Zwischen Reflex und Reflexion: Intelligenz und Rationalität im unreflektierten Handeln 9783110448689, 9783110447866, 9783110448030

Unreflective action conceals an unexpected rationality of everyday life. Yet can we analyze unreflective action using te

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Zwischen Reflex und Reflexion: Intelligenz und Rationalität im unreflektierten Handeln
 9783110448689, 9783110447866, 9783110448030

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Martin Weichold Zwischen Reflex und Reflexion

Ideen & Argumente

Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Martin Weichold

Zwischen Reflex und Reflexion Intelligenz und Rationalität im unreflektierten Handeln

ISBN 978-3-11-044786-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044868-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044803-0 ISSN 1862-1147 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagsgestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagskonzept: +malsy, Willich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Meinen Eltern

Vorwort Das meiste, was wir Menschen tun, tun wir unreflektiert: Ob wir geschwind schwierige Bälle fangen, zielsicher die Türklinke beim Betreten eines Raumes ergreifen, mühelos den sozial angemessenen Abstand während eines Gesprächs halten oder spontan auf eine Person in Not zustürzen – überlegen oder bewusste Absichten fassen müssen wir dafür nicht. Westliche Denker haben zwar dazu tendiert, ihre Aufmerksamkeit allein auf reflektiertes und absichtsvolles Handeln zu richten und die genannten Verhaltensweisen in die Nähe von Reflexen zu rücken – aber die Anzeichnen mehren sich, dass sie dabei etwas sehr Wichtiges übersehen haben: den großen Phänomen-Bereich des Handelns zwischen Reflex und Reflexion, der vielleicht ein so guter Schlüssel zur menschlichen Natur ist wie wenig anderes. Vielleicht nämlich zeigt sich der Charakter eines Menschen an nichts so gut zeigt wie an seinem unreflektierten Handeln – so zumindest haben große Denker wie etwa Friedrich Schiller argumentiert. Zudem sind Menschen möglicherweise am besten und glücklichsten sind, wenn sie statt zu überlegen im unreflektierten „Flow“ ihres Handelns aufgehen – eine Sichtweise, die beispielsweise der amerikanische Philosoph Hubert Dreyfus im Anschluss an Martin Heidegger stark gemacht hat. In der Sozialpsychologie mehren sich darüber hinaus die Evidenzen dafür, dass nur ein kleiner Prozentsatz unseres Handelns unter unserer bewussten Kontrolle steht und der Großteil stattdessen „automatisch“ abläuft. Und auch in der gegenwärtigen (Philosophie der) Kognitionswissenschaften finden sich immer mehr revolutionäre Ansätze, die menschliche Intelligenz im Handeln nicht länger etwa im reflektierten Manipulieren von Repräsentationen verorten, sondern im direkten, spontanen und unreflektierten Umgang mit den Handlungsgelegenheiten, die sich den Handelnden in den konkreten Situationen bieten, in denen sie sich befinden. Im Angesicht dieser hohen Relevanz unreflektierten Handelns einerseits und ihrer bisher vergleichsweise überschaubaren Würdigung in der Philosophie anderseits untersucht die vorliegende Arbeit unreflektiertes Handeln aus philosophischer Sicht. In Bezug auf die Natur dieses unreflektierten Handelns stellt sich eine Vielzahl von Problemen, die nicht nur für die Philosophie im engeren Sinne, sondern auch für die begrifflichen Grundlagen von Psychologie, Soziologie und Kognitionswissenschaften von größter Bedeutung sind: Lässt sich unreflektiertes Handeln etwa überhaupt erhellend mit Hilfe traditioneller volkspsychologischer Begriffe wie „Absicht“, Überlegung“, „mentaler Zustand“, „Repräsentation“, „Wunsch“ und „Überzeugung“ analysieren, und wenn nicht, wie sähen Alternativen aus? Geschieht unreflektiertes Handeln nicht-absichtlich? Können Menschen auch für ihr unreflektiertes Handeln verantwortlich gemacht werden? Und wenn sie es

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Vorwort

können, wie kann ihnen dann ihr unreflektiertes Handeln als ihr Handeln zugerechnet werden, wenn sie nicht mit ihren bewussten Absichten dahinterstehen? Passiert etwas ganz anderes,wenn Menschen reflektiert und wenn sie unreflektiert handeln? Stimmt es, dass Menschen am besten und gekonntesten handeln, wenn sie spontan und ohne Überlegung vorgehen? Ist Handeln, das nicht reflektiert und absichtlich geschieht, überhaupt rational? Und wenn es nicht rational wäre,wären dann Menschen nicht meistens irrational? Was wäre dann aber mit dem moralischen Experten, dem aristotelischen Phronimos, der stets spontan und ohne zu überlegen derart auf die moralisch relevanten Eigenschaften der Situation reagiert, dass sein unreflektiertes Tun gerade ein Musterbeispiel für Rationalität darzustellen scheint? Auf all diese Fragen werden in dieser Untersuchung neuartige Antworten vorgeschlagen. Dabei macht die ungewöhnliche Thematik ein ungewöhnliches Vorgehen erforderlich: Es wird sich nämlich als notwendig erweisen, Brücken zu schlagen zwischen Analytischer Philosophie und Phänomenologie, zwischen Philosophie und Kognitionswissenschaften, zwischen Theoretischer und Praktischer Philosophie, sowie zwischen dem Denken klassischer Autoren wie Aristoteles, Kant, Heidegger und Wittgenstein einerseits und aktuellen Debatten wie der McDowell-Dreyfus-Debatte und den Debatten um die Natur von Wissen-Wie und um die Natur von Gründen andererseits. Am Ende beansprucht die Untersuchung vor allem, neue Perspektiven und Denkweisen vorzuschlagen, über die sich weiter nachzudenken lohnt. Im Folgenden wird zunächst in einer Einleitung historisch und systematisch in den Phänomen-Bereich des unreflektierten Handelns und seine Relevanz eingeführt. Im ersten und zweiten Kapitel wird dann untersucht, inwieweit traditionelle intellektualistische (z. B. Jason Stanleys) und anti-intellektualistische (z. B. Hubert Dreyfus’) Theorien der kognitiven Komponente gekonnten Handelns jenen großen Phänomen-Bereich erhellen können. Da sich ergeben wird, dass diese Theorien dem vernachlässigten Phänomen-Bereich in vielerlei Hinsicht nicht Rechnung tragen können, wird vor diesem Hintergrund im dritten Kapitel ein Neustart vorgeschlagen, und auf dem Boden von Einsichten der Phänomenologie (Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty), der ecologischen Psychologie (Gibson) und der aktuellen Philosophie der Kognitionswissenschaften (Enaktivismus) ein eigener Vorschlag unterbreitet. Für sich genommen steht dieser Vorschlag aber vor dem Problem, die Rationalität und Verantwortbarkeit des unreflektierten Handelns nicht verständlich machen zu können (die existiert, wie sich mit Hilfe der experimentellen Philosophie („XPhi“) ergeben hat, und deren Existenz Philosophen wie McDowell gerade dazu bringt, das unreflektierte Handeln derart intellektualistisch zu konzipieren, wie sie es tun). Als Ausweg wird im vierten Kapitel schließlich mit Hilfe Wittgensteins ein sozialexternalistischer Ansatz entwickelt,

Vorwort

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der die von Dreyfus kritisierte McDowell’sche Überintellektualisierung unreflektierten Handelns vermeidet und der gleichzeitig im Geiste McDowells verständlich machen kann, inwiefern auch unreflektiertes Handeln rational ist. – Jedes Kapitel kann für sich gelesen werden, je nach den Interessen der jeweiligen Leserin bzw. des jeweiligen Lesers. Wer sich beispielsweise nur für die hier vorgeschlagene positive, konstruktive Konzeption unreflektierten Handelns interessiert, kann direkt mit Kapitel 3 (und dort mit Abschnitt 1b) beginnen. Da die Kapitel aber zugleich in der Form eines einzigen großen Argumentationsganges angeordnet sind, ist es vielleicht am gewinnbringendsten, wenn sie alle zusammen studiert werden. Eine frühere Version dieser Untersuchung wurde im Jahr 2014 an der GeorgAugust-Universität Göttingen als Dissertation verteidigt. Ich danke der GeorgAugust-Universität Göttingen und der University of California, Berkeley für die Gelegenheiten, dort zu forschen, der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Fulbright-Kommission und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen für die finanzielle und ideelle Unterstützung, und Prof. Christian Beyer, Prof. Felix Mühlhölzer und Prof. Holmer Steinfath für die vorzügliche Betreuung. Für sehr spannende und bereichernde Diskussionen während des Verfassens dieser Arbeit bedanke ich mich ferner bei den Zuhörerinnen und Zuhörern von Vorträgen in Amersfoort, Antwerpen, Barchem, Bochum, Dresden, Essen, Göttingen, Kirchberg am Wechsel, Konstanz, München und Wien, ebenso wie bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der von Yuan Wu und mir organisierten Reading Group zum Thema „Unreflective Action“ in Berkeley, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien und Oberseminare Prof. Beyers, Prof. Mühlhölzers und Prof. Steinfaths, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Seminars zum Thema „Praktische Intelligenz“, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der „Ordinary Language Philosophy“-Diskussionsgruppe in Göttingen und bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der psychologischphilosophischen Affordanz-Diskussionsgruppe, sowie schließlich bei Anton Alexandrov, James Conant, Christoph Demmerling, Hubert Dreyfus, Eike Düvel, Christina Ellermann, John Martin Fischer, Dorothea Frede, Frederik Gierlinger, André Grahle, Friedrich Hausen, Christine Korsgaard, Tim Kraft, Roland Krause, David Löwenstein, Jeff Malpas, Alva Noë, Adriana Pavić, Zuzanna Rucinska und Maureen Sie; und insbesondere danke ich Wilfried Keller und Hannes Worthmann, die sich beide größte Mühe gegeben haben, meine „Affordanz“-Theorie auf Herz und Nieren zu prüfen … Mai 2015

Martin Weichold

Inhalt Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion 1  Schillers Weg 3  Zurechenbarkeit und die Allgegenwart der Vernunft 6  Gekonntes Handeln und die Abwesenheit des Bewusstseins 10 13  Schillers Scheitern und die Notwendigkeit eines Neu-Ansatzes  Begriffliche Werkzeuge zur Analyse des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion 16  Die Allgegenwart und Relevanz des Mittelreichs zwischen Reflex und 20 Reflexion  Das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion in der Literatur 24  Ausblick 28 I    

Propositionale Intelligenz und ihre Grenzen Der Intellektualismus 39 47 Die Grenzen des Intellektualismus Diagnose 66 Fazit 76

II    

Körperliche Intelligenz und ihre Grenzen Der Anti-Intellektualismus 84 Die Grenzen des Anti-Intellektualismus 114 Diagnose Fazit 119

III Die Natur der praktischen Intelligenz  Der Interaktionismus 123  Perspektiven des Interaktionismus  Diagnose 225  Fazit 233 IV Rationalität ohne Reflexion  Die orthodoxe Sichtweise  Die Alternative 242  Methode 248  Zurechenbarkeit 255  Normativität 272

236 238

33

78 98

120 178

XII

   

Inhalt

Rationalität 280 306 Zweck Freiheit 313 Fazit 321 Fazit

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Literatur

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V

Personenverzeichnis Sachverzeichnis

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion In seinem Aufsatz „Über Anmut und Würde“ schreibt Schiller (1793: 87 f.): Indem ich meinen Arm ausstrecke, um einen Gegenstand in Empfang zu nehmen, so führe ich einen Zweck aus, und die Bewegung, die ich mache, wird durch die Absicht, die ich damit erreichen will, vorgeschrieben. Aber welchen Weg ich meinen Arm zu dem Gegenstand nehmen und wie weit ich meinen übrigen Körper will nachfolgen lassen; wie geschwind oder langsam, und mit wie viel oder wenig Kraftaufwand ich die Bewegung verrichten will, in diese genaue Berechnung lasse ich mich in dem Augenblick nicht ein, und der Natur in mir wird also hier etwas anheim gestellt. Auf irgend eine Art und Weise muß aber doch dieses durch den bloßen Zweck nicht Bestimmte entschieden werden, und hier also kann meine Art zu empfinden den Ausschlag geben und durch den Ton, den sie angibt, die Art und Weise der Bewegung bestimmen. Der Antheil nun, den der Empfindungszustand der Person an einer willkürlichen Bewegung hat, ist das Unwillkürliche an derselben […].

Schiller scheint hier auf ein sehr einfaches Charakteristikum menschlichen Handelns aufmerksam zu machen: Nicht alle Aspekte einer menschlichen Bewegung erfolgen aus Reflexion und bewusstem Willen heraus. Wenn man den Kontext der Schiller’schen Passage nicht kennt, dann könnte man fälschlicherweise annehmen, Schiller vertrete hier folgendes Bild: Über die wichtigsten Angelegenheiten scheint ein Mensch zwar bewusst reflektieren zu können. Und wenn sich ein Mensch als Ergebnis einer solchen Reflexion entscheidet, ein bestimmtes Projekt in die Tat umsetzen, dann – so scheint Schillers Bild prima facie nahezulegen – handelt dieser Mensch als Mensch, und sein Tun ist in einem genuinen Sinne seine Handlung. Aber nicht alle Aspekte menschlicher Bewegungen scheinen in diesem Sinne Ausdruck der Persönlichkeit eines Akteurs zu sein. Bei manchen Aspekten von Bewegungen scheint der Mensch nicht selbst als Person in Erscheinung zu treten, sondern ein Empfindungszustand, d. h. der Körper das Steuer zu übernehmen. Ohne Reflexion und vollkommen automatisch scheinen körperliche Reflexe etwa zu bestimmen, „welchen Weg ich meinen Arm zu dem Gegenstand nehmen und wie weit ich meinen übrigen Körper will nachfolgen lassen; wie geschwind oder langsam, und mit wie viel oder wenig Kraftaufwand ich die Bewegung verrichten will“. Der Bereich solcher Reflexe scheint dabei überaus umfangreich zu sein: er scheint Armbewegungen und das Schalten beim Autofahren ebenso zu umfassen wie das Gehen durch Türen und das spontane Fangen von Bällen – gewissermaßen alle Details körperlichen Handelns. Zum Glück, so mag man denken, ist der Bereich des Automatischen derart groß: Denn nur so schaffen wir es, unsere begrenzten mentalen Ressourcen auf diejenigen Aspekte unseres Lebens zu lenken, die uns wirklich wichtig sind. Menschliches

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Handeln scheint also aus Reflexen einerseits und Reflexion andererseits zu bestehen, aber nur in der Reflexion, in dem, was ein Mensch bewusst will und was er in Reden kund tun kann, manifestiert sich seine Persönlichkeit, d. h. das, was er wirklich ist. Aus dem Kontext gerissen mag die eingangs zitierte Passage dieses Bild menschlichen Handelns zwar nahe legen. Doch nichts ist Schiller wichtiger, als gerade dieses Bild vehement zurückzuweisen. Seine gesamten intellektuellen Energien in „Über Anmut und Würde“ zielen nämlich darauf, gerade dieses Bild durch ein besseres und ganz anderes Verständnis menschlichen Handelns zu ersetzen. So schreibt Schiller (1793: 89): [A]us den Reden eines Menschen [wird man] zwar abnehmen können, für was er will gehalten sein, aber das, was er wirklich ist, muß man aus dem mimischen Vortrag seiner Worte und aus seinen Geberden, also aus Bewegungen, die er nicht will, zu errathen suchen.

Nichts ist laut Schiller verkehrter, als anzunehmen, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen an dem zeigt, was er bewusst will. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Laut Schiller manifestiert sich eine moralisch gute Gesinnung in geistig schönem, grazilem Handeln, und dieses grazile Handeln ist gerade das nicht Willkürliche. So setzt Schiller die eingangs zitierte Passage wie folgt fort (Schiller 1793:88): Der Antheil nun, den der Empfindungszustand der Person an einer willkürlichen Bewegung hat, ist das Unwillkürliche an derselben, und er ist auch das, worin man die Grazie zu suchen hat.

Zusammengefasst liegt gemäß Schiller also das, woran man sieht, was ein Mensch „wirklich ist“, in Bewegungen, „die er nicht [bewusst] will“, und „das, worin man die Grazie zu suchen hat“, ist das „Unwillkürliche“.Will Schiller damit etwa sagen, graziles Handeln, und Handeln, an dem man erkennt,was eine Person wirklich ist, bestehe aus Reflexen? Auch das ist nicht Schillers Position. Denn Schiller lehnt die Dichotomie von Reflex und Reflexion vehement ab. Die Art und Weise der Armbewegung etwa wird laut Schiller durch den Empfindungszustand der Person bestimmt. Und eine solche Bestimmung des Handelns durch einen Empfindungszustand grenzt Schiller sowohl von einer Bestimmung durch „den Willen der Person“ als auch von einer Bestimmung durch „das sinnliche Gefühlsvermögen und den Naturtrieb“ ab. Die Art und Weise der Armbewegung resultiert laut Schiller zwar nicht aus einer Reflexion – natürlich kann man nicht über alle Details der Armbewegung nachdenken. Aber sie ist auch kein bloßer Reflex – sie ist kein mechanistisch hervorgerufener Effekt, sondern ein gekonntes, situations-sensitives, gefühlvolles

1 Schillers Weg

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und lang trainiertes Tun. Um einen Namen für das Phänomen zu finden, schlage ich vor zu sagen, dass die Armbewegung nichts anderes ist als ein Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion. Diese Einsicht ist die wahre Quelle der Originalität von Schillers Ansatz. Denn das Denken in Dichotomien wie derjenigen von Reflex und Reflexion ist weit verbreitet. Wem kommt das eingangs skizzierte Bild mit seiner Dichotomie von Reflex und Reflexion nicht bekannt vor? Nur allzu vertraut ist die oft explizit oder implizit vorausgesetzte Bestimmung des Menschen über die Doppel-Natur aus einem reflexhaften, neigungsgeleiteten, chaotischen, bloß tierischen GetriebenWerden auf der einen Seite und aus einer reflektierten, freien, strukturierten, genuin menschlichen Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Schiller dagegen kann sich rühmen, dieses dichotomische Denken durchbrochen zu haben. Aber wie sieht Schillers Alternative aus, und was sind die Gründe, die für sie sprechen? Wie können Dinge wie die Art und Weise einer Armbewegung oder wie die Mimik eines Vortrags ein besserer Ausdruck der Persönlichkeit eines Menschen sein als das, was eine Person bewusst will? Diese Fragen zu beantworten ist wichtig, nicht nur, um Schillers alternativen Ansatz besser zu verstehen, sondern auch, um ein besseres Verständnis des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion zu ermöglichen, um das es in diesem Buch gehen wird. Wie sich zeigen wird, ist das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion von hoher Relevanz für die Philosophie des Geistes, die Handlungstheorie und die Ethik und reicht in seiner Bedeutung von der Natur des Handelns von Experten bis zu den Grundlagen menschlicher Rationalität.Wie sich allerdings im Rahmen einer Diskussion der Reaktionen zweier Zeitgenossen Schillers ergeben wird, ist das Mittelreich nicht nur aufgrund der klassischen Dichotomie von Reflex und Reflexion schwer zu sehen. Vielmehr liegt über allem eine tiefe Spannung zwischen zwei Grundgedanken über die Natur menschlichen Handelns, eine Spannung, die dazu führt, dass man das Handeln im Mittelreich entweder allein auf der Seite der Reflexion oder allein auf der Seite des Reflexes ansiedelt – eine Spannung, die auch und gerade für die heutige philosophische Forschung von größter Relevanz ist.

1 Schillers Weg Während es in „Über Anmut und Würde“ oberflächlich um Kunst und Ästhetik geht, steht unter der glänzenden Oberfläche nicht weniger als die Natur des Menschen zur Debatte. Schiller nimmt Anstoß an der Kantischen Bestimmung des Menschen über die Doppelnatur aus Sinnen- und Vernunftswesen, und zielt darauf, diese beiden so streng getrennten Naturen miteinander zu versöhnen. Bei

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Kant besteht das Nicht-Vernünftige allein in einer „Anarchie der Naturneigungen“, die unter „der Despotie des kategorischen Imperativs gezügelt“ werden müsse.¹ Im Gegensatz zu Kant versteht Schiller die nicht-vernünftige Seite anders. Vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die Natur des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion kann er Kants Auffassung des vom bewussten Willen Verschiedenen ein komplexeres Bild gegenüberstellen. Demnach besteht das vom bewusst Gewollten Verschiedene nicht allein aus bloß anarchischen, naturneigungshaften Reflexen, sondern auch aus empfindungsgeleiteten Bewegungen, die trainierbar und wandelbar sind. Ein Beispiel ist die eingangs erörtere Art und Weise der Bewegung des einen Gegenstand in Empfang nehmenden Arms, die z. B. mehr oder weniger grazil sein kann. Zwar können solche Bewegungen nicht direkt durch einen einzigen Entschluss beeinflusst werden. Aber wenn eine Person nur oft genug bewusst-willentlich auf eine bestimmte Weise handelt, dann sedimentiert sich dieses Handeln in den Affekten und Empfindungen. Ausnahmslos alles körperliche Handeln kann dabei laut Schiller auf diese Weise indirekt beeinflusst werden (Schiller 1793: 96): Ein reger Geist verschafft sich auf alle körperlichen Bewegungen Einfluß und kommt zuletzt mittelbar dahin, auch selbst die festen Formen der Natur, die dem Willen unerreichbar sind, durch die Macht des sympathetischen [sc. empfindungs-geleiteten] Spiels zu verändern. An einem solchen Menschen wird endlich alles Charakterzug, wie wir an manchen Köpfen finden, die ein langes Leben, außerordentliche Schicksale und ein thätiger Geist völlig durchgearbeitet haben.

Aus diesem Grund muss ein Mensch, der sein Leben konsequent auf eine bestimmte Weise gelebt hat, nicht erst seinen Willen anstrengen, um etwa gemäß seiner lang gehegten Wertvorstellungen zu handeln, sondern kann es mit routinierter Leichtigkeit tun. Hat ein Mensch im Verlaufe seines Lebens die Art seines Handelns zwischen Reflex und Reflexion durch seinen bewussten Willen auf eine vernünftige, etwa eine moralische Weise geformt, dann sind in diesem Leben Sinnlichkeit und Vernunft nicht länger getrennt, sondern in Harmonie verbunden. Eines solches Leben ist das Leben einer schönen Seele (Schiller 1793: 111 f.): Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. […] In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung. […] Alle

 Beide Zitate stammen aus den Vorarbeiten zur Religionsschrift (Kant a: ). Die Rechtschreibung wurde an heutige Gepflogenheiten angepasst.

1 Schillers Weg

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Bewegungen, die von ihr ausgehen, werden leicht, sanft und dennoch belebt sein. Heiter und frei wird das Auge strahlen, und Empfindung wird in demselben glänzen.

Ein solches Handeln ist für Schiller nicht nur Ausdruck einer idealen moralischen Gesinnung, es manifestiert sich auch als ein Handeln, das mit Grazie und Anmut geschieht. Entsprechend wird deutlich, warum es laut Schiller die empfindungsgeleiteten Bewegungen im Mittelreich sind, „worin man die Grazie zu suchen hat“ – hierin manifestiert sich ein langes Leben voller geistiger Schönheit. Und entsprechend wird auch deutlich, warum man aus den Reden eines Menschen zwar ersehen kann „ für was er will gehalten sein, aber warum das, was er wirklich ist“ nur aus seinem Handeln zwischen Reflex und Reflexion, aus seinen empfindungsgeleiteten Bewegungen abzulesen ist. Denn ein bewusst-willentlicher Entschluss in einem Augenblick enthält schließlich – selbst wenn man Schillers Freiheits-Konzeption nicht teilt – immer eine gewisse Freiheit, sich nach verschiedenen Umständen, etwa den augenblicklichen Erwartungen anderer oder gemäß eines nur kurze Zeit aufrechterhaltenen Selbst-Bildes zu entscheiden. Beispielsweise kann eine eigentlich selbst-süchtige Person für einige Wochen Gefallen daran finden, ein moralischer Mensch zu sein, und etwa ihre durch langjähriges Lohn-Dumping erwirtschafteten Unternehmensgewinne nun wohltätigen Zwecken zuführen – aber für eine solche Person wäre die Moral nur ein Hobby, und ein moralischer Mensch wäre sie noch lange nicht.² Dagegen manifesiert sich in dem unreflektierten Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion das gefestigte Leben einer Person als Ganzes. Unabhängig von allen in Reden ausgedrückten spontanen Moden und Gedanken zeigt sich hier, in welcher Gesinnung die Person ihr bisheriges Leben gelebt hat. Mit diesem Ansatz hat Schiller nicht nur eine neue Perspektive darauf geliefert, woran sich der Charakter einer Person manifestiert. Und er hat auch nicht nur eine Alternative zu klassischen Konzeptionen moralischen, gekonnten und schönen Handelns geliefert. Vielmehr hat er mit der Einsicht in das Mittelreich einen in seiner Eigenständigkeit ganz neu erkannten Phänomen-Bereich entdeckt. Und damit wird es erlaubt, die Gedanken, dass Menschen ihr Handeln durch bewusst-willentliche Reflexion beeinflussen können, dass sie aber häufig gekonnt und dabei unreflektiert handeln, zu vereinbaren. Schillers Einsicht in die Natur des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion sowie seine Konzeption der schönen Seele sind damit von höchster Relevanz. Interessiert man sich für das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion, dann ist es von großem Interesse, wie die Nachwelt auf Schillers neue

 Das Beispiel stammt in abgewandelter Form von Arpaly .

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Perspektive reagiert hat. Konnte sich etwa Kant davon überzeugen lassen, dass ein moralisch gutes Leben nicht unbedingt im strengen Befolgen der Pflicht, sondern im unreflektierten, grazil und anmutig erscheinenden Tun des Guten bestehen kann?

2 Zurechenbarkeit und die Allgegenwart der Vernunft Kant schreibt (1793/4: 22): Herr Prof. Schiller mißbilligt in seiner mit Meisterhand verfaßten Abhandlung (Thalia 1793, 3tes Stück) über Anmut und Würde in der Moral diese Vorstellungsart der Verbindlichkeit, als ob sie eine karthäuserartige Gemütsstimmung bei sich führe; allein ich kann, da wir in den wichtigsten Prinzipien einig sind, auch in diesem keine Uneinigkeit statuieren; wenn wir uns nur unter einander verständlich machen können. – Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe, gerade um seiner Würde willen, keine Anmut beigesellen kann. Denn er enthält unbedingte Nötigung, womit Anmut in geradem Widerspruch steht. […] [D]ie Tugend, d.i. die fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen, […] verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten.

Offensichtlich hat sich Kant nicht überzeugen lassen. Anmut und Grazie könnten seines Erachtens zwar schön, aber doch nicht mehr als ein bloßes Zeichen einer guten Gesinnung sein, da sich wahrhaft moralisches Handeln nur dort zeige, wo die Vernunft die Neigungen überwinde.³ Am Ende beharrt Kant in seiner Konzeption vernünftigen und moralischen Handelns damit auf dem, vor dem es Schiller am meisten grauste: einer bedingungslosen Herrschaft der Vernunft. Was aber motiviert Kant, die so naheliegende Konzeption Schillers zurückzuweisen,

 Entgegen einigen zeitgenössischen Kant-Interpretationen gibt Kant in der Religionsschrift sowie noch deutlicher in den Vorarbeiten zur Religionsschrift und in späteren Vorlesungen Schiller darin recht, dass sich Handeln aus Neigung und Handeln aus Pflicht notwendigerweise ausschließen; so schreibt er in den Vorarbeiten zur Religionsschrift (auf S. , Rechtschreibung an die heutigen Gepflogenheiten angepasst): „Wenn es also Pflichten gibt, wenn das Moralische Prinzip in uns Gebot für uns (kategorischer Imperativ) ist, so werden wir als dazu auch ohne Lust und unsere Neigung genötigt angesehen werden müssen. Pflicht, etwas gern und aus Neigung zu tun, ist Widerspruch.Wenn die Einpfropfung dieses Begriffs auf unsere Gesinnung endlich geschehen ist, so kann es wohl geschehen, dass wir pflichtmäßige Handlungen mit Lust tun, aber nicht machen, dass wir sie mit Lust aus Pflicht tun,welches sich widerspricht, folglich auch nicht als zufolge einer Triebfeder der Sinnenlust, die den Mangel des Gehorsams gegen das Pflichtgesetz ergänzt. Denn eben darin besteht die Moralität der Handlung, dass das Gesetz der Pflicht nicht bloß die Regel (zu irgendeiner Absicht), sondern unmittelbar Triebfeder sei.“

2 Zurechenbarkeit und die Allgegenwart der Vernunft

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gemäß der gerade derjenige moralisch gut handelt, der gerne und ohne erst eigens darüber zu reflektieren das Gute tut?⁴ Kants vielleicht wichtigster Grund ist so einfach wie fundamental: Nur mittels seiner kategorischen Trennung zwischen Vernunft und Neigung könne eine der grundlegendsten Fragen der Philosophie beantwortet werden, nämlich die Frage, wie Ereignisse Personen als ihre Handlungen zugerechnet werden können. Aufgrund von was kann ein Ereignis zu Recht als die Handlung einer bestimmten Person bezeichnet werden? In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant aus, dass man dazu aufs Schärfste zwischen einer empirischen Sinnlichkeit und einer intelligiblen Vernunft trennen müsse (Kant 1787: B582 ff.): Um das regulative Prinzip der Vernunft durch ein Beispiel […] zu erläutern […], so nehme man eine willkürliche Handlung, z. E. eine boshafte Lüge, durch die ein Mensch eine gewisse Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat, und die man zuerst ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht, und darauf beurteilt, wie sie samt ihren Folgen ihm zugerechnet werden könne. In der ersten Absicht geht man seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht, zum Teil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt; wobei man denn die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht läßt. […] Ob man nun gleich die Handlung dadurch bestimmt zu sein glaubt: so tadelt man nichtsdestoweniger den Täter, und zwar nicht wegen seines unglücklichen Naturells, nicht wegen der auf ihn einfließenden Umstände, ja sogar nicht wegen seines vorher geführten Lebenswandels […]. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar sieht man die Kausalität der Vernunft nicht etwa bloß wie Konkurrenz, sondern an sich selbst als vollständig an, wenngleich die sinnlichen Triebfedern gar nicht dafür, sondern wohl gar dawider wären; die Handlung wird seinem intelligiblen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der Tat, völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen.

 Reden Kant und Schiller nicht aneinander vorbei? Auf den ersten Blick immerhin scheint sich Kant primär für das Wesen einer genuin moralischen Handlung zu interessieren, Schiller dagegen primär für den Charakter eines moralischen Menschen. Doch so richtig diese Beobachtung ist, so falsch wäre es, daraus zu schließen, dass Kant und Schiller deshalb aneinander vorbeireden. Denn ob man idealtypisch das Wesen einer moralischen Handlung oder das Wesen eines moralischen Charakters bestimmt – an irgendeiner Stelle muss sich jede Moraltheorie mit der Frage konfrontiert sehen, auf welche Weise genau eine moralische Handlung vollzogen wird, d. h. wie die kognitive Komponente moralischen Handelns beschaffen ist. In der Kantischen Moralpsychologie steht hier die unbedingte Nötigung zur Moral im Vordergrund, das Gerne-Tun des Guten dagegen in der Schiller‘schen. So verschieden diese Antworten sind, so sehr sind sie doch Antworten auf ein und dieselbe Frage. Nicht umsonst ist Kant in späteren Jahren immer wieder auf Schillers Einwand zurückgekommen.

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Man sieht diesem zurechnenden Urteil es leicht an, daß man dabei in Gedanken habe, die Vernunft werde durch alle jene Sinnlichkeit gar nicht affiziert, sie verändere sich nicht […], in ihr gehe kein Zustand vorher, der den folgenden bestimme, mithin sie gehöre gar nicht in die Reihe der sinnlichen Bedingungen, welche die Erscheinungen nach Naturgesetzen notwendig machen. […] Daher kann man nicht fragen: warum hat sich nicht die Vernunft anders bestimmt? sondern nur: warum hat sie die Erscheinungen durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich.

Es muss hier zunächst nicht interessieren, ob es Kant in dieser und verwandten Passagen wirklich gelungen ist zu erweisen, dass eine freie intelligible Vernunft und eine kausale Geschlossenheit der sinnlichen Welt als kompatibel gedacht werden können. Entscheidend für die vorliegenden Zwecke ist vielmehr Kants Lösung für das Problem der Zurechenbarkeit. Demnach ist ein Ereignis einer Person deshalb als ihre Handlung zurechenbar, weil das Ereignis als Wirkung einer rein intelligiblen Vernunft verstanden werden kann. Eine solche intelligible Vernunft aber wird als im Gegensatz zu allem Sinnlichen stehend verstanden. Folglich ist ein Ereignis dann und nur dann als Handlung einer Person anzusehen, wenn es durch die intelligible Vernunft, aber nicht wenn es bloß durch etwas Sinnliches wie Affekte und Empfindungen bewirkt worden ist. Daher nun kann das unreflektiert vollzogene Handeln einer schönen Seele bei aller Anmut nicht als Ausdruck der moralischen Gesinnung einer Person als Ganzer gelten – dort ist es nicht die intelligible Vernunft, die das Handeln bewirkt. Zumindest „wenn noch von Pflicht allein die Rede ist“, müssen sich die Grazien damit „in ehrerbietiger Entfernung halten“. Freilich basiert laut Kant die Denkbarkeit einer intelligiblen Vernunft, die aus dem Nichts in die empirische Welt hineinwirken kann, auf metaphysischen Grundannahmen, die heute vielen wenig attraktiv erscheinen. Freilich ist auch Kants Postulat einer solchen zeitlosen Vernunft rein spekulativ. Denn es ist nur zu einsichtig, dass vernünftiges Überlegen, wie jedes andere Ereignis auch, ein Ereignis in Raum und Zeit ist, selbst wenn es im Einzelfalle nur sehr wenig Zeit in Anspruch nehmen kann. Und freilich ist Kants im Hintergrund stehendes argumentatives Manöver in einem Sinne zirkulär. Denn Kant geht davon aus, dass der Gedanke, dass der Lügner unabhängig aller empirischen Umstände wie seinem Charakter und seiner Vorgeschichte „gänzlich Schuld“ hat, nur dann möglich ist, wenn es eine intelligible Vernunft gibt. Damit setzt Kant aber schon voraus, dass der Lügner unabhängig aller empirischen Umstände „gänzlich Schuld“ hat. Es scheint aber zumindest möglich zu sein, dass es eine solche „gänzliche Schuld“ unabhängig aller empirischen Umstände nicht gibt. Und der Umstand, dass die Annahme einer intelligiblen Vernunft metaphysisch dubios ist, könnte dafür sprechen, dass es eine solche „gänzliche Schuld“ nicht gibt. Dann aber hat Kant nur gezeigt, dass „gänzliche Schuld“ eine intelligible Vernunft voraussetzt, aber es

2 Zurechenbarkeit und die Allgegenwart der Vernunft

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könnte beide nicht geben, und die Nicht-Existenz einer intelligiblen Vernunft könnte für die Nicht-Existenz einer gänzlichen Schuld sprechen. – Doch bei all diesen Bedenken gegen Kants Antwort auf Schiller enthält sie eine wertvolle Einsicht: Die Frage der Zurechenbarkeit muss beantwortet werden. Den Versuch einer solchen Antwort hat Schiller selbst unternommen. Nach seinen Erörterungen zum Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion sieht Schiller (1793: 100) nämlich eine „große Schwierigkeit“: „Schon aus dem Begriff moralisch sprechender Bewegungen ergibt sich, daß sie eine moralische Ursache haben müssen, die über die Sinnenwelt hinaus liegt“. Wenn man aus dem Handeln zwischen Reflex und Reflexion die moralische Gesinnung der handelnden Person erkennen könne und moralische Ursachen „über die Sinnenwelt hinaus“ gingen, dann könnten solche moralisch sprechenden Bewegungen nicht einfach nur empfindungsgeleitet vonstatten gehen, sondern müssten einen Zusammenhang zur intelligiblen Vernunft aufweisen. Wie an diesem Gedankengang zu sehen ist, ist es Schiller nicht gelungen, bei all seiner Innovativität ganz aus dem Kantischen Denken auszubrechen. Wenn Kant in seiner Antwort auf Schiller seufzt „wenn wir uns nur unter einander verständlich machen können“, dann ist dies durchaus ernst gemeint. Auch Schillers Lösung des von ihm in Kantischen Begriffen formulierten Problems ist Kantianisch: Selbst die moralisch sprechenden Bewegungen stünden im Zusammenhang zur intelligiblen Vernunft, weil sie sich „eine[r] Zulassung von Seiten des Geistes“ verdankten. Hinter dem empfindungsgeleiteten Handeln einer schönen Seele stehe also wiederum der bewusste Wille, der das empfindungsgeleitete Handeln zwar nicht bewirke, der es aber überwache und der jederzeit eingreifen könne. Der Unterschied zwischen Schiller und Kant liegt hier, so möchte ich vorschlagen, allein in ihrer unterschiedlichen Willensmetaphysik: Bei Kant wird ein Ereignis – so legt er an verschiedenen Stellen nahe – entweder allein auf sinnlicher Ebene durch andere Ereignisse bewirkt oder es wird durch die intelligible Vernunft bewirkt (vgl. Kant 1787: B830). Bei Schiller hat der Wille zudem Supervisions-Funktion, indem er ein sinnlich bewirktes Ereignis auch ohne einzugreifen zulassen kann.⁵

 In der Literatur ist die hier relevante genaue Differenz zwischen Kant und Schiller bis heute nicht aufgeklärt, vgl. Baxley , vgl. Katsafanas . Aber wenn ich recht habe, lässt sich die Differenz genau auf den Unterschied in der Willensmetaphysik zurückführen. In einem Vellemans Theorie () entlehnten Bild lässt sich dieser Unterschied so ausdrücken: Bei Schiller wäre der Wille wie der Beifahrer in einem Fahrschul-Auto, der entweder der Vernunft oder den erzogenen Empfindungen das Steuer überlassen, aber stets eingreifen kann; bei Kant dagegen entspräche der Wille nur einem normalen Wagen, der entweder von der zuverlässigen Vernunft selbst oder bloß

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Doch so hilfreich Kants Hinweis auf die Frage der Zurechenbarkeit menschlichen Handelns ist und von so viel Weitsicht auch Schillers Anerkenntnis des Problems zeugt – Schillers Lösung ist alles andere als überzeugend. Denn sie droht Schillers eigene tiefe Einsicht in die Natur des Mittelreichs wieder zu verschleiern, indem sie erneut eine klassische Dichotomie zwischen dem durch die Vernunft Zugelassenem und dem bloß Neigungshaftem, ohne den Segen der Vernunft Geschehenden aufzumachen droht. Und damit droht sie auch Schillers wertvolle Einsicht zurückzunehmen, dass sich Anmut und der Charakter einer Person gerade in unreflektiertem Handeln ausdrücken, das ohne den bewussten Willen einer Person geschieht. Dies wird nicht zuletzt anhand von einer Reaktion auf Schillers „Über Anmut und Würde“ deutlich, die aus einer ganz anderen Richtung stammt.

3 Gekonntes Handeln und die Abwesenheit des Bewusstseins Heinrich von Kleist hat 17 Jahre nach „Über Anmut und Würde“ in seiner kleinen Schrift „Über das Marionettentheater“ einen radikalen Gegenentwurf zu Schillers Konzeption formuliert. Er schreibt dort (1810: 15): Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.

Laut Kleist hat Schiller das Phänomen grazilen und anmutigen Handelns genau falschherum aufgezäumt: Nicht dadurch, dass ein empfindungs-geleitetes Handeln durch den bewussten Willen geformt worden ist, und erst recht nicht dadurch, dass es von einem im Hintergrund stehenden bewussten Willen aktuell zugelassen wird, komme graziles Handeln zustande. Zudem habe es auch nicht von den unzuverlässigen Neigungen gesteuert werden kann, ohne dass es eine weitere Möglichkeit zum Eingreifen gäbe. Sowohl Kant als auch Schiller setzen in ihrer jeweiligen Willensmetaphysik voraus, dass Menschen in einem metaphysischen Sinne über einen vollkommen freien Willen verfügen, der aus dem Nichts frische Kausal-Ketten initiieren kann. Ein solches libertäres, metaphysisches Verständnis eines freien Willens wird heute vor dem Hintergrund der Verbreitung naturalistischen Gedankenguts kaum mehr geteilt; und es lassen sich auch starke philosophische Argumente gegen eine solche Willensmetaphysik anführen. Doch selbst dann gäbe es immer noch das Phänomen zu erklären, dass sich bewusstes Überlegen, etwa eine Lüge zu verbreiten, „freier“ anfühlt als etwa das Austrecken des Arms, um einen Gegenstand in Empfang zu nehmen. In Kapitel III werde ich darauf eingehen, wie das Phänomen der Handlungskontrolle ohne die Annahme eines metaphysisch freien Willens verstanden werden kann, und in Kapitel IV werde ich ein alternatives Verständnis von Freiheit vorschlagen.

3 Gekonntes Handeln und die Abwesenheit des Bewusstseins

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das Geringste mit einer moralischen Gesinnung zu tun. Wahre Könnerschaft, die sich dann in schönem Handeln zeigen könne, entstehe vielmehr, wenn man allein auf spontane Eingebungen und Kräfte vertraue, und sich von jeglicher Berechnung und Überlegung frei mache. So schreibt Kleist in einer zeitgleich zum Marionettentheater erschienenen fiktiven Rede an seinen Sohn (Kleist 1810b: 301):⁶ Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich mit dem Handeln wie mit dem Ringen. Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegner umfaßt hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach bloßen augenblicklichen Eingebungen verfahren, und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, und welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden,würde unfehlbar den kürzeren ziehen, und unterliegen.

Bewusstes Überlegen verhindere demnach erfolgreiches und gekonntes Handeln. Ein solches Überlegen würde im Falle eines Ringkampfes nicht nur zu lange dauern und wesentlich weniger effizient sein als ein Folgen augenblicklicher Eingebungen. Kleist führt auch aus, dass reflexives Bewusstsein nur schädlich sei, indem es bei dem Handelnden Ziererei, Verwirrung, Hemmung und eine Unterdrückung der natürlichen Impulse hervorrufe. Zum Beleg werden im Marionettentheater Beispiele angeführt, etwa das eines „Jünglings“, dessen unreflektiertes Handeln einst eine wunderbare Anmut ausgestrahlt habe; doch als er, auf diese Schönheit angesprochen, um die „Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte“, zu überprüfen, sein Tun mit bewusster Aufmerksamkeit verrichtete, sei die Anmut verflogen. Seinen Gedankengang ins theoretische Extrem treibend stilisiert Kleist schließlich die geistlose Marionette zum Sinnbild bester Meisterschaft und größter Schönheit: In einer Marionette, „in einem mechanischen Gliedermann“ sei demnach „mehr Anmut enthalten“ als „in dem Bau des menschlichen Körpers“ (Kleist 1810a: 12). Zwar ist Kleists Beschreibung gekonnten Handelns in mechanistischen Begriffen eindeutig zu grob: Daraus, dass in gekonntem Handeln kein reflexives Selbst- oder Meta-Bewusstsein vorliegt und es sogar schädlich sein kann, folgt noch nicht, dass überhaupt kein Bewusstsein und gar keine Kognition vorliegt. Immerhin ist sich ein gekonnt Handelnder, etwa ein Tänzer, wie ihn Kleist anführt, zumindest nicht-reflexiv seines Handelns in dem Sinne gewahr, dass er das Gefühl hat zu handeln und nicht von fremden Kräften bewegt zu werden. Und als Tänzer  In der literaturwissenschaftlichen Kleist-Rezeption wird zwar zuweilen die These vertreten, Kleist habe das Marionettentheater vor allem ironisch gemeint (vgl. z. B. K. Kraft ). Doch wie die angeführte fiktive Rede an seinen Sohn deutlich macht, vertritt Kleist die im Marionettentheater zum Ausdruck gebrachte Position mit größter Vehemenz.

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muss er auch etwa wissen, wie man einen bestimmten Tanz tanzt, auch wenn dieses Wissen nicht in expliziter Form vor seinem geistigen Auge stehen muss. Man könnte also fast vermuten, dass Kleist genau wie Kant in den Begriffen klassischer Dichotomien gedacht hat, und das gekonnte Handeln, weil es nicht auf die Seite bewusster Überlegung gefallen ist, auf die andere Seite der bloß mechanischen Abläufe sortiert hat. Was an Kleists Gegenentwurf aber dennoch richtig und wichtig ist, ist seine Erinnerung an die Unreflektiertheit und Situations-Sensitivität gekonnten Handelns. Dass Menschen oft nach „augenblicklichen Eingebungen“ handeln, ist nur zu einsichtig, und dass sie in vielen Fällen gekonnten Handelns gerade dann gut und erfolgreich handeln, wenn sie auf diese Weise agieren, ist mittlerweile auch kognitionswissenschaftlich bestätigt. Beispielsweise ist das Phänomen des „Jünglings“, der die Grazie seines unreflektierten Könnens durch ein bewusstes Überwachen des gekonnten Handelns verloren hat, heute als „Verbal Overshadowing Effect“ (Schooler & Engstler-Schooler 1990) anerkannt, d. h. als der Effekt, dass bewusstes Achtgeben auf ein gekonntes Handeln zu einer signifikanten Senkung des Erfolgs führen kann. Damit relativieren Kleists Einsichten erstens Schillers ursprüngliche Idee, dass ein unreflektiertes Handeln nur deshalb Wert hat, weil sich in ihm der bewusste Wille eines dauerhaften Lebens in guter Gesinnung ausdrückt – ein spontanes Handeln nach natürlichen, augenblicklichen Eingebungen kann schon allein aufgrund seiner spontanen Situations-Sensitivität erfolgreich und in diesem Sinne wertvoll sein. Zweitens kann auch der Gedanke eines stets im Hintergrund stehenden Willens, der unreflektiertes Handeln zulässt oder verweigert, kaum aufrecht erhalten werden. Wenn der im Hintergrund stehende bewusste Wille wie Kants intelligible Vernunft als etwas Intelligibles außerhalb von Raum und Zeit verstanden werden sollte, dann wäre er eine reine metaphysische Spekulation. Wenn er aber als Phänomen in Raum und Zeit aufgefasst wird, dann hat Kleist aufgezeigt und die Kognitionswissenschaft mittlerweile bestätigt, dass ein solcher überwachender bewusster Wille das gekonnte Handeln in seiner Könnerschaft entscheidend einschränken können würde. Wenigstens im unreflektierten gekonnten Handeln ist ein solcher zulassender Wille nicht präsent. Dieser Gedankengang kann noch zwei Schritte weitergeführt werden: Erstens wäre ein zulassender Wille, selbst wenn er präsent wäre, auch der falsche Ansatzpunkt für die Zurechnung gekonnten Handelns zu einer Person. Denn wenn etwa ein Ringer dafür gelobt werden soll, dass er sich im letzten Augenblick durch eine geschickte Drehung aus einer eigentlich aussichtslosen Lage befreit hat, dann scheint der Ringer für nichts anderes als für diese unreflektierte, spontane und gekonnte Drehung gelobt werden zu sollen. Dagegen wäre es seltsam und unnatürlich anzunehmen, dass das Lob nicht der gekonnten Drehung selbst gilt,

4 Schillers Scheitern und die Notwendigkeit eines Neu-Ansatzes

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sondern dem im Hintergrund stehenden bewussten Willen, der die Drehung zugelassen und nicht verweigert hat. Ein anderer Ringer, der den bewussten Willen ausbildet, sich ebenfalls durch eine geschickte Drehung aus einer vergleichbaren Situation zu retten, der aber zu ungelenk ist, sich im entscheidenden Sinne geschickt zu drehen, wird schließlich nicht gelobt. Die unreflektierte, gekonnte Drehung, und nicht das Zulassen der gekonnten Drehung, ist das, wofür Lob ausgesprochen werden soll. Letzten Endes, so muss zweitens schließlich über Kleist hinausgehend konstatiert werden, kann Schiller mit seiner Konzeption eines zulassenden Willens auch seinen eingangs zitierten Gedanken nicht einfangen, dass man an unreflektiertem Handeln wie etwa der Gestik und Mimik eines Menschen erkennt, „was er wirklich ist“. Der bewusste Wille kann sich schließlich bis zu einem gewissen Grade nach den augenblicklichen Erwartungen anderer oder einem augenblicklichen Selbst-Bild richten, das unreflektierte Handelns dagegen im relevanten Sinne nicht. Wenn aber der Wille als Zulassender auch hinter dem unreflektierten Handeln stünde, könnte er auch dieses Handeln nach augenblicklichen Erwartungen anderer oder nach einem aktuellen Selbst-Bild beeinflussen. Zwar würde Schillers Gedankengang für den positiven Fall einer schönen Seele funktionieren, deren bewusster Wille es zulassen kann, ihre moralische Gesinnung in ihrem unreflektierten Handeln zu zeigen. Aber im negativen Falle könnte der bewusste Wille in Schillers Bild die Ausübung unreflektierten Handelns verweigern, die einen Schatten auf den Charakter des Handelnden werfen würden. Und damit könnte man das, was ein Mensch „wirklich ist“, nicht mehr an „Bewegungen, die er nicht will“ ablesen, weil es keine solchen Bewegungen mehr gäbe.

4 Schillers Scheitern und die Notwendigkeit eines Neu-Ansatzes Bei aller Innovativität und Weitsicht ist Schiller also gewissermaßen gescheitert: Er hat die genuin unreflektierte Gekonntheit des Handelns zwischen Reflex und Reflexion ebenso gesehen wie das Problem der Zurechenbarkeit, konnte diese beiden Einsichten aber nur um den Preis eines Widerspruchs in scheinbare Harmonie bringen. Diese Scheitern Schillers hat seine Wurzeln jedoch in Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache liegen. Am Grunde dieser Schwierigkeiten liegt zunächst, so möchte ich vorschlagen, der Umstand, dass sich das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion einer angemessenen Charakterisierung entzieht. Es lässt sich nämlich eine wirkungsmächtige Tendenz zum Denken in der Dichotomie von Reflex und Reflexion ausmachen. So ist es zunächst sehr natürlich, vor allem unbelebte Objekte aus

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

einer kausalen Einstellung und vor allem bewegte, belebte Objekte aus einer intentionalen Einstellung heraus verständlich zu machen. Laut Entwicklungspsychologen können diese beiden unterschiedlichen Sichtweisen schon bei kleinen Kindern ab einem Alter zwischen dem sechsten und zwölften Monat festgestellt werden (siehe Baird & Astington 2007: 259 ff.). Solch kleinen Kindern könnte man es zwar verzeihen, wenn ihnen dabei nicht in den Sinn kommt, dass es ein Mittelreich geben könnte und dass das Gehirn ein nicht-lineares dynamisches System ist, das sich nicht einfach aus einer kausalen oder einer intentionalen Einstellung einfangen lässt – wenn es aber Philosophen später schwer fällt, in anderen als dichotomischen Rastern von Reflex und Reflexion über menschliches Handeln nachzudenken, hat man nun jedoch eine mögliche erste Ursache für diese Schwierigkeit identifiziert. Wenn die kleinen Kinder später ein Gefühl der Kontrolle über ihren Körper sowie in verschiedenen Stufen Bewusstsein und SelbstBewusstsein entwickeln, wird die Tendenz verstärkt, das eigene Kontrollierte und Bewusste vom fremden Nicht-Kontrollierten und Nicht-Bewussten abzugrenzen. Die alltägliche Sprachpraxis, an der die Kinder dann teilnehmen können, kann das dichotomische Denken von Reflex und Reflexion weiter verstärken, wenn Akteuren in alltäglichen Handlungserklärungen bewusste Ziele und Absichten zugeschrieben werden und Sätze wie „Das war keine Absicht“ in normativen Praktiken mitunter als Entschuldigungsgrund gelten. Wenn nun eine Person dazu kommt, eine philosophische Theorie aufzustellen, dann hat sie den Prozess des Denkens in der kausalen und der intentionalen Einstellung, des Aufwachsens in einer Kultur, in der zwischen bewusster Absichtlichkeit und nicht-bewusster Unabsichtlichkeit unterschieden wird, schon vollzogen, und das Vorurteil, kategorial zwischen Reflex und Reflexion zu unterscheiden, hat bereits die besten Grundlagen zum Gedeihen gehabt. Rekurriert die Person in ihrer Methodologie zudem noch auf eine rationale Rekonstruktion ihrer im Rahmen dieser Kultur geformten Intuitionen und Sprechweisen, ist es kaum mehr möglich, dem Denken in der Dichotomie von Reflex und Reflexion überhaupt noch zu entkommen. Je nach dem theoretischen Anliegen, das man verfolgt, wird man dann auf eine der beiden Seite der Dichotomie gedrängt: Interessiert man sich wie Kleist für die Natur gekonnten Handelns, droht eine Analyse in mechanistischen Begrifflichkeiten, interessiert man sich wie Kant für die Natur von Zurechenbarkeit und Rationalität, droht eine Analyse in Begrifflichkeiten einer intelligiblen Vernunft – und versucht man wie Schiller, die unreflektierte Natur gekonnten Handelns mit der Zurechenbarkeit zu vereinbaren, droht ein Scheitern am inneren Widerspruch. Einmal wirkt der Mensch wie ein Spielball, der nur durch mechanistische Naturkräfte bewegt wird, einmal wirkt er wie ein Halbgott, der aus dem Nichts Wirkungen in der Sinnenwelt hervorbringt – und jedes Mal wirkt die Charakterisierung einseitig.

4 Schillers Scheitern und die Notwendigkeit eines Neu-Ansatzes

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Die Phänomene im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion sind jedoch zu wichtig, um es bei der bloßen Analyse dieses Problems zu belassen. Immerhin umfasst das Mittelreich dasjenige menschliche Handeln, das am gekonntesten, besten und schönsten vonstattengeht und das vielleicht der beste Ausdruck eines menschlichen Charakters ist – davon, dass es sich auch als das glücklichste und alltäglichste Handeln herausstellen wird, ganz zu schweigen. Und schließlich umfasst es nicht nur einen großen, aber in der Handlungstheorie bisher wenig untersuchten Bereich, eine Analyse seiner kognitiven Komponente mit ihrer unreflektierten Struktur stellt aus Sicht der Philosophie des Geistes auch eine wichtige Herausforderung dar, und die wichtige Frage nach der Zurechenbarkeit und Rationalität unreflektierten Handelns harrt ebenso einer Antwort. Wie also kann die kognitive Komponente gekonnten Handelns philosophisch fruchtbar als genuin im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion angesiedelt analysiert werden, ohne auf eine Seite der klassischen Dichotomien zurückzufallen? Wie kann dabei vor dem Hintergrund von Kleists Einsichten in die Unreflektiertheit und spontane Situations-Responsivität eine Überintellektualisierung durch einen allzeit im Hintergrund stehenden und seine Zulassung oder Verweigerung erteilenden bewussten Willen vermieden werden? Und wie kann gleichzeitig Kleists Schluss von der Abwesenheit reflexiven Bewusstseins auf die völlige Abwesenheit einer kognitiven Komponente und damit eine Unterintellektualisierung umgangen werden? Wie kann das gekonnte Handeln, wenn es in seiner Unreflektiertheit im Mittelreich liegend anerkannt wird, dann aber einer Person als Ganzer zugrechnet werden? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine neue intellektuelle Reise in das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion nötig, eine Reise, die sich sowohl die kognitive Komponente gekonnten Handelns als auch die Frage der Zurechenbarkeit und Rationalität dieses unreflektiert vonstattengehenden Handelns berücksichtigt, um nicht durch die Beantwortung den einen Frage eine gelungene Beantwortung der anderen auszuschließen. Eine solche neue Reise in das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion anzutreten, das Mittelreich in seiner Eigenständigkeit hervorzuheben und dabei die erwähnten Fragen einer Antwort zuzuführen ist das Ziel dieser Arbeit. Zunächst ist es erforderlich, den Gegenstand der Untersuchung, das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion, begrifflich präziser bestimmen.

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5 Begriffliche Werkzeuge zur Analyse des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion Dazu sollen nun zunächst einige Begrifflichkeiten, die bisher eher auf intuitive Weise benutzt worden sind, terminologisch festgezurrt werden. Zwar gibt es in der Philosophie des Geistes und der Handlungstheorie kaum allseits anerkannte einheitliche Definitionen der verwendeten Begriffe, und entsprechend kann zu diesem Zeitpunkt jeder Vorschlag nicht mehr als erste Arbeitsdefinitionen bereit stellen. Entscheidend ist aber auch weniger, einen ein für alle Mal feststehenden und bereits allseits akzeptierten Gebrauch bestimmter Begriffe zu treffen, als vielmehr, eine begriffliche Grundlage für eine Orientierung in der Fülle der Phänomene zu schaffen. Mit Frege (1882: 192) gesprochen: „Man wird sich leicht über die Ausdrucksweise verständigen, wenn man einmal anerkannt hat, daß etwas da ist, was eine besondere Benennung verdient.“ Unter einem Reflex verstehe ich zunächst gemäß medizinischen Definitionen eine nicht gewollte, nicht trainierbare und nur durch einen im Rückenmark liegenden Reflexbogen vermittelte Bewegung in Reaktion auf einen Stimulus. Unter Kognition verstehe ich – in vielleicht ungewöhnlich weitem Sinne – alle Prozesse im Gehirn und Nervensystem, die über Vorgänge im Rückenmark und Kleinhirn hinausgehen, d. h. etwa auch Unbewusstes und Emotionales. Unter Handeln verstehe ich alle Bewegungen, die in unmittelbarem Zusammenhang zu Prozessen der Kognition stehen. Zu Bewegungen zähle ich nicht nur körperliche Bewegungen wie das Austrecken eines Arms, sondern auch – in gewissem Sinne metaphorisch – geistige Bewegungen wie Kopfrechnen, um auch Phänomene mentalen Tuns als „Handeln“ verstehen zu können. Es ist wert festgehalten zu werden, dass Bewegungen dabei unterschiedlich grob- oder feinkörnig individiert werden können. So kann man das Ausstrecken des Arms, um einen Gegenstand in Empfang zu nehmen, als eine einzige Bewegung beschreiben und das Öffnen der Hand dabei als Teil oder Art und Weise der Bewegung; man kann das Öffnen der Hand aber auch als eine eigene Bewegung individuieren. Unabhängig von einem spezifischen Ziel des Gebens einer Beschreibung spricht nichts dafür, die ein oder andere Individierungsebene als ausgezeichnet anzusehen. Unter einem Projekt verstehe ich eine teleologisch individuierte Einheit eines Handelns-Ablaufs, wie etwa etwas zu kochen, mit dem Fahrrad zu fahren, oder in ein anderes Land zu reisen. Unter gegenwärtiger Projekt-Kontrolle verstehe ich diejenigen Bestandteile der Kognition, mittels derer während der Umsetzung eines Projekts die Umsetzung dieses Projekts aufrechterhalten und fortgeführt wird. Zweifelsohne verfügen etwa höhere Tiere oder kleine Kinder über kognitive Grundlagen zur gegenwärtigen Projekt-Kontrolle. Unter einer gegenwärtigen Absicht verstehe ich diejenige Art der Projekt-Kontrolle, bei der der Handelnde ein

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bestimmtes Handeln einmal bewusst als zu verfolgendes Projekt akzeptiert hat und bei der er es, auch wenn es dann nicht immer mental präsent vor seinem geistigen Auge schwebt, jederzeit auf Nachfrage angeben kann.⁷

 Im dritten Kapitel werde ich in deutlich größerem Detail eine konstruktive Analyse der Absichtlichkeit menschlichen Handelns vorschlagen; zudem werde ich dort zwischen sieben verschiedenen Konzeptionen von Absichten unterscheiden, die in Philosophie und Alltag gebraucht, die aber nicht immer klar unterschieden werden. (Und im vierten Kapitel wird der Komplexitätsgrad der Analyse abermals erhöht.) Der Begriff der gegenwärtigen Absicht dient hier somit allein der ersten Annäherung an einen Phänomenbereich. Zumindest grob betrachtet weist dieser Begriff der gegenwärtigen Absicht eine mehr oder weniger enge Verwandtschaft zu dem auf, was einige Autoren im 20. Jahrhundert als „intention in action“ bezeichnet und von einer Absicht für die Zukunft unterschieden haben (insofern sollte der Begriff nicht gänzlich unbekannt sein; der genaue Grad der Verwandtschaft der Begriffe „intention in action“ und „gegenwärtige Absicht“ ist dabei allerdings argumentativ nicht von Relevanz). Allerdings wird der Begriff der gegenwärtigen Absicht – um erneut eine Formulierung von Frege (1882: 192) aus einem anderen Kontext aufzunehmen –„verschieden gebraucht, teils in einem psychologischen, teils in einem logischen Sinne, teils vielleicht in einer unklaren Mischung von beiden“. Genau wie Pacherie (2007, 2011) und Gallagher (2012) verwende ich den Begriff der gegenwärtigen Absicht hier in einem psychologisch-kognitionswissenschaftlichen Sinne. Auf ein Verständnis von Absichten in einem streng logischen, anti-psychologistischen Sinne, wie es sich etwa bei Michael Thompson (2008) findet, werde ich im vierten Kapitel eingehen und ihm dort auch eine prominente Rolle zuweisen. Mit „gegenwärtigen Absichten“ beziehe ich mich also auf etwas rein Psychologisches, nämlich auf Bestandteile der Kognition einer einzelnen Person. Prima facie wirft das ein Problem auf. Gegenwärtige Absichten dienen nämlich der Umsetzung einzelner Projekte. Einzelne Projekte individuiere ich teleologisch. Und damit unterscheiden sie sich voneinander durch ihren Gehalt. Wie nun Hilary Putnam (1975) und Tyler Burge (1986, 2010) aufgezeigt haben, bestimmt sich Gehalt aber gerade nicht allein durch Bestandteile in der Kognition einer einzelnen Person. Vielmehr bestimmt er sich anti-individualistisch, d. h. auch durch die Bestandteile der Welt, von denen der Gehalt handelt.Wenn z. B. Oskar den Wunsch verspürt, ein Glas Wasser zu trinken, dann bestimmt sich der Gehalt dieses Wunsches auch durch das, von dem der Wunsch handelt: Oskar wünscht von etwas, nämlich von Wasser, von H2O, ein Glas zu trinken. Als Gedankenexperiment kann man sich nun eine Zwillingserde vorstellen, die mit der Erde vollkommen identisch ist, abgesehen davon, dass dort die als „Wasser“ bezeichnete kristalline Flüssigkeit nicht H2O ist, sondern XYZ.Wenn nun Oskars Pendant auf der Zwillingserde, Zwoskar, den Wünsch verspürt, ein Glas Wasser zu trinken, dann wünscht Zwoskar nicht von demselben ein Glas zu trinken – denn Zwoskar wünscht von XYZ ein Glas zu trinken, und Oskar von H2O.Wir können uns nun vorstellen, dass sich die Chemie als Disziplin nie etabliert hat, und Oskar und Zwoskar unter „Wasser“ gleichermaßen „das göttlich gegebene Lebenselexier“ verstehen. Dann wären die Bestandteile ihrer Kognition die gleichen, sie hätten aber immer noch von etwas Verschiedenem, nämlich einmal von H2O und einmal von XYZ, den Wunsch, ein Glas zu trinken. Wenn wir uns nun fragen, welches Projekt eine Person verfolgt, und damit auch, von was ihre gegenwärtige Absicht handelt, dann kann diese Frage folglich unmöglich allein unter Rekurs auf die Kognition der Person beantwortet werden.Aber das muss sie auch nicht. Zuschreibungen davon, welchen Gehalt ein

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Wenn also das Vorliegen einer Handlung im Sinne der Handlungstheorie zumindest das Vorliegen einer gegenwärtigen Absicht erfordert, dann ist das Vorliegen eines Handelns nicht hinreichend für das Vorliegen einer Handlung, da gegenwärtige Absichten zumindest begrifflich keine notwendige Voraussetzung von Handeln sind. Wenn hingegen, wie es Schiller und Kant getan haben und es auch in der Rechtsprechung getan wird, auch Unterlassungen zu Handlungen gerechnet werden, dann ist das Vorliegen von Handeln nicht notwendig für das Vorliegen von Handlungen, da es Unterlassungen wie das Vergessen eines Schutzbefohlenen geben kann, in denen keine kognitive Komponente vorhanden ist. Schließlich verstehe ich unter reflektiertem Handeln im sehr weiten Sinne dasjenige Handeln, das der Handelnde mit gegenwärtiger Absicht umsetzt, d. h. das Handeln, das den Inhalt eines Projekts darstellt, das der Handelnde einmal bewusst akzeptiert hat, das er jederzeit auf Nachfrage angeben kann, und das er dann mit gegenwärtiger Projekt-Kontrolle umsetzt. Wenn sich eine Person z. B. vornimmt, sich in einer Diskussion mit einem Finger statt mit der ganzen Hand zu melden, um in die laufende Diskussion hineinzuspringen, dann stellt dieses Melden mit einem Finger den Inhalt eines Projekts dar, das die Person mit gegenwärtiger Absicht umsetzt. Die gegenwärtige Absicht muss dabei nicht im Lichte eines dezidiert als guter Grund angesehenen Umstands ausgebildet worden sein, sondern kann auch im bewussten Akzeptieren einer augenblicklichen Laune, etwas zu tun, zustande kommen (vgl. Alvarez 2009, vgl. Setiya 2007). Unter reflektiertem Handeln im weiten Sinne verstehe ich dasjenige reflektierte Handeln im sehr weiten Sinne (s.o.), bei dem das Zustandekommen der gegenwärtigen Absicht in der bewussten Ansehung eines als für ausschlaggebend befundenen Grundes

Projekt hat, das eine Person mit gegenwärtiger Absicht verfolgt, können eingedenk anti-individualistischer Elemente von ganzen Menschen an ganze Menschen vorgenommen werden, ohne dass dazu allein auf die Kognition der Person geschaut werden muss, der das Verfolgen des Projekts mit einem bestimmten Gehalt zugeschrieben wird. Eine andere Frage ist jedoch, wie Projekte überhaupt kognitiv umgesetzt werden.Wie kommt es, dass Oskar und Zwoskar überhaupt das Gefühl verspüren, etwas trinken zu müssen, und deswegen solange versuchen, ihren Durst zu löschen, bis dieser gestillt ist? Um diese Frage zu beantworten, ist allein die Kognition eines einzelnen Individuums (und ihre Relation zur Umwelt), aber nicht (direkt) der spezifische Gehalt eines bestimmten Projekts von Interesse. Einzelne Projekte müssen anti-individualistisch individuiert werden, die psychischen Prozesse der Umsetzung von Projekten jedoch müssen individualistisch untersucht werden. Durch solche Untersuchungen der Kognition einzelner Individuen können sehr wertvolle Einsichten über die Natur menschlichen Handelns gewonnen werden. In diesem Sinne sind Individualismus und Anti-Individualismus in Bezug auf eine Untersuchung der kognitiven Komponente gekonnten Handelns vereinbar.

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besteht. Sieht z. B. eine Person ein verblutendes Kind auf der Straße, kann sie die Hilfsbedürftigkeit des Kindes als ausschlaggebenden Grund akzeptieren, nun sofort das Projekt umzusetzen, dem Kind zu helfen. Unter reflektiertem Handeln im engen Sinne verstehe ich dasjenige reflektierte Handeln im sehr weiten Sinne (s.o.), bei dem das Zustandekommen der gegenwärtigen Absicht das Ergebnis einer bewussten Abwägung verschiedener Gründe darstellt. Sieht z. B. eine andere Person das verblutende Kind auf der Straße, kann sie zunächst abwägen, ob sie dem Kind lieber sofort helfen oder eher einen Arzt rufen soll, und erst dann kann sie das entsprechende Projekt in die Tat umsetzen. Unter Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion, oder kurz Handeln im Mittelreich oder Handeln zwischen Reflex und Reflexion verstehe ich alles Handeln, das kein reflektiertes Handeln im sehr weiten Sinne ist. Unter dem Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion verstehe ich zunächst die Gesamtheit aller Phänomene, die das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion ausmachen. Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion involviert gemäß dieser Charakterisierung also „höhere“ kognitive Prozesse als Reflexe, und „niedrigere“, oder zumindest auf den ersten Blick teilweise andere kognitive Prozesse als reflektiertes Handeln im sehr weiten, weiten und engen Sinne.⁸ Zu  Wichtig ist, dass der Begriff des Mittelreichs hier dazu gebraucht wird, auf einen häufig übersehenen Phänomenbereich aufmerksam zu machen, der möglicherweise mittels philosophischer Theorien, die sich primär an höherstufigem Handeln und einer Reflex-Reflexions-Dichotomie orientieren, nicht gut verständlich gemacht werden kann. Dabei soll aber nicht die problematische These vertreten werden, die Natur menschlichen Handelns sei in Wirklichkeit gedrittelt und das Handeln im Mittelreich strukturell und kategorial vollkommen von höherstufigem Handeln auf der einen und von Reflexen auf der anderen Seite verschieden. Die Natur menschlichen Handelns ist kontinuierlich und ohne harte Schnitte; dennoch ist es philosophisch überaus wichtig, das häufig übersehene unreflektierte Handeln mit dem Begriff des Mittelreichs explizit in den Vordergrund zu heben. Auf dieses Thema werde ich im gesamten dritten Kapitel zurückkommen, und dort insbesondere in Abschnitt  f. Gemäß dem vorgeschlagenen Verständnis wird reflektiertes Handeln hier psychologischphysiognomisch vom Nicht-Reflektierten abgegrenzt. Gemäß einigen philosophischen Ansätzen wird reflektiertes Handeln aber auch dadurch bestimmt, dass es in einem genuinen Sinne frei ist. Diese unterschiedliche Bestimmung reflektierten Handelns zeigt sich in unterschiedlichen Verständnisweisen des Begriffs der vollwertigen Handlung.Vollwertige Handlungen werden teils rein psychologisch identifiziert, ihnen kommt jedoch teils auch eine normativ ausgezeichnete Rolle zu, etwa wenn Menschen als dann und nur dann für ein Ereignis als verantwortlich angesehen werden, wenn dieses Ereignis eine vollwertige Handlung darstellt. Diese beiden Weisen, den Begriff der vollwertigen Handlung zu bestimmen, stehen prima facie in einer Spannung: Denn gemäß der psychologisch-physiognomischen Bestimmung liegt die Annahme einer entscheidenden Kontinuität zwischen Handlungen und Nicht-Handlungen nahe, gemäß der normativen Bestimmung besteht ein kategorialer Unterschied. Auf dieses Thema werde ich in Kapitel IV zurückkommen.

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

diesem Begriff des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion verstehe ich erstens den Begriff des unreflektierten Handelns als synonym, um damit negativ die Unreflektiertheit dieses Handelns zu betonen. Als ebenfalls synonym zu den beiden vorherigen Begriffen verwende ich den Begriff des gekonnten Handelns, um damit positiv den Charakter des erfolgreichen Zurechtkommens des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion sowie seine Komplexität, Trainierbarkeit und Situations-Sensitivität hervorzuheben. Wenn nun das Handeln im Mittelreich auf diese Weise begrifflich präziser bestimmt worden ist, wird es möglich, die folgende entscheidende Frage zu stellen: Wie verbreitet sind die Phänomene des Handelns zwischen Reflex und Reflexion?

6 Die Allgegenwart und Relevanz des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion Wie ich in diesem Abschnitt zeigen werde, ist das Mittelreich allgegenwärtig: Es ist leicht zu sehen, in wie vielen Arten menschlichen Handelns gekonntes Handeln ein entscheidender Bestandteil ist. Und wie ich darüber hinaus erörtern werde, ist das Handeln im Mittelreich nicht nur allgegenwärtig existent, sondern in dieser allgegenwärtigen Existenz auch von höchster philosophischer Relevanz. Erstens ist gekonntes Handeln Bestandteil sämtlichen Handelns von Experten. Gerade die Fingerbewegungen eines Chirurgen können über Leben und Tod entscheiden. Aber auch gerade die Art und Weise, wie ein Schachexperte im Blitzschach ohne auch nur eine Sekunde zu zögern sofort auf ein verändertes Figurenmuster auf dem karierten Brett reagieren kann, kann es sein, die über Sieg und Niederlage entscheidet. Gerade die Art, wie ein Moralexperte, ein Phronimos, in einer moralisch relevanten Situation ohne erst ein Projekt bewusst akzeptieren zu müssen sofort das Richtige tut, ist es, die ihm Lob und Bewunderung einbringt. Selbst wenn Expertenhandeln also zwar oft auch etwas anderes als Handeln zwischen Reflex und Reflexion beinhalten kann, so ist dieses unreflektierte Handeln doch oft der entscheidende Aspekt jenes so bewundernswürdigen Könnertums. Gekonntes Handeln ist philosophisch nicht nur relevant, weil es ein entscheidender Bestandteil von Expertenhandeln ist. Eine Analyse gekonnten Handelns kann auch Aufschluss über die Natur menschlicher Fähigkeiten geben. Und auf den Begriff der Fähigkeit wird in einer Vielzahl von philosophischen Diskursen rekurriert, sei es in der Debatte um Wissen-Wie, um praktisches Wissen, um die Natur sprachlichen Verstehens, um Verantwortung, um die Tugend-Epistemologie oder um die Tugendethik. Doch trotz dieser prominenten Rolle ist der Begriff der

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Fähigkeit bisher philosophisch schlecht verstanden und eine Analyse gekonnten Handelns kann hier Fortschritte ermöglichen. Zweitens kann es passieren, dass ein Experte während der Ausübung seines könnerhaften Tuns voll konzentriert in seinem ihn herausfordernden, aber für ihn meisterbaren Projekt versinkt, dabei die Umwelt und sich selbst als Person vergisst, und subjektiv erlebt, dass Hindernisse verschwinden und alles leicht wird. Ein solcher Experte handelt dann im „Flow“. Wenn Kleists Ringer etwa Kleists Anweisungen nur sorgsam genug praktiziert, wird er als Meister des Ringkampfs leicht in einen solchen „Flow“ geraten. Zweifelsohne ist ein solches Handeln kein Reflex, und in dem Sinne, dass das Handeln zwar massiv durch die Verfolgung eines einzigen Projekts strukturiert wird, aber die einzelnen Bestandteile gerade nicht bewusst als Inhalt von Projekten akzeptiert werden, sondern sich wie von selbst ergeben, ist es auch kein reflektiertes Handeln im sehr weiten Sinne. Wie nun empirische Studien ergeben haben, fühlen sich Menschen keineswegs im faulen Müßiggang oder während einer zurückgezogenen Reflexion auf ihr Leben als Ganzes am glücklichsten, sondern dann, wenn sie im „Flow“ handeln (Csíkszentmihályi 1990, 2010, Bruya 2010a, Spiegel 2009: 139 ff.). Interessiert man sich als Philosoph also für den als am glücklichsten empfundenen Bereich im menschlichen Leben, muss man sich diesem Handeln zwischen Reflex und Reflexion zuwenden. Drittens verdient nicht nur das Beste und Glücklichste Beachtung, sondern auch im ganz alltäglichen Bereich ermöglicht das Handeln zwischen Reflex und Reflexion Besonderes. Nicht nur sind nämlich einige wenige Menschen Spezialisten in einem eng umrissenen Gebiet – wir sind alle auch Experten des Alltags (vgl. Carman 2013). In gekonnter Gewohnheit putzen wir uns anstrengungslos die Zähne, nur um anschließend ohne es überhaupt bewusst festzuhalten mehrere Türen zu durchqueren und anschließend mit spielender Leichtigkeit die Milch aus dem Kühlschrank zu angeln und uns dabei noch zu unterhalten. Manche dieser Gewohnheiten mögen wir einst als gewohnheitsmäßig zu verfolgendes Projekt bewusst akzeptiert haben, etwa das Befolgen von Ampelzeichen. Andere Gewohnheiten mögen sich im Laufe der Zeit auf kompliziertere Weise entwickelt haben und gegenwärtigen Projekten zuwiderlaufen. Wieder andere Gewohnheiten, etwa bzgl. des Abstandes, den man während eines Gesprächs einhält, mögen sich allein durch unbewusste Nachahmung anderer entwickelt haben und nie Gegenstand eines bewusst akzeptierten Projekts gewesen sein.⁹ All diese Handeln in gewohnten Mustern strukturiert damit gewissermaßen das unreflektierte Leben.

 Es stimmt also nicht, dass unreflektiertes Handeln immer nur das Ergebnis eines zunächst bewussten Lern- und Automatisierungsprozesses ist, wie man annehmen könnte. Unreflektierte

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Was hier auf den ersten Blick noch als zwar allgegenwärtig, aber doch wie die trockenste Routine im Einheitsgrau des Alltags erscheinen muss, ist aus philosophischer Sicht geradezu spektakulär. Wie theoretisch anspruchsvoll es nämlich eigentlich ist, all diese Tätigkeiten zu verrichten, und wie viel Komplexität in scheinbar so einfachen Dingen wie dem Angeln der Milch aus dem Kühlschrank besteht, haben nicht zuletzt die Versuche ergeben, künstliche Intelligenzien zu schaffen, die diese Tätigkeiten verrichten können. Was für die Roboter schwierig bis unmöglich ist, ist für uns spielend leicht. Das für uns im Alltag Leichteste ist aus philosophischer Sicht geradezu das Komplizierteste, und wenn man es nicht einfach dankbar als Wunder des Alltags hinnehmen will, muss es philosophisch näher untersucht werden. Dieser alltäglichste Bereich menschlichen Handelns ist noch aus einem anderen Grund von hoher philosophischer Relevanz. Wie nämlich anhand der Debatte zwischen Schiller und Kant gezeigt worden ist, stellt sich für unreflektiertes Handeln die Frage der Zurechenbarkeit dieses Handelns zu einem Menschen als dem Handelnden. Auch wenn Kants und Schillers Lösung der Annahme einer intelligiblen Vernunft heute als metaphysisch zu ballastreich gelten mag, scheint es kaum kontrovers zu behaupten, dass auch heute noch von vielen der Kern personalen Wirkens im reflektierten Handeln im engen Sinne, im Abwägen von Gründen, gesehen wird. Aber unreflektiertes Handeln ist nicht einmal reflektiertes Handeln im sehr weiten Sinne. Fälle der verwandten Thematik des Handelns auf Grundlage unbewusster Vorurteile und auf Grundlage von Stereotypisierungen zeigen die Brisanz dieser Frage. In unserer sozialen Praxis rechnen wir Personen unreflektiertes Handeln zwar ohne das geringste Zögern zu und stellen dieses Handeln in den normativen Raum, indem wir Rechtfertigungsgründe dafür verlangen. Aber wie können wir diese Praxis berechtigterweise aufrechthalten, ohne in eine Schiller’sche Metaphysik eines stets im Hintergrund stehenden, intelligiblen Willens zurückfallen? Die Einsicht in die Existenz des Handelns im Mittelreich und in seine Allgegenwart zwingt uns, innezuhalten und über Grenzen und Grundlagen unseres rationalistischen Selbstverständnisses nachzudenken. Viertes kann über die drei bisherigen Falltypen hinausgehend gesagt werden, dass sämtliches körperliche Handeln ein Handeln zwischen Reflex und Reflexion beinhaltet. Vom alleralltäglichsten Agieren bis zum meisterhaftesten Expertenhandeln ist ein Großteil menschlichen Handelns körperlich. Und wie Schiller es am Beispiel einer Armbewegung beschreibt, sind nur wenige Bewegungen als

Verhaltensweisen können auch etwa durch unbewusste Nachahmung entstehen oder in einigen Fällen sogar angeboren sein.

