelenallein vorkommen muss, erscheint es nur allzu verständlich, dass Effi ihr neues

422 Ebd., S. 13. 423 Vgl. Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, S. 220. 424 Fontane: Effi Briest, S. 49. 425 Ebd.



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Zuhause als „un-heimlich“ wahrnimmt.426 Bereits in ihrer ersten Nacht unter Innstettens Dach fühlt Effi sich vom Unheimlichen bedroht, als sie schleifende Geräusche vom Dachboden her hört: „Erst klang es, wie wenn lange Schleppen Kleider über die Diele hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paarmal, als ob ich kleine weiße Atlasschuhe sähe. Es war, als tanze man oben, aber ganz leise.“427 Die gehörten Geräusche assoziiert die Protagonistin unmittelbar mit einer geisterhaften Erscheinung, anstatt zu versuchen, eine rationale Begründung zu suchen. Diese Aufgabe fällt schließlich dem Hausmädchen Johanna zu, die Effi anstelle Innstettens beruhigt. Von dieser erfahren wir, „dass es die Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig und stockig und deshalb stehen immer die Fenster auf, wenn nicht gerade Sturm ist. Und da ist denn fast immer ein starker Zug oben und fegt die alten, weißen Gardinen, die außerdem viel zu lang sind, über die Dielen hin und her.“428 Interessanterweise deutet der Umstand, dass Effi zumindest die Farbe der schleifenden Stoffe richtig benennt, darauf hin, dass es ihr durchaus möglich wäre, die eigentliche Ursache der nächtlichen Geräusche zu erkennen. Wenigstens unbewusst ist sie sich über die Irrationalität ihrer Angst im Klaren, anstatt sich aber nach dem Grund für ihre Schreckhaftigkeit zu fragen, fügt sich die Protagonistin in die Rolle des ängstlichen Kindes, das sich durch Innstettens Andeutungen über eine „Gruselgeschichte“ einschüchtern lässt. Als Ehefrau wird Effi vom Natur-Kind zur Kind-Frau, sie selbst erschrickt vor der Rolle, die ihr in Kessin zugedacht ist. In ihrer Beziehung zu Innstetten begibt sie sich daher bereitwillig unter seine Vormundschaft und zeigt sich weiterhin mal kindlich-ängstlich, mal unbeschwert heiter oder mitunter auch kokett. In der Situation der sie überfordernden Rollenerwartungen ließe Fontanes Protagonistin sich auch dem Typus der unverstandenen Frau zuordnen. Laut Bettina Klingler stellt die femme incomprise die Komplementärerscheinung zum Ideal der sich aufopfernden Ehefrau und Mutter dar: „Ihre Darstellung im 19. Jahrhundert bedeutet Anmaßung und Tabuverletzung zugleich – legt sie doch mit der Infragestellung der traditionellen Rollenzuweisung sowie der darin definierten Möglichkeit zur weiblichen Selbsterfüllung einen jahrhundertelang währenden Verdrängungsprozeß offen – und nimmt neben Frauenverherrlichung und Frauenverhöhnung eine neuartige Stellung ein.“429 Die erlebte Unverstandenheit einer Romanheldin definiert Klingler als Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, deren Vereinigung die Unverstandene durch Fluchtversu-

426 Dies konstatiert auch Shieh. Vgl. Shieh: Liebe, Ehe, Hausstand, S. 113. 427 Fontane: Effi Briest, S. 66. 428 Ebd., S. 67. 429 Klingler: Emma Bovary und ihre Schwestern, S. 1.

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che zu erlangen sucht.430 Als soziale Vorbedingungen für den weiblichen Status des Unverstandenseins wird die materielle und rechtliche Abhängigkeit vom Mann angeführt sowie insgesamt die Rolle, die der Frau in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zugedacht wird.431 Gemäß dieser Definition ließe Effi Briest sich zweifelsfrei als femme incomprise kategorisieren, wobei auffällt, dass Effis Gefühl des Unverstandenseins insbesondere dann auftritt, wenn sie alleingelassen von ihrem Mann der drohenden Langeweile ausgesetzt ist. Dieser Zusammenhang verdeutlicht sich angesichts des erneuten Hinweises auf den Gespensterglauben der Protagonistin. Während Innstetten nach Varzin zu Bismarck reist und also seine berufliche Karriere zu befördern sucht, erscheint Effi des Nachts der tote Chinese aus Innstettens Andeutungen. Effi reagiert somit auf ihre Überforderung in der ihr zugedachten Rolle mit einer unausweichlichen Nervosität, ein erstes Anzeichen für ihr Scheitern. In ähnlicher Weise liest Nicole Thesz Effis Werdegang: Effis „nervöses Zittern“432 beim ersten Treffen mit Innstetten deute darauf voraus, dass Ursachen zu (mentaler) Krankheit in der Institution der bürgerlichen Ehe selbst veranlagt sind.433 Da die junge Braut den Erwartungen, die an sie als Frau gestellt werden, nicht entsprechen kann, muss sie schließlich daran erkranken: „The ‚femme-enfant‘ becomes a ‚femme-malade‘“434. Nachdem die Protagonistin nichts mehr zu verlieren hat, da sich nicht nur ihr Mann von ihr abgewandt, sondern auch ihre Tochter von ihr entfremdet hat, gibt sie sich ihrem Leid hin, das sich in ein Leiden, also eine ernsthafte Erkrankung umwandelt. Zuletzt ist es Effis Arzt, der ihre Eltern vom Krankheitszustand ihrer Tochter in Kenntnis setzt und so den Ausschlag für ihre Rehabilitierung im elterlichen Hause gibt. Es ließe sich hinzufügen, dass am Ausgang des Romans die femme malade wieder zum Kind wird. Wie bereits angesprochen, wird Effis Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit bekräftigt durch die Tatsache, dass sie am Anfang sowie am Ende des Romans dieselben Kleider trägt, nämlich „wie damals an ihrem Verlobungstage mit Innstetten, ein blau- und weißgestreiftes Kittelkleid mit einem losen Gürtel“435. Eine weitere Rahmung findet durch die Worte „Effi, komm“ statt, die zum einen am Verlobungstag von Hertha ausgesprochen werden, um Effis Aufmerksamkeit von Instetten zurück auf die Freundinnen zu lenken, und ein weiteres Mal am Ausgang des Romans vom Vater per Tele-

430 Vgl. ebd., S. 35. 431 Vgl. ebd., S. 37. 432 Fontane: Effi Briest, S. 23. 433 Vgl. Nicole Thesz: „Marie Nathusius’ Elisabeth and Fontane’s Effi Briest. Mental Illness and Marital Discord in the ‚Century of Nerves‘“, in: The German Quarterly 83 (2010), H. 1, S. 27. 434 Ebd., S. 21. 435 Fontane: Effi Briest, S. 344.



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gramm an Effi übermittelt werden, um diese aus ihrer Verbannung zurück nach Hohen-Cremmen zu holen. Herthas Aufforderung „Effi, komm“436 fällt insofern ins Gewicht, als sie im Moment des Initiationsritus der Verlobung als Störung auftritt und die Protagonistin, die so zurück zum Spiel mit den Freundinnen gerufen wird, an die eigene kindliche Unreife erinnert. Eine ähnliche Funktion kann der Wiederholung dieser Aufforderung seitens ihrer Eltern zugeschrieben werden. Mit der gleich lautenden Telegramm-Botschaft437 signalisieren die Briests ihrer Tochter ihr Verständnis und berufen sie nicht nur zurück an den Ort ihrer Kindheit, sondern auch in einen ähnlich abgeschirmten Zustand. Zwar durchläuft die Protagonistin im Zuge der Handlung verschiedene Stationen, auf denen sie mit unterschiedlichen Rollenerwartungen konfrontiert ist, allerdings beginnt und endet ihre Geschichte auf einem kindlichen Entwicklungsniveau und auch in der Zwischenzeit verlässt sie nie ganz die Identität des Kindes. Eine wesentliche Vorbedingung für Effis Verharren in diesem Status bildet das Verhältnis zu ihrer Mutter, das im Folgenden näher betrachtet werden soll.

4.5.2 Mütter und Töchter und Mütter Dass Effis Geschichte in ihrer Familie beginnt und endet, wurde bereits festgehalten, dabei muss allerdings auch der Konstellation von Mutter und Tochter Aufmerksamkeit zuteil werden. Der Roman beginnt damit, dass die Protagonistin in die Fußstapfen ihrer Mutter treten soll, indem sie deren früheren Verehrer heiratet. Dabei fällt auf, dass Effi sich der Vorgeschichte Innstettens zwar bewusst ist, sich hingegen nicht als Nachfolgerin ihrer Mutter sieht, zumindest findet keine direkte Würdigung dieses Kuriosums statt. Wenn Effi ihren Freundinnen Hertha, Bertha und Hulda von der „Liebesgeschichte“ erzählt, dann um ihrer eigenen Sensations- oder – wenn man so will – Vergnügungslust genüge zu tun. Die „Liebesgeschichte mit Held und Heldin, und zuletzt mit Entsagung“438 dient zur einfachen Unterhaltung, sie vertreibt Effi und ihren Freundinnen die Zeit. Dafür spricht auch der Umstand, dass Effi eigentlich gar keine Geschichte erzählt, diese besteht bereits in der Ankündigung. Hinzugefügt werden nur noch die Namen von Held und Heldin – Luise Briest und Innstetten – und die lapidare Pointe: „Nun, es kam, wie’s kommen mußte, wie’s immer kommt.“439 Da Effi zu

436 Ebd., S. 23. 437 Vgl. ebd., S. 342. 438 Ebd., S. 13. 439 Ebd., S. 16.

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diesem Zeitpunkt noch nicht darüber aufgeklärt ist, dass Innstettens Besuch keinesfalls nur der Mama gilt, findet ihrerseits keine Identifikation mit der „Heldin“ statt. Ihre eigene Rolle in der „Geschichte mit Entsagung“440 bestimmt Effi als die des Kindes. Entsprechend heißt es über die Entsagung und die darauffolgende Heirat Luises mit Briest: „[D]as andere, was sonst noch kam, nun das wißt ihr ... das andere bin ich.“441 Dass Effi ihr ganzes Leben hindurch in dem Status des Kindes verharrt, wurde bereits oben ausgeführt, eine wesentliche Ursache dafür ist sicherlich in der mangelnden Identifikation mit der Mutter und der von ihr repräsentierten Geschlechterrolle zusehen. In Abgrenzung zur „schöne[n], schlanke[n] Mama“ wird Effi die „Kleine“ genannt, womit eine grundlegende Unterscheidung zwischen den beiden Frauen getroffen wird. Effi identifiziert sich weniger mit ihrer Mutter als mit ihrem Vater, dessen Bonmots sie übernimmt. Auch in Bezug auf ihre Verlobung mit Innstetten fällt die fehlende Vorbildfunktion Luises auf: Anstatt sich selbst als Nachfolgerin ihrer Mutter in deren Rolle hineinzuversetzen, projiziert Effi sich in die Lage Innstettens und sieht sich als möglichen Verehrer ihrer Mutter. Dementsprechend sagt die Protagonistin über ihre Mutter: „Sie ist doch eigentlich eine schöne Frau. [...] Wenn ich ein junger Leutnant wäre, so würd’ ich mich in die Mama verlieben.“442 Diese Aussage weist besonders prägnant auf Effis Unvermögen, sich mit der weiblichen Geschlechtsidentität zu identifizieren, hin. In ihrer Phantasie schlüpft sie ausnahmslos in männliche Rollen, sieht sich mal als Midshipman und mal als Leutnant. Weibliche Rollenvorbilder kennt Effi dagegen nicht. Luise Briest hingegen versäumt es, die mangelnde Identifikation ihrer Tochter mit der durch sie selbst vertretenen Rolle zu erkennen. Ganz im Gegenteil überträgt sie die eigenen Wünsche und Träume umstandslos auf ihre Tochter, wenn sie dieser dazu rät, Innstettens Antrag anzunehmen. Tatsächlich zieht sie eine Ablehnung Effis nicht wirklich in Betracht, als sie dieser die Vorzüge des Bewerbers schildert: „Er ist freilich älter als du, was alles in allem ein Glück ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten, und wenn du nicht ‚nein‘ sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.“443 Luise versucht durch die Tochter die eigenen Ambitionen zu befriedigen und appelliert entsprechend an Effis Eitelkeit, indem sie eine mögli-

440 Ebd., S. 13. 441 Ebd., S. 16. 442 Ebd., S. 15. 443 Ebd., S. 22.



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che Ablehnung als unklug markiert, und an deren Ehrgeiz. Wie Martha Kaarsberg Wallach hervorhebt, handelt sie damit zwar nicht in böser Absicht, allerdings wirkt der gute Wille der Mutter auch keinesfalls als Garant für das Glück der Tochter.444 Im Unterschied zu anderen Romanheldinnen, man denke nur an Marianne Dashwood, hegt Effi keinerlei romantische Vorstellungen und so steht ihrer Verlobung nichts im Wege. Sie hat keinesfalls vor, auf den einen Richtigen zu warten, wie sie Hertha erklärt: „Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.“445 Trotzdem zeigt die Protagonistin einige Zweifel an ihrer Entscheidung, nachdem die Flitterwochen vorüber sind und sie in Kessin im landrätlichen Haus angekommen ist, indem sie zugibt, ihrer Rolle nicht gerecht werden zu können. Dabei verweist Effi nochmals auf den Unterschied zwischen ihrem kindlichen Selbst und ihrer Mutter, die ihr die Identität als Landratsgattin nahezu aufoktroyiert hat: „Und nun ich! Und gerade hier. Ach, ich tauge doch gar nicht für eine große Dame. Die Mama, ja, die hätte hierher gepaßt, die hätte, wie’s einer Landrätin zukommt, den Ton angegeben [...]. Aber ich ... ich bin ein Kind und werd’ es auch wohl bleiben.“446 Effis Verbleib in der Rolle des Kindes ändert sich auch nicht, als sie selbst Mutter wird. Wiederum ist es die Protagonistin selbst, die diese Einsicht formuliert. In einem Brief nach Hohen-Cremmen kündigt Effi ihre Schwangerschaft an und nimmt zugleich zu Innstettens Kommentar, das Kind werde für sie ein „liebes Spielzeug“447 sein, Stellung: „Mit diesem Worte wird er wohl recht haben, aber er sollte es lieber nicht gebrauchen, weil es mir immer einen kleinen Stich gibt und mich daran erinnert, wie jung ich bin, und daß ich noch halb in die Kinderstube gehöre.“448 Obwohl Effi sich nicht in die Mutterrolle findet, zumal die Identifikation mit ihrer eigenen Mutter fehlging, macht sie denselben Fehler wie Luise Briest und projiziert die eigenen Wunschvorstellungen auf ihre Tochter. Ohne in Betracht zu ziehen, dass sich ihre Tochter in den Jahren der Verbannung bereits völlig von ihr entfremdet hat, wünscht sie sich einen Besuch Annies herbei. Als dieser letztlich zustande kommt, muss Effi jedoch feststellen, dass die von Innstetten „abgerichtete“ Tochter ihrer Mutter nichts als Höflichkeit entgegen-

444 Vgl. Martha Kaarsberg Wallach: „Die ‚verkaufte‘ Braut. Mütter geben ihre Töchter Preis“, in: Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur, hg. v. Helga Kraft u. Elke Liebs, Stuttgart: Metzler 1993, S. 94. 445 Fontane: Effi Briest, S. 25. 446 Ebd., S. 88f. 447 Ebd., S. 122. 448 Ebd.