6 Die Allgegenwart und Relevanz des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion

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Bewegungen Gegenstand eines bewusst akzeptierten Projekts, sondern vielmehr gekonntes Handeln zwischen Reflex und Reflexion. Körperliches Handeln nun muss als für die Philosophie des Geistes von höchster Relevanz angesehen werden. Nicht nur stellt nämlich der unbewusste Charakter des gekonnten Handelns eine wichtige Herausforderung für allein vom bewussten Erleben ausgehende Ansätze in der Philosophie des Geistes dar. Vielmehr stellt sich auch das Problem,wie der Geist in der Welt „Halt finden“ kann.Wie ist es mit anderen Worten möglich, dass etwa der Gedanke „Dort liegt ein Bossierhammer“ auf etwas in der Welt gerichtet ist? Laut Ansätzen, die aus der Richtung Martin Heideggers und Maurice Merleau-Pontys stammen, und die zuletzt von der „Embodied Cognition“-Bewegung in den Kognitionswissenschaften wieder aufgegriffen worden sind, ist es unfruchtbar, die Frage der Beziehung zwischen Geist und Welt anhand der Frage der Beziehung zwischen propositional strukturierten Gedanken und ihren Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen anzusehen. Stattdessen sei es fruchtbarer, die ständige Interaktion von Geist und Welt im Falle unreflektierten körperlichen Handelns zu betrachten, wo stets gekonnt auf spezifische Eigenheiten der Situation reagiert wird. Die grundlegende Beziehung zwischen Geist und Welt zeigte sich dann nicht darin, dass man gedanklich auf den Bossierhammer referiert, sondern darin, dass man mit dem Hammer hämmert. Eine Analyse des körperlichen Handelns zwischen Reflex und Reflexion kann damit auch helfen, die Frage, ob eine solch alternative Herangehensweise an das Problem der Intentionalität fruchtbar ist, einer Beantwortung näher zu bringen. Fünftens und letztens kann schließlich der Bereich des nur menschlichen Handelns überschritten werden. Man stelle sich z. B. einen Bären vor, der einen mit letzter Kraft stromaufwärts schwimmenden Lachs fängt und der seine frische Beute sofort an seine Jungen verfüttert, die gerade mit einer davon eilenden Spinne spielen. Auch Tiere handeln – und ihr Handeln besteht keineswegs nur aus Reflexen. Aber ist das Handeln von Tieren reflektiertes Handeln? Aus pragmatischer oder funktionalistischer Sicht kann es durchaus praktikabel sein, Tieren zuzuschreiben, mit gegenwärtiger Absicht Projekte zu verfolgen: Der Bär will einen Fisch fangen, die Spinne will entkommen, um ein neues Netz zu bauen, und der Lachs will an das Ende des Flusses schwimmen, um dort gelaicht habend seine letzte Ruhe zu finden. Dagegen sind die gerade genannten Zuschreibungen aus einer Perspektive, in der die Struktur der Kognition der Wesen betrachtet wird, denen die Absichten zuschrieben werden, ungleich problematischer: Es kann zwar pragmatisch hilfreich sein, dem Lachs oder der Spinne die genannten Absichten zuzuschreiben, aber die beiden verfügen nicht wirklich über die nötigen kognitiven Kapazitäten, um Absichten in demselben Sinne zu haben, in dem sie erwachsene Menschen manchmal haben. Wenn das Tun von Tieren also nicht aus

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Reflexen besteht, aber auch kein reflektiertes Handeln im sehr weiten Sinne ist, dann muss es als Handeln im Mittelreich aufgefasst werden. Entsprechend ist eine Analyse des Handelns zwischen Reflex und Reflexion auch relevant, um das Phänomen tierischen Handelns zu verstehen. Schiller hat schon zu zeigen versucht, dass das Handeln im Mittelreich das schönste und den Charakter einer Person am besten zum Ausdruck bringende Handeln sein kann – nun erweist es sich auch als das beste, glücklichste und alltäglichste Handeln. Für eine Untersuchung der Natur von Fähigkeiten und Intentionalität ist es ebenso relevant wie für die Grundlagen tierischen Handelns und menschlicher Verantwortlichkeit. Entsprechend könnte man fast erwarten, das Handeln zwischen Reflex und Reflexion als im Zentrum philosophischer Forschung stehend zu finden. Aber ist dies der Fall?

7 Das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion in der Literatur Zwar ist die Natur des menschlichen Geistes und menschlichen Handelns ein Thema, das unabhängig aller Moden und Geschmäcker in sämtlichen Kulturen und zu sämtlichen Zeiten im Zentrum philosophischer Untersuchungen gestanden hat – das Handeln zwischen Reflex und Reflexion ist es jedoch nicht. Wollte man die Philosophiegeschichte der Kognition im Handeln hoffnungslos grob auf die ein oder zwei wichtigsten Ideen herunterbrechen, dann wären dies vielleicht die Grundideen Kants und Kleists. Motiviert, das den Menschen über das Tierreich Erhebende zu finden, hat in der westlichen Philosophie rationales, vernünftiges und reflektiertes Handeln im Mittelpunkt gestanden. Vielleicht eher motiviert, ein gelungenes Leben in Harmonie mit sich selbst, der Gemeinschaft und der Natur zu finden, hat in der östlichen Philosophie eher unreflektiertes Handeln insbesondere im Sinne des „Flows“ im Zentrum des Interesses gestanden. Der paradigmatische westliche Handelnde stellt als rational Räsonierender sein Handeln in den normativen Raum, der paradigmatische östliche Handelnde vertraut es den Eigenheiten der konkreten Situation an. Die eingangs angeführten Ideen Kants und Kleists stehen also gewissermaßen Pate für ganze Denktraditionen. Genauso, wie sich zur Zeit westliches Gedankengut in östlicher Richtung ausbreitet, ist Kleist nicht der einzige gewesen, der in der westlichen Hemisphäre auf östlichen Einfluss zurückgegriffen hat. In der an Edmund Husserl und Martin Heidegger anschließenden Phänomenologie – ab der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem im französischen Raum – ist es ebenfalls das unreflektierte, körperliche Handeln, dem ein philosophisches Haupt-Augenmerk gilt.

7 Das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion in der Literatur

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Wie groß die Kluft zwischen den beiden Traditionen aber auch während des 20. Jahrhunderts noch gewesen ist, lässt sich exemplarisch daran festmachen, wie schwer es der Analytischen Philosophie des Geistes und Handlungstheorie aus jener Zeit fallen muss, das unreflektierte Handeln angemessen zu berücksichtigen. Paradigmatisch ist Elisabeth Anscombe (1963: 23 f.), die zwar mit ihrem phänomenologischen Tiefenblick das Handeln im Mitteleich aufgespürt, es dann aber als westliche, in der aristotelisch-thomistischen Tradition stehende Philosophin für uninteressant erklärt hat. Die in den 70er und 80er Jahren zu rollen begonnen habende neue Welle in der Philosophie des Geistes kann das unreflektierte Handeln gleichfalls nur schwer einfangen. Denn sie hat noch der Methode einer rationalen Rekonstruktion der gewöhnlichen Sprache und der Volkspsychologie nahegestanden.Weil aber, wie gezeigt, die Dichotomie von Reflex und Reflexion in der Sprache angelegt ist und sie sich in der Volkspsychologie widerspiegelt, haben diese Pioniere der Analytischen Philosophie des Geistes das Mittelreich kaum entdecken gekonnt.¹⁰ Wie bei der Diskussion von Kant, Kleist und Schiller deutlich geworden sein sollte, ist es alles andere als einfach, die beiden so orthogonal entgegengesetzten Grundgedanken miteinander zu vereinbaren: Geht man von einem stets im Hintergrund stehenden zulassenden Willen aus, verfehlt man den Charakter des unreflektierten Handelns; verzichtet man aber auf einen solchen Willen, ist nicht mehr klar, wie das unreflektierte Handeln einer Person zugerechnet und in den normativen Raum der Gründe gestellt werden kann. Um das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion überzeugend zu analysieren, müsste diese Spannung aufgelöst und die beiden Ansätze miteinander verbunden werden. Doch lange Zeit haben die Traditionen nicht einmal versucht, die Spannung aufzulösen, ihren Dissens zu überwinden, eine Brücke zu bauen, und diejenigen Aspekte, die an den jeweiligen Ansätzen richtig und wichtig sind, in eine einheitliche Sichtweise auf menschliches Handeln zu integrieren. Gelegentliche kritische Stimmen wie diejenigen Kleists oder Heideggers sind als systematische Diskursbeiträge ungehört geblieben. „Absorbiertes, situations-sensitives Handeln“ ist für die eine Tradition genauso ein Fremdwort geblieben, wie „Handeln aus Gründen“ für die andere. Jede der Traditionen hat ihren Ausgangspunkt als blanke Trivialität angesehen – bis vor kurzem.¹¹

 Auf diesen Punkt werde ich sehr ausführlich am Ende des ersten Kapitels zurückkommen.  So zumindest stellt sich die Philosophiegeschichte des unreflektierten Handelns auf den ersten und hoffnungslos groben Blick dar. Bei näherer Betrachtung ergibt sich natürlich, dass die Phänomene unreflektierten Handelns zu wichtig und der geistige Reichtum der wesentlichen Philosophie zu groß sind, als dass das Handeln zwischen Reflex und Reflexion dort gar nicht thematisiert worden sein könnte. Immerhin etwa von Aristoteles (NE) und Thomas von Aquin (ST)

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Vor kurzem aber hat sich erstmals eine Traditionen-übergreifende, systematische und zur Zeit lebhaft geführte Debatte um die genannte Spannung entsponnen, und zwar zwischen dem Kantianer John McDowell und dem Heideggerianer Hubert Dreyfus.¹² McDowell versucht auf eine Kantische Weise, die Spannung dazwischen aufzulösen, dass alles menschliches Handeln – und insbesondere das Fällen von Wahrnehmungsurteilen – berechtigterweise in den normativen Raum der Gründe gestellt werden können muss und dass aber vieles menschliche Handeln kein reflektiertes Handeln im engen Sinne ist, sondern im ständigen situationssensitiven Austausch mit der Welt geschieht. McDowell Lösung liegt darin, dass zwar nicht alles Handeln und Wahrnehmen Gegenstand einer vorherigen Reflexion sein muss, dass es aber auf eine Weise strukturiert ist, die es ermöglicht, jeden beliebigen Aspekt eines des Handelns und Wahrnehmens sprachlich zu spezifizieren. Damit kann jeder so spezifizierte Aspekt als Inhalt einer „begrifflichen Fähigkeit“ dann in Relation zu anderen Überzeugungen des Handelnden gestellt und somit einer internen normativen Prüfung auf Kohärenz zugänglich gemacht werden. Dreyfus dagegen verfolgt ähnlich wie Kleist und im Anschluss an Heidegger das Projekt, die Unreflektiertheit gekonnten Handeln zu betonen, und sieht die ständige Interaktion von Geist und Welt im unreflektierten Handeln als „primären“ Ort menschlicher Intentionalität an. Ähnlich wie Kant teilt Dreyfus den Menschen in zwei Teile, von denen nun aber nicht mehr der „obere“ vernünftige den „unteren“ neigungshaften dominiert, sondern von denen im Gegenteil der obere nur eine Derivation des unteren darstellt. Die von diesen Positionen ausgehende Debatte zwischen McDowell und Dreyfus stellt einen großen Fortschritt in einer Untersuchung des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion dar, da hier erstmals in einem Traditionen-übergreifenden Diskurs die Perspektiven und Grenzen einer Kantischen Konzeption der kognitiven Komponente gekonnten Handelns sowie die Perspektiven und Grenzen einer Heideggerischen Konzeption deutlich werden. Interessanterweise gibt es seit kurzem auch eine zweite Debatte über die kognitive Komponente gekonnten Handelns, in der gleichermaßen die Grundideen beider Traditionen miteinander konfrontiert werden, nämlich die Debatte

wird unreflektiertes Handeln diskutiert, ebenso wie von Hegel () und dann von Wittgenstein (, ), Heidegger (), Dewey () und Merleau-Ponty (, ). Ich werde auf im ersten Kapitel auf Wittgenstein, im zweiten auf Heidegger, im dritten auf Merleau-Ponty, und im vierten auf Hegel zurückkommen.  Nur einige relevante Texte sind Dreyfus , a, b, , McDowell a, b, , Noё , und Schear .

7 Das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion in der Literatur

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um die propositionale Verfasstheit von „Wissen-Wie“.¹³ Schon 1946 und 1949 hat Gilbert Ryle, vielleicht nicht ganz unbeeinflusst durch seine 1928 verfasste Rezension zu Heideggers Sein und Zeit, argumentiert, dass es eine intellektualistische Legende sei zu glauben, Intelligenz bestehe nur in der gerechtfertigten Kenntnis wahrer Propositionen, d. h. im Verfügen über Wissen-Dass. Vielmehr erstrecke sich Intelligenz auch auf das vom Wissen-Dass grundverschiedene Wissen-Wie. Auch wer z. B. über alles Faktenwissen über Herzoperationen verfüge, könne dieses Wissen-Dass intelligenter oder weniger intelligent anwenden, d. h. über mehr oder weniger Wissen-Wie verfügen. Doch erst nach einer im Jahr 2001 erfolgten intellektualistischen Attacke durch Jason Stanley und Timothy Williamson auf die Ryle’sche Position gibt es eine größere Debatte um die Natur von Wissen-Wie, eine Debatte, die ihren vorläufigen Höhepunkt in Stanleys 2011 in Buchlänge erfolgten Ausarbeitung und Verteidigung seines intellektualistischen Ansatzes gefunden hat. Auch diese aktuell mit Vehemenz geführte Debatte ist für eine Untersuchung des Handelns im Mittelreich von höchster Relevanz, weil Stanleys Ansatz in einem relevanten Sinne große Nähe zu McDowells kantianischem Vorgehen und Ryles Ansatz große Nähe zu Dreyfus’ Heideggerianischer Position aufweist. Damit stehen hier erneut beide Traditionen in einem produktiven Dialog über die kognitive Komponente fähigen Handelns. Nicht nur gibt es damit nun erstmals wieder eine längere Dialoge über die kognitive Komponente gekonnten Handelns – es kann, um eine Metapher von Derek Parfit (2011) zu verwenden, geradezu konstatiert werden, dass sich zur Zeit die verschiedensten Richtungen in Philosophie und Kognitionswissenschaft anschicken, den intellektuellen Berg des Mittelreichs von unterschiedlichen Seiten aus zu erklimmen. Vor allem in der französischen Phänomenologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Mittelreich etwa in den Werken Merleau-Pontys (1945), aber auch Bourdieus (1997) zu thematisieren begonnen worden; und diese Thematisierung hat damit die Grundlage für einen diesbezüglichen gegenwärtigen Austausch von Phänomenologie und Kognitions- und Neurowissenschaften gelegt (vgl. z. B. Grammond et al. 2010, Gallagher 2012). In der anglo-amerikanischen Philosophie ist unreflektiertes Handeln zuletzt von etwa Tyler Burge (2009, 2010), Hannah Ginsborg (2011) und insbesondere von Erik Rietveld (2008a, 2008b, 2010) und Ezio DiNucci (2008) untersucht worden. Generell wird in den Kognitionswissenschaften mittlerweile gekonntes Handeln im Allgemeinen (vgl. Jeannerod 2006, Hassin et al. 2007) und das Phänomen des „Flow“ im Besonderen untersucht (Bruya 2010a). In den Kognitionswissenschaften hat sich, über John Hau-

 Nur einige relevante Texte sind hier Ryle , , Stanley & Williamson , Noё , Wallis , Devitt , Stanley  und Bach .

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

geland (1998) auf Hubert Dreyfus zurückgehend, darüber hinaus ein weit verbreiteter Ansatz etabliert, demgemäß Kognition nicht mehr in Begriffen symbolischer Repräsentation verstanden wird, sondern als in einem nicht trivialen Sinne in derart ständiger Interaktion mit Körper und Umwelt stehend, dass begrifflich nicht mehr sinnvoll zwischen Kognition und Körper getrennt, und Kognition damit diesem Ansatz zufolge als „verkörpert“ oder „körperlich“ angesehen werden muss (vgl. z. B. Wheeler 2005, Robbins & Aydede 2009, Chemero 2009, Hutto&Myin 2013). In dieselbe Richtung führt auch ein unorthodoxer Ansatz in der Wahrnehmungspsychologie, der seine intellektuellen Wurzeln in der deutschen Gestaltpsychologie der 1920er und 1930er Jahre hat, nämlich der Ansatz J. Gibsons (1979). Diesem Ansatz gemäß sollte Wahrnehmung nicht so verstanden werden, dass zunächst Gegenstände als Objekte in Raum und Zeit gesehen würden, sondern vielmehr so, dass man im Normalfall Gegenstände direkt in ihrem Handlungspotential sehe, etwa einen Briefkasten direkt als Ort Zum-Briefe-Einschmeißen. Schließlich hat sich in der Sozialpsychologie eine neue Bewegung herausgebildet, die sich der Untersuchung des „unbewussten“ und „automatischen“ Handelns verschrieben hat, vom Erlernen von Fähigkeiten über die unbewusste Nachahmung der Gestik eines Gesprächspartners bis hin zu unbewussten Vorurteilen (Bargh & Chartland 1999, Bargh & Williams 2006, Haidt 2001, 2006, 2012, vgl. Hassin et al. 2007, vgl. Neal & Wood 2009, vgl. Wegner 2002). Wie all diese intellektuellen Unternehmungen zeigen, ist unreflektiertes und gekonntes Handeln damit auch in der westlichen Hemisphäre längst nicht mehr nur Gegenstand exotisch beeinflusster Dichtungen, sondern erfährt in seiner Allgegenwart und Relevanz von einer Vielzahl von Ansätzen höchste Wertschätzung. All diese Ansätze können damit entscheidende Bausteine für eine philosophische Untersuchung der kognitiven Komponente gekonnten Handelns liefern. Doch immer noch ist das Mittelreich nicht in seiner Eigenständigkeit anerkannt. Immer noch stehen die einzelnen Beiträge wie unverbundene PuzzleStücke nebeneinander. Und immer noch liegt über allem die Spannung zwischen den Grund-Ideen Kants und Kleists, die auch in den modernen Debatten zwischen Dreyfus und McDowell sowie zwischen Ryle und Stanley längst nicht aufgelöst werden konnte. So schwierig eine Auflösung dieser komplexen Probleme daher auch ist – es ist Zeit für den nächsten Schritt.

8 Ausblick In dieser Arbeit werde ich einerseits einen Vorschlag dafür unterbreiten, wie praktische Intelligenz, d. h. die kognitive Komponente des Handelns zwischen Reflex und Reflexion, auf eine Weise analysiert werden kann, gemäß der es

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möglich ist, dieses Handeln als genuin im Mittelreich stehend anzuerkennen, ohne es auf eine Kleist’sche Weise unter- oder auf eine Kantische Weise überzuintellektualisieren. Andererseits werde ich verdeutlichen, wie ernst das Problem der Zurechenbarkeit und der Rationalität unreflektierten Handelns ist, und einen Vorschlag machen, wie dieses Problem gelöst werden kann. Letzten Endes biete ich damit eine Möglichkeit an, unreflektiertes Handeln gleichzeitig sowohl als genuin im Mittelreich liegend als auch als berechtigterweise zurechenbar anzusehen. Insgesamt ist mein Anliegen dabei aber nicht, dem Leser eine bestimmte philosophische Position aufzunötigen, sondern die intellektuelle Respektabilität einer philosophischen Untersuchung des Mittelreichs hervorzuheben und einen gedanklichen Weg aufzuzeigen, über den es sich weiter nachzudenken lohnt. Mein Weg, die Intelligenz und Rationalität in gekonntem Handeln zwischen Reflex und Reflexion philosophisch zu analysieren, besteht aus vier Schritten. Im ersten Kapitel werden die Perspektiven und Grenzen einer kantischen Konzeption der kognitiven Komponente gekonnten Handelns untersucht, im zweiten Kapitel die Perspektiven und Grenzen einer Heideggerianischen Konzeption, und im dritten Kapitel eine eigene Perspektive präsentiert, in der das, was an den zuvor diskutierten Ansätzen richtig ist, integriert werden und in der das Mittelreich in seiner Eigenständigkeit gefasst werden kann; im vierten Kapitel wird dann eine Lösung für das Problem der Zurechenbarkeit eines solchen unreflektierten Handelns vorgeschlagen. Die beiden ersten Kapitel bestehen also in einer kritischen Würdigung existierender Ansätze, die beiden letzten Kapitel dagegen in der Entwicklung eigener konstruktiver Positionen. Im ersten Kapitel soll die Chance genutzt werden, über die bisherigen Feststellungen hinaus anhand der aktuell um die Problematik des Mittelreichs geführten Debatten weiteren Aufschluss über die kognitive Komponente gekonnten Handelns zu gewinnen. Zunächst soll dabei die kantische, intellektualistische Variante eines Mittelwegs zwischen Reflex und Reflexion eruiert werden. Weil die in Stanleys neuem Buch Know How entwickelte Position der Position McDowells in relevanter Hinsicht stark ähnelt, aber besser und detaillierter ausgearbeitet ist sowie einige wichtige Einwände vermeidet, werde ich hauptsächlich Stanleys Position in den Mittelpunkt der Diskussion stellen. Wie sich jedoch ergeben wird, verkennt eine solch intellektualistische Perspektive die Natur der praktischen Intelligenz, und kann auch die Anwendung der das Wissens-Wie angeblich konstituierenden propositionalen Zustände nur unzureichend erklären. Aber aus einer solchen Analyse können auch wertvolle Einsichten übernommen werden, etwa die Hervorhebung der Möglichkeit, jeden Aspekt menschlicher Erfahrung sprachlich spezifiziert artikulieren zu können. Im zweiten Kapitel soll das Potential einer anti-intellektualistischen, Heideggerianischen Perspektive auf gekonntes Handeln untersucht werden. Weil

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

Dreyfus’ Ansatz viele Eigenheiten dieser Position besonders pointiert zum Ausdruck bringt und er in den letzten Jahrzehnten einen sehr großen Einfluss gehabt hat, werde ich hier seine Position in den Mittelpunkt der Diskussion stellen. Wie sich ergeben wird, verkennt eine solche anti-intellektualistische Analyse zwar ähnlich wie Kleist die Relevanz höherer Kognition, die Existenz kognitiver Hintergrund-Bedingungen auch des unreflektierten Handelns und kann zudem nicht erklären, wie unreflektiertes Handeln und höhere Kognition zusammenhängen. Aber aus einer solchen Analyse können auch wertvolle Einsichten übernommen werden, insbesondere die Betonung des direkten Reagierens auf Eigenheiten der konkreten Situation, und damit die grundlegende Analyse des Verhältnisses von Geist und Welt. Im dritten Kapitel sollen dann die plausiblen Einsichten beider Ansätze schließlich in einer eigenen Analyse des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion integriert werden. Über die Einsichten des intellektualistischen und des anti-intellektualistischen Ansatzes hinausgehend werden auch Befunde aus verschiedenen Kognitionswissenschaften, von der Wahrnehmungspsychologie und der kognitive Psychologie über die Sozialpsychologie bis hin zu den Neurowissenschaften berücksichtigt. Auf diese Weise auf den Schultern von Intellektualismus und Anti-Intellektualismus stehend, empirisch informiert und mit Hilfe Wittgensteins, Husserls, Heideggers, Gibsons und Bourdieus, werden dann grundlegend neue begriffliche Weichenstellungen vorgenommen, um die Natur unreflektiert-gekonnten Handelns auf den Begriff bringen und philosophisch nachvollziehbar machen zu können. Insbesondere wird auf den Begriff der Affordanz zurückgegriffen, den Gibson im Anschluss an die deutsche Gesaltpsychologie und an Husserl eingeführt hat. Im Gegensatz zu anderen Theorien, die auf den Begriff der Affordanz zurückgreifen, wird das begriffliche Spektrum jedoch deutlich erweitert und grundlegende begriffliche Weichenstellungen auf ganz neue Weise vorgenommen. Denn nur so, so der Vorschlag des Kapitels, kann der Natur der praktischen Intelligenz des Handelns zwischen Reflex und Reflexion wirklich Rechnung getragen werden. Argumentiert wird dann, dass diese neue Sichtweise deshalb akzeptiert werden sollte, weil sie die Phänomene des Handelns im Mittelreich besser erklären kann als Intellektualismus und Anti-Intellektualismus. Im anschließenden vierten Kapitel werde ich auf die Frage eingehen, wie Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion einer Person als ihr Handeln zugerechnet werden kann. Denn auch wenn im dritten Kapitel ein Weg aufgezeigt worden sein sollte, Kleists Einsichten in den unreflektierten und spontanen Charakter gekonnten Handelns zu würdigen und das gekonnte Handeln im Mittelreich zudem in seiner Eigenständigkeit anzuerkennen, so stellt sich die Frage nach der Zurechenbarkeit unreflektierten Handelns noch mit unge-

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minderter Dringlichkeit, und einen Kant könnte sie dazu bewegen, die gesamte bisherige Analyse abzulehnen. Im vierten Kapitel werde ich daher einen Vorschlag unterbreiten, wie sich unsere Praxis, Personen unreflektiertes Handeln als verantwortbar zuzurechnen, dennoch verständlich machen lässt. Zentral ist der Vorschlag, dass sich Rationalität auch ohne Reflexion und Verantwortbarkeit auch ohne rationale Kontrolle konzipieren lassen. Und die tatsächlich existierende Praxis der Handlungszurechnung und Verantwortungszuschreibung lässt sich, so der Vorschlag, mittels jener Konzeptionen besser verständlich machen als mittels der psychologistischen Theorien, die von nicht wenigen westlichen Philosophen entwickelt worden sind. Um dies zu sehen, muss zunächst der Gedanke zurückgewiesen werden, dass Zurechenbarkeit überhaupt ein psychologisches Fundament benötigt. Kant hat diesen Gedanken in der eingangs zitierten Passage aus der Kritik der reinen Vernunft schon zurückgewiesen, aber heute gibt es eine Alternative sowohl zum Rekurs auf ein psychologisches Fundament als auch zum Rekurs auf eine intelligible Vernunft: nämlich anti-psychologische, sozialexternaltistische Ansätze. Was eine Handlung ist, bestimmt sich demnach über eine soziale Praxis der Zuschreibung von Handlungen. Mit Hilfe sowohl der Ordinary Language Philosophy als auch der Narrationstheorie werde ich hier einen eigenen Vorschlag präsentieren. Zwar ist in der westlichen, christlich geprägten Kultur die Intuition stark ausgeprägt, dass eine solche Zurechnung unfair wäre, weil der die Zurechnung Erfahrende möglicherweise nicht in einem ultimativen Sinne wahrhaft schuldig sein könnte. Doch mittels eines naheliegenden Gedankens kann dieses intuitiv verankerte Desiderat alter Metaphysik überkommen werden. Demnach besteht der Sinn und Zweck der Zuschreibung von Handeln zu einer Person nicht darin, eine implizit vorhandene Akteursschaft oder Schuld sprachlich explizit zu machen, sondern darin, das zukünftige Handeln einer anderen Person zu verbessern. Wenn einer Person etwas als ihr Handeln zugeschrieben wird und Gründe gegen dieses Handeln angeführt werden, kann die Person zunächst mit Gründen, die für das Handeln sprechen, antworten kann, d. h. das Handeln ver-antworten. Diese Gründe müssen ihr Handeln aber nicht geleitet haben. Was es genau heißt, „aus Gründen“ zu handeln oder ein Handeln „mit Gründen“ zu rechtfertigen, wird dabei ausführlich untersucht. Sprechen die entscheidenden Gründe letztlich gegen das Handeln, so kann die Person anschließend daran arbeiten, ihr Handeln für die Zukunft zu verbessern. Der normative Diskurs ist somit ein Prozess ständiger wechselseitiger Bildung und kann damit Personen zu besseren Menschen machen. Aufgrund dessen schließlich, dass, wie McDowell gezeigt hat, jeder Aspekt unreflektierten Handelns sprachlich spezifiziert werden kann, kann jeder Aspekt im gesamten Bereich menschlichen Handelns zum Gegenstand eines solchen Austauschs von Gründen gemacht und in den normativen Raum gestellt werden. Menschliches Handeln besteht damit zwar

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Einleitung: Unterwegs ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion

vor allem in unreflektiertem Handeln, aber dieses unreflektierte Handeln ist durch und durch rational. Abschließend folgt fünftens ein Fazit. Hier wird noch einmal auf die dann abgeschlossen worden sein werdende Reise ins Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion zurückgeblickt, eine Reise, die nun begonnen worden kann. Aber ist eine solch lange Reise ins Mittelreich bis hin zur Infrage-Stellung lang gediehener Verhaltensweisen überhaupt nötig – oder können alle wichtigen Aspekte fähigen Handelns und seiner Zurechenbarkeit nicht schon dadurch eingefangen werden, dass man die alte cartesianische Konzeption menschlichen Handelns bemüht und ein wenig modifiziert, wie es Jason Stanley vorschlägt?

I Propositionale Intelligenz und ihre Grenzen Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) – Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §308, 1. Hälfte

Laut dem sogenannten Intellektualismus gibt es kein Mittelreich. Denn Intelligenz besteht laut Intellektualismus einzig und allein in dem Wissen um Fakten – und entsprechend ist intelligentes Handeln für den Intellektualisten nichts anderes als eine bloße Anwendung dieses Faktenwissens. Diese Anwendung wiederum ist durch nichts anderes gekennzeichnet als durch Automatizität und vollkommene Reflexhaftigkeit. Zwischen dem bewussten erstpersonalen Wissen um Fakten und der sub-personalen automatischen Anwendung dieses Wissens im Handeln gibt es im Intellektualismus nichts. Somit bleibt im Intellektualismus nicht einmal mehr begrifflicher Raum für ein Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion.¹ Ursprünglich ist der Intellektualismus von Gilbert Ryle als „intellektualistische Legende“ eingeführt und angegriffen worden. Laut Ryle erstrecke sich Intelligenz auch auf das vom Faktenwissen, vom Wissen-Dass, grundverschiedene Wissen-Wie. Auch wer z. B. über alles Faktenwissen über Herzoperationen verfüge, könne dieses Wissen-Dass intelligenter oder weniger intelligent anwenden, d. h. über mehr oder weniger Wissen-Wie verfügen. Wer dagegen der Meinung sei, alles intelligente Wirken des menschlichen Geistes bestehe im theoretischen Erwägen von Regeln und Kriterien, sei gemäß Ryle (1949: 18) Opfer der weit verbreiteten intellektualistischen Legende: Champions of this legend are apt to try to reassimilate knowing how to knowing that by arguing that intelligent performance involves the observance of rules, or the application of criteria.

 Ich werde in Kürze ausführlicher auf die Frage zurückkommen, inwiefern der Intellektualismus Potential besitzt, die Existenz des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion anzuerkennen. Zunächst ist es aber wichtig, die Position des Intellektualismus näher zu erläutern, die immerhin eine besonders bedeutende und einflussreiche Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns liefert, um das es in dieser Arbeit geht.

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I Propositionale Intelligenz und ihre Grenzen

Proponenten der intellektualistischen Legende sind laut Ryle vor allem Descartes und dessen geistige Nachfolger. Dementsprechend ist es wenig überraschend, dass Ryles Attacke nachdrückliche Unterstützung aus der anti-cartesianischen Warte bekommt. Hubert Dreyfus etwa beansprucht im Anschluss an Ryle und Heidegger zu zeigen, dass eine phänomenologische Analyse des Erwerbs von Fähigkeiten offenbare, wie falsch die intellektualistische Legende liege. Allenfalls Anfänger müssten demnach auf Regeln und Wissen-Dass zurückgreifen, während Experten über ein situations-sensitives Wissen-Wie verfügten (2005: 52): While infants acquire skills by imitation and trial and error, in our formal instruction we start with rules. The rules, however, seem to give way to more flexible responses as we become skilled.We should therefore be suspicious of the cognitivist [≈ intellectualist] assumption that as we become experts our rules become unconscious. Indeed, our experience suggests that rules are like training wheels. We may need such aids when learning to ride a bicycle, but we must eventually set them aside if we are to become skilled cyclists. To assume that the rules we once consciously followed become unconscious is like assuming that, when we finally learn to ride a bike, the training wheels that were required for us to be able to ride in the first place must have become invisible. The actual phenomenon suggests that to become experts we must switch from detached rule-following to a more involved and situation-specific way of coping.

Als Beispiel für einen solchen „involved and situation-specific way of coping“ führt Dreyfus (2013: 35) einerseits einen Blitzschachspieler an, der im „Flow“ direkt auf die Konstellationen auf dem Schachbrett reagiere, und andererseits einen tugendhaften Menschen: After much experience, the chess master is directly drawn by the forces on the board to make a masterful move, and, in the same way, the kind person, as Sartre sees, is directly drawn to act by the force of the needy person’s apparent need. In neither case does the master make his move for a reason.

So erklärungsbedürftig die Rede vom „drawn by the forces on the board“ und dem „involved and situtation-specific way of coping“ an dieser Stelle auch noch ist – klar ist, dass Dreyfus mit dem direkten situations-sensitiven Reagieren auf ein Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion aufmerksam machen will und dass er die Existenz dieses Handelns argumentativ gegen intellektualistische Positionen in Anschlag bringt.²

 Die Rede vom „drawn by the forces on the board“ und dem „involved and situtation-specific way of coping“ wird im zweiten Kapitel in all der Deutlichkeit erläutert, die Dreyfus’ Theorie zulässt. Im dritten Kapitel wird dann eine eigene Konzeption vorgeschlagen, die zwar von anderen

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Kann also einfach angenommen werden, dass der Intellektualismus zwar das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion nicht anerkennen kann, dass er aber ohnehin nicht ernst zu nehmen ist, da ihn Ryle und Dreyfus schon widerlegt haben? So einfach ist es nicht. Denn die „anti-intellektualistischen“ Positionen sind im Jahr 2001 wiederum kritisiert worden: „All knowing how is knowing that. The intellectualist legend is true“ schließen Jason Stanley und Timothy Williamson ihren mittlerweile klassischen Aufsatz „Knowing How“ ab. Zwar motivieren Stanley und Williamson ihren Ansatz vor allem über eine semantische Analyse sprachlicher Zuschreibungen der Form „S knows how to A“. In seinem neuen Buch Know How (2011 [=S]) verteidigt Stanley die intellektualistische Position aber dezidiert auch als eine Analyse der kognitiven Komponente gekonnten Handelns (S 74): „What makes an action an exercise of skill, rather than mere reflex, is the fact that it is guided by the intellectual apprehension of truths.“ Eine der Motivationen Stanleys, der anti-intellektualistischen Position so entschieden entgegenzutreten, ist es, die wirkliche Rolle propositionalen Wissens in intelligentem Handeln zu verstehen. So könne es laut Stanley nicht sein, dass propositionales Wissen im Expertenhandeln gar keine Rolle mehr spiele und Experten nur mittels automatischen Mechanismen handelten, wie es Dreyfus (in Stanleys Verständnis) nahelege (S 184): Dreyfus maintains that in the case of the expert there are no guiding propositional states. Such states merely play the role of „training wheels“ that are no longer required by the expert. But this entails that the automatic mechanisms contain all the content necessary to guide the expert’s actions. And this simply cannot be right.

„This simply cannot be right“ – dies ist zwar zunächst noch kein Argument, aber es wird deutlich, welcher Gedanke Stanley antreibt: Bloße automatische Mechanismen scheinen für intelligentes Handeln zu wenig zu sein. Das geistige Leben des Blitzschach Spielenden scheint reicher zu sein und in mehr zu bestehen als im bloßen Verwenden automatischer Mechanismen.³ Auf eine ähnliche Weise wie Stanley argumentiert auch John McDowell, der eine Kantische Sichtweise auf die kognitive Komponente gekonnten Handelns verteidigen möchte, gegen Dreyfus’ Heidegger- und Ryle-inspirierte ArgumentaBegrifflichkeiten Gebrauch macht, aber beansprucht, die bezeichneten Phänomene erhellen zu können.  Man sollte sich an dieser Stelle nicht dadurch verwirren lassen, dass Dreyfus von Regeln und Stanley von „guiding propositional states“ spricht. Dies ist eine Instanz des Falles, in dem verschiedene Autoren mit verschiedenen Worten dasselbe meinen – ein Fall, der in der Philosophie des Geistes wohl ebenso üblich wie der Fall, dass verschiedene Autoren mit denselben Worten Unterschiedliches meinen.

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tion. Ein Handeln könne direkt durch eine „intention in action“ geleitet sein, und diese zeige sich schlicht im Selbst-Wissen darum,was man tue (2010: 432). Über ein solches Selbst-Wissen und damit über „intentions in action“ verfügten auch Experten und sogar der absorbierte Blitz-Schachspieler (2013: 47): [T]he chess master’s responding to the forces on the board is his rationality at work. If he explains his move as a response to the forces on the board, as Dreyfus of course accepts that he can, he is giving a rational explanation of it. Moreover, if he really is a master, it must be within his powers to be more specific.We can expect him to be able to say such things as this: „It’s a good move, because it threatens my opponent’s queen.“ As before,we cannot compel him to talk about his move without breaking the flow. But as before, that does not matter. He will be saying things he already knew while he was acting in flow.

Sicherlich hat McDowell recht, dass selbst der Blitzschach-Spieler in einem relevanten Sinne Selbst-Wissen um sein Handeln hat. Aber zugleich scheint Dreyfus darin recht zu haben, dass sich expertenhaftes Handeln zumindest auch durch ein direktes situations-sensitives Reagieren auszeichnet. – Ebenso scheint Ryle auf den ersten Blick darin recht zu haben, dass so etwas wie Wissen-Wie nicht ohne Weiteres auf so etwas wie Wissen-Dass reduzieren lässt. Aber Stanley scheint auf den ersten Blick darin beizupflichten zu sein, dass die kognitive Komponente eines gekonnt Handelnden auch das Geleitet-Sein durch propositionales Wissen involvieren kann. Dann aber scheint sich ein Problem zu ergeben. Denn Stanleys Theorie ist gerade gegen Ryle und Dreyfus gerichtet, Ryles Theorie gegen intellektualistische Theorien wie diejenigen Stanleys und McDowells, Dreyfus’ Theorie gegen McDowell, und McDowells Theorie gegen Dreyfus. Wie können nur alle diese Theorien – oder zumindest auch nur ihre Kernideen – zusammen wahr sein? Besonders brisant wird die Frage für eine Erforschung des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion. Auf der einen Seite erkennt Dreyfus klar die Existenz des Mittelreichs an und auch Ryle liefert hilfreiche Beschreibungen. Aber in ihren Theorien lassen sie wenig Spielraum für die Möglichkeit, dass man Selbst-Wissen um dieses Handeln hat und es zugleich durch propositionales Wissen geleitet sein kann (vgl. allerdings Ryle 1949, Kap. 6 und Kap. 9). Auf der anderen Seite können Stanley und McDowell die Vielfalt und Reichhaltigkeit des geistigen Lebens, etwa hinsichtlich des Selbst-Wissens und des Geleitet-Seins durch propositionales Wissens, deutlich besser einfangen. Aber insbesondere in Stanleys intellektualistischer Theorie wird die Existenz eines Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion rundheraus verneint. Auf den ersten Blick zumindest ist aber selbst begrifflich in keinem der Ansätze Platz für die Einsichten des anderen. Muss man sich also entscheiden zwischen einer Theorie, die zwar das Mittelreich anerkennt,

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aber die Komplexität des geistigen Lebens ignoriert, und einer Theorie, die zwar der Komplexität des geistigen Lebens Rechnung trägt, aber die Existenz des Mittelreichs leugnet? Es wäre die Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Mein Ziel in diesem und den nächsten beiden Kapiteln ist es, einen schiffbaren Ausweg aufzuzeigen, die diesen beiden Alternativen entkommt. Um diesen Ausweg finden zu können, gilt es zunächst, die folgende Einsicht zu berücksichtigen: Um das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion zu untersuchen, darf man nicht nur das Handeln im Mittelreich selbst untersuchen. Denn wenn man nur das Handeln zwischen Reflex und Reflexion selbst untersuchte, würde man die geistige Reichhaltigkeit des Kontexts gerade übersehen. Um das Mittelreich erfolgsversprechend untersuchen zu können, benötigt man eine Sichtweise auf die kognitive Komponente gekonnten Handelns als Ganzem.⁴ Im dritten Kapitel werde ich die Grundzüge einer solchen Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns als Ganzem vorschlagen, d. h. einer Theorie, durch die die volle Relevanz der praktischen Intelligenz des Handelns zur Geltung gebracht wird, die aber zugleich die geistige Reichhaltigkeit der Handelnskontexte berücksichtigen kann, in denen das Handeln im Mittelreich stattfindet. Damit werde ich die erste Frage dieser Arbeit beantworten, die Frage danach, wie die kognitive Komponente gekonnten Handelns analysiert werden kann, ohne über- oder unterintellektualisiert zu werden. Erst anschließend werde ich auf die Kantische Frage eingehen, wie Handeln einer Person als Ganzer zugerechnet werden kann, und wie es – wie in dem Zitat McDowells schon angesprochen – als rational analysiert werden kann. Mein Ziel in diesem Kapitel ist es, die Grenzen und Perspektiven des Intellektualismus zu untersuchen, bevor ich im nächsten Kapitel die Grenzen und Perspektiven des Anti-Intellektualismus prüfen werde. Meine These in diesem Kapitel lautet, dass der Intellektualismus insofern falsch liegt, als er die genuin praktische Intelligenz des Handelns im Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion nicht berücksichtigen kann. Der Intellektualismus stellt damit keine Bedrohung für die Anerkennung des Mittelreichs dar. Zugleich kann aus einer Diskussion des Intellektualismus sehr viel für eine philosophische Analyse der kognitiven Komponente des gekonnten Handelns zwischen Reflex und Reflexion gelernt werden.

 Der Klarheit halber sollte ich sagen, dass ich mich mit dem Begriff „gekonntes Handeln“ nur auf Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion beziehe, mit dem Begriff „Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns als Ganzem“ aber eine Theorie der kognitiven Komponente des gesamten Handelns gemeint ist, so dass dieses Handeln sowohl das Handeln im Mittelreich als auch reflektiertes Handeln beinhalten kann.

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Um einen möglichst klaren Proponenten des Intellektualismus vor Augen zu haben, werde ich mich in diesem Kapitel maßgeblich auf die Theorie Janson Stanleys konzentrieren. Wie kein anderer hat er durch seinen ursprünglich mit Williamson verfassten Artikel und sein Buch Know How dazu beigetragen, die aktuelle Debatte um die Natur des Wissens-Wie anzuregen. Und wie kein anderer vertritt Stanley seine Position in einer Klarheit, Deutlichkeit und Prägnanz, die seine Theorie leicht einer Evaluation zugänglich macht. Schließlich werde ich im folgenden Kapitel aus einem ähnlichen Grund Hubert Dreyfus als Proponenten des Anti-Intellektualismus anführen. Seit dem 2001 erschienenen Artikel „Know How“ wird die Natur des WissensWie lebhaft diskutiert, mit Vertretern auf beiden Seiten der Debatte. Ich möchte aber vorschlagen – und folge dabei John Bengsson und Mark Moffett (2012) –, dass in der Debatte die Rolle des Geistes im Handeln, d. h. die kognitive Komponente gekonnten Handelns als Ganze das eigentliche Thema ist. Denn wenn man fragt, welche Rolle propositionales Wissen im Handeln spielt, dann steht damit sofort die Frage im Raum, auf welche Weise man die kognitive Komponente gekonnten Handelns überhaupt untersuchen sollte. Und wie beschrieben gibt es ideengeschichtlich vor allem zwei große weit verbreitete Bilder der Rolle des Geistes im menschlichen Handeln. Im einen Verständnis stellt der Handelnde, paradigmatisch exemplifiziert im Kantischen Bild, sein Handeln in den rationalen Raum; im anderen Verständnis, paradigmatisch exemplifiziert im Kleistischen Bild, lässt der Handelnde sein Handeln dagegen von den Eigenheiten der konkreten Situation leiten. So gesehen treffen in der Debatte um Wissen-Wie und die kognitive Komponente gekonnten Handelns erneut beide Bilder aufeinander. Stanley entspricht Kant, wenn er die Strukturiertheit und Kontrolliertheit fähigen Handelns hervorhebt. Und Dreyfus entspricht Kleist, wenn er die Unreflektiertheit, Unbewusstheit und spontane Situationssensitivität gekonnten Handelns betont. Die historischen Ideen Kleists und Kants führen ihre alte Debatte aufs Neue. Neu an meinem Beitrag zu der Debatte ist die im dritten Kapitel stattfindende Entwicklung der Grundzüge einer eigenen Konzeption der kognitiven Komponente gekonnten Handelns, in der die Relevanz des Mittelreichs zur Geltung kommt. In diesem Kapitel, in dem ich die Grenzen und Perspektiven des Intellektualismus untersuche, liegt mein eigener Beitrag zum einen darin, dass ich neue Argumente gegen den Intellektualismus anführe, die bisher noch nicht angeführt worden sind, und dass ich zum anderen eine Wittgensteinsche Diagnose der tieferliegenden Probleme des Intellektualismus liefere. Ich werde so vorgehen, dass ich erst Stanleys intellektualistische Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns als Ganzem darstellen werde (Abschnitt 1). Im Anschluss werde ich argumentieren, dass der Intellektualismus viele wichtige Phänomene gekonnten Handelns nicht einfangen kann, die eine Theorie

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der kognitiven Komponente gekonnten Handelns einfangen können sollte (Abschnitt 2). Schließlich liefere ich eine Wittgenstein’sche Diagnose der Probleme des Intellektualismus (Abschnitt 3) und schließe das Kapitel mit einem Fazit (Abschnitt 4).

1 Der Intellektualismus Der menschliche Geist ist laut Intellektualismus zweigeteilt. Auf der einen Seite gebe es mentale Zustände, die Propositionen zum Inhalt hätten. Auf der anderen Seite gebe es automatische Anwendungsmechanismen dieser Zustände. Die mentalen Zustände lägen auf einer personalen Ebene, die automatischen Anwendungsmechanismen auf einer subpersonalen. Die mentalen Zustände seien laut Intellektualismus intelligent, die Anwendungsmechanismen automatisch bzw. „reflexhaft“. Ein Handeln sei genau dann intelligent, wenn es sich nicht bloß den automatischen Mechanismen verdanke, sondern durch die (automatisch angewandten) mentalen Zustände geleitet sei. Wenn eine Person wisse, dass etwas der Fall sei, dann stehe sie in einer besonderen Relation zu einer wahren Proposition, die den Gehalt eines ihrer mentalen Zustände ausmache, nämlich in der Wissens-Relation. Wenn eine Person wisse, wie man etwas mache, dann stehe sie laut Intellektualismus in genau derselben Relation zu einer wahren Proposition, die den Gehalt eines ihrer mentalen Zustände ausmache. Sie wisse um eine Tatsache und dieses FaktenWissen sei ihr Wissen-Wie. Doch die Proposition, die sie im Falle des Wissen-Wie wisse, habe einige besondere Eigenschaften. Betrachten wir als Beispiel Adrianas Wissen, wie man Fahrrad fährt. Laut Stanley bedeute der Satz „Adriana weiß, wie man Fahrrad fährt“ nichts anderes als: „Es gibt einen Weg, von dem Adriana weiß, dass er ein Weg für sie ist, kontrafaktischen Erfolg im Fahrrad fahren zu haben.“ In allgemeinster Form formuliert lautet Stanleys zentrale These entsprechend (S 71): For every s and F, s knows how to F iff for some way w of F-ing, s knows that w is a way to F.

Diese Analyse besagt erstens, dass Wissen-Wie ein Wissen um Wege sei, d. h. ein Wissen um Art und Weisen oder Methoden, Tätigkeiten auszuführen. Zweitens sei Wissen-Wie ein Wissen, das den kontrafaktischen Erfolg von zu verfolgenden Projekten und Tätigkeit-Typen betreffe. Drittens habe die wissende Person de se Wissen von dem Weg, d. h. die wissende Person wisse, dass der Weg ein Weg für sie selbst sei, die fragliche Tätigkeit auszuführen. Viertens sei das Wissen-Wie zugleich ein de re Wissen des Weges, d. h. in diesem Fall, die wissende Person sei mit

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dem Weg vertraut, auch wenn sie keine vollständige deskriptive Beschreibung angeben könne. Fünftens sei der wissenden Person die Proposition in einem Fregianischen Sinne auf eine bestimmte Weise gegeben, und zwar auf eine praktische. Diese Eigenschaften des Wissens-Wie werde ich im Folgenden erläutern. Ich beginne mit dem erste Punkt, dem Gedanken, dass ein gekonnt Handelnder durch ein Wissen um Wege, wie man etwas mache, geleitet sei. Zentral ist dafür Stanleys These, dass wir in gekonntem Handeln durch Regeln und propositionales Wissen geleitet würden. Um dies zeigen zu können, muss er jedoch zunächst Ryles anti-intellektualistische Argumentation zurückweisen. Diese Argumentation Ryles zielt nämlich genau darauf zu widerlegen, dass ein Handeln genau dann intelligent ist, wenn es durch Propositionen und Regeln geleitet wird. Stanley rekonstruiert Ryles Argument so: There are two premises in Ryle’s argument: Premise 1: The intellectualist view entails that „for any operation to be intelligently executed“, there must be a prior consideration of a proposition. Premise 2: „The consideration of propositions is itself an operation the execution of which can be more or less intelligent, less or more stupid.“⁵

Aus diesen beiden Prämissen folge laut Ryle ein Regress: Denn gemäß diesen Prämissen setze ein potentiell intelligentes Handeln, um potentiell intelligent zu sein, voraus, dass eine Proposition konsultiert werde. Aber dieses Konsultieren einer Proposition sei wiederum ein potentiell intelligentes Handeln. Dann jedoch setze dieses potentiell intelligentes Handeln, um potentiell intelligent zu sein, wiederum voraus, dass eine Proposition konsultiert werde. Aber dieses Konsultieren einer Proposition sei wiederum ein potentiell intelligentes Handeln. Dann jedoch setze dieses potentiell intelligente Handeln … und so weiter. Stanleys Diagnose lautet (S 14): „The chief problem with Ryle’s argument is the implausibility of its first premise.“ Laut Stanley überintellektualisiere Ryle den Intellektualismus. Denn man könne auch durch propositionales Wissen oder eine Regel geleitet sein, ohne diese Proposition erst mental konsultieren zu müssen (S 20): „I may be guided by a norm of action, even when I do not self-consciously judge that I am“. Natürlich stellt sich umgehend die Frage, was es denn heißt, direkt durch propositionales Wissen geleitet zu sein. Zur Erläuterung führt Stanley einen Vorschlag von Peter Railton an:

 S . Die Zitate stammen aus Ryle , Seite  der von Stanley verwendeten und Seite  der von mir verwendeten Ausgabe.

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Agent A’s conduct C is guided by norm N only if C is a manifestation of A’s disposition to act in a way conducive to compliance with N, such that N plays a regulative role in A’s C-ing, where this involves some disposition on A’s part to notice failures to comply with N, to feel discomfort when this occurs, and to exert effort to establish conformity with N even when the departure from N is unsanctioned and non-consequential. (Railton 2006: 13, zitiert auf S 21)

Dieser Vorschlag Railtons ist zentral für Stanleys Lösung des Problems, wie man direkt durch propositionales Wissen geleitet sein kann, ohne dabei dem Ryle’schen Regress-Argument zum Opfer zu fallen. Und auf den ersten Blick mag Railtons Vorschlag überzeugend klingen. Auf den zweiten Blick jedoch stellen sich große Probleme, wie der Vorschlag im Kontext der Theorie Stanley verstanden werden sollte. Entscheidend zur Beantwortung der Frage, wie Handeln direkt durch Regeln und Propositionen geleitet sein kann, ist nämlich, was in dem Zitat mit „involves“ gemeint ist. Denn stünde dort anstelle des „involves“ ein „is nothing but“, dann würde auch Stanleys dialektischer Gegner Ryle die Konzeption problemlos akzeptieren können. Laut Ryle bemesse sich das Vorliegen geistiger Eigenschaften allein an verschiedenen beobachtbaren Manifestationen komplexer Verhaltensdispositionen. Diese Sichtweise weist Stanley jedoch als in einem problematischen Sinne behavioristisch zurück. Die Kriterien, die laut Railton zu einem Geleitetwerden durch Regeln gehören, kann Ryle jedoch leicht auf diese dispositionale Weise analysieren. Also muss das „involves“ so verstanden werden, dass dafür, dass ein Akteur durch eine Regel geleitet ist, noch etwas anderes, kognitiv Reicheres erfordert wird. Dieses kognitiv Reichere scheint in einer substantielleren Art des Geleitseins durch das Wissen um Wege zu finden sein zu müssen.⁶

 Mit anderen Worten liegt für Stanley eine Sichtweise nahe, dergemäß das Geleitetsein durch propositionales Wissen die Struktur der kognitiven Komponente gekonnten Handelns beschreibt. Eine Möglichkeit, dies auszubuchstabieren, wäre die von Stanley zurückgewiesene Annahme, man konsultiere die propositionalen Gehalte immer selbst-bewusst und explizit. Wenn Stanley diese Annahme zurückweist und gleichzeitig seinen Vorwurf an Ryle aufrecht erhalten will, zu behavioristisch zu sein, muss er hier zeigen, wie seine alternative Konzeption des direkten Geleitseins durch propositionales Wissen überhaupt konstruktiv aussieht. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. Wie mir dankenswerterweise von Hannes Worthmann berichtet worden ist, legt sich Stanley auch auf explizite Nachfrage nicht darauf fest, ob er mit seiner Analyse die kognitive Struktur gekonnten Handelns treffen oder sie lediglich als eine rationale Rekonstruktion von Zuschreibungen von außen charakterisieren will. Stattdessen wechselt Stanley in seinem Buch je nach dialektischem Nutzen zwischen einer strukturalistischen und einer auf äußeren Zuschreibungen basierenden Analyse (siehe für die strukturalistische Analyse etwa S viii, 1, 19 ff., 23 f., 98 ff., 122 ff., 143 ff., 150 ff., 170 ff., und für die Zuschreibungs-basierte Analyse S ix, 15, 33 ff., 36 ff., 111 ff., 131 ff., 168 f.). Unten werde ich noch weitere Argumente dafür anführen, dass Stanley zu seinem eigenen

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Wie oben erwähnt, ist die zweite zentrale Eigenschaft menschlichen WissensWie laut Stanley das Wissen um den kontrafaktischen Erfolg bei der Ausübung von Tätigkeiten. Laut Stanley sei der Begriff des Wissens-Wie ein modaler Begriff. Eine Person könne etwa von einem Weg wissen, wie sie in einer entfernten möglichen Welt, in der ihr Armbruch verheilt sei, erfolgreich Fahrrad fahren könne (S 127).⁷ Doch damit diese zunächst semantische Analyse des modalen Begriffs des Wissens-Wie dazu beitragen kann, menschliches Handeln besser verständlich zu machen, muss erklärt werden, wie dieses Handeln zur Anwendung kommen kann, d. h. wie menschliches Handeln laut Intellektualismus kontrolliert ist.⁸ Es ist an dieser Stelle, an der Stanley die automatischen Mechanismen einführt. Dazu zitiert er Jerry Fodor, dessen Vorschlag er folgt:

Vorteil eine strukturalistische Analyse liefern sollte. Einen wichtigen Gedanken kurz vorwegnehmend muss Stanley zugestimmt werden, dass Ryles Vorgehen, das Vorliegen einer Manifestation einer Disposition allein anhand praktisch vorgenommener Zuschreibungen von außen vorzunehmen, zu behavioristisch ist – aber eben deshalb sollte Stanley nicht selbst auf ein derartiges Vorgehen zurückgreifen. – Im Folgenden werde ich auch argumentieren, dass sich Stanleys Ansatz als Analyse der kognitiven Komponente gekonnten Handelns in jedem Fall erheblichen Problemen ausgesetzt sehen muss, ganz unabhängig davon, ob er eine strukturalistische oder eine Zuschreibungs-basierte Analyse liefert.  Stanley buchstabiert die modalen Begriffe der Fähigkeit und des Wissens-Wie über mögliche Welten aus. Zwar hat Barbara Vetter (vgl.Vetter ) zuletzt aufgezeigt, dass eine Analyse dieser Begriffe nicht mittels möglicher Welten, sondern mittels des Begriffs der Potentialität fruchtbarer sein kann. Für die vorliegenden Zwecke ist dieser Unterschied jedoch nicht entscheidend, so dass ich aus dialektischen Gründen Stanleys Orthodoxie folge.  Philosophisch interessant ist gerade die Frage, ob ein bestimmtes Handeln intelligent ist. Für eine Analyse menschlichen Handelns aber, so muss festgehalten werden, sind modale Begriffe wie „kontrafaktischer Erfolg“, „Fähigkeiten“ und „Dispositionen“ nur von begrenzter Relevanz. Denn auch wenn genau verstanden wäre,was es heißt, dass ein Individuum über eine Fähigkeit verfügte, wäre die wirklich wichtige Frage immer noch, wie es funktioniert, dass diese Fähigkeit handlungswirksam wird. Gleiches gilt für den Begriff der Disposition, wenn man ihn nicht beispielsweise auf Stoffe, sondern auf Lebewesen anwendet: Selbst wenn gut verstanden wäre, wie sich die Disposition der Wasserlöslichkeit von Zucker aktualisierte, sobald ein Stück Zucker in Wasser geworfen wird, wäre immer noch unklar, wie sich ungleich komplexere Dispositionen von Lebewesen zu einem bestimmten Verhalten aktualisierten. – Werden diese ungleich komplexeren Dispositionen etwa dann (und nur dann) aktualisiert, wenn sich ihr Träger dazu entscheidet? Aber was sind dann Entscheidungen? Keinesfalls kann man sie, um einen Zirkel zu vermeiden, selbst wiederum dispositional erklären. Zu klären, wie eine menschliche Disposition aktualisiert wird, hieße dann zu klären, wie Entscheidungen getroffen werden. Der Rekurs auf Dispositionen hätte die Frage nur verschoben. Was für ein Verständnis der Natur menschlichen Handelns wirklich zählt, ist, wie konkretes aktuales menschliches Handeln analysiert werden kann, nicht, wie Personen mit modalen Begriffen beschrieben werden können.

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Knowledge doesn’t eventuate in behavior in virtue of its propositional content alone. It seems obvious that you need mechanisms to put what you know into action; mechanisms that function to bring the organization of behavior into conformity with the propositional structures that are cognized. (Fodor 1983: 9, zitiert auf S 26)

Entscheidend ist, dass diese Mechanismen selbst kein Wissen-Wie darstellen könnten, weil Wissen-Wie ein Zustand mit Gehalt sei, während automatische Mechanismen hingegen keinen Gehalt hätten (S 26): One might think that the „mechanisms to put what you know into action“ are themselves states of knowing how. But this cannot be correct. […] [For], the mechanisms of which Fodor speaks take propositions and result in behavior. They themselves lack content.

Stanley spielt dabei mit dem Gedanken, dass es genau einen solchen Anwendungsmechanismus gebe (S 184): Perhaps there is just one automatic mechanism responsible for applying one’s standing epistemic states, or perhaps there are several distinct classes of such automatic mechanisms – ones governing propositional states concerning actions like jumping, catching, and leaping, and others governing propositional states concerning (say) language use.

Wie dem auch sei, um die Anwendung propositionalen Wissens und damit Kontrolle im Handeln zu verstehen, „one must be sensitive to the interplay between the standing epistemic states of the speaker and the automatic mechanisms that structure her behavior accordingly“ (S 182). Wirklich wichtig seien dabei aber die mentalen Zustände, d. h. das Wissen um Wege, wie man etwas mache, und damit die Geleitetheit des Handelns durch propositionales Wissen. Im Gegensatz zu den subpersonalen Mechanismen führten diese mentalen Zustände, welche propositionales Wissen und Regeln zum Inhalt haben, zu einer reichhaltigen Struktur der Kognition des Könnenden, nicht zuletzt, weil sie sein Handeln auf bewusste oder bewusstseinsfähige Weise leiten. So überlegt Stanley, ob die Anwendung von Wissen-Wie auf bewussten Entscheidungen beruhen muss (S 178): „In one sense of „intelligent“, Irina’s act of doing the Salchow is intelligent. It was the result of a concious decision.“ Selbst wenn Stanley ablehnte, dass die Anwendung von Wissen-Wie immer auf bewussten Entscheidungen beruhen müsse, wären die mentalen Zustände, in deren Anwendung intelligentes Handeln bestünde, in einem relevanten Sinne bewusst und würden damit eine reichhaltigere Struktur des Geleitseins durch Propositionen bereitstellen. Diese reichhaltige Struktur der das Wissen-Wie konstituierenden mentalen Zustände zeigt sich nämlich daran, dass es sich dabei um de se Wissen handelt, d. h. dass der Wissende wisse, dass der jeweilige Weg ein Weg für ihn selbst sei, die entsprechende

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Tätigkeit erfolgreich auszuführen. (Dies ist die dritte Eigenschaft der oben genannten Analyse gewesen). Und dafür, dass die Manifestation von Wissen-Wie laut Intellektualismus in einem relevanten Sinne bewusst abläuft, spricht auch, dass man es auf Nachfrage angeben können müsse. Allerdings – und dies ist die vierte oben genannte Eigenschaft der intellektualistischen Analyse von Wissen-Wie – müsse man den jeweiligen Weg, von dem man das Wissen-Wie habe, nicht sprachlich vollständig spezifizieren können (S 182): This knowledge is de re knowledge about a way of doing something. Since de re knowledge is in general not reducible to de dicto knowledge, their knowledge does not consist in a relation to a set of propositions whose content can be given purely descriptively.

Es reicht laut Stanley, mit dem jeweiligen Weg bekannt zu sein und auf Nachfrage etwa zu antworten „So mache ich es“ und dabei die Tätigkeit auszuführen. Schließlich komme ich zur fünften und letzten Eigenschaft der intellektualistischen Analyse intelligenten Handelns. Eine Besonderheit der Propositionen, die den Gehalt der mentalen Zustände darstellten, aufgrund deren Anwendung ein Handeln intelligent sei, sei es, dass sie in einem praktischen Modus der Präsentation stünden. Die Motivation für diese These liegt in der Beobachtung, dass es einen Unterschied dazwischen gebe, etwa theoretisch als Werkzeug-Designer über einen Hammer nachzudenken, und daran zu denken, dass man ihn praktisch benutze (S 126): [T]here is a practical way of thinking about a thing, one that is revealed paradigmatically in operating with a tool. Such a way of thinking about a thing is distinct from the way of thinking about a thing that is revealed by „just staring“ at it. In the vernacular of the Fregean, a visual way of thinking of a hammer is distinct from a practical way of thinking of a hammer.

Auf welche Art und Weise man sich jeweils als Nachdenkender bzw. als Hämmernder auf den Hammer beziehe, beeinflusse die Gegebenheitsweise der jeweiligen Proposition, zu der man in der Wissens-Relation stehe. Stanley argumentiert für eine Fregianische Konzeption propositionalen Gehalts und beansprucht dann zu zeigen, dass man als Fregianer ohnehin von verschiedenen Modi der Präsentation ausgehen müsse. Als Existenz-Beweis führt er sogenannte Ich-Gedanken an, die dem jeweils Denkenden auch in einem besonderen Modus der Präsentation gegeben seien. Wichtig ist der Gedanke eines Modus der Präsentation, um die Struktur des Geleitetseins des Handelns durch propositionales Wissens näher zu analysieren. Mit einer Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns als Ganzem, wie sie gerade dargestellt worden ist, sollte man Phänomene wie den Erwerb

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von Fähigkeiten und das Handeln von Experten verständlich machen können. Und Stanley stellt sich dieser Aufgabe. Laut Stanley gelte (S viii): „learning how to do something is learning a fact.“ Ein ausgelernter Experte zeichne sich laut Stanley dadurch aus, dass er nicht nur von einem, sondern von allen relevanten Wegen, etwas zu tun, wisse, dass dieses Wissen in seinem Fall direkt „implementiert“ sei und dass sein automatischer Mechanismus auf besonders flüssige Weise arbeite. Warum aber schlägt Stanley gerade diejenige Analyse der kognitiven Komponente fähigen Handelns vor, die ich gerade dargestellt habe? Stanleys ursprünglicher Ausgangspunkt ist eine linguistisch informierte Analyse sprachlicher Zuschreibungen der Form „S knows how to A“ im Englischen und in anderen Sprachen.⁹ Semantisch bedeute das Verfügen über Wissen-Wie nichts anderes, als eine Antwort auf eine Frage zu wissen, nämlich auf die Frage „Wie?“. Genau wie jemand, der wisse, wo Wilfried wohne, von einem Ort wisse, wisse jemand, der wisse, wie er schwimme, von einem Weg (S vii): „Knowing how to do something therefore amounts to knowing the answer to a question.“ Die gerade dargestellten Komponenten des Verfügens über Wissen-Wie ergäben sich laut Stanley nicht zuletzt als Bestandteile seiner semantischen Analyse dieses Wissens um Antworten auf Wie-Fragen. Stanley geht dann so vor, von der Semantik auf die Metaphysik zu schließen. Wenn aber eine Analyse der Semantik der Weg in die Metaphysik des Mentalen ist, dann könnte die so gewonnene Metaphysik des Mentalen auch wahr sein, wenn die semantische Analyse falsch wäre. Man kann schließlich auch auf dem falschen Wege zum Richtigen kommen. In diesem Sinne schreibt Stanley auch, dass seine These, dass Wissen-Wie propositionales Wissen Fakten-Wissen sei, auch wahr sein könnte, wenn seine semantische Analyse der sprachlichen Zuschreibungen der Form „S knows how to A“ falsch wäre (S 71). Umso dringlicher stellt sich dann aber die Frage, warum man Stanleys ursprünglich durch eine semantische Analyse gewonnene intellektualistische Metaphysik des Mentalen glauben sollte. Ein wichtiger Vorteil dieses Ansatzes ist zunächst, dass sie eine einheitliche und ontologisch sparsame Konzeption des menschlichen Geistes liefert. Wer die verbreiteten Thesen akzeptiert, dass Überzeugungen mentale Zustände mit propositionalem Gehalt sind, und dass Wissen u. a. wahre gerechtfertigte Überzeugungen voraussetzt, der muss keine zusätzli-

 Stanleys semantische Analyse trifft aber nicht auf Verwendungen von „S weiß, wie …“ im Deutschen zu. Er schreibt (:  Fn. ): „We may ignore languages like German, which for grammatical reasons do not allow infinitives in embedded question constructions. Germans tend simply to use the German translation for the modal auxiliary „can“ in translating of English knowing-how statements.“ Das Deutsche könne daher den klaren Bedeutungsunterschied zwischen der Zuschreibung von Fähigkeiten und der Zuschreibung von Wissen-Wie nicht einfangen.

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chen philosophischen Ressourcen bemühen, um verständlich zu machen, was Wissen-Wie ist und wie Wissen praktisch werden kann.¹⁰ Es ist wert bemerkt zu werden, dass in einem Sinne (und anders als bisher dargestellt) ein Handeln auf der Basis von Wissen-Wie auch gemäß dem Intellektualismus ein Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion ist. Laut Intellektualismus sei alles, was man auf den ersten Blick als „Handeln“ bezeichnen könnte, entweder Resultat der Anwendung mentaler Zustände oder nicht. Wenn es nicht Resultat der Anwendung mentaler Zustände sei, verdanke es sich laut Intellektualismus allein subpersonalen, automatischen Mechanismen. Und damit ist es scheinbar nicht mehr als ein Reflex. Wenn es aber in der Anwendung mentaler Zustände besteht, dann ist es deswegen noch kein reflektiertes Handeln in dem engen Sinne, dass man über die Proposition, die den Inhalt des mentalen Zustands darstellt, in einer eigenen Handlung nachdenken muss. In diesem speziellen Sinne ist ein Handeln, das in der Anwendung von mentalen Zuständen und insbesondere in der Anwendung von Fakten-Wissen besteht, ein Handeln zwischen Reflex und Reflexion (S 130): That the acquisition of a skill is due to the learning of a fact explains why certain acts constitute exercises of skill, rather than reflex. A particular action of catching a fly ball is a skilled action, rather than a reflex, because it is guided by knowledge, the knowledge of how to catch a fly ball. […] Once [an amassment of the relevant know how] has been made, practice leads to direct action, action without the necessity for reflection.

Wenn der Begriff der Reflexion dagegen weiter verstanden wird, dann muss der Intellektualist die Existenz eines Handelns im Mittelreich von Reflex und Reflexion leugnen. Unter reflektiertem Handeln im sehr weiten Sinne habe ich (in der Einleitung) alles Handeln verstanden, das absichtlich mit praktischem Wissen um das Handeln geschieht und das der Handelnde einmal bewusst akzeptiert hat. Stanley geht davon aus, dass ein gekonnt Handelnder praktisches Wissen um sein Wissen-Wie manifestierendes Handeln habe – man müsse sein Wissen-Wie immer auf Nachfrage angeben können. Dazu, ob man die Ausübung des Wissens-Wie auch immer bewusst akzeptiert haben müsse, führt Stanley nur die eine zitierte Passage an, gemäß der die Ausübung von Wissen-Wie auf bewussten Entscheidungen beruhe. Doch von dieser Passage ist nicht vollends klar, ob Stanley sie

 McDowells wichtigste Motivation, eine Analyse der kognitiven Komponente menschlichen Handelns zu vertreten, die man als „intellektualistisch“ bezeichnen könnte, ist es, die Möglichkeit der Rationalität menschlichen Wahrnehmens und Handelns verständlich zu machen. Diese McDowell’sche Frage nach der Rationalität menschlichen Handelns ist so wichtig, dass ich ihr das vierte Kapitel dieser Untersuchung widme. Für das vorliegende Kapitel klammere ich die Frage jedoch aus.

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letztendlich akzeptiert. Unabhängig davon jedoch, wie sich Stanley zu der Frage verhält, ist seine Position einer Erforschung des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion orthogonal entgegengesetzt. Wenn Stanley annimmt, dass man die Ausübung des Wissens-Wie bewusst akzeptiert haben müsse, dann bleibt in seiner Metaphysik des Mentalen nicht einmal mehr begrifflicher Raum für das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion. Wenn Stanley nicht annimmt, dass man die Ausübung des Wissens-Wie bewusst akzeptiert haben müsse, hätte Stanley lediglich eine andere, intellektualistische Konzeption des Mittelreichs. Ob diese intellektualistische Konzeption den Phänomenen des Handelns zwischen Reflex und Reflexion wirklich gerecht werden kann, gilt es im Folgenden zu überprüfen. Dass der Intellektualismus tatsächlich viele relevante Phänomene gekonnten Handelns nicht adäquat verständlich machen und damit nicht als überzeugende Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns als Ganzem gelten kann, ist es, wofür ich im Folgenden argumentieren werde. Dabei werde ich Stanleys eigenes methodologisches Zugeständnis ernstnehmen, dass seine Theorie des Geistes im Handeln wahr sein könnte, auch wenn die semantische Theorie falsch wäre; kurzum werde ich in Stanleys Sinne seinen Ansatz im Folgenden nicht als eine linguistische Theorie über die Worte „S knows how to A“ betrachten, sondern als eine philosophische Theorie über die kognitive Komponente gekonnten Handelns als Ganzem.

2 Die Grenzen des Intellektualismus Kann Stanleys intellektualistische Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns als Ganzem einfangen, verständlich machen und erhellen, was wir aus unserer eigenen Erfahrung und den Kognitionswissenschaften über gekonntes Handeln wissen?¹¹ Beginnen wir damit, dass ein intelligent Handelnder laut Intellektualismus durch ein Wissen um einen Weg, wie man etwas macht, geleitet ist.

 Die folgenden acht Unterabschnitte versammeln zum einen zentrale Phänomene, die jede gute Theorie der kognitiven Komponente unreflektierten und gekonnten Handelns verständlich machen sollte, und dienen zum anderen dazu, unterschiedliche Themen, die in verschiedenen Debatten wie der Debatte um Wissen-Wie und der McDowell-Dreyfus-Debatte mitunter kreuz und quer vermischt diskutiert werden, in eine gewisse Ordnung zu bringen.

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a Regeln Ist Stanleys intellektualistische Analyse des Folgens von Regeln plausibel? Immerhin scheint vieles gekonnte und unreflektierte Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion derart strukturiert zu sein, dass es naheliegt, dieses Handeln als regelfolgend zu analysieren. Philosophisch schwierig wird eine derartige Analyse auf den ersten Blick dadurch, dass das Paradigma des Regelfolgens das bewusste Anwenden einer expliziten Regel zu sein scheint, dass das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion aber sehr weit von diesem Paradigma entfernt ist. Nun kann es aber so scheinen, als zeichne sich der Intellektualismus dadurch aus, dass er dieses so zentrale Problem schon lösen könne: Stanley geht nämlich wie gesehen davon aus, gekonntes Handeln sei direkt durch Propositionen geleitet, die Wege, wie man etwas mache, zum Inhalt hätten; dabei würden diese Propositionen durch automatische subpersonale Anwendungsmechanismen angewendet. Somit scheint dem Intellektualismus bescheinigt werden zu können, eine derart un-intellektualistische Konzeption der Leitung durch Propositionen entwickelt zu haben, dass er auch und gerade den regelfolgenden Charakter des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion einfangen kann.¹² Aber bei näherer Betrachtung muss sich der Intellektualismus vielen Problemen ausgesetzt sehen. Erstens ist seine Lösung in einem entscheidenden Sinne unklar. Der propositionale Gehalt der mentalen Zustände, die ein gekonntes Handeln laut Intellektualismus leiten, besteht darin, dass ein bestimmter Weg oder eine bestimmte Methode, etwas zu tun, für den Träger des mentalen Zustands ein Weg ist, kontrafaktischen Erfolg in der fraglichen Tätigkeit zu haben. Aber Stanley buchstabiert nicht näher aus, was genau er unter einem Weg versteht und wie Wege individuiert werden sollten. Und dieser Umstand ist kein einfaches Versäumnis, das Stanley in einem späteren Beitrag ausbessern könnte, sondern er droht, Stanleys gesamten Vorschlag inhaltsleer werden zu lassen. Nehmen wir z. B. an, Adriana weiß, wie man Fahrrad fährt. Weiß sie dann von genau einem

 Nur um Missverständnisse zu vermeiden, sollte ich noch einmal explizit machen, dass Stanley eine Analyse des Phänomens des Regelfolgens in Auseinandersetzung mit Ryle und Dreyfus teilweise mittels des Wortes „rule“, und an anderen Stellen mittels des Wortes „proposition“ thematisiert. Trotz des Wort-Wechsels findet hier aber kein Themenwechsel statt. (Natürlich ist es rein theoretisch möglich, das Problem der Anwendung einer Regel und das scheinbare Problem der Anwendung einer Proposition zu dissoziieren, aber ebenso kann man verschiedene mit dem Wort „Regel“ benannte Konzeptionen vertreten und diese dissoziieren, und gleiches gilt für das Wort „Proposition“. Entscheidend ist, dass Stanley hier durchgehend denselben Begriff verwendet, auch wenn er ihn je nach dialektischem Kontext mit anderen Worten benennt.)

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Weg, wie man Fahrrad fährt? Und wenden dann ihre automatischen Anwendungsmechanismen diesen einen Weg immer unterschiedlich an, abhängig davon, ob Adriana durch Göttingen oder Rom oder Amsterdam radelt, ob sie ein Rennen fährt, Zeit hat, und ob sie auf ebener Stecke unterwegs ist oder einen Berg erklimmt? Und beinhaltet der eine Weg dann auch das Aufsteigen, Losfahren, Umdie-Kurve-Fahren, usw.? Oder gibt es einen eigenen Weg für das Aufsteigen und Losfahren? Oder besteht das Losfahren selbst wiederum aus vielen verschiedenen Wegen, für das Festhalten des Fahrrads, das Aufsteigen mit einem Fuß, usw.? Entsprechend beschwert sich auch Kent Bach (2012) über Stanley: „he says surprisingly little about what ways are, as if this is obvious.“ Da dies der zentrale Begriff für Stanleys Konzeption des Regelfolgens ist, droht seine Konzeption schon an dieser Stelle gehaltlos zu werden. Zweitens scheint es entgegen Stanleys Intellektualismus gekonntes, WissenWie manifestierendes Handeln geben zu können, das nicht in der Anwendung eines Wissens um Wege besteht – wenn argumentandi causa einmal ein spezifischerer Begriff des Weges vorausgesetzt wird. So kann Adriana z. B. im Gegensatz zu einem kleinen Kind wissen, wie man mit einem Fahrrad um die Kurve fährt. Aber zumindest in einem naheliegenden Sinne des Begriffs des Weges oder der Methode weiß Adriana nicht von einer Methode,wie sie um die Kurve fährt – sie tut es einfach, und manfestiert dadurch ihr Wissen, wie es geht. Zwar könnte Stanley darauf rekurrieren, dass sich die Wege auch mittels demonstrativer Begriffe spezifizieren lassen könnten; Adriana könnte etwa während ihres Fahrmanövers ausrufen „So, mit dieser Methode hier mache ich es!“. Aber auch dann drohte die Gefahr, dass die intellektualistische Konzeption der Leitung gekonnten Handelns durch einen mentalen Zustand mit propositionalem Gehalt wiederum an die Grenze der Inhaltslosigkeit geriete. Nach dieser Konzeption wäre auch ein Papagei durch einen mentalen Zustand mit propositionalem Gehalt geleitet, wenn er beim Putzen seines Gefieders ausriefe „So, mit dieser Methode hier mache ich es!“. Vielleicht könnte Stanley antworten, dass die um die Kurve fahrende Adriana doch etwas Konkreteres antworten könnte, etwa, dass sie um die Kurve fahre, indem sie lenke. Angenommen, Adriana glaubt auch, dass dies der Fall ist. Dann ist diese Antwort dennoch falsch. Denn ein Fahrrad wird vor allem um die Kurve gefahren, indem das Gewicht verlagert wird, nicht indem gelenkt wird. In einem solchen Fall wüsste Adriana also, wie man um eine Kurve fährt – ihr Körper wüsste es, würde Dreyfus sagen –, auch wenn sie falsche Meinungen über die Methode hat, wie sie es macht. Dies legt nahe, dass es Wissen-Wie ohne das Wissen um Methoden geben kann. Drittens gibt es eine große Klasse ähnlichen Handelns zwischen Reflex und Reflexion, deren regelfolgender Charakter vom Intellektualismus nicht eingefangen werden zu können scheint. So gibt es vieles gekonntes und unreflektiertes

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Handeln, das als regelfolgend analysiert werden sollte, das sich aber durch einige Charakteristika auszeichnet, die dafür sprechen, es als nicht durch mentale Zustände mit propositionalem Gehalt geleitet anzusehen. In diesen Fällen steht nämlich der vermeintliche Gehalt nicht nur nicht bewusst vor dem geistigen Auge des gekonnt handelnden Akteurs, sondern der Akteur verfügt über überhaupt kein autoritatives Selbstwissen in Bezug auf diesen Gehalt; daher müsste er erst lange überlegen, sich selbst beobachten und ggf. Schlüsse ziehen, um sagen zu können, ob er durch ihn geleitet gewesen sein könnte, und möglicherweise würde er es sogar abstreiten. Beispiele sind feinkörnige körperliche Tätigkeiten wie das Aufsteigen auf ein Fahrrad oder das Schnüren von Schnürsenkeln. Auch wenn ein Akteur seine Schnürsenkel immer nach einer bestimmten Regel schnürt, wird er sich erst eine Weile selbst beobachten müssen, um überhaupt erst den Gehalt der Regel spezifizieren zu können, durch die er angeblich die ganze Zeit geleitet gewesen sein soll. Ein anderes Beispiel ist das Wissen, wie man sozialen Normen folgt. Viele Personen wissen etwa, wie man den Normen der Höflichkeit oder der Begrüßung ihrer spezifischen Kultur folgt. Aber es kann sein, dass den vermeintlichen Gehalt dieser Regeln nur nach genauer Selbst-Beoabachtung und unter größter Mühe angeben können. Diese große Klasse des unreflektiert gekonnten Regelfolgens kann der Intellektualist mit seinem Verweis auf die direkte Anwendung mentaler Zustände mit propositionalem Gehalt nicht einfangen. Viertens kann Stanley auch das seltene, aber vorkommende bewusste Anwenden expliziter Regeln nicht verständlich machen. Denn dieses bewusste Anwenden expliziter Regeln scheint in einer eigenen mentalen Handlung zu bestehen. Aber gemäß Stanleys Intellektualismus wird nicht klar, was es heißt, dass eine Regel im Rahmen einer eigenen mentalen Handlung angewandt werden kann, da das einzige Modell der Anwendung von Regeln, das der Intellektualismus bereitstellt, die direkte und jedes gekonnte Handeln strukturierende Anwendung mentaler Zustände ist. Selbst wenn der Intellektualismus mit diesem Phänomen nicht inkompatibel ist, verfügt er somit über keine konzeptuellen Ressourcen, die zu einer Erhellung des Phänomens beitragen könnten. Fünftens ergibt sich als Folge aus den vorherigen Befunden, dass der Intellektualismus nichts an dem regelfolgenden Charakter menschlichen Handelns angemessen und erhellend beschreibt. Für vieles unreflektierte Handeln ist der Intellektualismus zu intellektualistisch, indem er dort von einer Leitung durch mentale Zustände mit propositionalem Gehalt ausgeht, wo Könner spontan regelfolgend handeln, ohne in Bezug auf einen vermeintlichen Gehalt dieser Regeln irgendeine Form von Selbstwissen zu haben. Für das bewusste Anwenden expliziter Regeln ist der Intellektualismus zu un-intellektualistisch, indem er nicht einfangen kann, dass das Anwenden von Regeln in diesen Fällen in einer eigenen mentalen Handlung besteht. Nur nebenbei bemerkt kann erwähnt werden, dass es

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einen tieferen Grund gibt, warum der Intellektualismus hier die psychischen Phänomene regelfolgenden Handelns so schlecht einfangen kann: Der Begriff des propositionalen Gehalts ist von Frege (als „Gedanke“) gerade dezidiert anti-psychologistisch eingeführt worden. Aber nun wird er, verbunden mit dem Konstrukt automatischer Anwendungsmechanismen, von Stanley und Fodor verwendet, um psychische Phänomene zu analysieren. Es sollte nicht verwundern, dass diesem Vorgehen enge Grenzen gesetzt sind. Sechstens schließlich kann der Intellektualismus auch ein weiteres Phänomen nur schwerlich einfangen, nämlich das direkte Interagieren mit Regeln. Ein Wegweiser kann eine Person etwa direkt veranlassen, ihre Richtung zu ändern, und eine rote Ampel, stehen zu bleiben. Der Intellektualismus verfügt aber über keine Ressourcen, um dieses oft unreflektierte Umgehen mit physisch instantiierten Regeln verständlich zu machen.

b Intelligenz Ist der Intellektualismus plausibler, wenn es darum geht, die Intelligenz gekonnten unreflektierten Handelns zu erhellen? Wie gesehen besteht Intelligenz laut Intellektualismus allein in der Leitung eines Handelns durch Fakten-Wissen (S 190): „it is only when our behavior is guided by intellectual recognition of truths that it deserves to be called „intelligent“.“ Die automatischen Anwendungs-Mechanismen seien dagegen nicht intelligent: „One might think that the „mechanisms to put what you know into action“ are themselves states of knowing how. But this cannot be correct. [For], the mechanisms of which Fodor speaks […] lack content.“ Die Idee ist, dass nur die propositionalen Zustände Gehalt haben. Die Aufgabe der Mechanismen ist es gerade, diesen Gehalt anzuwenden. Also können sie selbst keinen Gehalt haben (sonst gäbe es einen infiniten Regress). Aber ist diese Auffassung von Intelligenz plausibel? Erstens führt die intellektualistische Auffassung von Intelligenz schon unabhängig von einer Analyse des Phänomens unreflektierten gekonnten Handelns zu Konsequenzen, die nicht unproblematisch sind. Wenn nämlich Intelligenz allein im Wissen um Fakten bestände, dann hätte dies zur Folge, dass Personen, die im 20. oder 21. Jahrhundert zur Schule gegangen sind, einfach nur aufgrund dieses Umstands deutlich intelligenter wären als ihre Urahnen. Ein durchschnittlicher Schüler im 21. Jahrhundert wäre dann möglicherweise deutlich intelligenter als Newton oder Kopernikus, weil der Schüler über Fakten-Wissen in Bezug auf Relativitätstheorie, Genetik und Neurobiologie verfügte, das Newton und Kopernikus nicht zur Verfügung stand. Dies legt zumindest nahe, dass die intellektualistische Identifikation von Intelligenz mit Fakten-Wissen nicht unproblematisch ist.

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Zweitens krankt Stanleys Intellektualismus daran, dass er nicht in der Lage ist, plausibel auszubuchstabieren, was es heißt, dass ein Könner durch FaktenWissen geleitet ist. Zwar zitiert Stanley zustimmend Railtons Analyse des NormFolgens.Wie oben beschrieben besagt diese in einer besonders schwachen Lesart, dass es dafür, dass eine Regel eine regulative Rolle im Verhalten spiele, schon hinreichend sei, dass ein Handelnder Abweichungen vom regelkonformen Verhalten als Fehler wahrnehme, dann Unwohlsein empfinde und versuche, eine Übereinstimmung mit der Regel wiederherzustellen. Aber diese schwache Lesart ist damit kompatibel, dass der gekonnt Handelnde nicht durch die Regel geleitet ist, indem sie nicht der Gehalt eines mentalen Zustandes ist; er könnte diese Regel z. B. auf Nachfrage nicht angeben können oder sogar abstreiten, durch sie geleitet zu sein. Ein Beispiel hierfür stellen wiederum soziale Normen dar: Eine Person kann den sozialen Normen einer Kultur folgen und Unwohlsein empfinden, wenn sie verletzt werden, aber im Gespräch guten Glaubens behaupten, sie lehne es ganz und gar ab, sich an die kontingenten Gepflogenheiten dieser oder jener Kultur zu halten.¹³ Stanley benötigt also eine substantiellere Konzeption des Geleitetseins durch Regeln. Damit weißt die intellektualistische Analyse intelligenten Handelns als durch Fakten-Wissen geleitetes Handeln eine entscheidende Lücke auf. Drittens konzipiert der Intellektualist den Begriff der Intelligenz anders als er im Alltag und in der Psychologie konzipiert wird. Wie erwartet werden kann, wird der Begriff zwar etwa in der Psychologie auf sehr verschiedene Weise verwendet. Als kleinster gemeinsamer Nenner wird aber meistens eine quantifizierbare kognitive Fähigkeit gemeint, die zu umso erfolgreicherem Handeln ihres Trägers in besonders abstrakten, besonders komplexen, besonders schnell ablaufenden, ganz neuen oder emotional anspruchsvollen Situationen oder dem Berufsleben als ganzem führt, je mehr der Träger über diese Fähigkeit verfügt. Die Qualifikation, dass die Fähigkeit „kognitiv“ ist, besagt lediglich, dass sie entscheidend mit Vorgängen im Gehirn ihres Trägers verbunden ist. Als erster Nachteil ist zunächst einmal lediglich festzuhalten, dass die intellektualistische Konzeption des Begriffs der Intelligenz nicht an diejenigen des Alltags und der Psychologie anschlussfähig ist. Doch hieraus ergeben sich auch weitere Probleme, auf die ich nun eingehen werde. Viertens ergibt sich nämlich aus dem Vorherigen, dass der Intellektualismus vieles menschliche Handeln, bei dem es naheliegt und sinnvoll ist, es als „in-

 Wie ein solches unreflektiertes Regelfolgen tatsächlich möglich ist, zeige ich in den Kapiteln III und IV.

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telligent“ zu bezeichnen, nicht als intelligentes Handeln analysieren kann.¹⁴ So ist es z. B. naheliegend, Intelligenz auch in unbewusstem Handeln zu sehen. Wenn eine Person etwa innerhalb weniger hundert Millisekunden ein Muster in einer komplexen Struktur erkennt, dann ist es naheliegend, der Person eine hohe Intelligenz zuzusprechen. Aber die Fähigkeit zum blitzschnellen Erkennen komplexe Muster wird durch den intellektualistischen Rekurs auf Faktenwissen nicht eingefangen und nicht erhellt. Wenn eine Person zudem oft schnell kreative Einfälle hat, dann ist es naheliegend, der Person eine hohe Intelligenz zuzusprechen. Aber erneut ist dies nichts, das sich allein durch den Rekurs auf Faktenwissen treffen und erhellend ausbuchstabieren ließe. Wenn darüber hinaus eine Person etwa besonders genau und situationssensitiv einen komplizierten Schnitt während einer Operation durchführen kann, dann ist es naheliegend, dieses Handeln als „intelligent“ zu bezeichnen. Aber wiederum kann dieser Aspekt intelligenten menschlichen Handelns nicht allein durch den Rekurs auf Faktenwissen ausbuchstabiert und erhellt werden. Zudem kann es sinnvoll sein, zur Intelligenz so verschiedene Fähigkeiten zu zählen wie Flexibilität, Offenheit für Neues, Bereitschaft, seine Meinungen und Pläne zu ändern, Antizipationsfähigkeit, Assoziationsfähigkeit, analytische Fähigkeiten, logische Fähigkeiten, Abstraktionsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Phantasie, Kombinationsgabe und ein Blick für den Gesamtzusammenhang. Der Intellektualismus kann diese Vielfalt nicht einfangen, wenn er Intelligenz allein auf die Kenntnis von Tatsachen reduziert. Es gibt mithin ein Vielzahl an Phänomenen menschlichen Handelns, die als „intelligent“ zu bezeichnen naheliegt, die der Intellektualismus vor dem Hintergrund seiner Intelligenz-Konzeption aber nicht als „intelligent“ analysieren kann. Fünftens kann der Intellektualismus auch die Intelligenz in gekonntem und unreflektiertem Handeln nicht einfangen. So sind bereits viele Fälle angeführt worden, in denen es sinnvoll sein kann, unreflektiertes Handeln als „intelligent“ zu bezeichnen. Der Phronimos kann intelligent handeln, indem er auf die unmittelbare Hilfsbedürftigkeit der Person in Not direkt reagiert. Der Kleist’sche Ringer kann intelligent handeln, indem er sich mittels einer cleveren und überraschenden Drehung aus der eigentlich aussichtslosen Lage befreit. Gemäß dem

 Aus methodologischen Gründen möchte ich betonen, dass mein Vorwurf an den Intellektualisten nicht ist, den Begriff der Intelligenz „auf nicht intuitive“ Weise zu verwenden. Stattdessen lautet der Vorwurf, dass der Intellektualist sowohl alltags-pragmatisch nützliche als auch zur philosophischen Analyse gekonnten Handelns erhellende Intelligenz-Zuschreibungen ausschließen würde. Auf die Probleme eines philosophischen Rekurses auf Intuitionen für die Art von philosophischem Projekt, das hier verfolgt wird, gehe ich am Ende dieses Kapitels, in Kapitel III und schließlich dezidiert in Kapitel IV unter Rekurs auf Wittgenstein’sche Einsichten ein.

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weiten Intelligenz-Begriff, den ich zuvor als kleinsten gemeinsamen Nenner in Alltag und Psychologie skizziert habe, können all diese Fälle und viele weitere in Abhängigkeit vom alltags-pragmatischen Kontext bzw. vom philosophisch-wissenschaftlichen Zweck als „intelligent“ analysiert werden. Aber dem Intellektualismus steht diese Analyse nicht offen. Sechstens hat das, was oft als Intelligenz angesehen wird, einen Fähigkeitscharakter: Intelligenz scheint zumindest in einem Sinne eine Disposition zweiter Stufe zu sein, bestimmte Tätigkeiten allererst schnell zu erlernen. So scheint es etwa naheliegend, dass eine intelligente Person etwa das Potential hat, ein medizinischer Experte zu werden; wenn die Person dann das Fakten-Wissen erworben hat, ist sie in einem Sinne nicht intelligenter geworden. Aber der Intellektualist muss sagen, dass eine Person je intelligenter ist, über desto mehr FaktenWissen sie verfügt.¹⁵ Siebtens schließlich ergibt sich für den Intellektualismus das Anwendungsproblem, das schon aus den alten Texten Ryles bekannt ist: Es scheint so, dass man ein und dasselbe Stück propositionalen Wissens mehr oder weniger intelligent anwenden kann. Ryle rekurriert hier im Anschluss an Lewis Caroll auf das Beispiel eines Schülers, der den Modus Ponens als Regel akzeptiert, aber es nicht schafft, ihn auch richtig anzuwenden. Und man kann sich leicht andere Fälle vorstellen, in denen zwei Personen ein und dieselbe Regel anwenden, aber ihre Anwendung unterschiedlich intelligent ausfällt. Der Intellektualismus kann diesem Umstand nicht Rechnung tragen.¹⁶

c Kontrolle Ich komme nun zum nächsten Phänomen-Bereich: Wird gekonntes Handeln immer durch mentale Zustände mit propositionalem Gehalt kontrolliert? Stanley immerhin verortet Kontrolle allein in bewusstseinsfähigen mentalen Zuständen, und schreibt (S 170 f.): „As an intellectualist about skilled action, I hold that skilled

 Verpflichtet ist der Intellektualismus zu einer solchen Analyse außerdem deshalb, weil sich Stanley gerade von Ryle abgrenzen muss, der behauptet, Intelligenz und Wissen-Wie bestünden in Fähigkeiten.  Wie oben dargestellt, schreibt Stanley zwar, das Hauptproblem in Ryles Regressargument bestehe in der Unplausibilität der ersten Prämisse. Wie sich nun aber zu ergeben scheint, ist die zweite Prämisse viel bedeutsamer, d. h. grob gesagt der Gedanke, dass eine Proposition mehr oder weniger intelligent angewandt werden kann: Die zweite Prämisse scheint wahr, der Intellektualismus aber mit ihr inkompatibel zu sein (vgl. aber immerhin die Diskussion auf S  – ).

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action is explained by propositional mental states – i. e. our most basic ways of interacting with the world are guided by our propositional knowledge“. Ein erstes Problem für die intellektualistische Sichtweise ergibt sich daraus, dass sie die Responsivität gekonnten Handelns gegenüber Gegebenheiten der Umwelt eines gekonnt Handelnden nur schwerlich positiv erhellen kann. Beispielsweise hängt die Fangkunst des Baseball-Spielers davon ab, dass er auf die Flugkurve des Balles reagiert. Die Gefechtskunst des Kleist’schen Ringers hängt davon ab, dass er auf die Bewegungen seines Gegenübers reagiert. Die Kunst des Chirurgen hängt davon ab, dass er auf die spezifischen Gegebenheiten seines Patienten reagiert. Die Kunst des Bergsteigers hängt davon ab, wie er mit den Gegebenheiten der jeweiligen Felswand zurechtkommt. Der Intellektualismus aber kann all diese Phänomene – das jeweilige spontane, situationsgerechte direkte Reagieren auf die Gegebenheiten der Umwelt – nicht näher erhellen. Denn er tut so, als sei die Umwelt eines Könners bloß die Manege für die Realisation des Wissens, das in seinem Kopf basiert ist, und nicht etwas, das für den Ablauf des fähigen Handelns selbst essentiell ist.¹⁷ Ein zweites Problem für die intellektualistische Sichtweise auf Kontrolle ergibt sich zudem daraus, dass der Intellektualismus Schwierigkeiten hat, verständlich zu machen, dass menschliches Handeln in einem entscheidenden Sinne sogar durch die Umwelt kontrolliert ist. Nehmen wir an, Adriana verfolgt das Projekt, mit dem Fahrrad zum Philosophischen Seminar zu fahren. Dabei muss sie den Zentral-Campus überqueren, auf dem es vor Menschen nur so wimmelt. Da taucht direkt vor ihr eine Lücke in der Menschenmenge auf, durch die sie hindurchfahren könnte. Dann ist es eine naheliegende Sichtweise zu sagen, dass die Lücke eine Aufforderung hindurchzufahren ist, und dass Adriana darauf direkt reagiert, indem sie hindurch fährt. Wie aber sollte der Intellektualist dieses erklären können? Er müsste annehmen, dass ein Handelnder in Bezug auf jede Aufforderung, auf die er reagiert, einen eigenen mentalen Zustand ausbildet, und das in dessen Gehalt Spezifizierte dann jeweils umsetzt. Es ist sicherlich kein Wunder, dass es bisher noch niemandem gelungen ist, eine derartige Position wirklich auszubuchstabieren. Drittens ist es naheliegend, gekonntes unreflektiertes Handeln auch als durch soziale Normen und lebensweltliche Gewissheiten kontrolliert zu analysieren, auch ohne dass der Handelnde dabei durch propositionales Wissen geleitet sein

 Bestenfalls könnte der Intellektualist replizieren, dass bestimmte Aspekte der Umwelt im Gehalt derjenigen Propositionen widergespiegelt sind, zu denen der gekonnt Handelnde in der Wissens-Relation steht. Aber mit einer solchen Replik verfehlte der Intellektualist immer noch das Phänomen des direkten Reagierens auf die spezifischen Eigenheiten einer Situation ohne den Umweg einer propositionalen Widerspieglung.

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muss. So kann eine Person beispielsweise den kulturell richtigen Abstand während eines Gesprächs einhalten, auch ohne dass sie dabei durch einen mentalen Zustand mit einem propositionalen Gehalt geleitet würde. Und Ähnliches gilt etwa für den Umstand, dass sich die Person so verhält, als vertraue sie darauf, dass sich der Boden nicht plötzlich vor ihren Füßen auftut. Der Intellektualismus jedoch kann diese Kontrolle gekonnten Handelns durch soziale Normen und lebensweltliche Gewissheiten nicht einfangen. Viertens ergibt sich für den Intellektualismus das Problem, dass es ohnehin noch einen zweiten Kontroll-Mechanismus menschlichen Handelns geben muss, und die intellektualistische Analyse von Kontrolle damit unvollständig ist. Denn wenn man Handeln nur feinkörnig genug individuiert, kann das Handeln nicht mehr durch etwas mit generellem Gehalt geleitet sein. Wenn eine Person – um auf Schillers Beispiel aus der Einleitung zurückzukommen – beispielsweise den Arm hebt, um einen Gegenstand in Empfang zu nehmen, dann muss auch bestimmt werden, wie genau sie ihre Hand bewegt. Diese Dinge werden irgendwann so situationsspezifisch, dass sie nicht mehr durch etwas mit generellem Gehalt erklärt werden können. Dennoch sind diese Reaktionsweisen flexibel, erlernbar und potentiell intelligent, so dass sie sich mehr verdanken als bloß subpersonalen Automatismen. Hier droht der Intellektualismus wiederum, das Mittelreich nicht nur auf wenig erhellende Weise zu analysieren, sondern es ganz zu übersehen.¹⁸

 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass sich die oben ausgeführte Argumentation gegen eine bestimmte Konzeption der Rolle von Gehalt im Handeln richtet, eine Konzeption, die eine gewisse Verbreitung genießt und die sich zweifelsohne bei Fodor und Stanley findet. Am deutlichsten wird diese Konzeption vielleicht, wenn sie ein wenig überzeichnet dargestellt wird: Dieser Konzeption gemäß besteht Wahrnehmen darin, dass bloße Stimuli aus der Umgebung (etwa Lichtwellen) in eine Repräsentation mit einem bestimmten Gehalt (etwa: „Da steht ein Tiger“) übersetzt werden. Im Rahmen einer solchen Übersetzung wird von Details der konkreten Situation stark abstrahiert; die Augenfarbe des Tigers und das konkrete Muster seines Felles etwa spielt keine Rolle mehr, und dies ermöglicht es dann später etwa, effektiv über Situationen zu kommunizieren. Im Handeln werden dann ebenfalls Repräsentationen mit bestimmten Gehalten, die sich etwa durch Erfüllungsbedingungen auszeichnen, umgesetzt (z. B. „Ich sollte mich vor dem Tiger in Sicherheit bringen“). Diese Gehalte werden dann wiederum in konkretes Verhalten übersetzt, etwa derart, dass Nervenfasern und Muskeln in Bewegung gesetzt werden. Die oben angeführte Argumentation richtet sich nun in einer solchen Weise gegen diese Konzeption der Rolle von Gehalt im Handeln, wie sie sich schon in John Haugelands klassischem Text „Mind Embodied and Embedded“ findet: Um situationsgerecht erfolgreich zu handeln, ist es deutlich effizienter, auf die doppelte Übersetzung der konkreten Einzelheiten in einen repräsentationalen Gehalt und zurück in Aktivität der Muskeln zu verzichten. Stattdessen kann der tatsächliche Erfolg unserer spontanen Interaktionen besser dadurch verständlich gemacht werden, dass darauf hingewiesen wird, dass wir direkt – d. h. ohne Übersetzung in Gehalte und eine anschließende Rückübersetzung – auf die vielen verschiedenen, ganz konkreten Eigenheiten

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Fünftens schließlich gibt es eine spezielle Art von empirischer Evidenz dafür, dass Wissen-Wie manifestierendes Handeln nicht durch propositionales Wissen geleitet sein muss, und der intellektualistische Umgang mit dieser Evidenz ist nicht überzeugend. Bei besagter Evidenz handelt es sich um den Fall der gehirngeschädigten Patentin DF, die zwar auf Nachfrage nicht auf ein Objekt zeigen kann, die aber in der Lage ist, das Objekt, wenn sie nicht darüber nachdenkt, erfolgreich zu benutzen. Beispielsweise kann sie nur, wenn sie spontan handelt, eine bestimmte Karte in einen Schlitz stecken. Ursprünglich ist der Fall in einem Artikel von Goodale und Milner (1992) bekannt gemacht worden, und Josefa Toribio (2008) hat ihn gegen Stanley angeführt, der wie folgt antwortet (S 172): What is the relation between DF and the normal agent? Here is a hypothesis. In posting a card into a slot, both act on their propositional knowledge of how to get a card into a slot. But DF cannot accurately report on the orientation of the slot, whereas the normal agent can. DF’s knowledge of how to put a card into a slot is propositional knowledge that is based on a nonconceptual understanding of the orientation of the slot, understood here in the sense of an understanding of the orientation of the slot that is not available to conscious apprehension. She is able to have propositional attitudes about a way of posting a card into a slot in virtue of this non-conceptual understanding of orientation, yielded by her intact dorsal stream. In contrast, the normal agent does have consciously available knowledge of the orientation of the slot before she acts. This is a difference between DF and the normal agent, but not one that can be used to deny that DF’s action is guided by propositional knowledge of how to put a card into a slot.

einer Situation reagieren können. In diesem Sinne ist (laut Haugelands und laut meiner Argumentation) ein Rekurs auf den Begriff des Gehalts problematisch. Dabei soll hier aber nicht so weit gegangen werden,wie Dan Hutto und Erik Myin () gehen,wenn sie in ihrem Buch Radicalizing Enactivsm. Basic Minds without Content vorschlagen, zur Analyse unreflektierten Handelns („basic minds“) auf den Begriff des Gehalts vollkommen zu verzichten. In einer Konzeptualisierung, die sich von der zuvor kritisierten unterscheidet, kann der Begriff des Gehalts durchaus einen philosophischen Wert haben. Beispielsweise kann er zu rein beschreibenden Zwecken dazu gebraucht werden zu sagen, dass eine Erfahrung eines Akteurs einen bestimmten Gehalt hat (die Präsenz des Tigers kann etwa – so kann zumindest gesagt werden – eine Erfahrung mit dem Gehalt eines furchteinflößenden Tigers hervorrufen, ohne dass man deswegen gezwungen ist, zu Erklärungszwecken zu stipulieren, dass der Akteur den Tiger mental repräsentiert). Zudem kann einem Akteur zu Erklärungszwecken ebenfalls der Besitz mentaler Zustände mit bestimmten Gehalten zugeschrieben werden; einem spontan vor dem Tiger Fliehenden kann etwa zugeschrieben werden, er sei der Überzeugung, Tiger seien gefährlich. Entscheidend ist hier aber, dass bei dem Tätigkeiten einer derartigen Zuschreibung die zugrunde liegenden kognitiven Mechanismen noch unverstanden sind; und philosophisch problematisch werden würde es wiederum, wenn man aus Mangel an Alternativen auf das zuvor kritisierte Modell der Anwendung repräsentierter Gehalte zurückgriffe.

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Aber was soll es noch heißen, dass DF aufgrund ihres intakten dorsalen Strangs propositionale Einstellungen bzgl. eines Weges haben kann, die Karte in den Schlitz zu stecken? Auch wenn Stanley hier schreibt, dass DF durch propositionales Wissen geleitet sei, fehlen ihrem Handeln viele der Charakteristika, mittels derer Stanley an anderen Stellen durch Wissen geleitetes Handeln charakterisiert. So wird DF keine Antwort auf die Frage wissen, wie man den die Karte in den Schlitz steckt, sie wird keine solchen Überzeugungen über ihr vermeintliches Wissen-Wie haben, dass Wissen-Zuschreibungen an sie opake Kontexte kreieren würden, und sie wird auch kein Wissen um den kontrafaktischen Erfolg des Kartein-den-Schlitz-Steckens haben.

d Bewusstsein Ist die intellektualistische Analyse der Rolle des Bewusstseins im gekonnten Handeln überzeugend? Um Missverständnissen in der folgenden Argumentation vorzubeugen, ist es hilfreich, die intellektualistische Position zunächst noch einmal deutlich zu machen. Dazu ist es hilfreich, grob zwischen drei Arten des Vorliegens von Bewusstsein im Handeln zu unterscheiden. Erstens kann ein einfaches (erst-stufiges) Bewusstsein vorliegen; man kann sich z. B. bewusst sein, wie man jetzt gerade mit dem Auto rückwärts einparkt. Zweitens kann ein Meta-Bewusstsein vorliegen: Man kann sich bewusst sein, dass man sich bewusst ist, z. B. jetzt gerade mit dem Auto rückwärts einzuparken. Und drittens kann auch gar kein Bewusstsein in Bezug auf relevante Eigenschaften seines Handelns vorliegen. Diese Unterscheidung ist wichtig aufgrund von etwas, das oben dargestellt worden ist: Stanley wehrt sich gegen den Ryle’schen Vorwurf, Intelligenz überzuintellektualisieren. Ryle argumentiere nur, dass es problematisch sei, davon auszugehen, Handeln, das propositional geleitet sei, müsse mit Meta-Bewusstsein stattfinden. Aber gekonntes Handeln könne auch durch propositionales Wissen geleitet sein, indem es lediglich mit einfachem Bewusstsein stattfinde. Und dass Stanley ein solches Bewusstsein voraussetzt, wird zudem nicht zuletzt daran deutlich, dass er behauptet, Wissen-Wie sei ein de se Wissen, stehe in einem praktischen Modus der Präsentation, kreiere opake Kontexte, und bestehe darin, die Antwort auf eine Frage zu wissen.¹⁹ Dagegen werde ich argumentieren, dass gekonntes Handeln auch ohne einfaches Bewusstsein stattfinden kann.

 Auch Wallis () führt gegen Stanley an, dass ein Großteil gekonnten Handelns außerhalb des Bewusstseins abläuft. Stanley verteidigt sich gegen diesen Vorwurf damit, dass er sagt, dieser

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Ein Problem für die Annahme, gekonntes Handeln müsse immer mit einfachem Bewusstsein ablaufen, stellt die Existenz unbewusster und gekonnter Interaktionen dar. Man kann sich etwa eine Person vorstellen, die schnell die Treppe herunterlaufen kann, ohne sich bewusst zu sein, oder überhaupt mit Bewusstsein darauf zugreifen zu können, wie sie dieses gekonnte Handeln vollbringt. Das unbewusst manifestierte Wissen-Wie scheint einem bewussten Zugriff nicht ohne Weiteres zugänglich. Oder man kann sich eine Person vorstellen, die mit dem Fahrrad oder dem Auto einem anderen Verkehrsteilnehmer, der plötzlich bremst, so schnell gekonnt ausweicht, dass sie sich dieses Handelns erst nach Abschluss des Handelns gewahr wird. Es gibt mittlerweile eine Fülle an wissenschaftlichen Evidenzen, dass Menschen zumindest sehr feinkörnig individuiertes Handeln oft unbewusst verrichten. Beispiele sind etwa die Studien zur Willensfreiheit im Anschluss an das Libet-Experiment oder Studien in der Sozialpsychologie (vgl. für Übersichten z. B. Bargh&Chartland 1999 und Wegner 2002, vgl. auch Pacherie 2011).

e Sprache Ist die intellektualistische Analyse der Rolle von Sprache im gekonnten Handeln plausibel? Zwar sagt der Intellektualismus nicht viel über diese Rolle, aber immerhin zeichnet er sich durch die These aus, dass jemand, der über Wissen-Wie verfügt, die Antwort auf die Frage weiß, wie er etwas gemacht hat. Plausiblerweise geht Stanley dabei davon aus, dass der Könner auch auf demonstrative Begriffe der Form „So, auf diese Weise mache ich es!“ zurückgreifen kann, und dass er derartige Antworten nicht während der Ausführung des gekonnten Handelns selbst geben können muss. Ein erstes Problem für den Intellektualismus ergibt sich daraus, dass er die Gemeinsamkeiten menschlichen und tierischen Wissen-Wies nicht einfangen kann. Wenn es für Wissen-Wie essentiell ist, dass derjenige, der über dieses Wissen-Wie verfügt, Antworten auf Fragen geben können muss, dann können Tiere (und kleine Kinder) nicht über Wissen-Wie verfügen, insofern sie nicht eine Sprache besitzen, die anspruchsvoll genug ist, um die entsprechenden Antworten geben zu können (vgl. Noë 2005). Der Intellektualist könnte sich zwar damit zu

Punkt sei mit seiner Position verträglich, da er internalistische Wissens-Konzeptionen ablehne, denen gemäß ein Wissender darum wissen muss, dass er etwas weiß (vgl. S ; Stanley lehnt also das sogeannte KK-principle ab, vgl. Williamson ). Aber Stanley setzt an anderen Stellen, die ich gerade exemplarisch angeführt habe, Bewusstseinsfähigkeit voraus und seine Replik auf Wallis verfehlt daher ihr Ziel.

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verteidigen versuchen, dass eine Zuschreibung von Wissen-Wie an Tiere letzten Endes nicht mehr als eine von außen vorgenommene Zuschreibung sei, bei der die Tiere aus einem anthropozentrischen Blickwinkel betrachtet würden. Und dieser Punkt mag zutreffen, wenn etwa gesagt wird, eine Spinne wisse, dass sie gerade Beute gefangen habe, und freue sich schon auf die Nachspeise. Aber entscheidend ist, dass das gekonnte Handeln vieler Tiere so strukturgleich zum menschlichen Handeln ist, dass die kognitive Komponente dieses Handelns bei Tieren auf dieselbe Weise analysiert werden sollte wie diejenige beim Menschen. Der Affe weiß, wie man mit dem Stock das Zuckerstück angelt, genauso wie der Mensch. Der Hund weiß, wie man eine Frisbee fängt, genauso wie der Mensch. In keinem Fall scheint für eine derartige Tätigkeit der Besitz von Sprache vorausgesetzt zu sein. Zweitens wird die Sichtweise, dass man gekonntes, Wissen-Wie manifestierendes Handeln verrichten kann, ohne dabei über Sprache zu verfügen, dadurch bestärkt, dass zumindest in einigen Fällen gekonnten Handelns, die primär körperliches Handeln betreffen, andere Hirnteile involviert sind als beim Gebrauch von Sprache (vgl. Devitt 2011). Entwicklungsgeschichtlich ist es dabei auch sehr naheliegend, dass Menschen und viele Tiere in Bezug auf bestimmte basalere und eher motorische Tätigkeiten über strukturähnliche Hirnteile verfügen, während dies hinsichtlich sich erst später entwickelt habender, mit dem Gebrauch von Sprache assoziierbarer Hirnteile nicht der Fall ist. Das Bestehen strukturähnlicher kognitiver Grundlagen jener Formen des Wissen-Wie manifestierenden Handelns legt vor diesem Hintergrund nahe, die kognitive Komponente jenes gekonnten Handelns auch auf ähnliche Weise zu analysieren. Drittens schließlich ist der Punkt zu nennen, dass gekonntes, Wissen-Wie manifestierendes Handeln und die Fähigkeit, Aspekte der Erfahrung dieses Handelns sprachlich explizit zu machen, grundverschieden sind und voneinander dissoziiert werden können. Der taubstumme Praktiker kann z. B. eine körperliche Tätigkeit wie Kochen perfekt verrichten können, ohne irgendeine Frage beantworten zu können, und der Literaturkritiker kann andersherum allerhand Fragen in Bezug auf den Schreibstil seiner neuesten Rezension beantworten können, auch wenn dieser Stil bestenfalls als mittelmäßig eingeschätzt werden kann. Somit ist es naheliegend zu sagen, dass die Fähigkeit zur Verbalisierung einfach eine zusätzliche Fähigkeit ist, die in einigen Fällen gekonnten Handelns vorliegen kann und in anderen nicht. Dass sie aber in einigen Fällen auch nicht vorliegen kann, kann der Intellektualismus nicht einfangen.

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f Kognition Ist die intellektualistische Analyse plausibel, Geist und Kognition vor allem in dem Unterhalten mentaler Zustände zu verorten, während es ansonsten primär subpersonale automatische Anwendungsmechanismen dieser Zustände gebe? Ein erstes Problem des Intellektualismus ist, dass er in Bezug auf die Kognition unreflektiert gekonnt Handelnder insgesamt sehr schweigsam ist. So liegt etwa die Frage nahe, ob ein Experte die Welt in seinem Expertise-Gebiet auch anders wahrnimmt. Ebenfalls liegt die Frage nahe, wie die Erfahrung eines gekonnt Handelnden beschaffen ist. Aber Stanleys Intellektualismus schweigt sich zu diesen Fragen aus. Zweitens scheint es entgegen der Aussage des Intellektualismus auch möglich zu sein, auf eine Weise zu handeln, die nicht in der Anwendung von mentalen Zuständen besteht. Man denke etwa an das spontane Fangen eines Balls, das mühelose Ergreifen einer Türklinge beim Betreten eines Raumes, das Schlagen eines Golfballs oder das instantane Huschen durch eine Lücke in einer Menschenmenge. Diese Tätigkeiten sind in einem wichtigen Sinne nicht durch die Anwendung mentaler Zustände kontrolliert. Und damit kann ihr Zustandekommen auch nicht unter Rekurs auf subpersonale automatische Anwendungsmechanismen verständlich gemacht werden. Denn erstens verdankt sich der Begriff des Anwendungsmechanismus gerade dem Gedanken der Anwendung von etwas. Aber wie soll ein Anwendungsmechanismus wirksam werden, wenn es nichts gibt, das angewandt werden könnte? Zweitens sind die genannten Tätigkeiten komplex, situationsspezifisch, kulturell geformt und erlern- und trainierbar und damit alles andere als bloße Automatismen. Drittens können Ausübungen der Tätigkeiten ganzen Personen zugerechnet, und eine Person etwa dafür gelobt werden, die Frisbee gefangen zu haben, so dass es problematisch wäre, jene Tätigkeiten als rein subpersonale Angelegenheiten darzustellen, wie der Intellektualismus nahelegt. Stanley könnte replizieren, die genannten Tätigkeiten seien zwar tatsächlich nicht durch ein Wissen um Wege geleitet, aber dafür seien sie auch am Ende nicht intelligent und keine Manifestation von Wissen-Wie, so dass seine intellektualistische Theorie ohnehin nicht auf diese Fälle stupiden Handelns anwendbar sei. Aber einerseits gibt es gute Gründe, jene Tätigkeiten als „intelligent“ und „Wissen-Wie manifestierend“ zu bezeichnen, etwa, weil Roboter und kleine Kinder sie mitunter nicht verrichten können, und weil Menschen mitunter lange trainieren müssen, um sie – etwa im Falle eines schwierigen Fribee-Wurfs – gekonnt verrichten zu können. Und andererseits hätte der Intellektualismus auch dann ein Problem, wenn die genannten Tätigkeiten nicht als „intelligent“ bezeichnet werden würden, denn dann würden dem Intellektualismus immer noch die Ressourcen fehlen, einen großen Teil menschlichen Handelns verständlich zu

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machen. Doch das intellektualistische Ziel ist es, nicht weniger zu erklären als „our most basic ways of interacting with the world“ (S 170 f.). Drittens ist es ein Problem des Intellektualismus, dass er mit seinem Dualismus aus mentalen Zuständen mit propositionalem Gehalt und subpersonalen Anwendungsprozessen den Menschen auf dubiose Weise zweiteilt. So kann sich die Persönlichkeit eines Menschen gerade darin zeigen, wie er eine gegebene Regel anwendet. Aber laut Intellektualismus wäre dies allein eine Angelegenheit subpersonaler Mechanismen. Es kann darüber hinaus sogar sein, dass das, was die Person in den Augen ihrer Bekannten am meisten ausmacht, Texturen in ihrem Verhalten sind, in Bezug auf die sie keine mentalen Zustände ausgebildet hat (hier greife ich wiederum auf Schillers in der Einleitung diskutierten Gedanken zurück). Aber der Intellektualismus droht erneut, diese Teile der Persönlichkeit eines Menschen auf einen Teil von ihr zu reduzieren, nämlich auf subpersonale Anwendungsmechanismen. Und zudem können Dinge wie Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle überhaupt erst dazu führen, dass eine Person erst bestimmte Überzeugungen erwirbt, um deren Rechtfertigung sie sich dann später bemühen kann. Viertens schließlich muss sich der Intellektualismus vor das Problem gestellt sehen, individuelle Unterschiede zwischen verschiedenen gekonnt Handelnden nicht mehr einfangen zu können. So zeichnen sich nicht zuletzt die professionellsten Experten etwa in Kunst, Violinspiel, Operngesang, Kochkunst oder Fußball durch individuelle Stile aus, und das selbst dann, wenn sie dieselbe Schule ihres Faches besucht haben. Laut Intellektualismus sollte dagegen erwartet werden, dass viele dieser Experten in ihren Schulen dieselben Fakten über Wege, wie man etwas macht, gelernt, und dann nur noch ihre Anwendungsmechanismen trainiert haben. Dann aber könnte der Intellektualismus nicht die individuellen Unterschiede im gekonnten Handeln anerkennen, die es de facto gibt.

g Lernen Ist die intellektualistische Analyse des Lernens überzeugend? Laut Stanley gibt es nur eine Art des Lernens, nämlich das Lernen von Fakten. Wenn ein solcher Fakt einmal gelernt worden ist, kann die Person durch weiteres Training nur noch die Mechanismen verbessern, die dieses propositionale Wissen automatisch anwenden. Aber ist dies plausibel? Ein erstes Problem ist, dass man Wissen-Wie oft nicht durch die explizite Vermittlung von Fakten im Unterricht erwirbt, sondern durch unbewusste Nachahmung. Dabei ist oft unklar, wo genau überhaupt eine Rolle für propositionalen Gehalt ist. Einiges dieses durch unbewusste Nachahmung erworbenen

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Wissens kann dabei sogenanntes „tacit knowledge“ ausmachen, das etwa innerhalb einer Organisation von Generation zu Generation weitergegeben wird, ohne dass es jemals in expliziten Regeln kodifiziert worden ist oder überhaupt mühelos in expliziten Regeln kodifiziert werden könnte (vgl. Polanyi 1962, vgl. Collins 2010). Zweitens ist es naheliegend, einen Lernprozess in einigen Fällen so zu analysieren, dass der Lernende graduell im Verlaufe seines Lernprozesses immer mehr Wissen-Wie erwirbt. Aber der Intellektualismus kann dies nicht sagen, da im Verlaufe eines Lernprozesses laut Intellektualismus lediglich die automatischen Mechanismen trainiert werden, die gerade kein Wissen-Wie manifestieren.²⁰ Drittens ist es naheliegend zu sagen, dass auch kleine Kinder und Tiere etwas lernen. Offensichtlicherweise kann man ihnen etwas beibringen. Aber sie verfügen in einem wichtigen Sinne (noch) nicht über propositionales Wissen – auch wenn man es ihnen von außen zuschreiben kann, was aber ein anderes Thema ist. Viertens schließlich ist es für den Intellektualismus ein großes Problem zu erklären, wie überhaupt das erste propositionale Wissen erworben kann. Hierzu kann der Intellektualist nichts sagen.²¹

h Expertise Schlussendlich sollte eine überzeugende Theorie gekonnten Handelns auch das Handeln gerade derjenigen verständlich machen können, deren Wissen-Wie wir am meisten schätzen, nämlich das Handeln von Experten. Experten zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie in ihrem Handeln sehr feinkörnig auf die

 Auch wenn Stanley dies nicht so sagt, könnte man ihn durch den Hinweis verteidigen wollen, dass man im Verlaufe eines Lernprozesses auch mehr propositionales Wissen erwerben könne, etwa, wenn man von einem Trainer explizite Anweisungen erhalte. Hierauf ist zu antworten, dass es auch Fälle von Lernverläufen geben kann, bei denen der Lernende kein neues Faktenwissen erwirbt, bei denen es aber dennoch naheliegt, vom Lernenden zu sagen, er erwerbe immer mehr Wissen-Wie– etwa, wenn der Tennis-Spieler nach tausenden Schlägen immer präziser auf heranfliegende Bälle reagieren kann, ohne dabei im Verlaufe seines Lernprozesses immer mehr Fakten-Wissen erworben zu haben. Zudem ist es naheliegend davon auszugehen, dass man im Verlaufe des Lernens graduell immer mehr Wissen-Wie erwerben kann, während ein intellektualistischer Rekurs auf einzelne diskrete Propositionen diese Gradualität nicht einzufangen in der Lage ist.  Man könnte argumentieren, dass sich dieses Problem auch für einige andere philosophische Begriffe wie den Begriff des Begriffs oder den Begriff der Repräsentation stellt. Im dritten Kapitel werde ich jedenfalls eine Konzeption vorstellen, mittels derer diesem Problem entgangen werden kann – so zumindest mein Vorschlag.

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aktuellen Erfordernisse der konkreten Situation reagieren können, in der sie sich befinden, dass sie auch mit neuen Situationen flexibel umgehen können, und dass sie gelegentlich, wie in der Einleitung beschrieben, im sogenannten „Flow“ handeln. Zwar schweigt sich Stanley zum Phänomen des Flows aus, aber immerhin für die anderen der genannten Phänomene bietet er intellektualistische Erklärung an. So könne der Experte deshalb so flexibel auf konkrete Situationen und auf Neueres reagieren, weil er nicht nur von einem einzigen Weg, wie man etwas mache, wisse, sondern von allen relevanten Wegen, weil dieses Wissen direkt „implementiert“ sei, und weil dieses Wissen mit einer komplexen Struktur von Dispositionen einhergehe, aufgrund derer sich ein Experte auch in neuen Situationen spielend zurecht finde. Aber erstens ist dem Intellektualismus vorzuwerfen, dass etwa sein Verweis auf Dispositionen kaum erhellend ist: Zu sagen, dass sich ein Experte in neuen Situationen gut zurecht findet, weil er über die Dispositionen verfügt, sich in neuen Situationen gut zurecht zu finden, ist zwar nicht direkt falsch, aber auch nicht erkenntnisförderlich. Zweitens ist an der intellektualistischen Analyse von Expertise der Aspekt nicht überzeugend, dass ein Experte von allen Wegen wisse, wie man eine bestimmte Tätigkeit ausführe. Denn es kann auch Experten geben, die nur einen einzigen Weg kennen, wie man etwas macht, und die diesen Weg perfekt umsetzen können. Ein eigenwilliger Chirurg könnte etwa die Publikationen in Fachzeitschriften allesamt ignorieren, aber einen einzigen Weg zur Durchführung von Herz-Operationen soweit perfektioniert haben, dass die Welt bei ihm Schlange steht. Der Intellektualismus kann nicht einfangen, dass es sich bei diesem Arzt um einen Experten handelt. Wichtigen Formen von Expertise kann der Intellektualist damit nicht Rechnung tragen. Drittens kann Expertise auch darin liegen, wie man unbewusst auf die situationsspezifischen Gegebenheiten seiner Umwelt reagiert. Man kann sich etwa vorstellen, dass der eigenwillige Arzt sein Skalpell besonders sensibel und auf die Anatomie des Patienten abgestimmt bewegen kann. Aber für den Intellektualisten sind diese Dinge lediglich die Resultate unintelligenter automatischer Anwendungsmechanismen. Schließlich kann es viertens Fälle von Personen geben, die in Bezug auf ein Gebiet Experte sind, auch wenn sie Tätigkeit in diesem Gebiet aus körperlichen Gründen nicht mehr selbst verrichten können, und Stanleys Intellektualismus kann diesen Fällen nicht Rechnung tragen. Beispielsweise kann der aus Altersgründen zurückgetretene Fußballspieler TV-„Experte“ werden und die alternde Sopransängern, deren Stimme sie im Stich lässt, als Expertin in einer Jury tätig sein. In ihrem ursprünglichen Artikel zur Wissens-Wie Debatte führen Stanley und Williamson (2001: 6) auch unter Rekurs auf Carl Ginet und Jeff King das Beispiel

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eines (alten) Ski-Lehrers an, der wisse, wie man einen bestimmten Stunt ausführe, ohne es selbst zu können. Mit diesem Beispiel wenden sie sich gegen Ryles Identifikation von Wissen-Wie mit Fähigkeiten. Aber im Rahmen seiner in seinem Buch abgewandelten Analyse kann Stanley diesen Fall nicht mehr auf diese Weise analysieren, auf die er ihn in seinem gemeinsam mit Williamson verfassten Artikel analysiert hat. Denn nun gilt laut dem Intellektualismus, dass eine Person, die über Wissen-Wie verfüge, von einem Weg für sie selbst wisse, kontrafaktischen Erfolg in der Ausübung der entsprechenden Tätigkeit zu haben. Der alte Ski-Lehrer hat aber kein entsprechendes Wissen-Wie über sich selbst; im Gegenteil weiß er nur zu gut, wie kläglich er mit seinem alten und gebrechlichen Körper scheitern würde. In seinem neuen Buch versucht Stanley vor diesem Hintergrund, diesen und ähnliche Fälle dadurch einzufangen, dass er sagt, ein über Wissen-Wie Verfügender habe das modale Wissen, dass er selbst unter normalen Umständen Erfolg in der Ausübung der entsprechenden Tätigkeit habe (S 127 ff.). Auch wenn der Pianist durch einen tragischen Unfall beide Arme verloren habe, wisse er demnach, wie man Klavier spiele, weil er von einem Weg wisse, mittels dessen er unter normalen Umständen – wenn er noch seine Arme besäße – kontrafaktischen Erfolg im Klavierspielen hätte. Aber diese Analyse trifft nicht auf den Fall des gealterten Ski-Trainers zu. Denn es ist vollkommen normal, dass man ab einem gewissen Alter die entsprechenden Stunts nicht mehr selbst ausführen kann. Der Trainer wird lange schon damit gerechnet haben und auch wissen, dass er die Stunts nie wieder selbst ausführen können wird. Dennoch ist es – mit Stanley und Williamson 2001 und gegen Stanley 2011 – naheliegend von ihm zu sagen, dass er immer noch über das Wissen verfüge, wie man Ski fährt und entsprechende Stunts ausübt. Es ist naheliegend, ihn als „Experten“ zu bezeichnen, aber der Intellektualismus kann diesem Umstand nicht Rechnung tragen. Insgesamt kann der Intellektualismus damit auch Expertise als den Bereich nicht verständlich machen, der aus intellektualistischer Sicht besonders intelligent sein müsste. Der Intellektualismus ist keine überzeugende Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns. Diejenige Position, durch die die Existenz eines Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion nicht anerkannt wird, darf selbst nicht anerkannt werden. Dass dieser Befund nicht einfach in der Aufdeckung einer idiosynkratrischen Schwäche Jansons Stanleys besteht, sondern im Gegenteil ein tieferliegendes Problem einer grundsätzlichen intellektualistischen Denktendenz manifest macht, werde ich im Folgenden diagnostizieren.Viele Intellektualisten sind durch ähnliche im Hintergrund liegende Vorstellungen motiviert und viele verwenden eine ähnliche Methodologie. Insofern stellen sich viele der Probleme, die sich für Stanley stellen, auch für diese Proponenten anderer intellektualistischer Theorien; und insofern kann gesagt werden, dass es über die Kritik an Jason Stanleys

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Ansatz hinausgehend einen Wert hat, auf jene Probleme aufmerksam gemacht zu haben.

3 Diagnose Stanley bemüht sich explizit, seinen Intellektualismus nicht zu intellektualistisch werden zu lassen und die kognitive Komponente gekonnten Handelns nicht überzuintellektualisieren. Dennoch kann sein Intellektualismus vielen Phänomenen und Aspekten der kognitiven Komponente gekonnten Handelns nicht Rechnung tragen. Hat Stanley sein Vorhaben einfach schlecht umgesetzt? Meine Diagnose ist eine andere: Die Probleme des Intellektualismus haben eine tieferliegende Wurzel, und diese liegt in der von Stanley verwendeten Methodologie. Wie ich zu diagnostizieren vorschlage, begeht Stanley etwas, das man als „linguistischen Fehlschluss“ bezeichnen könnte. Ich werde nun zuerst erläutern, um welche Art von Schluss es sich dabei meiner Diagnose nach handelt, und dann, warum der Schluss ein Fehlschluss ist. Abschließend werde ich verdeutlichen, welche konkreten Konsequenzen dies für die Gestalt der Stanley’schen Theorie hat. Was ist die Art von Schluss, bzw. die Art von Methodologie, mittels derer Stanley seine intellektualistische Theorie gewonnen hat? Wie gesehen versteht Stanley seine Theorie explizit als Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns. Ihren methodologischen Ursprung hat die Theorie aber anderswo, nämlich in einer linguistischen Analyse sprachlicher Zuschreibungen. Wie dargestellt motiviert Stanley seine intellektualistische Konzeption von Wissen-Wie über eine semantische Analyse sprachlicher Zuschreibungen der Form „S knows how to A“. Aus dieser Analyse schließt Stanley dann auf die Metaphysik des Mentalen. Ein semantischer Aufstieg hinsichtlich mentalen Vokabulars sei demnach der Schlüssel zum menschlichen Geist. Und auch, wenn Stanley, wie dargestellt, selbst zugesteht, dass seine Metaphysik des Mentalen wahr und seine semantische Analyse falsch sein könnte,wird deutlich, dass seine Position in einer Analyse sprachlicher Strukturen ihre Wurzeln hat. Weil Zuschreibungen der Form „S knows how to A“ linguistisch am besten so analysiert werden könnten, dass sie eine eingebettete Frage ausdrückten, geht Stanley davon aus, dass jemand, der über Wissen-Wie verfüge, die Antwort auf eine Frage wissen müsse. Und auch die anderen Aspekte seiner Analyse von Wissen-Wie gewinnt Stanley auf diese Weise. Allgemeiner gesagt geht die von Stanley verwendete Methodologie davon aus, dass der Gehalt sprachlicher Äußerungen ein Schlüssel für eine dahinter liegende Theorie ist, die mittels rationaler Rekonstruktion gewonnen werden kann. Dabei sind dann Intuitionen, wie man einen Begriff verwenden würde, ebenfalls ein

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probates Mittel, um Hypothesen hinsichtlich der richtigen rationalen Rekonstruktion zu testen. Ein anderes, etwas schematischeres Beispiel für diese Methodologie ist folgendes. Im Alltag verwenden wir in bestimmten pragmatischen Kontexten Äußerungen wie „Sei nicht so willensschwach, streng‘ dich mehr an!“. Innerhalb einer lebensweltlichen Situation kann diese Äußerung für einen Hörer beispielsweise eine direkte Aufforderung sein, mehr Leistung zu bringen. Gemäß der Stanley’schen Methdologie würde der Gehalt jenes geäußerten Satzes nun als aufschlussgebend über eine dahinterliegende Theorie verstanden. So könnte etwa angenommen werden, der Satz lasse schon erkennen, dass es so etwas wie einen Willen gebe und dass dieser Willen entweder stark oder schwach sein könne. Um mehr über diesen Willen zu erfahren, müsste man dieser Methodologie zufolge weitere sprachliche Intuitionen hinsichtlich von Sätzen untersuchen, in denen von diesem Willen die Rede. – Freilich beruft sich Stanley in seiner Methodologie nicht bloß auf sprachliche Intuitionen, sondern auf ihre Systematisierung in linguistischen Theorien. Aber die Struktur des Prozesses des vermeintlichen Erkenntnisgewinns über die Natur des menschlichen Geistes ist grundsätzlich dieselbe. Warum aber sollte man diesen Schluss von einer semantischen Analyse sprachlicher Zuschreibungen auf die Beschaffenheit der kognitiven Komponente menschlichen Handelns als problematisch oder gar als Fehlschluss ansehen? Im dritten und vor allem im vierten Kapitel werde ich auf die Gründe, den linguistischen Fehlschluss als Fehlschluss anzusehen, ausführlicher eingehen und ihm, inspiriert u. a. durch Husserl, Heidegger und Wittgenstein, eine philosophisch überlegene Methodologie gegenüber stellen. Aber die wichtigsten Gründe, warum der linguistische Fehlschluss ein Fehlschluss ist, sind schnell genannt. Der linguistische Fehlschluss ist ein Fehlschluss, weil eine Analyse von Intuitionen und sprachlichen Zuschreibungen nicht zwingend eine legitime Erkenntnisquelle bezüglich der Natur des menschlichen Geistes ist. Es könnte sein, dass das Ergebnis einer solchen Analyse die kognitive Komponente gekonnten Handelns nicht angemessen oder nicht hilfreich beschreibt. Dies kann zunächst anhand von einer Analogie verdeutlicht werden. In der Alltagssprache wird beispielsweise von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen geredet. Würden Physiker die Stanley’sche Methodologie voraussetzen, müssten sie weitere Details über Sonnenaufgänge herausfinden, indem sie Labor und Sternwarte verlassen und zusammen mit Linguisten Menschen auf dem Marktplatz über ihre Intuitionen in Bezug auf das Wort „Sonnenaufgang“ befragten. Aber ein solches Vorgehen erscheint offenkundig nicht allzu glücklich. Denn erstens gibt es bessere Möglichkeiten, Sonnenaufgänge zu untersuchen, und diese besseren Möglichkeiten hängen etwa mit der Beobachtung von Phänomenen und der Systematisierung entsprechender

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Evidenzen zusammen (ganz zu schweigen von kontrollierten Experimenten, die oft zur Verfügung stehen). Zweitens könnten die Intuitionen und sprachlichen Zuschreibungen schlicht und einfach falsch sein, oder, genauer gesagt, allzu grob und wenig hilfreich für Zwecke des Erkenntnisgewinns. Ganz analog verhält es sich in der Philosophie des Geistes und Handelns. Es gibt erstens zum Zweck der Erkenntnisgewinns über die Natur menschlichen Handelns fruchtbarere Möglichkeiten, die kognitive Komponente gekonnten Handelns zu untersuchen, und diese Möglichkeiten haben beispielsweise mit den unterschiedlichen Spielarten der Phänomenologie bei Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty zu tun, ebenso wie mit Evidenzen aus Psychologie und Kognitionsund Neurowissenschaften. Zweitens können die Intuitionen und sprachlichen Zuschreibungen wiederum für Zwecke des Erkenntnisgewinns allzu grob und wenig hilfreich sein. Und dass dies nur allzu wahrscheinlich ist, sollte bei Lichte betrachtet auch erwartet werden. Immerhin liegt es nahe, dass sich die Alltagssprache und insbesondere die darin enthaltene Volkspsychologie²² zu rein pragmatischen Zwecken und unter zufälligen und oft unbedachten Umständen entwickelt haben, und nicht, um die Natur des menschlichen Geistes möglichst feinfühlig und feinkörnig zu beschreiben. Äußerungen von Sätzen wie „Du bist willensschwach“ können im Alltag eher dazu dienen, eine Person dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern; dagegen ist der Zweck der Alltagssprache nicht, zum Zwecke eines Erkenntnisgewinns die kognitive Komponente gekonnten Handelns gründlich zu analysieren. Zwar hätten freilich sich die alltäglichen Zuschreibungen kaum bewährt, wenn sie überhaupt nichts treffen würden. Aber dies heißt nicht, dass sie die kognitive Komponente besonders gut und genau treffen. Das Bild, dass die Sonne auf der einen Seite aufgeht, über den Himmel läuft, und auf der anderen Seite wieder untergeht, trifft immerhin sehr grob ein tatsächliches Phänomen, und dass dies so ist, kann dazu beigetragen haben, dass sich die Rede von Sonnenaufgängen für alltägliche Zwecke bewährt hat. Aber dies zeigt nur, dass die Zwecke des alltäglichen Gebrauchs von Sprache vollkommen andere sein können als der Zweck des Erkenntnisgewinns (etwa über Naturphänomene oder  Ich verwende den Ausdruck „Volkspsychologie“, um denjenigen Bereich alltäglichen Sprachgebrauchs zu bezeichnen, der die Themenfelder Geist und Handeln betrifft. Dazu gehören beispielsweise Äußerungen wie „Sie hat die Überzeugung, dass …“, „sie hofft, dass“, und auch etwa die Verwendung abstrakter Charaktereigenschaften in Wendungen wie „sie ist hilfsbereit“, „sie ist mutig“, etc. Dagegen verwende ich den Begriff nicht so, wie er in einem Teil der Analytischen Philosophie verwandt wird, nämlich um eine – beispielsweise mit Jerry Fodor zu assoziierende – Theorie zu bezeichnen, die von jenen alltäglichen Äußerungen inspiriert ist und die menschliches Handeln dann allein unter Rekurs auf Begriffe wie „Wunsch“, „Überzeugung“ etc. verständlich macht (vgl. Hutto ). Dabei ist es eine bloß terminologische Frage, wie der Ausdruck „Volkspsychologie“ verwendet wird.

3 Diagnose

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über Geist und Handeln). Zudem ist zu bedenken, dass in die Ausformung der jeweiligen Intuitionen einer Person immer auch biologische und kontingente, kulturelle Faktoren eingehen. Und Sprachen hätten sich auch vor einigen tausend Jahren anders entwickeln können als sie es getan haben und sind in diesen Entwicklung zumindest auch durch Machtinteressen und andere soziokulturelle Umstände beeinflusst worden, von denen man nicht sagen kann, dass ihr Ziel der Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Natur des menschlichen Geistes und Handelns gewesen ist. Es ist daher alles andere als klar, dass eine Analyse von Intuitionen und sprachlichen Zuschreibungen dazu beiträgt, die kognitive Komponente menschlichen Handelns auf für den Zweck des Erkenntnisgewinns hilfreiche Weise zu analysieren. Intuitionen und sprachliche Zuschreibungen sind keine zuverlässige Erkenntnisquelle, aber Stanleys Methodologie behandelt sie als solche. Daher ist der linguistische Fehlschluss ein Fehlschluss.²³ Anders ausgedrückt besteht der Fehler desjenigen, der einen linguistischen Fehlschluss begeht, darin, zwei eigentlich auf das Strengste zu trennende Fragen miteinander zu vermischen. Die eine Frage lautet, wie die kognitive Komponente menschlichen Handelns philosophisch zu analysieren ist. Die andere Frage lautet, wie in der alltäglichen Praxis mentales Vokabular zugeschrieben wird. Beides sind wichtige Fragen, und während ich mich in den ersten Kapiteln der ersten Frage zuwenden werde, werde ich mich im vierten Kapitel auch der Relevanz der zweiten Frage zuwenden. Aber entscheidend ist an dieser Stelle allein, dass die beiden Fragen grundverschieden sind. Sie haben nichts – oder so gut wie nichts – miteinander zu tun. Daher müssen sie auf das Strengste voneinander getrennt. Stanley (S ix) dagegen spricht in seinem Vorwort davon, in seinem Buch gehe es hinsichtlich der Natur mentalen Zustände und hinsichtlich der sprachlichen Zuschreibungen von Zuständen um eine „necessary admixture of considerations“.

 Noch eindeutiger ausgedrückt könnte man auch von dem „linguistisch-theoretisierenden“ Fehlschluss sprechen, insofern hier zu Unrecht von dem Ergebnis einer linguistischen Analyse auf eine bestimmte philosophische Theorie geschlossen wird. Selbstverständlich soll nicht gesagt werden, dass linguistische Analysen per se problematisch sind, sondern lediglich, dass nicht unbedacht von derartigen linguistischen Analysen auf philosophische Theorien geschlossen werden darf. Der Sache nach ist es nicht neu, Stanley und Williamsons Intellektualismus einen linguistischen Fehlschluss zu attestieren: Auch wenn sich meine Diagnose in wichtigen Aspekten von ihren Ansichten unterscheidet, finden sich ähnliche Gedanken bereits bei Alva Noë (2005) und Michael Devitt (2011); vgl. auch Glick (2011). Im Gegensatz zu ihnen systematisiere ich die Diagnose (in diesem und im vierten Kapitel) stärker, betone (im vierten Kapitel) auch in konstruktiver Weise eine positive Rolle des Rekurses auf sprachliche Praktiken, übertrage die Diagnose (im vierten Kapitel) auch auf andere Themenfelder wie Rationalität, und entwickele (im dritten und im vierten Kapitel) in konstruktiver Hinsicht eine positive alternative Methodologie.

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Damit vermischt Stanley genau die beiden Fragen, die bei Lichte besehen auf das Strengste voneinander getrennt werden müssen. Dies zeigt wiederum, dass Stanley in seiner Methodologie einen linguistischen Fehlschluss begeht. Das Problem betrifft Stanleys Theorie nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. So antwortet Stanley z. B. auf Dreyfus’ Einwand, es gebe wichtige Fälle gekonnten Handelns, in denen eine Person nicht über Begriffe bzgl. dieses Handelns verfüge, damit, dass Wissen-Wie begrifflich sein müsse, weil WissenWie-Zuschreibungen opake Kontexte kreierten (S 168 f.). Aber Dreyfus interessiert sich an dieser Stelle nicht für semantische oder meta-semantische Eigenheiten englischer Worte der Form „S knows how to A“, sondern für die kognitive Komponente gekonnten Handels. Meta-semantische Feststellungen sind dafür vollkommen irrelevant. Zum Schaden seiner eigenen Argumentation verwechselt Stanley die beiden streng zu trennenden Fragen. Auch an anderen Stellen verwechselt Stanley die Ebenen. Oft redet er zwar so, als beschriebe er die Struktur des Geistes. Doch oft rekurriert er dabei bloß auf sprachliche Feststellungen. Ein Beispiel ist das der oben diskutierten Person, die gleichsam automatisch durch eine Tür geht. Von dieser Person können wir laut Stanley sagen, sie wisse, dass dort eine Tür ist. Und ein anderes Beispiel ist, dass wir laut Stanley prinzipiell auch von Tieren sagen kann können, sie wüssten, dass ein Knochen versteckt wurde, wo der Knochen versteckt ist, und wie man ihn ausgräbt. Bei diesen Feststellungen handelt es sich aber allein um Feststellungen über unsere sprachliche Zuschreibungspraxis. Wenn wir Wittgenstein Glauben schenken, dann können diese Feststellungen jeweils einen Witz haben, der durchaus mit der Beschaffenheit der Kognition zusammenhängt: Wenn wir etwa von einem Hund sagen, er wisse schon, wo der Knochen versteckt ist, dann sagen wir in gewissem Sinne etwas über die Kognition des Hundes; aber der Witz der Aussage ist nicht primär, dem Gesprächspartner etwas über die Struktur der Kognition von Hunden mitzuteilen, sondern etwa vor allem, dass er den Knochen beim nächsten Mal etwas besser verstecken solle. Aus derartigen Feststellungen über sprachliche Zuschreibungen kann daher keine entscheidende Einsicht über die Struktur der Kognition gewonnen werden. Wenn man nun Stanleys Methodologie noch stärker im Lichte der methodologischen Einsichten Wittgensteins betrachtet, wird ersichtlich, das mit dem bisher Ausgeführten das tiefste Problem am linguistischen Fehlschluss noch nicht einmal getroffen worden ist. Laut Wittgenstein – so wie ich ihn zu interpretieren vorschlage – ist das Problem nicht nur, dass das Betrachten der Alltagssprache unter dem Blickwinkel, als bringe sie eine Theorie unrein zum Ausdruck, zu einer falschen Theorie führt. Dann immerhin könnte diejenige Art von Theorie, die sich in einem ersten Schritt aus der Anwendung der Stanley’schen Methodologie ergäbe, ja noch in einem zweiten Schritt empirisch überprüft werden. Etwas kari-

3 Diagnose

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kierend gesagt könnte Stanley dann vor dem Hintergrund linguistischer Analysen in einem ersten Schritt herausfinden, dass Zuschreibungen der Form „S knows how to A“ und „S knows that p“ dieselbe semantische Form haben, und daraus schließen, dass Wissen-Wie Wissen-Dass sei. Und in einem zweiten Schritt könnte ein Neurowissenschaftler messen, ob bei einer Person, die „Wissen-Wie“ anwendet, dieselben Hirnbereiche aktiv sind wie bei einer Person, die „Wissen-Dass“ anwendet. Aber laut Wittgenstein (in meiner Lesart) gibt es ein tieferes Problem, das zur Konsequenz hat, dass auch diese zwei-schrittige Methodologie von vornherein keine Erfolgsaussichten hat. Das Problem ist, dass jede Untersuchung notwendigerweise immer schon in begrifflichen Rahmenbedingungen operiert, durch die einerseits die jeweilige Untersuchung strukturiert wird, die aber andererseits selbst nicht weiter untersucht werden. Bestimmte Begriffe werden dabei ohne weitere Rechtfertigung vorausgesetzt, um mit ihrer Hilfe erst philosophische Theorien zu formulieren. Aber gerade die Gestalt dieser immer schon vorausgesetzten Begriffe beeinflusst den Gehalt der am Ende entstehenden Theorie ganz entscheidend. In der ersten Hälfte des §308 der Philosophischen Untersuchungen verdeutlicht Wittgenstein dies am Beispiel des Begriffs des mentalen Zustands: Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige.Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.)

Auch heute noch wird oft der Begriff eines mentalen Zustands – oder eines repräsentationalen Zustands – ohne nähere Erläuterung vorausgesetzt, um dann aber mittels dieses Begriffs bestimmte Theorien zu formulieren.²⁴ Aber laut Wittgenstein ist das philosophisch Entscheidende dann schon geschehen. Die Theorie hat schon eine bestimmte Form, weil sie in bestimmten Begrifflichkeiten formuliert ist. Aber da diese Begrifflichkeiten den Rahmen der Theorie darstellen,

 Ich denke dabei etwa an den Repräsentationalisten Tyler Burge. In seinem Buch Origins of Objectivity legt er folgendes Glaubensbekenntnis ab (: ): „I believe that there is a kind, representation, that is distinctively instantiated in perception, language, and thought. This kind is a fundamental and distinctive feature of mind.“ Und auf der ersten Seite seines Buchs schreibt Burge (: ): „Empirical representation is a type of representational state, occurrence, or activity. From here on, I often shorten ‘state, occurrence, or activity’ to ‘state’.“ Und tatsächlich setzt Burge den Begriff der Repräsentation im Folgenden schlicht voraus, ohne ihn zu erläutern oder zu problematisieren.

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I Propositionale Intelligenz und ihre Grenzen

können sie später kaum mehr überprüft werden.Weil Stanley etwa davon ausgeht, wie sprachliche Zuschreibungen vorgenommen werden, geht er auch davon aus, dass viele Zuschreibungen etwas gemeinsam haben, nämlich dass sie Zuschreibungen mentaler Zustände sind. Der Begriff eines mentalen Zustandes wird dabei aber nicht näher untersucht, sondern strukturiert die Untersuchung. Im Rahmen der Methodologie Stanleys muss also nahezu zwingend vorausgesetzt werden, dass es so etwas wie mentale Zustände gibt. Die philosophisch relevante Frage, ob man die kognitive Komponente menschlichen Handelns nicht in anderen Begriffen erkenntnisförderlicher beschreiben könnte, kann im Rahmen der Stanley’schen Methodologie nicht einmal gestellt werden.²⁵ Wenn man Wittgenstein Glauben schenkt, dann geschieht die philosophisch tiefe Arbeit nicht, wenn im vorgegebenen begrifflichen Rahmen eine These gegen ihre Gegenthese ausgespielt wird, sondern in der ursprünglichen Wahl des begrifflichen Rahmens.²⁶ Gerade dann könnte der unreflektierte Hintergrund menschlichen Handelns mittels explizit für diesen Zweck ausgewählter Begriffe auf neue Weise erhellt werden. Aber wer eine philosophische Methodologie im Geiste Stanleys voraussetzt, der entmündigt sich selbst dieser eigentlich philosophischen Aufgabe der Wahl der ursprünglichen Begriffe, indem er die eigentlich gar nicht für die Zwecke philosophischer Theoriebildung geschaffene Alltagssprache diese Wahl übernehmen lässt.Wittgenstein (PU II, vii, S. 184d) drückt sich in diesem Kontext so aus, dass ein derart Theoretisierender einem Bild verfällt, das ihm die Alltagssprache aufdrängt, sobald sie zu theoretischen Zwecken missbraucht wird: Unsere Sprache beschreibt zuerst einmal ein Bild.Was mit dem Bild zu geschehen hat, wie es zu verwenden, bleibt im Dunkeln. Aber es ist ja klar, daß dies erforscht werden muss, wenn man den Sinn unsrer Aussagen verstehen will. Das Bild aber scheint uns ganz dieser Arbeit zu überheben; es deutet ja schon auf eine (ganz) bestimmte Verwendung. Dadurch hat es uns zum besten.

Das Problem ist also nicht bloß, dass ein Rekurs auf Intuitionen oder sprachliche Zuschreibungen eine dahingehend problematische Erkenntnisquelle ist, dass sie

 Wenn Wittgenstein die Existenz mentaler Zustände leugnet, dann leugnet er natürlich nicht die Existenz reichen geistigen Lebens, sondern nur die Sinnhaftigkeit seiner philosophischen Konzeptualisierung in Begriffen, die der Alltagssprache zuvor auf problematische Weise entrissen worden sind – aber dazu mehr im nächsten Kapitel.  In therapeutisch-diagnostischer Hinsicht würde Wittgenstein in der vorgeschlagenen Lesart die Arbeit wohl darin sehen, von einem anderen Philosophen unbedacht vorausgesetzte begriffliche Vorentscheidungen explizit in den Vordergrund zu heben, so dass ihre potentielle Problematizität allererst ersichtlich werden kann.

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unzuverlässig darin ist, welche Theorie richtig ist. Vielmehr ist das Problem tieferliegender, nämlich dass ein solcher Rekurs immer schon bestimmte Weisen der begrifflichen Individuierung der Phänomene menschlichen Handelns mit sich bringt. Die Rede von „sei nicht so willensschwach“ kann für den Alltag nützlich sein. Aber es sollte eine philosophisch offene Frage sein, ob man für den philosophischen Zweck einer Analyse der kognitiven Komponente menschlichen Handelns die Existenz von so etwas wie einem „Willen“ im menschlichen Geist annehmen sollte. Und gleiches gilt auch für Wissen-Wie (großgeschrieben), Wissen-Dass (großgeschrieben) und mentale Zustände. Vielleicht ist es z. B. philosophisch erhellend, von so etwas wie einem Willen auszugehen, aber nicht von mentalen Zuständen; entscheidend ist allein, dass es möglich sein muss, derartige Fragen zu stellen. Doch vor dem Hintergrund der Stanley’schen Methodologie können diese Fragen nicht einmal mehr gestellt werden, weil die grundlegenden begrifflichen Vorentscheidungen der Alltagssprache überlassen werden, die dann in einem theoretischen Lichte betrachtet noch systematisiert und substantiviert wird. Somit endet man bei dem, was Wittgenstein ein „Bild“ nennt – einer bestimmten allgemeinen Betrachtungsweise der Welt. Freilich ist es richtig, dass Menschen in ihrem Denken stets und ständig durch bestimmte Bilder beeinflusst sind. Das Problem der Art von philosophischer Methodologie, gegen die sich Wittgenstein wendet, ist aber, dass hier ein Philosoph, der gerade sensitiv für derartige nicht explizit getroffene begriffliche Vorentscheidungen im Hintergrund sein sollte, unbedacht und ohne eigenes Zutun einzig durch Verwendung einer bestimmten Methode zu einer Betrachtungsweise gebracht wird, deren Existenz, Kontingenz und potentielle Problematizität für ihn unsichtbar ist, die dabei aber sein gesamtes Denken zutiefst beeinflusst. Wie sieht das Bild aus, das sich meiner Diagnose nach des Stanley’schen Denkens bemächtigt hat? Wie ich vorschlagen möchte, ist das Bild, zu dessen unbedachtem Voraussetzen Stanley durch seine Methodologie des Rekurses auf Intuitionen und volkspsychologische Zuschreibungen gebracht wird, genau diejenige Dichotomie der Kategorien „Reflex“ und „Reflexion“, die in der Einleitung bereits mit Hilfe Schillers, Kants und Kleists diskutiert worden ist. Und es ist genau diejenige Dichotomie, die für die Möglichkeit der Anerkennung des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion nicht einmal mehr begrifflichen Raum lässt. Wie ich bereits in der Einführung geschildert habe, wird dieses Bild dem menschlichen Denken durch viele komplex zusammenwirkende Faktoren aufgedrängt: Genannt habe ich beispielsweise einen zunächst natürlichen Dualismus an Einstellungen anderen Dingen bzw. Lebewesen gegenüber sowie die Struktur des Selbst-Bewusstseins. Und ebenfalls genannt habe ich die volkspsychologische Praxis. Anhand der Diskussion der Stanley’schen Methodologie wird nun deutlich, wie stark schon volkspsychologische Zuschreibungen, wenn sie als Lieferant philo-

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I Propositionale Intelligenz und ihre Grenzen

sophischer Theorien verstanden werden, zum Voraussetzen jenes Bildes führen. Und nun wird außerdem deutlich, welchen großen Beitrag auch konkretere begriffliche Vorentscheidungen liefern, die durch die volkspsychologische Individuierung des menschlichen Geistes – verstanden als Lieferanten einer philosophischen Theorie – getroffen werden. Ein gutes Beispiel hierfür liefert der von Stanley als selbstverständlich vorausgesetzte Begriff eines mentalen Zustands. In der Alltagssprache gibt es zunächst allein pragmatisch nützliche Zuschreibungen der Form „Sie weiß, dass …“, „Sie hofft, dass …“, etc. In den Augen eines Theoretikers vom Schlage Stanleys geben jedoch all diese Zuschreibungen Aufschluss über etwas Dahinterliegendes, nämlich über die Existenz mentaler Zustände. Sprachlich gibt es in den als „Zuschreibungen mentalen Zustände“ zusammenfassbaren Fällen immer ein grammatisches Subjekt; und in den Augen eines Stanley’schen Theoretikers kann es dann naheliegen anzunehmen, dass es immer so etwas wie einen Träger eines mentalen Zustands gebe. Damit scheinen ihm mentale Zustände etwas Personales zu sein. Dieses Personale wird dann oft – so wird man das Bild grob umreißen können – mit etwas paradigmatisch Bewusstem oder zumindest dispositional Bewusstseinsfähigem assoziiert.²⁷ Weitergehend nimmt Stanley an, dass über diese mentalen Zustände menschliches Handeln verständlich gemacht werden können müsste. Weil mentale Zustände aber selbst kausal ineffektiv zu sein scheinen, wird noch etwas Zweites als Ergänzung postuliert, um die Erklärungslücke zu schließen, etwas, das vor dem Hintergrund orthodoxen Denkens am naheliegendsten ist: subpersonale automatische Anwendungsmechanismen. Somit gibt es auf der einen das Subjektive, Personale, dessen Annahme eine theoretisierende Betrachtung der Volkspsychologie nahelegt, und auf der anderen Seite den zur Vervollständigung der Erklärung anzunehmenden Rest, der über subpersonale reflexhafte Mechanismen ausbuchstabiert wird. Am Ende gelangt man zu einer Sichtweise, die Jerry Fodor wie folgt beschreibt und die Stanley zustimmend zitiert (Fodor 1968: 627, zitiert auf S 18): Here is the way we tie our shoes: There is a little man who lives in one’s head.The little man keeps a library.When one acts upon the intention to tie one’s shoes, the little man fetches down a volume entitled Tying One’s Shoes. The volume says such things as: „Take the left free end of the shoelace in the left hand. Cross the left free end of the shoelace over the right free end of the shoelace… etc.“ When the little man reads the instruction ‘take the left free end of the shoelace in the left hand, he pushes a button on a control panel.The button is marked ‘take the left free end of the shoelace in the left hand.’ When depressed, it activates a series of wheels, cogs, levers and hydraulic mechanisms. As a causal consequence of the functioning of these mechanisms,

 Ein besonders prominenter locus classicus des Bildes, personale Identität unter Rekurs auf Bewusstsein zu verstehen, ist die Theorie John Lockes; vgl. etwa Locke : .

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one’s left hand comes to seize the appropriate end of the shoelace. Similarly, mutatis mutandis, for the rest of the instructions.

Zwar schreibt Fodor hier mit einer gewissen Selbstironie, aber es sollte auch klar sein, dass er mit dieser Beschreibung seine und Stanleys Sichtweise besser charakterisiert, als ihnen lieb sein kann. Auf der einen Seite gibt es das Reflexhafte, gibt es subpersonale automatische Anwendungsmechanismen, gibt es „wheels, cogs, levers and hydraulic mechanisms“. Auf der anderen Seite gibt es das Reflektierte, gibt es die bewusste, ganze Person, die über ein großes Archiv mentaler Zustände verfügt, und die nicht nur handelt, sondern von Fodor verdoppelt wird und ihr eigenes Handeln dann als kleiner Homunkulus auch noch selbst steuert. Nur um Missverständnisse zu vermeiden, sollte ich noch einmal hervorheben, dass ich es nicht in irgendeinem Sinne als Argument gegen Stanley verwende, dass seine Theorie hier etwas albern und unglücklich wirkt. Die aus meiner Sicht am Intellektualismus bestehenden Probleme habe ich schon im vorherigen Abschnitt benannt. Hier geht es mir darum zu diagnostizieren, dass eben jene Probleme nicht einfach nur deshalb bestehen, weil Stanley seine Aufgabe schlecht erledigt hat, während ein anderer Intellektualist sie hätte besser erledigen können. Mir geht es nur darum zu diagnostizieren, dass das Problem tiefer liegt: In seiner Methodologie vermischt Stanley die auf das Strengste zu trennenden Fragen nach einer philosophischen Analyse der kognitiven Komponente menschlichen Handelns und nach den Verwendungen mentalen Vokabulars in der volkspsychologischen Praxis. Vor diesem Hintergrund drängt sich Stanleys Denken für ihn unsichtbar ein bestimmtes Bild auf, das am Ende zu der exklusiven Dichotomie von Reflex und Reflexion führt. Damit konnte Stanley das Mittelreich nicht sehen, und so ist es alles andere als ein Wunder, dass seine auf den ersten Blick so vielversprechende Theorie die Phänomene unreflektierten gekonnten Handelns auf so vielfältige Weise verfehlt. So zumindest lautet meine Diagnose. Ihr folgend, sollte auf der Suche nach einer gelungenen philosophischen Analyse der kognitiven Komponente gekonnten Handelns nicht nur eine weniger intellektualistische Theorie entwickelt, sondern auch eine ganz andere Methodologie verwendet werden, die eine Kategorisierung menschlichen Handelns in die exklusiven Kategorien von Reflex und Reflexion nicht schon präjudiziert. Ob dieser Vorschlag einer Diagnose fruchtbar ist, muss sich in den nächsten Kapiteln erweisen.²⁸  Ich möchte vorschlagen, dass diese Analyse auch auf viele andere intellektualistische Theorien zutrifft – aber dies ist etwas, dass von Einzelfall zu Einzelfall im Detail gezeigt werden müsste. Eine Ausnahme stellt die Philosophie eines anderen bereits erwähnten Intellektualisten dar, nämlich die Philosophie John McDowells. McDowell will nicht primär ein natürlich wir-

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4 Fazit Am Intellektualismus ist nicht alles schlecht. So ist es etwa eine hilfreiche Feststellung, dass Gedanken in einem erstpersonalen praktischen Modus der Präsentation gedacht werden können. Der Rekurs auf Wege, wie man etwas macht, kann in einigen Fällen hilfreich sein. Und es ist plausibel, dass Könnende auf die Frage „Wie hast Du das gemacht?“ oft etwas Sinnvolles antworten können. Doch das meiste am Intellektualismus ist falsch. Der Intellektualismus kann viele Aspekte der Rolle von Regeln, Kontrolle, Intelligenz, Bewusstsein, Sprache, Kognition, Lernen und Expertise im gekonnten Handeln nicht einfangen. Wenn der Intellektualismus wahr wäre, bestünde kein begrifflicher Raum mehr für ein Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion. Aber gerade weil es ein Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion gibt, ist der Intellektualismus falsch. Gekonntes Handeln besteht in vielen Fällen gerade in einem intelligenten, kontrollierten Handeln, das nicht durch ein propositionales Wissen um Wege geleitet ist, das aber dennoch mehr ist als ein Reflex. Wie aber sollte die kognitive Komponente gekonnten Handelns analysiert werden, wenn der Intellektualismus falsch ist? Vielleicht kann sein dialektischer Gegenspieler weiterhelfen, der Anti-Intellektualismus.Wohl niemand anderes hat

kendes, intuitives Bild rational rekonstruieren, auch wenn er an einigen Stellen so klingt, etwa wenn er die Redeweise von mentalen Zuständen verteidigt (McDowell c). Vor allem ist McDowell aber im Anschluss an Kant und Hegel motiviert, die Bedingungen der Möglichkeit rational rechtfertigbarer Erfahrung in einer natürlichen Welt zu untersuchen. Und für dieses transzendentale Projekt werden intuitive Sprechweisen – anders als bei Stanley – ohnehin überlicherweise nicht als Erkenntnisquelle betrachtet. Unabhängig davon, dass die hier vorgeschlagene Diagnose in dieser Hinsicht nicht ohne Weiteres auf McDowells Ansatz übertragbar ist, schlage ich jedoch vor, dass sich sein Ansatz – insofern er zu intellektualistisch ist – vielen der Probleme ausgesetzt sehen muss, die zuvor diskutiert worden sind. Darüber hinaus werde ich im Folgenden implizit McDowells transzendentale Argumentation angreifen, d. h. sehr grob gesagt den Gedankengang, dass die von seinem Ansatz angenommene intellektualistische Natur des menschlichen Geistes Bedingung der Möglichkeit rational rechtfertigbarer Erfahrung sei. Wie ich nämlich im vierten Kapitel zeigen werde, lassen sich Rationalität und Verantwortlichkeit auch auf eine Weise verständlich machen, die nicht schon eine derart intellektualistische Konzeptualisierung des menschlichen Geistes voraussetzt,wie sie von McDowell vertreten wird. Und zu zeigen, dass die Möglichkeit eines Phänomens X nicht nur durch die transzendentale Annahme Y verständlich gemacht werden kann, sondern auch durch die Annahme Z, reicht schon aus, um die transzendentale Argumentation zu widerlegen, Phänomen X sei überhaupt nur möglich unter der Annahme Y. Auch wenn also McDowell als Intellektualist eine Methodologie verwendet, in Bezug auf die sich die Diagnose eines linguistischen Fehlschlusses nicht ohne Weiteres stellen lässt, bringt seine alternative transzendentale Methodologie andere Probleme mit sich, auf die ich im Folgenden auf die genannte Weise implizit zurückkommen werde.