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bringt.449 Ebenso wie sie sich selbst in die Erwartungen ihrer Mutter gefügt hat, indem sie einwilligte, Innstettens Frau zu werden, fügt sich auch Annie aus kindlichem Gehorsam in die Pläne Effis für zukünftige Zusammentreffen. Im Unterschied jedoch zu Luise Briest lehnt Effi den fehlenden Eigensinn ihrer Tochter, die sie als „Papagei“450 bezeichnet, ab. So bleibt zu fragen, ob sich die Beziehung der Protagonistin zu ihrer Mutter tatsächlich im Verhältnis zu ihrem eigenen Kind wiederholt hätte, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Sicher ist nur, dass Effis Reaktion des totalen Rückzugs nach Annies Besuch – in der Folge bricht die Protagonistin völlig zusammen – die logische und natürliche Konsequenz ihrer Enttäuschung darstellt.

4.5.3 Liebe, ein „Papperlapapp“: Leidenschaft und Langeweile, Verstand und Gefühl Effi erwartet keine romantische Liebe, das geht sowohl aus ihren eigenen Äußerungen und Handlungen hervor als auch aus den Kommentaren anderer Figuren. Wenn sie, wie zuvor bereits beschrieben, Hertha gegenüber angibt, jeder Mann sei der „Richtige“, solange er nur bestimmte äußere Kriterien erfülle, dann bringt sie ihre Indifferenz im Hinblick auf den amour passion auf den Punkt. Interessant ist nun, dass die Protagonistin offenbar nicht immer dieser Ansicht war, wie Herthas Einwand verdeutlicht: „Sonst sprachst du doch ganz anders.“451 Effis knappe Antwort „Ja, sonst“452 deutet einen Sinneswandel an: Wenn sie bislang vielleicht romantische Phantasien gehegt hat, so überträgt sie diese keinesfalls auf die Realität. Von der Ehe erwartet Effi nicht, dass sich darin ihre möglichen Vorstellungen von leidenschaftlicher Liebe erfüllen. Deswegen könnte sie die Frage, ob sie denn glücklich sei, die ihre Freundin ihr im weiteren Verlauf der Unterhaltung stellt, ohne zu zögern bejahen. Allerdings tut sie dies nicht, zumindest nicht direkt: „Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich. Wenigstens denk’ ich es mir so.“453 Damit sagt Effi lediglich, dass sie eigentlich glücklich sein müsste, da „man“ es doch augenscheinlich ist. Jhy-Wey Shieh weist zu Recht auf die diesbezügliche Differenz zwischen Effis Gefühlen und

449 Diese Beobachtung formuliert auch Kaarsberg Wallach, die in Bezug auf die Mütter-TöchterKonstellationen in Fontanes Roman von „Wiederholungszwang“ spricht. Vgl. Kaarsberg Wallach: „Die ‚verkaufte‘ Braut“, S. 108. 450 Fontane: Effi Briest, S. 339. 451 Ebd., S. 25. 452 Ebd. 453 Ebd., S. 26.



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Gedanken hin, sie denkt, sie fühle sich glücklich, da es von ihr erwartet wird.454 Aus demselben Grund hat die Protagonistin überhaupt in die Verlobung eingewilligt, weil „man“ es so von ihr erwartete. Nicht zuletzt hat Luise Briest ihrer Tochter unmissverständlich signalisiert, dass eine Ablehnung des Heiratsantrags im Grunde nicht in Frage kommt. So ist also Helmut Schmiedt zuzustimmen, der Effis Eheschließung als „vernünftige Liebe“ gewürdigt wissen will.455 Dass Effi im Hinblick auf den Ehestand realistisch-pragmatisch denkt, bedeutet jedoch nicht, dass sie generell an der Liebe als solcher zweifelt, dies vergegenwärtigt ein Gespräch mit ihrer Mutter. Nach ihren Vorstellungen von der Ehe befragt, äußert Effi sich wie folgt: Ich bin ... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus456.

Das Wesentliche steht hier in Klammern: Effi glaubt durchaus an die Liebe, ist aber zugleich zu der Einsicht gelangt, dass Leidenschaft und Ehe nicht unbedingt zusammengehören. Des Weiteren fasst die Protagonistin ihre Prioritäten nochmals zusammen: „Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung“457. Zwar wünscht Effi sich durchaus „Liebe und Zärtlichkeit“, allerdings nicht unbedingt im Kontext der Ehe. Wenn sich ihre dahingehenden Vorstellungen erfüllen lassen, umso besser, aber die Protagonistin schließt ein eheliches Zusammenleben ohne leidenschaftliche Liebe keinesfalls aus, was insbesondere die Nennung verschiedener Substitute verdeutlicht. Effi meint also, auf Liebe verzichten zu können, solange sie über materielle Annehmlichkeiten und genügend Ablenkung verfügt. Aufgrund dieser Vorstellungen fällt es Effi nicht schwer, sich widerstandslos in den Willen ihrer Mutter zu fügen und Innstettens Antrag zu akzeptieren. Sie bleibt dabei ganz der Rolle des gehorsamen Kindes verhaftet, das tut, was von ihm erwartet wird. In diesem Kontext weist Rudolf Helmstetter auf das enge Verhältnis zwischen Tätigkeitsform und Leidensform im Hinblick auf die Wilhelminische Eheschließungspraxis hin: „Heiraten heißt hier eigentlich, zumindest

454 Vgl. Shieh: Liebe, Ehe, Hausstand, S. 82. 455 Vgl. Schmiedt: Liebe, Ehe, Ehebruch, S. 97. 456 Fontane: Effi Briest, S. 39f. 457 Ebd., S. 40.

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für den weiblichen Part, geheiratet werden.“458 Tatsächlich bleibt Effi an dieser Stelle gänzlich passiv, sie reagiert lediglich auf die Entscheidung Innstettens, um ihre Hand anzuhalten. Was für Effis Ehe gilt, das lässt sich auch auf ihre Affäre beziehen: Ebenso, wie sie sich heiraten lässt, lässt sie sich verführen. Wie die Verlobung „passiert“ auch der Ehebruch ohne eigentliches Zutun der Protagonistin, dabei befriedigt das eine sowie das andere Effis Drang nach Zerstreuung. Tatsächlich besteht in der Furcht der Protagonistin vor mangelnder Unterhaltung eine wesentliche Voraussetzung für ihren Fehltritt. Diesen Charakterzug Effis erkennen auch ihre Eltern, die nach der Hochzeit versuchen, in die Psyche ihrer Tochter einzudringen. Bezeichnenderweise erörtern sie die Frage, ob die Tochter überhaupt zu Innstetten passt, erst als deren Bund längst geschlossen ist. Auf Briests Besorgnis um Effis Glücksaussichten hin beschreibt seine Frau die charakterlichen Dispositionen der Protagonistin wie folgt: So geweckt und temperamentvoll und beinahe leidenschaftlich sie ist, oder vielleicht auch weil sie es ist, sie gehört nicht zu denen, die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind, wenigstens nicht auf das, was den Namen ehrlich verdient. Sie redet zwar davon, sogar mit Nachdruck und einem gewissen Überzeugungston, aber doch nur, weil sie irgendwo gelesen hat, Liebe sei nun mal das Höchste, das Schönste, das Herrlichste.459

Auf Briests Frage, wohin Effis Neigungen stattdessen zielten, wiederholt Luise das Bekenntnis ihrer Tochter: „Sie hat nach meinem und auch nach ihrem eigenen Zeugnis zweierlei: Vergnügungssucht und Ehrgeiz.“460 Beides wird mehrfach von Effi selbst bestätigt, so heißt es etwa in ihrer „Generalbeichte“461 gegenüber der Mutter: „ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.“462 Ihren Ehrgeiz gibt sie dagegen in einem Gespräch mit Instetten zu: „Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe dich eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet.“463

458 Rudolf Helmstetter: „Literarisch induzierte Liebe und ‚salonmäßig abgedämpfte Liebe‘. Theodor Fontanes Effi Briest“, in: Leidenschaften literarisch, hg. v. Reingard M. Nischik, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1998 (= Texte zur Weltliteratur, Bd. 1), S. 234. 459 Fontane: Effi Briest, S. 49. 460 Ebd. 461 Auf Briests Frage, ob Effi Luise gegenüber ihr Herz ausgeschüttet habe, betont letztere, dass es sich eben nicht um eine „Generalbeichte“ gehandelt habe, sondern dass Effis Bekenntnis „bloß ruckweis“ bzw. „ungewollt und wie von ungefähr“ aus ihr herausgefahren sei, was Luises Ansicht nach aber für den Wahrheitsgehalt desselben spricht. Ebd., S. 48. 462 Ebd., S. 40. 463 Ebd., S. 102.



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Wie zuvor bereits festgehalten, wird Effis Ehrgeiz in der ihr durch die Ehe zugesicherten gesellschaftlichen Position durchaus befriedigt, nicht jedoch die von der Mutter diagnostizierte Vergnügungssucht. Kessin stellt sich bald als provinzielle Kultursteppe heraus, in der abgesehen von einem privat organisierten Opernabend mit einer heimischen Sängerin nichts stattfindet. Die einzigen Möglichkeiten zur Zerstreuung, die obligatorischen Besuche bei benachbarten Adelsfamilien, rufen indes Effis Widerwillen hervor: „Ja, Geert, wenn es durchaus sein muß, aber ich vergehe vor Langeweile.“464 Wie groß das Bedürfnis der Protagonistin nach Unterhaltung tatsächlich ist, veranschaulicht auch ihre freundschaftliche Beziehung zu der von ihr angestellten Kinderfrau Roswitha. Dieser ist Effi so dankbar für jeden unterhaltsamen Klatsch, dass sich das zweite Dienstmädchen nur wundern kann, „dass die gnädige Frau an all dem dummen Zeuge so viel Gefallen finde“465. Was ihr gesellschaftliches Leben anbelangt, so sieht Effi sich also mit dem konfrontiert, was sie nach eigenen Angaben nicht ertragen kann. Eine zeitweilige Ablenkung vom Nichts des Kessiner Gesellschaftslebens bietet sich Effi in Form ihrer Freundschaft mit dem Apotheker Gieshübler, der den besagten Opernabend ausrichtet. Gieshübler, den Innstetten als „Schöngeist und Original“466 beschreibt, tritt zu Effi in Beziehung als devoter Bewunderer. Seine aufrichtige Verehrung für die junge Landratsgattin drückt sich in Handküssen und kleinen Aufmerksamkeiten aus, dabei spielt er die Rolle des Galans ohne ernsthafte Hintergedanken. Da Gieshübler jedoch insgesamt eine eher komische Figur abgibt, so bleibt es etwa an ihm, die Schulden der Sängerin Marietta Tripelli zu begleichen, erfüllt er Effis Verlangen nach Vergnügen und Zerstreuung nur kurzfristig. In diese Situation der Langeweile dringt schließlich Major Crampas ein, der nicht nur selbst einen angenehmen, da neu hinzugezogenen, Gesellschafter abgibt, sondern darüber hinaus bestrebt ist, für Effi alternative Unterhaltungsangebote zu schaffen. So besteht er nicht nur darauf, dass Effi mit ihm und zunächst auch mit Innstetten bis in den späten Herbst ausgedehnte Ausritte unternimmt, sondern agiert ebenfalls als Initiator einer Theatergruppe, die bezeichnenderweise ein Stück mit dem Titel „Der Schritt vom Wege“ aufführt. Verfolgt man den Gedankengang Edith Krauses, die Gieshübler als Crampas’ platonisches Doppel bezeichnet,467 so lassen sich die beiden Figuren synthetisch zum perfekten Lieb-

464 Ebd., S. 126. 465 Ebd., S. 143. 466 Ebd., S. 63. 467 Vgl. Edith H. Krause: „Desire and Denial. Fontane’s Effi Briest“, in: The Germanic Review 74 (1999), H. 2, S. 124.

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haber zusammenfassen, wobei sich die Zuständigkeit des einen auf Effis emotionale Befindlichkeit konzentriert, wohingegen der andere ihre Libido anspricht. Die Tatsache, dass Crampas die Rolle des galanten Verehrers einem anderen überlässt, zeugt von der Ausschließlichkeit seines Interesses. Wie Effi sucht auch er die Abwechslung und versäumt es nicht, Effis wunden Punkt anzusprechen: „Abwechslung ist des Lebens Reiz, eine Wahrheit, die freilich jede glückliche Ehe zu widerlegen scheint.“468 Effis Einwand, „Wenn es glückliche Ehen gibt“469, den sie immerhin in Gegenwart Innstettens geltend macht, drückt ihr Verständnis und ihre Zustimmung zu der Auffassung, die Ehe sei prädestiniert dazu, um Langeweile auszulösen, aus. In diesem Licht erscheint Effis „Schritt vom Wege“ nur allzu vorhersehbar, die Affäre mit Crampas stellt ganz einfach ein willkommenes Abenteuer dar. Der Ehebruch Effi Briests findet somit weniger aus Leidenschaft als aus Langeweile statt. Leidenschaft kann schon deshalb nicht aufkommen, weil Crampas nur einen mittelmäßigen Verführer abgibt. Zwar eilt ihm sein Ruf voraus, immerhin hört die Protagonistin bereits zu Beginn ihrer Bekanntschaft von seiner amourösen Vergangenheit, allerdings zeugt Effis Kommentar zu derselben davon, wie abgeschmackt das Attribut amouröser Passioniertheit erscheint: „Er, Crampas, soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse sein, ein Damenmann, etwas was mir immer lächerlich ist und mir auch in diesem Falle lächerlich sein würde, wenn er nicht, um eben solcher Dinge willen, ein Duell mit einem Kameraden gehabt hätte.“470 Angesichts dieser Beschreibung ruft sich die Einführung Raymon de Ramières in George Sands Indiana in Erinnerung, die ebenfalls die Erfahrung des Verführers in Liebesangelegenheiten ins Zentrum stellte. Im Unterschied allerdings zu Raymon, dessen Vergangenheit zunächst auf die Unkontrollierbarkeit seiner Gefühlswelt hindeutete, lässt Crampas erste Beschreibung ihn nahezu abgestumpft wirken, die große Liebe verspricht der gewohnheitsmäßige Verführer jedenfalls nicht. In der Tat erscheint Crampas fast schon durchschnittlich, er zeichnet sich weder durch besondere äußerliche Vorzüge, immerhin wird eine Glatze angedeutet,471 noch durch besondere charakterliche Dispositionen aus. Zwar werden seine kameradschaftlichen Tugenden betont, zu Effi tritt er allerdings nicht durch außergewöhnliche Charaktereigenschaften in Bezug. Im

468 Fontane: Effi Briest, S. 155. 469 Ebd. 470 Ebd., S. 130. 471 Effi selbst nimmt diese äußerliche Unzulänglichkeit mit Bedauern zur Kenntnis als sie Crampas auf sein vom Baden nasses Haar anspricht: „ich wünschte Ihnen, daß es mehr wäre“. Ebd., S. 153.