4 Fazit

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diese Position in den letzten Jahrzehnten so radikal und vehement vertreten wie Hubert Dreyfus. Stanley schreibt über ihn (S 167): Hubert Dreyfus is one of the major opponents of the intellectualist view that skilled action is action guided by propositional knowledge. As Dreyfus puts his view, „embodied skills, when we are absorbed in enacting them, have a kind of content which is non-conceptual, nonpropositional, non-rational (even if rational means situation specific) and non-linguistic“ (2007: 360). Dreyfus is clearly an opponent of the intellectualist position I defend, according to which an agent’s action is skilled in virtue of the agent’s propositional knowledge of how to do it.

Wenn der Intellektualismus falsch ist, so liegt es nahe anzunehmen, dass doch der Anti-Intellektualismus richtig sein müsste.Und zumindest verwendet Dreyfus eine ganz andere Methodologie. Geben wir im Folgenden Dreyfus eine Chance und schauen, ob er die kognitive Komponente des gekonnten Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion besser verständlich machen kann!

II Körperliche Intelligenz und ihre Grenzen Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) – Und nun zerfällt der Vergleich, der uns unsere Gedanken hätte begreiflich machen sollen. Wir müssen also den noch unverstandenen Prozeß im noch unerforschten Medium leugnen. Und so scheinen wir also die geistigen Vorgänge geleugnet zu haben. Und wollen sie doch natürlich nicht leugnen! – Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §308

Ein großer Teil menschlichen Verhaltens besteht weder aus bloßen Reflexen noch aus der Umsetzung der Ergebnisse von Reflexionen. Man denke etwa an das spontane Fangen eines Balls, das mühelose Ergreifen einer Türklinge beim Betreten eines Raumes, das Schlagen eines Golfballs oder das instantane Huschen durch eine Lücke in einer Menschenmenge. All dieses Handeln ist Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion. Aber das Mittelreich harrt einer Erklärung. Zwar habe ich im letzten Kapitel untersucht, ob sich das gekonnte Handeln zwischen Reflex und Reflexion mit den begrifflichen Werkzeugen einer Theorie verständlich machen lässt, die in der gegenwärtigen Analytischen Philosophie viel diskutiert wird und die dabei sogar einige Grundzüge Kantischen Denkens wiederaufleben lässt: nämlich Jason Stanleys intellektualistischer Analyse fähigen Handelns. Aber diesem Erklärungsversuch konnte kein großer Erfolg attestiert werden. Zwar sieht Stanley auf überzeugende Weise die Existenz eines erstpersonalen praktischen Modus der Präsentation, in dem einem Akteur bestimmte Gedanken gegeben sein können. Und zudem liefert er zwar eine nützliche Einsicht, wenn er verständlich macht, wie einiges Handeln durch das Wissen um Wege, wie man etwas macht, informiert sein kann. Aber viele Explananda, die eine gute philosophische Theorie gekonnten unreflektierten Handelns verständlich machen sollte, bleiben auch im Lichte des Stanley’schen Intellektualismus im Dunkeln. Letzten Endes musste Stanleys Ansatz die Wittgenstein’sche Diagnose ausgestellt werden, mittels ihrer Methodologie der metasemantischen Analyse sprachlicher Zuschreibungen lediglich ein in die volkspsychologische Alltagssprache eingewobenes Bild rational zu rekonstruieren und damit in die Gefahr zu geraten, die Phänomene menschlichen Handelns durch die Brille eines groben und nicht in jeder Hinsicht unproblematischen begrifflichen Rahmens zu individuieren. Stanleys Paradigma menschlichen Handelns ist dabei nach wie vor „höhere“ Kognition und propositionales Wissen

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gewesen, aber, wie Erik Rietveld (2010: 203) feststellt: „An account tailored for the middle ground does better justice to the phenomenon of unreflective coping, by describing it on its own terms, rather than on the terms of reflective thought.“ Was liegt vor diesem Hintergrund näher, als einen zweiten Versuch zur Erklärung des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion zu unternehmen, einen Versuch, der tatsächlich für das Handeln im Mittelreich – im „middle ground“ – maßgeschneidert ist und der Stanleys Theorie so diametral entgegengesetzt ist wie nur irgendwie möglich? Dann immerhin kann gesehen werden,welche Ressourcen eine ganz andere philosophische Tradition bietet, um den Phänomenen des unreflektierten Handelns Rechnung zu tragen. Gemeint ist natürlich der Ansatz des existentiellen Phänomenologen Hubert Dreyfus, dessen Lebenswerk darin besteht, die Einsichten von Denkern wie Martin Heidegger und Maurice MerleauPonty für die Behandlung systematischer Fragen der gegenwärtigen Philosophie des Geistes und Handelns wiederzugewinnen.¹ Zusammen mit seinem Bruder Stuart Dreyfus schreibt er (1986: 16 f.): You probably know how to ride a bicycle. Does that mean you can formulate specific rules that would successfully teach someone else how to do it? How would you explain the difference between the feeling of falling over and the perfectly normal sense of being slightly off balance when turning? And do you really know, until it happens, just what you would do in response to a certain unbalanced feeling? No, you don’t. You can ride a bicycle because you possess something called „know-how,“ which you acquired from practice and sometimes painful experience. The fact that you can’t put what you have learned into words means that know-how is not accessible to you in the form of facts and rules. If it were, we would say that you „know that“ certain rules produce proficient bicycle riding. The issue, of course, is not confined to riding a bike. All of us know how to do innumerable things that, like bike riding, cannot be reduced to „knowing that.“ You know how to carry on a conversation, and how to do so appropriately in a wide variety of contexts with your family,your friends, in the office, at a party, and with a stranger. Not only do you know what sorts of things to say in various social settings, but how far to stand from your conversational partner and what tone of voice to use. You almost certainly know how to walk. Yet the mechanics of walking on two legs is so complex that the best engineers cannot even come close to reproducing it in artificial devices.

Es wird an dieser Stelle schon deutlich, dass Dreyfus’ (und Dreyfus’) strenge Unterscheidung zwischen Wissen-Wie und Wissen-Dass der Stanley’schen

 Dreyfus’ Begriff der existentiellen Phänomenologie soll einen positiven Bezug auf die Gedanken und Methoden eines Teils der phänomenologischen Tradition darstellen, nämlich vor allem auf Merleau-Ponty und Heidegger. Anders als der Name nahelegt, spielt Sartre für Dreyfus nur eine untergeordnete Rolle. Entsprechend ist auch Dreyfus’ Heidegger-Lesart weniger durch Sartre als vielmehr durch Merleau-Ponty geprägt.

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Theorie diametral entgegengesetzt ist. Aber Dreyfus’ (und Dreyfus’) Opposition ist noch fundamentaler; kurz nach der zitierten Passage setzen sie wie folgt fort: Maybe you take your know-how so much for granted that you don’t appreciate the extent to which it pervades your activities except in situations in which it has deserted you. Have you ever been driving effortlessly along a city street in a stick-shift car and suddenly found yourself consciously thinking about the gear you are in and whether it’s appropriate? Chances are the sudden reflection upon what you were doing and the rules for doing it was accompanied by a severe degradation of performance; perhaps you shifted at the wrong time or into the wrong gear. Here you fell victim to „knowing that“ as it interrupted and replaced your „knowing how.“

Das unreflektierte Wissen-Wie, und nur das unreflektierte Wissen-Wie, sei es laut Dreyfus und Dreyfus also, das leichtgängigen Handlungserfolg garantiere.WissenDass dagegen sei sekundär, komme allenfalls bei einer Störung der fließenden Anwendung des Wissen-Wies zum Tragen und führe dann zu einer Senkung der ehemals leichtgängigen Leistung. Dreyfus entspricht in diesem Sinne ganz Kleist. Wissen-Wie und Wissen-Dass seien dabei nicht nur verschieden – das vom Wissen-Dass grundverschiedene Wissen-Wie sei es auch, dass die entscheidende Rolle spiele. Damit macht Dreyfus mit einer These ernst, die Ryle 1946 (auf S. 15 f.) vertreten hatte, nämlich dass Wissen-Wie „basaler“ sei als Wissen-Dass. Doch dieser Umstand sei laut Dreyfus schwierig wertzuschätzen: Denn sobald man auf sein Wissen-Wie reflektiere, präsentiere man es sich schon in Form genereller Regeln, und damit als Wissen-Dass. Kein Wunder also, würden Dreyfus und Dreyfus sagen, dass Stanley nur Wissen-Dass findet, wenn er über sprachliche Zuschreibungen von Wissen-Wie nachdenkt: die Präsentation in propositionalem Gewand sei schlicht die Art und Weise, wie die Phänomene im reflektierenden Denken präsentiert werden. Aber selbst mit diesen ungewöhnlichen Ansichten ist Dreyfus’ Position noch nicht erschöpft – entscheidend für Dreyfus’ Denken ist vielmehr, dass er im Gefolge von Merleau-Ponty und Heidegger eine ganz neue Sichtweise auf die Natur des Geistes vertritt. Das unreflektierte, gekonnte, Wissen-Wie manifestierende Handeln nennt er dabei treffend „absorbed coping“, „vertieftes Zurechtkommen“ (Dreyfus 2000b: 172):² Existential phenomenologists such as Merleau-Ponty claim that, to do justice to the unique character of absorbed coping and its primacy, we must adopt a richer ontology than the one

 In dem Zitat verwendet Dreyfus die Begriffe „motor intentionality“ und „solicitation“, die bisher noch nicht näher erläutert worden sind. Weiter unten, und vor allem im nächsten Kapitel, werde ich diese Gedanken viel ausführlicher erläutern. Wichtig ist an dieser Stelle nur Dreyfus’ Kritik an der dualistischen Sichtweise und der Punkt, dass es überhaupt eine Alternative dazu gibt.

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assumed by Husserl and Searle of minds containing intentional content, on the one hand, and meaningless bodily movements, on the other. According to Merleau-Ponty, the motor intentionality that underlies action is not best understood as a bodily movement caused by an intention in action, whether this intention is taken to be a mental event or a logical structure. Rather, motor intentionality has what he calls a third kind of being – a kind of being that is not a combination of the physical and the mental, but rather a direct way of responding appropriately to the solicitations of the environment in which the agent is inextricably embedded.

Zu bemerken ist zunächst, dass Dreyfus dazu tendiert, die gesamte PhilosophieGeschichte in Hollywood-artiger Manier zu einem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse zu stilisieren – wobei Descartes, Husserl, und Searle den Part der Bösewichter spielen und Heidegger und Merleau-Ponty den der Helden, mit Wittgenstein als ihrem weniger mächtigen Verbündeten in der Nebenrolle. Dass die Protagonisten dieser Narration den historischen Personen gleichen Namens dabei nicht unbedingt entsprechen, sollte wenig überraschen. Aber dieser Umstand sollte zugleich nicht von dem sehr tiefen und überaus wichtigen Gedanken ablenken, den Dreyfus in der genannten Passage ausdrückt. Am besten verdeutlichen kann man ihn vielleicht, wenn man ihn in anderen Begriffen formuliert. Dreyfus’ Punkt ist, dass erfolgreiches gekonntes unreflektiertes Handeln nicht erhellend und Phänomen-gerecht erklärt werden kann, wenn man es in einem bestimmten begrifflichen Rahmen analysiert; dieser begriffliche Rahmen hat viele Namen und Erscheinungsformen, aber eine bekannte ist der Cartesianische Dualismus von res extensa und res cogitans. Res extensa wird dabei als leblose und bedeutungslose Materie verstanden, „res cogitans“ mit höherem bewussten Denken assoziiert. Aber vor dem Hintergrund dieser Dichotomie, so Dreyfus, kann gerade dasjenige Handeln, das ich als Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion bezeichnet habe, nicht eingefangen werden. Denn weder ist ein solches Handeln durch einen bewussten Geist oder einen bewussten Willen kontrolliert, noch ist es ein bloßer Reflex, den man allein in den kausalen Begriffen einer leblosen Materie verständlich machen könnte. „There is“, folgert Charles Taylor (2002: 111), bezugnehmend auf dieselbe intellektuelle Tradition, „something in nature between full spontaneity and mere mechanism.“ Man könnte nun denken, mit seiner Kritik an einem Cartesiansischen Dualismus sei Dreyfus bloß ein unauffälliger Fisch im zeitgenössischen Mainstream, in dem es zum guten Ton gehört, sich von Descartes abzugrenzen. Aber Dreyfus’ Punkt ist deutlich weitreichender. Wie Charles Taylor (2013: 68 f.) analysiert, sei etwa der zugrunde liegende Dualismus von Geist und Körper immer noch weit verbreitet, etwa, wenn man das Geist-Körper-Problem für ein echtes Problem halte. Man benutze dann immer noch die Cartesianische Dichotomie, um die zu erklärenden Entitäten zu individuieren, auch wenn man glaube, dass von Descartes’

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zwei Kategorien nur eine tatsächlich realisiert sei, so dass das als „Geist“ Individuierte am Ende auf das als „leblose Materie“ Individuierte reduziert werden müsse. Man könnte ergänzen, dass auch in der Handlungstheorie der Gedanke verbreitet ist, Ereignisse, die nicht unter Rekurs auf Begriffe, die einst zur res cogitans gehörten, verständlich zu machen sind (wie etwa „Wille“, „bewusst“, „bewusstseinsfähig“, „praktisches Wissen“ oder „Absicht“), gar nicht mehr als vollwertige Handlungen einer ganzen Person anzusehen. Wiederum ist der Punkt nicht, die Existenz einer geistiger Substanz anzunehmen, aus der etwa so etwas wie „der Wille“ gestrickt sei, sondern unkritisch die Zweiteilung beizubehalten zwischen Person-Sein, Bewusstsein und höherer Kognition auf der einen Seite, und bloßen unbewussten, mechanistischen, sub-personalen Vorgängen auf der anderen Seite. Und auf wenigstens einen zeitgenössischen Philosophen trifft ganz zweifelsfrei zu, dass er eine moderne Spielart des monierten Dualismus vertritt – nämlich auf Jason Stanley. In einer Passage, die bereits im letzten Kapitel zitiert worden ist, schreibt er (2011: 184): Dreyfus maintains that in the case of the expert there are no guiding propositional states. Such states merely play the role of „training wheels“ that are no longer required by the expert. But this entails that the automatic mechanisms contain all the content necessary to guide the expert’s actions. And this simply cannot be right.

Bei aller berechtigten Kritik Stanleys an Dreyfus ist es wichtig zu sehen, dass Stanley Dreyfus durch die Brille gerade desjenigen begrifflichen Rahmens liest, den zu vermeiden Dreyfus’ Hauptanliegen ist. So setzt Stanley nämlich voraus, dass Handeln entweder in personalen bewusstseinsfähigen Begriffen höherer Kognition wie „guiding propositional states“ verständlich zu machen sei (ehemals res cogitans), oder es letzten Endes aus nicht mehr als der Wirkungwseise lebloser kausaler automatischer Mechanismen bestehe (ehemals res extensa). Aber Dreyfus will gerade darauf hinaus, dass es noch eine dritte „Seinsweise“ gibt, die gewissermaßen „zwischen“ Stanleys „guiding propositional states“ und den automatischen Mechanismen liegt. Es ist entscheidend, dass sich diese dritte Seinsweise gerade nicht in automatischen Anwendungsmechanismen erschöpft: Sie ist intelligent, flexibel und personal und nicht automatisch, mechanistisch und subpersonal. Im Angesicht der Probleme der Theorie Stanleys kann es daher erfolgsversprechend sein, Dreyfus’ dritte Kategorie, die „third kind of being“, zu untersuchen. Vielleicht, so die Hoffnung, kann sie den Schlüssel liefern, um das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion endlich einer gelungenen philosophischen Analyse in „its own terms“ zuzuführen, wenn nun auch einer Analyse, die von Dreyfus als dezidiert anti-intellektualistisch präsentiert wird. Ziel und

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Aufgabe dieses Kapitels ist es damit, im Rahmen der Suche nach einer erfolgreichen philosophischen Analyse des Mittelreichs die Perspektiven und Grenzen der Dreyfus’schen anti-intellektualistischen Position gründlich zu eruieren. Dreyfus’ Ansatz steht dabei Pate für eine ganze auf Heidegger und MerleauPonty bezogene Denktradition, die etwa wesentliche Teile der französischen Phänomenologie umfasst und wichtige Parallelen zu einigen Strömungen des Buddhismus aufweist. Dabei habe ich Dreyfus deshalb als Repräsentanten dieser Tradition ausgewählt, weil er seine Kerngedanken ähnlich wie Stanley in vergleichsweise klarer Form ausdrückt, was sie leicht einer argumentativen Evaluation zugänglich macht.³ Für viele ist Dreyfus’ Heidegger-Lesart entweder direkter Ausgangspunkt oder zumindest ständiger Referenzpunkt, um die Gedanken jenes Denkers zu erschließen. Zudem steht Dreyfus auch außerhalb jener Tradition bereits in dialektischer Auseinandersetzung mit Philosophen anderer Herkunftsrichtung wie John Searle, John McDowell und Jason Stanley, was die Diskussionswürdigkeit seines Ansatzes zeigt. Niedergelegt ist Dreyfus’ Ansatz in einer Fülle von Büchern und Schriften, die in konstruktiver Hinsicht vor allem eine durch Merleau-Ponty inspirierte Interpretation des ersten Abschnitts des ersten Teils von Heideggers Sein und Zeit sowie die Entwicklung eines Models von Expertise umfassen und die in destruktiven Hinsicht aus Angriffen auf nicht-Heideggerianische Positionen bestehen, vor allem auf die Künstliche-Intelligenz-Forschung seit den 1960er Jahren sowie auf Philosophen wie Descartes, Husserl, Searle und McDowell, die in Dreyfus’ Lesart der Philosophiegeschichte auf der falschen Seite stehen. Als für Dreyfus’ Werk repräsentativ zu nennen sind vor allem die Bücher Being-in-the-World (1991), What Computers Can’t Do (1972), What Computers Still Can’t Do (1992), das schon zitierte, mit seinem Bruder Stuart Dreyfus verfasste Mind over Machine (1986) sowie die aktuelle von Joseph Schear herausgegebene Anthologie Mind, Reason, and Beingin-the-World. The McDowell-Dreyfus-Debate (2013), die Beiträge zu Dreyfus’ Auseinandersetzung mit John McDowell versammelt. Insgesamt hat sich Dreyfus aufgrund seiner Gewohnheit, viele Philosophen anzugreifen, nicht in allen philosophischen Kreisen besonders beliebt gemacht; aber wiederum sollte dies nicht

 Im Gefolge Dreyfus’ hat Michael Wheeler in seinem Buch Reconstructing the Cognitive World die entsprechenden zugrunde liegenden Heideggerischen Gedanken noch einmal klarer formuliert und sie mit Einsichten der Embodied-Cognition-Bewegung in den Kognitionswissenschaften verbunden. Dabei hat er jedoch laut Dreyfus (c) in einigen zentralen Hinsichten gerade die tiefen Kernpunkte Heideggers verfehlt. Im Folgenden werde ich mich daher hauptsächlich auf Dreyfus beziehen; für Kenner von Wheelers beeindruckendem Werk sollte jedoch ersichtlich werden, dass sich viele, wenn auch nicht alle der folgenden Argumente mutatis mutandis auch auf Wheelers Werk anwenden lassen.

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davon ablenken, dass Dreyfus als kreativer Leser Merleau-Pontys und Heideggers wichtige Gedanken herausgearbeitet hat, die möglicherweise für eine gelungene philosophische Analyse des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion fruchtbar sein könnten.⁴ Neu an meinem Beitrag sind erstens die Art der Darstellung der Dreyfus’schen Position, zweitens viele der Gegenargumente und drittens die Diagnose, die ich am Ende ausstellen werde. Im Folgenden werde ich Dreyfus’ Position erst darstellen (Abschnitt 1), um vor diesem Hintergrund zu diskutieren, ob er die Phänomene gekonnten unreflektierten Handelns besser erklären kann als Stanleys Intellektualismus (Abschnitt 2). Anschließend werde ich die besagte Diagnose ausstellen (Abschnitt 3) und mit einem Fazit enden (Abschnitt 4).

1 Der Anti-Intellektualismus Laut Anti-Intellektualismus ist der menschliche Geist zweigeteilt. Diese These der Position Dreyfus’ mag erst einmal überraschen, schließlich habe ich gesagt, dass es Dreyfus’ Anliegen ist, einem Dualismus radikal entgegenzutreten. Aber laut Dreyfus ist die klassische Konzeption der kognitiven Komponente menschlichen Handelns nicht falsch – das von der klassischen Sichtweise Beschriebene sei lediglich sekundär. Neben bloßen Kausalvorgängen kennt Dreyfus erstens die höhere Kognition, die Descartes im Grunde richtig gesehen habe, und zweitens die dritte, neue Seinsart des direkten Reagierens auf Handlungsaufforderungen im unreflektierten Zurechtkommen. So gesehen umfasst Handeln bei Dreyfus eine Schicht des unreflektierten Zurechtkommens und eine Schicht der höheren Kognition. (Stanleys Dualismus besteht dagegen wie bei Dreyfus aus der höheren Kognition auf der einen Seite und anders als bei Dreyfus aus subpersonalen, automatischen, unintelligenten Anwendungsmechanismen auf der anderen Seite.) Der Grund für Dreyfus’ Ansicht, dass die klassische Konzeption des menschlichen Geistes seiner Gegner nicht falsch, sondern sekundär sei, liegt – so schlage ich vor, Dreyfus’ Position zu analysieren – in seiner verwendeten Me-

 Obwohl der Kern des Dreyfus’schen Ansatzes über die vielen Jahrzehnte seines Forschens konstant geblieben ist, hat sich seine Position in einigen wichtigen Punkten immer wieder geändert – meines Erachtens teils zum besseren und teils zum schlechteren. Ich werde Dreyfus’ Position hier so präsentieren und diskutieren, wie er sie im akademischen Jahr / an der University of California, Berkeley präsentiert hat und wie sie in seinem  erschienen Beitrag zu seiner Debatte mit John McDowell ausgedrückt ist. In den Punkten, in denen sich die Sichtweise von  zu  gewandelt hat, wähle ich jeweils die plausiblere Sichtweise aus.

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thodologie. Dreyfus geht es nicht darum, eine bestimmte klassische philosophische Theorie durch eine neue philosophische Theorie zu ersetzen. Stattdessen geht es ihm darum, die Phänomene so genau wie möglich zu beschreiben.⁵ „Die Tradition“ habe bestimmte Phänomene schon ganz richtig getroffen – wenn auch nur diejenigen Phänomene, die auf der abgeleiteten Schicht der höheren Kognition lägen. Bezugnehmend auf John Searle als paradigmatischen Protagonisten der traditionellen Auffassung schreibt er (2000a: 329): We existential phenomenologists do not claim Sеагlе’s account is bad phenomenology but rather that it is the phenomenology only of effortful, deliberate, thoughtful action, like lecturing on or writing about philosophy, and so leaves out the sort of skillful coping one experiences in the flow of sports or in simply finding one’s way about in the world.

Am Grunde liege die Wissen-Wie manifestierende, gekonnte und unreflektierte Weise des Zurechtkommens,vor der als Hintergrund erst so etwas wie Nachdenken möglich sei.⁶ Das unreflektierte Zurechtkommen sei damit laut Dreyfus der Hintergrund des bewussten Nachdenkens. Dreyfus schreibt (2007c: 254): „Heidegger’s important insight is […] that being-in-the-world is more basic than thinking and solving problems; that it is not representational at all. That is, when we are coping at our best, we are drawn in by solicitations and respond directly to them[.]“ Genau wie Stanley geht Dreyfus also von einem Dualismus aus und versteht die obere Schicht ähnlich; anders als Stanley beschreibt Dreyfus aber die untere Schicht nicht als aus automatischen kausalen Reflexen bestehend, sondern auf eine neue, dritte Weise. Und anders als Stanley geht Dreyfus davon aus, dass die untere Schicht der notwendige Hintergrund für die obere Schicht ist.⁷ Für Dreyfus geht diese Sichtweise mit einer Umkehrung der „traditionellen“ Sichtweise auf das Verhältnis von Theorie und Praxis einher. Dreyfus identifiziert implizit jede Form des Überlegens und Denkens mit einem theoretischen Nachdenken, sieht jede Form des Denkens als kalt und objektivierend und notwendig

 Fast möchte man sagen, Dreyfus wolle die Phänomene so beschreiben, „wie sie wirklich sind“. Während der Gedanke in einem Sinne sinnvoll ist und Zustimmung verdient, ist er in einem anderen Sinne problematisch, nämlich dann, wenn angenommen wird, dass es so etwas wie eine ontologisch fundamentale Phänomen-Schicht gäbe, die unabhängig von die Individuierung leitenden Interessen und Annahmen bestünde.  Ich verstehe hier „Wissen-Wie“ so,wie Dreyfus den Begriff verwendet, s. o. Würde man „WissenWie“ im Geiste einer intellektualistischeren Theorie verstehen, könnte Dreyfus dem Satz nicht mehr zustimmen.  Genau genommen ist dies eine von Dreyfus‘ Hauptthesen, während Stanley (: ) immerhin lapidar schreibt: „ It may be that non-conceptual content is needed to have the propositional attitudes that are required to guide an action, in order for that action to be skilled.“

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losgelöst („detached“) von der wirklichen Welt an, und identifiziert dieses Nachdenken dann noch mit dem Umgehen mit Wissen-Dass. (Wie sich noch herausstellen wird, ist dies keiner simplen Ungenauigkeit von Seiten Dreyfus’ geschuldet, sondern hat einen weit tieferliegenden Grund in der phänomenologischen Methode, so wie sie von ihm betrieben wird.) Vor dem Hintergrund dieser Identifizierungen, seines Schichten-Modells des Geistes sowie der These der „Fundamentalität“ der unteren Schicht (siehe unten) kann Dreyfus dann behaupten, dass „die Tradition“ das Verhältnis von Theorie und Praxis immer genau falsch herum gesehen habe: Am Anfang habe im traditionellem Denken stets der theoretisierende Geist gestanden. Dieser müsste dann die Objekte in der Umwelt, erst kategorisieren und sie dann bewusst auf bestimmte Weise bewerten, damit ein Akteur praktisch erfolgreich mit ihnen umgehen könne. Heidegger folgend schlägt Dreyfus jedoch vor, das Verhältnis von Theorie und Praxis genau herumzudrehen (1991: 46 f.): Rather than first perceiving perspectives, then synthesizing the perspectives into objects, and finally assigning these objects a function on the basis of their physical properties, we ordinarily manipulate tools that already have a meaning in a world that is organized in terms of purposes. To see this, we must first overcome the traditional interpretation that theory is prior to practice. Only then will we be ready to describe our involved, practical dealings with things and what they reveal.

Um die Grundzüge dieses ganz neuen Dualismus im Anschluss an Dreyfus’ Heidegger zu verstehen, sind also zwei Punkte von Relevanz: Wie ist die schon mehrfach angesprochene primäre Weise, gekonntes unreflektiertes Zurechtkommen aufzufassen, positiv auszubuchstabieren? Und was bedeutet es, dass dieses Zurechtkommen „fundamentaler“ ist als die Anwendung von Wissen-Dass im bewussten theoretisierenden Nachdenken? Ich werde zuerst die grundlegenden Richtungen der Dreyfus’schen Antworten aufzeigen, um dann darauf einzugehen, wie Dreyfus die für das gekonnte Handeln zentralen Aspekte und Phänomene verständlich machen kann, in Bezug auf deren Erhellung bereits der Intellektualismus untersucht worden ist. Ich beginne mit dem Fundamentalitätsgedanken. Obwohl Dreyfus diesen Gedanken wieder und wieder betont, hat er ihn meines Wissens nirgendwo ausbuchstabiert. Ich möchte daher vorschlagen, dass sich hinter dem Fundamentalitätsgedanken eine ganze Reihe von Ideen verbergen, die alle gleichermaßen Dreyfus’ Denken prägen. Dieser Punkt für ist für eine Untersuchung des Mittelreichs deshalb von Relevanz, weil der Fudamentalitätsgedanke Dreyfus’ Ausbuchstabierung der neuen Weise menschlichen Handelns prägt, und weil jene im Lichte des Fundamentalitätsgedanken stehende Ausbuchstabierung der neuen Weise menschlichen Handelns auch in prominenten Lesarten von Heidegger und

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Merleau-Ponty zu finden ist (vgl. Blattner 2006, Dreyfus 1991, Romdenh-Romluc 2011, Jensen 2009). Erstens ist im Fundamentalitätsgedanken etwas enthalten, das eine phänomenologische Lesart ermöglicht.⁸ Demnach erscheinen uns Gegenstände normalerweise und häufig – „zunächst und zumeist“, wie Heidegger⁹ sagen würde, als direkte Aufforderung, mit ihnen sofort unreflektiert praktisch zu agieren, und nur ausnahmsweise und selten als kalte Objekte mit quantitativen Eigenschaften, über die theoretisierend nachgedacht werden müsste. Beispielsweise, so kann diese erste Idee erläutert werden, können Menschen normalerweise und häufig einen Keks als Aufforderung wahrnehmen, sich das Stück wohlschmeckenden Süßgebäcks in den Mund zu schieben, und können ihr Wissen, wie man das macht, direkt und unreflektiert manifestieren; in seltenen und abnormalen Fällen aber kann ein Mensch auch seinen Handlungsfluss unterbrechen und sich schmerzhaft sein theoretisches Wissen in Erinnerung rufen, dass der Keks über 100 Kalorien hat.¹⁰ Eine zweite Lesart, den Fundamentalitätsgedanken auszubuchstabieren, besteht in der Idee, dass das unreflektierte, Wissen-Wie manifestierende Zurechtkommen logisch primär gegenüber der Anwendung theoretischer allgemeiner Regeln ist. Ähnlich wie Stanley gehen etwa Dreyfus, Searle und Stroud davon aus, dass eine Regel, Repräsentation oder Proposition immer erst auf einen Fall angewandt werden muss.¹¹ Gemäß dem Regelfolgenproblem kann die Anwendung einer Regel auf einen Einzelfall nicht wieder durch eine Regel bestimmt sein, da dann ein Regress droht. Also muss es etwa anderes geben, das erst die Anwendung einer Regel oder Repräsentation ermöglicht. Und dieses andere, so die zweite in der Fundamentalitätsthese enthaltene Idee, ist das zugrundeliegende gekonnte unreflektierte Zurechtkommen. Neben der phänomenologischen und der logischen Lesart enthält der Fundamentalitätsgedanke auch eine evaluative Idee. Demnach ist das unreflektierte und Wissen-Wie manifestierende Zurechtkommen menschliches Handeln „at its best“, während höhere Kognition nur dann nötig wird, wenn etwas schief gegangen ist. Gut sind Menschen dann, so die Idee, wenn sie den Hammer ganz praktisch als  Ich verwende hier wie Dreyfus den Ausdruck „phänomenologisch“ als Beschreibung einer Methode, die darum bemüht ist, die Phänomene der menschlichen Lebenswirklichkeit so adäquat wie möglich zu beschreiben – im Gegensatz zu den technischeren Verständnisweisen desselben Begriffs etwa bei Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty.  In Sein und Zeit allein kommt die Wendung -mal vor, besonders häufig etwa auf den Seiten  und .  Diese erste – besonders schwache – Lesart ist es auch, auf die sich Dreyfus zurückzieht, wenn er mündlich unter Druck gesetzt wird.  Freilich ist es dabei nicht selbstverständlich, Regeln, Repräsentationen und Propositionen mit Dreyfus, Searle und Stroud überhaupt so konzeptualisieren, dass sie erst angewandt und verstanden werden müssen und nicht vielmehr immer schon verstanden sind; siehe Beyer .

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Aufforderung zum Hämmern begreifen und loshämmern, und schlecht sind sie, wenn der Hammer zerbricht und sie sich mühsam überlegen müssen, wie sie ihn bloß reparieren können.¹² Viertens gibt es auch eine existentielle Lesart des Fundamentalitätsgedankens. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bisher schon beschriebenen Ideen könnte es möglich sein, dass ein Mensch, dem alles gelingt und den es nie danach verlangt, eine Regel anzuwenden, sein ganzes Leben im unreflektiert zurechtkommenden Flow verbringt, während es nicht möglich ist, dass ein Mensch sein Leben nur damit verbringt, Regeln und Propositionen anzuwenden, aber dabei nicht unreflektiert zurechtkommend handelt. In einem Sinne verstanden ist diese existentialistische Lesart eine Spielart der zweiten Ausbuchstabierung. Schließlich ist fünftens auch noch eine explanatorische Lesart der Fundamentalitätsthese möglich, der gemäß die Phänomene höherer Kognition „from ground up“ unter Rekurs auf niedrige Kognition verständlich gemacht werden können, aber Phänomene niederer Kognition nicht „top-down“ unter Rekurs auf höhere Kognition verständlich gemacht werden können.Wichtig, um Dreyfus und die Tradition, in der schreibt, zu verstehen – ob nun einzelne Vertreter subtilere Ansichten vertreten oder nicht –, ist es nicht, sie auf eine einzelne These festzulegen, sondern das Konglomerat an Ideen zu erkennen, das im Hintergrund ihres Denkens steht. Im Folgenden werde ich zwar nicht mehr explizit auf Dreyfus’ Fundamentalitätsthese eingehen; wichtig ist aber,wie sehr sie Dreyfus’ Konzeption seiner beiden Schichten prägt. Wie ist nun aber die als so fundamental angesehene Weise des unreflektierten Zurechtkommens positiv zu verstehen? Dreyfus behauptet, gekonntes unreflektiertes Zurechtkommen solle weder über Begriffe der sekundären höheren Kognition wie „Bewusstsein“, „Gehalt“, „Repräsentation“, „Regel“, „Begriff“, „Sprache“, „Proposition“ und „Wissen-Dass“ verständlich gemacht werden. Noch solle es über Begriffe einer neuzeitlich verstandenen bloß materiellen Natur wie „Kausalität“, „Reflex“ oder „Automatizität“ analysiert werden. Was aber ist dann Dreyfus’ positive Alternative? Immer wieder zitiert er eine bestimmte Passage Merleau-Pontys, in der er das grundlegende Phänomen besonders gut beschrieben sieht (2013: 17, alle Bearbeitungen von Dreyfus, siehe Merleau-Ponty 1965: 168 f.): For the player in action the soccer field is not an „object.“ It is pervaded by lines of force … and is articulated into sectors (for example, the „openings“ between the adversaries), which call

 Man kann natürlich fragen, welchen Ursprungs diese Normativität ist und ob sie sich etwa heimlich einer substantieller metaphysischen Annahme verdankt, etwa dergestalt, dass das Ergon des Menschen darin bestehe, im Flow zu sein. Diese Frage kann hier nicht weiter verfolgt werden, und für eine Unterscheidung der verschiedenen Lesarten des Fundamentalitätsgedankens ist sie auch nicht relevant.

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for a certain mode of action. The field itself is not given; … the player becomes one with it (fait corps avec lui). … At this moment consciousness is nothing but the dialectic of milieu and action. Each maneuver undertaken by [i. e. called forth from] the player modifies the character of the field and establishes new lines of force in which the action in turn unfolds and is accomplished, again altering the phenomenal field.

Merleau-Pontys Beschreibungsweise mag zwar ungewöhnlich wirken, aber was damit zum Ausdruck gebracht wird, ist ein Phänomen, dass sicherlich die meisten Menschen aus ihrer alltäglichen Erfahrung nachvollziehen können. In ihrer kristallklaren Merleau-Ponty-Exposition erklärt Komarine Romdenh-Romluc (2011: 75) das Phänomen wie folgt: In this passage, Merleau-Ponty observes that, to the player engaged in a game of football, the pitch is presented as a dynamic space that offers the player opportunities to perform various actions. The player does not simply perceive the yard lines and those that mark out the penalty area as white lines with a particular location in space. Instead, they perceive them as real boundaries that mark out areas of the pitch that have significance for their behaviour. They do not merely see the spaces between the players on the opposing team as places where no one is standing, but as ‘openings’, that is, opportunities to pass the ball to a team mate or to progress towards the goal. However, the player only perceives the pitch like this when they are playing football. If they accidentally wander on to the pitch during a game whilst walking their dog, they will see the ball as to-be-avoided, rather than as to-be-intercepted. It follows that, at any one time, the agent does not perceive their surroundings as offering a disparate collection of actions. Instead they perceive it as demanding a certain form of behaviour.

Gemäß diesen Gedanken ist es nicht so, dass die Umwelt eines Akteurs bloß die beliebige Arena seines Handelns ist, welches prinzipiell an jedem Ort stattfinden könnte. Für Stanleys Analyse gekonnten Handelns etwa spielt die Situation, in der sich ein Akteur befindet, keine entscheidende Rolle.¹³ Entscheidend sei allein, dass der Akteur von einem Weg wisse, wie man etwa Fußball spiele. Ganz anders sehen es Merleau-Ponty und Dreyfus: Das Spielfeld ist für den spielenden Spieler ein ganz anderes als für den Nicht-Spieler, und es leitet das Handeln des Spielers, indem es aus Angeboten und Aufforderungen besteht, auf bestimmte Weise zu reagieren. Und das Handeln des Spielers besteht darin, dass er auf diese Aufforderungen reagiert. Dreyfus würde davon sprechen, dass ein solches Handeln  Stanley billigt ihr zumindest nicht explizit eine entscheidende Rolle zu, und dies liegt sicherlich nicht daran, dass er bloß vergessen hat, einen wichtigen Aspekt seiner Theorie niederzuschreiben. Dennoch könnte Stanley replizieren, dass er im Rahmen seiner Theorie zumindest einen gewissen Raum für die Relevanz von Situationen schaffen kann, etwa indem spezifische Situationen die Gelegenheiten darstellen, ein Stück seines Wissen-Wies anzuwenden. Dabei jedoch ginge etwa der auffordernde Charakter von Gegebenheiten der Umwelt, den gesehen zu haben Romdenh-Romluc Merleau-Ponty zuschreibt, verloren.

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gewöhnlicherweise eine stark passive Komponente hat. Gemäß seinem ZweiSchichten-Modells könnten Menschen zwar ab und an im traditionellen Sinne mit autonomer Kontrolle agieren, zunächst und zumeist werde der Akteur aber gleichsam in die „Öffnungen“ in den gegnerischen Reihen hineingezogen.¹⁴ Mit jeder Positionsveränderung täten sich für ihn neue Öffnungen und Handlungsmöglichkeiten auf, und in diesem Sinne befinde er sich ständig in einem stets in Veränderung befindlichen Feld aus Handlungsmöglichkeiten und Handlungsaufforderungen.¹⁵ Darüber hinaus könne der Spieler so sehr in das Spiel eingetaucht sein, dass es so wirken könne, als „verschmelze“ er mit seiner Umgebung. Dass eine solche Beschreibung dabei ungewöhnlich und extrem wirkt, gesteht Dreyfus selbst umgehend zu (2013: 17, mit Bezug auf Heidegger 1925: 144): Merleau-Ponty’s description of the soccer player’s unmediated relation to the soccer „field“ may seem an extreme case. Heidegger, however, describes our everyday activity as a similar sort of absorption in a familiar field of relevant affordancеs directly soliciting our responses. He says: „[W]hat is first of all „given“ is the „for writing,“ the „for going in and out,“ … „for sitting.“ That is, writing, going-in-and-out, sitting, and the like are that wherein we a priori move. What we know when we „know our way around.“

Auch wenn Menschen normalerweise nicht wie Dreyfus’ Fußballspieler das Gefühl hätten, mit ihrer Umwelt zu „verschmelzen“, offenbare alles erfolgreiche unreflektierte Zurechtkommen im Grunde dasselbe Phänomen. Wie Heidegger gezeigt habe, bestehe demnach die Umwelt eines praktisch absorbiert handelnden Akteurs aus Handlungsmöglichkeiten („affordances“, in Dreyfus’ Verwendung des Begriffs), die, wenn sie jeweils relevant sind, den Akteur zu einem bestimmten Handeln auffordern. Merleau-Ponty interpretierend, beschreibt Komarine Romdenh-Romluc das Phänomen wie folgt (2011: 74):

 Es sei vorausgeschickt, dass ich mich in meiner eigenen, im nächsten Kapitel zu entwickelnden Konzeption von dieser Betonung der Passivität abgrenzen werde, und dass sie auch nicht problemlos in Philosophen wie Heidegger und Merleau-Ponty hineingelesen werden kann. Instruktiv ist vor diesem Hintergrund, wie Dreyfus in der zitierten Passage in eckigen Klammern Merleau-Pontys Aussage modifiziert und das Handeln damit ins Passive zieht: „Each maneuver undertaken by [i.e. called forth from] the player …“.  Nun können auch die in einem vorherigen Zitat erwähnten, aber dort noch nicht näher erläuterten Begriffe der „solicitation“ und der Motor-Intentionalität verständlich gemacht werden. Grob gesagt ist eine „solicitation“ eine jetzt gerade relevante Handlungsaufforderung (die Öffnung, die den Spieler jetzt anzieht, und nicht nur anziehen könnte), und Motor-Intentionalität die Art der Intentionalität, durch die ein direktes Reagieren auf Affordanzen strukturiert ist. Im nächsten Kapitel werde ich auf die sachlich wichtigen Topoi zurückkommen, wie aus vielen Handlungsaufforderungen eine relevante Handlungsaufforderung ausgewählt wird, und wie die Intentionalität des unreflektierten Zurechtkommens analysiert werden sollte.

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Merleau-Ponty holds that perceptual experience presents the perceiver with things that have a meaning or value for them, in terms of their capacities to interact with these things. The perceiver perceives their environment as ‘inviting’ them to interact with it in certain ways, as ‘offering’ certain possibilities for action and ‘disallowing’ others. In other words, the perceiver is not confronted with things that have merely ‘objective’ properties such as size, shape and so on. Instead, things look edible, reachable, kickable, etc. This fact about perceptual experience is reflected in ordinary claims we make about the way things look. We talk, for example, about certain kinds of food as looking delicious and appetising, which is to say that we perceive it as inviting us to eat it. Similarly, a dog can be described as looking dangerous, that is, we perceive it as not-to-be-stroked, as ’forbidding’ us to go near. Merleau-Ponty cites Koffka’s (1928) example of a candle flame that literally looks repulsive to a child who has been burnt by it – the child perceives the flame as to-be-avoided (Merleau-Ponty 1945: 64; 1962: 52; 2002: 60). We can also see from these examples that perception has an affective or emotive dimension. The affective values of perceived things contribute to the perceiver’s sense of what behaviour is appropriate or required. A city, for example, can feel foreboding, and this diffuse sense of danger ’invites’ the perceiver to pay close attention to their surroundings, to walk quickly, not to linger. One’s home, in contrast, feels familiar and safe. It invites one to relax, to let down one’s guard.

Die von Dreyfus zitierten Beispiele fügen sich nahtlos in die Liste der Beispiele ein. Die Tür fordert auf, das Büro zu betreten, der Stuhl, dort Platz zu nehmen, und der Laptop, an ihm über das Platznehmen zu schreiben. Dreyfus fügt auch noch weitere Bespiele an (2013: 23): We are always already absorbed in a nonconceptual background understanding of our shared social world. So, for example, we are directly drawn to the appropriate distance to stand from these people, in this light, in this elevator, with this background noise, and so forth.

Und selbst eine bestimmte Art des Schachspielens gehöre laut Dreyfus in diesen Bereich des unreflektiert gekonnten Zurechtkommens (2005: 53): A chess Grandmaster facing a position, for example, experiences a compelling sense of the issue and the best move. In a popular kind of chess called lightning chess, the whole game has to be played in two minutes. Under such time pressure, Grandmasters must make some of their moves as quickly as they can move their arms – less than a second a move – and yet they can still play Master level games. When the Grandmaster is playing lightning chess, as far as he can tell, he is simply responding to the patterns on the board. At this speed he must depend entirely on perception and not at all on analysis and comparison of alternatives.

Insgesamt kann Dreyfus’ Sichtweise durch wenigstens zwei positive Merkmale charakterisiert werden. Erstens wird die Umwelt in die Analyse des Handelns mit einbezogen. Entscheidend ist nicht länger nur, was im Kopf des Handelnden passiert, welche Proposition er bewusst oder unbewusst anwendet, sondern die ganze Situation, die soziale und physische Gegebenheiten mit einschließt. Und

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dabei wird Handeln zweitens nicht länger als Anwenden von Propositionen verstanden, sondern als das dynamische Interagieren mit relevanten Affordanzen, das unabhängig von der bewussten oder unbewussten Anwendung von Propositionen geschehen kann. Dreyfus hat seinen positiven Zugang nie näher ausgearbeitet. Ich werde an dieser Stelle Dreyfus’ positive Konzeption nicht weiter über das von Dreyfus selbst Gesagte hinaus aufführen; stattdessen ist es hilfreicher, auf Dreyfus’ Analyse der schon im letzten Kapitel diskutierten Explananda einzugehen, um dann die Perspektiven und Grenzen der Dreyfus’schen Beschreibung des unreflektierten Zurechtkommens genauer in den Blick nehmen zu können.¹⁶ Was ist Dreyfus’ Sichtweise auf Regeln, d. h. auf das erste der Phänomene und Themengebiete, in Bezug auf dessen Erklärbarkeit hin Stanleys Intellektualismus im letzten Kapitel untersucht worden ist? Hier ergibt sich Dreyfus’ Position aus dem Zusammenspiel seiner Analyse des unreflektierten Zurechtkommens und seiner Fundamentalitätsthese. Die Anwendung von Regeln ist für Dreyfus eine Angelegenheit der höheren Schicht. Im basalen gelingenden Zurechtkommen spielten Regeln keine Rolle. Dieses Zurechtkommen sei direkt und situationsspezifisch, während Regeln notwendig allgemein seien und ein Umgehen mit Regeln allenfalls zu einem vermittelten und indirekten Umgehen mit Dingen führen würde. Deshalb müsse eine Anwendung von Regeln immer zu einem weniger gelingenden Handeln führen, da nun nicht mehr auf die spezifischen Eigenheiten der Situation reagiert werde. Zudem seien Regeln wie bereits dargestellt weniger fundamental, da ihre Anwendung jeweils bereits einen Hintergrund unreflektiert erfolgreichen Zurechtkommens voraussetze. Dennoch weist Dreyfus das von ihm diskutierte Verständnis von Regeln als allgemein und Anwendungs-

 Man könnte einwenden, dass Dreyfus’ Theorie zu unbestimmt sei, um wirklich erklärende Kraft zu besitzen; damit wäre es schon von vornherein aus methodologischen Gründen müßig zu untersuchen, wie gut sie verschiedene Phänomene erklären kann. Meines Erachtens ist dies jedoch kein guter Einwand. So scheint der Einwand einen in diesem Kontext problematischen Begriff der Erklärung vorauszusetzen, demgemäß paradigmatischerweise der Verweis auf physikalische Gesetze eine gute Erklärung darstellte. An einem solchen Standard gemessen gäbe es in der Philosophie des Geistes und des Handelns sowie in der Psychologie und in der Neurowissenschaft keine Erklärungen. Es ist aber offensichtlich, dass etwa in der Handlungstheorie sinnvoll von guten und schlechten Erklärungen gesprochen werden kann. Nur in diesem weiten Sinne gebrauche ich hier den Begriff der Erklärung. Zudem kann es zielführend sein zu untersuchen, wie gut Dreyfus’ Theorie mit verschiedenen Phänomenen umgehen kann. Dann nämlich kann ersichtlich werden, welche von Dreyfus’ Gedanken es sich überhaupt lohnt, in einen theoretischen Rahmen für eine erfolgreiche Analyse zu übernehmen, so dass dieser theoretische Rahmen dann später derart präzisiert werden kann, dass er die Art von erklärender Kraft bekommt, die in der Handlungstheorie einigen guten Theorien zugesprochen wird.

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bedürftig nicht zurück, sondern betrachtet es als sekundär. In einigen Fällen habe man ja eine explizite Regel vor dem geistigen Auge, diese Fälle seien nur eben selten. Beispielsweise können Regeln gerade im Prozess des Erlernens einer Fähigkeit eine wichtige Rolle spielen, wenn sie auch zur Erlangung unreflektiert und erfolgreich zurechtkommender Meisterschaft weggeworfen werden müssten wie Stützräder beim Erlernen des Fahrradfahrens. Wie versteht Dreyfus Intelligenz? Wenig überraschend tritt Dreyfus als AntiIntellektualist vehement dem Bild der intellektualistischen Legende entgegen, wie es von Ryle kritisiert von Stanley vertreten wird. Gemäß dieser Sichtweise bestehe Intelligenz gerade im Wissen um Fakten. Während gemäß dem Intellektualismus die Theorie (das Verfügen über propositionales Wissen) intelligent und die Praxis (die automatische Anwendung des theoretischen Wissens) dumm sei (d. h. bei Stanley gerade nur in der automatischen Anwendung von Propositionen besteht), dreht Dreyfus im Anschluss an Heidegger das Verhältnis genau herum: Das direkte praktische unreflektierte Reagieren auf seine Umwelt sei potentiell intelligent, während dem bewusstes Nachdenken immer etwas Defizitäres anhafte. Dreyfus schreibt (Selinger, Dreyfus und Collins 2007: 737): I would hold (following Heidegger as usual) that to show intelligence one has to be able to make the discriminations an intelligent person would make. To tell that that remark in this situation was an insult is not just being able to define insults and the general situations they occur in, but, again, to know one when one hears one. Context is everything in determining whether a remark is an insult or a joke or compliment or just irrelevant.

Entscheidend sei nicht, dass man über abstrakte Methoden verfüge, wie man eine Beleidigung von einem Spaß unterscheiden könne, sondern dass man direkt innerhalb einer Situation auf die entsprechende Weise zu reagieren vermöge. Dennoch gebe es, wie bereits erwähnt, einen Platz für Nachdenken, Theorie und Wissen-Dass, nämlich in dem Fall, in dem das unreflektierte intelligente Zurechtkommen zusammenbreche (Dreyfus 1991: 70): Thus Heidegger leaves open a place for traditional intentionality at the point where there is a breakdown. For example, if the doorknob sticks, we find ourselves deliberately trying to turn the doorknob,desiring that it turn, expecting the door to open, etc. (This, of course, does not imply that we were trying, desiring, expecting, etc. all along.)

Genau genommen unterscheidet Dreyfus drei Stufen, und zwar das erfolgreiche unreflektierte Zurechtkommen, das schon abstraktere, aber immerhin auf eine konkrete Situation bezogene Problem-Lösen, und das bloß theoretische allgemeine Kontemplieren.Wichtig, um den Kern der Position Dreyfus’ zu verstehen, ist

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aber vor allem, dass Dreyfus Intelligenz allein auf der Ebene des erfolgreichen unreflektierten Zurechtkommens verortet. Wie versteht Dreyfus Kontrolle? Zunächst geht Dreyfus davon aus, dass unreflektiertes gekonntes Zurechtkommen gerade nicht durch Absichten mit propositionalem Gehalt kontrolliert wird. Wie Sprache, Repräsentationen, Bewusstsein, Begriffe, Regeln, und Propositionen spielten Absichten auf der fundamentalen Schicht des erfolgreichen Zurechtkommens keine Rolle. In den fundamentalen Fällen unreflektierten, gekonnten Zurechtkommens sei ein Akteur allenfalls durch die Aufforderungen geleitet, die in der Situation bestünden, in der sich der Akteur befinde. Dies könne möglicherweise – Dreyfus’ Konzeption schwankt hier – auch an psychopathologischen Fällen von Personen gesehen werden, die zwar praktisch absorbiert bestimmte Tätigkeiten verrichten können, dies aber nicht absichtlich und zielgerichtet unter bewusster Kontrolle zustande bringen. Ein Beispiel für eine solche Tätigkeit ist es etwa, dass sich eine solche Person zwar unreflektiert die Nase putzen, aber nicht auf ihre Nase zeigen kann, wenn dies explizit von ihr verlangt wird. In einem abgeleiteten Fall, nämlich dann, wenn etwas schief geht, könne ein Akteur aber sehr wohl die Art von bewusster und aufmerksamer Kontrolle an den Tag legen, die von der Tradition beschrieben wird. Dabei sollte Dreyfus wohlwollend so verstanden werden, dass er nicht davon ausgeht, es müsse einen stets präsenten bewussten Willen geben, der auch das spontane Handeln auf irgendeine Weise überwacht – wie es etwa Schiller angenommen hat und Velleman immer noch annimmt.¹⁷ Wie versteht Dreyfus Bewusstsein? Auch dies ist ein Punkt, in dem sich Dreyfus’ Sichtweise ständig ändert. Prinzipiell verortet er Bewusstsein auf der höheren Schicht des theoretischen, distanzierten Nachdenkens, und geht dann entsprechend davon aus, dass das unreflektierte gelungene Handeln unbewusst sei. Dabei differenziert Dreyfus aber nicht zwischen verschiedenen Arten und Erscheinungsformen des Bewusstseins. Gemäß seiner schwächsten Ausbuchstabierung des Gedankens – die die anspruchsvollste Konzeption des Bewusstseins voraussetzt – ist im unreflektierten Handeln kein Selbst-Bewusstsein (im philo Dreyfus (b:  Fn. ) schreibt: „I’m siding with Merleau-Ponty and current neurological models of skilled action, (such as actorcritic reinforcement learning models), which claim that consciousness is only called into action once the brain has detected something going wrong.“ Auf den ersten Blick scheint im Vergleich zu Schiller und Velleman lediglich „überwachender Wille“ durch „überwachendes Gehirn“ ersetzt; auf den zweiten Blick aber zeigt der Verweis auf MerleauPonty und kognitionswissenschaftliche Theorien des Lernens eine neue Denkweise auf, die sich so bei Schiller und Velleman nicht findet: Es wird nun von einem Mechanismus ausgegangen, durch den erst in einem Problemfalle ein Zustand bewusster Aufmerksamkeit herbeigeführt wird; ein bewusster überwachender Wille muss dagegen nicht mehr als allzeit gegenwärtig angenommen werden.

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sophischen Sinne) präsent. Gemäß einer schwächeren Lesart, die oben in dem Beispiel des Blitzschach spielenden Großmeisters schon angesprochen worden ist, ist im unreflektierten Handeln kein praktisches Wissen präsent, so dass etwa der Großmeister auf Nachfrage gar nicht genau sagen kann, was er eigentlich tut, und sich zur Beantwortung jener Frage erst selbst beobachten muss. In der radikalsten Lesart ist überhaupt kein Bewusstsein präsent. Das unreflektiert zurechtkommende Leben liefe dann gleichsam im Halbschlaf ab. So schreibt Dreyfus auch in seinem neuesten Beitrag zu seiner Debatte mit McDowell (2013: 38 Fn. 43): „An Olympic swimmer on autopilot is in a way like a sleepwalker, but he is a master swimmer swimming at his best.“ Hannes Worthmann beschreibt treffend, wie eine Dreyfus’sche Sichtweise auf menschliches Handeln aussieht, wenn man sie auf einen gewöhnlichen Tagesablauf anwendet (2011: 15): Vieles, was Menschen alltäglich tun, machen sie unbewusst, ohne darüber nachzudenken, manchmal gar ohne zu wissen, wie genau sie es eigentlich tun. Bereits im morgendlichen Halbschlaf betätigen wir präzise die Taste des Weckers, gehen noch verschlafen an unserem Arbeitsplatz vorbei, wo wir nebenbei den Computer anschalten. Während wir die Kaffeemaschine auffüllen, denken wir über etwas ganz anderes nach, zum Bespiel, wann wir uns heute eigentlich zum Mittag verabredet hatten. So reibungslos geht der Tag weiter: Mit geübten Bewegungen steuern wir das Auto, schalten blind und präzise in den korrekten Gang, und sorgen ohne Blick auf den Tachometer für die angemessene Geschwindigkeit in einer scharfen Kurve.

Was ist Dreyfus’ Konzeption von Sprache? Wiederum ordnet Dreyfus Sprache – einigen Passagen aus Sein und Zeit folgend – der höheren Schicht zu. Entsprechend versteht er das unreflektierte Zurechtkommen als frei von Sprache und (sprachlichen) Begriffen. Dabei geht er sogar so weit zu behaupten, dass im unreflektierten Zurechtkommen nicht einmal etwas als etwas wahrgenommen würde (Dreyfus 2007b: 374 f.): Likewise on the side of the world, our way of taking account of the doorknob in using it to go out the door isn’t itself such that, were I to attend to it (i. e. to the way of taking account of the doorknob while using it to go out the door) I would find something seen as a doorknob. That is, I don’t see the doorknob as a doorknob when I’m absorbed in using it, and the way I do take account of it in this case isn’t just an implicit version of seeing it as a doorknob. Yet, my coping is mine in that I can break off doing it, and for that reason I take responsibility for it.

Zumindest explizit und bewusst nehme man im unreflektierten Zurechtkommen, so Dreyfus, nicht einmal eine Türklinke als Türklinke war. Es sei dabei zudem angemerkt, dass Dreyfus die wichtige Frage nach der Verantwortbarkeit unreflektierten Handelns nicht beantwortet, obwohl es gerade Fragen nach Verantwortbarkeit und Rationalität sind, die Dreyfus’ Gegner wie John McDowell dazu

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bringen, diejenigen intellektualistische Positionen zu vertreten, die sie vertreten, und die letzten Endes auch Schiller dazu gebracht haben, trotz seiner Einsicht in die Existenz des Mittelreichs einen omnipräsenten bewussten Willen zu postulieren. Ich werde aus besagten Gründen im vierten Kapitel auf dieses so wichtige Thema zurückkommen; für das vorliegende Kapitel klammere ich es jedoch aus. Wie versteht Dreyfus Kognition? Dreyfus’ Position entspricht auch hier der Position Kleists, wenn er annimmt, dass Bewusstsein und Geist im unreflektierten Handeln nicht präsent seien. Insbesondere lehnt Dreyfus die These ab, dass es erst eines Bewusstseins bedürfe, um Dingen eine Bedeutung zu verleihen. Stattdessen könne mit Heidegger gesehen werden, dass es ein bedeutsames Gegebenes gebe, indem Dinge für einen Akteur direkt eine praktische Signifikanz besäßen. Um ein naheliegendes Beispiel zu wählen, kann die Präsenz der Mutter für das junge Baby direkt eine praktische Signifikanz besitzen, auch ohne dass das das Baby bewusst erst eine Signifikanz verleihen musste. Dreyfus schreibt (2005: 55): A „bare Given“ and the „thinkable“ are not our only alternatives. We must accept the possibility that our ground-level coping opens up the world by opening us to a meaningful Given – a Given that is nonconceptual but not bare.

Mit seinem ehemaligen Schüler Sean Kelly als Ko-Autor führt Dreyfus aus, dass dagegen die Sichtweise, Bedeutung müsse erst verliehen werden, in die Gefahr läuft, dass überhaupt nichts mehr von Relevanz ist (Dreyfus und Kelly 2010: 172): Indeed, the step is very short from the Kantian notion of the human being as a fully autonomous self to the Nietzschean notion of the human being as a free spirit who makes up whatever meanings he likes. Precisely because they are freely made up, however, meanings can also be freely taken back. Therefore, they have no authority over the maker.

Wenn Bedeutung aber nicht immer erst etwa durch ein Bewusstsein verliehen werden muss, stellt sich umgehend die Frage, wie es denn dann möglich ist, dass einem Akteur Dinge auf bedeutungsvolle Weise gegeben sind. Dreyfus spielt an einer Stelle (2005: 49 f.) auf Walter Freemans Modell neuronaler Netzwerke an, führt diesen Gedanken aber nicht näher aus. Welche Sichtweise nimmt Dreyfus auf Lernen ein? Laut Dreyfus ist das Ziel des Lernens nicht, möglichst viele Propositionen zu wissen. Stattdessen können laut Dreyfus Regeln und Begriffe gleichsam Stützrädern nur ein vorübergehendes Hilfsmittel sein, um am Ende den Zustand der Meisterschaft zu erreichen. Für den Meister sei die Umwelt eine andere geworden, indem sie für ihn nun aus vielen subtilen und feinkörnigen Handlungsmöglichkeiten bestehe, die für den Novizen oder bloßen Theoretiker nicht existierten. Dreyfus schreibt (2013: 35):

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To sum up: In all domains, masters learn primarily not from analyzing their successes and failures but from the results of hundreds of thousands of actions. And what they learn are not critically justifiable concepts but sensitivity to subtler and subtler similarities and differences of perceptual patterns. Thus, learning changes, not the master’s mind, but his world.

Und Dreyfus liefert folgende Illustration, indem er David Foster Wallace zitiert, der über Roger Federer schreibt:¹⁸ For promising junior players, refining the kinesthetic sense is the main goal of the extreme daily practice regimens we often hear about. The training here is both muscular and neurological. Hitting thousands of strokes, day after day, develops the ability to do by „feel“ what cannot be done by regular conscious thought. Repetitive practice like this often looks tedious or even cruel to an outsider, but the outsider can’t feel what’s going on inside the player – tiny adjustments, over and over, and a sense of each change’s effects that gets more and more acute even as it recedes from normal consciousness.

Was schließlich versteht Dreyfus unter Expertise? Der Experte ist laut Dreyfus derjenige, der sich nach langem Training ganz im Sinne Kleists von allem Geist, Bewusstsein, Nachdenken und Überlegen frei gemacht hat und nun im unreflektierten Flow in einer reichen, bunten und leuchtenden Welt voller bedeutungsvoller Handlungsaufforderungen lebt. Wie Expertise durch Nachdenken verhindert werden kann, illustriert Dreyfus anhand von folgender mittlerweile viel zitierter Anekdote (Dreyfus 2007a: 354): For an extreme case of the inverse relation of a free-distanced orientation and involved skilled action, consider the case of Chuck Knoblauch. As second baseman for the New York Yankees, Knoblauch was so successful he was voted best infielder of the year, but one day, rather than simply fielding a hit and throwing the ball to first base, it seems he stepped back and took up a „free, distanced orientation“ towards the ball and how he was throwing it – to the mechanics of it, as he put it. After that, he couldn’t recover his former absorption and often though not always threw the ball to first base erratically – once into the face of a spectator. Interestingly, even after he seemed unable to resist stepping back and being mindful, Knoblauch could still play brilliant baseball in difficult situations – atching a hard-hit ground ball and throwing it to first faster than thought.What he couldn’t do was field an easy routine grounder directly to second base, because that gave him time to think before throwing to first. I’m told that in some replays of such easy throws one could actually see Knoblauch looking with puzzlement at his hand trying to figure out the mechanics of throwing the ball.There was nothing wrong with Knoblauch’s body; he could still exercise his skill as long as the situation required that he act before he had time to think. In this case we can see precisely that the enemy of expertise is thought.

 Wallace, „Federer as Religious Experience,“ New York Times, . August , zitiert gemäß Dreyfus :  Fn. .

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„The enemy of expertise is thought“ – das ist natürlich genau die Art von Aussage, der Stanley mit seinem Intellektualismus vehement entgegentritt (siehe S 23 f.). Stanleys Intellektualismus hat sich dabei im letzten Kapitel entscheidenden Problemen ausgesetzt sehen müssen. Nun gilt es zu herauszufinden, inwiefern Dreyfus’ einflussreiche – und immerhin viele Gedanken Heideggers und MerleauPontys aufgreifende – Alternative erfolgreicher ist …

2 Die Grenzen des Anti-Intellektualismus Nacheinander werde ich dazu die Themenkomplexe Regeln, Intelligenz, Kontrolle, Bewusstsein, Sprache, Kognition, Lernen und Expertise durchgehen, in Parallelität zur Untersuchung des Stanley’schen Intellektualismus.

a Regeln Ist Dreyfus’ Sichtweise plausibel und erhellend, dass Regeln allein auf einer höheren Schicht bewussten theoretisierenden Nachdenkens angesiedelt sind? Und ist Dreyfus’ Ansicht überzeugend, dass Regeln als etwas Allgemeines immer dem gekonnten, situations-spezifischen Zurechtkommen im Wege stehen? Ein erstes Problem für Dreyfus’ Sichtweise ergibt sich indirekt aus einem Punkt, den Stanley gegen Dreyfus anführt. Stanley schreibt (2011: 23): If the intellectualist is allowed to have reasonable views about what it is to act on a reason, then she has no problem whatsoever explaining what occurred with Chuck Knoblauch. The reason that Knoblauch’s reflection impeded his action was not because his action was unguided. It was rather because he engaged in a distinct action of reflecting on a proposition before he acted. As I will argue in subsequent chapters, genuinely skilled action requires being directly guided by one’s propositional knowledge – being guided automatically and without reflection.

Wie ich bereits diskutiert habe und in meiner Diagnose auch noch einmal diskutieren werde, buchstabiert Stanley in keiner (über seinen bloßen Verweis auf automatische, subpersonale Anwendungsmechanismen hinausgehenden) Weise aus, was es heißen soll, direkt und automatisch von propositionalem Wissen geleitet zu sein.¹⁹ Stanleys Konzeption ist daher gegenüber Dreyfus’ Konzeption

 Nur um Missverständnisse zu vermeiden, sollte ich noch ein zweites Mal hervorheben, dass in Passagen wie der vorliegenden kein Themenwechsel vollzogen wird, da sowohl für Stanley als

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nicht im Vorteil. Dennoch benötigt Dreyfus eine solche Konzeption wie sie von Stanley angesprochen wird. Denn Dreyfus geht – zu Recht – davon aus, dass das unreflektierte Zurechtkommen auch das Folgen sozialer Normen wie dem Halten des richtigen Abstands während eines Gesprächs mit einschließt. Also benötigt auch Dreyfus eine Konzeption des unreflektierten Regelfolgens – er sollte mit anderen Worten die handlungstheoretische Struktur derjenigen Handlungen positiv verständlich machen können, bei denen der Handelnde weder bewusst noch unbewusst eine Regel anwendet und von denen aber treffend gesagt werden kann, dass der Handelnde hier Regeln folge. Aber Dreyfus verortet Regelfolgen allein auf seiner höheren Schicht. Und vor diesem Hintergrund verfügt er über keine konzeptuellen Ressourcen, um die Möglichkeit unreflektierten Regelfolgens verständlich machen zu können.²⁰ Zweitens benötigt Dreyfus eine derartige Konzeption des unreflektierten Regelfolgens, weil auch die Personen in seinen Beispielen in einem wichtigen Sinne Regeln folgen, auch wenn sie nicht daran denken. In einem Sinne folgt auch der Blitzschach-Spieler den Regeln des Schach, auch wenn er nicht daran denkt, und der gesunde Chuck Knoblauch den Regeln des Baseball, auch wenn er noch nicht mit der scheinbar schädlichen Selbst-Reflexion begonnen hat. Drittens ist es ein Problem des Dreyfus’schen Ansatzes, dass Dreyfus nicht erklären kann, wie überhaupt explizite und bewusste Regeln angewandt werden. Er behauptet, dass dies vermöge des unreflektierten Hintergrunds geschehen könne, buchstabiert aber nicht aus, wie die eine untere Schicht diese unterstützende Arbeit für die davon ganz verschiedene höhere Schicht übernehmen soll (vgl. dazu McManus 2008). Dabei ist es auch ein Problem, dass Dreyfus, ähnlich wie Stroud, den Begriff der Regel (bzw. des semantischen Gehalts) überhaupt so versteht, dass Regeln immer erst einer Interpretation bedürfen. Natürlicher zu sagen wäre demnach, dass eine Regel immer schon verstanden ist, und nur in

auch für Dreyfus das Handeln auf der Basis von Regeln, Propositionen und Gründen hinsichtlich ihrer handlungstheoretischen Struktur nicht entscheidend verschieden sind. Eine deutlich differenzierte Sichtweise entwickele ich unten in Kapitel IV.  Dreyfus könnte natürlich vorschlagen, dass das Folgen sozialer Normen damit zusammenhängt, dass die diesen Normen Folgenden auf bestimmte Weise auf Affordanzen reagieren. Dieser Gedanke weist meines Erachtens in die Richtung. Dann wäre mein Einwand an dieser Stelle lediglich, dass Dreyfus’ Konzeption an dieser Stelle (auch auf Nachfrage) zu unbestimmt ist, um zu sehen, wie genau er die Phänomene unreflektierten Regelfolgens ausbuchstabiert. Wie ich aber vorschlagen möchte, hat Dreyfus bisher nicht einfach vergessen, diese Aufgabe zu lösen, sondern musste sie aus dem systematischen Grund übersehen, dass er den Begriff der Regel problematischerweise allein auf der höheren Schicht verortet und damit nicht sehen gekonnt hat, dass überhaupt die Notwendigkeit besteht, eine Konzeption des unreflektierten Regelfolgens zu entwickeln.

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Einzelfällen einer einzelnen Person unklar sein kann, wie mit einer bestimmten Regel-Formulierung zu verfahren ist (Beyer 1997: 364). Viertens ergibt sich ein Problem für Dreyfus’ Behauptung, Regeln könnten nicht zu einem meisterhaften Zurechtkommen führen, weil sie allgemein seien, während ein meisterhaftes Zurechtkommen ein Reagieren auf die Eigenheiten der ganz spezifischen Situation erfordere. Dieser Gedankengang kann nicht stimmen, weil ein Reagieren auf Eigenheiten einer Situation immer bis zu einem gewissen Grade allgemein sein muss, wenn er nicht purer Zufall sein soll. Beispielsweise kategorisiert jemand, der als Experte feinkörnige Unterscheidungen machen kann, seine Erfahrung in einem wichtigen Sinne ebenfalls; seine Unterscheidungsmöglichkeiten sind nur subtiler. Und wäre praktisches Erfahren nicht in einem wichtigen Sinne allgemein, sondern jede Situation vollkommen anders als jede andere, dann wäre unklar, was es überhaupt bringen sollte, etwas zu trainieren oder aus seiner Erfahrung zu lernen. Fünftens sind auch Wegweiser und Verkehrsschilder in einem Sinne des Wortes Regeln. Es ist aber gut möglich, dass ein unreflektiert Zurechtkommender mit diesen Regeln spielend leicht umgehen kann, indem er etwa anstrengungslos den Wegweisern folgt. Diese Möglichkeit kann Dreyfus nicht berücksichtigen. Sechstens schließlich scheint es nicht zu stimmen, dass das Anwenden von Regeln die Leistungsfähigkeit herabsetzt und ein Meister keinen Regeln folgen kann – selbst wenn Regeln als etwa explizit Ausformuliertes verstanden werden. So ist es möglich, dass ein erfahrener meisterhafter Richter juristische Regeln spielend leicht berücksichtigen und anwenden kann. Das Anwenden expliziter Regeln wäre dann geradezu konstitutiv für die Meisterschaft im Richter-Sein.

b Intelligenz Ist Dreyfus’ Konzeption von Intelligenz plausibler? Stimmt es, dass nur das situationsspezifische unreflektierte praktische Zurechtkommen wahrhaft intelligent ist, aber nicht das theoretisierende Nachdenken? Erstens ist Dreyfus’ Identifizierung von Bewusstsein mit Nachdenken mit Theoretisieren mit distanziertem Betrachten dubios. Vor dem Hintergrund der Problematizität dieser Identifizierung führt John McDowell auch seinen Haupteinwand gegen Dreyfus an. McDowell wirft Dreyfus nämlich vor, in seinem Denken immer noch einen Cartesianischen Dualismus von Körper und Geist vorauszusetzen. Und man wird sagen können, dass Dreyfus deshalb in diesen Bahnen denkt, weil er den Geist ähnlich wie Kleist allein in Begriffen von Bewusstsein und theoretisch distanziertem Betrachten konzeptualisiert, so dass dann erst eine

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Entgegensetzung von geist-geleitetem Handeln einerseits und körperlichem Handeln andererseits nahegelegt wird. McDowell schreibt (2007a: 369 f.): Dreyfus objects to me from a standpoint at which he takes for granted that mindedness is detached from engagement in bodily life. This goes with a dualism of embodiment and mindedness that is reminiscent of Descartes. Of course this dualism is not exactly Cartesian; the body is not conceived as a machine. On the contrary, the body, as Merleau-Ponty and Dreyfus conceive it, is distinctly person-like. It is supposed to have practical knowledge. Now I could put what I urge at the end of my paper like this: I am the only person-like thing (person, actually) that is needed in a description of my bodily activity. If you distinguish me from my body, and give my body that person-like character, you have too many person-like things in the picture when you try to describe my bodily doings. And the need Dreyfus thinks there is for this awkward separation of me from my body reflects a conception of mindedness that I think we should discard.We should not start with the assumption that mindedness, the characteristic in virtue of which I am the thinking thing I am, is alien to unreflective immersion in bodily life. If we let our conception of mindedness be controlled by the thought that mindedness is operative even in our unreflective perceiving and acting, we can regain an integrated conception of ourselves, as animals, and—what comes with that—beings whose life is pervasively bodily, but of a distinctively rational kind.

Zu Dreyfus’ und Merleau-Pontys Verteidigung muss man sagen, dass McDowells Ausführungen sehr viel Rhetorik enthalten und McDowell etwa die Gedanken Merleau-Pontys nicht gut zu kennen scheint. Merleau-Ponty beschreibt den Körper nicht aus Versehen in personalen Begriffen, sondern um eine neue Sichtweise auf menschliches Handeln zu artikulieren, die sich seines Erachtens auf diese Weise am besten ausdrücken lässt. Es ist auch nicht verkehrt, das Wort „Ich“ in einem technischen Sinne im Zusammenhang mit explizitem Selbst-Bewusstsein zu verwenden und dann (mit Merleau-Ponty und Dreyfus) zu sagen, dass im Handeln des Körpers kein Ich (in einem distanzierten, selbst-reflektierenden Sinne) zugegen sei. Dass man denselben Punkt auf andere Weise möglicherweise glücklicher ausdrücken könnte, bedeutet nicht, dass Merleau-Ponty hier falsch liegt.²¹ Und wenn Dreyfus und Merleau-Ponty recht haben, dass es gekonntes Handeln ohne Selbst-Bewusstsein und das Vorliegen von praktischem Wissen geben kann, dann muss ihnen auch gestattet sein, den Gedanken überhaupt in bestimmten Begriffen auszudrücken. McDowells restriktive Redeweise hingegen – es gebe nur eine Personen-artige Sache, nämlich mich – würde ihnen verunmöglichen, diesen Gedanken ausdrücken. In Antwort hierauf könnte McDowell zwar möglicherweise darauf insistieren, dass es doch zumindest potentiell irreführend sei und in die

 Einen ersten Schritt vorwärts würde z. B. der Rekurs auf die im Deutschen, aber nicht problemlos im Englischen mögliche Unterscheidung zwischen Körper und Leib darstellen; vgl. dazu Demmerling .

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Gegend einer Homunkulus-Theorie führe, wenn dem Körper Personen- und Subjekt-Status zugebilligt werde. Aber wiederum ist daran zu erinnern, dass eine solche metaphorische Redeweise hilfreich sein kann, um Phänomene zu treffen, die McDowell mit seiner Redeweise nicht trifft; dass man prinzipiell durch Merleau-Pontys Redeweise zu einer kruden Homunkulus-Theorie des Körpers verführt werden kann, heißt nicht, dass Merleau-Ponty ein solcher Fehler unterlaufen ist. Doch trotz dieser Probleme mit McDowells zentralem Einwand gegen Dreyfus hat der Einwand einen richtigen und wichtigen Kern, nämlich dass Dreyfus’ Denken in einem problematischen Sinne einen Cartesianischen Dualismus voraussetzt, nicht zuletzt, weil er den Geist einseitig als distanziert-nachdenkend und damit als dem Handeln „des Körpers“ entgegengesetzt versteht.Warum aber sollte Nachdenken mit einem distanzierten nur noch hinstarrenden Theoretisieren oder einem defizitären Problemlösen identifiziert werden, so dass dann erst ein derartiger Dualismus nahegelegt wird?²² Wenn dieser Punkt wertgeschätzt wird, kann zweitens ersichtlich werden, dass es auch möglich ist, dass ein Mensch gelungen und erfolgreich intelligent nachdenken kann, ohne dass er dabei bloß auf eine kalte objektive Welt starrt und ohne dass er nur ein Problem lösen muss, weil im unreflektierten Zurechtkommen etwa schief gelaufen ist. Beispiele sind Großmeister im (Nicht-Blitzschach‐) Schach, Chirurgen, die unter anderem deshalb erfolgreich sind, weil sie den Operationsverlauf vorher im Kopf durchgehen, oder Sportler, die beispielweise vorher bewusst abschätzen, wie sie abspringen sollen. Drittens erscheint es auch falsch, dass ein distanziert betrachtendes Problemlösen immer unbeholfen und defizitär ist. Man kann sich schließlich auch einen Menschen vorstellen, der sehr intelligent darin ist, Probleme zu lösen. Viertens ist es naheliegend, dass Intelligenz nicht nur darin liegt, wie man gekonnt und unreflektiert in einer Materie zurechtkommt, in der man schon Meister geworden ist, sondern auch darin, wie schnell man sich ein neues Gebiet erschließen kann. Und ebenfalls kann Intelligenz auch darin liegen, wie schnell man sich in ungewohnten Situationen zurechtfinden kann. Dreyfus kann diese Umstände nicht einfangen, wenn er Intelligenz nur auf der Schicht des unreflektierten Zurechtkommens verortet.

 Weil der Gedanke falsch und dialektisch nicht von Relevanz ist, gehe ich nicht darauf ein, dass Dreyfus an einigen Stellen Heidegger folgend drei Schichten unterscheidet, nämlich die des unreflektierten Umgehens mit Zuhandenem, die des reflektierten, problemlösenden Umgangs mit Unzuhandenem, wenn das unreflektierte Umgehen schief gegangen ist, und die des bloß theoretisierenden Anstarrens von nur noch Vorhandenem. Selbst wenn Dreyfus die Existenz von  verschiedenen Schichten annähme, würde es ihm nichts nützen, weil die Existenz eines Schichten-Modells selbst problematisch ist – darauf werde ich zurückkommen.

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Fünftens schließlich scheint, wie auch im ersten Kapitel mit Ryle gegen Stanley eingewandt worden ist, der Umgang mit Regeln mehr oder weniger intelligent sein zu können. Wer etwa den Zweck einer Regel in der Anwendung mit einbedenkt, wendet die Regel intelligenter an als jemand, der sich am bloßen Wortlaut festklammert. Aber Dreyfus scheint dies nicht anerkennen zu können, wenn er Regeln bloß auf einer zweiten, eo ipso defizitären Stufe verortet.

c Kontrolle Hat Dreyfus recht damit, dass bewusstes Handeln durch Absichten mit propositionalem Gehalt kontrolliert ist, während unreflektiertes Zurechtkommen allein durch Faktoren der Umwelt kontrolliert wird? Erstens ist es bei Lichte betrachtet gemäß Dreyfus’ eigener Standards problematisch, dass er für den Bereich des reflektierten Handelns noch „die klassische“ Konzeption autonomen Handelns voraussetzt. Hätte etwa Heidegger mit seiner Analyse recht, dass Menschen stets in bestimmte Umstände geworfen sind und dass dies dann auch der Hintergrund für ihre Entscheidungen ist, wird beispielsweise erklärungsbedürftig, was es genau heißt, dass eine Entscheidung „frei“ ist.²³ Zweitens ist es besonders wichtig festzustellen, dass der Gedanke falsch ist, es gäbe – vielleicht den zwei Schichten entsprechend – zwei grundverschiedene und vollkommen unterschiedlich strukturierte Arten des Handelns. Denn zwar ist das Handeln im Mittelreich in einem Sinne verschieden von reflektiertem Handeln, das nicht im Mittelreich liegt. Doch anders als Dreyfus annimmt ist in einem anderen Sinne auch ein unreflektiertes Zurechtkommen oft durch Absichten beeinflusst. Der Fußballspieler kann zwar etwa direkt auf die Öffnungen in den gegnerischen Verteidigungsreihen reagieren. Aber eine philosophische Konzeption sollte dabei zumindest begrifflichen Raum für die Möglichkeit lassen, dass der Spieler dabei durch die Absicht geleitet ist, ein Tor zu schießen, oder zumindest durch die Absicht, das Spiel zu gewinnen. Der entscheidende Punkt ist, dass ein und dasselbe Stück Handeln zugleich sowohl durch eine Absicht geleitet sein als auch im direkten Reagieren auf Aufforderungen bestehen kann. Um noch ein anderes Beispiel zu wählen, kann man sich eine Person vorstellen, die auf dem Weg zu Theater ist. Auf dem Weg reagiert sie direkt, „im Flow“ auf allerlei Auf-

 Heidegger selbst hat dieses Problem zumindest später nach seiner Abkehr von Sein und Zeit deutlich gesehen (vgl. Lee Braver ). Auf das Thema der Freiheit werde ich im vierten Kapitel zurückkommen.

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forderungen, und dies erklärt ihr Handeln am besten. Aber sie würde nicht so handeln, wie sie handelt, wenn sie nicht zugleich die Absicht hätte, zum Theater zu gehen. Drittens schließlich – um den letzten Punkt noch einmal aus einer anderen Perspektive in den Blick zu nehmen – wirkt bei Lichte betrachtet der generelle Gedanke merkwürdig, dass sich menschliches Tun immer entweder in der einen Schicht bewegt oder in der anderen. Viel natürlicher scheint die leicht beobachtbare Ansicht zu sein, dass Menschen etwa in einem Gespräch zwar mitunter direkt auf das reagieren können, was der Gesprächspartner sagt, dass sie aber auch vorher für ein oder zwei Sekunden über ihre Antwort nachdenken und erst dann antworten können, ohne dass sie hierbei im zweiten, aber nicht im ersten Falle zwischen zwei verschiedenen Schichten wechseln müssten. Ebenfalls scheint es phänomengerechter zu sein, den Fußballspieler so zu beschreiben, dass er zwar direkt auf die Öffnungen in den gegnerischen Verteidigungsreihen reagieren kann, dass er aber während des Vorwärtsstürmens bewusst die Laufwege der gegnerischen Spieler antizipiert, und das, ohne dabei zwischen verschiedenen Schichten hin- und herzuwechseln. Kurzum ist McDowell zuzustimmen, wenn er sagt, dass das Schichten-Modell die praktische menschliche Erfahrung dort entzwei reißt, wo in Wirklichkeit Einheitlichkeit liegt.

d Bewusstsein Ist Dreyfus’ Analyse der Phänomene plausibel, dass unreflektiertes Zurechtkommen ohne Bewusstsein abläuft und im Idealfall (in der radikalsten Lesart) etwa ein vollkommen absorbierter Tennisspieler im Flow bewusst überhaupt nichts mehr von seiner Umgebung mitbekommt, so dass er auf Nachfrage nicht genau sagen kann, was er gerade überhaupt getan hat? John Searle kommentiert diesen Gedankenkomplex wie folgt (2000: 79): I think any clinician would say that Dreyfus describes a deaf mute tennis player who also seems to be suffering a bilateral lesion of the hippocampus that prevents him from having any overall sense of the game.

Und ganz generell scheint Searle darin recht zu haben, dass vollkommen absorbierten Könnern in Dreyfus’ Beispielen etwas Pathologisches anhaftet und sie sogar fast – wie sich Searle mündlich gerne ausdrückt – zu Zombies werden. Nur gilt es präziser zu sehen, in welchen Punkten genau Dreyfus’ Analyse problematisch ist.

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Um einen fairen Blick auf die Probleme zu bekommen, ist es zunächst wichtig, zwei Punkte hervorzuheben, in denen Dreyfus’ Position wichtige Einsichten enthält, die von Searle übersehen werden. Erstens läuft tatsächlich ein großer Teil menschlichen Handelns ohne Bewusstsein ab. Dies zeigen nicht zuletzt verschiedenste psychologische Studien (vgl. für Zusammenfassungen Bargh & Chartland 1999 und Wegner 2002). Und wie bereits im letzten Kapitel erwähnt worden ist, muss dies auch so sein, da die Ressourcen des Bewusstseins zu begrenzt sind, um alle situativen Faktoren zu verarbeiten, die für ein Handeln relevant sind. Eine Theorie, die behauptete, Handeln müsse immer durch ein bewusstes Überdenken aller Facetten des Handelns begleitet oder geleitet sein, muss also falsch liegen. Zweitens muss aufgepasst werden, aus dem berechtigten Aufzeigen wichtiger Grenzen des Dreyfus’schen Ansatzes nicht blindlings in die diejenige Konzeption menschlichen Handeln zurückzufallen, vor der zu warnen Heideggers, Merleau-Pontys und Dreyfus’ Hauptanliegen ist. Nur weil auch im unreflektierten Handeln in einer Weise Bewusstsein präsent sein kann, folgt daraus nicht, dass man dieses Bewusstsein auch im Lichte klassischer Theorien mit Hilfe von Begriffen wie „Gehalt“ und „Erfüllungsbedingungen“ analysieren sollte (wie es aber Searle in dem zitierten Text nahelegt). Dennoch weist Searle auf Wichtiges hin. Erstens scheint eine angemessene Beschreibung der Phänomene zu ergeben, dass unreflektiert Zurechtkommende zumindest in dem einfachen Sinne Bewusstsein haben können, dass sie etwa den Nagel, den sie in die Wand hämmern, als In-die-Wand-zu-hämmendes-Zeug wahrnehmen. Dreyfus hat recht, dass sie nicht zuerst ein Sinnesdatum des Nagels oder den Nagel als bloß kalt objektiv vorhandenen Gegenstand wahrnehmen und ihn dann noch in einem zweiten Schritt bewusst als nützlich für einen praktischen Zweck interpretieren müssen. Dennoch kann sich der unreflektiert Zurechtkommende in einem ganz einfachen Sinne des Nagels bewusst sein.²⁴ Zweitens ist entsprechend Dreyfus’ Rede von einer vollkommenen Absorption dubios. Natürlich kann es das Phänomen geben, dass sich eine Person vollkommen auf etwas, etwa auf ein theoretisches Problem, konzentriert, und dann mit „Tunnel-Blick“ nichts anderes mehr wahrnimmt. Aber nichtsdestotrotz ist ihr „Tunnel-Blick“ auf eine Sache fokussiert. Was Dreyfus sagen will, ist, dass der praktisch absorbiert handelnden Person Dinge nicht mehr bloß vorkommende Objekte mit quantitativen Eigenschaften erscheinen. Dieser letzte Punkt ist in der Tat tief. Seine Wichtigkeit wird insbesondere deutlich, wenn man ihn vor dem  Obwohl Dreyfus diese Beobachtung wohl bestreiten würde, scheint sie unter Umständen kompatibel mit dem oben angeführten, etwas kryptischen Merleau-Ponty-Zitat des absorbierten Fußballspielers, auf das sich Dreyfus gerne beruft: „At this moment consciousness is nothing but the dialectic of milieu and action.“

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Hintergrund einer problematischen materialistischen Denkweise betrachtet, dergemäß es so etwas wie die von Merleau-Ponty beschriebenen Kräftefelder auf dem Fußballplatz nicht geben könne, weil man sie nicht sehen und anfassen, nicht ohne Weiteres messen und nicht ohne Schwierigkeiten beschreiben könnte. Dagegen haben Merleau-Ponty und Dreyfus recht, dass menschliches Handeln nur dann verständlich gemacht werden kann, wenn man die situativen Kräfte mit einbedenkt, die in der Situation entstehen, die aber schwer in Worte gefasst werden können und die Menschen zumeist nicht bewusst sind (siehe unten).²⁵ Doch Dreyfus verunklart die Relevanz dieses tiefen Punktes durch seine Rede von der vollkommenen Absorption. Drittens ist es falsch, dass Menschen oft kein praktisches Wissen von dem haben, was sie gerade tun. Zumindest in einem allgemeinen Sinne können sie oft die Tätigkeit nennen, die sie gerade ausführen. Es ist sicherlich nicht zielführend, sich mit Dreyfus darüber zu streiten, in wie viel Prozent der Fälle Menschen ein derartiges praktisches Wissen haben und in wie viel Prozent der Fälle nicht. Aber entscheidend ist, dass Dreyfus mit seiner These unnötig eine empirisch zu entscheidende Wette eingeht, die er allem Anschein nach zu verlieren droht. Dreyfus’ Heideggerianisch-Merleau-Pontyscher Punkt sollte sein, dass es ein Mythos ist, dass eine Person primär mit ihrem Bewusstsein identifiziert werden sollte und dass ein Handeln genau dann im genuinen Sinne das Handeln einer Person ist, wenn das Handeln durch ihr Bewusstsein geleitet wird. Der Punkt sollte nicht sein, dass Personen so gut wie nie wissen, was sie gerade eigentlich tun. Viertens ist Dreyfus’ Sichtweise auf Selbst-Bewusstsein problematisch. Dreyfus geht davon aus, dass sich ein Könner im unreflektierten Zurechtkommen nicht seiner selbst bewusst ist. Dabei versteht Dreyfus „Selbst-Bewusstsein“ als eine höherstufige Einstellung, in der in einem expliziten Sinne auf sich selbst Bezug genommen wird. Aber auch wenn es richtig ist, dass diese Art von SelbstBewusstsein im unreflektierten Zurechtkommen nicht vorliegt, folgt daraus nicht, dass es dort überhaupt kein Selbst-Bewusstsein gibt. Wie etwa Sean Gallagher (2012) gezeigt hat, kann man auch unreflektiert das Gefühl haben, dass es der eigene Arm ist, der sich hebt (und dann hat man einen „sense of ownership“). Ebenso kann man auch unreflektiert das Gefühl haben, dass man selbst es ist, der

 In meiner hier gegen Dreyfus gerichteten Argumentation hebe ich hier diesen Vorteil des Dreyfus’schen Ansatzes der Fairness halber hervor. Dreyfus erläutert diesen Punkt nicht, aber er müsste näher erläutert und begründet werden. Dies werde ich im Rahmen meines eigenen Vorschlags im nächsten Kapitel tun. An dieser Stelle sei nur exemplarisch das Buch The Person and the Situation der Sozialpsychologen Lee Ross und Richard Nisbett erwähnt, in dem eine Fülle sozialpsychologischer Evidenzen angeführt wird, die für eine Analyse menschlichen Handelns im Dreyfus’schen Geiste mittels der Redeweise von situativen Kräften sprechen.

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den Arm hebt (und dann hat man einen „sense of agency“). Vor allem pathologische Fälle lassen diese Arten des Selbst-Bewusstseins und ihre Dissoziierbarkeit deutlich werden, während ihnen phänomenologisch aufgrund der Schwäche der entsprechenden Gefühle schwer nachzuspüren ist. Die Existenz dieses unreflektierten körperlichen Selbst-Bewusstseins übersieht Dreyfus. Fünftens schließlich versteht Dreyfus Bewusstsein zu sehr als bloßes EpiPhänomen. Sicherlich hat Dreyfus recht, dass vieles menschliche Handeln gerade nicht die kausale Folge des bewussten Fassens einer Absicht ist, und es gibt mehrere psychologische Studien, die dafür sprechen, dass sich Personen ein unbewusstes Handeln sehr oft erst im Nachhinein bewusst zurechnen (siehe für eine Übersicht Wegner 2002). Dennoch scheint es immerhin in einigen Fällen möglich zu sein, im Anschluss an eine bewusste Überlegung eine bewusste Entscheidung zu treffen und diese dann kausal effektiv werden zu lassen.

e Sprache Ist Dreyfus’ Sichtweise plausibel, dass unreflektiertes Zurechtkommen nichtsprachlich ist, während Sprache auf der zweiten, bewusst-reflektierenden Ebene angesiedelt ist und mit ihren notwendig allgemeinen Begriffen die unreflektierte Situations-Sensitivität des gekonnten Zurechtkommens gerade beeinträchtigen würde? Erstens scheint die Sichtweise falsch zu sein, weil sie eine problematische Sichtweise auf den menschlichen Umgang mit Worten und Begriffen voraussetzt. Für einen unreflektiert Zurechtkommenden kann ein Feuer etwa direkt eine Aufforderung sein wegzulaufen. Aber genau so scheint ein nachdrücklicher Ausruf des Wortes „Feuer!“ eine Aufforderung zu sein wegzulaufen, und er kann direkt darauf reagieren, indem er wegläuft. Ebenso kann ein gekonnt Zurechtkommender auf einen Ausruf „Stopp!“ direkt reagieren, indem er stehenbleibt. Auf ein Schild „Vorsicht: Glatt!“ scheint er direkt reagieren zu können, indem er der Gefahrenstelle ausweicht. Dies zeigt, dass entgegen Dreyfus’ Behauptung auch das zurechtkommende Interagieren mit Aufforderungen von Seiten der Umwelt ein Interagieren mit Sprache und mit sprachlichen Zeichen mit einschließt. Zweitens scheint es auch ein meisterhaftes und gekonntes Zurechtkommen im Umgehen mit Sprache zu geben, idealtypischerweise im Schreib-Flow.²⁶ Andere Beispiele wären eine Art von Alltagsexpertise in der Gesprächsführung, das

 Diesen Punkt übernehme ich von Alva Noë (mündlich).

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spontane Spielen von Improvisationstheater oder ein „Flow“ im Unterrichten.²⁷ Auch dies zeigt, dass Sprache nicht erst auf einer defizitären zweiten Schicht anzusiedeln ist. Drittens scheint Sprache nicht nur etwas zu sein, mit dem Menschen unreflektiert zurechtkommend umgehen können, sondern auch etwas, dass es in einigen Fällen erst ermöglicht, dass unreflektiert Zurechtkommende ihre Umwelt direkt auf eine bestimmte Weise wahrnehmen. So kann vor dem Hintergrund sprachlicher Fähigkeiten eine andere Person direkt als „wohlerzogen“ wahrgenommen und entsprechend auf sie reagiert werden. Sprache kann damit auch beeinflussen, wie einem unreflektiert Zurechtkommenden seine Umwelt erscheint. Wie viertens unabhängig voneinander Christoph Demmerling (2012) und Alva Noë (2012) hervorgehoben haben, besteht auch die Möglichkeit, Begriffe als praktisch und als nicht-sprachlich aufzufassen. Eine Art Existenzbeweis für einen Aspekt menschlicher Erfahrung, den man mit dem Begriff eines nicht-sprachlichen Begriffs beschreiben könnte, kann dabei etwa in Studien zum Einfluss sprachlicher Begriffe auf das Kategorisieren von Wein gefunden werden. Wie Melcher und Schooler (1996, vgl. Columbetti 2009) herausgefunden haben, können fortgeschrittene „Mittlere“, die gelegentlich Wein trinken, verschiedene WeinSorten ohne eine Verbalisierung einige Minuten nach einer Kostprobe zuverlässiger wiedererkennen als Anfänger, die normalerweise keinen Wein trinken. Ausgewiesene Wein-Kenner erkennen den Wein hingegen ähnlich wie die „Mittleren“ wieder, können ihr Urteil im Gegensatz zu diesen aber zudem problemlos in sprachliche Form kleiden. Eine explizite Verbalisierung ihrer Wein-Erfahrung hilft dabei den Anfängern, schadet den Mittleren, und lässt die Experten unbeeinflusst. Dies legt die Beschreibung nahe, dass die „Mittleren“ hinsichtlich ihrer Weinbezogenen Differenzierungsfähigkeiten auf nicht-sprachliche, aber nicht auf sprachliche Begriffe zurückgreifen können. Dreyfus’ Zugang hingegen verbietet diese Unterscheidungsmöglichkeiten, da Dreyfus Begriffe als theoretisch distan-

 Etwas paradoxerweise führt Dreyfus an einigen Stellen das Unterrichten im „Flow“ selbst als ein Bespiel für seine Lesart an (vgl. z. B. Dreyfus : ). Searle (: ) dagegen führt diesen Punkt gerade gegen Dreyfus ins Feld, worauf Dreyfus (a: ) antwortet, er stimme Searle zu, dass sprachliche Tätigkeiten wie Unterrichten und Schreiben (doch) auf der höheren Schicht lägen; ihm, Dreyfus, gehe es bei seiner Beschreibung des unreflektierten Zurechtkommens aber auch vor allem um Fälle, wie man sie im Sport finde. Dies macht deutlich, dass Dreyfus den Einwand, es könne so etwas wie in einen „Flow“ in einer sprachlichen wie dem Unterrichten geben, allein schon vor dem Hintergrund der Dinge, die er an verschiedenen Stellen selbst gesagt hat (es gebe einen „Flow“ im Unterrichten und diese Tätigkeit sei sprachlich), akzeptieren müsste. (Zum „Flow“ im Unterrichten vgl. Bruya a.)

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zierend ansieht, sie mit Sprache identifiziert und beides auf der höheren Schicht verortet.²⁸ Fünftens ist Dreyfus’ Sichtweise dubios, dass man Struktur und Erfahrung des unreflektierten Zurechtkommens nicht begrifflich artikulieren kann. Natürlich sind die gewöhnlichen volkspsychologischen Begriffe nicht dafür gemacht, das unreflektierte Zurechtkommen zu beschreiben. Und wenn Dreyfus recht hat, muss dies sogar so sein, da das unreflektierte Zurechtkommen gerade erst der Hintergrund ist, vor dem die volkspsychologischen Begriffe angewandt werden können. Aber dies bedeutet nicht, dass das unreflektierte Zurechtkommen nicht mittels

 Wenn man will, kann man die Sichtweise, dass der unreflektiert zurechtkommende Umgang mit zuhandenem Zeug begrifflich, aber nicht sprachlich – oder zumindest nicht propositional – ist, in Heideggers Sein und Zeit finden. Heidegger charakterisiert die kognitive Komponente gekonnten Handelns durch den nur vage bestimmten Begriff der Umsicht. In der Umsicht, so Heidegger, würden die Gegebenheiten der physischen Welt vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen mit ihnen auf eine bestimmte Weise ausgelegt: „Die Umsicht entdeckt, das bedeutet, die schon verstandene „Welt“ wird ausgelegt. Das Zuhandene kommt ausdrücklich in die verstehende Sicht.“ (S. ) Die Auslegung charakterisiert Heidegger dann als begrifflich: „Die Auslegung kann die dem auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem selbst schöpfen oder aber in Begriffe zwängen, denen sich das Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt. Wie immer – die Auslegung hat sich je schon endgültig oder vorbehaltlich für eine bestimmte Begrifflichkeit entschieden; sie gründet in einem Vorgriff.“ (S. ) Heidegger geht hier also davon aus, dass unreflektiertes Zurechtkommen durch die Umsicht charakterisiert sei, die Umsicht durch die Auslegung, und die Auslegung u. a. durch ihre begriffliche Natur. In diesem Sinne scheint Heidegger Dreyfus zu widersprechen. Zugleich gibt es in Sein und Zeit aber auch Passagen, in denen Heidegger ein Schichten-Modell der Sprache zu vertreten scheint, so wie es von Dreyfus beschrieben wird. Beispielsweise schreibt Heidegger: „Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie „Bedeutungen“ erschließen kann, die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.“ (S. ) Dass Heidegger hier ein Schichten-Modell vertritt, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der späte Heidegger das Wort „fundieren“ in seinem Handexemplar von Sein und Zeit wie folgt kommentiert: „Unwahr. Sprache ist nicht aufgestockt[.]“ (S. ) Zudem gibt es in Sein und Zeit viele weitere Passagen, die dafür sprechen, dass Heidegger mit dem Gedanken gespielt hat, Sprache im Sinne eines SchichtenModells aufzufassen (vgl. etwa S. ). Eine Möglichkeit, die Passagen konsistent zusammen zu lesen, wäre anzunehmen, dass in der Auslegung nicht-sprachliche Begriffe präsent sind, die das Fundament für eine anspruchsvoller verstandene Sprache auf einer zweiten Schicht bilden. In jedem Fall ist die exegetische Frage nicht entscheidend, da Heidegger in Sein und Zeit bereits Unzufriedenheit mit seiner Sprach-Konzeption ausgedrückt (S. ), seine Sprach-Konzeption ständig geändert (vgl. Heidegger  und dann Heidegger ) und seine Konzeption der Sprache als den größten Fehler in Sein und Zeit bezeichnet hat (Heidegger ; vgl. zu all dem Beyer & Weichold ). Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass hier eine wichtige Option vorgeschlagen wird, das Verhältnis von Sprache und Begriffen zu bestimmen, für die Dreyfus’ Konzeption keinen Raum lässt.

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einer kreativen Verwendung alter Begriffe, mittels Beispielen oder mittels neu kreierter Begriffe beschrieben werden können sollte. Das unreflektierte Zurechtkommen auf den Begriff zu bringen, ist mithin keine Sache der Unmöglichkeit, sondern allein eine Frage der sprachlichen Intelligenz. Letzten Endes sagt Dreyfus selbst Erhellendes zum unreflektierten Zurechtkommen, und Denker wie Heidegger, Wittgenstein, Merleau-Ponty, Bourdieu und Dostojewski sagen noch viel mehr.

f Kognition Ist Dreyfus’ Sichtweise plausibel, dass jede Form von Geist und Kognition allein eine Angelegenheit der höheren Schicht ist, während auf der unteren Schicht des unreflektierten Zurechtkommens kein Geist und keine Kognition zugegen sind? Dreyfus kann natürlich das Wort „Kognition“ so verstehen, dass es sich auf bewusstes langwieriges Nachdenken bezieht, und dann hat das unreflektierte Zurechtkommen keine kognitive Komponente. Es gibt aber verschiedene Gründe, warum es erforderlich ist, Raum für eine Konzeption einer kognitiven Komponente unreflektierten Handelns zu schaffen. Erstens muss jedes unreflektierte Zurechtkommen subjektive HintergrundBedingungen haben, die das unreflektierte Handeln erst ermöglichen. Dreyfus sagt, beim Lernen ändere sich nicht der Geist des Lernenden, sondern seine Welt (siehe oben). Dies ist ein guter Punkt, wenn er in therapeutischer Absicht gegen Konzeptionen wie diejenige Stanleys angeführt wird: Der Lernende weiß am Ende nicht einfach mehr Fakten, sondern kann seine Welt nun auf veränderte Weise wahrnehmen. Dennoch ist die genannte „Welt“ die Welt des Lernenden – und deshalb muss es subjektive Ermöglichungsbedingungen dafür geben, dass der Lernende die Gegebenheiten der physischen Umwelt nun auf veränderte Weise sieht. Husserl macht diesen Punkt (in Ideen II) ganz explizit, indem er betont, dass das Bewusstsein dafür verantwortlich sei, dass die Umwelt einer Person für sie die Umwelt ist, die sie für sie ist. Wenn Dreyfus Husserls Rekurs auf das Bewusstsein ablehnt, muss er hier eine alternative Analyse der Ermöglichungsbedingungen liefern. Und das hat er nicht getan. Zweitens fehlt Dreyfus ohne die Anerkennung einer kognitiven Komponente unreflektierten Zurechtkommens die Möglichkeit, das unreflektierte Zurechtkommen nach unten zu automatischen Reflexen abzugrenzen. Dreyfus betont mit Merleau-Ponty gerade, dass das unreflektierte Zurechtkommen nicht in Kausalbegriffen analysiert werden sollte – aber Dreyfus scheint keine Möglichkeit zu haben, ein direktes Reagieren auf eine Handlungsaufforderung von einem kau-

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salen Reflex abzugrenzen, wenn er leugnet, dass das unreflektierte Handeln eine kognitive Komponente hat. Drittens kann Dreyfus bei der Leugnung einer kognitiven Komponente unreflektierten Handelns nicht einfangen, dass es individuelle Unterschiede im Umgang mit zuhandenem Zeug geben kann. Dann würde etwa die Situation allein das Handeln bestimmen und ein Hammer jeden Vorbeikommenden zum Hämmern auffordern. Aber dies scheint nicht der Fall zu sein. Dreyfus würde selbst sagen, dass ein Hammer für den vollkommen absorbierten Handwerker-Meister etwas anderes ist als für ein kleines Kind, ein akademischer Vortrag für die Studentin etwas anderes als für den Seemann, usw. Viertens schließlich liegt ein Einwand nahe, den John McDowell gegen sehr viele Philosophen erhebt, den er aber gegen Dreyfus noch nicht erhoben hat, obwohl er ihn gegen ihn erheben sollte: Nämlich der Vorwurf, ein Opfer des Mythos des Gegebenen zu sein. Grob gesagt besteht der Mythos zunächst darin, die subjektiven Ermöglichungsbedingungen der Konstitution der menschlichen Erfahrung in der Analyse der Erfahrung nicht zu berücksichtigen (vgl. vor allem McDowell 2009a und generell McDowell 2009b und 2009c). Das klassischste Opfer des Mythos des Gegebenen ist eine Sinnesdatentheorie, die davon ausgeht, dass zunächst ohne subjektiven Beitrag Sinnesdaten gegeben sind, dass eine Person diese Sinnesdaten aber in einem zweiten Schritt interpretieren kann. Auch wer – anders als Kant in McDowells Interpretation – denkt, Erfahrenden sei in einem ersten Schritt ohne subjektiven Beitrag eine Anschauung gegeben, auf die dann in einem zweiten Schritt durch ein Subjekt Begriffe angewandt werden könnten, ist Opfer des Mythos. Wie beschrieben geht Dreyfus nun im Anschluss an Heidegger von der Existenz eines bedeutungsvollen Gegebenen aus, das zwar nicht-begrifflich, aber nicht „nackt“ sei (Dreyfus 2005: 55, oben zitiert). Aber auch wenn das bedeutungsvolle Gegebene nicht „nackt“, sondern bedeutungsvoll ist, würde man hier dem Mythos des Gegebenen zum Opfer fallen, wenn man annähme, dass das Bedeutungsvolle einer Person schlicht wie ein Sinnesdatum in der Sinnesdatentheorie ohne subjektive Ermöglichungsbedingungen gegeben sei. Dreyfus würde zwar die Searle’sche Frage zurückweisen, wie es möglich sei, dass aus einer Welt, die nur aus kalter Materie bestehe, so etwas wie Bedeutung überhaupt entstehen könne – diese Frage würde ohne nähere Begründung die ontologische Annahme voraussetzen, dass die Welt am Grunde aus kalter Materie bestehe. Aber nichtsdestotrotz muss die Frage nach den subjektiven Ermöglichungsbedingungen der Gegebenheit einer bedeutungsvollen Welt gestellt und beantwortet werden, um einen Mythos des Gegebenen zu vermeiden.²⁹

 Darüber hinaus ist es im Anschluss an Sellars besonders wichtig zu betonen, dass Erfahrung

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g Lernen Ist es plausibel, dass Lernen vor allem dazu führt, das sich die Wahrnehmungsfähigkeiten einer Person verändern und sie immer feinkörniger auf Situationen reagieren kann? Zumindest zwei Einwände gilt es zu bedenken. Erstens sollte mit Stanley anerkannt werden, dass Lernen auch im Erlernen von Wegen und Methoden bestehen kann, und diese Wege nicht nur wie Stützräder sind, die am Ende weggeworfen werden. Jemand, der etwas gelernt hat, ist zumindest oft in der Lage, einen Novizen über seine Methoden zu informieren. Zweitens hat Dreyfus vor dem Hintergrund seines Schichten-Modells Probleme zu erklären, wie Menschen lernen können, mit Begriffen oder Propositionen umzugehen. Zwar würde man erwarten, dass sich vor allem Intellektualisten und insbesondere Kantianer diesem Problem ausgesetzt sehen müssen. Dreyfus nun kann zwar perfekt erklären,wie kleine Kinder und Tiere etwas lernen können. Aber er kann nicht erklären, wie sie vom direkten Reagieren auf Aufforderungen zum abstrakten Nachdenken über Propositionen gelangen können sollen, wenn dieses auf einer ganz anderen Schicht liegt.

h Expertise Hat Dreyfus recht, dass sich das Handeln des Experten dadurch auszeichnet, dass er sich von jedem bewussten Denken befreit problemlos und im Flow durch eine reiche Welt voller praktischer Handlungsaufforderungen bewegt?

im Wahrnehmen und Handeln im Raum der Gründe stehen sollte. Wäre einer Person bloß ein Sinnesdatum direkt gegeben, könnte sie nicht für diese Erfahrung verantwortlich gemacht werden, sondern allenfalls dafür, wie sie das Sinnesdatum interpretierte. Wiederum ist zu betonen, dass Husserl mit dem Gedanken einer Konstitution durch das Bewusstsein eine Antwort geliefert, Dreyfus aber keine alternative Erklärung bereit gestellt hat. – Ich erwähne diesen Punkt des Raumes der Gründe hier, um auf ein Problem in Dreyfus’ Sichtweise aufmerksam zu machen; sachlich werde ich auf diesen Punkt – wenn auch nicht unter dem Namen „Mythos des Gegebenen“ – im vierten Kapitel zurückkommen. Etwas ausführlicher gesagt schiebt Dreyfus Rationalität sehenden Auges auf die zweite Schicht höherer Kognition, während eine solche Sichtweise zu vermeiden in einem wichtigen Sinne gerade McDowells Hauptanliegen ist.Wie in der Einleitung schon angedeutet, denke ich, dass McDowells Hauptanliegen zuzustimmen ist, dass Dreyfus’ weniger intellektualistische Analyse unreflektierten Handelns aber etwas Wichtiges trifft. Vor diesem Hintergrund werde ich das Topos der Rationalität an dieser Stelle ausklammern, um ihm dann das vierte Kapitel dieser Arbeit widmen zu können.

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Erstens ist es problematisch, das Handeln im Flow mit dem Handeln des Experten zu identifizieren. Zumindest wenn man unter „Flow“ ganz untechnisch das hochkonzentrierte, vertiefte, reibungslose, subjektiv anstrengungslose Aufgehen in einer Tätigkeit versteht, und unter einem Experten, gemäß einem üblichen Verständnis, jemanden, der sich seit mindestens zehn Jahren intensiv mit einem Gebiet beschäftigt hat, dann können das Handeln eines Experten und das Handeln im Flow dissoziiert sein.³⁰ Es kann dann möglich sein, dass jemand etwa im Zuge der Ausübung eines sportlichen Hobbys in den Flow gerät. Und ebenfalls kann es sein, dass ein Experte intensiv über ein neu entstandenes theoretisches Problem nachdenken muss, ohne dabei im Flow zu sein. Zweitens ist es problematisch anzunehmen, dass das Handeln eines Experten immer reibungsloses Gelingen voraussetzt. Plausibler scheint es anzunehmen, dass auch im Handeln eines Experten etwas schiefgehen kann und dass der Experte für diese Momente des Schiefgehens nicht zwangsläufig aufhört, ein Experte zu sein. Ein besonders naheliegendes Beispiel wäre, dass Roger Federer trotz guten eigenen Spiels ein Turnier gegen einen in dem Moment noch besseren Gegner verliert. Drittens ist es problematisch anzunehmen, dass dem Handeln eines Experten ein speziell praktisch absorbierter Modus des Denkens eigen sein muss. Roger Federer etwa sollte vor seinem Spiel über seine Strategie nachdenken und seinen Gegner analysieren, sollte nach dem Spiel über Verbesserungsmöglichkeiten nachdenken, und sollte auch während des Spiels bei Bedarf seine Taktik wechseln können.Wäre er allein ein Experte im Dreyfus’schen Sinne, wäre er sicherlich nicht so erfolgreich, wie er tatsächlich ist. Viertens kann es zur Expertise gehören, in Stanleys Sinne bestimmte Wege und Methoden zu kennen, etwa, wie man aus einer bestimmten Position auf dem Fußballfeld heraus ein Tor erzielt. Dreyfus kann diesen Aspekt von Expertise nicht einfangen. Fünftens kann es Expertise auch speziell im Bereich des bewussten Nachdenkens geben. Beispiele wären die Expertise im Schach oder in der Mathematik. Sechstens kann auch die Expertise in einer körperlichen Tätigkeit viele Momente bewussten Nachdenkens enthalten. Die Philosophin Barbara Montero (2013), eine ehemalige professionelle Ballett-Tänzerin, macht dies nachdrücklich anhand ihres ehemaligen Tätigkeitsbereichs deutlich. Demnach müssen BallettTänzerinnen ständig bewusst überlegen, wie genau sie eine bevorstehende Be-

 Für eine empirisch informierte Analyse des Begriffs des Flows siehe Bruya a, und für eine Analyse des Begriffs der Expertise siehe Ericsson a.

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wegung gleich ausführen werden oder wie sie auf einen gerade geschehenen Fehler ihres Tanzpartners reagieren sollen. Siebtens schließlich muss festgestellt werden, dass zumindest in einem Sinne sogar eine Form der gelegentlichen expliziten Selbst-Reflexion notwendig zum Entstehen-Lassen und zur ständigen Weiterentwicklung von Expertise ist.Wer sein eigenes Handeln im Bereich seiner Expertise nie zum Thema einer Überlegung macht, verliert eine wichtige Möglichkeit, Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten in seinem Handeln zu sehen und seine Expertise damit weiter auszubauen. K. Anders Ericsson (2006b: 683 ff.) schreibt sogar im Cambridge Handbook of Expertise, dass man ohne ein derartiges Überlegen über Verbesserungsmöglichkeiten Gefahr läuft, in seinem Können „on pedestrian level“ steckenzubleiben.Vor diesem Hintergrund gilt: The best friend of expertise is thought. Insgesamt muss damit festgestellt werden, dass Dreyfus’ Schichten-Modell die Phänomene unreflektierten Zurechtkommens in vielerlei Hinsicht nicht besser verständlich machen kann. Wichtig ist dabei, dass die Probleme zwar dank der Zugespitzheit von Dreyfus’ Ansatz dort besonders deutlich werden, dass sich viele der genannten Probleme aber auch gegen andere verbreitete Theorien anführen lassen. Zu denken ist dabei beispielsweise an die Dual-Process-Modelle in der Sozialpsychologie, an Heidegger selbst in einer zumindest nicht von vornherein vollkommen textfernen Interpretation, sowie an Michael Wheelers vieldiskutiertes Buch Reconstructing the Cognitive World (2005) und das nun ebenfalls viel disktutierte Radicalizing Enactivism. Basic Minds without Content (2013) von Daniel Hutto und Erik Myin. Wichtig ist mir dabei aber nicht, konkret die Arbeiten einzelner schlecht zu machen, sondern generelle Probleme aufzuzeigen, in die jeder zu geraten droht, wenn er im Lichte der vielen tiefen Einsichten Heideggers und Merleau-Pontys über menschliches Handeln nachdenkt. Gerade deshalb kann eine Warnung vor jenen Problemen für eine erfolgreiche Analyse des Handelns zwischen Reflex und Reflexion von großem Wert sein kann. Doch gibt es einen tieferen Grund für das Bestehen all dieser Probleme?

3 Diagnose In einem Sinne ist Dreyfus’ philosophisches Projekt sehr nobel: Vorurteilsfrei nur die Phänomene selbst sprechen zu lassen. Im Lichte von Dreyfus’ Projekt können Phänomene der menschlichen Lebenswirklichkeit – um einen Schritt hin zur Auflösung der Metapher zu machen – konkret anhand von lebensnahen, durch je individuelle Erfahrung überprüfbaren Einzelfällen auf neue Weise beschrieben werden. Auf diese Weise scheint gesehen werden zu können, wie der Mensch wirklich tickt, selbst wenn unser volkspsychologisches Selbstverständnis viel

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gröber und ungenauer ist und menschliches Handeln im Lichte von Ideen der spezifisch westlichen Geistesgeschichte auslegt. Mittels der Art von Betrachtungen der Phänomene, wie sie von Dreyfus vorgeschlagen wird, scheint die ureigene Aufgabe der Philosophie auf beste Weise erfüllt werden zu können, nämlich den Menschen in die Lage zu versetzen, sich selbst und sein Handeln besser zu verstehen. Umso überraschender kann es da erscheinen, dass Dreyfus’ Ansatz offensichtlich nicht in der Lage ist, eine ganze Fülle von Aspekten gekonnten menschlichen Handelns angemessen zu erhellen. Dreyfus will nur die Phänomene selbst sprechen lassen, aber die Phänomene scheinen eine andere Sprache zu sprechen als Dreyfus. Hat Dreyfus seine phänomenologische Aufgabe einfach schlecht erledigt? Meine Diagnose ist eine andere: Demnach reflektieren Dreyfus’ Probleme tiefe Grenzen der phänomenologischen Methodologie, so wie sie von Dreyfus verwendet wird. Dies ist der tiefere Grund hinter den Problemen des Dreyfus’schen Vorschlags. Und es hat wichtige Konsequenzen für die Frage, auf welche Weise das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion überhaupt untersucht werden sollte. Zunächst, so möchte ich zu diagnostizieren vorschlagen, begeht Dreyfus etwas, das man als phänomenologischen Fehlschluss bezeichnen könnte. Kurz gesagt ist der phänomenologische Fehlschluss der Schluss von der phänomenalen Erscheinungsform einer Handlung auf ihre Struktur. Dabei ist der phänomenologische Fehlschluss deshalb ein Fehlschluss, weil die phänomenale Erscheinungsform einer Handlung irreführend sein kann und weil zentrale Aspekte der Struktur menschlichen Handelns erst im Lichte theoretischer Überlegungen oder subtiler Experimente erkannt werden können. Ausführlicher gesagt ist Dreyfus zunächst der Meinung, dass alle sinnvollen und hilfreichen philosophischen Aussagen am Ende Beschreibungen von Phänomenen sind.³¹ Dies ist meines Erachtens auch der tiefere Grund, warum Dreyfus das unreflektierte Zurechtkommen so restriktiv analysiert: Weil er der Meinung ist, dass man dort keine bewusste Anwendung von Regeln, Begriffen oder Sprache erfährt, geht er davon aus, dass dort keine Regeln, Begriffe oder Sprache präsent sind. Seine Gegner liest Dreyfus dann ebenfalls so, als ginge es ihnen nur darum, Phänomene genau zu be-

 Dreyfus sagt dies meines Wissens nicht explizit; die Aussage ist aber auch Teil nicht der Darstellung der Theorie Dreyfus’, sondern meiner Diagnose. – Die in Dreyfus’ Sinne phänomenologische Methode eines zunächst primär erstpersonalen Nachspürens wichtiger Phänomene könnte mit der Methode der Introspektion assoziiert werden, die mittlerweile in der Psychologie diskreditiert ist. Offensichtlich bestehen aber Verteidigungsmöglichkeiten gegen die Gleichsetzung der Dreyfus’schen Methodologie mit Introspektion (beispielsweise untersucht Dreyfus gerade keine möglicherweise problematischen Selbst-Bilder von Personen).

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schreiben, obwohl dies oft nicht deren primäres Anliegen ist. Entsprechend beschwert sich Searle (2000: 75): In short, Dreyfus is trying to read me as if I were a phenomenologist, and then given the options in phenomenology he tries to read me as if I were Husserl, and then he reads Husserl’s theory of action as postulating a set of higher order mental representations as a „constant accompaniment“ to all intentional behavior. Because Dreyfus thinks that I am trying and somehow failing to do phenomenology, his misunderstandings are systematic.

Der phänomenologische Fehlschluss ist aber nicht nur in dem exegetischen Sinne ein Fehlschluss, dass es vielen von Dreyfus’ Opponenten gar nicht primär darum geht, Phänomene genau zu beschreiben. Vielmehr ist der phänomenologische Fehlschluss auch in systematischer Hinsicht ein Fehlschluss, weil sich viele wichtige philosophische Probleme gerade nicht nur durch die Beschreibung von Phänomenen lösen lassen. Dies sieht man selbst an den Themen, die Dreyfus am meisten interessieren. Dreyfus redet davon, dass die Welt für einen Akteur bedeutsam gegeben sei, auch ohne dass er die Bedeutung durch sein Bewusstsein verleihen müsse. Aber dann stellt sich gerade die Frage, wie es denn möglich ist, dass die Welt einem Akteur auf bedeutsame Weise gegeben sein kann, wenn das Bewusstsein des Akteurs die Bedeutung nicht verliehen hat. Einfach zu behaupten, die Welt erscheine einem Akteur schlicht auf diese Weise, würde die Frage nicht beantworten. Vor diesem Hintergrund sind Theorien wie diejenigen Husserls und McDowells, die erklären, wie es möglich ist, dass ein Akteur die Welt praktisch auf die Weise erfährt, in der er sie erfährt, Dreyfus allein Phänomenbeschreibendem Ansatz weit überlegen. In seiner Methodologie begeht Dreyfus zudem auch noch einen weiteren Fehler, nämlich den Fehler, Theorie und Phänomene zu vermischen. Und dabei ist die Theorie wiederum, ähnlich wie im Falle Stanleys diagnostiziert, durch bestimmte tradierte und nicht unproblematische Bilder informiert. So geht Dreyfus wie gesehen davon aus, dass in klassischen Theorien der menschliche Geist im Prinzip ganz richtig beschrieben worden sei, abgesehen davon, dass diese Beschreibungen bloß sekundär und weniger fundamental seien. Vor diesem Hintergrund schiebt Dreyfus dann Phänomene, Theorien und Bilder ineinander. Zunächst schiebt er Bewusstsein und Nachdenken ineinander; und das Nachdenken versteht er gemäß bestimmten Theorien, die durch in der Sprache liegende Bilder informiert sind, als „entfernt“ von der wirklichen Welt, als bloß kalt, objektivierend und theoretisierend, als regel-geleitet, repräsentational, sprachlich und begrifflich. Wenn die Phänomene dann durch die Brille des Dreyfus’schen Schichten-Modells betrachtet werden, und wenn die obere Schicht dabei auf die genannte Weise beschrieben wird, dann muss es so aussehen, als finde menschliches Handeln normalerweise und häufig („zunächst und zumeist“) in der

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unteren Schicht statt. Aber Dreyfus’ Betrachtungsweise verfälscht sowohl die Phänomene der oberen als auch der unteren Schicht – wenn man diese Trennung einmal argumentandi causa voraussetzt –, weil die obere Schicht vor allem im Lichte bestimmter problematischer Bilder verstanden wird, und die untere Schicht geistig sehr arm ausbuchstabiert wird, wenn etwa Begriffe, Sprache und Kognition qua Identifikation mit dem Phänomen des Nachdenkens auf die obere Ebene verschoben werden. Dreyfus’ methodologische Fehler können auch noch anhand einer Bemerkung Wittgensteins verdeutlicht werden, auf die ich bereits zur Diagnose der Probleme des Stanley’schen Intellektualismus zurückgegriffen habe. In §308 der Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein: Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige.Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) – Und nun zerfällt der Vergleich, der uns unsere Gedanken hätte begreiflich machen sollen. Wir müssen also den noch unverstandenen Prozeß im noch unerforschten Medium leugnen. Und so scheinen wir also die geistigen Vorgänge geleugnet zu haben. Und wollen sie doch natürlich nicht leugnen!

Stanley habe ich im letzten Kapitel dafür kritisiert, allzu naiv einem Taschenspielertrick zu verfallen und den Begriff eines mentalen Zustands unkritisch voraussetzen. Nun ergibt sich, dass Dreyfus genau denselben Fehler begeht. Wie Stanley wird er Opfer eines Taschenspielertricks. Dreyfus übernimmt ebenfalls unkritisch den Begriff eines mentalen Zustands und bringt ihn dann mit erfahrbaren Phänomenen in Verbindung, nämlich Phänomenen wie Nachdenken und Bewusstsein. Diese werden von Dreyfus auf seiner höheren Schicht verortet.Wenn Dreyfus dann als Phänomenologe in seiner Betrachtung des unreflektierten Zurechtkommens keine mentalen Zustände findet, muss er davon ausgehen, dass im unreflektierten Handeln überhaupt keine geistigen Vorgänge zugegen sind. Dreyfus leugnet also die geistigen Vorgänge, und will sie sogar leugnen, zumindest für die Schicht des unreflektierten Zurechtkommens. Damit leugnet Dreyfus gewissermaßen den noch unverstandenen Prozess im noch unerforschten Medium – aber er hat nicht das Gefühl, es mit etwas Unerforschtem und Unverstandenem zu tun zu haben, da er vor dem Hintergrund seines Schichten-Modells und der Identifizierung von bewusstem Nachdenken mit der Anwendung mentaler Zustände davon ausgeht, er wüsste, womit er es zu tun hat, wenn er von „mentalen Zuständen“ und Ähnlichem spricht. Wittgensteins Punkt jedoch ist gerade, dass

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II Körperliche Intelligenz und ihre Grenzen

bei Lichte betrachtet nicht die Existenz geistiger Vorgänge geleugnet werden sollte, sondern eine bestimmte theoretische Konzeption geistiger Vorgänge, die durch problematische vorgefundene und unhinterfragte Bilder nahegelegt wird. Indem Dreyfus den Geist mit einer bestimmten theoretischen Konzeption des Geistes identifiziert, kommt er damit letzten Endes zu einem Ergebnis, das die Phänomene nicht beschreibt, sondern ihnen widerspricht. Wenn Dreyfus’ Methode der Beschreibung von Phänomen derart problematisch ist und sich wichtige philosophische Probleme nicht durch die Beschreibung von Phänomenen lösen lassen, heißt das dann, dass die Idee eine schlechte Idee ist, eine philosophische Konzeption überhaupt an Phänomenen zu orientieren? Meines Erachtens ist dies nicht so; eine gute philosophische Theorie sollte an den Phänomenen orientiert sein. Denn erstens ist dies – richtig gemacht, unter Vermeidung von Dreyfus’ Fehlschlüssen – ein besonders guter Weg, um das menschliche Selbstverständnis zu befördern. Zweitens ist ein solches Vorgehen insbesondere deshalb wertvoll, weil es die problematische Alternative vermeidet, bloß sprachliche Intuitionen rational zu rekonstruieren, die sich problematischen Bildern verdanken können. (Selbst wenn es sein kann, dass einige der derartigen Intuitionen etwas gut treffen, bedarf es einer unabhängigen Überprüfung, ob sie tatsächlich etwas gut treffen – siehe Kapitel I; ich werde auf dieses Topos im dritten und im vierten Kapitel zurückkommen.) Vor diesem Hintergrund muss Dreyfus zugestimmt werden, dass es problematisch ist, wenn Theorien überhaupt nichts mehr mit den Phänomenen menschlichen Handelns zu tun haben. Eine philosophische Theorie verfehlt ihren Zweck, die Phänomene menschlichen Handelns auf neue Weise zu erhellen und damit die menschliche Selbst-Erkenntnis zu befördern, wenn sie sich allzu weit von den Phänomenen entfernt. Zugleich ist jedoch hervorzuheben, dass nicht direkt an Phänomenen orientierte Philosophen wie McDowell durchaus überaus wichtige und anspruchsvolle theoretische Projekte verfolgt, wie etwa die Möglichkeit einer rechtfertigbaren menschlichen Erfahrung verständlich zu machen, ohne dem Mythos des Gegebenen zu verfallen. Und dies ist eine der Fragen, die durch eine Beschreibung von Phänomenen alleine nicht beantwortet werden kann. Wenn einem McDowells philosophische Theorie zu phänomen-fern erscheint, dann muss folglich eine philosophische Arbeit geleistet werden, die gerade nicht in der Beschreibung von Phänomenen besteht: Es muss gezeigt werden, wie es auf McDowells theoretische Frage eine andere alternative theoretische Antwort geben kann, die dabei zugleich mit einer adäquateren Beschreibung der Phänomene menschlichen Handelns einhergeht. Um einen Fortschritt in der philosophischen Analyse des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion zu machen, müsste folglich eine Konzeption entwickelt werden, die die Phänomene ernstnimmt, die die Phänomene nicht auf

4 Fazit

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problematische Weise mit Bildern und Theorien vermischt und die aber zugleich auch Antworten auf die theoretischeren Fragen liefert, an denen Husserl und McDowell interessiert sind. Dabei können von Dreyfus viele hilfreiche Beschreibungen übernommen werden, ebenso wie von Stanley nützliche Gedanken wie sein Verweis auf praktische Gegebenheitsweisen übernommen werden kann. Doch so wie durch Stanleys Intellektualismus die kognitive Komponente gekonnten Handelns überintellektualisiert wird, so wird sie durch Dreyfus’ AntiIntellektualismus unterintellektualisiert. Daher gilt es, vor dem Hintergrund der bisherigen positiven wie negativen Erkenntnisse noch einmal einen ganz neuen Anlauf zu starten. Auf den Schultern des echten Heideggers, Husserls, Wittgensteins, Merleau-Pontys, Bordieus, Gibsons sowie der kognitionswissenschaftlichen Theorie des Enaktivismus stehend werde ich mich dieser Aufgabe im nächsten Kapitel zuwenden.

4 Fazit Ich habe in diesem Kapitel die Perspektiven und Grenzen des phänomenologischen Ansatzes Dreyfus’ untersucht, um zu sehen, inwieweit er einen hilfreichen Beitrag zu einer philosophisch erhellenden Analyse des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion liefern kann. Trotz wichtiger Gedanken der phänomenologischen Tradition, in der Dreyfus steht, hat sich Dreyfus’ Ansatz aber einer Vielzahl von Problemen ausgesetzt sehen müssen. Zumindest meiner Diagnose nach haben diese eine systematische Grundlage in der von Dreyfus vorausgesetzten Methode. Im Kern ist das Problem, dass Dreyfus den menschlichen Geist in zwei Schichten einteilt, sämtliche etwas höherstufigere Phänomene in die obere, problematisch charakterisierte Schicht verschiebt, und das unreflektierte Zurechtkommen als untere Schicht damit unterintellektualisiert. Nicht zuletzt im Eingedenk der vielen positiven Einsichten Dreyfus’ werde ich daher im nächsten Kapitel einen eigenen Vorschlag unterbreiten, wie das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion endlich einer erhellenden philosophischen Analyse zugeführt werden kann.

III Die Natur der praktischen Intelligenz Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) – Und nun zerfällt der Vergleich, der uns unsere Gedanken hätte begreiflich machen sollen. Wir müssen also den noch unverstandenen Prozeß im noch unerforschten Medium leugnen. Und so scheinen wir also die geistigen Vorgänge geleugnet zu haben. Und wollen sie doch natürlich nicht leugnen! Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen. – Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§308 – 309

Sicher und sensibel bewegen sich die Finger des Chirurgen über die Wunde, stets auf jede Eigenheiten der Situation flexibel reagierend. Unmittelbar und spontan reagiert der Free-Jazz-Pianist mit einer passenden Improvisation, als ein Mobiltelefon im Publikum zu klingeln beginnt. Als der verdeckt heranfliegende Ball schon fast im Tor gelandet ist, reckt sich die Faust des Torwarts noch in schier unmöglicher Geschwindigkeit nach oben – und so wird die Mannschaft im Spiel gehalten. Bei all diesen Fällen handelt es sich um gekonntes Handeln.Würde man diese Fälle philosophisch besser verstehen – man würde besser verstehen, wie die besten von uns handeln, wenn sie als Experten agieren. Man würde besser verstehen, wie wir „als Experten des Alltags“ handeln können, wenn wir in alltäglichen Besorgungen aufgehen und etwa spontan den Kopf drehen, wenn wir unseren Namen hören. Vielleicht könnte man anhand einer Analyse dieses körperlichen Handelns sogar besser verstehen, wie überhaupt so etwas wie Handeln möglich ist, wie es möglich ist, dass es Akteure gibt, die in einer Welt etwas bewirken können. Doch das gekonnte Handeln entzieht sich einer schnellen philosophischen Charakterisierung. Für gewöhnlich machen wir Handeln nämlich entweder unter Rekurs auf bewusstseinsfähige, autoritativem Selbst-Wissen zugängliche „Absichten“ verständlich, d. h. als reflektiertes Handeln im sehr weiten Sinne. Oder wir bezeichnen es schlichtweg als „Reflex“. Aber bei den genannten Fällen gekonnten Handelns handelt es sich weder um reflektiertes Handeln noch um bloße Reflexe. Vielmehr handelt es sich dabei, wie ich gezeigt habe, um ein Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion.

III Die Natur der praktischen Intelligenz

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Wie aber sollte man das gekonnte Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion philosophisch analysieren, wenn wir hier nicht auf unser gewöhnliches Verständnis menschlichen Handelns zurückgreifen können? Mögliche Antworten liefern philosophische Theorien der kognitiven Komponente gekonnten Handelns, namentlich der Intellektualismus und der AntiIntellektualismus. Daher habe ich die Perspektiven und Grenzen dieser beiden Ansätze in den letzten beiden Kapiteln untersucht. Aller Verdienste dieser Ansätze zum Trotz konnte jedoch keine dieser Theorien vollends überzeugen. Grob gesagt überintellektualisiert der Intellektualismus die kognitive Komponente gekonnten Handelns, während der Anti-Intellektualismus sie unterintellektualisiert. Der Intellektualismus kann mit seinem alleinigen Rekurs auf propositionales Wissen von Wegen, wie man etwas macht, der nicht-bewusstseinsfähigen, motorischen Seite gekonnten Handelns nicht Rechnung tragen. Der Anti-Intellektualismus dagegen lässt keinen Raum mehr für einen Zusammenhang von Überlegung und Kontrolle zum motorischen Handeln. Eine überzeugende Theorie der kognitiven Komponente gekonnten Handelns müsste die Nachteile von Intellektualismus und Anti-Intellektualismus vermeiden, ihre Vorteile vereinen, und zugleich – um die Kompatibilität der Vorteile dieser einander entgegensetzen Theorien zu ermöglichen – über sie hinausgehen. Die Grundzüge einer solchen Theorie werde ich in diesem Kapitel vorschlagen. Intellektualismus und Anti-Intellektualismus werde ich eine eigene Alternative gegenüberstellen: den Interaktionismus. Zentral für den Interaktionismus ist erstens, dass streng dazwischen unterschieden werden muss, wie wir im Rahmen unserer sprachlichen Praxis mentales Vokabular gebrauchen und wie die menschliche Kognition, d. h. auch die kognitive Komponente gekonnten Handelns, philosophisch analysiert werden sollte. Zentral für den Interaktionismus ist zweitens, dass gekonntes Handeln aus einer ständigen Interaktion zwischen einer schon praktisch verstandenen Welt und der kognitiven Komponente besteht – ein Punkt, den ich im Folgenden ausführlich erläutern werde. Drittens schließlich ist für den Interaktionismus zentral, dass Überlegung und Kontrolle nichts anderes sind als Teile eben jenes Interaktionsgeschehens. Der Interaktionismus kann in dem vorliegenden Rahmen freilich lediglich in den Grundzügen skizziert werden; gegenüber Intellektualismus und Anti-Intellektualismus ist zunächst aber auch vor allem entscheidend, dass die begrifflichen Weichenstellungen ganz anders vorgenommen werden. Intellektuell ist die von mir zu entwickelnde Analyse nicht nur den positiven Einsichten des Intellektualismus und des Anti-Intellektualismus verpflichtet. Verpflichtet ist sie vielmehr auch, in unterschiedlichem Maße, zentralen Gedanken Wittgensteins, Husserls, Heideggers, Gibsons, Merleau-Pontys und Bourdieus. Vielleicht ist es dabei ja kein Zufall, dass all diese Denker mit der deutschen

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Gestaltpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest indirekt eine zentrale Inspirationsquelle teilen. Zwar wird es im Folgenden immer wieder als nötig erweisen, auf eigene Weise entscheidend über die Gedanken der genannten Denker hinauszugehen. Doch es ist mir in diesem Kapitel auch ein zentrales Anliegen zu zeigen, wie sich die Ideen jener Autoren auch und gerade im Kontext systematischer Problemstellungen fruchtbar machen lassen.¹ Beginnen werde ich, indem ich die Grundlagen meines Vorschlags, des Interaktionismus, skizziere (Abschnitt 1). Anschließend werde ich argumentieren,  Ähnliche Ideen, wie sie im Folgenden präsentiert werden, finden sich auch in der gegenwärtigen Philosophie der Kognitionswissenschaften, und zwar in der Theorien-Familie namens „Enaktivismus“ („enactivism“). Auch dabei wurden Gedanken der genannten Denker wieder aufgegriffen, zunächst von Varela, Thompson und Rosch (). Anthony Chemero () gibt eine hilfreiche Übersicht über die historischen Entwicklungen und die Vielzahl an gegenwärtigen Positionen (wobei auch das Label „enactivism“ nicht immer einheitlich verwendet wird und der genannten Theorien-Familie unverwandte Theorien zuweilen als „enactivsm“ und der Theorien-Familie durchaus verwandte Theorien zuweilen nicht als „enactivsm“ bezeichnet werden; in einigen klassischen Spielarten steht etwa der Begriff der autopoesis stärker im Zentrum als diejenigen begrifflichen Werkzeuge, die im Folgenden eingeführt werden). Als Enaktivisten exemplarisch zu erwähnen sind Alva Noë (), Erik Rietveld (), Evan Thompson () und Daniel Hutto & Erik Myin (). Als relevant werden sich ebenfalls Gedanken aus der sogenannten ecologischen Psychologie erweisen, auf deren wichtigsten Vertreter James Gibson ich ausführlich eingehen werde. Während die Theorien in diesen Theorien-Familien von weitem – etwa aus Sicht des Intellektualismus – betrachtet viele Eigenschaften teilen, werden bei näherer Betrachtung auch wichtige Unterschiede sichtbar. Dessen ungeachtet schlage ich vor, dass der in diesem Kapitel entwickelte Ansatz die Grundgedanken der Theorien-Familie auf besonders fruchtbare Weise zum Ausdruck bringen kann; da an dieser Stelle der Schwerpunkt in meiner Entwicklung der Position jedoch darauf liegt, eine bessere Analyse des Handelns im Mittelreich zu gewinnen als sie von Intellektualismus und Anti-Intellektualismus geliefert wird, kann nur am Rande darauf eingegangen werden, inwieweit mein Ansatz Vorteile gegenüber jenen verwandten Theorien aufweist. – Eine noch etwas fernere Verwandtschaft des zu entwickelnden „Interaktionismus“ besteht zu einer Gruppe von Theorien, die immerhin in ethymologischer Hinsicht eine größere Nähe aufweisen, nämlich anderen Theorien, die ebenfalls Träger des Namens „Interaktionismus“ sind. Solche Theorien finden sich etwa in Philosophie, Psychologie und Soziologie. Zu denken ist etwa an Sean Gallaghers (a) „Interaction Theory“ sozialen Verstehens, Herbert Blumers () Symbolischen Interaktionismus, sowie die Philosophie George Herbert Meads (). Mit der Namenswahl ist kein expliziter Anschluss an eine von jenen Theorien beabsichtigt, obwohl der deskriptive Gehalt des Wortes „Interaktionismus“ die Annahme der Existenz gewisser inhaltlicher Gemeinsamkeiten nahelegt. Bei näherer Betrachtung jedoch bestehen zugleich offensichtliche Unterschiede; und entsprechend sollten jene Namensvettern vor allem so angesehen werden, dass sie in einigen Hinsichten Ressourcen bieten, um bestimmte Aspekte (z. B. hinsichtlich sprachlichen und sozialen Handelns) meiner hier nur skizzierbaren Position mittelfristig weiter auszuarbeiten. (Entsprechendes gilt ebenfalls für die noch entfernter verwandte Actor-NetworkTheory Bruno Latours und anderer (siehe dazu Law& Hassard ).)

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dass der Interaktionismus in der Lage ist, zentrale Phänomene gekonnten unreflektierten Handelns besser zu erklären als Intellektualismus und Anti-Intellektualismus und dass er daher per Schluss auf die beste Erklärung als die adäquateste Theorie des Handelns zwischen Reflex und Reflexion akzeptiert werden sollte (Abschnitt 2). In diesem Kontext kann auch insbesondere sein problemlösendes Potential deutlich werden. Schließlich wird eine Diagnose der tieferen Vorzüge des Interaktionismus geliefert (Abschnitt 3) und das Kapitel mit einem Fazit beendet (Abschnitt 4).

1 Der Interaktionismus Wenn wir uns für gekonntes Handeln interessieren und es gerne besser verstehen würden – was genau heißt es, das Handeln „besser zu verstehen“? Was wollen wir überhaupt wissen, wenn wir uns für die Natur menschlichen Handelns und des menschlichen Geistes interessieren? Um diese Frage zu beantworten, muss ich eine Wittgenstein’sche Einsicht wiederholen und systematisieren, die sich schon zur Diagnose der tieferen Probleme des Intellektualismus und des Anti-Intellektualismus als hilfreich erwiesen hat.²

a Perspektiven der Analyse Exemplarisch für Wittgensteins Behandlung der Frage nach der Natur des menschlichen Geistes und der Natur unseres mentalen Vokabulars erläutere ich Wittgensteins Behandlung von Absichten. Gerade Absichten habe ich ausgewählt, weil dieses Thema im Verlaufe dieses Kapitels noch von Wichtigkeit sein wird. Wann versteht man ein Handeln üblicherweise als absichtlich? Wittgenstein (MS 130: 253 f.) gibt folgendes Beispiel: Wenn ich den Milchmann kommen sehe, hole ich meinen Krug und gehe ihm entgegen. Erlebe ich ein Beabsichtigen? Nicht das ich wüsste. (So wenig vielleicht, wie ich versuche zu gehen, um zu gehen.) Wenn ich aber aufgehalten und gefragt würde „Wohin wolltest Du mit dem Krug?“, würde ich meine Absicht aussprechen.

Wichtig an dem Beispiel ist, dass es sich um eine Routinehandlung handelt, bei deren Verrichtung Wittgenstein vermutlich überhaupt nichts denkt. Trotzdem

 Mit anderen Worten wird nun die Lehre aus den dort kritisch angebrachten methodologischen Beobachtungen gezogen und eine positiv-konstruktive Alternative entwickelt.

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kann das gesamte Handeln als „absichtlich“ beschrieben werden. Gleiches gilt auch für das Handeln von Tieren (Philosophische Untersuchungen, §647): Was ist der natürliche Ausdruck einer Absicht? – Sieh eine Katze an, wenn sie sich an einen Vogel heranschleicht; oder ein Tier, wenn es entfliehen will.

Dass Wittgenstein auf die Frage „Wohin wolltest Du mit dem Krug?“ eine Antwort geben kann, die Katze jedoch nicht, macht nicht geringsten Unterschied dafür, wann wir von einem Lebewesen sagen, es handle absichtlich (MS 129: 154; vgl. MS 128: 18): Warum soll die ausgesprochene Absicht immer unzweifelhafter sein, als die durch Mienen u.s.w. ausgedrückte?

Die Artikulationsfähigkeit einer Absicht ist für das Vorliegen absichtlichen Handelns nicht relevant. Entscheidend ist vielmehr der Gedanke, dass wir von Wesen als Ganzen sagen, sie handelten absichtlich. Wir sehen, dass sie absichtlich handeln, an der Form ihrer Bewegungen. An der Körperhaltung der Katze sehen wir, dass sie auf dem Sprung ist, den Vogel zu fangen. Und an Wittgensteins routiniertem Griff nach dem Milchkrug sehen wir, dass er die Absicht hat, dem Milchmann entgegen zu gehen. So kann mit dem Begriff der Absicht das Handeln einer Person als Ganzer beschrieben werden. Warum sollte man es anders sehen? Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, §658) führt folgenden Fall an: Denk, wir drückten die Absicht eines Menschen immer so aus, indem wir sagen: „Er sagte gleichsam zu sich selbst ‚Ich will‘ –.“ Das ist das Bild. Und nun will ich wissen:Wie verwendet man den Ausdruck „etwas gleichsam zu sich selbst sagen“? Denn er bedeutet nicht: etwas zu sich selbst sagen.

In seiner gesamten Spätphilosophie warnt Wittgenstein davor, sich in der Philosophie durch Bilder leiten zu lassen, die in die Oberflächenstruktur unserer Grammatik eingraviert sind. Sobald wir den Begriff der Absicht nicht mehr auf übliche Weise gebrauchen, sondern die in der Sprache liegenden Bilder anstarren und darüber reflektieren, was wohl „hinter“ diesen Ausdrucksweisen steht, kommen wir etwa dazu zu denken, wir würden stets gleichsam „Ich will“ zu uns selbst sagen, sobald wir etwas absichtlich tun. Und wenn wir in unserer gewöhnlichen Sprache sagen, eine Handlung sei „absichtlich“, so sagen wir dies, könnte man denken, weil der Akteur ein „Ich will“ zu sich selbst gesagt habe. Doch hier würden wir einem Bild aufsitzen, das in unserer Sprache angelegt ist. Diesem Bild zufolge wäre eine Absicht in Wirklichkeit etwas innerhalb einer

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Person – als ob sie eine Zutat innerhalb eines Handelns wären. Wittgenstein führt aus (MS 230 S. 95, § 355): „Ich habe die Absicht, morgen zu verreisen.“ – Wann hast Du die Absicht? Die ganze Zeit; oder intermittierend? Schau in die Lade, in der Du sie zu finden glaubst. Die Lade ist leer.

Die Lade ist leer. Und das ist natürlich kein Wunder, wenn wir mit Absichten das Handeln von Personen als Ganzen beschreiben, aber das, womit wir dieses Handeln von Personen als Ganzen beschreiben, irgendwie in ihrem Inneren wiederzufinden erwarten. Wittgenstein (MS 211: 409) stellt klar: Die Intention, wie ich das Wort verstehe, ist nicht eine psychische Maschine, die das leisten kann, was eine aus Holz oder Eisen nicht leisten kann. Sondern ich brauche das Wort überhaupt nicht zur Bezeichnung einer Art von Mechanismus.

So, wie der Begriff der Absicht üblicherweise verwendet wird, bezeichnet er keinen Mechanismus, sondern beschreibt ein Wesen als Ganzes, sei es nun den routiniert zum Milchmann Gehenden oder eine Katze. Doch an dieser Stelle kann man sich fragen, ob die Möglichkeiten, entweder einem in unserer Sprache liegenden Bild zu verfallen oder auf unseren üblichen Gebrauch unserer Worte zu achten, überhaupt die einzigen Alternativen sind. Denn kann die Frage nach dem „Mechanismus“ – bzw. nach der Funktionsweise und den zugrunde liegenden Strukturen – nicht auch interessant sein? Beispielsweise schreiben wir gemäß unserem gewöhnlichen Begriff einer Absicht auch einer Katze die Absicht zu, einen Vogel zu fangen. Und gleichermaßen können wir einer Spinne die Absicht zuschreiben, die im Netz zappelnde Beute zu fressen. Doch philosophisch interessant können gerade die Unterschiede in der Kognition³ von Spinnen, Katzen und Menschen sein.⁴  Felix Mühlhölzer hat mich dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, dass aus Wittgenstein’scher Perspektive schon die Verwendung des Begriffs der Kognition als problematisch erscheinen könnte, insofern er ein ungeklärter und nicht-alltäglicher Begriff ist, dessen unbedachter Gebrauch im Rahmen einer Theorie dazu verleiten könnte, kategoriale Verschiedenheiten des Geistigen zu übersehen. In Antwort auf dieses Bedenken sei zunächst daran erinnert, dass der Begriff der Kognition in der Einleitung explizit als technischer eingeführt worden ist. Als solcher muss er freilich mit großer Vorsicht gehandhabt werden. Dabei leistet er hier zudem keine große theoretische Arbeit, sondern dient lediglich dazu, das Explanandum zu bezeichnen, nämlich, grob gesprochen, die subjektiven Hintergrund-Bedingungen, aufgrund derer ein unreflektiertes Reagieren auf die Eigenheiten einer Situation erst möglich ist. Entsprechend ist im Lichte der vorliegenden Untersuchung sinnvoll und hilfreich, auf einen derartigen Begriff zurückgreifen zu

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Oder betrachten wir Wittgensteins vielleicht geistesabwesenden, routinierten Gang zum Milchmann. In gewissem Sinne scheint sich dieser Fall zu unterscheiden von einer Situation, in der Wittgenstein erst eigens darüber nachdenkt, ob es moralisch vertretbar, aus kommerzieller Tierhaltung stammende Milch zu kaufen und sich dann bewusst entschließt, doch zum Milchmann zu gehen. Auch wenn wir gemäß unserem gewöhnlichen Begriff einer Absicht beide Fälle als „absichtlich“ beschreiben würden, scheint es hier Unterschiede in der Kognition zu geben. Wichtig ist nun, wie die Frage nach der Natur des Mechanismus nicht verstanden werden darf. Wenn Wittgenstein recht hat, können wir sie unmöglich beantworten, wenn wir schlicht auf unseren gewöhnlichen Begriff der Absicht starren und lange darüber nachdenken, was wohl dahinter liege. Dann würden wir nur den in die grammatische Oberflächenstruktur unserer Sprache eingravierten Bilder aufsitzen. Wir können aber auch nicht darauf schauen, wie der Begriff der Absicht üblicherweise gebraucht wird. Denn mentales Vokabular dient nicht dazu, irgendeine mentale Wirklichkeit abzubilden. Vielmehr dient er immer einem

können. Natürlich ist damit aber noch nicht der zweite Teil des Bedenkens beschwichtigt, nämlich die Sorge, dass der Verschiedenheit des Geistigen nicht Rechnung getragen werden kann. In Antwort auf dieses Bedenken sei darauf hingewiesen, dass auch etwa Wittgenstein in hilfreicher Weise allgemeine Denkweisen vorschlägt, etwa den Rekurs auf den Gebrauch oder auf die Praxis, um sprachliche Phänomene besser zu verstehen (und um bestimmte philosophische Missverständnisse zu vermeiden). Der allgemeine Hinweise darauf, sprachliche Phänomene unter Rekurs auf sprachliche Praktiken zu verstehen, ist dabei aber gerade kompatibel mit dem Vorgehen, von Einzelfall zu Einzelfall etwa die konkrete Verwendung einzelner Worte in der Praxis zu untersuchen; der allgemeine Verweis auf die Praxis zeigt gerade eine neue Denkweise auf, die dann jeweils von Fall zu Fall detail- und phänomen-gerecht umgesetzt werden kann. Analog kann auch die im Folgenden zu entwickelnde philosophische Analyse der kognitiven Komponente unreflektierten Handelns eine neue Denkweise aufzeigen, die dann Einzelfall-gerecht auf verschiedene kognitive Phänomene angewandt werden kann (sei es auf der abstrakteren Ebene einer Analyse etwa verschiedener Arten des absichtlichen Handelns, sei es auf der konkreteren Ebene einer Analyse des gekonnten Handelns des Baseball-Spielers, des Jazz-Pianisten, usw.). In diesem Sinne halte ich mein folgendes Vorgehen im Allgemeinen und meine bewusst vorsichtige Verwendung der Begriffe „Kognition“ und „kognitiv“ im Besonderen für kompatibel mit Wittgensteins Einsichten. Generell gesagt verstehe ich mein Vorgehen als eines, in dem sich Wittgenstein und die Kognitionswissenschaften nicht länger antagonistisch gegenüberstehen, sondern sich im Gegenteil fruchtbar ergänzen.  Interessant sein können sie etwa hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Tier, sowie hinsichtlich der Struktur menschlichen und tierischen Handelns: Wieso z. B. sind erwachsene Menschen für ihr Handeln verantwortlich, kleine Kinder und Tiere aber nicht – obwohl letztere doch, im Gegensatz zu Pflanzen und Gegenständen, in einem relevanten Sinne ebenfalls Handelnde sind? (Vor dem Hintergrund der im Folgenden entfalteten Position wird im vierten Kapitel eine Antwort auf diese Frage vorgeschlagen.)

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pragmatischen Zweck, und dieser Zweck ist es nicht, einen Mechanismus genauer zu beschreiben. Wenn wir uns also für die Mechanismen menschlichen Handelns interessieren, können wir zwar durchaus sagen, der überlegende Wittgenstein handele absichtlich und der routiniert handelnde Wittgenstein und die Katze nicht, und zwar deshalb, weil jener innen anders strukturiert sei als diese. Wir müssen uns dabei aber gewahr sein, dass wir den Begriff der Absicht, wenn wir ihn auf diese Weise verwenden, nicht mehr in seinem natürlichen Sinne verwenden, sondern dass er unter unseren Fingern zu einem technischen Begriff geworden ist. Dass es möglich ist, solche technischen Begriffe zu schaffen, ist mit Wittgensteins Vorgehen durchaus kompatibel.⁵ Die Frage ist nur, ob es sinnvoll ist, sie zu schaffen. In Bezug auf die Thematik menschlichen Handelns müssen wir daher fragen, ob es sinnvoll ist, neben einer Analyse unserer gewöhnlichen Gebrauchsweisen mentalen Vokabulars auch die strukturellen Mechanismen des Handelns zu untersuchen.⁶ Stellen wir uns als Analogie eine Gruppe von Menschen vor, die vor einem Gemälde steht. „Da ist eine gelbe Kuh, lustig“, könnte ein kleines Kind sagen und weitergehen wollen.Wir aber würden zögern, es damit schon bewenden zu lassen. Zwar hat das Kind eine korrekte und pragmatisch nützliche Beschreibung des Bildes gegeben. Aber in diesem Museums-Kontext wir wollen das Bild tiefer verstehen. Ein Chemiker könnte uns anbieten, die genaue Struktur des Bildes zu analysieren und uns die chemische Zusammensetzung der gelben Farbschicht zu liefern. Und ein Statistiker könnte uns anbieten, die statistische Verteilung der einzelnen Farben über das Bild zu berechnen. Aber solcherlei Analysen der tieferen Struktur des Bildes scheinen irrelevant. Denn mit ihrer Hilfe können wir das Bild nicht tiefer verstehen; mit diesem chemischen oder statistischen Wissen sagt uns das Bild nicht mehr. Gegeben unser Ziel, das Bild zu verstehen und es möglichst tief zu verstehen, ist die natürliche Beschreibung des Kindes allemal hilfreicher. Stellen wir uns nun jedoch vor, in der Gruppe vor dem Gemälde befindet  In seinen Schriften zur Philosophie der Psychologie tut Wittgenstein selbst etwas, dass man so beschreiben könnte, dass er neue Worte und Metapher kreiert, um den unreflektierten Hintergrund menschlichen Handelns philosophisch zu erhellen; Beispiele sind „Evidenzerlebnis“, „Bedeutungssehen“, „Aspekt-Blindheit“ und „Bedeutungskeim“, um nur einige zu nennen.  Die Rede von einem Mechanismus sollte an dieser Stelle als ein Heuristikum verstanden werden. Sie soll darauf hinweisen, dass man sich auch für die Funktionsweisen und die Struktur der kognitiven Komponente gekonnten Handelns interessieren kann, im Gegensatz zu primär pragmatischen Zwecken dienenden Zuschreibungen volkspsychologischer Begriffe an ganze Personen. Es ist natürlich ein besonders zentraler Punkt der Analyse unreflektierten Handelns als im Mittelreich liegend, dass es sich gerade nicht in kausal-mechanistischen Begriffen verständlich machen lässt.

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sich auch ein Kunstverständiger. Er könnte unsere Aufmerksamkeit auf einzelne strukturelle Elemente des Bildes lenken; wir sehen jetzt z. B., dass die Kuh aus vielen kleinen Dreiecken zusammengesetzt ist. Der Kunstverständige könnte unsere Aufmerksamkeit dann auf ein daneben hängendes Bild desselben Künstlers lenken, auf dem auf den ersten Blick ein ganz anderes Motiv abgebildet ist, sagen wir, drei Rehe. Wenn wir unseren Blick aber dem mentalen Zeigefinger des Kunstverständigen folgen lassen, sehen wir, dass dieses andere Gemälde auch aus Dreiecken aufgebaut ist. Der Kunstverständige könnte uns dann erklären, inwiefern das Zusammenspiel dieser kleinen Formen und der Farben eine geistige Grundhaltung des Künstlers und seiner Zeit- und Stilgenossen über die Natur menschlicher Wahrnehmung zum Ausdruck bringt. Wir verstehen jetzt vielleicht, inwiefern es auch schon bei dem ersteren Gemälde um die Natur menschlicher Wahrnehmung geht und nicht primär um eine Kuh.Wir sehen immer noch das Bild mit der Kuh, aber weil wir die Struktur des Bildes besser verstanden haben, sagt uns das Bild mit der gelben Kuh jetzt mehr. Aufgrund von Betrachtungen der Struktur des Bildes können wir das Bild selbst tiefer verstehen; aber nicht aufgrund irgendwelcher Betrachtungen, sondern nur aufgrund solcher, die auf relevante Weise mit dem Bild als Ganzem in Beziehung gesetzt werden. Ich schlage vor, dass sich eine Analyse menschlichen Handelns analog zu einer Analyse jenes Bildes verhält. Zunächst sollte eine wichtige Einsicht Daniel Dennetts (1991a) festgehalten werden: Wir können ein- und dasselbe zu verschiedenen Zwecken auf verschiedene Weise beschreiben. Dabei gibt es nicht so etwas wie eine beste Beschreibung; die Güte einer jeden Beschreibung ermisst sich allererst an dem Zweck, zu dem sie gegeben wird.⁷ Wir müssen das Bild nicht tiefer verstehen wollen, sondern können wie das Kind im Beispiel die Neigung haben, schnell weiterzugehen. Wir können es einfach pragmatisch beschreiben wollen, was man auf den ersten Blick sieht (beispielsweise, wenn wir sagen wollen, man müsse nicht nach Wien, sondern nach New York reisen, um das Bild mit der gelben Kuh im Original zu betrachten). Wir können uns auch für eine sehr feinkörnige Beschreibung der chemischen Zusammensetzung von Bildern interessieren, und dann wird die Analyse des Chemikers doch wieder relevant. Das Interesse an

 Mehr als diese allgemeinen Punkte übernehme ich nicht von Dennett, und sie können auch unabhängig von Dennett gemacht werden. Für eine tiefere Ausbuchstabierung würde ich auf Dennetts Aufsatz „Real Patterns“ verweisen. Zumindest dieser eine Aufsatz Dennetts (im Gegensatz etwa zu einigen seiner früheren und späteren Werke) scheint mir gut verteidigbar zu sein; darauf ist aber wie gesagt die Argumentation im Haupttext nicht angewiesen, da nur wenige allgemeine Punkte übernommen werden, die von Dennetts weiterer Theorie unabhängig sind. – Dennoch werde ich auf das Thema in Kapitel IV noch einmal ausführlicher zurückkommen.