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Übrigen lässt sich eine weitere Parallele zwischen Effi Briest und Indiana bestimmen: Nicht nur weist das Dreieck zwischen Effi, Instetten und Crampas Affinitäten zur Figurenkonstellation in Indiana auf, auch Sands Jagdszene findet eine Entsprechung bei Fontane. Auch er stellt seine Protagonistin als Reiterin dar und stattet sie so mit dem Attribut des Androgynen aus, wenn auch nicht ganz so pointiert wie Sand, immerhin erhält Effi einen Damensattel. In dieser Szene übernimmt Innstetten ebenso wie Ralph die Rolle des Ordnungswahrers, der die drohende Gefahr erkennt und seine Frau deshalb genau beobachtet. Während Crampas Effis Wunsch, die Männer beim Ausritt zu begleiten, „kapital“472 findet und sie insofern für sich gewinnt, als er zum Plädoyer für den „Leichtsinn“473 ansetzt, beobachtet Innstetten das Verhalten seiner Frau äußerst kritisch. War er zunächst generell gegen ihre Teilnahme an dieser Zerstreuung, so verlegt er sich schließlich darauf, Crampas’ Aussagen skeptisch zu kommentieren. So entgegnet er auf Effis Beifall für Crampas’ Äußerung, alle Gesetzlichkeiten seien langweilig, mit einer allgemein anmutenden Kritik: „Natürlich; die Weiber schreien sofort nach einem Schutzmann, aber von Gesetz wollen sie nichts wissen.“474 Letztlich nützen Innstettens Ermahnungen und Vorsichtsmaßnahmen jedoch nichts und Effi lässt sich auf die Affäre ein. Einzig verschiedene Zufälle führen den Ehebruch herbei, was einmal mehr seine Trivialität hervorhebt. So führt in letzter Konsequenz das Wetter dazu, dass Effi allein mit Crampas im Innstettenschen Schlitten fahren muss und gibt dem Verführer die nötige Gelegenheit, sein Ziel zu erreichen. Wie Helmut Schmiedt zeigt, erzählt Fontanes Roman eine vollkommen banale Geschichte, die nur durch das zufällige Zusammentreffen mehrerer Faktoren zustande kommt.475 Teil dieser Alltagsgeschichte ist es, die Protagonistin völlig geschlechtscharakterkonform passiv darzustellen. Effi Briest ist im Gegensatz zu anderen Romanen im Spannungsfeld von Liebe, Ehe und Ehebruch also nicht die Ausnahme, sondern die Regel.476 Crampas ist kein heroischer Verführer und auch Effi ist keine Romanheldin, die sich „Herz über Kopf“ in einen rettenden Liebhaber verliebt. Sie lässt einfach das geschehen, was zu ihrer Unterhaltung beiträgt und sie so von ihrer ungeliebten Rolle als Landratsgattin ablenkt. Diesen Mangel an „echten“ Gefühlen beurteilt Heide Rohse als das eigentlich Tragische an Effis Schicksal. Die Passivität der Kindfrau Effi dehne sich auch auf

472 Ebd., S. 157. 473 Tatsächlich assoziiert Crampas Leichtsinn mit Charakterstärke: „Wer gerade gewachsen ist, ist für Leichtsinn. Überhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuß Pulver wert.“ Ebd., S. 160. 474 Ebd., S. 159. 475 Schmiedt: Liebe, Ehe, Ehebruch, S. 102f. 476 Vgl. ebd., S. 105.

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den erotischen Bereich aus und führe insgesamt zu einem Entwicklungsdefizit ihrer Weiblichkeit: „In ihrer ‚verletzten Weiblichkeit‘ verbirgt sich eine leise, aber desto tiefere Tragik, denn sie, die Glücksfähige, kann – da sie als Frau unentwickelt bleiben muß – nicht lieben. Das bedeutet, daß die traurigen Verwirrungen des Romans, Unglück und Sterben um Nichts geschehen. Ihr Ehebruch geschieht nicht aus leidenschaftlicher Liebe oder auch nur aus sexuellem Begehren. Er hat mit Liebe ebenso wenig zu tun wie ihre Ehe.“477 Effis Leidenschaft beschränkt sich auf ihr Temperament im Allgemeinen, nicht jedoch auf ihre Liebesfähigkeit. Liebe bedeutet für Effi insofern ein „Papperlapapp“, als sie diese lediglich vom Hörensagen kennt oder von dem sie, wie die Mutter meint, irgendwo gelesen hat. Das bedeutet indes nicht, dass die Protagonistin den Gedanken der leidenschaftlichen oder romantischen Liebe gänzlich verwirft. Effi glaubt durchaus an die Existenz einer solchen Liebe, betrachtet diese aber als ein Ideal, das keine Berührungspunkte mit der ehelichen Realität aufweist. Folglich ist Schmiedt zuzustimmen, der das Scheitern der Innstettenschen Ehe nicht auf einen Mangel an Liebe bzw. die Diskrepanz zwischen „der Intensität der Affekte und ihrer kalten Regulation durch die Institution“478 zurückführt, sondern auf die Belastungen des Alltags. Dem pflichtet auch Niels Werber bei: „Die Ehe wird hier von der Folie ihrer romantischen Gestalt entmystifiziert, die substanzielle Einheit von Mann und Frau wird zu einem Vertragsverhältnis positiviert, an dem allein seine Verletzung interessant zu sein verspricht. Nicht die in den Bund fürs Leben mündende Liebe, sondern der Ehebruch wird zum Thema de[s] Roman[s].“479 Nun liegt der Schluss nahe, dass Fontanes Heldin überhaupt keinen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl auszutragen hat, da sie offensichtlich nicht auf der Suche nach emotionaler Verwirklichung ist. Folgt man der Auffassung von Effis Eltern, dass die Protagonistin nicht auf die Liebe „gestellt“ sei, so ließe sich tatsächlich kein solcher Konflikt bei ihr verzeichnen. Allerdings muss das dahingehende Urteilsvermögen der Briests meines Erachtens in Zweifel gezogen werden: Liebe ist Effi nicht etwa gleichgültig, auch macht sie sich keineswegs falsche Vorstellungen von dem, „was den Namen ehrlich verdient“. Gerade weil Effi sich nach Liebe zu sehnen scheint – da Luise zwischen „ehrlicher“ leidenschaftlicher und konventioneller Liebe differenziert, kann auch Effi diese Unterscheidung

477 Heide Rohse: „‚Arme Effi‘. Widersprüche geschlechtlicher Identität in Fontanes Effi Briest“, in: Dies.: Unsichtbare Tränen. Effi Briest – Oblomow – Anton Reiser – Passion Christi. Psychoanalytische Literaturinterpretationen zu Theodor Fontane, Iwan A. Gontscharow, Karl Philipp Moritz und Neuem Testament, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 23. 478 Schmiedt: Liebe, Ehe, Ehebruch, S. 113. 479 Werber: Liebe als Roman, S. 136.



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zugetraut werden – ist sie bemüht, sich Ersatzbeschäftigungen zu suchen. Effi beweist große Reife, wenn sie sich überlegt, was sie braucht, um ohne Liebe zu leben. Ihr Konflikt ist somit indirekt einer zwischen Verstand und Gefühl: Effi fühlt das Bedürfnis nach Liebe, weiß aber zugleich um die geringen Erfüllungsaussichten. In der Folge entscheidet sie sich dafür, das Gefühl vorläufig hinten anzustellen und ermöglicht sich ein reelles Maß an Glück durch die „vernünftige“ Entscheidung, Innstetten zu heiraten. Damit kann Effi eine vorläufige Lösung ihres Dilemmas herbeiführen, der Konflikt bricht jedoch in dem Moment auf, in dem die zuvor konstruierte Ersatzbefriedigung, sprich die Zerstreuung, ausbleibt. Effis Wunsch, sich emotional auszuleben, kehrt zurück an die Oberfläche und führt die Protagonistin dazu, in ihrer Vergnügungssucht immer weitere Kreise zu ziehen und letztlich den schwachen Verführungsversuchen von Crampas – „ganz Beau und halber Barbarossa“480 – nachzugeben.

4.5.4 Formen des „Unbürgerlichen“ Mit der Aversion der Protagonistin gegen Leerlauf und Langeweile geht eine entgegengesetzte Begeisterung für alles Nicht-Alltägliche einher. Dies zeigt sich erstmals als Effi und Innstetten von ihrer Hochzeitsreise zurückkehren: Auf dem Weg in ihr neues Zuhause befragt die Protagonistin ihren Mann über Kessin und seine Einwohner, nicht ohne sich einige Hoffnungen auf „[a]llerlei Exotisches“481 zu machen. Entsprechend vermutet sie „[e]ine ganz neue Welt [...], vielleicht einen Neger, oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen.“482 Das Außergewöhnliche und Fremde übt eine offensichtliche Faszination auf die Protagonistin aus, dabei tritt das „Aparte“, für das sie so schwärmt oftmals in der Form des „Unbürgerlichen“ auf. Entsprechend schockiert zeigt sich Luise Briest von Effis Wunsch nach einem japanischen Bettschirm und einer roten Ampel für das eheliche Schlafzimmer und nimmt dies zum Anlass, ihre Tochter vor derlei Extravaganzen, die sie für Illusionen hält, zu warnen: „Du bist ein Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt.“483 Dieser Rat zur Introvertiertheit lässt sich unschwer auf das eheliche Schlafzimmer übertragen, auch in sexueller Hinsicht soll Effi die Ausschweifung vermeiden und sich stattdessen

480 Fontane: Effi Briest, S. 273. 481 Ebd., S. 56. 482 Ebd. 483 Ebd., S. 38.

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zurückhaltend und bescheiden anstellen. Angesichts der mahnenden Worte ihrer Mutter zeigt Effi sich einsichtig und gibt ihre Wünsche auf. Wie sich herausstellt, lässt sich ihre Vorliebe für das Exotische in Kessin trotzdem innerhalb eines gewissen Rahmens befriedigen. So umgibt sich vor allem der Apotheker Gieshübler mit dem Hauch des Exotischen. Dies kündigt bereits sein Name an, wie Effi feststellt: „Alonzo Gieshübler, so mein’ ich, schließt eine ganz neue Welt vor einem auf, ja fast möcht’ ich sagen dürfen, Alonzo ist ein romantischer Name, ein Preziosaname.“484 Während sich der ungewöhnliche Vorname auf Gieshüblers spanischstämmige Mutter zurückführen lässt, umgibt sich Effis Verehrer auch darüber hinaus mit einem Zirkel „unbürgerlicher“ Figuren. Während sein Diener Mirambo den Namen eines afrikanischen Räuberhauptmanns trägt, stellt nicht zuletzt die Sängerin Marietta Tripelli, die als Gieshüblers Ziehtochter gelten kann, eine besonders schillernde Figur dar. Die Tripelli, deren Herkunft um einiges trivialer ist, als ihr Name zunächst vermuten lässt – tatsächlich stellt sie sich als Marie Trippel, Tochter eines Kessiner Pastors, heraus – gibt sich nicht nur den Anschein einer Dame von Welt, indem sie etwa französisch spricht, sondern hebt sich auch durch ihre Unangepasstheit von Effi und dem Rest der Provinzgesellschaft ab. „Die Tripelli, Anfang der Dreißig, stark männlich und von ausgesprochen humoristischem Typus“,485 fällt insbesondere durch ihre „Bonhommie“486 auf und unterwandert damit sämtliche durch den Geschlechtscharakterdiskurs propagierten Idealvorstellungen von weiblicher Zurückhaltung. Ohne Zweifel besteht eine so große Diskrepanz zwischen der Tripelli und bürgerlichen Setzungen von rollenkonformer Weiblichkeit, dass Innstetten sich genötigt sieht, seine Frau ausdrücklich vor einem derartigen Lebenswandel zu warnen: „[H]üte dich vor dem Aparten oder was man so das Aparte nennt. Was dir so verlockend erscheint – und ich rechne auch ein Leben dahin, wie’s die Tripelli führt –, das bezahlt man in der Regel mit seinem Glück.“487 Eine Mahnung, die aus Effis Perspektive unbegründet erscheint, verbindet sie doch nichts weiter mit der Operndiva, als ihre Sucht nach Unterhaltung. In dieser Hinsicht sorgt die Tripelli zweifellos für eine amüsante Episode in Effis Gesellschaftsleben, mehr bietet sie allerdings nicht. Eine weitere „unbürgerliche“ Variante weiblicher Lebensführung begegnet dem Leser in Sidonie von Grasenabb, die „dreiundvierzigjährige alte Jungfer“488 weicht ebenfalls von der weiblichen Normbiografie ab.