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einem tieferen Verständnis des Bildes als Ganzem, oder in Analogie des Handelns als Ganzem, ist nur ein Interesse von vielen möglichen.⁸ Aber es kann sich als besonders lohnend erweisen, menschliches Handeln besser verstehen zu wollen. Immerhin wüssten wir dann besser, was wir eigentlich tun, wenn wir handeln; wir würden das, was wir tagtäglich immer schon voraussetzen, besser verstehen. Wir würden z. B. besser verstehen, was Expertise ausmacht und wie wir etwas lernen können. Wenn wir nun aber menschliches Handeln auf diese Weise besser verstehen wollen, gilt es demnach, seine Struktur besser zu verstehen. Dazu können wir aber nicht auf den gewöhnlichen Gebrauch achten, weil er jeweils nur bestimmten pragmatischen Zwecken dient.⁹ Erst recht nicht dürfen wir das mentale Vokabular unserer Alltagssprache ansehen, weil wir dann nur den in unserer Sprache liegenden Bildern aufsitzen. Wir dürfen aber auch nicht einfach auf irgendeine strukturelle Beschreibung rekurrieren, etwa eine neurobiologische. Eine solche Beschreibung wäre für unser Ziel, menschliches Handeln tiefer zu verstehen, zumindest ohne Weiteres irrelevant, weil die Beschreibung – ähnlich wie des Chemikers in der Analogie – keine Beziehung zum Handeln als Ganzem aufweisen würde.¹⁰ Gesucht ist also eine Analyse menschlichen Handelns, die der Analyse des Bildes durch den Kunstverständigen im Beispiel entspräche.¹¹  Die Analogie ist dabei so gedacht, dass einer philosophisch feinkörnigen Analyse der Struktur der kognitiven Komponente gekonnten Handelns die vom Kunstverständigen vorgeschlagene Analyse des Gemäldes als durch bestimmte Dreiecke und Farben strukturiert entspricht.  Offensichtlich können die zu pragmatischen Zwecken getätigten Verwendungen volkspsychologischer Begriffe mitunter auch in deskriptiver Hinsicht etwas treffen: Tut etwa Stefan kund, er habe die Absicht, morgen zu verreisen, dann dient diese Äußerung zwar vor allem pragmatischen Zwecken – seine Gesprächspartner sollen sich etwa darauf einstellen, ihn ab morgen voraussichtlich nicht mehr antreffen zu können (aber nur „voraussichtlich“, sonst würde er sagen „Ich werde morgen verreisen“ anstatt „Ich habe die Absicht, morgen zu verreisen“). Aber die Äußerung trifft auch etwas in Stefans geistigem Leben und ist in dem Sinne deskriptiv. Der entscheidende Punkt dabei ist jedoch, dass andere Analysen viel feinkörniger sein können als die vorliegende, so dass jene anderen Analysen zwar nicht dem Zwecke alltäglicher Kommunikation, aber dem Zwecke des philosophischen Erkenntnisgewinns zuträglicher sein können.  Natürlich kann eine Untersuchung der neuronalen Grundlagen menschlichen Handelns auch aus philosophischer Sicht sehr wertvoll sein – aber eben nur, wenn diese Befunde fruchtbar verwendet werden können, um das Handeln als Ganzes positiv zu erhellen.  Entsprechend kann ich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten meines Wittgenstein und Dennett folgenden Vorschlags zu dem prominenten eleminativen Materialismus der Churchlands (vgl. z. B. Churchland & Churchland ) deutlich machen. Genau wie die Churchlands gehe ich davon aus, dass uns die Volkspsychologie nichts über die Mechanismen (d. h. die Struktur und die Funktionsweisen) des menschlichen Geistes verraten kann (zum Begriff der Volkspsychologie vgl. Kapitel I). Anders als die Churchlands gehe ich aber nicht davon aus, dass unsere gewöhnlichen Verwendungen mentalen Vokabulars durch eine neurobiologische Beschreibungsweise ersetzt

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Wittgenstein deutet in seinem gesamten Spätwerk immer wieder die Punkte an, an denen seine Fragestellungen auf die genannte Weise weiterverfolgt werden müssten; darauf werde ich noch zurückkommen. Aber Wittgenstein verfolgt diese konstruktiven Antwortmöglichkeiten nur selten¹² weiter, weil sein primäres Interesse einer besseren Übersicht über den alltäglichen Gebrauch mentalen Vokabulars dient, womit insbesondere in therapeutischer Hinsicht ein Verfallen an die in der Sprache liegenden Bilder vermieden werden soll. Um daher die Mechanismen menschliches Handelns auf eine Weise besser zu verstehen, die ein tieferes Verständnis menschlichen Handelns als Ganzem ermöglicht, müssen wir an einem anderen Ort nach dem Counterpart des Kunstverständigen in der Philosophie suchen. Wir finden ihn zunächst, so möchte ich vorschlagen, in einer anderen philosophischen Richtung: in der Phänomenologie, und namentlich in dem Werk Edmunds Husserls. werden sollte. Denn gemäß meinem Vorschlag haben unsere gewöhnlichen Verwendungen mentaler Begriffe überhaupt nicht den Zweck, die kognitiven Mechanismen des menschlichen Geistes zu beschreiben. Sie müssen daher nicht ersetzt werden, weil sie ihre jeweiligen pragmatischen Zwecke bestens erfüllen. Sie können nur nicht das machen, wofür sie niemals gedacht waren, nämlich die Mechanismen der menschlichen Kognition feinkörnig treffend abzubilden. (Natürlich bedeutet dies nicht, dass die volkspsychologische Verwendung mentaler Begriffe nicht auch verbessert werden könnte; aber die Gütekriterien sind hier andere. Ich werde auf diesen Themenkomplex am Beispiel von Verantwortungszuschreibungen im vierten Kapitel zurückkommen.) Noch einmal anders gesagt: Kann herausgefunden werden, dass es (z. B.) keine Überzeugungen gibt? Meine Antwort lautet: Nein. Insofern „Überzeugung“ ein Begriff der Volkspsychologie ist, kann nicht, etwa durch neurowissenschaftliche Untersuchungen, herausgefunden werden, dass es keine Überzeugungen gibt. Eine neurowissenschaftliche Untersuchung betrachtet die kognitive Komponente menschlichen Handelns schlicht aus einer ganz anderen Perspektive als die Volkspsychologie. Und damit einhergehend hat sie auch ganz andere Gütestandards für gelingende Analysen. Was aber sehr wohl passieren kann, ist, dass etwa in der Kognitionspsychologie der volkspsychologische Begriff „Überzeugung“ übernommen und dabei zu einem technischen Begriff gemacht wird, um Phänomene des menschlichen Geistes zu erklären (ähnlich wie es im Haupttext gerade mit dem Begriff der Absicht geschehen ist). In einem solchen Kontext kann es sehr wohl passieren, dass der nun technisch gewordene Begriff der Überzeugung nicht zu der Art von Individuierung der menschlichen Kognition beiträgt, die aus kognitionspsychologischer Perspektive für einen Erkenntnisgewinn am hilfreichsten ist. Dann wäre es in diesem Kontext am erkenntnisförderndsten, den Begriff der Überzeugung durch bessere Mittel der Individuierung zu ersetzen. Der dann technisch gewordene Begriff der Überzeugung sollte in einem solchen Falle aufgegeben werden, weil er zum Zwecke des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns nicht hilfreich wäre. Aber wiederum tangierte dies den volkspsychologischen Gebrauch des Wortes „Überzeugung“ nicht im Geringsten.  Weiterverfolgt werden die Gedanken von Wittgenstein etwa in seinen Schriften zur Philosophie der Psychologie, die auch als „Best Of“ im „Teil “ der Philosophischen Untersuchungen zusammengestellt sind.

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b Die drittpersonale Perspektive der Bedeutsamkeit In seiner „Göttinger Lebenswelt“ beschreibt Husserl unter anderem die tiefere Struktur menschlichen Handelns auf eine Weise, die gerade eine Anknüpfung dieser tieferen Struktur an die Erfahrung von menschlichem Handeln als Ganzem ermöglicht.¹³ Hilfreich ist insbesondere eine Einsicht über den Zusammenspiel von Umwelt und Person, die Husserl so ausdrückt (1984: 20): Speziell vom physischen Naturobjekt gehen, sagt man, „Reize“ aus. Gereizt heißen die Sinnesnerven durch physische Erregungen. […] Stellen wir uns aber auf den Boden der intentionalen Subjekt-Objekt-Beziehung, der Beziehung zwischen Person und Umwelt, so gewinnt der Begriff des Reizes einen fundamental neuen Sinn. Statt des Kausalverhältnisses zwischen Dingen und Menschen als Naturrealitäten tritt die Motivationsbeziehung zwischen Personen und Dingen, und diese Dinge sind nicht die an sich seienden Dinge der Natur – der exakten Naturwissenschaft mit den Bestimmtheiten, die sie als allein objektiv wahre gelten läßt –, sondern erfahrende, gedachte oder sonstwie setzend vermeinte Dinge als solche, intentionale Gegenständlichkeiten des personalen Bewußtseins. Also von dem personalen Ich bewußtseinsmäßig als wirklich seiend „im Sinn liegenden“ Dingen als solchen gehen „Reize“ aus. Phänomenologisch sind die Dingeinheiten […] Ausgangspunkte von mehr oder minder „starken“ Tendenzen. Schon als bewusste, aber noch nicht erfaßte (im Bewußtseinshintergrund vorschwebende) ziehen sie das Subjekt gegen sich hin, und bei hinreichender „Reizstärke“ „folgt“ das Ich dem Reiz, es „gibt nach“ und wendet sich zu, es übt dann an ihnen explizierende, begreifende, theoretisch urteilende, wertende, praktische Tätigkeiten.¹⁴

Zunächst sollten wir die Fruchtbarkeit der hier implizit vorausgesetzten Methodologie wertschätzen. Der Chemiker aus der oben diskutierten Analogie bzw. ein Neurobiologe würde vielleicht die physischen Erregungen der Sinnesnerven biochemisch analysieren. Aber welchen Wert hätte dies für ein tieferes Verständnis menschlichen Handelns? Ein Kind würde im Falle eines motivationalen Reizes wohl einfach sagen, dass es ein bestimmtes Objekt haben wolle. Jemand,

 Der Terminus „Göttinger Lebenswelt“ stammt von Manfred Sommer, der ihn in seiner Einleitung in Husserls „Die Konstitution der geistigen Welt“ gebraucht, und der Terminus bezeichnet einen Teil (Husserl ) des Husserl’schen Werkes Ideen II (Husserl ). (Zitiert wird hier nach den Seitenzahlen des Bandes Husserl ; um die Seitenzahlen des Bandes der Ideen II (Husserl ) zu erhalten, muss zu der jeweils angegebenen Seitenzahl die Zahl  addiert werden.)  Einen wichtigen Teil dieses Gedankenkomplexes etwas anders ausdrückend, schreibt Husserl (:  f.): „Das Objekt „drängt sich dem Subjekt auf“, übt auf es Reize (theoretische, ästhetische, praktische Reize), es will gleichsam Objekt der Zuwendung sein, klopft an die Pforte des Bewußtseins in einem spezifischen Sinne (nämlich dem des Zuwendens), es zieht an, das Subjekt wird herangezogen, bis schließlich das Objekt Aufgemerktes ist. Oder es zieht praktisch an, es will gleichsam ergriffen sein, es ladet zum Genusse ein usw.“

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der den Gebrauch der Alltagssprache analysierte, würde konstatieren, dass dies ein gewöhnlicher Gebrauch der Worte „haben wollen“ sei. Und jemand, der sich durch die in der Sprache liegenden Bilder verzaubern lässt, würde aus eben diesem Umstand schließen, dass jedem Handeln ein Wollen bzw. ein „Ich will“ zugrunde liege. Aber Husserl macht nichts von alldem. Stattdessen beschreibt er auf feinfühlige Weise eine tiefere Struktur menschlichen Interagierens mit der Welt, und zwar auf eine Weise, wie sie menschliches Handelns als Ganzes, hinsichtlich der intentionalen Subjekt-Objekt-Beziehung charakterisiert. Das, was Husserl beschreibt, sind nicht einfach bedeutungslose physische Sinnesreizungen; stattdessen ist seine Art und Weise, die Reize zu beschreiben, schon so vorgenommen, dass die Reize für ein Subjekt eine Bedeutung haben. Zugleich werden nicht einfach qualitative Erfahrungserlebnisse beschrieben. Stattdessen wird nicht vergessen, welchen Beitrag das Subjekt leistet, damit ihm etwas als Reiz erscheinen kann. In diesem Sinne, in dem Erlebnisse nicht einfach nur erstpersonal als qualitative Erfahrungen beschrieben werden, sondern der Beitrag des Subjekts selbst Gegenstand der Analyse ist, kann man Husserls Perspektive als „drittpersonal“ bezeichnen. In diesem Sinne können wir sagen, dass das, was Husserl hier voraussetzt, nichts anderes ist als eine drittpersonale Perspektive der Bedeutsamkeit. ¹⁵

 Husserl selbst betont in seinem Werk freilich unermüdlich die Relevanz der Perspektive der ersten Person, so dass eine Verwendung des Ausdrucks „drittpersonale Perspektive der Bedeutsamkeit“ in exegetischer Hinsicht irreführend sein kann. Sachlich gesehen ist es aber gerade eine drittpersonale Perspektive, die an dieser Stelle zur philosophischen Erforschung der relevanten Phänomene gekonnten unreflektierten Handelns notwendig ist. Denn relevante Phänomene unreflektierten Handelns zeichnen sich schließlich gerade dadurch aus, dass sich der Handelnde seines Handelns in einem relevanten Sinne nicht notwendigerweise gewahr ist. Derartige Fälle können aus einer erstpersonalen Perspektive nicht erforscht werden, zumindest nicht, wenn an Introspektion oder an autoritatives Selbstwissen gedacht wird. Natürlich kann sich ein Handelnder aus der Perspektive der ersten Person aufmerksam bei seinem Handeln selbst beobachten und etwa später eine Video-Aufzeichnung seines Handelns ansehen, um herauszufinden, auf welche Handlungsaufforderungen er tatsächlich reagiert hat. Aber entscheidend ist, dass dies jemand anderes aus der Perspektive der dritten Person prinzipiell genauso gut tun kann, oder sogar deutlich besser, wenn etwa an systematische Untersuchungen menschlichen Handelns in Psychologie und Kognitionswissenschaften gedacht wird. Es ist die Perspektive der dritten Person, die hier entscheidend ist. Wichtig ist dabei, dass eine derartige drittpersonale Perspektive Phänomene menschlichen Handelns gerade nicht in rein physikalistischen oder biochemischen Begriffen untersucht. Darum spreche ich von einer „drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit“, einer Perspektive, die in einigen philosophischen Gegenüberstellungen von erstpersonaler (scheinbar allein bedeutungsvoller) und drittpersonaler (scheinbar sinnentleerter, kalt verojektivierender) Perspektive übersehen zu werden droht. Auch wenn er es selbst nicht so be-

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Ich habe gesagt, Husserl nehme aus dieser Perspektive heraus eine besonders hilfreiche Beschreibung menschlichen Handelns vor. Laut Husserl gehen für ein Subjekt von einem Gegenstand Reize aus, die das Subjekt mehr oder weniger stark anziehen können, und denen es bei hinreichender Reizstärke nachgibt und ihnen folgt. Aber stimmt das? Es ist leicht, sich an einigen Beispielen klarzumachen, wie weitsichtig diese Husserl’sche Analyse ist. Betrachten wir z. B. Adriana, die dabei ist, mit ihrem Fahrrad den Zentral-Campus zu überqueren. Bei all dem Menschen- und FahrradGewusel ist kein Durchkommen in Sicht. Da jedoch tut sich einige Meter vor Adriana eine Lücke in der Menge auf. Wenn sie etwas schneller fährt, kann sie hindurchfahren und ein gutes Stück Wegs auf dem Campus zurücklegen. Welche Beschreibung des Phänomens wäre erhellender als die, dass die Lücke in der Menge einen Reiz auf Adriana ausübt? Und welche Beschreibung des Phänomens wäre erhellender als die, dass zwischen der Lücke und Adriana eine Motivationsbeziehung besteht? Zudem scheint es naheliegend zu sagen, dass die Lücke eine unterschiedlich große Reizstärke auf Adriana ausüben kann, je nachdem, wie eilig sie es etwa hat oder wie leicht die Lücke zu erreichen ist. Oder betrachten wir einen Tischtennisspieler während des Spiels. Den Schläger fest in der rechten Hand haltend, sieht er den Ball direkt auf sich zukommen. Hier übt der Ball einen Reiz auf den Tischtennis-Spieler aus, den Ball direkt zurückzuschlagen. Der Schläger wird zum Ball gezogen. Hier kann man sagen, dass eine Motivationsbeziehung zwischen Ball und Spieler besteht, und der Spieler dem Reiz nachgibt, sobald er den Ball zurückschlägt. Wir können auch den eingangs angeführten Torwart betrachten, der einen unbemerkt heranfliegenen Ball im letzten Augenblick pariert. Während der Ball bei einem Kind vielleicht noch den Reflex, sich zu ducken, auslösen würde, stellt der Ball für den lang trainierten Torwart einen Reiz dar, ihn abzuwehren. Zwischen dem heran zischenden Ball und dem ambitionierten Torwart besteht eine Motivationsbeziehung. Diese Beispiele zeigen nicht, dass Husserl das Wort „Reiz“ so verwendet, wie wir es üblicherweise gebrauchen. Sie zeigen auch nicht, was eigentlich hinter dem Begriff des Reizes steckt. Stattdessen sind die Beispiele empathisch nachvollziehbar. Mit den Begriffen des Reizes und der Motivationsbeziehung schöpft Husserl neue begriffliche Werkzeuge, um das, was diesen Beispielen gemeinsam

schreiben werden würde, möchte ich vorschlagen, dass die drittpersonale Perspektive der Bedeutsamkeit von Husserl schon eingenommen wird. – Selbst wenn an dieser Stelle möglicherweise noch nicht alle Aspekte der zitierten Passage Husserls deutlich geworden sind, sollten die für die vorliegende Untersuchung relevanten Aspekte innerhalb der nächsten Seiten deutlich werden.

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ist, sprachlich spezifizieren zu können. Und damit können diese Beispiele auf hilfreiche Weise erhellt werden. Wir können also festhalten, dass Husserl hier etwas gesehen hat, das einen wichtigen Bestandteil in der Struktur menschlichen Handelns darstellt. Und er hat damit etwas gesehen, das mit Hilfe anderer Methodologien gar nicht erst gesehen werden konnte. Wenn diese Analyse derart plausibel ist, sollten wir sie weiterfolgen, um die tiefere Struktur menschlichen Handelns besser zu verstehen. Husserl hat den Gedanken des Reizes und der Motivationsbeziehung als erster in die Philosophie eingeführt. Aber jemand, der sein gesamtes akademisches Leben damit verbracht hat, diesen Gedanken auszuarbeiten, ist J. J. Gibson. Ihm sollten wir uns daher nun zuwenden.

c Affordanzen Gibson drückt den im Kern selben Gedanken, den Husserl mit dem Begriff der Motivationsbeziehung bezeichnet, mit dem Begriff der sogenannten Affordanz (affordance) aus. Ursprünglich inspiriert hat Gibson dazu der deutsche Begriff des Aufforderungscharakters aus der deutschen Gestaltpsychologie, den er bei Kurt Lewin gefunden hat.¹⁶ Gibson (1979: 127) erläutert den Begriff der Affordanz wie folgt: The affordances of the environment are what it offers the animal, what it provides or furnishes, either for good or ill. The verb to afford is found in the dictionary, but the noun affordance is not. I have made it up. I mean by it something that refers to both the environment and the animal in a way that no existing term does. It implies the complementarity of the animal and the environment. The antecedents of the term and the history of the concept will be treated later; for the present, let us consider examples of an affordance. If a terrestrial surface is nearly horizontal (instead of slanted), nearly flat (instead of convex or concave), and sufficiently extended (relative to the size of the animal) and if its substance is rigid (relative to the weight of the animal), then the surface affords support. It is a

 Vgl. zum Begriff der Affordanz neben Gibson  insbesondere die Übersichten in Chemero  und Rietveld a. Für eine historische Rückführung wichtiger Grundgedanken nicht nur auf die Gestaltpsychologie, sondern auch auf William James, siehe Harry Heft (). Für eine formale Ausbuchstabierung mit Hilfe des Gedankens einer Turing-Maschine siehe Wells . Für eine Version, die in den Design-Studien großen Einfluss entfaltet hat, siehe Norman  und . Obwohl alle genannten Autoren weitgehend dieselben Grundannahmen teilen, verwenden sie den Begriff der Affordanz nicht zwingend auf dieselbe Weise – teils ist dies Gegenstand reger Debatten –, und ich werde im Folgenden im Anschluss an Gibson und Husserl einen eigenen Vorschlag machen, der meines Erachtens philosophisch besonders fruchtbar ist.

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surface of support, and we call it a substratum, ground, or floor. It is stand-on-able, permitting an upright posture for quadrupeds and bipeds. It is therefore walk-on-able and runover-able. It is not sink-into-able like a surface of water or a swamp, that is, not for heavy terrestrial animals. Support for water bugs is different.¹⁷

Eine Affordanz ist demnach eine Handlungsgelegenheit, d. h. eine Eigenschaft einer physikalisch individuierten Welt, unter dem Gesichtspunkt eines je individuellen Handelnden betrachtet. Bestimmte Eigenschaften einer physikalisch individuierten Welt, etwa ein 10x10 cm großer Felsvorsprung, bieten etwa einem den Berg erklimmenden Eichhörnchen die Gelegenheit, ein wenig zu verschnaufen. Einem den Berg erklimmenden Menschen bietet derselbe Vorsprung dagegen nur die Gelegenheit, sich dort festzuhalten oder einen Fuß abzustellen. Einem Elefanten bietet er überhaupt nichts.¹⁸ Gibsons Begriff der Affordanz entspricht damit in etwa Husserls Begriff der Motivationsbeziehung. Locker gesprochen ist die Lücke in der Menschenmenge ist eine Affordanz, durch sie hindurchzufahren. Der heranfliegende Tischtennisball ist eine Affordanz, ihn zurückzuschlagen. Der auf das Tor zuschießende Fußball ist eine Affordanz, ihn abzuwehren.¹⁹

 Gibson redet davon, dass eine Fläche „stand-on-able“ ist: Auch die kann als eine Handlungsgelegenheit verstanden werden, da auch Stehen als ein Handeln verstanden werden kann. Gemäß dem eingangs beschriebenen Begriff des Handelns gilt dies ohnehin; es ist aber auch leicht nachvollziehbar. Ein Gejagter kann den Jäger etwa täuschen, indem er plötzlich stehenbleibt – hier erscheint das Stehenbleiben klarerweise als ein Handeln.  Ein und dieselbe Gegebenheit, wie etwa der Felsvorsprung, kann mithin verschiedenen Wesen verschiedene Affordanzen bieten. Andersherum können auch unterschiedliche Gegebenheiten verschiedenen Wesen in einem Sinne dieselben Affordanzen bieten. Ein Glas Wasser kann für Otto auf der Erde in einem Sinne genau so eine Affordanz sein, seinen Durst zu löschen, wie ein Glas Zwasser auf der Zwillingserde. Insofern Wasser und Zwasser aber eine unterschiedliche chemische Struktur haben, bieten sie einem Chemiker auf der Erde und einem Chemiker auf der Zwillingserde unterschiedliche Affordanzen.  Die Formulierungen sind in dem Sinne nur locker gesprochen formuliert, weil der Begriff der Affordanz erst im Folgenden immer weiter geschärft wird. Insbesondere ist er in Rahmen der Theorie Gibsons auf eine bestimmte Weise konzeptualisiert, die meinem Vorschlag gemäß zur vollen Entfaltung der dahinter liegenden philosophischen Gedanken nicht bestmöglich geeignet ist. Beispielsweise versteht Gibson den Begriff der Affordanz so, dass er nicht etwa eine aktuell erfahrene Handlungsaufforderung, sondern eine bloße Handlungsmöglichkeit bezeichnet. Gibson tendiert außerdem an einigen Stellen dazu zu sagen, Affordanzen besäßen in einem stark realistischen Sinne eine Bedeutung. Und Gibson tendiert an einigen Stellen dazu, Affordanzen nicht als Bestandteile in der Umwelt anzusehen, die in Relation zu einem handelnden Wesen verstanden werden müssen, sondern als die Relation zwischen Akteur und Umwelt selbst. In all diesen Punkten werde ich von Gibson abweichen. Teilweise handelt es sich dabei um bloß terminologische Fragen; der entscheidende Punkt ist aber, dass sich Gibsons Einsichten besser kon-

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Nun bestehen aber zwei entscheidende Unterschiede zwischen den Ansätzen Husserls und Gibsons. Indem wir diese thematisieren, können wir über die Einsichten Husserls und Gibsons hinausgehen und unser Verständnis der Struktur menschlichen Handelns weiter vertiefen.

d Affordanz und Akzeptanz Beginnen wir mit dem ersten Unterschied.Wie gesagt schreibt Gibson, dass er den Begriff der Affordanz der deutschen Gestaltpsychologie verdankt. Dann jedoch grenzt sich Gibson (1979: 139 f.) von den Gestaltpsychologen ab: The gestalt psychologists explained the directness and immediacy of the experience of valences by postulating that the ego is an object in experience and that a „tension“ may arise between a phenomenal object and the phenomenal ego. When the object is in „a dynamic relation with the ego“ said Koffka, it has a demand character. Note that the „tension,“ the „relation,“ or the „vector“ must arise in the „field,“ that is, in the field of phenomenal experience. Although many psychologists find this theory intelligible, I do not. There is an easier way of explaining why the values of things seem to be perceived immediately and directly. It is because the affordances of things for an observer are specified in stimulus information. They seem to be perceived directly because they are perceived directly.²⁰

Laut Gibson waren die Gestaltpsychologen in ihrem Denken in der Dichotomie einer physischen und einer phänomenalen Ebene gefangen. Weil sie Aufforderungen zum Handeln, die von Gegenständen ausgingen, nicht auf der physischen Seite verorten hätten können, hätten sie sie auf der Ebene eine phänomenalen Bewusstseins verorten müssen. Doch dies ist, so kann man in Gibsons Sinne argumentieren, auf zweierlei Weise problematisch. Erstens geht der relationale Aspekt, der mit dem Begriff der Affordanz gerade eingefangen werden sollte, wieder verloren. Der Gedanke sollte schließlich gerade sein, dass etwas in der Welt einem Akteur unvermittelt und direkt als eine Einladung zum Handeln erscheint.Wenn aber Reize erst durch ein phänomenales Ich interpretiert werden müssen, geht dieser ganz direkte Bezug zur Welt wieder verloren.

zeptualisieren lassen, wenn der im Folgenden entwickelte begriffliche Rahmen vorausgesetzt wird – oder so lautet zumindest mein Vorschlag.  Der von Gibson verwendete Begriff der „valence“ bezeichnet in der Psychologie den emotional positiven oder negativen Wert eines Gegenstands oder einer Situation. Ein bereit stehender, bequem aussehender Polstersessel beispielsweise kann attraktiv wirken und hat damit eine positive Valenz, ein dreckstarrer Holzschemel kann abstoßend wirken und hat damit eine negative Valenz.

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Und zweitens ist es auch nicht plausibel, dass ein direktes Reagieren auf Affordanzen immer eine Angelegenheit eines bewussten Ichs sein muss. Eine zur Tür hinauseilende Person kann direkt auf die Affordanz einer Türklinke reagieren, indem er sie ergreift, ohne dass ein bewusstes Ich dabei irgendeine Rolle spielen muss. Auch wenn sich Husserls Ansatz an wichtigen Stellen von den Ansätzen der Gestaltpsychologen unterscheidet, scheint er mit ihnen die Eigenschaft zu teilen, immer ein bewusstes Ich vorauszusetzen. Affordanzen sind für Husserl gewissermaßen „erfahrende, gedachte oder sonstwie setzend vermeinte Dinge als solche, intentionale Gegenständlichkeiten des personalen Bewußtseins“. Aber man kann auf Affordanzen auch direkt reagieren, ohne dass ein personales Bewusstsein zugegen sein müsste. Auch wenn Husserl den Gedanken der Motivationsbeziehung als erster in die Philosophie eingeführt hat, können wir seinem Ansatz nicht vollends folgen.²¹ Ist aber Gibsons Alternative plausibel? Gibson behauptet, eine Affordanz könne direkt wahrgenommen werden. Ist eine Affordanz dann also nichts Subjektives, keine Setzung eines Ichs, sondern etwas Objektives, etwas in der Welt? Gibson (1979: 129) schreibt: An important fact about the affordances of the environment is that they are in a sense objective, real, and physical, unlike values and meanings, which are often supposed to be subjective, phenomenal, and mental. But, actually, an affordance is neither an objective property nor a subjective property; or it is both if you like. An affordance cuts across the dichotomy of subjective-objective and helps us to understand its inadequacy. It is equally a fact of the environment and a fact of behavior. It is both physical and psychical, yet neither. An affordance points both ways, to the environment and to the observer.

Nun muss man sagen, dass sich auch Gibsons Begriff der Affordanz in Wirklichkeit nicht allzu weit vom gewöhnlichen Subjekt-Objekt-Denken entfernt, weil sich die Faktoren leicht auseinander sortieren lassen. Eine Affordanz kann als im Gibson’schen Sinne objektiv angesehen werden, insofern ihr physikalisch individuierbare Eigenschaften zugrunde liegen. Sie ist aber auch subjektiv, weil die

 Natürlich hat Husserl nicht nur Gründe dafür, seine Theorie so zu konzipieren, wie er sie konzipiert hat, Husserl sollte auch so verstanden werden, dass die Wahrnehmung eines Reizes direkt und unmittelbar erfolgen könne – wie Husserl (:  f.) selbst betont –, und dass er sich der Begrenztheit des menschlichen Bewusstseins sehr wohl bewusst ist (:  f.). Dennoch kann es für die vorliegenden Zwecke hilfreich sein, eine Konzeption zu entwickeln, die die Möglichkeit eines direkten unbewussten Reagierens auf einfachere und direktere Weise einfangen kann. Daraus ergeben sich auch noch weitere Vorteile, die im Folgenden deutlich werden.

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Handlungsgelegenheiten, die die Affordanz ausmachen, immer in Relation zu einem spezifischen Akteur stehen.²²  An dieser Stelle drehe ich Gibson so sehr das Wort im Munde um, dass sich sein Körper im Grabe herumdrehen würde. Doch die Drehung ist nur zu Gibsons Bestem oder zumindest zum Besten seiner Theorie. Diesen wichtigen Punkt zu erläutern ermöglicht mir auch, auf den zuvor schon angedeuteten Gedanken zurückzukommen, dass das Potential der Gibson’schen Einsichten am besten zur Entfaltung gebracht werden kann, wenn Affordanzen – anders, als es Gibson konzipiert – nicht als Relationen verstanden werden, sondern – sehr grob gesagt – als etwas auf der „Objekt“-Seite. Ursprünglich möchte Gibson Affordanzen wie gesagt gerade als Relationen verstehen – gewissermaßen als die Motivationsbeziehungen in Husserls Sinne, nicht als die Reize, die von Objekten ausgehen. Anthony Chemero macht allerdings darauf aufmerksam, dass Gibsons Theorie zwar ein großes Potential besitzt, die Philosophie des Geistes vorwärtszubringen, dass von der gerade zitierten Passsage aber gilt (Chemero : ): „This description makes affordances seem like impossible, ghostly entitites“. Mit meiner ungewöhnlichen Wiederbeschreibung Gibsons mache ich einen Vorschlag, wie die tiefen Einsichten Gibsons übernommen, aber ihre Probleme vermieden werden können. Die Einsicht lautet an dieser Stelle, dass es fruchtbar ist, über menschliches Wahrnehmen und Handeln stärker auf eine Weise zu denken, die die Relation zwischen Handelndem und Umwelt betont. Eine Gefahr besteht jedoch, wenn das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet und jede Form der Subjekt-Objekt-Trennung ohne guten Grund und adäquaten Ersatz über Bord geworfen wird. Problematisch wäre es zwar, Objekte etwa als bloße Ansammlung kalter bedeutungsloser Materie aufzufassen oder Subjekte als transzendentale bewusste Subjekte, die im Homunkulus-artiger Weise alles Handeln überwachen. Aber in anderer Form ist die SubjektObjekt-Trennung sehr wohl hilfreich. Immerhin können erstens mit ihrer Hilfe individuelle Unterschiede eingefangen werden. In der Analyse eines Handelns können zweitens persönliche von situativen Faktoren getrennt werden. Es kann drittens verständlich gemacht werden, warum etwas, das man als „ein und denselben Gegenstand“ bezeichnen könnte, für verschiedene Individuen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten bietet. Viertens kann verständlich gemacht werden, dass es sehr wohl vorstellbar ist, ein konkretes Individuum von seiner gewohnten Umwelt (beispielsweise Deutschland oder dem Planeten Erde) zu entkoppeln und zu sehen, wie es in einer anderen Umgebung (Dänemark, Japan, Mond, Mars) zurechtkommt. Zudem wird fünftens mithilfe der Subjekt-Objekt-Trennung deutlich, dass sich das Gelingen menschlichen Handelns sowohl verbessern lässt, wenn die Gegebenheiten der Umwelt verändert werden, als auch, wenn sich die kognitiven Hintergrund-Bedingungen des Handelnden verändern. Letzten Endes findet darüber hinaus sechstens jedes Verstehen vor dem Hintergrund des gewohnten lebensweltlichen Denkens statt, und eine Theorie, die an das gewohnte Denken mittels der Subjekt-Objekt-Trennung anschließt, ist leichter zu verstehen als eine Theorie, die allein auf relationale Begriffe rekurriert. Mein Vorschlag lautet entsprechend, unter einer Affordanz die Handlungsaufforderung zu verstehen, die ein Gegenstand bietet (in diesem Sinne entspricht „Affordanz“ am ehesten den Reizen bei Husserl; für eine genauere Bestimmung siehe unten). Damit ist eine Affordanz etwas Objektives, eine bestehende Handlungsaufforderung, wenn sie auch immer die Handlungsaufforderung für ein bestimmtes Subjekt ist. Etwas Subjektives, der Handelnde, kann darauf reagieren oder auch nicht. Die Affordanz nun ist etwas Einheitliches, das aber aus philosophischer Sicht in zwei Aspekte zergliedert werden kann: Zum einen hat die Affordanz eine physikalische Grundlage; das Wasserglas steht dort, die molekulare Struktur des im Glas vorhandenen Wassers macht das Wasser erst „trinkbar“. Zum anderen ist die Affordanz aber auch Teil einer immer schon ver-

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Vor diesem Hintergrund könnte ein Husserlianer einwenden, dass in Gibsons Theorie eine Tiefendimension verloren gehe, die in Husserls Ansatz noch enthalten sei. Denn wie ist es möglich, dass eine Affordanz gerade für einen bestimmten Akteur als Affordanz erscheint? In Husserls Ansatz wird der konstitutive Beitrag des Subjekts zur Erfahrung explizit gewürdigt. Doch in Gibsons Ansatz droht diese Dimension verloren zu gehen. Gibson kann nur sagen, dass das, was als Affordanz erscheint, etwa von der Körpergröße des Akteurs abhängt und dass der Akteur die Affordanzen direkt sieht. Weil er meint gezeigt zu haben, dass die Subjekt-Objekt-Unterscheidung unangemessen sei, geht Gibson auf diese Fragen nicht weiter ein. Doch gerade damit droht Gibsons Theorie in einen naiven Realismus zu kippen. Sicherlich ist eine realistische Beschreibung von Affordanzen phänomenal angemessen, wenn wir geistig die Perspektive eines Handelnden einnehmen. Stellen wir uns vor, wir überqueren jetzt den Campus. Dort vorne ist die Lücke in der Menschenmenge, und sie zieht uns jetzt an. So verstanden sind Affordanzen ganz real. Und wie wir oben unter Verweis auf Daniel Dennett gesehen haben, können verschiedene Perspektiven zu verschiedenen Zwecken hilfreich sein. Allerdings, so könnte man einwenden, gibt es eine bessere und tiefere Perspektive, aus der wir mehr vom Handeln verständlich machen können. Dazu müssen wir geistig die erstpersonale Perspektive des Handelnden verlassen und ihm gedanklich sozusagen von schräg hinten über die Schulter schauen. Aus dieser Perspektive betrachtet sehen wir, dass die direkte Wahrnehmung der Affordanzen eine ganz subjektive Dimension hat. Der Akteur nimmt sie wahr, weil er bestimmte Fähigkeiten, bestimmte Interessen und bestimmte Vorkenntnisse hat.²³ Diesen Umstand nun kann Gibson nicht angemessen einfangen, wenn er die Subjekt-Objekt-Unterscheidung als unangemessen zurückweist und andererseits

standenen Welt eines Subjekts: Beispielseise hat der Handelnde etwa schon lange mit Wassergläsern gesammelt, und hätte er noch nie aus Gläsern oder anderen Behältnissen getrunken, böte ihm das Wasserglas keine Affordanz (er würde es gar nicht als „Wasserglas“ wahrnehmen). Ändert sich nun etwas am Subjekt – der Handelnde bekommt etwa großen Durst –, dann ändert sich auch die entsprechende Welt: der Reiz des Wasserglases wird größer. Diese Konzeption nun ist sowohl progressiv als auch behutsam, indem sie das große Potential des Gibson’schen Denkens aufnehmen kann, zugleich aber auch erlaubt, das beizubehalten, was an der Subjekt-Objekt-Trennung richtig und wertvoll ist. Die Konzeption teilt Gibsons zentrale Einsichten, konzipiert aber die grundlegenden Begrifflichkeiten ein wenig anders. Dennoch handelt es bei dieser Neu-Konzipierung der grundlegenden Begrifflichkeiten nicht um eine „bloß terminologische“ Frage, da die neu konzipierten Begrifflichkeiten philosophisch fruchtbarer und hilfreicher sind – oder so lautet zumindest mein Vorschlag.  Genau dies ist es, was Dreyfus mit seiner phänomenologisch-introspektiven Perspektive nicht einfangen kann; siehe die Diagnose des zweiten Kapitels.

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mit einem direkten Realismus in Bezug auf Affordanzen liebäugelt. Husserl kann jenen Umstand perfekt einfangen, aber nur zu dem Preis, ein stets vorhandendes personales Bewusstsein vorauszusetzen. Und damit befinden wir uns in einem Dilemma: Entweder wir müssen einen naiven Realismus annehmen oder ein personales Bewusstsein. Doch ich habe einen Vorschlag, wie diesem Dilemma entgangen werden kann. Dazu muss das begriffliche Repertoire einer Theorie der Affordanzen erweitert werden, und zwar an einer Stelle, die durch die Analyse des Problems schon angezeigt ist. Wir benötigen, so schlage ich vor, den Begriff der Akzeptanz. Eine Akzeptanz ist das subjektive Gegenstück zur Affordanz.²⁴ Stellen wir uns vor, wir schauen Adriana geistig über die Schulter, während sie auf ihrem Fahrrad den Campus überquert. Vor ihr befindet sich eine Lücke in der Menschenmenge. Diese Lücke zieht Adriana an, durch sie hindurchzufahren. Die Lücke ist eine Affordanz. Aber sie ist keine Affordanz für jemanden, der gar nicht dabei ist, den Campus zu überqueren. Die Lücke ist daher nur eine Affordanz für Adriana zu just diesem Augenblick, gegeben ihr Projekt, jetzt den Campus zu überqueren, und gegeben ihre Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, usw. Wir können das an Adriana, aufgrund dessen die Lücke jetzt eine Affordanz für sie ist, eine „Akzeptanz“ nennen. Die Lücke ist für Adriana nur eine Affordanz, weil die entsprechende Akzeptanz vorliegt. Würde Adriana z. B. nicht dabei sein, den Campus zu überqueren, wäre die Lücke für sie keine Affordanz. Die Affordanz basiert daher auf einer objektiven Eigenschaft der Welt, der Lücke, aber als Affordanz existiert sie allererst, sobald die entsprechende Akzeptanz vorliegt. Andersherum ist Adrianas Kognition derart beschaffen, dass sie so beschrieben werden kann, dass Adriana über die Fähigkeit verfügt, Fahrrad zu fahren, und dass sie jetzt das Projekt hat, den Rest des Campus zu überqueren. Aber eine Akzeptanz kann man Adriana erst zuschreiben, sobald sie der Lücke gewahr und von ihr angezogen wird. Affordanzen und Akzeptanzen gibt es also jeweils nur im Doppelpack. Sie beschreiben zwei Seiten ein und desselben, nämlich Adrianas Angezogen-Werden  Man könnte überlegen, ob der vorgeschlagene Begriff der Akzeptanz Michael Turveys (vgl. Turvey & Shaw ) Begriff der „effectvitiy“ entspricht, der ebenfalls einen Gegenbegriff zum Begriff der Affordanz darstellen soll und der bestimmte Fähigkeiten auf Seiten der handelnden Spezies bezeichnet. Allerdings ist mein Begriff der Akzeptanz, wie er im Folgenden insbesondere in Verbindung mit weiteren Begriffen entwickelt wird, deutlich spezifischer, betrifft nicht nur Handlungsmöglichkeiten einer Spezies, sondern auch tatsächliches Handeln einzelner Individuen, und schließt zentrale Aspekte wie die aktuelle Verfolgung von Projekten und die Stimmung des Handelnden explizit mit ein. Entsprechend sind die im Folgenden entwickeltete konkrete Ausbuchstabierung des Begriffs der Akzeptanz sowie die folgenden weiteren Differenzierungen meine eigenen, über Ansätze in der Literatur hinausgehende Vorschläge.

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durch die Lücke. Aber auch wenn Affordanz und Akzeptanz immer nur zusammen vorliegen können, ist es hilfreich, diese beiden Facetten menschlichen Handelns begrifflich getrennt zu haben. Denn im Gegensatz zu den Gestalt-Psychologen, so wie sie Gibson beschreibt, können wir nun sagen, dass eine Affordanz auf etwas in der objektiven Welt basiert, und nicht erst von einem personalen Bewusstsein gesetzt werden muss. Und im Gegensatz zu Gibson können wir nun anerkennen und auch begrifflich fixieren, dass das Angezogen-Werden eine genuin subjektive Dimension hat. Mit dem Begriff der Akzeptanz ist an dieser Stelle bloß formal das angezeigt, aufgrund dessen etwas eine Affordanz ist. Dazu gehören beispielsweise Adrianas Projekt, den Rest des Campus zu überqueren, ihre Fähigkeit, Fahrrad fahren zu können, die Fähigkeit, so schnell fahren zu können, dass sie durch jene Lücke noch hindurch fahren kann, ihre Risikobereitschaft, durch jene Lücke noch hindurchzuhuschen, usw. Es ist kaum möglich, alle Faktoren aufzuzählen, aufgrund derer die Lücke für Adriana eine Affordanz ist. Im Allgemeinen relevant sind in jedem Fall die gegenwärtig verfolgten Projekte, die früheren Erfahrungen, die Fähigkeiten des Akteurs, seine körperliche Verfasstheit, seine aktuelle Energie sowie seine gegenwärtigen Bedürfnisse, Gefühle und Stimmungen.²⁵  Auf die Relevanz früherer Erfahrungen und die Möglichkeit des Verfolgens von Projekten werde ich ausführlich zurückkommen, und am Rande auf die Rolle von Fähigkeiten und Energie. An dieser Stelle werden schon Anzeichen dafür deutlich, wie fundamental der sich hier entfaltende Ansatz von Davidsons Handlungstheorie (vgl. den Abschnitt zu „Kründen“ in Kapitel IV) und wie sehr sich der Begriff der Akzeptanz von Davidsons Begriff der Pro-Einstellung unterscheidet. Zunächst ist entscheidend, dass Faktoren Teil der Akzeptanz-Struktur sein können, die von Davidson übersehen werden und nicht in seiner langen Liste (auf S. 4 von „Action, Reasons, and Causes“) dessen, was als Pro-Einstellung gelten kann, vorkommen: Von Davidson übersehen werden etwa die Relevanz von Gewohnheiten, Stimmungen, dem Körperschema, der jeweiligen Energie, Erwartungen, Stress, vorherigen Erfahrungen, usw. Man kann den Unterschied an dieser Stelle als einen empirisch zu entscheidenden ansehen: Der Interaktionismus würde darauf wetten, dass sich im Lichte der psychologischen Forschung herausstellen wird (bzw. schon herausgestellt hat), dass die genannten Faktoren für den Verlauf menschlichen Handelns eine große Rolle spielen, während der Davidsonianer auf das Gegenteil wetten würde. Darüber hinaus gibt es auch wesentliche strukturelle Unterschiede zwischen den Ansätzen: die Pro-Einstellungen richten sich etwa auf einen Handlungstyp, während die Akzeptanzen bewirken, dass einem Akteur ein Gegenstand als Affordanz erscheint. Bei Davidson ist es eine begriffliche Wahrheit, dass jedes Handeln absichtlich ist, während der Interaktionismus gerade begrifflichen Raum für die Möglichkeit gewinnen will, dass Menschen auch manchmal nicht-absichtlich oder gegen ihre Absichten handeln können. Davidson betrachtet Handeln aus der Perspektive eines radikalen, wohlwollenden Interpreten, der einem Akteur möglichst viele wahre Überzeugungen zuschreiben soll, während der Interaktionismus hingegen die Möglichkeit ernst nimmt, dass sich Menschen, wenn sie bewusst über ihr Handeln reflektieren, nicht selten darüber täuschen können, was wirklich die Affordanzen gewesen waren, die für ihr Handeln letzten Endes ausschlaggebend

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Wichtig ist zudem, dass eine Akzeptanz nichts Bewusstes sein muss. Adriana muss nicht daran denken, durch die Lücke angezogen zu werden, um so beschrieben werden zu können, die sie über die Akzeptanz verfügt, sich von der Lücke anziehen zu lassen. Der Begriff der Akzeptanz bezieht sich auch auf die nicht-bewussten Teile der Kognition. Der Unterschied zwischen Affordanzen und Akzeptanzen kann noch an einem anderen Beispiel erläutert werden. Angenommen, ein Spieler steht auf dem Tennisplatz, und ein Ball wird in hoher Geschwindigkeit in das andere Ende seines Feldes gedroschen. Stellen wir uns vor, bei dem Spieler handelt es sich um Ronald, der über sehr wenig Erfahrung in dieser Sportart verfügt. Dann hat er gar nicht erst die Möglichkeit, den Ball noch zu bekommen. Daher ist die mögliche Affordanz, die der Ball darstellen könnte, keine Affordanz für ihn. Sie ist keine Affordanz für ihn, weil keine entsprechende Akzeptanz vorliegt. Und es liegt keine entsprechende Akzeptanz vor, weil Ronald nicht über die Fähigkeit verfügt, den Ball noch zu bekommen. Statt von dem heranfliegenden Ball zu einem glanzvollen Gegenschlag eingeladen zu werden, kann Ronald nur unbeteiligt zuschauen, wie der Ball in seiner Hälfte des Feldes aufschlägt. Stellen wir uns nun aber vor, an Ronalds Statt steht Roger Federer auf dem Platz. Für Federer wäre der Ball eine Aufforderung, ihn zu parieren. Federer kann aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten den Ball noch bekommen. Hier liegt somit die entsprechende Akzeptanz vor, und daher ist der heranfliegende Ball für Federer eine Affordanz. Stellen wir uns aber vor, Federer will das Spiel gar nicht gewinnen, weil er von der Wett-Mafia bestochen worden ist. Oder stellen wir uns vor, Federer ist die ganze

gewesen sind. Schließlich rekurriert Davidson zu Erklärungszwecken auf Begriffe wie „primärer Grund“, „kausale Abfolge“, „mentaler Zustand“ und „praktischer Syllogismus“, während es gerade ein zentrales Anliegen des Interaktionismus ist, Alternativen zu kausalen und intellektualistischen Denkweisen über menschliches Handeln aufzuzeigen. Demgegenüber erlaubt der Interaktionismus den Rekurs auf neue explanatorische Ressourcen, die bei Davidson keine Rolle spielen, etwa die Relevanz der Umwelt, die Relevanz von Interaktionen (wie im Folgenden noch deutlicher werden wird), und die Relevanz der Vergangenheit eines Akteurs (wie im Folgenden ebenfalls noch deutlicher werden wird). Insofern ist der Interaktionismus von Davidsons Handlungstheorie sehr verschieden. Damit ist freilich noch kein Argument geliefert, dass der Interaktionismus wirklich besser als Davidsons Theorie ist und dass er Handeln wirklich feinkörniger verständlich machen kann. Derartige Argumente werden zwar im Folgenden immer wieder kurz angedeutet; im Wesentlichen liegt der dialektische Fokus der ersten drei Kapitel dieser Arbeit aber darauf, den Interaktionismus von den Ansätzen Stanleys und Dreyfus’ abzugrenzen, so dass eine detaillierte und gründliche Auseinandersetzung mit Davidson Aufgabe für eine andere Gelegenheit bleiben muss.

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Zeit in Gedanken damit beschäftigt, wie sinnlos es eigentlich ist, sein gesamtes Leben auf dem Tennisplatz zu verbringen. Obwohl er den Ball bekommen könnte, stellt er keine Affordanz für ihn dar, und zwar deshalb, weil keine entsprechende Akzeptanz vorliegt. Federer würde dem Ball genauso unbeteiligt zuschauen wie es Ronald tut. Warum die Unterscheidung zwischen Affordanz und Akzeptanz, von den schon angeführten Punkten abgesehen, wichtig ist, wird nicht zuletzt deutlich, wenn man den zweiten Unterschied zwischen Husserl und Gibson betrachtet.

e Affordanz und Affordabilität Gibson schreibt Folgendes: The gestalt psychologists recognized that the meaning or the value of a thing seems to be perceived just as immediately as its color. The value is clear on the face of it, as we say, and thus it has a physiognomic quality in the way that the emotions of a man appear on his face. To quote from the Principles of Gestalt Psychology (Koffka 1935), […] [t]he postbox „invites“ the mailing of a letter, the handle „wants to be grasped,“ and things „tell us what to do with them“ (p. 353). Hence, they have what Koffka called „demand character.“ […] Koffka argued that the postbox has a demand character only when the observer needs to mail a letter. He is attracted to it when he has a letter to post, not otherwise. The value of something was assumed to change as the need of the observer changed. The concept of affordance is derived from these concepts of valence, invitation, and demand but with a crucial difference. The affordance of something does not change as the need of the observer changes. The observer may or may not perceive or attend to the affordance, according to his needs, but the affordance, being invariant, is always there to be perceived. An affordance is not bestowed upon an object by a need of an observer and his act of perceiving it. The object offers what it does because it is what it is.²⁶

Gibson macht hier einen wichtigen Unterschied zwischen seiner Sichtweise und derjenigen der Gestaltpsychologen deutlich; und Husserls Ansicht ähnelt erneut derjenigen der Gestaltpsychologen. Laut Gibson ist eine Affordanz immer eine Affordanz, unabhängig davon, ob jemand ein aktuelles Interesse hat, auf die Affordanz zu reagieren. Hier zeigt sich erneut Gibsons Neigung zu einem direkten Realismus in Bezug auf Affordanzen. Laut Husserl dagegen, so wird man sagen

 Wenn Gibson sagt „The object offers what it does because it is what is it is“, dann meint er, dass etwa das Objekt „Wasserglas“ immer die Handlungsmöglichkeit bietet, Wasser zu trinken, ganz unabhängig davon, ob etwa ein Handelnder gerade durstig ist oder nicht. Das Wasserglas bietet die Handlungsmöglichkeit laut Gibson schlicht deshalb, weil es ist, was es ist – ein Glas voller Wasser.

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können, besteht eine Affordanz nur, wenn gerade jemand durch sie angezogen wird. Oben habe ich den Begriff der Affordanz im Sinne Husserls gebraucht, aber wir müssen uns fragen, ob diese Vorentscheidung nicht vorschnell gewesen ist. Ist die Lücke in der Menschenmenge nur eine Affordanz, wenn gerade jemand durch sie hindurchfahren will? Ist der Felsvorsprung nur eine Affordanz, wenn gerade ein geeignet großes bzw. kleines Wesen den Berg erklimmt? Wer hat recht, Husserl oder Gibson? Nehmen wir an, Gibson hätte recht. Dann hätten wir eine neue Sichtweise darauf gewonnen, wie sich die Welt für ein praktisch agierendes Wesen darstellt. Wir würden Dinge wie einen Felsvorsprung mit neuen Augen sehen und theoretisch nachvollziehen können, dass er für praktisch agierende Wesen eine Affordanz ist, unabhängig davon, ob sie gerade den Berg erklimmen oder nicht. Auf der anderen Seite könnten wir nicht mehr das Phänomen aktuellen Handelns einfangen, in dem Adriana etwa direkt durch die Lücke in der Menge angezogen wird. Aber gerade dieser Gedanke macht den ursprünglichen Reiz der Husserl’schen und gestaltpsychologischen Beschreibung aus. Nehmen wir dagegen an, Husserl hätte recht. Dann könnten wir gerade die wichtige Beobachtung über das aktuelle Handeln und Angezogen-Werden einfangen. Aber wir könnten nicht mehr die Gedanken ausdrücken, dass etwa die Welt eines praktisch agierenden Akteurs eine Welt verschiedener Handlungsgelegenheiten ist und dass sich etwa ein Felsvorsprung dadurch auszeichnen kann, dass er für geeignet große Wesen ganz prinzipiell eine Affordanz ist. Erneut scheinen beide Positionen attraktiv, aber inkommensurabel zu sein. In diesem Sinne befinden wir uns erneut in einem Dilemma. Aber erneut habe ich einen Vorschlag, wie wir dem Dilemma entrinnen können: Wir müssen unser begriffliches Repertoire abermals erweitern. Ich schlage vor, neben dem Begriff der Affordanz den Begriff der Affordabilität einzuführen. Mit dem Begriff Affordanz ist die Handlungsaufforderung gemeint, so wie sie einem Akteur jetzt gerade erscheint. Die Lücke ist für Adriana nur eine Affordanz, wenn sie sich kurz vor ihr befindet und jetzt den Rest des Campus überqueren will. Mit dem Begriff der Affordabilität ist dagegen in etwa das gemeint, was Gibson mit dem Begriff der Affordanz meint. Es bezeichnet etwas, das für einen Akteur eine Affordanz (in meinem Sinne des Wortes) sein kann. Es wird sofort ersichtlich, dass es entsprechend neben dem Begriff der Affordabilität auch der Begriff der Akzeptabilität eingeführt werden muss. Die Akzeptabilitäten eines Wesens sind das, aufgrund dessen bestimmte Eigenschaften der Welt eine Affordanz für eine Person sein können. Nehmen wir an, Adriana kann schnell Fahrrad fahren. Dann ist diese Fähigkeit Teil ihrer Akzeptabilitäten. Und dadurch werden bestimmte Eigenschaften

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der Welt für sie zu möglichen Affordanzen, zu Affordabilitäten. Jede Lücke, durch die sie mit ihrer Geschwindigkeit hindurchfahren kann, ist eine mögliche Affordanz. All diese möglichen Affordanzen sind Adrianas Affordabilitäten. Aber erst wenn sie sich mit ihrem Fahrrad vor der Lücke befindet und den Rest des Campus überqueren will, d. h. erst wenn sich vor dem Hintergrund ihrer Akzeptabilitäten und vor dem Hintergrund ihrer aktuellen kognitiven Verfasstheit sowie der Gegebenheiten der Welt die Akzeptanz ausgebildet hat, die Lücke zu durchqueren, d. h. erst wenn sie die Fähigkeit hat, schnell Fahrrad zu fahren, wenn tatsächlich eine Lücke vorhanden ist, und wenn sie den Campus tatsächlich überqueren will – erst dann besteht eine Affordanz.²⁷ Nun kann gesagt werden, dass die Welt eines Akteurs gewissermaßen die Gesamtheit seiner Affordabilitäten ist, seine Affordabilitäts-Struktur sozusagen.²⁸ Betrachten wir etwa wieder Ronald und Roger Federer. Für Ronald ist das Erreichen schnell in die andere Ecke des Feldes geschlagener Bälle keine Option, es nicht Teil seiner Affordabilitäts-Struktur. Allenfalls mit Empathie und Phantasie kann Ronald überhaupt verstehen, was Federer macht, weil er sich vorstellen kann, dass Federer ungefähr dasselbe wie macht wie er selbst, nur schneller.²⁹

 Es ist wichtig, Akzeptabilitäten nicht mit den Hintergrund-Fähigkeiten in der Theorie John Searles zu verwechseln. In Searles Theorie dienen die Hintergrund-Fähigkeiten schließlich ausschließlich dazu, repräsentationale Gehalte zu verstehen; so sagt Searle (: ) „[A]s I use these notions, the Background only functions when it is activated by genuine Intentional contents.“ Im Gegensatz zu dieser Sichtweise ist laut dem Interaktionismus ein Reagieren auf Affordanzen nicht durch repräsentationale Gehalte vermittelt. Das, was bei Searle den Vordergrund ausmacht – repräsentationale Gehalte, die sich durch Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen auszeichnen –, gibt es im Interaktionismus nicht; und damit gibt es gemäß Searles eigener Definition auch den Hintergrund im Searle’schen Sinne im Interaktionismus nicht (natürlich kann auch der Interaktionismus Raum für die Möglichkeit des Denkens von so etwas wie „gehaltvollen Gedanken“ lassen; darauf werde ich unten zurückkommen). Zudem sind die Akzeptabilitäten bzw. Akzeptanzen – ganz anders als Searles Hintergrund-Fähigkeiten – auch keine Erkenntnis-Fähigkeiten, um so etwas wie unabhängig von ihnen bestehende Gehalte bzw. Affordanzen erst zu erfassen. Vielmehr stellen die Akzeptabilitäten die Hintergrund-Struktur oder – Kantisch gesprochen – die Form dar, aufgrund der sich einem Akteur überhaupt erst bestimmte Affordanzen darbieten können. Sie sind die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich einem Akteur erst Affordanzen darbieten können, und nicht Erkenntnisfähigkeiten, um unabhängig von ihnen existierende Affordanzen richtig zu erfassen.  Ich betrachte dies auch als einen Vorschlag, der auch für gegenwärtige Diskussionen des WeltBegriffs von Interesse sein könnte, wie sie sich etwa im Anschluss an die Phänomenologie (Husserl, Heidegger) oder bei McDowell finden.  Vgl. Husserls Gedanken, sich „das Genie“ durch eine Art mentaler Simulation empathisch vorzustellen (Husserl : ): „Ich habe gelegentlich „glänzende Einfälle“, gelegentlich geht mir das wissenschaftliche Denken leicht vonstatten, ich habe große Horizonte – oder bilde es mir

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Oder stellen wir uns vor, unsere Akzeptabilitäten sind so beschaffen, dass wir mit klassischen Opern etwas anzufangen wissen, aber nicht mit Neuer Musik. Irgendwie in eine Performance Neuer Musik geraten seiend, erscheint sie uns als bloßer Lärm. Sie kann im Augenblick keine Affordanz für uns sein, uns auf intelligente Weise mit ihr beschäftigen, weil sich in unseren Akzeptabilitäten nicht die differenzierten Fähigkeiten für eine Beschäftigung mit diesem Musik-Stil befinden. Die Neue Musik ist nicht Teil unserer Affordabilitäts-Struktur, unserer Welt. Befinden wir uns dagegen in einer klassischen Oper, kann es anders aussehen. Unsere Akzeptabilitäten sind hier so beschaffen, dass etwa ein falsch gesungener Ton in einer Arie eine Affordanz ist, sich mit der Arie zu beschäftigen. Eine bestimmte Art der Inszenierung kann eine Affordanz für uns sein, die Qualitäten der Inszenierung mit anderen Arten der Inszenierung desselben Stücks zu vergleichen. Die Oper ist Teil unserer Affordabilitäts-Struktur, unserer Welt. Der Gedanke, dass die Welt eines Akteurs seine Affordabilitäts-Struktur ist, kann durchaus als ontologische These verstanden werden. Aber sie ist nicht mehr oder weniger eine ontologische These als die Ansicht, dass die Welt aus Stühlen, Tischen, Bergen und Flüssen besteht. Wenn man will, kann man sagen, dass es sich bei letzterem um eine intersubjektiv geteilte Ontologie handelt, die relativ zu einer Sprachgemeinschaft ist. Dann handelte es bei ersterem um die allgemeinen Strukturen einer Ontologie, die ihrer konkreten Ausgestaltung jeweils relativ zu einem Akteur ist. Kategoriale Wahrnehmung ist auch ohne Sprache möglich. Dies wird schon daran deutlich, dass sich nicht-sprachliche Tiere in ihrer Welt zuverlässig zurechtfinden und Dinge wiedererkennen können. Wir Menschen können uns, zumindest für einen kurzen Zeitraum, auch ohne Sprache einen ganz spezifischen Farbton oder Geschmack merken. Aus Studien wissen wir heute z. B., dass die Unterscheidungsfähigkeiten von Wein-Kennern von ihrer Erfahrung, aber nicht von ihren sprachlichen Begriffen abhängen.³⁰ Und wir wissen heute auch, dass auch nicht-sprachliche Babys Farben kategorial wahrnehmen (Franklin et al. 2008). Wenn wir eine in unsere Sprache gegossene Ontologie voraussetzen, dann baut sie sicherlich zu einem gewissen Teil auf einer solchen nicht-sprachlichen kategorialen Wahrnehmung auf. Dass wir in unserer Sprache eine intersubjektiv teilbare Ontologie vorfinden, ist von kulturgeschichtlich großem Wert. Aber warum sollten wir annehmen, dass die einzige Möglichkeit, die Wirklichkeit zu beschreiben, diejenige ist, die wir in unserer Sprache vorfinden? Wir würden, wenigstens ein. Nach dieser Analogie stelle ich mir in quantitativer Steigerung , ev. auch in qualitativer (wofür ich wieder anschauliche Vorstellungen haben mag) das Genie vor usw.“  Eine entsprechende Studie ist im zweiten Kapitel im Kontext der Frage nach der Existenz nichtsprachlicher Begriffe ein wenig ausführlicher dargestellt worden.

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um auf Wittgensteins Einsicht zurückzukommen, erneut den Fehler machen, auf die in der grammatischen Oberflächenstruktur unserer Sprache eingravierten Bilder zu starren und sie für die Essenz von irgendetwas zu halten. Wenn wir diesen Fehler aber vermeiden, können wir sehen, dass Menschen die Welt durchaus verschieden wahrnehmen können. Wenn zwei Menschen nebeneinander auf einer Aussichtsplattform stehen, können sie sprachliche Begriffe wie „Berg“ oder „Wald“ in den Mund nehmen, um sich sprachlich über das auszutauschen, was sie sehen. Aber dies ist nicht die einzige Möglichkeit, die Welt zu kategorisieren. Wenn Menschen handeln, erscheinen ihnen Eigenschaften der Welt als Affordanzen. Zwar können die meisten Menschen dies nicht artikulieren, weil sie nicht über den sprachlichen Begriff der Affordanz verfügen und weil diese Vorgänge oft nichtbewusst ablaufen. Aber wie die vorangegangen Einsichten Husserls und Gibsons gezeigt haben, nehmen Menschen im Handeln die Welt auf genau diese Weise wahr. Dass Sprache das direkte Wahrnehmen von Affordanzen beeinflussen kann, steht dem nicht entgegen; darauf werde ich noch eingehen. Wenn man als diese Bestandteile menschlichen Handelns näher analysieren will, kann es daher hilfreich sein, nicht nur zu beschreiben, wie wir über menschliches Handeln reden, sondern auch, auf welche Weise wir die Welt nichtbewusst kategorisieren, wenn wir handeln. Diese Kategorisierung soll mit dem Begriff der Affordanz eingefangen werden. Aber damit werden keine neuen Entitäten, „Affordanz“ und „Akzeptanz“ genannt, geschaffen, sondern Facetten der im Handeln immer schon vorgenommenen Kategorisierung der Welt sprachlich spezifiziert. So, wie eine Kategorisierung der Welt in „Berg“, „Fluss“, und „Wald“ gewissermaßen die implizite Ontologie einer bestimmten Sprechergemeinschaft beschreibt, so beschreibt eine Kategorisierung der Welt in „hinein-zu-fahren“, „abzufangen“, oder „zurückzuschlagen“ die implizite Ontologie eines bestimmten Akteurs. Die Begriffe der Affordanz und der Affordabilität beschreiben die allgemeinen Strukturen einer solchen jeweils Akteurs-relativen Ontologie.³¹

 Natürlich wachsen Menschen alle in einer in einem Sinne ähnlichen physischen Umwelt auf, sind biologisch in einem Sinne ähnlich aufgebaut, und können zudem mittels Nachahmung und Erziehung ähnliche Handelnsweisen ausgebildet haben. In diesem Sinne teilen sie in einem allgemeinen Sinne eine „gemeinsame Umwelt“; vgl. Husserl :  f. Zwar werde ich auf Topos der Intersubjektivität noch (in diesem und im vierten Kapitel) ausführlich zurückkommen, im Wesentlichen muss seine Untersuchung aus interaktionistischer Sicht aber Aufgabe für eine andere Gelegenheit bleiben.

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f Affordanz-Struktur und Akzeptanz-Struktur Um die neuen Einsichten Gibsons und Husserls in die Natur menschlichen Handelns noch weiter zu vertiefen, sollten sie schließlich noch um eine letzte weitere Unterscheidung ergänzt werden. Betrachten wir wieder Adriana, wie sie auf ihrem Fahrrad den Zentralcampus überquert. Eine leere Bank auf dem Universitätsplatz ist für Adriana eine Affordabilität, sich dort hinzusetzen und eine Pause einzulegen. Aber sie ist keine Affordanz, da Adriana gegenwärtig das Projekt verfolgt, den Campus schnell zu überqueren, keine Zeit für eine Pause hat und nicht das geringste Bedürfnis nach Müßiggang verspürt. Stattdessen ist die Lücke in der Menschenmenge eine Affordanz, durch sie hindurchzufahren. Die Lücke zieht Adriana gleichsam an, und Adriana kann darauf direkt reagieren, indem sie durch die Lücke hindurch fährt. Entscheidend ist aber nun, dass auch in der gegenwärtigen Situation die Lücke nicht das einzige ist, das Adriana anzieht und Reize auf sie ausübt. Eine andere, sich gleichzeitig auftuende, etwas entferntere Lücke kann Adriana zur selben Zeit ebenfalls eine Handlungsmöglichkeit bieten, durch sie hindurchzufahren, und diese Lücke kann gleichfalls einen Reiz auf Adriana ausüben. Es kann wirken, als müsse sich Adriana „entscheiden“, durch welche der beiden Lücken sie fahren will, auch wenn sie personal und bewusst keine Entscheidung trifft. Zugleich kann Adriana bei Fahrt durch die erste Lücke schon antizipieren, wie sich etwas weiter entfernt neue Lücken auftun werden, und auch dies kann bereits jetzt Reize auf Adriana ausüben. Und wiederum zur selben Zeit kann Adriana einen Bekannten am Rande des Campus erspähen, und auch dieser Umstand kann Adriana reizen und auffordern, sich mit dem Bekannten zu unterhalten. Da sie es aber eilig hat, wird sie am Ende nicht auf diesen Reiz reagieren, sondern auf die Lücke in der Menschenenge, deren Durchquerung sie näher an das andere Ende des Campus bringt. Handeln scheint somit typischerweise darin zu bestehen, dass sehr viele Reize bzw. aktuelle Handlungsaufforderungen gleichzeitig einen Einfluss auf den Verlauf des Handelns nehmen, wenn auch nur einige Handlungsaufforderungen angenommen werden. Wie können die zugrunde liegenden Strukturen menschlichen Handelns begrifflich am fruchtbarsten fixiert werden? Ich schlage vor, alle Handlungsaufforderungen, durch die Reize ausgeübt werden, als Affordanzen zu verstehen. Der links liegen gelassene Bekannte ist demnach ebenso eine Affordanz für Adriana wie die Lücke in der Menschenmenge. Im Unterschied zum Bekannten ist die Lücke in der Menschenmenge aber eine wirkliche Affordanz, weil Adriana die Handlungsaufforderung tatsächlich annimmt und darauf reagiert. Ist dieser wichtige Unterschied einmal gesehen worden, wird sogleich deutlich, dass die Unterscheidung nicht trennscharf ist. Adriana reagiert etwa im

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Moment nicht auf weitere, im Entstehen befindliche Lücken in weiterer Ferne. Aber diese Lücken können jetzt schon einen Einfluss darauf haben, wie die vorausblickende Adriana sich geschwind ihren Weg durch die Menge bahnt. In diesem Sinne haben sie einen konkreten Einfluss auf den Verlauf des tatsächlichen Handelns, auch wenn die von ihnen ausgehenden Handlungsaufforderungen, nun durch sie hindurchzufahren, im Moment nicht angenommen werden. Schließlich kann es hilfreich sein, alle Affordanzen, die sich in einer konkreten Situation bieten, als Affordanz-Struktur zu bezeichnen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht die Affordanz-Struktur Adrianas etwa aus der Affordanz, die die Lücke in der Menschenmenge bietet, der Affordanz, die der Bekannte bietet, den Affordanzen, die die weiteren Lücken bieten, usw. Nicht dazu gehört aber etwa die Affordabilität der leeren Bank auf dem Campus, da sie gegenwärtig überhaupt keinen Reiz auf Adriana ausübt.³² Es wird dabei zudem leicht deutlich, dass es hilfreich ist, als Gegenstück zum Begriff der Affordanz-Struktur den Begriff der Akzeptanz-Struktur einzuführen. In erster Näherung bezeichnet der Begriff die subjektiven Hintergrund-Bedingungen, aufgrund derer bestimmte Gegebenheiten der physischen und sozialen Welt für eine Person in einer Situation die Affordanzen sind, die sie sind.Weil Adriana eine schnelle und vorausdenkende Fahrradfahrerin ist, sind auch die räumlich entfernten Lücken Affordanzen für sie, deren Präsenz jetzt den Kurs ihrer Fahrt bestimmt. Wäre dagegen Adrianas Akzeptanz-Struktur anders beschaffen, wäre sie etwa generell nicht schnell oder gerade jetzt sehr müde, dann wären die räumlich weiter entfernten Lücken nicht Teil ihrer Affordanz-Struktur. Zum besseren Verständnis kann an dieser Stelle noch einmal eine Übersicht über die bisher vorgeschlagenen begrifflichen Werkzeuge gegeben werden. Eine wirkliche Affordanz ist eine derartige Handlungsaufforderung durch eine Gegebenheit für einen Handelnden, dass der Handelnde auf diese Handlungsaufforderung direkt reagiert, indem er die Aufforderung annimmt. Die Lücke in der Menschenmenge – eine Gegebenheit – ist für eine Handelnde – Adriana – eine derartige Handlungsaufforderung, durch sie hindurchzufahren, dass Adriana darauf direkt reagiert, indem sie durch die Lücke hindurchfährt. Wahlweise kann gesagt werden, dass die Lücke Adriana eine Affordanz bietet, oder dass sie Adriana zum Handeln auffordert, oder dass sie für Adriana eine Affordanz ist. Die subjektiven Hintergrund-Bedingungen nun, aufgrund derer eine physische bzw. soziale Gegebenheit eine wirkliche Affordanz für einen Handelnden, machen die  Auf einen ähnlichen Aspekt menschlichen Handelns, wie er hier mit dem Begriff der Affordanz-Struktur ausgedrückt wird, wird etwa bei Merleau-Ponty mit dem Begriff des „Feldes“ hingewiesen; Erik Rietveld (a) spricht in einem derartigen Zusammenhang von einem „Feld der Affordanzen“ („field of affordances“).

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entsprechende wirkliche Akzeptanz aus. Die Lücke in der Menschenmenge ist für Adriana erst vor dem Hintergrund dessen eine wirkliche Affordanz, dass Adriana Fahrrad fahren kann, sehr schnell ist, jetzt das Projekt verfolgt, den Campus zu überqueren, gerade über viel Energie verfügt, usw. Eine Affordanz, ob nun wirklich oder nicht, ist eine derartige Handlungsaufforderung durch eine Gegebenheit für einen Handelnden, dass der Handelnde durch diese Handlungsaufforderung gereizt wird. Die Lücke in der Menschenmenge ist in diesem Sinne genau so eine Affordanz wie der Bekannte. Die jeweiligen subjektiven Hintergrund-Bedingungen machen die entsprechenden Akzeptanzen aus. Das Projekt, schnell den Campus zu überqueren, zählt genauso dazu wie die Bekanntschaft mit dem Bekannten. Die Affordanz-Struktur ist die Gesamtheit der derartigen handlungsauffordernden Gegebenheiten für einen Handelnden in einer bestimmten Situation, durch die der Handelnde gereizt wird. Im Falle von Adrianas Fahrt über den Campus umfasst ihre Affordanz-Struktur etwa die Handlungsaufforderung, durch die Lücke zu fahren, die Handlungsaufforderung, den Bekannten zu begrüßen, die Handlungsaufforderungen, durch die weiter entfernt liegenden Lücken zu fahren, usw. Die Akzeptanz-Struktur ist (zunächst – siehe unten) die Gesamtheit der subjektiven Hintergrund-Bedingungen, aufgrund derer physische bzw. soziale Gegebenheiten in einer bestimmte Situation allererst all die Affordanzen sind, die sie sind. Im Falle von Adrianas Fahrt über den Campus umfasst dies etwa ihre Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, ihr Projekt, den Campus zu überqueren, ihre Bekanntschaft mit dem Bekannten, ihre aktuelle Energie, usw. Eine Affordabilität nun ist eine Handlungsmöglichkeit, die eine Gegebenheit einem Handelnden prinzipiell bietet, so dass dies Handlungsmöglichkeit leicht zu einer Handlungsaufforderung werden kann. Eine Bank auf dem Campus bietet Adriana beispielsweise prinzipiell die Handlungsmöglichkeit, sich dort hinzusetzen. Diese Handlungsmöglichkeit kann leicht zu einer Handlungsaufforderung werden – etwa, wenn Adriana anstatt eilig über den Campus zu rasen müßig über das Universitätsgelände flanieren würde. Dagegen bietet ihr die Bank nicht die Handlungsmöglichkeit, mit ihrem Fahrrad über sie zu springen. Um einen derartigen Stunt ausführen zu können, müsste Adriana erst jahrelang trainieren (sagen wir). Die subjektiven HintergrundBedingungen, aufgrund derer eine Gegebenheit einem Handelnden eine Handlungsmöglichkeit bietet, machen seine Akzeptabilitäten aus.Vor dem Hintergrund ihrer „Fähigkeit“, sich auf normal hohe Bänke zu setzen, ist eine Bank eine Affordabilität für Adriana, dort Platz zu nehmen. Da Adriana aber nicht über die Voraussetzungen verfügt, um mit ihrem Drahtesel einen Stunt ausführen zu können, liegt in ihrem Fall keine Akzeptabilität vor, vor deren Hintergrund die Bank eine Affordabilität für sie wäre, sie mit ihrem Fahrrad zu überspringen. Die Affordabilitäts-Struktur ist dabei die Gesamtheit der Handlungsmöglichkeiten eines Handelnden, die ihm der Plantet Erde (oder das Universum) überhaupt bietet.

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Die Akzeptabilitäts-Struktur ist die Gesamtheit der subjektiven Hintergrund-Bedingungen, aufgrund der die Gegebenheiten auf dem Planeten Erde (oder in dem Universum) dem Handelnden die Handlungsmöglichkeiten bieten, die sie ihm bieten. Über das bisher Gesagte hinausgehend, wird deutlich, dass sich die Rede von der Affordabilitäts-Struktur noch auf zweierlei Weisen qualifizieren lässt. Erstens ist sie bisher auf der Ebene der Affordabilitäten eines einzelnen Individuums verstanden worden. Man kann aber auch von Affordabilitäten sprechen, die für eine ganze Spezies typischerweise bestehen, von Spezies-Affordabilitäten. Baumkronen bieten typischerweise Vögeln die Handlungsmöglichkeit, in ihnen Nester zu bauen, während sie Menschen oder Elefanten diese Handlungsmöglichkeit typischerweise nicht bieten. Und zweitens kann auch Potentialität der Affordabilitäten variiert werden. Zum Beispiel könnte man sich vorstellen, dass der besagte Stunt, mit dem Fahrrad auf eine bestimmte Weise über die Bank zu springen, so speziell und schwierig ist, dass nur Menschen mit einer bestimmten körperlichen Konstitution überhaupt in der Lage sind, ihn zu erlernen. Nehmen wir an, Adrianas körperliche Konstitution ist so beschaffen, dass sie den Stunt innerhalb einiger Monate intensiven Trainings erlernen könnte, während Ronalds körperliche Konstitution hingegen so beschaffen ist, dass er den Stunt niemals lernen können wird. Dann ist die Bank für Adriana zwar keine Affordabilität, sie mit dem Fahrrad zu überspringen, weil die entsprechende Handlungsmöglichkeit für sie nicht leicht zu einer ernsthaften Handlungsaufforderung werden kann – lange Monate harten Trainings lägen noch davor. Aber im Gegensatz zu Ronald ist für Adriana das Überspringen der Bank dem Fahrrad zumindest eine mögliche Affordabilität (es ist also eine mögliche Möglichkeit, und offensichtlicherweise sind in diesem Sinne die Grenzen zwischen Affordabilitäten und möglichen Affordabiliten fließend).³³ Die Trennung zwischen der Akzeptanz-Struktur und der AkzeptabilitätsStruktur ist bei näherer Betrachtung komplex und kompliziert. Vor dem Hintergrund dessen etwa, dass Adrianas Akzeptabilitäts-Struktur so beschaffen ist, dass

 Ich schlage vor, dass gerade dieses breitgefächerte Repertoire an begrifflichen Werkzeugen fruchtbar ist, um eine neue hilfreiche Sichtweise auf menschliches Handeln zu gewinnen. Da sich der hier vorgeschlagene Interaktionismus an dieser Stelle besonders deutlich von anderen enaktivistischen Ansätzen unterscheidet, läge hier eine der zentralen Stellen, um zu überprüfen, ob die hier vorgeschlagene Konzeption tatsächlich hilfreicher ist als andere Ansätze aus dem Enaktivismus oder der ecologischen Psychologie. Da es aber wie gesagt im Kontext dieser Arbeit um die Vorzügswürdigkeit einer interaktionistischen Analyse unreflektierten Handelns gegenüber einer intellektualistischen oder anti-intellektualistischen Analyse geht, muss die Beantwortung jener Frage Aufgabe für eine andere Gelegenheit bleiben.

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Schnelligkeit und Vorausschau zu ihr gehören, können im Einzelfall auch weit entfernte Lücken zu Affordanzen für Adriana werden. Dies ist der Fall, sofern ihre Akzeptanz-Struktur im Einzelfall zusätzlich so beschaffen ist, dass sie gerade das Projekt verfolgt, den Campus zu überqueren, dass sie es gerade eilig hat, dass sie gerade nicht müde ist, usw. Aber: Ihre Akzeptabilitäts-Struktur kann sich nur so ausgebildet haben, wie sie sich ausgebildet hat, wenn ihre Akzeptanz-Struktur regelmäßig auf eine bestimmte Weise beschaffen gewesen ist.Wäre Adriana z. B. in zufälliger Folge abwechselnd sehr wach und sehr müde, könnte sie ihre zuverlässige Handelnsweise, schnell und vorausschauend zu fahren, gar nicht erst ausgebildet haben. Dafür ist vielmehr erforderlich, dass Adriana in der Vergangenheit regelmäßig ein gewisses Wachheitslevel erreicht hat. – Da nun die schwierige Unterscheidung zwischen der Akzeptanz-Struktur und der Akzeptabilitäts-Struktur für das Folgende ohnehin nicht von Relevanz sein wird, werde ich mir erlauben, den Begriff der Akzeptanz-Struktur mitunter etwas lockerer zu verwenden, und zwar so, dass er sich auf alle oder einige der subjektiven Hintergrund-Bedingungen bezieht, aufgrund der mindestens eine physische oder soziale Gegebenheit für einen Handelnden eine Handlungsmöglichkeit oder Handlungsaufforderung ist (d. h. ich werde auch Einfachheitsgründen im Folgenden dort nicht explizit zwischen Akzeptanz-Struktur und Akzeptabilitäts-Struktur unterscheiden, wo diese Unterscheidung nicht relevant ist). Vor dem Hintergrund dieser Erweiterungen und Verfeinerungen der Einsichten Gibsons und Husserls kann nun die neue Sichtweise auf menschliches Handeln, durch die das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion analysiert werden soll, weiter vertieft werden.

g Akzeptanz-Struktur-Integration Es ist wichtig festzuhalten, dass das Verhältnis von Affordanz und Akzeptanz nicht starr, sondern variabel ist. Merleau-Ponty kann helfen, diesen Punkt zu sehen. Unter Rekurs auf den Psychologen Grünbaum (1930) gibt er folgendes Beispiel (Merleau-Ponty 1945: 172 f.): Eine Frau hält ohne jede Berechnung zwischen der Feder ihres Hutes und Gegenständen, die sie zerknicken könnten, einen Sicherheitsabstand ein, sie hat es im Gefühl, wo die Feder ist, wie wir fühlen,wo unsere Hand ist. Habe ich die Gewohnheit, einen Wagen zu führen, so sehe ich, in einen Durchgang einfahrend, dass „ich vorbei kann“, ohne erst die Breite des Weges mit dem Abstand meiner Kotflügel vergleichen zu müssen, so wie ich eine Tür durchschreite, ohne deren Breite mit der meines Körpers zu vergleichen. Hut und Automobil sind hier nicht mehr Gegenstände, deren Größe und Volumen sich durch Vergleich mit anderen Gegenständen bestimmte. Sie sind zu voluminösen Vermögen geworden, zum Erfordernis eines

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bestimmten Spielraums. Korrelativ sind der Einstieg der Untergrundbahn und die Straße zu einengenden Vermögen geworden und erscheinen in eins für meinen Körper und seine Anhänge praktikabel oder unpraktikabel.

Merleau-Ponty geht davon aus, dass – so kann nun mit Hilfe der neu gewonnenen Terminologie gesagt werden – im Falle körperlichen Handelns der Körper dazu beiträgt, inwiefern eine Akzeptanz vorliegt, und damit auch, was eine Affordanz ist. Gegeben Daniels Körpergröße, kann die Flasche auf dem hohen Schrank eine Affordanz sein, sie zu ergreifen und aus ihr zu trinken. Für eine kleinere Person wäre sie keine Affordabilität. Entscheidend ist nun, dass der körperliche Aspekt der Akzeptanz-Struktur auch variiert werden kann; und entsprechend verschiebt sich die AffordanzStruktur. Ihr Auto kann für die Person im Beispiel eine Affordanz sein hineinzusteigen. Sitzt sie aber einmal im Wagen, beeinflusst dies auch, was für sie eine Affordanz ist. So wie vorher ihr Körpergefühl zu der Akzeptanz-Struktur beigetragen hat, beispielsweise dazu, welche Lücken und Türen für sie eine Affordanz gewesen sind, so trägt jetzt ein Gefühl für den Wagen dazu bei. Einmal losgefahren, ist die Person mit den Grenzen ihres Wagens ähnlich vertraut wie mit den Grenzen ihres Körpers. Damit beeinflusst das Fahren des Wagens die AkzeptanzStruktur der fahrenden Person, und damit auch das, was ihr als Affordanz erscheint. Gegenstände wie Autos, Hüte, Fahrräder, Blindenstöcke und ähnliches können also in die Akzeptanz-Struktur eines Akteurs einbezogen werden. Um diese Beobachtung terminologisch zu fixieren, können wir hier von einer AkzeptanzStruktur-Integration sprechen. Wir haben nun dank Wittgensteins Einsichten die ursprüngliche Frage nach der Natur gekonnten Handelns besser verstanden und auf Einsichten Husserls, Gibsons und Merleau-Pontys aufbauend wichtige Grundbegriffe für ein besseres Verständnis menschlichen Handelns gewonnen. Nun ist es Zeit für den nächsten Schritt: Wir müssen uns fragen, warum einem Akteur überhaupt etwas als Affordanz erscheint. Zur Beantwortung muss eine temporale Komponente eingeführt und damit auf Einsichten Heideggers und Bourdieus zurückgegriffen werden.

h Das apriorische Perfekt der Akzeptanz-Struktur Warum erscheint einem Akteur überhaupt etwas als Affordanz? Mit einer begrifflichen Wahrheit könnte man antworten, dass etwas deshalb eine Affordanz für einen Akteur ist, weil eine entsprechende Akzeptanz vorliegt. Aber warum liegt

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

eine Akzeptanz vor? Wiederum eine begriffliche Wahrheit wäre zu sagen, dass die Akzeptanz vor dem Hintergrund einer bestimmten Akzeptanz-Struktur vorliegt. Aber diese Einsicht entbehrt nicht einer gewissen Tiefe, und so sollte sie explizit festgehalten werden. Die sich uns praktisch erschließende Welt erschließt sich für uns allererst, weil wir schon gewisse Fähigkeiten, Vorkenntnisse, Erwartungen, etc. im Rahmen unserer Akzeptanz-Struktur mitbringen. Wer schon viele Musik-Stücke aus einer bestimmten Epoche gehört hat, dem erschließt sich das gerade gehörte Stück anders als dem Unerfahrenen. Wer schon viele Texte aus einer bestimmten Stilrichtung gelesen hat, dem erschließt sich die textliche Struktur schneller und facettenreicher als dem Anfänger. Laut Heidegger prägt unser Vorwissen – unsere Akzeptanz-Struktur – unser alltägliches Leben durch und durch, etwa, wenn wir etwas hören. Er schreibt (in Sein und Zeit, S. 163 f.): „Zunächst“ hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. Man hört die Kolonne auf dem Marsch, den Nordwind, den klopfenden Specht, das knisternde Feuer. Es bedarf schon einer sehr künstlichen und komplizierten Einstellung, um ein „reines Geräusch“ zu „hören“.

Der Gedanke ist, dass uns Geräusche nicht erst als rohes Sinnesdatenmaterial gegeben sind, welches ein bewusstes Ich in einem zweiten Schritt als Wagen oder Motorrad interpretieren müsste. Wir nehmen unsere Umwelt direkt auf strukturierte Weise wahr. Die Welt ist sozusagen vor-strukturiert. So, wie wenn wir ein deutsches Wort hören, unmittelbar seine Bedeutung und nicht einen bloßen Laut hören, so ist für uns unsere gesamte Welt von vornherein bedeutungsvoll. Unsere Welt hat eine solche Affordabilitäts-Struktur, weil wir in der Vergangenheit eine bestimmte Akzeptanz-Struktur entwickelt haben, aufgrund derer uns eine physikalisch spezifizierbare Welt allererst bestimmte Affordabilitäten bietet. Heidegger (1927b: 235) schreibt: Die Welt ist […] das Vorherige im strengen Wortsinne. Vorherig: das, was vorher schon, vor allem Erfassen von diesem oder jenem Seienden in jedem existierenden Dasein enthüllt und verstanden ist, vorherig als dasjenige, was als zuvor schon immer Enthülltes her zu uns steht. Die Welt als das vorherig schon Enthüllte ist solches, womit wir zwar nicht eigentlich beschäftigt sind, was wir nicht erfassen, was vielmehr so selbstverständlich ist, daß wir ihrer völlig vergessen. Welt ist dasjenige, was vorgängig schon enthüllt ist und wovon her wir auf das Seiende, mit dem wir es zu tun haben und wobei wir uns aufhalten, zurückkommen.

Stellen wir uns etwa wieder den Ball vor, der auf den Torwart zufliegt. Dann kann der Torwart den Ball als etwas zu Fangendes erfassen. Aber um ihn auf diese Weise erfassen zu können, muss schon eine reichhaltig ausgestaltete Akzeptanz-Struktur

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vorliegen. Der Torwart muss die Fähigkeit haben, den Ball zu fangen, muss schon oft derartige Bälle gefangen haben, muss das Ziel haben, das Spiel zu gewinnen, muss so beschreibbar sein, dass er um die Regeln des Spieles weiß, usw. All diese Dinge, dieses Vorherige, strukturiert sein direktes Erfassen des Balls als zu Fangenden, auch wenn diese Dinge so selbstverständlich sind, dass man ihrer völlig vergisst. Heidegger (1927a: 85) spricht in Bezug auf den Status dieses Vorwissens treffend von einem „apriorischen Perfekt“: All diese Dinge werden schon vorausgesetzt, um den Ball überhaupt als zu Fangenden erfassen zu können. Entsprechend können wir auch vom apriorischen Perfekt der Akzeptanz-Struktur sprechen.³⁴ Wenn man will, kann man sagen, dass wir in der Welt immer nur uns selber wieder sehen. Aber daraus folgt nicht, dass die Welt in irgendeiner Hinsicht eine Illusion oder eine beliebige Setzung ist. Stellen wir uns zur Illustration vor, verschiedene Personen betrachteten ein Bild Kadinskys. Dann ist das, was die verschiedenen Personen zugleich betrachten, etwas Objektives in der Welt, das im Deutschen mit den Worten „dieses Bild Kadinskys“ spezifiziert werden kann. Aber für jemanden, der sich noch nicht mit dieser Kunstrichtung auseinandergesetzt hat, ist das Bild nichts als eine unverständliche Ansammlung von Formen. Für jemanden, dessen Akzeptanz-Struktur reichhaltiger ausgeprägt ist, eröffnen sich bei der Betrachtung des Bildes andere Tiefendimensionen. Weil er ein anderer ist, ist das Bild für ihn ein anderes – aber das Bild ist Gegenstand der Welt und keine je individuelle Illusion. Wenn unsere Wahrnehmung aber auf diese Weise durch unsere AkzeptanzStruktur strukturiert ist, müssen wir uns fragen, woher denn die AkzeptanzStruktur kommt. Ist sie nicht vielleicht doch eine creatio ex nihilo, deren Schöpfer ein bewusstes Ich ist? Bourdieu (1997: 174) liefert eine andere Antwort, die weiter helfen kann: [W]enn der Akteur die ihm vertraute Welt unmittelbar erfasst, so deswegen, weil die dabei verwendeten kognitiven Strukturen aus der Einverleibung der Strukturen der Welt resultieren, in der er handelt; weil die Konstruktionselemente, die er verwendet, um die Welt zu erkennen, von der Welt konstruiert wurden.

 Heideggers Ansatz kann durchaus fruchtbar so gelesen werden, dass er bereits sehr viel interaktionistisches Gedankengut enthält (besonders naheliegend ist in diesem Zusammenhang die Umweltanalyse in §§ –  in Sein und Zeit). Dabei muss Heideggers Ansatz nicht so aufgefasst werden, als sei er übermäßig intellektualistisch – zumindest hat Heidegger etwa eine eigene Konzeption des Verstehens entwickelt (vgl. §§, , ,  in Sein und Zeit), so dass das Wort „verstanden“ in der zitierten Passage nicht durch beispielsweise die Brille der Theorie Stanleys gelesen werden sollte. Die zitierte Passage muss auch nicht so verstanden werden, als widerspreche sie Gedanken Husserls.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

Laut Bourdieu kann ein Akteur Dinge der Welt deshalb so unmittelbar erfassen, weil das, aufgrund dessen er die Dinge so unmittelbar erkennt, selbst ein Produkt der Welt ist. Angenommen, der Torwart erfasst den heranfliegenden Ball unmittelbar als etwas zu Fangendes. Dann ist der Ball für ihn eine (wirkliche) Affordanz. Aber er ist nur eine Affordanz, weil der Torwart bestimmte Konstruktionselemente „verwendet“, um den Ball zu erkennen, d. h. weil eine Akzeptanz vorliegt. Aber die Akzeptanz ist ein Resultat „der Einverleibung der Strukturen der Welt“. Damit ist gemeint, dass sich die Akzeptanz nicht zufällig generiert hat, sondern selbst schon aus Interaktionen mit der Welt hervorgegangen ist.³⁵ Wie wir wissen, stärken sich synaptische Verbindungen im Gehirn mit jedem Mal, an dem sie „benutzt“ werden. Wenn ein Mensch z. B. zum ersten Mal Musik aus einer bestimmten Epoche hört, kann er sie nur undifferenziert wahrnehmen. Mit jeder weiteren Interaktion mit der Musik kann er sie jedoch differenzierter wahrnehmen und tiefer verstehen. Ebenso kann ein Mensch, der etwa erlernt, als Torwart Bälle zu fangen, diese Tätigkeit am Anfang nur undifferenziert ausführen. Mit jedem Reagieren auf einen heranfliegenden Ball, mit jedem Reagieren auf eine Affordanz, kann er die Tätigkeit differenzierter ausüben. Daraus ergibt sich, dass sich mit jedem Reagieren auf eine Affordanz die Akzeptanz-Struktur ausdifferenziert, was wiederum in Zukunft ein differenziertes Reagieren auf Affordanzen ermöglicht. Die Akzeptanz-Struktur ist also selbst das Resultat des Reagierens auf

 Noch einmal anders ausgedrückt: Wenn Bourdieu davon spricht, dass ein „Akteur die ihm vertraute Welt unmittelbar erfasst“, dann meint er, zumindest aus Sicht des Interaktionismus, dass die Umwelt eines Handelnden für ihn direkt bedeutungsvoll ist; beispielsweise muss Adriana auf dem Campus nicht erst eigens überlegen und interpretieren, welche Bewandtnis die Lücke in der Menschenmenge habe, und wie sie sie möglicherweise in ihre Pläne einbinden könne. Stattdessen kann Adriana, die mit dem Durchradeln derartiger Lücken vertraut ist, die Lücke unmittelbar als Handlungsaufforderung erfassen, durch sie hindurchzufahren. Dabei verwendet sie laut Bourdieu „kognitive Strukturen“ oder „Konstruktionselemente“. Aus Sicht des Interaktionismus handelt es sich dabei die Akzeptanz-Struktur der Handelnden. Erst vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen, Fähigkeiten, usw. erscheint Adriana die Lücke als die Handlungsaufforderung, als die sie ihr erscheint. Entscheidend ist nun laut Bourdieu, dass diese Strukturen „aus der Einverleibung der Strukturen der Welt resultieren“ bzw. „von der Welt konstruiert worden“. Damit ist aus Sicht des Interaktionismus gemeint, dass die Akzeptanz-Struktur nur deshalb so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist, weil sie sich erst im Angesicht der Gegebenheiten der physischen und sozialen Welt so ausgebildet hat,wie sie sich ausgebildet hat. Adriana hat nicht erst die Fähigkeit gehabt, schnell durch Lücken zu fahren, und die Fähigkeit dann in einem zweiten Schritt auf die vorhandenen Lücken angewandt. Stattdessen ist erst langsam und vorsichtig durch einige große Lücken gefahren und hat dann ihr Können anhand des Durchfahrens der real vorhandenen Lücken immer weiter verfeinert. Nun wirkt ihr Können „wie gemacht“, um die Lücken zu durchqueren, aber das Können ist der spezifischen Beschaffenheit der Lücken eben deshalb so angemessen, weil es allererst in Interaktion mit den real vorhandenen Lücken ausgebildet worden ist.

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Affordanzen, d. h. in Interaktion mit der Welt selbst entstanden.³⁶ So, wie wir oben vom apriorischen Perfekt der Akzeptanz-Struktur gesprochen haben, können wir hier geradezu vom apriorischen Plusquamperfekt der Affordanzen sprechen.³⁷ Dies wirft auch ein neues Licht auf die Möglichkeit menschlicher Intentionalität.

i Das apriorische Plusquamperfekt der Affordanzen als Grundlage der Intentionalität Wie ist es möglich, mit der Welt zu interagieren und sich auf sie zu beziehen? Gemäß einem weit verbreiteten Bild ist die Welt im Geiste eines Akteurs repräsentiert.³⁸ Was Repräsentationen sind, wird oft offen gelassen. Aber ursprünglich verdankt sich der Gedanke einer Repräsentation dem Gedanken einer Vorstellung bzw. eines Abbildes. Demnach wäre die Welt im Geiste eines Akteurs abgebildet bzw. widergespiegelt. Der Akteur würde die Welt erst in seinem Geiste wiederspiegeln, dann planen, was er tun soll, und diesen Plan dann mittels automatischer Mechanismen in die Tat umsetzen. Adriana würde also z. B. die Lücke in der Menschenmenge wahrnehmen, sie in ihrem Geiste repräsentieren, planen, dass sie in die Lücke fahren sollte, und dann die Handlung ausführen, in die Lücke zu fahren. Wie aber das genaue Repräsentieren und das anschließende in jedem Detail bestimmte Umsetzen des Handlungs-Plans funktionieren soll, wird oft nicht geklärt; ganz abgesehen von der Frage, ob wir wirklich jedes Handeln planen müssen.³⁹  Auf die Frage nach dem je individuellen ersten Anfang dieses Lernprozesses werde ich unten (im Abschnitt zum Thema des Lernens) eingehen.  In dieser Hinsicht verdankt sich der Umstand, dass einem Akteur seine Umwelt so erscheint, wie sie ihm erscheint, nicht der Leistung eines transzendentalen Subjekts; sie verdankt sich allein der spezifischen Struktur der Akzeptanz-Struktur, die im Verlaufe vergangener Interaktionen ausgebildet worden ist. – Merleau-Ponty kann etwa so verstanden, dass er die transzendentalen Ermöglichungs-Bedingungen menschlicher Erfahrung im Handeln nicht mehr als Leistung eines bewussten Subjekts verstanden, sondern sie auf Ebene des Leibes verortet hat. Dies aber legt das im vorherigen Kapitel diskutierte Missverständnis nahe, der Leib würde zu einer Art zweiter Person, ein Missverständnis, in dessen Lichte wie gesehen McDowell Merleau-Ponty gelesen hat. Der Begriff der Akzeptanz-Struktur nun sollte in der Lage sein, den von Merleau-Ponty erzielten Fortschritt aufzugreifen, ohne dabei aber so anfällig für Missverständnisse zu sein wie MerleauPontys eigene Redeweise.  Siehe Thagard  für eine lehrbuchartige Darstellung der kognitionswissenschaftlichen Orthodoxie und Burge  für eine aktuelle philosophische Verteidigung.  Für eine ausführliche Kritik des Repräsentationalismus aus Heideggerianischer Sicht siehe Dreyfus b und Wheeler , für eine ausführliche Kritik aus enaktivistischer Sicht siehe

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

Vor dem Hintergrund der Einsicht Bourdieus, dass die Art, wie wir die Welt wahrnehmen, durch die Welt selbst strukturiert worden ist, kann dagegen eine plausiblere Sichtweise auf Intentionalität gewonnen werden. Demnach sind Akteur und Welt nicht getrennt, so dass die Welt erst via Repräsentationen in den Akteur hinein transportiert werden und der Handlungsplan dann wieder nach außen transportiert werden müsste. Stattdessen ist die Welt für einen Handelnden laut Interaktionismus direkt bedeutungsvoll. Es gibt keine „Lücke“ zwischen Geist und Welt. Der Handelnde muss nicht erst Gegebenheiten seiner Umwelt in seinem Inneren repräsentieren, dann schauen, welche Bedeutung er ihnen verleihen kann, und dann einen Plan fassen, wie er mit ihnen umgehen soll. Stattdessen bedeuten die „äußeren“ Gegebenheiten dem Handelnden direkt, wie er mit ihnen umgehen kann. Sie fordern ihn zu einem bestimmten Handeln auf, und er kann direkt auf diese Aufforderungen reagieren, indem er sie annimmt. Der Handelnde muss mithin nicht immer erst eigens in geistigen Akt einen Bezug zu seiner Umwelt herstellen; vielmehr ist er der Bezug immer schon hergestellt, indem Gegebenheiten der Umwelt für einen Handelnden immer schon Affordanzen bieten. Statt äußere Dinge im Inneren zu repräsentieren, dann die Repräsentationen im Inneren zu manipulieren, und anschließend diesen inneren Plänen gemäß die äußeren Dinge zu verwenden, kann der Handelnde direkt die „äußeren“ Dinge selbst manipulieren, die ihn zu bestimmten Manipulationen auffordern. Die verwendete Rede von der „Direktheit“ des Reagierens kann leicht ausbuchstabiert werden. Sie umfasst dabei zwei negativ-therapeutische und zwei positiv-phänomenologische Gedanken. Der erste negativ-therapeutische Gedanke, der für das Thema der Intentionalität nur indirekt von Relevanz ist, lautet, dass es problematisch ist, zu streng zwischen Wahrnehmung und Handeln zu trennen. Gemäß dem repräsentationalistischen Bild wird beim Wahrnehmen eine Information aus der äußeren Welt in den inneren Geist transportiert, während beim Handeln die „direction of fit“ herumgedreht ist. Der Interaktionismus setzt mit seinem Gedanken der Direktheit des Reagierens jener Sichtweise die Beobachtung entgegen, dass Gegebenheiten der Umwelt von einem Handelnden unmittelbar als handlungsrelevant wahrgenommen werden, anstatt erst im Bewusstsein auf ihre Handlungsrelevanz hin ausgedeutet werden zu müssen. Die Lücke in der Menschenmenge erregt nur deshalb Adrianas Aufmerksamkeit, weil sie eine Gelegenheit zum Hindurchfahren ist, und würde Adriana nicht das Projekt verfolgen, den Campus zu überqueren, würde sie der Lücke nicht auf gleiche Weise gewahr

Chemero  und Hutto&Myin  (in letzterem Falle inklusive einer Kritik an den Ansätzen McDowells und Burges).

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werden. Der zweite negativ-therapeutische Gedanke lautet, dass Weltbezug nicht als die Leistung eines Subjekts verstanden werden sollte, und insbesondere nicht als die Leistung eines Subjekts in einem einzigen Moment. Die Lücke ist für Adriana eine Affordanz, weil ihre Akzeptanz-Struktur entsprechend ausgestaltet ist, und ihre Akzeptanz-Struktur ist unter anderem deshalb entsprechend ausgestaltet, weil in der Vergangenheit entsprechende Interaktionen von Affordanz und Akzeptanz stattgefunden haben. Dagegen wäre es irreführend zu sagen, Adriana interpretiere die Lücke als eine Aufforderung hindurchzufahren. Zwar gibt es viele sub-personale Prozesse, die dazu führen, dass ein Wesen im Anschluss an eine Reizung seiner Sinneszellen bestimmte Bewegungen ausführt, und es ist auch philosophisch relevant, diese Prozesse besser zu verstehen. Aber es wäre irreführend, diese Prozesse als eigene Handlungen einer ganzen Person anzusehen, ebenso wie es irreführend wäre, dabei die Relevanz der bisherigen Interaktionen in der Vergangenheit zu vergessen. Auch in diesem Sinne ist das Reagieren „direkt“ – es ist unvermittelt durch eigene Handlungen der Interpretation, der Repräsentation, usw. Der erste positiv-phänomenologische Gedanke lautet, dass das Reagieren in dem Sinne „direkt“ ist, dass es spontan, sofortig und schnell stattfindet. Und schließlich lautet der zweite positiv-phänomenologische Gedanke, dass die Umwelt eines Handelnden für ihn immer schon bedeutungsvoll ist, indem sie aus Handlungsaufforderungen besteht, die ihm „etwas sagen“. Wiederum ist die Ursache hierfür in den vergangenen Interaktionen von Affordanz und Akzeptanz zu finden. Der Akteur ist erst zu dem geworden, was er ist, weil er sein Leben lang dem Einfluss der Welt ausgesetzt gewesen ist, weil er sein Leben lang mit ihr interagiert hat und sich seine neuronalen Verknüpfungen dabei entsprechend ausgebildet haben. Damit ist er zu nichts anderem geworden als einer wandelnden Akzeptanz-Struktur in einer Welt voller Affordanzen. Die Erinnerung an diese historische Dynamik kann damit helfen, verständlich zu machen, wie ein Handelnder in seinem Handeln immer schon „direkt“ auf die Handlungs-auffordernden Gegebenheiten seiner Umwelt bezogen sein kann, ohne diesen Bezug erst eigens herstellen zu müssen.⁴⁰  Die Vorzüge der interaktionistischen Sichtweise auf die Beziehung zwischen Geist und Welt als lückenlos kann auch dadurch deutlich gemacht werden, dass sie von zwei anderen Sichtweisen abgegrenzt wird – Sichtweisen, die so zwar von niemandem vertreten werden, die aber gewissermaßen die Schablonen für differenziertere und tatsächlich vertretene Theorien bilden. Zunächst ist der naive Realismus zu nennen; er geht davon aus, Menschen könnten in ihrem Geist die Welt so repräsentieren, wie sie „wirklich“ sei, d. h. wie sie unabhängig vom Menschen sei. Eine solche Sichtweise wird deshalb zu Recht als „naiv“ bezeichnet, weil sie vergisst, dass es keinen „Blick von nirgendwo“ gibt. Der naive Idealismus nun – eine Position, die naive Realisten möglicherweise in McDowells Sichtweise hineinlesen würden – geht davon aus, dass menschliche Erfahrung immer eine genuin menschliche „Form“ hat. Ein Beispiel, wie eine solche „Form“

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

spezifiziert werden könnte, wären Kants Kategorien. Doch hier kann es zumindest naheliegend sein, diese Sichtweise auf die problematische Weise zu verstehen, dass der Welt gewissermaßen die Form „übergestülpt“ wird, und eine Erfahrung am Ende mehr von dem Erfahrenden abhängt, als von den Bestandteilen der Welt, von denen sie eine Erfahrung ist. Der Interaktionismus zeigt hier einen dritten Weg auf: Die Erfahrung, die ein Handelnder macht, hängt zwar von AkzeptanzStruktur ab, und damit von etwas, das ein McDowellianer als „Form“ bezeichnen würde. Aber diese „Form“ selbst hat sich ursprünglich in Interaktion mit Gegebenheiten der Welt entwickelt. Es ist deshalb aus Sicht des Interaktionismus nicht so, dass „der Geist“ eine Form von außen an „die Welt“ heranträgt – sie ist vielmehr in Interaktion mit der wirklichen Welt allererst entstanden. Die Besonderheit der hier vertretenen Sichtweise kann noch einmal auf andere Weise dadurch deutlich gemacht werden, dass sie von einer anderen sehr verwandten Position abgegrenzt wird, nämlich von der Position Gibsons. Gibson geht zunächst u. a.von der gestaltpsychologischen Beobachtung aus, dass Affordanzen direkt und unmittelbar wahrgenommen werden können. Die Existenz dieses Phänomens scheint kaum bestreitbar zu sein (vgl. für eine Beschreibung entsprechender Phänomene Heidegger 1927: 163 f., siehe oben). Die Frage ist nun nur, wie dieses Phänomen am besten verständlich gemacht werden kann. Sowohl laut Gibson als auch laut dem Interaktionismus liefern repräsentationalistische Theorien hier schlechte Erklärungen: Sie müssten – etwas karikierend ausgedrückt – annehmen, dass entgegen dem phänomenalen Anschein zunächst Lichtwellen aus der äußeren Welt auf die Retina treffen, die dann in einem zweiten Schritten in eine Repräsentation im Inneren übersetzt werden. Gibsons alternative Erklärung lautet wie oben dargestellt, dass Affordanzen deshalb direkt wahrgenommen werden könnten, weil sie subjekt-unabhängige informative Bestandteile der Umwelt seien. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist diese Annahme alles andere als unkontrovers (vgl. etwa für eine Kritik etwa Varela et al. 1991: 202– 205). Entscheidend ist nun jedoch, dass der Interaktionismus begrifflichen Raum schafft, der es ermöglicht, an dieser Stelle einen dritten Weg einzuschlagen. Genau wie Gibson ist der Interaktionismus skeptisch in Bezug auf repräsentationalistische Erklärungen der Direktheit der Wahrnehmung. Aber anders als Gibson kann der Interaktionismus einräumen, dass Affordanzen nicht subjekt-unabhängig sind und dass es subjektive Ermöglichungsbedingungen für das direkte Wahrnehmen von Affordanzen gibt. Kantisch gesprochen stellt nämlich die Akzeptanz-Struktur die Form bzw. die Struktur dar, aufgrund der bestimmte Gegebenheiten der physikalisch indiviuierten Umwelt direkt als Affordanz wahrgenommen werden. Der Durstige etwa muss nicht erst Lichtwellen oder ein Sinnesdatum als Flasche interpretieren oder repräsentieren; stattdessen trägt sein Bedürfnis, etwas zu trinken, ebenso wie viele andere Aspekte seiner Akzeptanz-Struktur zu einer Struktur bei, vor deren Hintergrund er direkt eine ihn zum Trinken auffordernde Flasche wahrnimmt. Anders als der Repräsentationalismus kann der Interaktionismus also das Phänomen der Direktheit der Wahrnehmung ernstnehmen, ohne dabei eine derart radikale Position wie Gibson mit seinem direkten Realismus in Bezug auf Affordanzen vertreten zu müssen. Auch wenn diese interaktionistische Konzeption der direkten Wahrnehmung an anderer Stelle einer weiteren Ausarbeitung bedarf, sollte die Attraktivität dieser Sichtweise an dieser Stelle zumindest erkennbar geworden sein. Ein Einwand gegen eine Konzeption der direkten Wahrnehmung könnte allerdings lauten, dass sie Fehler in der Wahrnehmung weniger gut verständlich machen kann als der Repräsentationalist. Aus repräsentationalistischer Sicht kann schließlich gesagt werden, dass veridische und fehlerhafte Wahrnehmung etwas gemeinsam haben, nämlich das Vorliegen einer bestimmten

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Auch wenn die Welt für einen Handelnden immer schon bedeutungsvoll ist und ein Weltbezug nicht eigens erst hergestellt werden muss, kann es individuelle Unterschiede geben. Dieselben Gegebenheiten können für verschiedene Akteure eine unterschiedliche, und auch eine unterschiedlich reiche, Bedeutung haben. Für Roger Federer sind sämtliche komplizierten Schläge in sein Feld spannende Affordanzen, den Ball zurückzuschlagen; für den wenig Tennis-begeisterten Ronald hingegen haben die meisten der Gegebenheiten keine Bedeutung. Dennoch muss Ronald hier nicht eigens einen Weltbezug herstellen. Der Tennis-Court ist ihm schlicht ein langweiliger Platz mit wenigen Möglichkeiten des Bälleschlagens, während dasselbe Stück Asche für Federer viele komplexe Affordanzen bereithält. Man kann sagen, dass im Falle Federers die Interaktion dichter und tiefer ist – dazu sogleich mehr. Natürlich wird diese Beschreibungsweise zunächst sehr ungewohnt. Nicht nur ist die Thematik der Intentionalität sehr abstrakt. Auch unsere alltägliche Sprache legt kein Bild nahe, das der von mir vorgeschlagenen Beschreibungsweise auch nur annähernd gliche. Die Beschreibungsweise kann daher an keine Intuitionen anknüpfen. Aber wenn wir darüber nachdenken, dann muss es sogar so sein. Denn wenn wir Heidegger (und Wittgenstein, der dieselbe Position vertritt) Glauben schenken, dann wird Handeln erst ermöglich auf der Basis eines komplizierten Hintergrundes vorausgesetzter Erfahrungen, Fähigkeiten usw. Doch dieser Hintergrund ist so selbstverständlich, dass wir seiner, wie Heidegger sagt, völlig vergessen, wenn wir bloß auf intuitive Weise über etwas nachdenken. Daher ist die Feststellung, dass die gegebene Beschreibungsweise nicht intuitiv ist, eine Bestätigung dessen, dass wir auf dem richtigen Weg zur Erforschung des Hintergrundes sind.

Repräsentation, nur dass der repräsentationale Gehalt im Falle eines Fehlers falsch beurteilt wird. Eine derart einfache Sichtweise steht dem Interaktionismus zugegebenermaßen nicht offen. Allerdings wäre eine solche Sichtweise aus der Perspektive des Interaktionismus auch allzu einfach. Zum einen muss nämlich darauf hingewiesen werden, dass John McDowell (1994) mit seinem Disjuktivismus gezeigt hat, dass es möglich und auch attraktiv ist, Fälle von veridischer und fehlerhafter Wahrnehmung so zu konzeptualisieren, dass sie gerade keinen kleinsten gemeinsamen Nenner aufweisen. Zum anderen wäre es auch eine Überintellektualiserung, Fehler nur dort zu verorten, wo Urteile gefällt werden. Grundlagen einer alternativen, sozialexternalistischen Konzeption von Fehlern, die sowohl den Grenzen des menschlichen Geistes als auch unserer tatsächlichen Praxis der Zuschreibung von Fehlern gerecht zu werden beansprucht, werden im vierten Kapitel entwickelt. Insgesamt erweist sich die scheinbare Einfachheit repräsentationalistischer Analysen von Wahrnehmungsfehlern damit als eine bloß scheinbare, während dem Interaktionismus mit einem Rekurs auf McDowells Disjunktivismus und auf sozialexternalistische Überlegungen hier viele Möglichkeiten offen stehen, eine angemessene Konzeption zu entwickeln.

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Nun sind wir in einer Position, um auch menschliches Handeln besser verständlich zu machen.

j Handeln als Interaktion von Affordanz und Akzeptanz Eine Affordanz ist eine Eigenschaft der Welt, die einen Akteur zum Handeln auffordert. Eine Akzeptanz ist eine Eigenschaft der Kognition des Akteurs, aufgrund derer eine Eigenschaft der Welt den Akteur zum Handeln auffordert. Liegt ein Affordanz-Akzeptanz-Paket vor, dann wird der der Handelnde aufgefordert und gereizt, das entsprechende Handeln auszuführen. Und liegt ein Paket aus wirklicher Affordanz und wirklicher Akzeptanz vor, dann wird das Handeln, zu dem die Affordanz auffordert, ausgeführt. Dies ist, so schlage ich vor, die Grundlage allen menschlichen Handelns. Um welche Eigenschaften der Welt geht es, um welche Arten von Handeln, und wie funktioniert das Ausführen? Prinzipiell kann alles, was einer Kategorisierung durch die menschliche Kognition fähig ist, eine Affordanz sein. Ein Nutzobjekt kann eine Affordanz sein, es zu benutzen (vgl. Husserl 1984: 18 f.), eine natürliche Konstellation von Eigenschaften wie ein Felsvorsprung kann eine Affordanz sein, ihn in seinen Weg mit einzubeziehen, eine sich ergebende Lücke kann eine Affordanz sein, durch sie hindurchzufahren.⁴¹ Eine ganze Situation kann eine Affordanz, etwas zu tun, etwa über die Kreuzung zu fahren oder die Stille im Gespräch zu durchbrechen. Ebenso kann ein interessant aussehendes Objekt auch einfach nur die Affordanz darstellen, sein Blick auf ihm verweilen zu lassen oder über es nachzudenken, etwa im Falle eines Kunstgegenstands (vgl. Husserl 1984: 47 f.). Ein Lächeln oder ein bedrohlicher Unterton können ebenfalls Affordanzen sein, sein Verhalten entsprechend anzupassen (vgl. Husserl 1984: 66). Husserl weist zudem darauf hin, dass Affordanzen auch Teil einer „ideale[n] Umwelt“, z. B. der „mathematische[n] ‚Welt‘“ sein könnten (Husserl 1984: 24) und dass es so etwas wie „reine Vernunftmotivationen“ etwa beim logischen Schließen geben kann (Husserl 1984: 52 f.).⁴²

 Gibson thematisiert besonders die Affordanzen materieller Objekte und Gegebenheiten; bei Lichte betrachtet sollte es aber klar sein, dass auch etwa geäußerte Worte oder „digitale Objekte“ wie Computerprogramme Affordanzen bieten können.  Husserl (:  f.) schlägt vor: „Wer sich von Trieben, Neigungen ziehen läßt, die blind sind, weil sie nicht vom Sinn der als Reiz fungierenden Sachen ausgehen, nicht in ihm ihre Quelle haben, ist unvernünftig getrieben. Halte ich aber etwas für wahr, eine Forderung für sittlich, also aus den entsprechenden Werten entquellend, und folge ich frei der vermeintlichen Wahrheit, der

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Dabei kann auch gesehen werden, dass das, was eine Affordanz ist, auch in dem beheimatet ist, was Bourdieu den „sozialen Raum“ nennt (vgl. Husserl 1984: 22 f.). Nicht nur Eigenschaften, die auch unabhängig von der Existenz von Menschen bestehen würden, können eine Affordanz sein. Auch vom Menschen geschaffene Nutzgegenstände zählen dazu. Aber die durch eine soziale Praxis wechselseitigen Miteinanders stets schon vollzogene und sich stets vollziehende kulturelle Ausgestaltung der jeweiligen Affordanz-Strukturen reicht noch weiter. Ob ein Abstand zwischen zwei Menschen, zwischen denen man hindurch muss, eine Affordanz für jemanden darstellt, bemisst sich nicht nur daran, ob man vor dem Hintergrund seiner Körpergröße und Geschwindigkeit hindurch passt. Es ermisst sich auch daran, ob man vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen Normen einen angemessen Abstand zu den beiden anderen Menschen einhält.⁴³ Zu welchen Arten von Handeln fordern Affordanzen auf? Hier stoßen wir erneut auf das Problem, dass unsere Alltagssprache bestimmten pragmatischen Zwecken dient und nicht dazu gedacht ist, die Struktur der menschlichen Kognition zu beschreiben. Die Arten des Handelns, zu denen die Affordanzen auffordern, können daher sprachlich nur äußerst unbeholfen spezifiziert werden. Verwenden wir mangels Alternativen die Prädikate des Deutschen, können wir sagen, dass Affordanzen dazu auffordern, sie zu benutzen, sie anzugucken, über sie nachzudenken, generell vorsichtiger zu sein, die Situation aufzulösen, usw. Es kann um sehr feinkörnig individuierte Tätigkeiten gehen, etwa im Falle eines gut gelaunten Untertons eines Gesprächspartners, das Gespräch auf fröhliche Weise fortzusetzen. Es kann aber auch darum gehen, dass man eine ganze Situation mit einem Schlage erfasst, z. B. eine angespannte Stimmung in einem Raum, den man betritt, und entsprechend dazu aufgefordert wird, die Situation etwa mittels einer witzigen Bemerkung aufzulösen. Wie funktioniert das Ausführen des Handelns, zu dem die Affordanzen auffordern? Zunächst ist noch einmal die Unterscheidung zwischen Affordabilität, Affordanz und wirklicher Affordanz in Erinnerung zu rufen. Eine Affordabilität ist im nun relevanten Sinne keine Affordanz, und eine Affordanz noch nicht not-

vermeintlichen sittlichen Güte, so bin ich vernünftig – aber relativ, sofern ich mich darin ja irren kann.“ Husserls Konzeption der Vernunftmotivationen ergänzt sich dabei fruchtbar mit der Konzeption der Rationalität des Reagierens auf Affordanzen, die ich im vierten Kapitel entwickeln werde. (In dem Zitat verwendet Husserl das Wort „frei“, aber es ist natürlich eine schwierige Frage, inwieweit das Reagieren auf Affordanzen zu Recht als „frei“ analysiert werden kann. Ich vierten Kapitel werde ich eine Konzeption von Freiheit vorschlagen, die für die Phänomene unreflektierten Handelns maßgeschneidert ist.)  Auf das Thema des Folgens moralischer und anderer sozialer Normen werde ich unten im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zurückkommen.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

wendig eine wirkliche Affordanz. Wenn ich das Projekt verfolge zu arbeiten, dann ist das Stück Trivial-Literatur neben meinem Computer (sagen wir) keine wirkliche Affordanz, weil keine entsprechende wirkliche Akzeptanz vorliegt. Dennoch kann das Buch eine gewisse Reizstärke, um mit Husserl zu sprechen, auf mich ausüben. Dies liegt dann daran, dass meine augenblickliche Akzeptanz-Struktur uneinheitlich ausgestaltet ist. In mir liegt nicht nur die Akzeptanz vor zu arbeiten. Ich kann nun entweder meine Akzeptanz-Struktur modifizieren oder das Buch außer Sicht und Reichweite legen, so dass es gar keine Reizstärke mehr auf mich ausüben kann.⁴⁴ Liegt aber eine wirkliche Akzeptanz und damit eine wirkliche Affordanz vor, dann kann der Akteur nicht anders als das entsprechende Handeln auszuführen. So wie ein Blatt nicht anders kann als zu Boden zu fallen, wenn es sich vom Baume löst, so kann der Akteur nicht anders, als das entsprechende Handeln auszuführen, wenn eine wirkliche Affordanz vorliegt. Gegeben die entsprechende Akzeptanz, also etwa den Wunsch, den Campus zu überqueren und die entsprechende Fähigkeit, ist das direkte Reagieren auf die Affordanz der Lücke unausweichlich. Wenn die Affordanz auffordert, sich vorsichtiger zu verhalten, verhält man sich vorsichtiger, wenn die Affordanz auffordert, den Ball zurückzuschlagen, schlägt man ihn zurück.⁴⁵

 Der vom Buch ausgehende Reiz kann natürlich auch konstant subpersonal blockiert bzw. unterdrückt würden; da dies aber Energie kostet (siehe unten) wird man in einer derartigen Umgebung weniger lange konzentriert arbeiten können.  Nur um Missverständnisse zu vermeiden sollte ich sagen, dass an dieser Stelle weder die Existenz menschlicher Freiheit noch die Effektivität von Überlegungen geleugnet werden soll. Auf das Thema der Überlegungen werde ich in wenigen Seiten, und auf das Thema der Freiheit im vierten Kapitel zurückkommen. Was die Rede vom „Nicht anders können“ hier austragen soll, ist zum einen die Ablehnung des problematischen Schillerschen Bildes, es gebe neben dem direkten Reagieren noch einen omnipräsenten bewussten Willen, der stets überprüfen würde, ob er ein direktes Reagieren zulassen soll. Aus Sicht des Interaktionismus reagiert man auf eine Handlungsaufforderung entweder direkt, indem man ein körperliches Handeln ausführt, oder direkt, indem man ein mentales Handeln ausführt. Und man kann natürlich auch für ein oder zwei Sekunden nachdenken, bevor man sich zum körperlichen Handeln entschließt. Aber es wäre ein Irrtum anzunehmen, alles direkte Reagieren werde immer von einem atemporalen omnipräsenten Willen zugelassen. Diesem Umstand soll mit der Rede vom „Nicht anders können“ Rechnung getragen werden. Zum anderen soll die Rede vom „Nicht anders können“ darauf hinweisen, dass dem (körperlichen) Handeln etwa des Fahrens in die Lücke nicht ein zweites Handeln einer ganzen Person vorausgeht, nämlich etwa die bewusste Entscheidung, in die Lücke zu fahren. Freilich gibt es subpersonale Wirkungsweisen, die dazu führen, dass für einen Akteur eine Affordabilität zu einer Affordanz und eine Affordanz zu einer wirklichen Affordanz wird, und diese Wirkungsweisen zu erforschen ist von größter philosophischer Relevanz (vgl. zu diesem bisher wenig erforschten Feld Morsella et al. , Wühr & Kunde , Rietveld b). Hier soll aber ein Weg

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Wichtig ist, dass sich dieses direkte Reagieren auf Affordanzen einer Einteilung in die Kategorien „Aktiv“ und „Passiv“ entzieht. Wir beschreiben mit diesen Begriffen für gewöhnlich genera verbi. Wenn wir diese Begriffe auf menschliches Handeln anwenden, verstehen wir sie nicht mehr in ihrem natürlichen, sondern nur noch in einem übertragenen Sinne. Wenn ein Akteur etwas tut, das man mit einem Prädikat im Aktiv beschreiben kann, etwa, dass er Ladung über Bord wirft, dann tendieren wir zu der Metapher, dass eine aktive Handlung vorliegt. Wenn dagegen einem Akteur etwas widerfährt, er etwa durch einen Sturm mit seinem Schiff verschlagen wird, dann tendieren wir dazu zu sagen, dass ein passives Geschehnis vorliegt. Dies kann dann zu dem Schluss verleiten, dass es einerseits so etwas wie Handlungen gibt, die rein aktiv sind, und andererseits Geschehnisse, die rein passiv sind. Aber damit gebrauchen wir unsere alltäglichen Worte nicht mehr auf gewöhnliche Weise, sondern lassen uns von Bildern verführen, die in die Oberflächenstruktur unserer Grammatik eingraviert sind. Es kann eine sinnvolle philosophische Aufgabe sein, den alltäglichen Gebrauch der Worte „aktiv“, „passiv“, „Handlung“ und „Geschehnis“ besser zu verstehen. Aber daraus folgt nicht, dass Worte wie „aktiv“ oder „passiv“ geeignet sind, um die kognitiven Strukturen menschlichen Handelns erkenntnisfördernd zu beschreiben.⁴⁶ Wenn wir diesen Punkt bedenken, können wir einsehen, dass es hilfreich ist, das direkte Reagieren auf Affordanzen mit einem ganz neuen Begriff zu belegen: dem Begriff des Interaktionsgeschehens. Wiederum wird hier eine nicht die Existenz einer dubiosen metaphysischen Entität postuliert, sondern ein Teil unseres ganz alltäglichen Handelns, der aufgrund seiner Vertrautheit unserer bewussten Aufmerksamkeit entgeht, sprachlich explizit gemacht. Das Interaktionsgeschehen

skizziert werden, wie das Handeln ganzer Personen philosophisch verständlich gemacht werden kann, ohne zu Erklärungszwecken schlicht die Existenz weiterer vorangehender Handlungen ganzer Personen zu postulieren.  Problematisch wäre es, mit anderen Worten, anzunehmen, Menschen seien entweder aktiv, indem sie neue Kausalketten schöpften, oder passiv, indem sie bloß Spielball ihrer Umgebung seien. Der Interaktionismus ist aber damit kompatibel, dass eine philosophisch sinnvollere Konzeption der Aktiv-Passiv-Trennung entwickelt wird. Gedacht werden könnte etwa daran, dass ein Handeln umso aktiver ist, je mehr Energie beim Handeln verbraucht wird (Energie könnte dabei im wörtlichen Sinne über die Glucose im Blut ausbuchstabiert werden, siehe unten). Da gerade durch mentales Handeln viel Energie verbraucht wird, könnte gerade auch dieses Handeln besonders aktiv sein. Eine Konsequenz einer solchen Sichtweise wäre, dass ein Handelnder, der direkt auf die Präsenz eines Schokoladen-Kuchens reagiert, indem er ihn verspeist, möglicherweise weniger aktiv ist als jemand, der den Schokoladen-Kuchen bloß anschaut und dabei den sehr starken Reiz, den Schokoladen-Kuchen zu verspeisen, stundenlang Energie-aufwendig unterdrückt. (Dafür wird dem passiveren Genießer seine süße Mahlzeit viel Energie spenden, um in den nächsten Stunden aktiver zu sein.)

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muss im Sinne kontinuierlichen Handelns-Flusses verstanden werden. Sobald ein Akteur auf eine Affordanz direkt reagiert hat, verändert sich die Landschaft seiner Akzeptanzen und damit auch die Landschaft der Affordanzen. Gelingendes Handeln kann dann so verständlich gemacht werden, dass das Interaktionsgeschehen zwischen Akteur und Welt besonders intensiv ist. Stellen wir uns als Analoge vor, ein Wesen mit vier Extremitäten klettert eine Felswand hoch. Stellen wir uns zudem vor, die Enden der Extremitäten sind nicht wirklich dafür gemacht, Felswände hochzuklettern. Dann kommt das Wesen nur sehr langsam voran, weil seine Verbindung, seine Interaktion mit der Felswand schlecht ist. Hier liegt gerade kein gekonntes Handeln vor. Stellen wir uns dagegen vor, das Wesen, das die Felswand hochklettert, verfügt über acht Extremitäten, an deren Enden sich jeweils Saugnäpfe befinden. Dann kann das Wesen mit sehr hoher Geschwindigkeit auf sehr flüssige Weise die Felswand hochklettern. Hier besteht eine größere, dichtere Interaktion zwischen Akteur und Welt. Viel mehr Dinge sind für das Wesen Affordanzen, und dies kann begrifflich so fixiert werden, dass gesagt wird, es bestehe eine größere Interaktionsdichte. Zudem kann das Wesen auf viel feinkörnigere, schnellere und effizientere Weise auf die Affordanzen direkt reagieren, und dies kann begrifflich so fixiert werden, dass gesagt wird, es bestehe eine größere Interaktionstiefe. Aufgrund der großen Interaktionsdichte und Interaktionstiefe ist das Handeln des Wesens gelingend und gekonnt.⁴⁷ Aber, so wird man einwenden, sicherlich handeln Menschen nicht nur, indem sie direkt auf Affordanzen reagieren. Stattdessen, so könnte es scheinen, können Menschen auch darüber nachdenken, ob sie eine Handlungsgelegenheit wahrnehmen sollten oder nicht.

 Da es bei den Begriffen der Interaktionsdichte und der Interaktionstiefe um graduelle Begriffe handelt, ist jede Interaktion von Affordanz und Akzeptanz zumindest in einem rudimentären Sinne gelingend und gekonnt (und entsprechendes rede ich auch ganz allgemein von dem unreflektierten gekonnten Handeln im Mittelreich, auch wenn einiges Handeln in diesem Bereich weniger gelingend sein kann als anderes). Dass jede Interaktion in einem rudimentären Sinne gelingend ist, indem eine Interaktion von Affordanz und Akzeptanz stattfindet, bedeutet aber nicht, dass am Ende wirklich so etwas wie zählbarer Erfolg vorliegen muss. Auch das Wesen mit den acht Saugnapf-Extremitäten kann einmal abrutschen, und sein Können kann sich gerade darin zeigen, dass es auch eine solche Situation meistert. Zudem kann es durchaus passieren, dass das Wesen elegant und geschwind die Felswand hochklettert, nur um auf dem Gipfel seines Aufstiegs von einem hungrigen Raubvogel empfangen und verspeist zu werden. Dies ändert nichts daran, dass die Interaktion mit den Affordanzen der Felswand gelingend gewesen ist.

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k Vorgestellte Affordanzen Somit könnte man überlegen, ob nicht Menschen manchmal auf Affordanzen reagieren und manchmal in selbstbewusster autonomer Überlegung eine Entscheidung treffen, wie sie am besten handeln sollten. Wie wir gesehen haben, ist dies genau das Bild des Anti-Intellektualismus. Demnach ist der Mensch zweigeteilt. Auf der einen Seite steht das direkte Reagieren auf Affordanzen, auf der anderen das bewusste Überlegen. Wie wir gesehen haben, ist diese dualistische Sichtweise auf den Menschen zutiefst problematisch. Ist der Mensch erst einmal zweigeteilt, kann man die beiden Teile im Nachhinein nicht mehr zusammenfügen. Wie sich bewusstes Überlegen zu dem Reagieren auf Affordanzen verhält, kann nicht mehr geklärt werden, wenn diese Dinge begrifflich schon auseinander dividiert worden sind. Zudem müssen sich derartige Dual-Process-Theorien dem Vorwurf ausgesetzt sehen, die bewusste Überlegung nicht mittels eines Rekurses auf bestimmte kognitive Mechanismen ausbuchstabieren zu wollen, sondern stattdessen schlicht die Existenz eines Homunkulus zu postulieren. Es gilt also, ein Verständnis menschlichen Überlegens zu entwickeln, das an die Einsichten Gibsons, Husserls, Merleau-Pontys und Bourdieus anschlussfähig ist. Zentral sind dazu zunächst die beiden Gedanken, Überlegungen erstens als eigenes Handeln zu verstehen, und dieses mentale Handeln dabei zweitens wie das nicht-mentale Handeln als Interaktion von Affordanz und Akzeptanz zu analysieren.⁴⁸ Hilfreich ist dazu die Einsicht, dass menschliches Überlegungen zu einem entscheidenden Teil aus mentaler Simulation besteht (oder treffend so analysiert werden kann).⁴⁹ Timothy Williamson (2007: Kap. 5) argumentiert, dass selbst logisches Räsonieren mittels kontrafaktischer Konditionale auf diese Weise

 Von intellektualistischen Konzeptionen unterscheidet sich der Vorschlag also dadurch, dass Überlegungen nicht als Bestandteil jeder Handlung (oder als potentieller Bestandteil jeder Handlung) angesehen werden. Von der anti-intellektualistischen Konzeption Dreyfus’ unterscheidet sich der Vorschlag dadurch, dass unreflektiertes und reflektiertes Handeln nicht so konzipiert werden, als lägen ihnen vollkommen verschiedene Strukturen zugrunde.  Die folgende Einsicht übernehme ich von Komarine Romdenh-Romluc (), die diese Einsicht im Rahmen einer originellen Interpretation Merleau-Ponty zuschreibt. Auf die Relevanz Husserls werde ich in Kürze zurückkommen. Natürlich wird der Begriff der Simulation in vielen verschiedenen Debatten verwendet, etwa in der Debatte um das Verstehen anderer. Hierauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da in dieser Arbeit das Handeln zwischen Reflex und Reflexion im Mittelpunkt steht, und es hier nur darum geht zu zeigen, wie die grundlegenden begrifflichen Weichenstellungen vorgenommen werden können, um überhaupt in die Lage zu kommen, eine interaktionistische Sicht auf Überlegungen entwickeln zu können.

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funktioniert. Im Falle eines praktischen Überlegens hat dieses Überlegen uns selbst als Akteur zum Gegenstand, d. h. wir stellen uns uns selbst von außen betrachtet wie eine andere Person vor, die in den möglichen Ablauf eines Geschehens involviert ist. Ich kann mir etwa von mir selbst als Akteur, d. h. von meinem Selbst-Konzept vorstellen, wie es durch den Dschungel auf Hawaii wandert. Der Ausgang dieser mentalen Simulation wird dann mit unseren Erfahrungswerten in unserer Akzeptanz-Struktur verglichen. Ist der Ausgang der mentalen Simulation im Falle logischen, kontrafaktischen Überlegens mit unseren Erfahrungen vereinbar, ist die simulierte Situation vorstellbar und damit logisch möglich.⁵⁰ Ist der Ausgang der mentalen Simulation im Fall praktischen Überlegens vor dem Hintergrund unserer Erfahrung positiv, ist das Eintretenlassen der Situation ein potentielles Handlungsziel. Husserl (1984: 96 – 98) nun zeigt, dass es naheliegend ist, die Struktur mentaler Simulationen ganz im Geiste des Interaktionismus zu analysieren: Phantasiere ich nun, lebe ich mich (als der, der ich bin) in eine Phantasiewirklichkeit oder neutral-modifizierte Welt, in die irgendwie unphantasierte bekannte Welt ein, so urteile ich nun, wie die und die Motive auf mich wirken würden (genauer: die Quasi-Motive dieser Phantasieumgebung), wie ich, als der ich bin, handeln würde und handeln könnte, urteilen, werten, wollen könnte und nicht könnte. So urteile ich, bzw. kann ich urteilen, empirisch, auf Grund meiner Erfahrungserkenntnis von mir […]. Nach Analogie der früheren Verhaltungsweisen, der früheren Stellungnahmen mit Beziehung auf ihre Untergründe und Motive, erwarte ich spätere Verhaltungsweisen. […] Als ich, der ich bin, [lerne ich mein kontrafaktisches Verhalten kennen] durch phantasierende Vergegenwärtigung von möglichen Situationen, in denen ich mir „überlege“, was für sinnliche oder geistige Reize auf mich wirken würden, welche Kräfte sie hätten, […] nach welcher Richtung der größere Zug ginge, welche Kraft den Ausschlag geben würde[.]

Kurz gesagt gilt: Wenn wir überlegen, stellen wir uns oft vor dem Hintergrund unseres gewöhnlichen Weltwissens, unserer Fähigkeiten und unser bisherigen Erfahrung, d. h. vor dem Hintergrund unserer Akzeptanz-Struktur, den möglichen Ablauf eines Geschehens vor.Wir stellen uns im Falle praktischen Überlegens etwa vor, wie wir vor dem Hintergrund unserer Akzeptanz-Struktur auf bloß mögliche Affordanzen einer bloß möglichen Situation reagieren (auf Quasi-Motive einer Phantasieumgebung – in der Vorstellung sind es zumeist natürlich (wirkliche) Affordanzen und nicht nur Affordabilitäten). Ein Akteur kann sich etwa überlegen, welche Reize auf ihn wirken würden, welche Affordanzen bestünden, wenn er

 Natürlich ist dies nur eine Position in einer kontroversen Debatte um das Verhältnis von Vorstellbarkeit und logischer Möglichkeit; vgl. etwa die von Gendler & Hawthrone () herausgegebene Anthologie.

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in Hawaii Urlaub machen oder nach New York ziehen würde. Je nach dem, wie gut die bloß möglichen Affordanzen der bloß möglichen Situation zu uns, d. h. zu unserer Akzeptanz-Struktur passen, erkennen wir, ob die Situation „etwas für uns ist“. Kann in der Simulation gelingend mit den vorgestellten Affordanzen Hawaiis und New Yorks interagiert werden, dann ist eine Reise nach Hawaii oder ein Umzug nach New York etwas für den Akteur.⁵¹ Mentale Simulation, ein großer Bestandteil menschlichen Überlegens, besteht in nichts anderem als in dem Interagieren mit Affordanzen, wenn auch nur dem bloß vorgestellten Interagieren mit bloß vorgestellten Affordanzen.⁵²

 Husserl (: ) setzt die zitierte Passage wie folgt fort: „Es mag sein, dass gegebenenfalls noch andere Motive auftauchen und wirken würden, dass ich dunkle Motive fühle, ohne sie mir zur Klarheit zu bringen, wie ich [es] jetzt in der Phantasieüberlegung tue. Es kann sein, dass ich im wirklichen Handeln „indisponiert“ bin, schlecht geschlafen habe, daher apathisch, schwach bin, während ich mich jetzt in eine Frische hineinphantasiere, der eine aktuelle Frische als mein jetziger Habitus entspricht, und umgekehrt.“ Damit macht Husserl darauf aufmerksam, dass sich das simulierte und das tatsächliche Handeln mitunter stark unterscheiden können. Im Falle etwa von Tagträumereien mag dies egal sein. Geht es aber um praktisches Überlegen, das der Beantwortung der Frage dient, was man tun soll, dann stellen sich gewisse Anforderungen an die Simulation. So sollte sie etwa zum einen möglichst realistisch sein; zugleich sollte sie aber auch kreativ und phantasievoll sein, um auf Problemlösungsmöglichkeiten zu kommen, die nicht unmittelbar naheliegen, aber umso hilfreicher sind.Wichtig ist zudem, genau das richtige Level an Abstraktion von den Details des wirklichen Lebens zu treffen, um sich nicht im Durchdenken von Irrelevantem zu verheddern, zugleich aber nichts Wichtiges zu übersehen – usw.  Man könnte überlegen, ob in dem vorgestellten Interagieren mit vorgestellten Affordanzen nicht Repräsentationen im Spiel sind, und ob dies ein Problem für den Interaktionismus darstellt, da eine Erklärung menschlichen Handelns mit Hilfe von Repräsentationen ja gerade ausgeschlossen werden soll. Darauf ist zu antworten, dass zunächst kein Anhaltspunkt besteht, das vorgestellte Interagieren mit vorgestellten Affordanzen überhaupt mittels des Begriffs der Repräsentation zu analysieren – immerhin werden Repräsentationen oft über Gehalte ausbuchstabiert, die mittels Wahrheitsbedingungen analysiert werden (vgl. zur Darstellung Hutto&Myin ), und auf eine solche Weise lässt sich das vorgestellte Interagieren mit vorgestellten Affordanzen sicherlich nicht analysieren. Selbst wenn das vorgestellte Interagieren mit vorgestellten Affordanzen aber mittels des Begriffs der Repräsentation analysiert werden sollte, gereicht dies dem Interakionismus nicht zum Nachteil. Denn erstens ist das mentale Simulieren aus Sicht des Interaktionismus nur eine Art des Handelns und begleitet und erklärt nicht alles menschliche Handeln,wie es vom dialektischen Gegner angenommen wird. Zweitens ist noch einmal die Pointe des bereits diskutierten § der Philosophischen Untersuchungen in Erinnerung zu rufen (für mehr dazu siehe unten): Wittgenstein leugnet nicht die Existenz eines reichen geistigen Lebens, sondern nur eine problematische philosophische Konzeption davon. Genauso wird hier nur eine problematische Konzeption menschlichen Handelns zurückwiesen, nämlich grob gesagt die Konzeption, jedem Handeln läge eine Art logisch-infererentielle Manipulation mentaler Repräsentationen mit gespeicherten propositionalen Gehalten zugrunde (für ein wenig mehr Details siehe oben, für viel mehr Details siehe Wheeler  und Hutto & Myin ). Die Ablehnung

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Dann kann zudem gesehen werden, dass diese Art der mentalen Simulation auch im Kontext eines alltäglichen Handlungsverlaufs eine Rolle spielen kann. Adriana kann etwa mit ihrem Fahrrad auf eine Kreuzung zurasen, an der sie links abbiegen muss, während ihr zwei Autos schnell entgegenkommen. Hier kann sie kurz, für einige hundert Millisekunden, mental simulieren, wie sie – vor dem Hintergrund der Geschwindigkeit, die sie hat – zwischen den beiden entgegenkommenden Autos hindurchfährt. Geht das Manöver in der mentalen Simulation gut, kann Adriana anderthalb Sekunden später tatsächlich auf die Lücke zwischen den beiden entgegenkommenden Autos reagieren; andernfalls nicht. So kann dafür gesorgt werden, dass ein möglicher Unfall nur auf einem vorgestellten Fahrweg stattfindet und nicht auf dem harten Pflaster der wirklichen Straße. Auch im Rahmen eines Gesprächs können geäußerte Worte zwar Affordanzen bieten, direkt mit der Äußerung anderer Worte zu reagieren (siehe unten). Aber ein Gesprächspartner kann auch erst einmal für einige hundert Millisekunden mental simulieren, wie es wäre, wenn er eine bestimmte Antwort gäbe, und auf diese Weise überprüfen, ob es eine gute Antwort ist (er kann sich natürlich auch in der Auswertung der mentalen Simulation täuschen). Antizipation im menschlichen Handeln kann damit (aus Sicht des Interaktionismus) sowohl die direkte Berücksichtigung entfernter Affordanzen umfassen als auch die mentale Simulation möglicher Handlungsweisen.⁵³ einer solchen problematischen Theorie ist aber damit kompatibel, die Existenz des natürlichen Phänomens der mentalen Simulation anzuerkennen, und dieses Phänomen auch mit dem Wort „Repräsentation“ zu bezeichnen. Anders gesagt können Repräsentationen bzw. Vorstellungen als ganz natürliches Phänomen anerkannt werden, solange dieses Phänomen nicht im Lichte einer problematischen Theorie ausgedeutet wird. Und die Art des Umgangs mit solchen natürlichen Repräsentationen, das direkte Interagieren mit vorgestellten Affordanzen, wäre dabei eine vollkommen andere Art des Handelns als das logisch-inferentielle Manipulieren mentaler Repräsentationen mit gespeicherten propositionalen Gehalten.  Ähnlich wie es Dreyfus tut, wird oft zwischen sogenannter „online“ und „offline cognition“ unterschieden. Michael Wheeler (: ) etwa charakterisiert die Unterscheidung wie folgt: „A creature displays online intelligence just when it produces a suite of fluid and flexible real-time adaptive responses to incoming sensory stimuli. […] Other paradigmatic demonstrations of on-line intelligence, cases that have already featured in our story, include navigating a path through a dynamic world without bumping into things, escaping from a predator, and playing squash. The general distinction here is with offline intelligence, such as (again, to use previous examples) wondering what the weather’s like in Paris now, or mentally weighing up the pros and cons of moving to a new city.“ In einem wichtigen Sinne entzieht sich das mentale Simulieren dieser Unterscheidung: Es ist zwar „offline“, insofern es von dem direkten Reagieren auf reale Affordanzen entkoppelt („de-coupled“) ist, aber es ist auch „online“, insofern es in einem flüssigen und flexiblen (vorgestellten) Reagieren auf die (vorgestellten) Affordanzen einer dynamischen Welt

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Auch der gewöhnliche Strom von Gedanken in unserem Bewusstsein kann unter Rekurs auf Affordanzen gemacht werden. Betrachten wir zunächst ein gewöhnliches Gespräch zwischen zwei Menschen. Ein Gedanke, den die eine Person sprachlich artikuliert, ist für die andere Person oft eine Affordanz, direkt als Erwiderung einen anderen Gedanken zu artikulieren. Ebenso kann ein geäußerter Gedanke auch die Affordanz sein, eine passende Antwort erst zu suchen. Dann wird nacheinander das Geben zweier potentieller Antworten mental simuliert. In jedem Fall ist ein geäußerter Gedanke eine Affordanz, die zum Äußern eines anderen Gedankens führt.⁵⁴ Daniel Dennett hat der Idee nach vorgeschlagen, dass der bewusste Gedankenstrom nichts anderes ist als ein gesprochener Dialog, nur alleine und nicht gesprochen.⁵⁵ Im Laufe der Evolution haben wir demnach gelernt, Dinge nicht einfach laut auszusprechen, sondern sie für uns im Bewusstsein zu behalten. Wir sagen etwas in Gedanken, zu uns selbst und ohne es laut auszusprechen. Und dann setzten wir diesen Gedankengang fort, indem wir auf den ersten Gedanken in Gedanken etwas antworten. Ein Gedanke, der im Bewusstsein steht, ist also eine Affordanz, auf ihn etwas zu antworten. Die direkte Reaktion kann dazu führen, einen neuen Gedanken auszubilden. Dieser neue Gedanke kann wiederum eine Affordanz sein, auf ihn etwas zu antworten. Und auf diese Weise entsteht ein Strom bewusster Gedanken. Das Denken von Gedanken ist das Reagieren auf Affordanzen, das dank Sprache und Bewusstsein verinnerlicht worden ist.⁵⁶ besteht. Wie das Beispiel Adrianas deutlich macht, kann dies große Konsequenzen für Ereignisse in „real-time“ haben.  Aus Sicht des Interaktionismus ist es unproblematisch anzunehmen, dass auch Gedanken Affordanzen sein können. Eine sehr komplexe Situation kann aus Sicht des Interaktionismus eine Affordanz sein, auf bestimmte Weise zu reagieren, und auf vergleichbare Weise kann auch etwa eine Äußerung eines komplexen Gedankens eine Affordanz sein, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Problematisch wäre es allenfalls, Gedanken als Entitäten in einem Fregischen dritten Reich zu verstehen, so dass verschiedene Akteure genau denselben Gedanken erfassen könnten (zu pragmatischen Zwecken kann eine solche Redeweise freilich sinnvoll sein, siehe unten). Dem Interaktionismus steht aber auch die Möglichkeit offen, etwa der Konzeption von Gedanken zu folgen, die Husserl voraussetzt; beispielsweise schreibt Husserl (: ): „Derselbe Gedanke wirkt verschieden auf verschiedene Personen unter „denselben“ Umständen.“  Vgl. Dennett b; dieser Gedanke kann auch generell mit dem Pragmatismus assoziiert werden, vgl. Menary .  Eine nicht unähnliche Idee findet sich auch bei Husserl (, S.  f.): „Die „Motive“ sind oft tief verborgen, aber durch „Psychoanalyse“ zutage zu fördern. Ein Gedanke „erinnert“ mich an andere Gedanken, ruft ein vergangenes Erlebnis in die Erinnerung zurück usw. In manchen Fällen kann das wahrgenommen werden. In den meisten Fällen aber ist die Motivation zwar im Bewusstsein wirklich vorhanden, aber sie kommt nicht zur Abhebung, sie ist unbemerkt oder un-

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Es ist eine der schwierigsten Fragen der Philosophie, ob so etwas wie Bewusstsein überhaupt eine Funktion für den Menschen hat, und wenn ja, welche. Aus der gerade skizzierten Position ergibt sich zumindest eine mögliche Antwort: Eine Funktion des Bewusstseins ist es, sprachliche Gedanken innerlich kurz festhalten und dann gewissermaßen von außen darauf schauen zu können. Gerade damit können sie eine Affordanz sein, weitere Gedanken auszubilden.⁵⁷ Die direkte Reaktion auf eine Affordanz in der Welt kann auch sein, dass ein Gedanke ausgebildet wird. Sehe ich eine komplizierte Situation, kann dies eine Affordanz sein, erst einmal einen möglichen Lösungsvorschlag mental zu simulieren, und erst, wenn die Simulation vor dem Hintergrund der eigenen AkzeptanzStruktur positiv bewertet wird, entsprechend zu handeln. Und was für den einen Menschen eine Affordanz ist, etwas zu tun, kann für einen anderen Menschen eine Affordanz sein, etwas anderes zu tun, das man so beschreiben könnte, dass er erst ausführlich darüber nachdenkt, ob er selbst ein Mensch sein will, der jene Tätigkeit ausführt. Daniel sieht das für ihn bereitgehaltene Bungee-Jumping-Seil direkt als eine Affordanz zu springen. Aber Ronald zögert, als er auf das für ihn bereit gehaltene Seil blickt. Das Seil ist für ihn allenfalls eine Affordanz, darüber nachzudenken, ob er ein Mensch sein will, der ein solches Seil benutzt. Ronald stellt sich daher vor dem Hintergrund seiner Akzeptanz-Struktur, etwa vor dem Hintergrund seines angelesenen Wissens, vor, wie er den Sprung ausführt. Er sieht sich fallen, das Seil zerreißen und sich selbst dem Boden entgegen schnellen. Vor dem Hintergrund seiner Akzeptanz-Struktur erscheint ihm dieses Resultat als um jeden Preis vermeidenswert. Nun weiß er, dass er auf gar keinen Fall ein Mensch sein will, der eine solch riskoträchtige Sportart ausführt. In diesem Sinne kann eine Person überlegt zurücktreten und das, was für eine andere Person eine Affordanz etwas zu tun ist, zum Gegenstand selbst-bewusster Reflexion machen.⁵⁸ merklich („unbewusst“).“ Vgl. auch Husserls oben erwähnte Idee der Vernunftmotivation, insbesondere in Bezug auf das logische Schließen. – Aus Sicht des Interaktionismus sollte nicht alles Denken als sprachlich verstanden werden. Im Rahmen einer mentalen Simulation kann auch auf eine Weise, die nicht durch Sprache beeinflusst ist, auf nicht-sprachliche Affordanzen reagiert werden. Für mehr zum Thema der Sprache siehe unten.  Für ein wenig mehr zu diesem Thema siehe unten.  Der Interaktionismus lässt auch Raum dafür, dass sich für eine Person, die über eine mögliche zukünftige Handelnsweise nachdenkt, das Handeln falsch anfühlen kann, auch wenn sie, über das Handeln auf „höherer“ Stufe überlegend, keine Aspekte sehen kann, aufgrund deren das Handeln vermeidenswert ist. Beim Durchspielen der mentalen Simulation kann sich etwa der BundgeeSprung für den risiko-scheuen Ronald falsch anfühlen; denkt er dann aber auf einer höheren Stufe über den Sprung nach, können ihm auch Aspekte wie die objektive Sicherheit des Seils, die

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Hieraus ergibt sich, dass man sich nicht im Moment eines Handelns aussuchen kann, ob man über das Handeln nachdenkt oder nicht. Eine bestimmte Konstellation von Eigenschaften der Welt ist für einen Akteur entweder direkt eine Affordanz, z. B. zu springen, oder sie ist direkt eine Affordanz, über etwas nachzudenken. Ob eine Konstellation von Eigenschaften der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Affordanz ist, etwas zu tun, oder eine Affordanz, über das Handeln nachzudenken, ist durch die Eigenschaften der Welt und den Zustand der Akzeptanz-Struktur zu genau dem Zeitpunkt eindeutig bestimmt.Wie sollte es anders sein können, wenn man nicht davon ausgeht, im Kopfe eines jeden Menschen sitze ein kleiner Homunkulus, der nach Belieben alte Kausalketten zerreißen und ganz neue Kausalketten starten könnte?⁵⁹

l Absichten als Akzeptanz-Struktur-Modifikation Eine selbstbewusste Reflexion kann zu dem führen, was man als „Ausbildung einer Absicht“ zu bezeichnen geneigt sein könnte. Es gilt hierbei jedoch, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Begriff einer Absicht ein Begriff unserer Alltagssprache ist, der sich auf Menschen als Ganze bezieht. Philosophisch interessant sein kann jedoch auch, aufgrund welcher kognitiver Mechanismen nach einer mentalen Simulation (und deren Bewertung) die innere Struktur eines Wesens so verändert wird, dass man von außen geneigt ist, von dem Wesen zu sagen, es habe eine neue Absicht ausgebildet. Nur weil es in der Alltagssprache genau ein Wort gibt, das man mit den entsprechenden kognitiven Mechanismen assoziieren könnte, folgt daraus nicht, dass es in der Kognition genau einen Mechanismus gibt, der „Absichten“ irgendwie generierte. Gemäß dem Interaktionismus sind „Absichten“ keine Dinge in der Kognition, und das, was mit den Worten „Ausbildung einer neuen Absicht“ assoziieren könnte, ist nicht die innere Produktion irgendeines Dings. Vielmehr ist es die Veränderung der jeweiligen Akzeptanz-Struktur. Die kognitiven Mechanismen, ständigen Qualitätskontrollen usw. in den Sinn kommen. Hier besteht dann ein Konflikt zwischen dem impliziten Gefühl während des mentalen Simulierens, und der expliziten Bewertung des simulierten Handelns. Wichtig ist hier, dass der Interaktionismus der Möglichkeit dieser tatsächlich existierenden Konflikte Rechnung tragen kann.  Insbesondere ist es wert hervorgehoben zu werden, dass auch das Nachdenken durch Gewohnheiten und insbesondere Denkgewohnheiten beeinflusst sein kann. Wer gewohnt ist, dass sich risikoreiche Unternehmungen auszahlen, wird eher das riskoreiche Ziel wählen. Wer jedes Jahr gewohnheitsmäßig nach Südostasien in den Urlaub fliegt, wird sein Urlaubsziel unter den südostasiatischen Ländern auswählen und Australien nicht in Betracht ziehen (selbst wenn es ihm dort besser gefallen würde, wäre er einmal dort gewesen).

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mittels denen eine Akzeptanz-Struktur modifiziert wird, sind dabei äußerst vielfältig. Dazu kann beispielsweise die Selektion bestimmter Skripte oder bestimmter motorischer Programme gehören; entscheidend ist zudem, dass durch Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter das direkte Reagieren auf wahrgenommene Affordanzen, die für ein aktuell verfolgtes Projekt nicht wichtig sind, geblockt wird (siehe für eine Übersicht aus neurowissenschaftlicher Perspektive Ridderinkhof et al. 2011; für kognitionspsychologische Untersuchungen vgl. Wühr & Kunde 2008). Hierdurch, so können wir es ausdrücken, wird die AkzeptanzStruktur eines Wesens entsprechend so modifiziert, dass es letzten Endes nur bzgl. solcher Affordanzen effektiv handelt, die für das jeweilige Projekt relevant sind.⁶⁰ Wenn im Bewusstsein eines Wesens etwa der Gedanke auftaucht, dass es jetzt Schach spielen sollte, dann werden Affordanzen, die für das Schach-Spielen nicht relevant sind, etwa umherstehende Menschen als Affordanzen zur Kommunika-

 Es kann naheliegen, das Blockieren von Handlungsaufforderungen, die einen zu einem Handeln auffordern, das dem aktuellen Projekt widerspricht, als „Ausübung von Willensstärke“ zu bezeichnen. Wichtig ist dann jedoch, dass dies nicht der volkspsychologischen Verwendung des Wortes „Willensstärke“ entspricht. Stattdessen wird ein Aspekt in der Struktur menschlichen Handelns begrifflich fixiert. Dieser Aspekt kann sich an bestimmten Phänomenen zeigen, die man aus dem Alltag kennt. Und diese Phänomene wiederum können grob mit der alltäglichen Verwendung des Wortes „Willensstärke“ assoziiert sein. – Der Psychologe Roy Baumeister nun hat vor dem Hintergrund seiner empirischen Forschungen eine Konzeption von Willensstärke entwickelt, die sich fruchtbar mit dem interaktionistischen Gedanken der Akzeptanz-Struktur-Modifikation durch Blockade irrelevanter Affordanzen ergänzen kann. Gemäß der Konzeption Baumeisters ist „Willensstärke“ bzw. „Willenskraft“ eine hilfreiche Metapher, die auf einen begrenzten Vorrat an Energie verweist, die zur Unterdrückung unerwünschter Handlungstendenzen notwendig ist. Energie wird dabei wörtlich im Sinne von Glucose im Blut verstanden. Menschen können diesem Ansatz zufolge mehr gegenläufige Affordanzen unterdrücken, wenn sie gerade etwas gegessen haben, und schlechter, wenn sie gerade schon anstrengende, energieverzehrende Aufgaben erledigt haben (vgl. Baumeister & Tierney  für eine Übersicht). – Die Frage, wie es Menschen schaffen, auf die jeweils relevanten Affordanzen zu reagieren und nicht auf die irrelevanten, ist von größter philosophischer Wichtigkeit. Ein aristotelischer Phronimos sollte etwa in der Lage sein, über einen längeren Zeitraum konstant ein Projekt zu verfolgen und irrelevante Handlungsreize zu ignorieren; ist er etwa dabei, ein wichtiges Medikament an seinen Empfänger auszuliefern, sollte er sich nicht von dem um Unterstützung bittenden Umweltaktivisten am Straßenrand ablenken lassen. Liegt jedoch eine blutende Person am Straßenrand, sollte er sich erst dieser Person zuwenden, bevor er das Medikament ausliefert; und sieht er gleichzeitig, wie ein Lastwagen auf ein kleines Kind zurast, sollte er sich zunächst um das Kind kümmern. Er muss also stets wissen, was relevant ist. Diese wichtige Frage ist bisher kaum erforscht worden und muss auch an dieser Stelle Aufgabe für eine andere Gelegenheit bleiben (vgl. immerhin Rietveld 2012b).

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tion, geblockt.⁶¹ Aufgrund der Akzeptanz-Struktur eines Schach-Spielenden sind dann die Figuren auf dem Schachbrett die einzigen wirklichen Affordanzen. Sie sind für ihn die Affordanzen, die sie sind, weil seine Akzeptanz-Struktur schon auf bestimmte Weise beschaffen ist.⁶² Vor diesem Hintergrund kann eine Bemerkung Wittgensteins verständlich gemacht werden, die andernfalls rätselhaft bleiben müsste. Wittgenstein schreibt (Philosophische Untersuchungen, §337): Die Absicht ist eingebettet in der Situation, den menschlichen Gepflogenheiten und Institutionen. Gäbe es nicht die Technik des Schachspiels, so könnte ich nicht beabsichtigen, eine Schachpartie zu spielen.