484 Ebd., S. 79. 485 Ebd., S. 111. 486 Ebd., S. 112. 487 Ebd., S. 107. 488 Ebd., S. 81.



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Als Identifikationsfigur für Effi taugt Sidonie allerdings ebenso wenig wie die Tripelli, zu stark ist die Figur durch Verbitterung und einer daraus resultierenden Strenge gegen ihre Mitmenschen gekennzeichnet.489 Eine komplexere Sensationsgeschichte kündigt sich noch vor Effis Einzug in Kessin an. Wie oben bereits beschrieben, äußert Effi Innstetten gegenüber den Wunsch nach einem fremdländischen Mitbürger. Diese Hoffnung kann Innstetten erfüllen und so findet unter dem Verweis auf einen Chinesen, der einst in Kessin lebte, mittlerweile jedoch bereits tot sei, das Motiv Eingang in den Roman, welches Fontane selbst als „Drehpunkt für die ganze Geschichte“490 bezeichnet hat. Effi reagiert auf diese Sensation zwiegespalten, einerseits füttert die Existenz des Exoten ihren Unterhaltungsdurst, andererseits löst das „Nichts“ der Geschichte, denn Innstetten erzählt nichts weiter, als dass der Chinese außerhalb des Friedhofs begraben wurde, ein Schaudern bei ihr aus. Effis Faszination für das Fremde mischt sich mit der Angst davor, so dass sie schließlich feststellt: „Ein Chinese, find’ ich, hat immer was Gruseliges.“491 Damit leistet sie der Aussage Innstettens Vorschub, der das Unheimliche des Chinesen, dessen „Geschichte“ er Effi zunächst nicht erzählt, durch die Bemerkung, „ein Chinese ist schon an und für sich eine Geschichte“492, noch bekräftigt. Im Folgenden beginnt eine Art Heimsuchung Effis durch den toten Fremden, so begegnet ihr der Chinese in Form eines Fibel-Bildchens auf dem Dachboden, den die Protagonistin zuvor bereits als Ort des Spuks erlebt hat. In einer weiteren Spuknacht, Effi ist erstmals allein im Landratshaus, tritt schließlich der Chinese selbst als Geist in Erscheinung. Wie Karla Bindokat konstatiert, ruft bereits die bildliche Darstellung des Chinesen und seines Aufzugs, also der „blaue Rock mit gelben Pluderhosen“493, Assoziationen zu Goethes Werther hervor.494 In der Tat scheint auch der Kessiner Chinese als Held einer tragischen Liebesgeschichte aufgetreten zu sein. Innstetten deutet diese „Geschichte“, von der es heißt, es sei „eigentlich gar nichts“495, nur an. So

489 Über Sidonie heißt es, dass sie Frau von Grasenabb, ihrer Mutter, Angst einflösst. Vgl. ebd., S. 81. Als Moralapostel urteilt sie über sämtliche ihrer Mitmenschen, wobei ihre Kritik vor allem Figuren mit vermeintlich scheinheiligem Glauben gilt, den sogenannten „Unechten“. Ebd. S. 195. 490 Theodor Fontane: „Brief an Josef Viktor Widmann vom 19. November 1895“, in: Fontanes Briefe in zwei Bänden, hg. v. Gotthard Erler, Bd. 2.,München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1981, S. 386f. 491 Fontane: Effi Briest, S. 57. 492 Ebd., S. 60. 493 Ebd., S. 75. 494 Vgl. Karla Bindokat: Effi Briest. Erzählstoff und Erzählinhalt, Frankfurt/M. u. a.: Lang 1984, S. 118. 495 Fontane: Effi Briest, S. 104.

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ist vor allem von einem Kapitän namens Thomsen die Rede, der lange Zeit ein „sogenannter Chinafahrer“496 gewesen sei und dem das Instettensche Haus zuvor gehört habe. Dieses Haus, das außerdem Thomsens Nichte oder Enkelin – über die Identität der jungen Frau lässt Innstetten seine Zuhörerin im Dunkeln – und den Chinesen beherbergte, stellt sich nun als Schauplatz der Geschichte heraus. Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so große Stücke auf ihn, daß er eigentlich mehr Freund als Diener war. Und das ging so Jahr und Tag. Da mit einem Mal hieß es, Thomsens Enkelin, die, glaub’ ich, Nina hieß, solle sich, nach des Alten Wunsche, verheiraten, auch mit einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. Es gab eine große Hochzeit im Hause [...]. Und wie man sich denken kann, es ging hoch her. Am Abend war Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einem Mal hieß es, sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da wurd’ er begraben.497

Effis zuvor geäußerte Hoffnung, die Kenntnis der Geschichte würde ihr helfen, ihr Unbehagen bezüglich des Chinesen zu überwinden, da die Wirklichkeit sie doch kaum so quälen könne wie ihre Fantasie, erfüllt sich sicherlich nicht durch Innstettens Erzählung. Anstatt Effis Vorstellungen mittels eines Tatsachenberichts zu „entzaubern“, nährt er ihre Fantasie, indem er wesentliche Aspekte der Geschichte ausspart. Effi könnte zu Recht fragen, ob weder die Enkelin/Nichte noch ihr Bräutigam jemals wieder aufgetaucht sind, unterlässt es aber und gibt sich mit der an Fantastik grenzenden Pointe ihres spurlosen Verschwindens zufrieden. Der Chinese behält das Attribut des „Unheimlichen“, da er Fremder bleibt: Innstettens Bericht teilt nichts über seine Absichten, Ziele und Gefühle mit und so bleibt der Chinese eine Figur des Halbdunkels, ein Außenseiter und Störenfried. Laut Gregor Reichelt bündelt das Motiv des Chinesen verschiedene Erzählfäden, die im „Zusammenhang von Einbildungskraft, Angst und Unterwerfung“498 zusammenlaufen. Diesen Zusammenhang macht sich insbesondere Innstetten zunutze und unterstützt die unheimliche Wirkung, die von der Figur des Fremden ausgeht. Sowohl der Chinese als auch das „spukige Haus“499 dienen ihm als Erziehungsmittel, um seine junge Frau zu disziplinieren. Der Chinese stellt als Inbegriff des „Unbürgerlichen“ die direkte Verkörperung des „Aparten“ dar, vor dem

496 Ebd. 497 Ebd., S. 105f. 498 Gregor Reichelt: Fantastik im Realismus. Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane, Stuttgart: Metzler 2001, S. 187. 499 Fontane: Effi Briest, S. 266.



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Innstetten Effi warnt.500 Die fragmentarische Erzählung um Thomsens Enkelin/ Nichte, die eigens als Verführungsgeschichte gelesen werden kann, weist eindringlich auf die Bedrohung, die vom Exotischen ausgeht, hin. Dass Innstetten den Chinesen-Spuk als willkommenes Mittel aufgreift, um seine Warnung vor „Un-Ordnung“ und „Un-Zucht“ effektvoll zu transportieren, erklärt Crampas, der über seinen Regimentskollegen sagt: „[E]r operiert nämlich immer erzieherisch, er ist der geborene Pädagog“501. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs, des „Spuk[s] als Erziehungsmittel“502, als „eine Art Angstapparat aus Kalkül“503, ruft bei der Protagonistin Entrüstung über diese „Grausamkeit“504 hervor und führt ihr deutlich den Unterschied zwischen ihrem Mann und Crampas vor Augen. Crampas’ Vorstellung von Ehre zeichnet sich durch eine gewisse Flexibilität aus, so heißt es: „Einem Freunde helfen und fünf Minuten später ihn zu betrügen, waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriffe durchaus vertrugen.“505 Dagegen ist und bleibt Instetten „ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien“506. Die Gesellschaft und ihr Ehrenkodex bilden die unantastbaren Stützpfeiler seines Weltbildes, wie der folgende Abschnitt ausführen wird.

4.5.5 Das „Gesellschafts-Etwas“ und der „Götze Ehre“: Moral und Konvention In der Forschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Fontanes Effi Briest vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft thematisiert.507 Dabei wird die Konfrontation der beiden Instanzen wesentlich konkreter durchgespielt, als dies etwa in Emily Brontës Wuthering Heights der Fall ist. Die Gesellschaft hat in Fontanes Roman einen vereinnahmenden Anspruch inne, dem sich keine der Figuren entziehen kann: Ihre Setzungen, die die allgemeine Zucht und Ordnung sicherstellen sollen, werden entsprechend von allen Figuren mehr oder weniger mitgetragen. Wie bereits angedeutet, erweist sich Geert von

500 Dass der Chinese als Allegorie des „Unbürgerlichen“ fungiert, konstatiert insbesondere auch Thomas Degering. Vgl. Thomas Degering: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Fontanes „Effi Briest“ und Flauberts „Madame Bovary“, Bonn: Grundmann 1978, S. 39. 501 Fontane: Effi Briest, S. 164. 502 Ebd., S. 165. 503 Ebd., S. 165f. 504 Ebd., S. 166. 505 Ebd., S. 167. 506 Ebd., S. 43. 507 Im Rahmen einer Monographie widmet sich beispielsweise Degering diesem Thema. Vgl. Degering: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Fontanes „Effi Briest“.

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Innstetten in dieser Hinsicht als vollkommener Vertreter gesellschaftlicher Setzungen. Moral und Konvention bilden das Fundament seines Selbstverständnisses und die Überschreitung des daraus abgeleiteten Verhaltenskodex bedeutet den totalen Ehrverlust. Angesichts seiner rigide anmutenden Auffassung von Pflicht und Ordnung, erscheint Effis Verunsicherung ihm gegenüber nur allzu verständlich. Ihren Respekt vor Innstettens Prinzipien beschreibt sie ihrer Mutter als Angst: „[I]ch glaube, Niemeyer sagte nachher sogar, er [Innstetten] sei auch ein Mann von Grundsätzen. Und das ist, glaub’ ich, noch etwas mehr. Ach, und ich ... ich hab keine. Sieh, Mama, da liegt etwas, was mich quält und ängstigt. Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber ... ich fürchte mich vor ihm.“508 Innstetten handelt nicht als Individuum, wie Rudolf Helmstetter schreibt, sondern als Stellvertreter einer Norm.509 Demgemäß hat er keine andere Wahl, als die Anerkennung konventioneller Setzungen mit äußerster Konsequenz umzusetzen. In diesem Sinne erscheint der Vorwurf der Grausamkeit und fehlenden Herzensgüte, den Effi ihrem Mann macht, durchaus nachvollziehbar.510 Auch Instetten selbst ist sich bewusst, lediglich in seiner sozialen Rolle, nicht aber als Individuum zu handeln: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm.“511 Diese Aussage trifft Innstetten, nachdem er den Ehebruch seiner Frau entdeckt hat und im Gespräch mit seinem Kollegen Wüllersdorf die Möglichkeit einer geltend zu machenden Verjährungsfrist erörtert. Dabei zeigt Innstetten sich letztlich kompromisslos in seiner Ansicht, die Bedürfnisse des „Ganzen“ seien über die des Einzelnen zu stellen und entschließt sich nicht nur, sein eigenes (Familien‑)Leben dafür zu opfern, sondern auch die Existenz Crampas’ und dessen Familie aufs Spiel zu setzen. Diese Einsatzbereitschaft erfolgt mit dem Verweis auf die unumgänglichen Gebote von Moral und Konvention: „[J]enes [...] uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung.“512 Woraufhin Innstetten schließt: „Ich habe keine Wahl. Ich muß.“513 Wüllersdorf bleibt nichts übrig, als sich dieser Meinung anzuschließen, allerdings kommt ihm die wichtige Funktion zu, auf die Brüchigkeit und Sinnlosigkeit des „Gesellschafts-Etwas“ hinzuweisen: „Die Welt ist einmal, wie sie ist,

508 Fontane: Effi Briest, S. 43. 509 Vgl. Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, S. 183f. 510 Vgl. Fontane: Effi Briest, S. 166. 511 Ebd., S. 290. 512 Ebd., S. 291. 513 Ebd.



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und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. [...] unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt.“514 Laut Helmstetter fungiert Ehre hier als Synonym für eine „Soziologie der Moral“515, nach der soziale Kontrolle durch die Mechanismen generalisierter Verhaltenserwartungen erlangt wird. Dieser Auffassung schließt sich Gregor Reichelt an, der in Innstettens Ehrbegriff seinen wunden Punkt sieht, innerhalb dessen die Distanz, die Effis Mann unter anderem mittels seines „Angstapparats aus Kalkül“ zu wahren versucht, bedroht ist.516 Um also die Unantastbarkeit der eigenen Würde dauerhaft aufrecht erhalten zu können, muss sich das Individuum Geert von Innstetten hinter die vereinnahmende Tyrannei des „Gesellschafts-Etwas“ stellen, individuell-menschliche Interessen stehen zurück hinter restaurativen Strukturen der Ordnungssicherung. Der Gültigkeit des „Immer-so-Seienden“, deren Überzeitlichkeit Thomas Degering im Romanzusammenhang in Wendungen wie „das Leben“, „die Welt“, „das Ganze“ oder „man“ bestätigt sieht,517 stimmt auch die Protagonistin zu. Auch sie glaubt an gewisse Instanzen für Ordnung und Rechtmäßigkeit, was nicht zuletzt ihre Aussage Hertha gegenüber, „man“ müsse sich doch glücklich fühlen, wenn man verlobt sei, illustriert. Inwieweit die gesellschaftlichen Normen und Setzungen der Zeit tatsächlich Niederschlag in der Figur Effis finden, darüber lässt sich streiten. In der Forschung wird oftmals davon ausgegangen, dass Fontanes Heldin durchaus an Konventionen glaubt, allerdings lässt sich die Nachhaltigkeit dieser Assimilation leicht in Zweifel ziehen. Zwar erkennt Effi bestimmte Normen an, wenn sie etwa die väterliche Parole „Weiber weiblich, Männer männlich“ zitiert, allerdings fragt sich, inwiefern sie diese Maxime tatsächlich auf sich selbst bezieht. Zweifellos erwartet sie das Attribut Männlichkeit von den sie umgebenden Männern – den Mangel daran kritisiert sie insbesondere an ihrem Vetter Dagobert – allerdings lässt sich nicht behaupten, sie selbst gebe sich in der Folge besonders weiblich. Im Gegenteil: Effi vermeidet bereits im ersten Kapitel die typisch weibliche Handarbeit und identifiziert sich stattdessen mit männlichen Rollen, wenn sie den Midshipman gibt und sich in die Position eines Verehrers ihrer Mutter projiziert. Augenscheinlich bedeuten die Begriffe Moral, Ehre und Konvention für die Kindfrau Effi Maximen, denen sie in kindlichem Gehorsam durchaus Genüge tun

514 Ebd., S. 292f. 515 Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, S. 189. 516 Vgl. Reichelt: Fantastik im Realismus, S. 201. 517 Vgl. Degering: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Fontanes „Effi Briest“, S. 79.

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will, als sie sich in die Erwartungshaltung ihrer Eltern fügt und Innstetten heiratet, deren Sinn sie insgeheim jedoch anzweifelt. Effis Vater, der stellenweise als personifiziertes „Handorakel der Weltklugheit“ fungiert, pflichtet seiner Tochter bei, die sich schwer tut, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen und ihre Bedenken deswegen Innstetten gegenüber wenigstens einmal explizit zum Ausdruck bringt, indem sie sich über die strengen und selbstgerechten Kessiner beklagt.518 Briest artikuliert eine ähnliche Unsicherheit: „Es ist so schwer, was man tun und lassen soll. Das ist auch ein weites Feld.“519 Im Gegensatz zu seiner Frau nimmt Briest die gesellschaftlich präfigurierten Vorstellungen von Moral und Ehre nicht ganz so ernst. Das entsprechende Bekenntnis darüber, das er in Effis Gegenwart ablegt, nimmt den Zug einer geheimen Übereinkunft der beiden an, sofern Effi zu „Mama“ nichts darüber sagen soll.520 In ihren Vorstellungen ist Effi also aus zwei verschiedenen Richtungen geprägt worden, sie übernimmt einerseits den mütterlichen Glauben an die Konvention, zeigt aber auch wie ihr Vater eine gesunde Skepsis in Bezug auf deren uneingeschränkte Gültigkeit. Effis Mutter erneuert ihre Allianz mit dem ehemaligen Verehrer und bestätigt Innstettens Ehrenkodex, indem sie sogar als seine Vermittlungsinstanz agiert und Effi von ihrer Verbannung in Kenntnis setzt. Letztlich setzt sich jedoch die Auffassung des Vaters durch: Während Luise Briest noch einwendet, man lebe „nicht bloß in der Welt, um schwach und zärtlich zu sein und alles mit Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz und Gebot ist“521, ist es der Vater, der handelt und den Bannspruch mit den Worten „Effi, komm“ aufhebt. In der Auseinandersetzung mit seiner Frau genügt ein resignatives „Ach“522 von Seiten Briests, um Luise auf den zweifelhaften Nutzen ihres Beharrens auf Recht und Ordnung hinzuweisen. Während Innstetten sich zum Diktat gesellschaftlicher Setzungen bekennt, vertritt Effi weder gesellschaftliche noch individuelle Ansprüche. Die Diskrepanz zwischen Individuum und Gesellschaft lässt sich nicht eindimensional auf das Verhältnis der Figuren Effi und Innstetten übertragen. Vielmehr haben beide für sich einen Kampf um ihre jeweilige Wertvorstellung auszutragen. Dabei werden sowohl die Folgen des Tabubruchs durch Überschreitung der geltenden Moral aufgezeigt, als auch die Konsequenz einer bedingungslosen Anerkennung konventioneller Prinzipien. Der Roman illustriert somit die Ambivalenz jener Über-

518 Vgl. Fontane: Effi Briest, S. 105. 519 Ebd., S. 149. 520 Tatsächlich fordert Briest die verschwiegene Komplizenschaft seiner Tochter: „Übrigens sage nichts darüber, auch nicht zu Mama.“ Ebd. 521 Ebd., S. 342. 522 Ebd., S. 341.



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zeitlichkeit beanspruchenden Begriffe, wie Moral und Konvention: Einerseits können die Menschen sich auch noch am Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht von deren Gültigkeit befreien, andererseits tritt die Gebrechlichkeit einer solchen Gesellschaftsordnung immer offensichtlicher hervor. Vor allem im Hinblick auf den Geschlechtscharakterdiskurs zeigt Effi Briest, dass die Anpassung an geltende Erwartungen nicht unbedingt im Sinne einer Erfolgsgarantie mit Glück belohnt wird.

4.5.6 „Ein weites Feld“: Die Inkonsistenz der Diskursdiktate Über die Handlung von Fontanes Effi Briest ließe sich dasselbe sagen wie über den spukenden Chinesen: Ein Ehebruch ist – wie eben auch besagter Chinese – schon an sich eine Geschichte. Oder aber, um ebenfalls auf die leitmotivisch auftretende Begeisterung der Protagonistin für (Liebes‑)Geschichten zu rekurrieren: „Es kam, wie’s kommen mußte“523. Effis Schicksal wird zur Allerweltsgeschichte, wobei allenfalls noch die Gleichgültigkeit, mit der das Thema Verführung gegen Ende des 19. Jahrhunderts behandelt wird, schockiert. Fontanes Romanheldin bezahlt nicht mit ihrem Glück, weil sie in dem Bestreben, affektive Ganzheitlichkeit zu realisieren, gegen bestehende Strukturen rebelliert, in ihrem Ehebruch spiegelt sich nicht etwa die Suche nach emotionaler Verwirklichung. Effi sucht in Crampas nicht ihren „Helden“ oder „Erretter“, schon weil sie ihre Ehe nicht wie Sands Indiana als Gefängnis empfindet – zumindest nicht bewusst. Alles, wovor sie sich durch ihre Affäre Rettung erhofft, ist der Stillstand, die Langeweile. Damit ist das literarische Thema der Verführung am Ausgang des 19. Jahrhunderts zur Bagatelle verkommen. Wie eingangs bereits thematisiert, füllt Theodor Fontane als der einzige männliche Autor dieses Untersuchungsspektrums das Thema Verführung nicht nur mit dem Beigeschmack des Alltäglichen, sondern erweist sich auch als der Einzige, der seine Heldin den Treuebruch überhaupt vollziehen lässt. Der offensichtliche Unterschied zwischen der weiblichen und der männlichen Perspektive, wobei die Autorinnen allesamt Wege finden, der Leidenschaft ihrer Protagonistinnen Ausdruck zu verleihen, ohne sie ihre Sexualität außer- bzw. vorehelich ausagieren zu lassen, legt den Schluss nahe, dass sich Fontanes Text in seiner Aussageintention maßgeblich von den zuvor untersuchten Romanen unterscheidet. Die Frage muss weniger lauten, ob es Fontane aufgrund seiner eigenen Geschlechtszuge-

523 Ebd., S. 16. Dass sich das Motiv der „Geschichte“ durch den gesamten Roman zieht, bestätigt im Übrigen auch Christine Lehmann. Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 99.

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hörigkeit weniger schwer fällt, Effi trotz ihres Unwissens und dem Nichtvorhandenseins erotischen Begehrens in explizit sexuellen Kontakt zu einem anderen Mann treten zu lassen als den zuvor betrachteten Autorinnen, sondern ob es ihm überhaupt darum geht, weibliche Leidenschaftlichkeit zu thematisieren. Tatsächlich spricht gerade die Trivialität, mit der Effis Ehebruch geschieht, für die Abkehr von romantischen Vorstellungen. Effi lässt sich verführen, weil sie nicht nach der großen Liebe sucht – wenigstens nicht in ihrer Affäre. Leidenschaft im Sinne einer individuellen Affektivität ist nicht ihr Antrieb, sondern Ehrgeiz und Zerstreuungssucht. So heiratet sie Innstetten, um ihren Ambitionen Genüge zu tun und beginnt eine Affäre mit Crampas, um sich von der Leere ihres Ehelebens abzulenken. Diesen Wandel der Motivationen, die im Gegensatz zu dem unbedingten Glücksanspruch der übrigen Heldinnen geradezu prosaisch erscheinen, muss auf einen verschobenen Tugendbegriff zurückgeführt werden. Der Tugendkanon, den Jane Austen für ihre Protagonistinnen entworfen hat, die doch vor allem dem Anspruch unterlagen, sich in emotionaler Hinsicht ihre Authentizität zu bewahren, gilt für Effi Briest so nicht länger. Weibliche Tugendhaftigkeit findet bei Fontane eine Entsprechung in Begriffen wie Ordnung, Richtigkeit und Gesetzmäßigkeit.524 Die soziale Norm übernimmt hier die Funktion individueller Überzeugungen, indem sie die Romanheldin veranlasst, so zu handeln und nicht anders. Effis „Verführbarkeit“ gründet in der Tat nicht auf einer mangelnden Anpassung an die vom Geschlechtscharakterdiskurs vorgeschriebenen Normen idealer Weiblichkeit. Im Gegenteil zeigt sich Fontanes Protagonistin durchaus bestrebt, geltenden Erwartungen in ihrem Verhalten zu entsprechen. Gerade der Umstand, dass Effi konventionelle Werte in ihre persönliche Moralvorstellung mit einbezieht und trotzdem scheitert, deckt die Unzulänglichkeit der Diktate der Geschlechtscharakterologie auf. Im Gegensatz zu pädagogisch motivierten Texten – man denke vor allem auch an die als Roman konzipierten Erziehungsschriften – legt die Höhenkammliteratur die Widersprüchlichkeit und die Unerreichbarkeit des diskursiv erzeugten Weiblichkeitsideals offen. Als Momentaufnahme dieses Zusammenhangs kann der erste Auftritt der Romanheldin gelesen werden: Effis gymnastische Übungen, die sie nach einem ganz bestimmten, ritualisierten Ablauf absolviert, versinnbildlichen die Oberflächlichkeit ihrer Konditionierung.525 Ihr Verhaltenskodex wird so als leere Hülle entlarvt, dahinter stehen nicht entsprechende Überzeugungen, sondern eine vom Individuum entkoppelte

524 Dies verzeichnet auch Lehmann. Vgl. ebd., S. 119. 525 Dieses Argument führt auch Rudolf Helmstetter an. Vgl. Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, S. 172.



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Verhaltenserwartung. Soll heißen, Effi entscheidet sich für oder gegen etwas, nicht weil sie selbst dafür oder dagegen wäre, sondern weil „man“ es nun mal so macht. Damit beweist Effi einmal mehr, dass sie in der Rolle des Kindes verharrt. In einem dieser Identität angemessenen Zustand der Unmündigkeit übernimmt sie die von außen an sie herangetragenen Vorgaben und Erwartungen, ohne sie aktiv zu hinterfragen. Es stellt sich die Frage, wer die „Schuld“ an Effis Unglück trägt, ihre Eltern, Innstetten, die Norm, oder vielleicht sie selbst? Zumindest die Briests stellen sich der Schuldfrage, auch wenn sie sich ihr letztlich resignativ entziehen. Die finale Wiederholung von Briests Parole des (zu) weiten Feldes deutet auf die Unausweichlichkeit von Effis Geschichte hin.526 Effis Eltern tragen insofern eine Mitschuld am Schicksal ihrer Tochter, als sie in ihren Handlungen und Entscheidungen als Vertreter der Norm agieren, deren Götzenhaftigkeit der eigentliche Grund für den Fall der Heldin ist. Ein ebensolcher Schuldanteil ist daher Innstetten zur Last zu legen, auch er stellt die Ansprüche des Ganzen über die des Einzelnen. Da er erkennt, dass es sich bei der Verteidigung seines Ehrbegriffs um einen bloßen Götzendienst handelt, stellt sich die Schuldfrage für ihn jedoch gar nicht erst. Innstetten beharrt auf der Überzeugung, keine andere Wahl gehabt zu haben. Aus Effis Sicht ließe sich allerdings einwenden, dass sein Schuldanteil bereits in seiner Wahl begründet liegt, er hätte es besser wissen sollen.527 Effi selbst ist ebenfalls alles andere als unschuldig an ihrem Lebenslauf, auch sie erweist sich als Fürsprecherin eben jener kalten Gesetzlichkeit, an der sie zugrunde geht. Letztlich scheitert sie aufgrund ihrer mangelnden Eigenverantwortlichkeit: Indem sie ihre Verlobung passiv „erleidet“ und sich damit dem Geschlechtscharakterdiktat widerspruchslos unterwirft, stellt sie sich gar nicht erst die Frage nach ihren eigenen individuellen Bedürfnissen, Hoffnungen und Zielen. Da Effis Konformität mit normativen Vorgaben nur eine äußerliche ist – ebenso wie sie denkt, mit ihrer Verlobung glücklich zu sein, denkt sie sie lediglich, die konventionelle Setzung entspreche ihrem eigenen Willen – kann sie sich in der ihr zugedachten Rolle nicht erschöpfen. In letzter Konsequenz scheitert Fontanes Protagonistin also, weil sie zu angepasst ist. Theodor Fontanes Effi Briest zeigt somit auf, wie problematisch ein normatives Konzept von Weiblichkeit ist, das Frauen in die Rolle unmündiger Kinder zwingt und sie unter der Maßgabe der weiblichen Normbiografie veranlasst, ihren gesamten Lebenslauf passiv zu „erleiden“. Individuelles Glück kann sich in einer solchen Situation kaum einstellen.

526 Bekanntlich schließt der Roman mit dem phrasenhaften Ausspruch Briests: „Ach, Luise, laß ... das ist ein zu weites Feld.“ Fontane: Effi Briest, S. 365. 527 Dies konstatiert auch Heide Rohse. Vgl. Rohse: „Arme Effi“, S. 24f.

5 Resümee Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die Frage nach einem weiblichen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl im Roman des 19. Jahrhunderts. Insbesondere der Aspekt weiblicher Leidenschaftlichkeit stand dabei im Zentrum meiner Untersuchung. Unter der Annahme, dass eine Gesellschaftsnorm, die den weiblichen Geschlechtscharakter einerseits als gefühlsbestimmt definiert, das unbeherrschte Ausleben dieser Disposition jedoch andererseits verurteilt, Frauen in eine Zwangslage drängt, bin ich davon ausgegangen, das sich dass Rollenverhalten von Romanheldinnen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert gleichwohl ändert: Wenigstens in fiktionalen Welten erprobt das weibliche Geschlecht nun verstärkt die Kehrseiten des Geschlechtscharakterdiktats. Wie sich gezeigt hat, geraten Romanheldinnen des 19. Jahrhunderts dabei oftmals in einen Konflikt zwischen Verstand und Gefühl, den sie insofern als ihr genuines Dilemma erleben, als sie – wie viele Frauen der Zeit, ob im Leben oder im Roman – vor der unlösbaren Aufgabe stehen, die Balance zwischen originärer Emotionserfahrung und Gefühlskontrolle, zwischen Selbstverwirklichung und Selbstzensur zu halten. In der Tat zeigen sich Heldinnen des 19. Jahrhunderts im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen im 18. Jahrhundert eigensinniger, sie erheben individuelle Glücksansprüche und unternehmen konkrete Versuche, diese zu realisieren. Die Diskrepanzen zwischen dem Verführungsroman des 18. und dem des 19. Jahrhunderts lassen sich durchaus auf einen Wandel im Bild des Geschlechtscharakters zurückführen, der sich nach 1800 vollzieht. Nach 1800 definiert der Diskurs Frauen nicht länger als von Natur aus tugendhaft, obgleich Sanftmut, Güte und sexuelle Unschuld nach wie vor die Vorstellung von idealer Weiblichkeit prägen. Offenbar assoziieren die Fürsprecher der Geschlechtscharakterologie nun vermehrt moralische Schwächen mit dem weiblichen Geschlecht. In der Folge wird das Leitbild weiblicher Güte umso mehr beschworen, gleichzeitig aber auch vor der affektiven Heftigkeit der Frau, vor Unbeherrschtheit und Hysterie gewarnt. Die verstärkten Bemühungen um die Aufrechterhaltung einer strikten Geschlechtertrennung treten besonders deutlich anhand einer rhetorischen Strategie zutage, mittels derer diverse Autoren die Frau an den ihr zugedachten Tätigkeitsbereich zu binden suchen. Als sogenannter Liebesdienst werden in diesem Zeitraum missliebige (Haus‑)Arbeiten als selbstlose Liebesakte aufgewertet. Der von nichtliterarischen Medien pejorativ behandelten Weiblichkeit kann einzig im Roman Ausdruck verliehen werden und zwar in Form weiblichen Eigensinns. Der in Romantexten des 19. Jahrhunderts auftretende Konflikt zwischen Verstand und Gefühl erweist sich indes als weibliches Dilemma, da Romanheldinnen die Probleme nicht auflösen können, die durch ihre Versuche entstehen, durch das Ausleben leidenschaftlicher Empfindungen einen eigenen Willen zu behaupten.



Resümee 

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Um den Wandel im Bild des weiblichen Geschlechtscharakters, der sich meines Erachtens um 1800 vollzieht, nachzuvollziehen sowie um verbindliche Aussagen bezüglich zeitgenössischen Konzeptionen von weiblicher Emotionalität und Rationalität treffen zu können, habe ich mich zunächst einem Referenzhorizont nichtfiktionaler Texte zum Thema Weiblichkeit, Liebe und Ehe gewidmet. Im Ergebnis der Untersuchung verschiedener Schriften zur Mädchenpädagogik als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses ließ sich folgendes Rollenmodell entwerfen: Idealtypische Weiblichkeit siedelt sich laut mädchenpädagogischen Texten des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts grundsätzlich zwischen den Extremen Verstand und Gefühl an, beides lässt sich nur in gemäßigter Form in den Kanon idealtypischen weiblichen Verhaltens integrieren. Weiblichkeit wird lediglich dann mit Emotionalität assoziiert, wenn sich diese als sittlich rein und moralisch integer kennzeichnen lässt. Mit dem Gegenpol verhält es sich ebenso: So lange vom Verstand als einer zweckmäßigen Besonnenheit die Rede ist, nicht aber von kalter Rationalität, wird diese Disposition durchaus zu den lobenswerten Eigenschaften gezählt. Damit besteht das wesentliche Merkmal idealtypischer Weiblichkeit, wie sie von mädchenpädagogischen Ratgebern als Medium des Geschlechtscharakterdiskurses formuliert wird, in Mäßigkeit. Die idealtypische Frau hat sich stets in der goldenen Mitte zwischen zwei Extremen zu positionieren, Exzess und Radikalität sollen in jeder Hinsicht vermieden werden. Sie soll gütig, aber nicht leidenschaftlich, besonnen, aber nicht pedantisch sein, insgesamt also ein konturloses Wesen ohne eigene Präferenzen. Weder Verstand noch Gefühl stellen – zumindest in radikaler Ausprägung – vertretbare Konzepte bereit, nach denen eine der Norm entsprechende Frau handeln könnte. Das Ziel der allgemeinen Pädagogik, differenzierte Individuen heranzubilden, wie es insbesondere Rousseau im Émile formuliert, ist keinesfalls auf die Mädchenpädagogik übertragbar. Anstelle von Individuation predigt der Diskurs Konformität: Während der Mann sich durch seine Individualität auszeichnet – seinen Beruf, seine persönlichen Vorlieben und Begabungen – wird der Wert einer Frau über das Maß ihrer Anpassung an allgemeingültige Normen definiert. Für sie ist nur ein einziger Beruf denkbar, der einer Hausfrau, Gattin und Mutter, und zur erfolgreichen Ausübung desselben hat sie sich spezifische, für alle Frauen in gleicher Weise gültige Vorlieben und Fertigkeiten anzueignen. Emotionale oder rationale Kompetenzen spielen dabei nur insoweit eine Rolle, als sie der Konservierung der weiblichen Normbiografie dienen und sich ausschließlich in moderater Form äußern. Moderation, die bedingungslose Anerkennung eines „rechten“ Maßes, ist die grundsätzliche Maxime des mädchenpädagogischen Diskurses. Mittels der Rhetorik des Liebesdienstes propagiert der Diskurs seinen Adressatinnen gegenüber bestimmte Charaktereigenschaften wie Ordnungssinn, Fleiß,

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 Resümee

Bescheidenheit, Sanftmut, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit, die wesentlich zur Aufrechterhaltung der tradierten Geschlechterordnung beitragen. Interessant ist, dass der ‚Liebesdienst‘ erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Debatte findet. Nach Hippels und Wollstonecrafts Kritik an den Argumentationsweisen früherer Autoren wie beispielsweise James Fordyce, der in den sentimental talents des weiblichen Geschlechts deren maßgebliches business gesehen und damit nicht von der Arbeit als Liebeshandlung, sondern umgekehrt von der Liebe als Arbeit gesprochen hat, appellierte man im beginnenden 19. Jahrhundert weniger an das vermeintlich große weibliche Herz, als vielmehr wie Ann Taylor an das Gewissen vieler Frauen. So bemüht sich Taylor, bei ihren Leserinnen Schuldgefühle zu evozieren mit der Behauptung, ein Mann begebe sich durch die Heirat in einen Zustand der emotionalen Abhängigkeit und all sein Glück hänge fortan vom Tun seiner Frau ab. Hausarbeit wird hier als eine Frage von Verantwortung betrachtet: Sie mag nicht angenehm sein, doch schuldet eine Frau sie ihrem Gatten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich in erzieherischen Texten vor allem Stimmen, die zur vormaligen Anschauung, das weibliche Geschlecht sei durch seine vermeintlich größeren emotionalen Kompetenzen zu pflegerischen Aufgaben prädestiniert, zurückkehren. Insbesondere deutschsprachige AutorInnen wie Karl von Raumer und Julie Burow greifen das Konzept der Arbeit aus Liebe wieder auf, geben ihm aber im Gegensatz zu Autoren des 18. Jahrhunderts einen prägnanten Namen, den sogenannten Liebesdienst. Damit nähert man sich in nichtfiktionalen Texten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder dem Ausgangspunkt der Kontroverse an. Gerade zu einem Zeitpunkt, an dem der Geschlechtscharakterdiskurs nicht zuletzt durch fiktionale Entwürfe nonkonformer Weiblichkeit angreifbar geworden ist, beharren pädagogische AutorInnen umso mehr auf dem Erhalt der patriarchalischen Ordnung. Während radikale Ausprägungen von Verstand und Gefühl – im 18. Jahrhundert kursierend unter den Begrifflichkeiten weiblicher Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit – in Erziehungsschriften allenfalls als abschreckende Beispiele der Normabweichung angeführt werden, macht es sich die Romanliteratur zur Aufgabe, außergewöhnliche Frauen(‑figuren) darzustellen. Dementsprechend zeigt meine im dritten Kapitel stattfindende Analyse verschiedener Romantexte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie leicht sich das Abweichen weiblichen Verhaltens von der Norm der Mitte als Konflikt zwischen Verstand und Gefühl darstellt. Gerade in diesem Zeitraum thematisiert die schöne Literatur eine mögliche Aussöhnung von Verstand und Gefühl, wobei der entsprechenden Antithese besondere Aufmerksamkeit gezollt wird, wie nicht zuletzt die drei betrachteten Briefromane der Empfindsamkeit bzw. sensibility/sensibilité veranschaulichen. Zusammenfassend bleibt Folgendes festzuhalten: Zwar wird der Widerspruch von Verstand und Gefühl in Bezug auf Romanheldinnen des 18.



Resümee 

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Jahrhunderts durchaus thematisiert, jedoch nicht im Sinne eines echten Konflikts bei dem widerstrebende Ansprüche in einer einzelnen Figur zum Tragen kämen. Die betrachteten Darstellungen des Oppositionsparadigmas bleiben einigen Einschränkungen verhaftet, so stellen die Pole Verstand und Gefühl keineswegs gleichrangige Alternativen dar, zwischen denen es sich zu entscheiden gilt. Für Clarissa und das Fräulein von Sternheim stellt sich gar nicht erst eine Konfliktsituation, denn während Richardsons Protagonistin in ihrem Verhaltensideal die Vereinigung von Verstand und Gefühl zumindest versucht, um am rigiden Widerstand einer einerseitig vernunftbetonten Umwelt zu scheitern, gelingt La Roches Heldin schließlich die idealtypische Verbindung von Emotionalität und Rationalität. Einzig Rousseau unternimmt den Versuch, die konfligierenden Handlungsimpulse der beiden Prinzipien anhand einer einzelnen Heldin darzustellen, allerdings mit der Konsequenz, dass Julie für den Versuch einer Integration der Pole mit dem Tod bezahlt. Sie muss sterben, um als gefühlvoll und vernünftig anerkannt zu werden. Die Konflikte, denen die an dieser Stelle betrachteten Heldinnen unterliegen, lassen sich als fremdinduziert klassifizieren. Vor allem Clarissa erlebt einen Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung, indem sie entgegen den Erwartungen ihrer Familie die Realisierung einer eigenen Glücksvorstellung verfolgt. Auch Julie unterliegt dieser Diskrepanz, allerdings erweist sie sich im Gegensatz zu Richardsons Protagonistin als Grenzgängerin der Pole Vernunft und Gefühl, da ihr zumindest zeitweise die Verwirklichung ihrer individuell-affektiven Wünsche gelingt, bevor sie sich den rational begründeten Ansprüchen ihrer Familie an sie fügt. Zuletzt stellt Rousseaus Heldin die Gültigkeit ihrer vernunftbestimmten Lebensweise wiederum in Frage und vollzieht auf dem Sterbebett eine Rückbesinnung zu vormaligen empfindsamen Prinzipien, wodurch der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl zumindest ansatzweise als Dilemma der weiblichen Biografie vorgeführt wird. Sophie von La Roches Heldin hat dagegen nicht im Mindesten mit konfligierenden rationalen und emotionalen Ansprüchen zu kämpfen, soweit es ausschließlich ihr eigenes Selbst betrifft. Konflikte werden auch in diesem Roman von außen an die Protagonistin herangetragen. So hat sich das Fräulein von Sternheim einer Reihe von Bewährungsproben zu stellen, die sie nur mithilfe ihrer, was Verstand und Gefühl betrifft, ausgeglichenen Psyche besteht. Insgesamt kann festgehalten werden, dass der gynozentrische Roman vor 1800 die Opposition von Verstand und Gefühl zwar durchaus thematisiert, seine Heldinnen diesen Widerspruch aber nicht zur Gänze ausagieren lässt. Schlussendlich bewerten alle drei Heldinnen normative Setzungen von Weiblichkeit als maßgeblich, wohingegen ihre individuell-affektiven Bedürfnisse in den Hintergrund treten, auch wenn zumindest Julie den Widerspruch zwischen diesen Polen zeitweise als Konflikt erlebt. Innerhalb dieses Konflikts treffen die

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 Resümee

Heldinnen ihre Entscheidungen sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen und streben somit eine Ganzheitlichkeit an, die durchaus mit dem von erzieherischen Texten propagierten Ideal übereinstimmt. Heldinnen, die einen diffizileren Entscheidungsprozess, innerhalb dessen sich Verstand und Gefühl die Balance halten, durchleben, treten hier noch nicht auf den Plan. Einen Wandel der Verhaltensmuster weiblicher Heldinnen lässt erst der Roman des 19. Jahrhunderts erwarten. Dass sich das (Rollen‑)Verhalten weiblicher Protagonistinnen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in der Tat wandelt, konnte ich im vierten Kapitel zeigen. Bereits Jane Austens 1811 erschienener Roman Sense and Sensibility bestätigt meine Vermutung, da hier zumindest eine der Protagonistinnen als unvollkommen und somit zur Entwicklung fähig dargestellt wird. Darüber hinaus erfährt das Konzept der sensibility bei Austen eine Differenzierung. Anders als ihr Vorgänger Richardson geht die Autorin nicht von einem empfindsamen Ideal aus, sondern unterscheidet zwischen einer „vernünftigen“ Empfindsamkeit und einer irregulären, pathologischen sensibility. Diese zweite Variante, die Austens Kritik evoziert, stellt sich als Übergangsstadium heraus, dem die Heldin Marianne letztlich entwachsen muss. Leidenschaft wird hier den Geboten der Schicklichkeit untergeordnet, dabei fungiert der Verstand als eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete, regulative Kontrollinstanz. Damit bleibt Jane Austens Text letztlich den Aussagen des erzieherischen Diskurses verhaftet, der von seinen Zöglingen ebenfalls fordert, die eigenen Bedürfnisse zugunsten des Kollektivs zurückzustellen. Die Normabweichung, also ein aktives Verstoßen gegen die vom Diskurs propagierten Verhaltensnormen, thematisiert dagegen gut drei Jahrzehnte später Emily Brontë. Im Gegensatz zu Jane Austen führt Brontë Leidenschaft in absoluter Konsequenz vor und lässt ihre Heldin jenseits gesellschaftlicher Setzungen von normativer Weiblichkeit für einen individuellen Glücksanspruch eintreten. Allerdings stellt Catherines Unangepasstheit in Form ihrer affektiven Heftigkeit auch hier kein praktikables Handlungsmodell dar. Infolge der Unvereinbarkeit von gefühlsmäßigen und vernunftbestimmten Impulsen muss die Protagonistin ähnlich wie Rousseaus Julie sterben. Einen Ausweg aus der Konflikterfahrung weiblicher Romanheldinnen scheint George Sand zu weisen, die im Unterschied zu den übrigen von mir gewählten AutorInnen nahezu eine Utopie weiblicher Lebensführung entwirft. Tatsächlich gelingt es Indiana als einziger der von mir betrachteten Heldinnen, einen Zustand der emotionalen Ganzheitlichkeit zu verwirklichen, allerdings unter der Bedingung eines vollkommen zurückgezogenen Lebens jenseits der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Verstand und Gefühl – in Sands Roman in Form der divergierenden Ideale passions und lois auftretend – werfen im Kontext des sozialen Lebens ebenso wie in den übrigen betrachteten Texten ein schwerlich auszubalancierendes Kräftefeld auf, dem sich Indiana



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durch die Flucht in die Einöde schlicht entzieht. Eine ähnliche Flucht muss auch Effi Briest antreten. Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl, hier repräsentiert durch die Kollision des Individuums mit konventionellen Setzungen, wird zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem, wobei der Fehltritt der Fontaneschen Heldin, der diesen Konflikt sichtbar werden lässt, mit sozialer Ächtung geahndet wird. Effis Schicksal illustriert insbesondere die Insuffizienz der vom Geschlechtscharakterdiskurs propagierten Weiblichkeit, schließlich scheitert sie trotz ihrer prinzipiellen Konformität mit den vom Diskurs determinierten Normen. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts werden die vom Diskurs propagierten Verhaltensnormen so als leere Hüllen entlarvt, die weniger ein universelles Glücksrezept bereitstellen, als vielmehr der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung dienen. Anhand meiner Textauswahl lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Verführungsromanen männlicher und weiblicher Autoren und Autorinnen bestätigen. So fällt auf, dass die hier herangezogenen männlichen Autoren ihre Protagonistinnen ausnahmslos sterben lassen, wohingegen nur eine der vier betrachteten Autorinnen ihre Heldin in den Tod schickt. Offensichtlich zeigen sich männliche Autoren radikaler, wenn sie Normabweichungen imaginieren. Die Konflikte ihrer Heldinnen gestalten sich als unüberwindbar, der Kampf gegen normative Diktate scheint aussichtslos. Weibliche Autorinnen bemühen sich dagegen, ihren Heldinnen Auswege aus dem Dilemma aufzuzeigen. Sie bewahren ihre Heldinnen vor dem großen Fehltritt, um Kompromisse zwischen individueller Ganzheitlichkeit und Normkompatibilität zu suchen. Kritik am Diskurs formulieren Autorinnen somit auf andere Weise als ihre männlichen Kollegen. Statt das durch den Diskurs evozierte Dilemma von vornherein als ein unlösbares zu betrachten, an dem Frauen notgedrungen zugrunde gehen, loten sie die Grenzen normativer Diktate aus, indem sie nach Lösungen suchen. Diese Lösungen fallen allerdings oftmals unbefriedigend aus, wenn man sich die Romanenden Austens und Sands vor Augen führt: Während Austen ihre außerordentliche Heldin Marianne nur mit der eher mittelmäßigen Figur Brandons ‚belohnt‘, endet Sands Indiana zwar in einem paradiesischen Urzustand, verstummt dort jedoch unter Ralphs Vormundschaft. Während männliche Autoren den Reformbedarf des Diskurses durch die Kollision ihrer Heldinnen mit normativen Diktaten betonen, betrachten weibliche Autorinnen die Folgen einer versuchten Assimiliation mit dem Schluss, dass die absolute Verwirklichung individueller Bedürfnisse für Frauen wenn überhaupt nur außerhalb des Einflussbereichs der Geschlechtscharakterologie möglich ist. Die Ausnahme von dieser Regel bleibt Emily Brontë: Sie ist die einzige Autorin, die die weibliche Normabweichung in Form von exzessiver Leidenschaft mit allen Konsequenzen durchspielt. Folglich ist sie auch die einzige der Autorinnen, deren Heldin verfrüht stirbt. Allerdings lässt sich einwen-

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den, dass auch bei Brontë das versöhnliche Moment der weiblichen (Schreib‑) Variante nicht zu übersehen ist, immerhin entwirft sie eine Nachfolgerin Catherines, der es letztlich gelingt, ihre affektiven Wunschvorstellungen zu realisieren. Doppelungsfiguren spielen in nahezu allen betrachteten Romanen des 19. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Rolle. Austens Marianne und Sands Indiana werden Reflexionsdoubles gegenübergestellt, die eine negative Handlungshypothese illustrieren und den eigentlichen Heldinnen somit die Gefahren ihres Verhaltens vor Augen führen. Weil Eliza und Noun an ihrer Stelle den sich darbietenden Versuchungen erliegen und sterben, gelingt es Marianne und Indiana ihre Lebenssituationen zum Besseren zu verändern: Marianne überwindet ihre sentimentalen Vorstellungen und findet solides eheliches Glück mit Colonel Brandon, während Indiana die Welt der Versuchungen insgesamt hinter sich lässt und mit Ralph in die Wildnis flieht. Brontës Catherine Earnshaw repräsentiert dagegen selbst die negative Handlungshypothese: Sie scheitert um ihrer Tochter willen. Als Double der ersten Catherine erringt Cathy eben die emotionale Ganzheitlichkeit, an deren Umsetzung erstere scheiterte. Auch bei Effi Briest, die als Protagonistin einer männlichen Variante des Verführungsromans die Gefahren weiblicher Normabweichung am eigenen Leib erfährt und somit keiner Ersatzfigur bedarf, kann das Moment der Doppelung verortet werden. Ein eigentümliches Double besitzt Effi in ihrer Mutter. Luise Briest scheitert nicht etwa, wie Brontës Catherine, zu Gunsten ihrer Tochter, vielmehr veranschaulicht sie die gelungene Anpassung an herrschende Konventionen. Darüber hinaus führt Fontane weitere Frauenfiguren ein, die Alternativschicksale zur weiblichen Normbiografie vorstellen. Doch weder Sidonie von Grasenabb noch Marietta Tripelli bieten Heldin oder Leserin Orientierung: Sowohl die selbstgerechte ‚alte Jungfer‘ Sidonie als auch die bohèmienne Tripelli versperren sich konventionellen Setzungen von Weiblichkeit. In der Spaltung – sei es die Spaltung zwischen der Heldin und einem Double oder die zwischen der Heldin und mehreren Alternativfiguren – besteht offensichtlich eine grundlegende Strategie der Darstellung weiblicher Romansubjekte im 19. Jahrhundert. Die These Gilbert und Gubars, Spaltung sei vor allem ein Phänomen weiblichen Schreibens, bedarf einer Korrektur. Im 19. Jahrhundert scheint fiktionale Weiblichkeit unabhängig vom Geschlecht des Autors nur mittels einer Aufsplittung der Figuren darstellbar zu sein. Insgesamt lässt sich die Formel aufstellen, je eigensinniger sich eine Romanheldin gibt, desto höher ist ihr Risiko zu scheitern. Dabei bestünde ein Scheitern in dem Erliegen eines Verführungsangriffs und dem darauf folgenden Tod oder aber im Tod als Flucht aus einem unlösbaren Konflikt, wohingegen weiblicher Eigensinn prinzipiell einen Anspruch auf individuelle Glückserfüllung zu erheben bedeutet. Das Konzept einer individuellen Glückssuche erweist sich als grundlegendes Problem weiblicher Lebensführung im späten 18. und 19. Jahr-



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hundert. Bereits die Figuren Clarissa und Julie unternehmen erste Versuche, ihren Lebensweg individuell zu bestimmen, was im Detail auf eine freie Partnerwahl hinausläuft. Dass die Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters, der affective individualism mit seinen Konsequenzen einer freien Wahlmöglichkeit sowie dem Anspruch auf Privatheit, für ihr Geschlecht schlicht nicht gilt, müssen beide Heldinnen schmerzlich erfahren. Die Frau darf in dem Sinne Teil des bürgerlichen Anspruchs auf Individualität sein, insofern sie dem Mann den Rückzug in die familiäre Privatsphäre durch ihren Liebesdienst, sprich ihre Hausarbeit, ermöglicht. Das individuelle Glück, das der Mann für sich in Anspruch nimmt, wenn er sein Familienleben vom Erwerbsleben dissoziiert, ist für seine Frau kein individuelles, sondern ihr Kollektivschicksal: die weibliche Normbiografie. Die drei Romantexte des 18. Jahrhunderts sind allesamt der Vorstellung von dieser Normbiografie verhaftet und charakterisieren ihre Heldinnen dementsprechend als perfekte Sinnbilder der Tugend. Spätere Heldinnen, wie Marianne Dashwood und Catherine Earnshaw, weisen indes auf ein Paradox des Diskurses hin: Individuation sehen erzieherische Texte für ihre Adressatinnen nicht vor, die Entwicklung einer Einzelpersönlichkeit ist bei der realen Frau nicht erwünscht, für die Romanheldin hingegen erweist sie sich als unumgänglich. Wie in den Eingangsüberlegungen zu Kapitel 4 dargelegt wurde, stellt die rollenkonforme Kollektividentität von Frauen im 19. Jahrhundert kaum ausreichend Stoff für einen Roman bereit. Stattdessen treten im Roman nicht nur weibliche Einzelpersönlichkeiten in den Vordergrund, sondern auch perfektible Frauenfiguren, die also über ein bestimmtes individuelles Entwicklungspotenzial verfügen. Wenn Romanheldinnen somit als per se unkonventionell definiert werden können, liegt es auf der Hand, dass sie zwangsläufig in einen Konflikt geraten müssen, und zwar in einen zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Assimilation und Individuation, der wie gesehen oftmals einen Konflikt von divergierenden gefühls- und vernunftmäßigen Erwägungen umfasst. Der Grund für das weibliche Dilemma eines Konflikts zwischen Verstand und Gefühl liegt demnach in den unterschiedlichen strukturellen Bedingungen und Absichten der betrachteten Medien: Während die Ratgeberliteratur vollkommene Frauen hervorbringen will, ist es Ziel der schönen Literatur, lebensechte, psychologisch glaubwürdige Frauen(-figuren) zu schaffen. Zugespitzt heißt dies, dass die lebensnahe Ausdrucksform, wenn sie absolute Perfektion fordert, etwas bezweckt, das nur Fiktion sein kann, wohingegen die Fiktion das Leben imitiert. Der Geschlechtscharakterdiskurs führt Frauen in eine Sackgasse der Verhaltensnormen, sowohl nichtfiktionale als auch fiktionale Texte stellen die weibliche Normbiografie als eine Einbahnstraße dar. Bezüglich normativer Setzungen von idealtypischer Weiblichkeit lässt sich zunächst festhalten: Was in nichtliterarischen Texten undenkbar ist, die aktive

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Auslebung individueller Emotionalität, erprobt die schöne Literatur. Normabweichungen, die erzieherische Texte schlicht nicht dulden, brechen sich im Roman in Form weiblichen Eigensinns Bahn, wobei sich Eigensinn als Verweigerung tradierter Rollennormen kennzeichnen lässt. Eigensinnige Heldinnen bemühen sich um Individuation, sie stellen die Biografien ihrer Mütter in Frage und suchen einen Weg, sich in einem Status zwischen Tochter und Ehefrau zu positionieren. Um ihrer selbst willen wahrgenommen zu werden, als Clarissa, Catherine oder Effi, nicht aber als Mrs. Solmes, Mrs. Linton oder Baronin von Innstetten, das ist das Anliegen dieser Heldinnen. Diese Form der Selbstbehauptung deutet sich bei Romanheldinnen des 18. Jahrhunderts nur an, sie bleibt letztlich eine Wunschvorstellung, an deren Unrealisierbarkeit Clarissa und Julie zugrunde gehen. Bei der Frage, ob das weibliche Subjekt einen Eigenwillen lediglich besitzt oder auch demnach agiert, handelt es sich offensichtlich um eine wesentliche Unterscheidung, die eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem Verführungsroman des 18. und dem des 19. Jahrhunderts beschreibt. Die betrachteten Romane des 18. Jahrhunderts pflichten dem Geschlechtscharakterdiskurs noch bei, indem sie ihre Leserinnen lehren, dass die Zerrissenheit zwischen individueller Affektivität und vernünftiger Assimilation an geltende Normvorstellungen die Frau stets ins Verderben führt: Ihr drohen Verführung bzw. Vergewaltigung und die damit einhergehende Entehrung, Krankheit, Wahnsinn und Tod. Gegen diese Gefahren wappnet das weibliche Geschlecht im Romankontext des 18. Jahrhunderts nur eine ausgeglichene Psyche, ein gemäßigtes Temperament und insbesondere die Anerkennung einer das Allgemeinwohl garantierenden Vernunft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich diese Auffassung auch noch bei Jane Austen auffinden, allerdings lässt sich bereits hier ein wesentlicher Unterschied verzeichnen. Nach der Jahrhundertwende wird das Dilemma der Heldin weniger durch äußere Umstände – beispielsweise die Anforderungen der Familie – evoziert, als vielmehr durch ihr Autonomiebestreben selbst. Spätere Texte, wie insbesondere Brontës Wuthering Heights, zeigen Frauen vermehrt in ihrer Unvollkommenheit und zeichnen glaubwürdigere, lebensechte Heldinnen, die ihren Anspruch auf individuelle Glückserfüllung mit Nachdruck erheben. Trotz der Vehemenz, mit der Romanheldinnen im 19. Jahrhundert gegen bestehende Setzungen einer weiblichen Normbiografie rebellieren, eröffnet sich ihnen selten ein alternativer ganzheitlicher Lebensentwurf. Weibliche Emotionalität bleibt auch im Roman ein unlebbares und damit unlösbares Problem, insbesondere deshalb, weil Autoren und Autorinnen des 19. Jahrhundert das Heilsversprechen einer „Weiblichkeit als Mäßigkeit“ anders als im vorigen Jahrhundert skeptisch sehen. Zusammenfassend lässt sich die Aussage treffen, der Roman thematisiert zwar die Widersprüchlichkeit idealtypischer Weiblichkeit, findet jedoch keine Lösungen. Zumindest innerhalb gesellschaftlicher Strukturen kann das weibli-



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che Dilemma eines Konflikts zwischen Verstand und Gefühl nicht aufgehoben werden. Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl stellt auch ein spezifisch weibliches Dilemma dar, insofern er sich innerhalb eines Konflikts zwischen Individuation und Assimilation abspielt. Die Unlösbarkeit des Dilemmas muss letztlich als Kritik an den diskursiv erzeugten Normen verstanden werden: Werte, die eine Hälfte der Gesellschaft kategorisch in unausweichliche Zwangslagen versetzen, bedürfen der Restrukturierung und Neuformulierung. Dabei bewerten männliche und weibliche Autoren die Geschlechtscharakterologie gleichermaßen kritisch, sie unterscheiden sich allerdings in ihrer Argumentationsstruktur. Während die männliche Variante des Verführungsromans vor allem durch das Scheitern der gefallenen Heldin determiniert ist und das Diktat der Einheit von individuellem Bestreben und Kollektivschicksal direkt als Unmöglichkeit demaskiert wird, steht im 19. Jahrhundert am Ende des weiblichen Verführungsromans die Resignation der Heldin vor den vormals angefochtenen Werten. Die daraus entstehenden Konsequenzen fallen unterschiedlich aus: Bei Marianne bewirkt eine grundsätzliche Läuterung schließlich die Anerkennung einer „Moral des rechten Maßes“, Catherines Resignation zwingt diese dagegen zur Selbstaufgabe, die mit dem Tod endet, wohingegen Indiana so weit resigniert, dass sie der diktattreuen Gesellschaft gänzlich entflieht. Ein Überleben der Heldin basiert in keinem Fall auf der Auflösung ihrer jeweiligen Konfliktsituation, sondern auf dem Umgehen derselben. In jedem Fall steht am Ende des gynozentrischen Romans des 19. Jahrhunderts die Aussage, dass für Frauen emotionale Ganzheitlichkeit im Rahmen einer Debatte um verbindliche Geschlechtscharaktere ausgeschlossen ist. Wenn Weiblichkeit noch glaubwürdig dargestellt werden soll, so kann das nur jenseits der propagierten Idiome geschehen. Dementsprechend kommt es mit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Erosion solcher Schlüsselbegriffe wie Tugend, Moral und Ehre. Die vorliegende Arbeit hat einen bislang ausschließlich im Kontext des 18. Jahrhunderts geläufigen Begriff, den des Geschlechtscharakters, auf das 19. Jahrhundert übertragen. Durch Nachvollziehen verschiedener Medien des Geschlechtscharakterdiskurses konnte gezeigt werden, dass das Konzept auch noch im 19. Jahrhundert Gültigkeit beanspruchen kann. In der Tat hat sich die Frage nach dem Geschlechtscharakter im 19. Jahrhundert als außerordentlich lohnend erwiesen. Im 18. Jahrhundert besaß der Diskurs noch uneingeschränkte Gültigkeit, darin stimmen nichtfiktionale und fiktionale Quellen überein. Nach 1800 hingegen lösen sich fiktionale Entwürfe von Weiblichkeit von den bisher wirksamen Normvorgaben und stellen insbesondere mittels Reflexionsdoubles alternative Lebensentwürfe vor, wohingegen die Ratgeberliteratur noch immer auf den alten Postulaten beharrt. Während nichtliterarische und fiktionale Quellen im 18. Jahrhundert also weitgehend parallel laufen, lösen sich die

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Textformen im 19. Jahrhundert voneinander, was den Diskurs insgesamt destabilisiert. Zu fragen bliebe, ob und zu welchem Zeitpunkt der Geschlechtscharakterdiskurs gänzlich auseinanderbricht. Wie entwickelt sich das im 19. Jahrhundert aufkeimende Autonomiestreben weiblicher Romanheldinnen weiter? Auch wenn der Begriff Geschlechtscharakter längst der Vergangenheit angehört, ist das Phänomen einer komplementären Charakterisierung der Geschlechter tatsächlich verschwunden? In welchen Diskursen tritt dieses Phänomen eventuell heute noch auf? Zeigen nicht gerade Diskussionen um sogenannte soft skills, denen in Opposition zu vermeintlichen „hard skills“ eine weibliche Konnotation anhaftet, dass Divisionen zwischen typisch männlichem und typisch weiblichem Verhalten auch noch im 21. Jahrhundert stattfinden? Diesen und weiteren Fragen werden sich zweifellos zukünftige Arbeiten widmen.

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7 Namensverzeichnis Allrath, Gaby 272 Ammon, Friedrich August von 18f. Ardenne, Elisabeth von 333 Armstrong, Nancy 7, 56, 57, 79, 260 Arnim, Bettina von 190 Austen, Jane 10, 79, 140, 205, 215, 216, 218, 221, 222, 224–263, 286, 287, 296, 298, 300, 302, 360, 366, 367, 368, 370 Baasner, Frank 134 Bailet, Dietlinde S. 5 Bal, Mieke 231 Balzac, Honoré de 223 Barker-Benfield, G. J. 133, 134, 140 Barrière, FranÇois 67 Barth, Susanne 120 Beaujean, Marion 3, 135 Becker-Cantarino, Barbara 189, 205, 207, 208 Behn, Aphra 136 Bell, Acton 264; s. Brontë, Anne Bell, Currer 264; s. Brontë, Charlotte Bell, Ellis 264; s. Brontë, Emily Berg, Urte von 35 Bevir, Mark 9 Bindokat, Karla 353 Bismarck, Otto von 340 Bleckwenn, Ruth 67, 112 Blinn, Hansjürgen 4, 218 Bock, Gisela 21 Bollenbeck, Georg 65 Booker, John T. 315 Boone, Joseph Allen 4 Bordas, Éric 306, 307, 324, 331 Bovenschen, Silvia 3, 22, 135, 210 Bronfen, Elisabeth 156, 157 Brontë, Anne 264; s. Bell, Acton Brontë, Charlotte 216, 257, 264, 265, 266, 290, 304; s. Bell, Currer Brontë, Emily 11, 215, 216, 263–304, 355, 366, 367, 368, 370; s. Bell, Ellis Brosch, Renate 230, 258, 259f. Brownstein, Rachel M. 221f., 225, 228 Burney, Frances 221, 222

Burow, Julie 15, 34, 48–50, 58, 64, 104–108, 109, 130, 309, 364; s. Pfannenschmidt, Julie Butler, Judith 8 Butler, Marilyn 224 Calder, Jenni 225 Calm, Marie 58, 108–112 Campan, Jeanne-Louise-Henriette 10, 58, 66–70, 99–101, 112 Campe, Joachim Heinrich von 10, 20, 58, 86–91, 93, 96, 112 Chesterfield, Philip Dormer Stanhope 24 Cho, Sonjeong 222 Cobbe, Frances Power 34, 50–52, 74 Cockshut, Anthony Oliver John 295f., 300 Cohn, Dorrit 230, 31 Crouse, Jamie S. 277 Davies, Emily 34, 44f., 50 Dawson, Ruth P. 191 Degering, Thomas 355, 357 Demmerling, Christoph 7 Dethloff, Uwe 307, 326 Dickens, Charles 216 Dietrich, Georg 53, 54 Dryden, John 155 Duden, Barbara 21, 23 Dupuy La Chapelle, Nicolas 95 Eagleton, Terry 139 Edgeworth, Maria 58–61, 62 Edgeworth, Richard Lovell 59–61 Eggert, Hartmut 334 Ehrich-Haefeli, Verena 32, 87 Elias, Norbert 199 Ellis, Sarah Stickney 82 Eliot, George 263 Fabry, Anne Srabian de 166 Fénelon, François de Salignac de La Mothe 16, 25–28, 33, 49, 66, 73, 82 Fielding, Henry 230 Firges, Jean 164, 169, 175, 176, 187f. Fisk, Nicole Plyler 275, 288, 298 Flaubert, Gustave 315, 335 Foltinek, Herbert 226



Fontane, Theodor 11, 215, 216, 332–361, 367, 368 Fordyce, James 40, 41, 58, 82–86, 260, 364 Foucault, Michel 17 Frith, Gillian 303 Galle, Roland 179, 180 Garbe, Christine 31 Gardiner, Alan 272 Garis, Robert 260 Gay, Peter 7 Geitner, Ursula 4, 218, 223 Geller, Hermann 179, 180, 184 Gellert, Christian Fürchtegott 3 Gemmeke, Mascha 219 Genette, Gérard 232 Genlis, Félicité de 40 Gerok-Reiter, Annette 214 Gilbert, Sandra M. 6, 259, 284, 285, 286, 289, 368 Giovannini, Gaspara 324, 330 Glatz, Jacob 58, 119–125, 129, 285 Gleim, Betty 58, 64–66, 72, 73 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 74f., 190, 209, 219, 220, 297, 334 Goldberg, Rita 143 Gonda, Caroline 146 Grass, Günter 220 Gregory, John 10, 40, 58, 79–82, 84, 91, 95, 96, 235, 238, 260 Grenz, Dagmar 7, 15, 17, 20, 117 Gröbel, Walter 236, 257 Gubar, Susan 6, 259, 284, 285, 286, 289, 368 Guizot, Elisabeth Charlotte Pauline 58, 125–127 Gunn, Daniel P. 148 Hagstrum, Jean H. 159, 188 Halifax, George Savile 95 Hammer-Tugendhat, Daniela 3, 13 Häntzschel, Günter 20 Hardy, Thomas 334 Hartl, Lydia Andrea 8 Hausen, Karin 3, 17f., 20 Haywood, Eliza 140 Helduser, Urte 189, 203 Heller, Agnes 7

Namensverzeichnis 

 387

Helmstetter, Rudolf 52f., 55, 333, 338, 346, 356, 357, 360 Herschel, Caroline 50 Hesse, Hermann 220 Hippel, Theodor Gottlieb von 15, 33f., 35–39, 40, 44, 45, 364 Hohendahl, Peter Uwe 132, 135, 147, 158, 195, 199 Hopfner, Johanna 6, 23, 32 Howells, R. J. 164, 172f., 184 Hülk, Walburga 174f. Humble, Nicola 223 Illouz, Eva 7 Jalland, Pat 240 Jilg, Gabriele 4 Jonach, Michaela 20, 86, 91 Jones, Vivien 39f. Kaarsberg Wallach, Martha 343f. Kant, Immanuel 19 Kaufmann, Angelika 107 Klingler, Bettina 223, 339 Klinkert, Thomas 186 Kluckhohn, Paul 5 Knigge, Adolph von 24 Kramp, Michael 248, 250, 251f. Krause, Edith H. 347 Kristeva, Julia 5 Krug, Michaela 189, 190, 194, 201 Kucklick, Christoph 160 Landweer, Hilge 7 Langner, Margrit 193, 203, 206f. La Roche, Sophie von 4, 10, 138, 189–211, 212, 213, 218, 222, 229, 365 Lanser, Susan Sniader 231 Laqueur, Thomas 17 Lee, Nathanial 155 Lehmann, Christine 4, 10, 136, 138, 143, 155, 156, 201, 203f., 289, 298, 305f., 334, 359, 360 Leierseder, Brigitte 21, 102 Lemberg-Welfonder 175 Lennox, Charlotte 140 Lerner, Laurence 5, 178, 186, 227, 240 Locke, John 13, 24, 28 Luhmann, Niklas 5 Lukács, Georg 5f., 302 Lutter, Christina 3, 13

388 

 Namensverzeichnis

MacKenzie, Henry 160 Maier, Hans-Joachim 201, 205, 206, 207, 209f., 211 Mann, Renate 228, 229, 256, 259, 263 Marguenat de Coucelles de Lambert, Anne-Thérèse de 99 Marshall, David 183 Marso, Lori Jo 166, 178f. Marx, Anna 5, 134, 137, 208, 210, 283 Martineau, Harriet 58, 70–73 Matzat, Wolfgang 174, 217 May, Anja 4, 205, 207, 218 Mayer, Verena 8 Mergenthal, Silvia 1, 4, 13, 220, 221, 222 Meuthen, Erich 164, 182 Mezei, Kathy 232 Miller, Nancy K. 168 Mitchell, Sally 50 Möbius, Paul 19 Moers, Ellen 225 Mog, Paul 3, 149 Mooneyham, Laura G. 259 More, Hannah 58, 61–63 Morgenstern, Karl 220 Moritz, Karl Philipp 4 Mornet, Daniel 188 Mouchet, Denys 95 Müller, Anja 14, 146 Müller, Wolfgang G. 246, 259 Mulock, Dinah 82 Necker de Saussure, Albertine Adrienne 34, 45–48, 49, 73 Néraud, Jules 327 Nicklas, Pascal 162 Niemeyer, Georg Friedrich 58, 91–95 Nunner-Winkler, Gertrud 8 Nussbaum, Martha 269, 283, 304 Osinski, Jutta 176, 202 Panke-Kochinke, Birgit 18, 207, 285 Paris, Bernard J. 256, 258 Pateman, Carole 128 Pearson, Carol 302 Peck, G. W. 266 Pendorf, Gabriele 194 Perry, Ruth 136, 137f., 141f., 144, 154, 162 Pestalozzi, Johann Heinrich 14, 24, 64 Petriconi, Hellmuth 5, 137

Pfannenschmidt, Julie 104: s. Burow, Julie Picard, Hans Rudolf 164, 174, 183, 217 Pikulik, Lothar 135 Polhemus, Robert M. 289f. Pope, Katherine 302 Porter, Roy 160 Pratt, Annis 283 Pullan, Matilda 10, 58, 101–103 Radcliffe, Anne 274 Raumer, Karl von 10, 58, 73–76, 112, 116, 364 Reichelt, Gregor 354, 357 Reinfandt, Christoph 6, 160, 216 Rémusat, Claire Élisabeth Jeanne Gravier de Vergennes de 34, 43f., 45f. Reynolds, Kimberley 223 Rhode, Emmy von 15 Richardson, Samuel 3, 10, 138, 139–163, 164, 168, 175, 184, 185, 190, 199, 210, 211, 213, 216, 230, 258, 265 Riedo, Chantal 24, 33 Rippl, Daniela 8 Rohse, Heide 349f., 361 Rougemont, Denis de 5 Rousseau, George S. 132, 246 Rousseau, Jean-Jacques 10, 14, 16, 24, 28–33, 36, 40, 41, 42, 49, 52, 82, 84, 87, 91, 102, 111, 138, 163–189, 210, 211, 212, 213, 214, 363, 365, 366 Rückriem, Norbert 54 Rudolphi, Caroline 58, 117–119 Runge, Anita 194, 202, 209 Ruoff, Gene W. 255 Ruskin, John 82 Sabiston, Elizabeth Jean 224, 252 Sand, George 11, 50, 215, 216, 304–332, 338, 348, 349, 366, 367, 368 Sanders, Valerie 71f., 82, 97 Sappho 107 Schabert, Ina 230, 231 Scherpe, Klaus R. 217, 333 Schieth, Lydia 14 Schlientz, Gisela 306, 312, 320, 331, 332 Schmiedt, Helmut 5, 345, 349, 350 Schmitt, Hanno 75 Schmitz-Burgard, Sylvia 31 Schneider, Manfred 5 Schopenhauer 216



Schrick, Annegret 233, 262 Schrott, Karin 98f. Schweitzer, Antonie 218 Selbmann, Rolf 219 Seybert, Gislinde 175, 312 Shieh, Jhy-Wey 334f., 339, 344f. Sieder, Reinhard 110 Simmel, Monika 18f., 24, 27 Sitte, Simone 218 Sonntag, Henriette 107 Söring, Jürgen 171 Spacks, Patricia Ann Meyer 225, 286, 289, 291 Spoerhase, Carlos 9 Staël, Anne Louise Germaine de 40 Stanitzek, Georg 19 Starobinski, Jean 164, 183 Stern, Sigismund 58, 76–78, 112 Sterne, Laurence 132, 160 Stewart, Maria A. 230, 239, 240, 256 Stewart, Philip 169, 183 Stone, Donald D. 266 Stone, Lawrence 135, 213 Suarez, Michael F. 140, 147, 162 Sydow, Johanna von 15, 58, 112–117 Tanner, Tony 257, 263 Taylor, Ann 58, 96–99, 364 Thesz, Nicole 340 Thomson, James 175 Thomson, Patricia 226, 304f. Thormählen, Marianne 272 Tieghem, Philippe van 175 Tonussi, Paola 297 Unger, Friederike Helene 4 Ury, Else 15 VanSant, Ann Jessie 133, 134 Vicinus, Martha 57, 80 Vickery, Amanda 94 Vogel, Juliane 6 Wägenbaur, Birgit 15, 20, 22, 27 Warhol, Robyn 232 Warning, Rainer 9, 219 Watson, Melvin 282 Wegmann, Nikolaus 204 Weigel, Sigrid 134 Weininger, Otto 19 Werber, Niels 5, 350

Namensverzeichnis 

 389

Wezel, Johann Carl 4 Wiedemann, Kerstin 312, 326 Wieland, Christoph Martin 189, 190, 220, 222 Williams, Merryn 223, 283 Wingård Vareille, Kristina 305, 319, 320, 330 Winkle, Sally 193, 207, 210 Wobeser, Wilhelmine Karoline von 14, 140, 147 Wollstonecraft, Mary 15, 33f., 39–43, 44, 45, 48, 52, 71, 79, 96, 115, 134, 258, 262, 364 Woolf, Virginia 290f.