Diese Passage ist interessant, weil es Wittgenstein hier um das Phänomen der Absicht geht, nicht um den gewöhnlichen Gebrauch des Wortes „Absicht“. Ginge es nur um den gewöhnlichen Gebrauch des Wortes „Absicht“, dann genügte die Feststellung, dass wir von einem Schach Spielenden sagten, er habe die Absicht, Schach zu spielen, so wie wir von dem zum Milchmann eilenden Wittgenstein natürlicherweise sagen, er habe die Absicht, Milch zu holen. Hier nun geht es aber um die kognitiven Mechanismen und andere Voraussetzungen, die dem Phänomen des Ausbildens einer neuen Absicht zugrunde liegen. Diese Mechanismen können entfernt mit Situationen, in denen man die Worte „Ich habe nun die Absicht zu …“ äußert, assoziiert werden. Was sich wirklich verändert, wenn ein Akteur etwas tut, das man als „Ausbildung einer Absicht“ beschreiben könnte, ist seine Akzeptanz-Struktur. Mit einem Mal sind nur noch die Schach-Figuren Affordanzen für ihn, alle anderen

 Interessanterweise werden manche Affordabilitäten keine Affordanzen sein, während manche irrelevanten Affordanzen geblockt werden und keine wirklichen Affordanzen sein werden. Die Affordabilität der Tür, den Raum des Schach-Spiels schnell zu verlassen,wird zu Beginn des Spiels keine Affordanz sein und keinen Reiz auf den Spieler ausüben. Ist der Spieler aber übermäßig ehrgeizig und gerät gegen einen übermächtigen Gegner immer weiter in Bedrängnis, dann kann die Tür zu einer immer stärkeren Affordanz werden, den Raum schnell zu verlassen. Diese Affordanz wird dann aber blockiert werden, so dass der Spieler – wenn er nicht allzu unbeherrscht ist – das Spiel fair zu Ende spielen kann.  Von außen können wir dabei den Schach Spielenden etwa so beschreiben, dass er die Schachregeln befolgt. Aber dies heißt nicht, dass er die Schachregeln auf bewusste oder unbewusste Weise anwendete. Vielmehr ist seine Akzeptanz-Struktur so ausgebildet worden, dass für ihn eine bestimmte Konstellation auf dem Brett eine Affordanz für einen bestimmten regelkonformen Zug (bzw. zunächst für ein mentales Simulieren eines regelkonformen Zugs) ist. Die Schachregeln, deren Befolgung dem Akteur von außen zugeschrieben werden kann, sind nicht der Gehalt irgendeines bewussten oder unbewussten Gedankens des Akteurs. Für eine ausführliche Analyse regelfolgenden Handelns aus Sicht des Interaktionismus, siehe unten.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

möglichen Affordanzen werden geblockt. Deshalb kann man sagen, die Absicht sei in der Situation eingebettet. Die Affordanzen müssen schon da sein, sie können nicht mit einem Schlage ex nihilo erschaffen werden. Zugleich ist „die Absicht“ in menschliche Gepflogenheiten und Institutionen eingebettet, weil eine Schachfigur überhaupt erst im sozialen Raum eine Affordanz ist. Und in diesem Sinne ist auch eine Technik des Schachspiels eine notwendige Voraussetzung zur Ausbildung der Absicht, Schach zu spielen: Die Absicht zu fassen, Schach zu spielen, bedeutet, seine Akzeptanz-Struktur so zu modifizieren, dass man nun – während man die Absicht umsetzt – im Wesentlichen nur noch auf Schach-Affordanzen reagiert.⁶³ Aber dafür müssen die Schach-Affordanzen schon da sein. Die Welt des Spielenden muss schon so gestaltet sein, dass es überhaupt Schach-Affordabilitäten gibt. Seine Welt muss mithin etwa eine Struktur aufweisen, die so beschrieben werden kann, dass der Spieler die Schachregeln kennt und sie befolgt. Doch der Spieler wendet die Regeln oder die Technik nicht an, sondern sie machen die Struktur aus, aufgrund der erst bestimmte Eigenschaften der Welt Affordanzen zu einem regelkonformen Spiel für ihn sind. Nur jemand, dessen AkzeptanzStruktur auf diese Weise beschaffen ist, kann daher etwas tun, das man als Ausbildung der Absicht, eine Partie Schach zu spielen, beschreiben könnte.⁶⁴  Ich schreibe „im Wesentlichen“, da nun zwar etwa Affordanzen, mit anderen zu kommunizieren, geblockt werden, aber den Schach-Spielenden etwa die plötzliche Präsenz von Rauch eine Affordanz sein wird, das Spiel zu unterbrechen und aus dem Raum zu fliehen. Natürlich können sich die Schach Spielenden aber in seltenen Fällen auch so sehr ins Spiel vertieft haben, dass sie sich des Rauchs nicht gewahr werden. (Und ebenso kann die Reaktionsweise des anderen – d. h. die Frage, ob er bleibt oder flieht – eine große Rolle für das eigene Verhalten spielen, vgl. Latane & Darley .)  Somit wird ein neues Verständnis absichtlichen Handelns möglich, in dem durch die Ausbildung einer Absicht das gewöhnliche direkte Reagieren auf Affordanzen variiert wird (wobei dieses neue Verständnis im Lichte der Wittgenstein’schen Einsichten gerade nicht den volkspsychologischen Begriff der Absicht mit einem technischeren, psychologischen Begriff vermischt, sondern stattdessen allein an letzterem orientiert ist, d. h. an den Phänomenen absichtlichen Handelns). Im Rahmen dieses neuen Verständnisses wird zunächst deutlich, wie es Handeln ohne Absicht (im genannten Sinne) geben kann: Bricht im Schachraum ein Feuer aus, werden die Spieler direkt auf diese Affordanz reagieren und fliehen, ohne länger Schach-irrelevante Affordanzen zu blockieren. Ein bereit gehaltenes Glas Wein kann direkt eine Affordanz, es in die Hand zu nehmen, auch wenn sich der Akteur eigentlich vorgenommen hat, nichts Weiteres zu trinken. Nun wird es jedoch auch möglich zu sehen, dass der Begriff der Absicht (von Philosophen) auf mindestens sechs ganz verschiedene Weisen gebraucht werden kann, um verschiedene Strukturmerkmale menschlichen Handelns herauszugreifen. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels diskutiert, sollte man nicht erwarten, dass genau eine dieser Gebrauchsweisen der gewöhnlichen Verwendung des Wortes „Absicht“ entspricht, die sich auf ganze Personen bezieht, vielschichtig ist, und auch pragmatisch-normativen Zwecken dient (vgl. Kapitel IV). (Möglicherweise kann dennoch auch die gewöhnliche Verwendung von „Absicht“ übersichtlicher werden, wenn die

1 Der Interaktionismus

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verschiedenen Strukturmerkmale, die mittels des Wortes unterschieden werden können, klar voneinander getrennt werden, aber zentral ist zunächst, die gewöhnliche Verwendung von „Absicht“ von technischeren, philosophischen Verwendungsweisen abzugrenzen). Erstens kann der Begriff der Absicht, anders als bisher, verwendet werden, um – grob besprochen – jedes Ereignis zu bezeichnen, das mehr ist als ein Reflex (Absicht). Aus Sicht des Interaktionismus würde absichtliches Handeln dann als direktes Reagieren auf Affordanzen analysiert werden. Eine Motivation, den Begriff der Absicht auf diese Weise zu verstehen, ist es, verständlich werden zu lassen, dass das Eilen aus dem brennendenden Schachraum oder das Ergreifen des Glases keine zufälligen Geschehnisse sind. Das Handeln im Mittelreich wäre dann in diesem Sinne absichtlich. Zweitens kann der Begriff der Absicht, wie im Haupttext, verwendet werden, um die die kognitive Komponente eines Handelns zu analysieren, das der Umsetzung eines Projekts dient (Absicht). Aus Sicht des Interaktionismus würde die Struktur absichtlichen Handelns dann wie im Haupttext dadurch verständlich gemacht, dass nur noch auf Projekt-relevante Affordanzen reagiert wird, während Projekt-irrelevante Affordanzen blockiert werden. Einen solchen Begriff der Absicht kann man etwa verwenden, um auch gewohnte Routinehandlungen, zu deren Ausübung man sich nicht entschieden hat, als „absichtlich“ zu analysieren. Das routinierte Kaffeekochen nach dem Aufstehen, das viele Handgriffe beinhalten kann, wäre dann absichtlich, auch wenn sich Handelnde am letzten Tag eigentlich entschieden hat, am nächsten Morgen lieber einmal Tee statt Kaffee zu trinken. Auch das Handeln im Mittelreich kann in diesem Sinne absichtlich sein. Drittens kann der Begriff der Absicht auch verwendet werden, um, wie zuvor, die die kognitive Komponente eines Handelns zu analysieren, das der Umsetzung eines Projekts dient, diesmal aber derart, dass der Handelnde kurz bewusst akzeptiert hat, dass er nun das entsprechende Projekt umsetzt (Absicht). Aus Sicht des Interaktionismus würde die Struktur absichtlichen Handelns wie zuvor analysiert, mit der Ergänzung, dass der Handelnde das Projekt zunächst kurz bewusst akzeptiert hat. Eine Motivation, um den Begriff der Absicht auf diese Weise zu verstehen, ist es, praktisches Wissen um das eigene Handeln als Voraussetzung für absichtliches Handeln ansehen zu können. Immerhin macht es (in einem Sinne) einen Unterschied, ob der Kaffeekochende auf die Nachfrage, was er gerade tue, antwortet „Ich koche … ach, ich wollte doch Tee kochen!“, oder „Ich koche natürlich Kaffee, was sonst?“. In einem Sinne ist dem zweiten Handelnden transparent, was er gerade tut, während dies dem ersten Handelnden nicht transparent sein muss, und diesen Unterschied könnte man so einfangen wollen, dass man sagt, das Handeln des zweiten Akteurs sei absichtlich, während das Handeln des ersten Akteurs nicht absichtlich sei. In diesem Verständnis jedenfalls wäre absichtliches Handeln gemäß den Festlegungen in der Einleitung reflektiertes Handeln in sehr weitem Sinne und würde damit die Abgrenzung des Mittelreichs nach oben markieren.Viertens kann der Begriff der Absicht wie im dritten Sinne verwendet werden, aber nun so, dass der Handelnde das umzusetzende Projekt nicht nur kurz bewusst akzeptiert, sondern so, dass er auch vorher über das Projekt nachdenkt und es billigt (Absicht). Aus Sicht des Interaktionismus kann die Umsetzung des Projekts wie zuvor analysiert werden; das vorherige Nachdenken über das Projekt kann so verständlich gemacht werden, dass der Akteur vorher mental simuliert, das Projekt umzusetzen, und die Umsetzung des Projekts dabei billigt. Der Handelnde kann sich etwa zunächst vorstellen, wie das Ökosystem belastet wird, wenn er seinen alten Kühlschrank im Fluss entsorgt, diesen Aspekt aber billigen und dann des Nachts losziehen. Hierbei handelte es sich um reflektiertes Handeln im weiten Sinne. Fünftens kann der Akteur dasselbe Handeln ausüben, dabei die Umsetzung des Projekts aber nicht nur billigen, sondern sie

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

Mithin schließe ich, dass die Existenz „höherer Kognition“ keineswegs zu der Annahme verpflichtet, bewusstes Überlegen sei etwas ganz Besonderes, das nur unter Rekurs auf einen Homunkulus verständlich gemacht werden könnte. Stattdessen kann es als bloße Erweiterung des direkten Reagierens auf Affordanzen verstanden werden, eine Erweiterung, die selbst zu einer Veränderung der Akzeptanz-Struktur und damit zu einer veränderten Art und Weise des direkten Reagierens auf Affordanzen führen kann. Wichtig ist aber vor allem eines: Mittels der begrifflichen Werkzeuge der Affordanz und der Akzeptanz wird eine neue Weise ersichtlich, auf die sich das allgegenwärtige Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion philosophisch analysieren und erhellen lässt.

2 Perspektiven des Interaktionismus Dies zumindest ist mein Vorschlag – aber warum sollte man diesen Vorschlag, den Interaktionismus, überhaupt akzeptieren? Meine Motivation, ihn zu entwickeln, ist es gewesen, eine erhellende gelungene philosophische Analyse des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion zu gewinnen. Und wie bereits gesehen werden konnte, ist der Interaktionismus in der Lage, jenen zentralen Bereich erfolgreichen menschlichen Zurechtkommens in der Welt auf neue und ungewöhnliche Weise zu beschreiben. Auch wer den Interaktionismus vor dem Hintergrund verbreiteter Theorien über die kognitive Komponente menschlichen Handelns etwa in Philosophie und Psychologie betrachtet, mag bereits in der Lage sein, sein Potential wertzuschätzen, solche neuen Perspektiven auf verschiedene Aspekte menschlichen Handeln zu liefern, durch die alte Probleme vermieden und neue Einsichten gewonnen werden können. Um nun aber auch in argumentativem Detail festzuzurren, dass der Interaktionismus den besten Weg zu einer Analyse

auch bewusst wollen und ganzen Herzens dahinter stehen (Absicht). Sechstens schließlich kann absichtliches Handeln auch in dem vollblütigen Sinne verstanden werden, dass der Akteur nicht nur über das von ihm umsetzende Projekt nachdenkt es und es will, sondern dass er im Nachdenken auch verschiedene Wege der Umsetzung gründlich durch-geht (Absicht). Aus Sicht des Interaktionismus simuliert er dabei verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung des Projekts, bevor er eine Art der Umsetzung bewusst akzeptiert, die gegenläufigen Affordanzen blockiert, und nun nur noch auf Projekt-relevante Affordanzen reagiert. Bei einem solchen vollblütigen absichtlichen Handeln handelt es damit um reflektiertes Handeln im engen Sinne. Insgesamt kann somit die vom Interaktionismus freigelegte Übersicht über die Strukturen menschlichen Handelns helfen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Verwendungsweisen des Wortes „Absicht“ zu sehen. Dies kann sich etwa als hilfreich erweisen, um philosophische Missverständnisse zu klären. (Aber dies ist Aufgabe für eine andere Gelegenheit.)

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des Handelns zwischen Reflex und Reflexion (und möglicherweise menschlichen Handelns überhaupt) weist, werde ich im Folgenden eine Argumentation der besten Erklärung anführen. Wie ich vorschlagen werde, ist es rational angezeigt, den Interaktionismus zu akzeptieren, weil er zentrale Phänomene menschlichen Handelns besser erklären kann als seine zwei in dieser Arbeit bereits untersuchten dialektischen Gegenspieler, namentlich der Intellektualismus und der Anti-Intellektualismus.⁶⁵ In den letzten Kapiteln habe ich bereits argumentiert, dass diese beiden Theorien vor großen Problemen stehen, zentrale Phänomene gekonnten Handelns erfolgreich zu erklären. Nun werde ich zeigen, dass der Interaktionismus im Gegensatz dazu sehr wohl in der Lage ist, eine erfolgreiche Erklärung jener Phänomene zu liefern. Zwar mag ein Proponent jener Theorien in einigen Einzelfällen einwenden können, dass er mit viel Mühe eine vom Interaktionismus bereitgestellte Erklärung auch im Rahmen seiner Theorie formulieren könne. Aber entscheidend ist, dass ein solches Manöver stets Mühe erforderte, nur in Einzelfällen möglich wäre, und die Gegentheorie am Ende sehr heterogen aussehen ließe. Weil der Interaktionismus dagegen gekonntes Handeln am besten zu erklären vermag, sollte er akzeptiert werden. Um dies zu zeigen, werde ich nun wie in den letzten beiden Kapiteln nacheinander auf die Themen „Regeln“, „Intelligenz“, „Kontrolle“, „Bewusstsein“, „Sprache“, „Kognition“, „Lernen“ und „Expertise“ eingehen.

a Regeln Vieles menschliche Handeln kann erhellend als regelfolgend beschrieben werden: Menschen folgen etwa tagtäglich den Regeln des Straßenverkehrs, der Moral und der Etikette, der Grammatik und der jeweiligen Künste, die sie beherrschen, vom Sport über das Kochen bis hin zu Musik und Schach.Vieles alltägliche Reden über Regeln wirkt dabei so, als würde vorausgesetzt, dass sich ein Mensch jeweils im  Den Begriff der Erklärung verstehe ich hier so,wie er in der philosophischen Handlungstheorie häufig gebraucht wird, nämlich so, dass philosophische Handlungstheorien prinzipiell in der Lage sind, menschliches Handeln zu erklären. In anderen Worten wird der Begriff der Erklärung hier nicht so eng verwendet, dass er sich allein auf eine naturwissenschaftliche Angabe von Naturgesetzen bezieht. (An anderer Stelle habe ich dafür argumentiert, dass das Geben einer solchen Erklärung, wie sie hier gegeben werden soll, mit Wittgensteins Methodologie – so wie sie etwa von Felix Mühlhölzer () ausführlich dargestellt wird – kompatibel ist. Denn meiner Lesart nach warnt Wittgenstein nur vor einer bestimmten Art von philosophischer Erklärung, und zwar vor einer Erklärung des Common Sense mittels Prinzipien, die als hinter ihm liegend vermutet werden und die durch rationale Rekonstruktion von Intuitionen gewonnen werden sollen; vgl. Weichold ).

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

Einzelfall für oder gegen die Befolgung einer Regel entschieden hat.⁶⁶ Aber bei näherer Betrachtung ergibt sich, dass in meisten Fällen die entsprechenden Regeln weder bewusst angewendet werden noch dass die ihnen Folgenden die Regeln auf Nachfrage nennen und explizit machen könnten. Eine gelungene Theorie gekonnten Handelns sollte verständlich machen können, wie dieses unreflektierte Regelfolgen möglich ist – ohne es überzuintellektualisieren und ohne seine Existenz zu leugnen. Zudem sollte eine gelungene Theorie gekonnten Handelns die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieses unreflektierten Regelfolgens zum bewussten Umgehen mit expliziten Regeln erhellen können. Und essentiell für eine gelungene Theorie gekonnten Handelns ist es schließlich, die normative Dimension regelfolgenden Handelns verständlich zu machen, nämlich die verantwortbare Zurechnung regelfolgenden Handelns zu einer Person, die Zurechnung von Fehlern, und das Gefühl eines normativen Drucks im Falle normbrechenden Verhaltens. Weit besser als die zuvor kritisierten Theorien des Intellektualismus und des Anti-Intellektualismus ist der Interaktionismus diesen Anforderungen gewachsen. Zentral ist zunächst, dass der Interaktionismus erlaubt, einige problematische begriffliche Vorentscheidungen zu vermeiden. Laut Interaktionismus ist Regelfolgen nichts, das im Kopf passiert. Der paradigmatische Fall regelfolgenden Handelns ist laut Interaktionismus das unreflektierte Regelfolgen, und hier ist das Folgen von Regeln keine eigene Handlung der Anwendung einer Regel. Darüber hinaus kann es sogar sein, dass es gar keine Regel als Gehalt eines Gedankens gibt, den sich der Regelfolgende auf Nachfrage bewusst machen könnte. Aus Sicht des Interaktionismus ist es für die Frage, ob eine Person einer Regel folgt, vollkommen belanglos, was sie sagt, wenn sie gefragt wird, ob sie einer Regel gefolgt ist, und wenn ja, welcher. Laut Interaktionismus ist nicht entscheidend, was eine Person sagt, sondern was sie tut. Gemäß dem Interaktionismus wird einer Person nämlich dann treffend zugeschrieben, einer Regel zu folgen, wenn sie regelmäßig auf Regel-relevante Affordanzen reagiert. Ist z. B. für eine Person eine rote Ampel regelmäßig eine Affordanz anzuhalten, und reagiert sie entsprechend regelmäßig damit, dass sie anhält, dann kann treffend von ihr gesagt werden, dass sie der Verkehrsregel folgt, an roten Ampeln anzuhalten. Ist eine sehr kleine Lücke zwischen zwei Menschen eine Affordanz für eine Person hindruchzugehen, dann kann etwa treffend von ihr gesagt werden, dass sie einer kalifornischen Regel des Abstandhaltens folgt; sind

 Wie ich im vierten Kapitel ausführen werde, findet ein solches Reden über Regeln interessanterweise zumeist dann statt,wenn man davon ausgeht, dass eine Person eine Regel verletzt hat. Dort werde ich vorschlagen, dass dies alles andere als ein Zufall ist.

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hingegen kleine Lücken zwischen anderen Menschen keine Affordanz für eine Person hindurchzugehen, sondern nur sehr große, dann kann – gegeben weiterer Faktoren – treffend von ihr gesagt werden, dass sie einer deutschen Regel des Abstandhaltens folgt. Dabei könnte die Person – etwa politisch motiviert – vehement abstreiten, einer „typisch deutschen“ Regel des Abstandhaltens zu folgen; aber dies änderte nichts daran, dass sie der Regel folgt – laut Interaktionismus ist autoritatives Selbstwissen für Regelfolgen nicht erforderlich.⁶⁷ Kurz gesagt hilft die Zuschreibung von Regeln laut Interaktionismus dabei, das regelmäßige Reagieren auf Affordanzen treffend zu beschreiben. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig, die interaktionistische Analyse regelfolgenden Handelns nicht durch die Brille einer vielleicht naheliegenden, aber letzten Endes problematischen Dichotomie zu betrachten. Mit dieser Dichotomie meine ich die Unterscheidung zwischen der Anwendung von Regeln durch eine Person auf der einen Seite und bloß Regel-gemäßem Verhalten auf der anderen Seite. An dieser Dichotomie ist problematisch, dass sie nicht vollständig ist, sondern es eine „dritte Alternative“ gibt. Bei dem regelmäßigen Reagieren auf Affordanzen, wie es vom Interaktionismus beschrieben wird, handelt es sich zum einen nicht um die Anwendung von Regeln. Zum anderen ist das Handeln aber auch nicht bloß zufälligerweise einer Regel gemäß. Stattdessen hat der Umstand, dass eine Person regelmäßig auf regelrelevante Affordanzen reagiert, eine tiefere Grundlage in der Kognition der Person, nämlich darin, dass ihre AkzeptanzStruktur so ausgestaltet ist, dass sie – in einer stabilen Umwelt – regelmäßig auf relevante Weise auf Affordanzen reagiert. Um dieser dritten Alternative einen Namen zu geben, kann man sagen, dass das regelfolgende Verhalten hier „verkörperlicht“ („embodied“) ist. Paradigmatischerweise wird also laut Interaktionismus mit der Nennung einer Regel in der Beschreibung regelfolgenden Verhaltens die Struktur beschrieben, wie eine Person auf Affordanzen reagiert. In Einzelfällen kann mit dem Begriff der Regel aber auch eine in diesem Kontext relevante Affordanz selbst bezeichnet werden. So kann z. B. eine rote Ampel als eine Regel bezeichnet  Erst wenn die Person dazu gebracht wird, die Normen einmal zu brechen (etwa indem dazu gebracht wird, durch sehr kleine Lücken zu gehen, usw.), kann ihr der regelfolgende Charakter ihres gewöhnlichen Handelns bewusst werden. Mit einer Analyse unreflektierten Handelns ohne das Erfordernis des Selbstwissens in Bezug auf Regeln, denen man folgt, bietet der Interaktionismus Ressourcen,Wittgensteins Gedanken des „blinden Regelfolgens“ (§ 219 der Philosophischen Untersuchungen) positiv weiterzuentwickeln; vorsichtshalber anzumerken ist lediglich, dass die Rede von einer „Blindheit“ nahelegt, unreflektiertes Regelfolgen als etwas Defizitäres anzusehen, während der Interaktionismus hingegen die gelingende Interaktion von Affordanz und Akzeptanz gerade als positives Paradigma erfolgreichen menschlichen Wirkens in der Welt ansehen würde.

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werden, die im regelfolgenden Handeln eine Rolle spielt: Auf sie kann als Affordanz reagiert werden, indem vor ihr angehalten wird. Ein anderes prominentes Beispiel stellen Wegweiser dar: Auch sie können direkt Affordanzen sein, sich in einer bestimmten Richtung weiterzubewegen. Gemäß dem Interaktionismus muss man einen Wegweiser etwa nicht eigens erst interpretieren, sondern kann direkt auf ihn reagieren. Dabei wird die Möglichkeit dieses direkten Reagierens vom Interaktionismus nicht ad hoc postuliert, sondern kann von ihm im Rahmen seiner Analyse der Interaktion von Affordanz und Akzeptanz verständlich gemacht werden. Der Interaktionismus lässt zudem Raum für die Möglichkeit, dass in noch selteneren Fällen ein Satz, in dem eine Regel im Sinne einer Anleitung sprachlich explizit formuliert ist, von einer Person bewusst angewandt werden kann. Dabei kann eine bestimmte Situation eine Affordanz sein, eine mentale Simulation zu starten, und im Rahmen dieser mentalen Simulation können explizite Sätze, die Verhalten vorschreiben, Affordanzen sein, das entsprechende Verhalten auszuführen. Beispielsweise kann der Fahranfänger unschlüssig vor dem geschlossenen Bahnübergang stehenbleiben. Diese unsichere Situation ist für ihn eine Affordanz, sich der Instruktionen seines Fahrlehrers zu entsinnen. Dabei kann ihm ins Gedächtnis kommen, dass der Fahrlehrer zu ihm gesagt hat, er solle in derartigen Situationen den Motor abschalten. Dieser Gedanke ist für den Fahranfänger dann eine Affordanz, den Motor abzuschalten.⁶⁸ (Und nach einiger Übung wird er den geschlossenen Bahnübergang direkt als Affordanz ansehen, den Motor auszuschalten.)⁶⁹

 Eine detaillierte Antwort, die ohne Zweifel wünschenswert ist, würde die Existenz einer interaktionistischen Analyse höherer Kognition voraussetzen, die in diesem Kapitel nur grob angedeutet werden konnte, die aber für diese Arbeit insofern nur von begrenzter Relevanz ist, als hier das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion im Zentrum steht.  Vor diesem Hintergrund kann deutlich werden, dass mit Hilfe des Interaktionismus eine kritische Einsicht Wittgensteins in Bezug auf menschliches Regelfolgen leicht systematisiert ausgedrückt werden kann. Wittgenstein nämlich kann so verstanden werden, dass er davor warnt anzunehmen, der Begriff der Regel habe explanatorische Kraft zur Erhellung zentraler Phänomene menschlichen Handelns. Jemand, der annimmt, Regeln hätten explanatorische Kraft, würde etwa sagen, dass ein Zeichen eigentlich zunächst ein totes Stück Materie ist, dass ihm aber dank einer Bedeutungsregel (der Form „‘+‘ bedeutet plus“) Bedeutung verliehen wird; weil sich alle Sprecher einer Sprache per Konvention auf dieselben Bedeutungsregeln verständigt hätten, könnten sie sich untereinander verständigen. Laut Wittgenstein (in meinem Verständnis) wäre eine solche Annahme einer Verwirrung geschuldet, und in interaktionistischen Begriffen kann man Wittgensteins Einsicht wie folgt ausdrücken. Ein Zeichen ist überhaupt erst ein Zeichen,wenn es Affordanzen bietet (bzw. eine Affordanz ist); in diesem Sinne hat es von vornherein Bedeutung. Nur in pathologischen Fällen – wenn man etwa über eine fremde Sprache redet, die man nicht versteht – kann man das, was für andere ein Zeichen ist, als bloße tote Materie ansehen. Das

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Um Missverständnissen in Bezug auf die Methodologie der interaktionistischen Analyse regelfolgenden Handelns vorzubeugen, sollte explizit gemacht werden, dass die hier verwendeten Begriffe des Regelfolgens und der Regel als quasi-technische begriffliche Werkzeuge zur Analyse der kognitiven Komponente gekonnten Handelns verwendet werden.⁷⁰ Auf die Frage nach der Verwendung des alltäglichen Begriffs der Regel werde ich im vierten Kapitel zurückkommen. Insgesamt liefert der Interaktionismus damit eine Erklärung regelfolgenden Handelns, die mehr Phänomene des Handelns im Mittelreich positiv verständlich machen kann als es die dialektischen Gegner des Intellektualismus und des AntiIntellektualismus können. Insbesondere kann das unreflektierte Regelfolgen als Beschreibung der Struktur des regelmäßigen Reagierens auf Affordanzen analysiert werden. Dies erhellt etwa Phänomene wie das Folgen sozialer Normen und

Zeichen nun ist die Affordanz, die es ist, weil eine entsprechende Akzeptanz besteht. Aufgrund biologischer und kultureller Faktoren sowie Mechanismen wie unbewusster Nachahmung weisen dabei die Mitglieder einer Gemeinschaft in relevanter Hinsicht eine ähnliche Akzeptanz-Struktur auf. Damit können sie sich wechselseitig so synchronisieren, dass sie auf weitgehend übereinstimmende Weise auf Zeichen reagieren. Dagegen würde es ihnen nichts nützen, in einem hypothetischen Urzustand so etwas wie explizite Bedeutungsregeln zu formulieren, die dann per Konvention von allen geteilt werden sollten, um übereinstimmendes Sprechen zu ermöglichen. Denn wenn die verschiedenen Sprecher nicht von vornherein eine im relevanten Sinne übereinstimmende Akzeptanz-Struktur aufweisen würden,wäre eine bestimmte „Regel-Formulierung“ für den einen eine Affordanz, das eine zu tun, und für den anderen, das andere. Mit anderen Worten ist eine Regel nur deshalb eine Regel (und keine bloße Regel-Formulierung),weil sie immer schon eine Affordanz ist; eine übereinstimmende Reaktion auf eine Regel ist nur möglich, wenn die Sprecher von vornherein im relevanten Sinne über eine übereinstimmende Akzeptanz-Struktur verfügen. Man könnte als „das Regelfolgen-Problem“ u. a. die Frage ansehen, durch was es erklärt wird, dass man etwas Allgemeines auf einen besonderen Einzelfall anwenden kann bzw. (in der anderen Richtung, vgl. Weichold 2009: 7 ff.) warum man ein token als Instanziierung eines bestimmten types ansehen muss. Im Rahmen einer Wittgenstein’schen Behandlung dieser Frage nun würde nicht versucht, diese Frage zu beantworten, sondern die Bedingungen der Möglichkeit dieser Frage zurückzuweisen. In diesem Fall liegt es nahe davon auszugehen, dass wir Menschen als die Menschen, die wir sind, vor dem Hintergrund unserer kontingenten, faktischen Natur bestimmte Gegegebenheiten als tokens eines types ansehen. Nur auf diese Weise können wir etwa etwas lernen. Und entwickelt hat dieses Faktum, weil wir unsere Akzeptanz-Struktur in ständiger Interaktion mit der Welt ausgeprägt haben, die wir dann strukturiert wahrnehmen. Es sollte aber nicht gefragt werden, warum dies so sein muss. Wären wir nicht so beschaffen, dass wir etwas Besonderes als Instanziierung von etwas Allgemeinem anerkennen könnten, wären wir nicht die Menschen, die wir sind, aber dies heißt nicht, dass es ewige, notwendige, rationale Prinzipien gibt, aufgrund derer wir etwas Besonderes so als Instanziierung von etwas Allgemeinem ansehen müssen, wie wir es de facto tun.  Vgl. die entsprechenden methodologischen Punkte in der Diagnose des ersten sowie zu Beginn dieses Kapitels.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

das Folgen von Spielregeln.⁷¹ Zudem können Regeln wie Wegweiser direkt als Affordanzen angesehen und auch das explizite Anwenden von Regeln entsprechend analysiert werden. Meisterschaft im Anwenden von Regeln besteht in einer gelingenden Interaktion mit dieser Art von Affordanzen. Auf die für eine Analyse regelfolgenden Handelns zentralen Phänomene der Normativität bin ich bisher noch nicht eingegangen; sie sind so wichtig für ein Verständnis des Handelns im Mittelreich und zugleich so komplex, dass ich ihnen ein eigenes Kapitel widmen werde (nämlich Kapitel IV).

b Intelligenz Der sofortige geschickte Schachzug des Großmeisters im Blitzschach, das direkte Reagieren des meisterhaften Chirurgen auf eine Komplikation bei der Operation, der schlagfertige Konter in einem Gespräch, die sofortige Idee zur Lösung eines theoretischen Problems, das unmittelbare Ausnutzen eines Fehlers des gegnerischen Tennisspielers, das adaptive Reagieren des Bergsteigers auf die Gegebenheiten der schwierigen Bergwand, das gewitzte Eingehen des frei improvisierenden Jazzpianisten auf ein Handyklingeln im Publikum – all das liegt nahe, als „intelligent“ bezeichnet zu werden. Eine überzeugende philosophische Theorie gekonnten Handelns sollte verständlich machen können, inwiefern mit einer solchen Analyse der genannten Tätigkeiten als „intelligent“ etwas getroffen wird. Diese Aufgabe ist aber insofern nicht trivial, als in einflussreichen Teilen der westlichen Philosophietradition Intelligenz oft mit bewusstem Nachdenken, Fakten-Wissen oder der Orientierung an expliziten Standards assoziiert wird. In den genannten Beispielen reagieren die intelligent Handelnden aber direkt auf die Gegebenheiten der Situation, in der sie sich befinden, anstatt erst bewusst nachdenken oder sich an expliziten Standards orientieren zu müssen. Ebenso liegt es nahe, dass sich eine intelligente Person auch durch solche abstrakten Verhaltensdispositionen auszeichnen kann wie Flexibilität, Offenheit für Neues, oder die allgemeine Fähigkeit, sich ein noch unbekanntes Gebiet schnell zu erschließen. Doch auch dies kann nicht als Nachdenken, die Anwendung von FaktenWissen oder eine Orientierung an expliziten Standards analysiert werden. Wäh-

 Außerdem kann die „Geleitetheit“ durch Moore-Sätze entsprechend analysiert werden: Wenn eine Person derart auf ihre Umwelt reagiert, dass sie etwa auf Nachfrage ihren Namen nennen kann und bei Nennung des Namens weiß, dass sie selbst gemeint ist, dann kann treffend von ihr gesagt werden, dass sie über die lebensweltliche Gewissheit verfügt zu „wissen“, wie sie heißt. Ein praktischer Anlass zur Tätigung einer solchen Aussage wird freilich vor allem in philosophischen oder psychopathologischen Fällen bestehen.

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rend sich in den letzten beiden Kapiteln ergeben hat, dass Intellektualismus und Anti-Intellektualismus diesen Anforderungen nicht Rechnung tragen können, werde ich nun zeigen, dass der Interaktionismus ihnen gewachsen ist. Laut Interaktionismus wird ein Handeln genau dann treffend als „intelligent“ bezeichnet, wenn es erstens in einer gelingenden Interaktion von Affordanz und Akzeptanz besteht, und wenn es zweitens zusätzlich einem von außen angelegten, je nach Kontext variablen normativen Standard entspricht. Eine Person wird genau dann als „intelligent“ bezeichnet, wenn ihre Akzeptanz-Struktur so beschaffen ist, dass die Person (zumindest in einem Gebiet, um das es im Kontext der Aussage geht) bisher intelligent gehandelt hat oder es für die Zukunft von ihr erwartet wird. Gelingend ist eine Interaktion wie oben beschrieben paradigmatischwerweise, wenn sie sich durch eine große Interaktionstiefe und eine große Interaktionsbreite auszeichnet, d. h. wenn auf besonders viele Affordanzen besonders feinkörnig und situationsspezifisch reagiert wird. Beispielsweise ist die Interaktion des oben erwähnten Blitzschach spielenden Großmeisters gelingend, weil er auf viele der komplex zusammenhängenden Affordanzen mit einem der komplexen Situation gerecht werdenden Zug reagiert. Die Interaktion des Chirurgen ist gelingend, weil er im Angesicht aller Affordanzen, die beim Auftreten der Komplikation bei der Operation entstehen, mit derjenigen Maßnahme reagiert, die der Situation mit all ihren Eigenheiten am angemessensten ist. Die Interaktion desjenigen, der auf eine scheinbare Provokation im Gespräch mit einem schlagfertigen Konter reagiert, ist gelingend, insofern er auf alle Affordanzen der Situation, etwa die Stimmung im Gespräch und die Persönlichkeit des Gesprächspartners, auf situationsangemessene Weise reagiert. Wie der aristotelische Phronimos, der in seinem Handeln das orthos logos verkörpert, im Speziellen, so wenden die intelligent Handelnden im Allgemeinen keine einfach zu explizierenden Regeln an, sondern reagieren direkt auf die spezifischen Eigenheiten der Situation, deren Meisterung sie der Beschaffenheit ihrer Akzeptanz-Strukturen verdanken.⁷² Das Handeln von Großmeister, Chirurgen und Schlagfertigem ist damit jeweils in einem rudimentären Sinne intelligent. Und aus philosophischer Sicht kann es hilfreich sein, auf der Intelligenz dieses Handelns zu insistieren, und zwar einerseits um zu betonen, wie wichtig ein gelingendes Interagieren mit Affordanzen für intelligentes Handeln ist, und andererseits um hervorzuheben, wie lobenswert

 Wichtig ist, dass gemäß der zuvor entwickelten Leitgedanken des Interaktionismus eine einzelne Handelnsweise gelingend ist, dass damit aber nicht in einem größeren Kontext ein Handlungserfolg verbunden sein muss. Ein zweiter Großmeister im Schach etwa, der auf sehr viele Affordanzen sehr situationsangemessen und feinkörnig reagiert, kann gelingend handeln, auch wenn er das Spiel knapp gegen den ersten Großmeister verliert.

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das Handeln der Person in den Beispielen schon aufgrund der Struktur ihres Handelns ist (d. h. ihrer Angepasstheit an die Situation). Auf eine solche Weise verstanden ist der Begriff der Intelligenz ein hilfreiches Werkzeug, um die kognitive Komponente gekonnten Handelns philosophisch zu analysieren. Oben habe ich aber bereits eine weitere Bedingung für das Vorliegen einer treffenden Zuschreibung von Intelligenz genannt, und mit dieser rückt die interaktionistische Konzeption von Intelligenz näher an diejenige Konzeption, die man als die „alltagssprachliche Konzeption“ bezeichnen könnte. Diese zusätzliche Bedingung, um Handeln treffend als „intelligent“ bezeichnen zu können, ist, dass das Handeln einem von außen angelegten, je nach Kontext variablen normativen Standard entspricht. Beispielsweise kann ein Schachlehrer seinen jungen Schülern ein Video des Blitzschach spielenden Großmeisters zeigen und ausrufen: „Seht nur, wie er spielt! Das ist wahre Intelligenz.“ Vor dem Hintergrund des Standards des Schachunterrichts wird hier Intelligenz zugeschrieben. Der Großmeister kann aber auch höchstselbst ein Video seines letzten Spiels sehen, während er sich auf das Weltmeisterschaftsturnier vorbereitet, und den Kopf schütteln: „Oh nein, trotz dessen, dass ich gewonnen habe, habe ich dort eine kleine Eventualität übersehen, die ein besserer Gegner ausgenutzt hätte. Das war wahrlich kein intelligentes Spiel.“ Trotz dessen, dass der Großmeister das Spiel gewonnen und auf fast alle Affordanzen situationsgerecht reagiert hat, wird hier vor dem Hintergrund des strengen Standards der Vorbereitung auf ein Weltmeisterschaftsturnier Intelligenz abgesprochen.⁷³ Der Begriff des „intellegere“, des Verstehens, weist eine hilfreiche Ambiguität zwischen dem Prozess des Verstehens und Aneignens einerseits und dem SchonVerstanden-Haben andererseits auf. Dies kann man als ein etymologisches Indiz dafür betrachten, dass Intelligenz eine zeitliche Dimension besitzt; und der Interaktionismus ist in der Lage, diesen Umstand zu erhellen. Zum einen nämlich kann eine intelligente Person ihre Akzeptanz-Struktur mittels eines langen Prozesses des immer sensitiveren Reagierens auf Affordanzen in einem Gebiet schon so ausgebildet haben, dass Affordanz und Akzeptanz in diesem Gebiet nun gelingend interagieren. Im Geiste des Schon-Verstanden-Habens können dann das entsprechende Handeln und die entsprechende Person als „intelligent“ bezeichnet werden. Ein Beispiel ist der Großmeister im Schach. Und ein anderes Beispiel ist eine Person, die fließend acht Sprachen spricht; für sie sind Äußerungen in all diesen Sprachen Affordanzen, auf entsprechende Weise zu reagieren.  In diesem Sinne, schlage ich vor, ähnelt die Zuschreibung von Intelligenz bestimmten kontextualistischen Analysen der Zuschreibung von Wissen; vgl. Stanley  (im Gegensatz zu Stanleys nicht-kontextualistischer Analyse von „Intelligenz“ in seiner im ersten Kapitel diskutierten Theorie).

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Zum anderen kann eine Person aber auch über eine derartige Akzeptanz-Struktur verfügen, dass von ihr für die Zukunft erwartet werden kann, dass sie derart in einen langen Prozess des immer sensitiveren Reagierens auf Affordanzen eintreten wird, dass ihre Akzeptanz-Struktur am Ende so ausgebildet worden sein wird, dass in dem entsprechenden Gebiet Affordanz und Akzeptanz gelingend interagieren werden. Auch im Sinne des Prozesses des Verstehens und Aneignens kann dann die betreffende Person als „intelligent“ bezeichnet werden. Ein Beispiel ist der 14jährige „High Potential“ im Schach, der jetzt zwar noch gegen den Großmeister unterliegen würde, von dem aber im Angesicht einiger abstrakter Eigenschaften seiner derzeitigen Akzeptanz-Struktur, die man als „Scharfsinn“ und „analytischen Blick“ bezeichnen könnte, erwartet werden kann, dass er seinen Meister einst beerben wird.⁷⁴ Und ein anderes Beispiel ist die Person, die aufgrund ihrer in ihrer Akzeptanz-Struktur verankerten Begabung, schnell Sprachen zu lernen, das Potential besitzt, in Zukunft acht Sprachen fließend zu sprechen. Kurzum können sowohl Großmeister als auch „High Potential“ als „intelligent“ bezeichnet werden, und der Interaktionismus ist in der Lage, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Fällen zu erhellen.⁷⁵ Eine überzeugende Theorie der Intelligenz in gekonntem Handeln sollte auch Stellung zu der Frage nehmen, ob es sinnvoll ist, zwischen „praktischer“ und „theoretischer“ Intelligenz, oder zwischen Wissen-Wie und Wissen-Dass zu trennen, wie es oft getan wird. Der Interaktionismus teilt hier die intellektualis-

 Wenn dem „High Potential“ natürlich nicht die richtigen Affordanzen geboten werden, oder wenn er in einer Umwelt lebt, in der andere Dinge für ihn stärkere Affordanzen sind, dann wird sein Talent im Sand versiegen. Aus Sicht des Interaktionismus zeigte dies aber nicht, dass der „High Potential“ am Ende doch kein Talent hatte, sondern dass seine Umwelt nicht die gewesen ist, die erforderlich gewesen wäre, um aus ihm den zu machen, der er hätte sein können.  Einerseits könnte man denken, dass das Handeln von Experten immer auch intelligent ist und intelligentes Handeln immer auch etwas Expertenhaftes aufweist. Andererseits scheint auch die Beobachtung etwas zu treffen, dass Menschen, wenn sie älter werden, zwar an Intelligenz einbüßen können, dafür aber auch umso mehr Expertise entwickeln haben können. Der Interaktionismus kann beide Gedanken einfangen: Im Sinne des Potentials können demnach Expertise und Intelligenz dissoziiert sein, während im Sinne des Schon-Verstanden-Habens ein und dasselbe Handeln treffend zugleich als „intelligent“ und als „expertenhaft“ charakterisiert werden kann. Eine interaktionistische Analyse von Expertise werde ich unten vorschlagen. Zugegeben werden muss an dieser Stelle, dass der Interaktionismus vom Paradigma der tatsächlichen Interaktion ausgeht und entsprechend in Bezug auf Themen wie Potentialität vor allem zeigen kann, dass sie mit dem Interaktionismus kompatibel sind, ohne allzu viel zu ihrer tieferen Analyse beitragen zu können. In dialektischer Hinsicht ist dann aber sogleich anzumerken, dass kaum einer Theorie eine tiefere Analyse jener Themen gelingt und dass insbesondere Intellektualismus und Anti-Intellektualismus hier nicht besser aufgestellt sind als der Interaktionismus.

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tische Einsicht, dass eine einheitliche Konzeption menschlicher Intelligenz gegenüber einer zwei-gespaltenen vorzugswürdig ist. Zugleich teilt der Interaktionismus die anti-intellektualistische Einsicht, dass das Paradigma intelligenten menschlichen Handelns besser nicht im Anwenden von Fakten, sondern im direkten praktischen Interagieren mit Gegebenheiten der jeweiligen Situation gesehen werden sollte. Auf den ersten Blick kann damit aus interaktionistischer Sicht gesagt werden, dass alle Intelligenz praktische Intelligenz ist.⁷⁶ Wenn der Interaktionismus aber erst einmal akzeptiert worden ist, dann kann in einem zweiten Schritt gefragt werden, inwiefern es noch hilfreich und erhellend ist, streng zwischen Wissen-Wie und Wissen-Dass zu trennen. Letzten Endes sind „Wissen-Wie“ und „Wissen-Dass“ aus Sicht des Interaktionismus nicht mehr und nicht weniger als hilfreiche begriffliche Werkzeuge zur philosophischen Analyse der kognitiven Komponente gekonnten Handelns, die sich mit den begrifflichen Werkzeugen des Interaktionismus fruchtbar ergänzen können.⁷⁷ Schließlich ist für eine überzeugende Analyse der Intelligenz in gekonntem Handeln noch eine letzte Frage zu beantworten, eine Frage, die auch dialektisch für die Abgrenzung vom Intellektualismus von Relevanz ist. Und zwar hatte ich oben gesagt, dass aus Sicht des Interaktionismus eine Bedingung dafür, dass ein Handeln treffend als „intelligent“ bezeichnet werden kann, ist, dass das Handeln einem von außen angelegten, je nach Kontext variablen normativen Standard

 Eine solche Konzeption wird in der Wissen-Wie-Debatte bisher einzig von Hetherington (, ) vertreten; allerdings kann Herthington zur Ausbuchstabierung seiner Konzeption nicht auf die theoretischen Ressourcen zurückgreifen, die dem Interaktionismus zur Verfügung stehen.  Wie im Rahmen der Diagnose in Kapitel I gezeigt worden ist, ist die Unterscheidung immerhin keine Unterscheidung, die in der Alltagssprache angelegt ist. Zustande kommt sie vielmehr erst, wenn die Alltagssprache auf die Weise betrachtet wird, vor der Wittgenstein warnt, nämlich so, als verberge die eigentlich praktischen Zwecken dienende Alltagssprache unter ihrer Oberfläche eine Theorie, die es durch eine rationale Rekonstruktion von Intuitionen und sprachlichen Zuschreibungen zu erkennen gelte. Tatsächlich ist im Alltag so gut wie nie die Rede von „Wissen-Wie“ und „Wissen-Dass“ (jeweils großgeschrieben), sondern eher von „sie weiß, wie …“ oder „sie weiß, dass …“. Die Begriffe „Wissen-Wie“ und „Wissen-Dass“ sind weitgehend philosophische Kunstbegriffe. Als solche können sie legitim und hilfreich sein, wenn sie einen erhellenden Beitrag etwa zu einer philosophischen Analyse der kognitiven Komponente gekonnten Handelns liefern. Die Frage ist nur, ob sie diese Aufgabe erfüllen. Dieser Gedankengang könnte etwa dahingehend weiter verfolgt werden, dass der klassische Wissensbegriff mit seiner Orientierung an propositional strukturierten Überzeugungen als ganzer auf problematische Weise einseitig ist, und dass die Betonung der Relevanz von Wissen-Wie vor allem eine Unzufriedenheit mit dieser problematischen Einseitigkeit zum Ausdruck bringt. Dann lautete die philosophische Aufgabe, einen gänzlich neuen Begriff des Wissens jenseits der von Gettier gezeichneteten Linien zu gewinnen. Hier kann dieser Frage nicht weiter nachgegangen werden; es sei aber auf die diesbezüglichen Überlegungen Alva Noës (2004, 2012) hingewiesen.

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entspricht. Ganz im Geiste aktueller Einsichten in der Erkenntnistheorie versteht der Interaktionismus Intelligenz dabei ähnlich wie Wissen so, dass der intelligent Handelnde nicht auf einer zweiten Stufe um die Standards wissen muss, denen gemäß sein Handeln als „intelligent“ klassifiziert werden kann; eine Transparenzbedingung wird abgelehnt.⁷⁸ Dass dies eine Phänomen-adäquate Sichtweise ist, kann sich dabei leicht klar gemacht werden: So handelt der Schlagfertige etwa auch dann schlagfertig und intelligent, wenn er gar nicht sagen kann, was eine schlagfertige Antwort überhaupt ausmacht, und auch wenn er sich selbst – warum auch immer – gar nicht als schlagfertig, sondern als zurückhaltend ansehen würde. Der Intellektualismus hingegen vertritt eine ganz andere Sichtweise. In Begriffen des Interaktionismus ausgedrückt kann man seine Sichtweise so formulieren, dass der Intellektualist der Meinung ist, einem intelligent Handelnden müssten jene normativen Standards transparent sein, und er müsse sie bewusst anwenden oder anderweitig daran orientiert sein.⁷⁹ Auf den ersten Blick könnte man denken, dass es sich bei diesem Widerstreit der Positionen letzten Endes bloß um eine rein terminologische Frage: Der Intellektualismus sei eben an einem engen Intelligenz-Begriff interessiert, der etwa das Handeln von Tieren ausschließe, und der Interaktionismus eben an einem weiten. Aber auf den zweiten Blick muss erkannt werden, dass die interaktionistische Konzeption von Intelligenz sinnvoll und philosophisch hilfreich ist, während die intellektualistische Konzeption nicht sinnvoll und philosophisch nicht hilfreich ist. Denn wie oben ausgeführt worden ist, weist die interaktionistische Konzeption nicht nur eine große Nähe zur alltäglichen Verwendung des Begriffs auf, sie bezieht sich auch auf tatsächliche Strukturen gelingenden menschlichen Handelns, die Interaktion von Affordanz und Akzeptanz. Dagegen gibt es keinen guten Grund, Intelligenz so eng zu konzipieren wie es der Intellektualismus tut. So ist etwa bereits anhand vieler Beispiele des Anti-Intellektualismus und des Interaktionismus gezeigt werden, dass eine explizite Orientierung an Standards ein Handeln oft nicht gelingender werden lässt – im Gegenteil hat Dreyfus auf Fälle hingewiesen, in denen bei einer Orientierung an expliziten Standards die Leistungsfähigkeit sinken kann. Es sollte auch nicht angenommen werden, dass es eher die Person selbst ist, die handelt, wenn sie bewusst an Standards orientiert ist – dies würde eine Cartesianische Identifizierung einer Person mit ihrem Bewusstsein voraussetzen, der der Inter-

 Gemeint ist selbstverständlich das sogenannte KK-principle, wie es von Williamson  diskutiert wird (grob gesagt: Wenn man weiß, dass p, dann weiß man auch, dass man weiß, dass p; vgl. Stanley : ).  Dafür, dass es dabei bisher keine haltbare intellektualistische Ausbuchstbabierung eines solchen Geleitseins durch derartige normative Standards gibt, habe ich bereits im ersten Kapitel argumentiert.

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aktionismus mit guten Gründen skeptisch gegenübersteht. Schließlich wäre auch das intellektualistische Anliegen dubios, den Menschen mittels eines engen Intelligenz-Begriffs wertend von den Tieren abzugrenzen – eine solche Sichtweise liefe auf die kaum mehr haltbare Vorstellung hinaus, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Kurzum überintellektualisiert der Intellektualismus Intelligenz, während der Interaktionismus dank des Verzichts auf eine Cartesianische Transparenz-Bedingung auch die Intelligenz des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion einfangen kann. Insgesamt kann der Interaktionismus die Intelligenz in gekonntem Handeln damit auf hilfreiche Weise erhellen. Dass die Intelligenz einer Person in abstrakten Verhaltens-Dispositionen liegen kann, ist für ihn ebenso erklärbar wie der Umstand, dass sie in einem gekonnten Reagieren auf die Eigenheiten der je spezifischen Situation besteht.

c Kontrolle Gekonntes menschliches Handeln – vom Ergreifen der Türklinke über den Gang zum Theater bis hin zum Zueilen auf die Person in Not – läuft in vielen Fällen strukturiert und geordnet ab und ist dann auch erfolgreich. Der Hinauseilende erwischt mit seiner Hand die Türklinke, der Theatergänger findet den Weg zur Spielstätte, der hilfsbereite Passant lässt sich nicht von anderen Verpflichtungen ablenken. Beinahe kann es wirken, als seien solche Handelnsweisen deshalb so erfolgreich, weil die Akteure zuvor jeweils sorgfältig über ihr Handeln nachgedacht hätten. Aber tatsächlich ist ihr Handeln spontan, unmittelbar, direkt – und dabei doch zugleich kontrolliert. Eine überzeugende Theorie gekonnten Handelns sollte diese Art der unreflektierten Kontrolliertheit verständlich machen. Zugleich sollte eine überzeugende Theorie gekonnten Handelns nicht davon ausgehen, dass es zwei ganz verschiedene Arten der Kontrolle gibt, etwa eine für bewusstes und eine für unbewusstes Handeln. Denn wie bereits am Beispiel des Ansatzes Hubert Dreyfus’ gezeigt worden ist, lässt sich der menschliche Geist nicht wieder zusammenfügen, wenn er erst einmal in zwei grundverschiedene Teile gespalten worden ist. Zudem sollte eine überzeugende Theorie der Kontrolliertheit gekonnten Handelns erhellen, dass auch die Gegebenheiten der Umwelt eines Handelnden eine entscheidende Rolle für das Handeln spielen. Und schließlich sollte verständlich gemacht werden, dass Handeln durch lebensweltliche Gewissheiten und soziale Normen kontrolliert sein kann, auch wenn dem Handelnden nicht eine Norm mit propositionalem Gehalt vor dem geistigen Auge steht bzw. er eine solche Norm auch auf Nachfrage nicht explizit machen kann.

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In kritischer Hinsicht gilt es aus interaktionistischer Perspektive zunächst, die folgende Einsicht zu berücksichtigen: Kontrolle ist keine eigene Handlung durch eine Person, neben der Handlung, die kontrolliert wird.⁸⁰ Zwar mag es für manchen naheliegend sein zu denken, Kontrolle bestehe paradigmatischerweise im expliziten vorherigen Überlegen darüber, was man zukünftig tun soll. Das unreflektiert kontrollierte Handeln würde dann dadurch analysiert, dass der Akteur „irgendwie“ gleichzeitig zu seinem Handeln darüber nachdenkt, ob es insgesamt gut und richtig ist. Das Problem ist aber, dieses „irgendwie“ sinnvoll auszubuchstabieren. Schiller etwa hat zu der Auffassung tendiert, zwar sei das Handeln im Mittelreich spontan und direkt, aber immerhin gebe es so etwas wie einen omnipräsenten bewussten Willen, der das Handeln kontrolliere. Hier wird Kontrolle als eine eigene Handlung verstanden, deren Akteur ein personalisierter Wille ist. Aber wie in der Einleitung diskutiert, wäre eine solche Sichtweise sehr problematisch und würde das Handeln im Mittelreich wieder überintellektualiseren. Der Interaktionismus dagegen unterbreitet einen ganz anderen Vorschlag. Laut Interaktionismus gilt in erster Näherung, dass Kontrolle eine Eigenschaft der Struktur eines Handelns ist, und nicht ein zweites Handeln, durch das das erste überwacht wird. Ein Handeln ist genau dann kontrolliert, wenn es in einer solchen Interaktion mit Affordanzen besteht, welche durch die Akzeptanz-Struktur einer Person strukturiert ist. In einem rudimentären Sinne ist damit jedes Handeln kontrolliert. Sieht der Phronimos beispielsweise, dass eine andere Person dabei ist, in Ohnmacht zu fallen, und ist dies für den Phronimos vor dem Hintergrund seiner Akzeptanz-Struktur eine Affordanz, schnell einen Schritt auf die Person zu zu machen, um sie aufzufangen, dann liegt kontrolliertes Handeln vor. Wird der Phronimos hingegen auf die in Ohnmacht fallende Person zu geschubst, und landet die Person dann zufällig in seinen Armen, dann liegt kein kontrolliertes Handeln vor: die Ereignisse sind nicht durch die Akzeptanz-Struktur des Phronimos strukturiert gewesen.⁸¹

 Das Wort „Kontrolle“ könnte suggerieren, hierbei handele es sich um eine Tätigkeit und in diesem Sinne um eine eigene Handlung. So verstanden wäre das Wort „Kontrolle“ aber nur ein Beispiel dafür, wie Strukturen der Oberflächengrammatik jemandem, der sie in einem theoretisierenden Lichte betrachtet, unbemerkt eine bestimmte problematische philosophische Sichtweise aufdrängen (siehe Kapitel I). Der hier untersuchte Aspekt menschlichen Handelns könnte man dann möglicherweise besser mit dem Begriff „Kontrolliertheit“ bezeichnen. In diesem Sinne sollte hier dann auch „Kontrolle“ verstanden werden.  In einigen Teilen der philosophischen Handlungstheorie ist es bekanntlich üblich, mittels einer derartigen Unterscheidung Handlungen von Geschehnissen abzugrenzen. Eine solche Unterscheidung wird aber dann problematisch, wenn der Begriff der Handlung so ausbuchstabiert wird, dass er etwa voraussetzt, die Handlung müsse eine komplexe psychische Grundlage haben, um allererst eine Handlung sein zu können. Dann nämlich besteht die Gefahr, das Handeln im

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Damit wird ersichtlich, welch große Rolle die Umwelt für die Kontrolliertheit menschlichen Handelns spielt: Was der Phronimos tut, hängt zum einen von seiner Akzeptanz-Struktur ab, aber auch von den Affordanzen, die zugegen sind. Dass er geholfen hat, ist gewissermaßen sowohl durch die Präsenz der Person in Not wie durch die Beschaffenheit seiner Akzeptanz-Struktur strukturiert gewesen. In einem prekären Umfeld werden für den Phronimos mehr Affordanzen bestehen zu helfen, und in einem politisch engagierten Umfeld für den politisch Interessierten mehr Affordanzen, sich politisch zu engagieren, usw. Entscheidend ist aber vor allem, dass es durch die Akzeptanz-Struktur einer Person bestimmt ist, was für sie überhaupt erst Affordanzen sind. Für den überzeugten Nichtraucher, der für den Rauchgeruch nichts als Abscheu und Ekel übrig hat, ist eine herumliegende Zigarette nicht einmal eine Affordabilität. Für den nach Nikotin lechzenden Kettenraucher hingegen ist jedes in Sichtweite geratende Exemplar der qualmenden Stängel eine starke Affordanz. Aus interaktionistischer Sicht nun ist das Handeln beider Personen kontrolliert. Aber das Handeln ist nicht deshalb kontrolliert, weil der bewusste Wille der Personen einem Griff zur Zigartette im Einzelfall zugestimmt oder ihn abgelehnt hätte. Stattdessen ist das Handeln der beiden kontrolliert, weil die Art und Weise, wie sie jeweils ihre Umgebung erfahren und darauf reagieren, dadurch bestimmt ist, dass sie die Menschen sind, die sie sind.⁸² Nun gibt es auch den Fall, dass Menschen in ihrem Handeln mit allerlei Affordanzen konfrontiert werden, dass sie aber nur auf wenige Affordanzen tatsächlich reagieren. Ein zu einem wichtigen Termin Eilender kann etwa von Eisdiele, Bücherladen und Freunden am Wegesrand zum Verweilen eingeladen werden, und dennoch weiter seinem Ziel entgegen streben. Auch dieses Handeln ist kontrolliert, und auch dieses Handeln ist durch die Akzeptanz-Struktur der Person strukturiert. Im Rahmen der oben diskutierten Akzeptanz-Struktur-Modifikation werden hier die meisten Affordanzen, die für ein aktuelles Projekt nicht von Relevanz sind, geblockt. – Phänomenal nachvollziehbar wird dies vor allem Mittelreich zu übersehen, das zwischen Geschehnissen und (so verstandenen) Handlungen liegt. Neu an dem obigen Vorschlag ist also die Erinnerung daran, dass die Unterscheidung zwischen Geschehnissen und Handlungen irreführend sein kann und dass man die Grenze zwischen bloßen Geschehnissen und Handeln (nicht Handlungen) auch schon auf einer sehr niedrig-stufigen Ebene (ohne das Voraussetzen von Absichten, Bewusstsein, Reflexion, usw.) ziehen kann.  Dies erhellt zusätzlich, inwiefern der Interaktionismus der handlungstheoretischen Dichotomie von Aktiv und Passiv skeptisch gegenübersteht. Das gewöhnliche kontrollierte Handeln zumindest ist weder aktiv in dem Sinne, dass es durch eine eigene Kontroll-Handlung überwacht würde, noch ist es passiv in dem Sinne, dass der Handelnde bloß Spielball seiner Umgebung wäre. Stattdessen ist die Art und Weise, wie er auf Affordanzen reagiert, durch seine Akzeptanz-Struktur kontrolliert.

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anhand von Fällen, die mit Begriffen wie „Willensstärke“ und „Willensschwäche“ assoziiert werden können. Der nun in medizinischer Behandlung befindliche Kettenraucher sieht die Zigarette, spürt einen starken Drang sie zu ergreifen – reißt sich aber zusammen und blickt das Objekt seiner Begierde nur ein letztes Mal traurig an, bevor er sich mühsam abwendet. Hier kostet das Blocken einer starken Affordanz im Rahmen der Akzeptanz-Struktur-Modifikation so viel Energie, dass es phänomenal leicht nachvollziehbar wird.⁸³ Je komplexer nun die Akzeptanz-Struktur und die Akzeptanz-Struktur-Modifikation sind, desto kontrollierter ist ein Handeln. Genau genommen gibt es dabei zwei Möglichkeiten, wie ein Handeln kontrollierter sein kann als ein anderes. Erstens kann eine vollkommen wache und Energie-geladene Person jede Affordanz, die für ihr gegenwärtiges Projekt nicht relevant ist, blocken und in diesem Sinne fokussiert handeln. Damit handelt sie kontrollierter als etwa der Betrunkene, dem dies nicht mehr gelingt. Zweitens kann ein Mehr an Kontrolle auch darin bestehen, dass die Akzeptanz-Struktur des Handelnden bereits in der Vergangenheit sehr komplex ausgebildet worden ist, so dass nun feinkörnig auf relevante Affordanzen reagiert werden kann, während irrelevante Affordanzen (im genannten motivational-reizenden Sinne) gar nicht erst entstehen oder sehr leicht geblockt werden können. Im Gebiet der Etikette kann etwa der geborene Aristokrat spielend leicht und kontrollierter auf die Gegebenheiten des Sektempfangs reagieren als der hinzugekommene Aufsteiger, der nicht genau weiß, wie er sich hier verhalten soll.⁸⁴

 Die Rede von der Energie ist wörtlich gemeint, und soll, wie oben in einer Fußnote erwähnt, an psychologische Studien zu Willensstärke anschließen, die Willensstärke über aktuell vorhandene Energie in Form von Glucose im Blut verstehen.  Auch in dem zweiten Fall, in dem ein Mehr an Kontrolle vorliegt, kann man in Bezug auf einige Beispiele von einem Mehr an Willensstärke sprechen. So kann man etwa auch den überzeugten Nichtraucher und den Mönch, der sich pünktlich bei jedem Sonnenaufgang zum Gebet erhebt, als „willensstark“ bezeichnen. Allerdings fließt bei diesen Personen ihr Handeln solcherart aus ihrer jeweiligen Akzeptanz-Struktur, dass kaum Energie zur Blockung gegenläufiger Affordanzen benötigt wird. Weil sie als die Menschen, die sie sind, im entsprechenden Gebiet mit ihrer Umwelt harmonieren, fällt ihnen gelingendes Handeln leicht. Insofern unterscheiden sich ihre Fälle von dem Fall, in dem es viele starke gegenläufige Affordanzen gibt, deren Blockung mühsam ist. – Buddhistische Meditation nun könnte möglicherweise so verstanden werden, dass sie unter anderem die Rolle erfüllt, sich Klarheit über seine zunächst intransparente Akzeptanz-Struktur zu verschaffen, so dass sie nach und nach so verändert werden kann, dass man aus einer Haltung der Gelassenheit heraus auf Affordanzen reagiert. Teilweise wird zwar im Buddhismus davon gesprochen, ein Reagieren auf Umstände sei etwas Schlechtes (vgl. Goenka 1987, vgl. Hart 1987) – aber dies sollte, zumindest aus Sicht des Interaktionismus, so verstanden werden, dass nur bestimmte Reaktionsweisen, die durch negative Emotionen geleitet sind, das eigene Unglück befördern, während aus einer Haltung der Gelassenheit erfolgende Weisen des direkten Reagierens

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Einen aus interaktionistischer Sicht seltenen Ausnahmefall kontrollierten Handelns stellen Fälle dar, in denen tatsächlich explizit und bewusst über zukünftiges Handeln nachgedacht wird. Ein solches mentales Handeln wird aus interaktionistischer Sicht als mentale Simulation analysiert, als Interagieren mit bloß vorgestellten Affordanzen. Für den lebenspraktischen Handlungserfolg können solche mentale Simulationen von großem Nutzen sein. Der Bergsteiger kann sich vorstellen, wie er auf der rechten statt auf der linken Seite der Bergwand weiter klettert und dann keinen Halt mehr findet und umkehren muss.Vor diesem Hintergrund kann er direkt beginnen, die linke Seite des Felsens zu erklimmen. In diesem Sinne können mentale Simulationen helfen, schmerzhafte Erfahrungen zu ersparen, indem diese in der Simulation vorweggenommen und alternative Wege gesucht werden können. Dennoch gibt es aus interaktionistischer Sicht keinen Grund zu sagen, das mentale Handeln des Bergsteigers, das zu der Entscheidung geführt hat, auf der linken statt auf der rechten Seite der Bergwand weiter zu klettern, sei in einem stärkeren oder ganz anderen Sinne kontrolliert als das direkte Interagieren mit wirklichen Affordanzen. Aus Sicht des Interaktionismus findet schließlich das mentale Handeln der mentalen Simulation vor dem Hintergrund der Akzeptanz-Struktur der überlegenden Person statt. Und diese Akzeptanz-Struktur hat sich in der Vergangenheit durch viele Interaktionen mit Affordanzen ausgeprägt. In diesem Sinne ist es nichts anderes als der bisherige Weg eines Lebens in der Vergangenheit, der den Gang der Überlegung über die Zukunft bestimmt. Hat der Kletterer in der Vergangenheit bereits Passagen wie die rechte Seite der Felswand gemeistert, wird er diese Seite im Rahmen seiner mentalen Simulation als „gangbar“ wahrnehmen, und hat er mit derartigen Passagen bereits schlechte Erfahrungen gemacht, wird er sie als nicht gangbar ansehen. Für sein Wohlbefinden und seine Energie kann es dabei einen großen Unterschied machen, ob er das Interagieren mit der rechten Seite der Felswand tatsächlich ausübt oder es nur simuliert. Aber die Struktur des Handelns ist dieselbe, weil

auf Affordanzen durchaus gut und glücksfördernd sein können. Ganz in diesem Geiste steht die Strömung des Daoismus mit ihrer Konzeption des „wu wei“, des Nicht-Handelns (vgl. Bruya 2010b). Dabei sollte naturgemäß so gehandelt werden, dass man ohne eigene angestrengte Kontrolle leicht, direkt und intuitiv auf den Fluss der Dinge reagiert. Wiederum lehnt eine buddhistische Strömung hier ihren Worten nach ab, dass menschliches Handeln natürlicherweise kontrolliert ist – aber es sollte klar sein, dass der Daoismus trotz unterschiedlicher Redeweisen zentrale Gedanken mit dem Interaktionismus teilt: Denn der Daoismus scheint durchaus kompatibel damit zu sein, dass ein Handeln dadurch kontrolliert sein, dass die Akzeptanz-Struktur des Handelnden so ausgebildet worden ist, dass er nun direkt aus einer Haltung der Gelassenheit auf den Fluss der Dinge reagieren kann.

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jeweils vor dem Hintergrund der Akzeptanz-Struktur einer Person mit Affordanzen interagiert wird. In diesem Sinne liegt hier keine ganz andere Art der Kontrolle vor. Freilich schließt sich sofort die schwierige Frage an, wie der Interaktionismus dann denn so etwas wie Autonomie im menschlichen Handeln analysieren würde. Immerhin für Fragen der Verantwortlichkeit, so liegt es nahe anzunehmen, sei eine ganz besondere Art der Kontrolle verantwortlich. Der Einjährige, so könnte man denken, könne vor dem Hintergrund seiner Speisepräferenzen auf einen nicht für ihn bestimmten Keks reagieren, indem er ihn verspeise. Obwohl sein Handeln aus interaktionistischer Sicht durch seine Akzeptanz-Struktur strukturiert und damit kontrolliert gewesen sei, sei er für sein Handeln intuitiverweise nicht verantwortlich. Dagegen sei es intuitiv, davon ausgehen, dass der 21-Jährige, der auf denselben nicht für ihn bestimmten Keks reagiert, indem er ihn verspeist, durchaus verantwortlich sei, und zwar eben deshalb, weil er über eine Form der reflektierten Kontrolle über sein Handeln verfüge, die dem Einjährigen noch fehle. Weil diese Fragen den für jede Konzeption menschlichen Handelns essentiellen Themen-Kosmos der Verantwortlichkeit, Normativität, Rationalität und Zurechenbarkeit betreffen, werde ich auf ihn eigens im vierten Kapitel zurückkommen. Der Verweis auf mentale Simulationen hilft auch, folgenden Fall verständlich zu machen: Eine Person greift nach einem Stück Schokolade, öffnet den Mund … und denkt plötzlich an die Anweisung ihres Arztes, hält kurz inne, und legt das Stück Schokolade dann zurück, vielleicht mit ein wenig Stolz und ein wenig Bedauern im Blick. Zunächst könnte man denken, das Greifen nach dem Stück Schokolade sei etwas Unkontrolliertes und Triebhaftes, während die wahre Kontrolle gerade noch rechtzeitig einsetze, als die Süßigkeit schon unterwegs sei. Was aus interaktionistischer Sicht dagegen wirklich passiert, ist Folgendes: Vor dem Hintergrund der Akzeptanz-Struktur des behandlungsbedürftigen Schokoladenliebhabers ist das Stück Schokolade zugleich eine Affordanz, es zu verschlingen, als auch, sich der Anweisung des Arztes zu entsinnen. Dass im Rahmen einer mentalen Simulation an die Anweisung des Arztes gedacht wird, ist dann eine Affordanz, das Verschlingen der Schokolade zu stoppen. Für den kurzen Moment, in dem die Person innehält, kann sie von den verschiedenen Affordanzen hin- und hergerissen sein. Dann aber kann sie ihre Akzeptanzen so weit ins Reine bringen, dass sie das Stück zurücklegt – wenn auch mit Bedauern. Aus interaktionistischer Sicht siegt hier nicht die Kontrolle über die Triebe, sondern eine Affordanz über die andere.⁸⁵  Anders gesagt: Es könnte naheliegen, über derartige Fälle von Willensstärke und Willensschwäche in den platonischen bzw. aristotelischen Begriffen hierarisch geordneter Seelenteile zu denken: Entweder würden die niederen Triebe die höhere Vernunft übermannen oder die höhere Vernunft über die niederen Triebe triumphieren. Der Interaktionismus zeigt nun vor dem Hin-

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Schließlich sollte eine überzeugende Theorie der Kontrolle im menschlichen Handeln darauf eingehen, dass es oft hilfreich ist, so zu reden, als sei das Handeln dieser Menschen durch mentale Zustände mit propositionalem Gehalt geleitet, obwohl ihnen – wie oben verdeutlicht – ein solcher Gehalt während ihres Handelns oft nicht vor Augen steht und sie ihn oft auch auf Nachfrage nicht angeben können. Aus interaktionistischer Sicht sollte dieser Umstand ähnlich analysiert werden wie das Folgen sozialer Normen und anderer Regeln oben: Der entsprechende Gehalt ist tatsächlich nicht Teil der Kognition der Handelnden und nicht etwas, dass sie manipulieren würden.⁸⁶ Stattdessen dient – so der Vorschlag – eine Zuschreibung solchen Gehalts dazu, das gekonnte Handeln der Personen zu beschreiben.⁸⁷ Mit Stanley und Ginet kann dann etwa gesagt werden, dass es im Einzelfall hilfreich sein kann, einer Person, die unreflektiert eine Tür öffnet, zuzuschreiben, dass sie wisse, dass man die Tür öffnen könne, indem man die Türklinke herunterdrücke. Dass eine solche Zuschreibung hilfreich sein kann, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Interaktionismus insgesamt viele weitere und noch hilfreichere begriffliche Werkzeuge bereitstellt, um die kognitive Komponente gekonnten Handelns zu analysieren.⁸⁸ tergrund seiner begrifflichen Weichenstellungen eine alternative Möglichkeit auf, über jene Fälle nachzudenken. – Noch einmal anders gesagt: Fälle wie der geschilderte müssen nicht länger so analysiert werden, dass hier Konflikte zwischen Wünschen verschiedener Ebenen (etwa im Sinne Frankfurts) vorliegen; stattdessen können sie nun auch so verstanden werden, dass sich zwei prinzipiell gleichberechtigte Affordanzen gegenüberstehen.  Wie schon in Kapitel I, so sei auch hier darauf hingewiesen, dass sich die vorliegende Argumentation lediglich gegen eine bestimmte – etwa von Stanley und Fodor vertretene – Konzeption von der Rolle von Gehalt im Handeln richtet, was nicht ausschließt, dass ein Rekurs auf den Begriff des Gehalts in einem anderen Sinne auch im Rahmen des Interaktionismus hilfreich sein kann; einer dieser anderen Sinne wird im unmittelbar Folgenden kurz erläutert.  Wie beschrieben ist eine solche Zuschreibung dann auch in einem Sinne treffend: Sie trifft einen Aspekt des Handelns. Eine interaktionistische Analyse kann dabei treffender sein; und in jedem Fall ist die Zuschreibung in dem Sinne nicht treffend, in dem sie nahelegt, der Handelnde sei tatsächlich durch einen entsprechenden bewusstseinsfähigen mentalen Zustand geleitet worden.  Und nur nebenbei kann, wenn schon die Zuschreibung mentaler Zustände mit propositionalem Gehalt als nicht signifikantes, aber im Einzelfall hilfreiches begriffliches Werkzeug aufgefasst wird, darauf hingewiesen werden, dass gerade sogenannte „aliefs“ eine ähnliche Rolle übernehmen können, besonders wenn es um eine Analyse unreflektierten Handelns geht. Der Begriff eines aliefs ist von Tamar Szabó Gendler () als Gegenbegriff zum Begriff des beliefs, einer Überzeugung mit propositionalem Gehalt, geprägt worden. Aliefs sind dabei affektiv und verhaltensbezogen. Eine Person, die sich auf einem Glassteg hoch über dem Grand Canyon befindet, kann etwa den belief, die Überzeugung, haben, dass alles sicher sei – und zugleich kann sie sich unwohl fühlen und ein mulmiges Gefühl im Bauch haben. Laut Gendler sollte man dies damit analysieren, dass die Person zugleich einen alief der Form hat: „Really high up, long long way

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Insgesamt kann der Interaktionismus damit verständlich machen, wie auch unreflektiertes Handeln kontrolliert sein kann, wie dort nur eine, und nicht zwei verschiedene Arten der Kontrolle vorliegen, und inwiefern es erhellend sein kann, gekonntes Handeln so zu beschreiben, als sei es durch mentale Zustände mit propositionalem Gehalt geleitet, auch wenn die Handelnden derartige Gehalte oft auch auf Nachfrage nicht explizit machen können. Damit bietet der Interaktionismus auch hier bessere Erklärungen als seine dialektischen Gegenspieler.

d Bewusstsein Welche Rolle spielt Bewusstsein im Zustandekommen gekonnten Handelns? Auf der einen Seite wird über menschliches Handeln oft so gesprochen, als habe sich der Akteur bewusst entschieden, sein Handeln auf eine bestimmte Weise auszuführen, und es könnte naheliegen, derart bewusstes Handeln wenigstens als Paradigma menschlichen Wirkens in der Welt anzusehen. Auf der anderen Seite gibt es, wie oben ausgeführt, eine Vielzahl von Phänomenen und wissenschaftlichen Evidenzen dafür, dass Handeln unbewusst und dennoch gekonnt ablaufen kann (vgl. Bargh & Chartland 1999, Stanovich 2005, Wegner 2002). Eine überzeugende Theorie menschlichen Handelns sollte in Bezug auf die Rolle des Bewusstseins für das Zustandekommen gekonnten Handelns verständlich machen, dass es auch unbewusstes gekonntes Handeln geben kann. Beispiele sind das schnelle Herunterlaufen einer Treppe oder das sofortige Ausweichen in Millisekunden gewesen. Entsprechend sollte auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bewusst nur wenige Informationen gleichzeitig verarbeitet werden können (vgl. Wegner 2002). Zugleich sollte eine überzeugende Theorie berücksichtigen, dass Handeln oft mit einfachem Bewusstsein stattfindet und Menschen zumindest auf Nachfrage angeben können, was in etwa sie gerade getan haben. Außerdem scheint Bewusstsein zumindest in einigen Fällen mehr als etwas bloß Epi-Phänomenales zu sein, da Handeln zumindest in einigen Fällen die Konsequenz einer Entscheidung im Anschluss an eine bewusste Überlegung sein kann. Schließlich sollte eine überzeugende Theorie dem Umstand Rechnung tragen, dass Handelnde ihre Umwelt tatsächlich oft eher im Sinne praktischer

down. Not a safe place to be! Get off!!“ (Gendler : ). Ebenso kann eine Person, die einen Horrorfilm voller gruseliger Monster sieht, den belief, die Überzeugung haben, dass sie in Wirklichkeit in Sicherheit ist – und kann sich zugleich vor Angst im Sessel zusammenkauern. Laut Gendler sollte man dies damit analysieren, dass die Person zugleich einen alief der Form hat: „Dangerous two-eyed creature heading towards me! H-e-l-p…! Activate fight or flight adrenaline now!“ (Gendler : ).

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

Möglichkeiten und Kräfte wahrnehmen denn als bloß vorhandene materielle Objekte mit objektiven Eigenschaften. Der Interaktionismus in der Lage, begriffliche Weichenstellungen hin zu einer Theorie vorzunehmen, die all jene Anforderungen erfüllt. Die entscheidende begriffliche Weichenstellung des Interaktionismus besteht darin, dass er das bewusste Subjekt aus seiner handlungssteuernden Rolle entlässt. Die Fragen, warum die Umwelt eines Handelnden für ihn die Umwelt ist, die sie ist, und warum er auf sie reagiert, wie er reagiert, werden nun unter Rekurs auf die AkzeptanzStruktur des Handelnden beantwortet. Wenn aber ein bewusstes Subjekt keine Rolle mehr im Zustandekommen menschlichen Handelns spielen muss, dann wird gedanklicher Raum für die Möglichkeit gewonnen, zwischen den Fragen zu unterscheiden, wie erstens Handeln zustande kommt, und inwiefern zweitens Handeln bewusst ist. Anders als manch eine traditionelle Theorie ist der Interaktionismus nicht darauf verpflichtet, dort, wo Handeln vorliegt, auch Bewusstsein – oder zumindest Bewusstseinsfähigkeit – finden zu müssen. Zugleich konzipiert der Interaktionismus Bewusstsein nicht derart eng, wie es der Dreyfus’sche Anti-Intellektualismus tut, so dass die Abwesenheit von Bewusstsein in den meisten Fällen menschlichen Handelns nicht schon durch eine solche begriffliche Vorentscheidung präjudiziert wird. Seinen so neu gewonnenen gedanklichen Spielraum ausnutzend, lautet die Position des Interaktionismus zunächst, dass Bewusstsein und Bewusstseinsfähigkeit im gekonnten Handeln eine Rolle spielen können, aber nicht müssen. Als erstes kann der Interaktionismus Fälle gekonnten und unbewussten Handelns verständlich machen. Beispielsweise kann ein Fahrradfahrer, wenn plötzlich ein anderer Radfahrer direkt vor ihm bei höchster Geschwindigkeit abrupt bremst, so schnell innerhalb von Millisekunden ausweichen, dass er sich erst im Nachhinein seines Handelns bewusst wird. Eine unbewusst wahrgenommene missmutige Mimik einer anderen vorbeigehenden Person kann dazu führen, dass ein Handelnder die Person nicht anspricht, wie er es sonst getan hätte. Im Rahmen des Interaktionismus können diese Handlungsweisen problemlos als Interaktionen von Affordanz und Akzeptanz verständlich gemacht werden. Der abrupt bremsende Fahrradfahrer ist eine Affordanz auszuweichen, und der Handelnde kann direkt darauf reagieren, indem er ausweicht. Die unbewusst als missmutig wahrgenommene Person ist eine Affordanz, schnell weiter zu gehen, und der Handelnde kann direkt darauf reagieren, indem er schnell weiter geht. Für die gelingende Interaktion von Affordanz und Akzeptanz ist kein Bewusstsein erforderlich.⁸⁹

 Natürlich muss der Akteur die entsprechende Affordanz wahrnehmen, aber Wahrnehmung

2 Perspektiven des Interaktionismus

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Vieles gekonnte und unreflektierte Handeln kann aber auch zweitens in einem einfachen Sinne bewusst sein. Beispielsweise kann ein Akteur einen Nagel in die Wand schlagen und sich dabei sowohl des Nagels bewusst sein als auch auf Nachfrage problemlos explizit machen können, dass er gerade dabei ist, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Im Rahmen des Interaktionismus kann das Zu-

kann – so wird durch viel Evidenz nahegelegt – auch (in gewissem Sinne) unbewusst stattfinden (vgl. Bargh&Chartland , Wegner ). Christian Beyer hat mich dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, dass aus Husserl’scher Perspektive im menschlichen Handeln immer Bewusstsein vorliegen muss, wenigstens in Form einer dispositional zu verstehenden Bewusstseinsfähigkeit. Dieses Husserl’sche Bedenken ermöglicht es mir, meine Sichtweise näher zu erläutern. Es soll hier nicht darauf insistiert werden, dass Menschen nie, oder nur selten, mit Bewusstsein handeln, oder dass sie sich nie, oder nur selten, ihr Handeln zu Bewusstsein bringen können. Ob es gekonnte menschliche Reaktionsweisen auf Handlungsaufforderungen in ihrer Umwelt gibt, die nicht bewusst ablaufen und die auch nicht zu Bewusstsein gebracht werden können, ist letztlich eine empirisch zu entscheidende Frage, genau wie die Frage, wie verbreitet solche unbewussten Reaktionsweisen sind, wenn es sie denn gibt. Meines Erachtens sprechen die bisher vorliegenden empirischen Befunde allerdings eine eindeutige Sprache: Wie Menschen eine gekonnte Tätigkeit verrichten, ist ihnen oft nicht bewusst, und zwar derart, dass sie sich die Art und Weise dieser Verrichtungen auch nicht ohne Weiteres zu Bewusstsein bringen können. Man denke etwa an das Schnüren seiner Schnürsenkel, das Absteigen vom Fahrrad, oder das plötzliche Ausweichen vor einem abrupt bremsenden Verkehrsteilnehmer. Außerdem ist Menschen oft auch nicht bewusst, dass sie etwa auf ein Lächeln oder eine Gestik reagiert haben, und sie würden es mitunter auf Nachfrage sogar leugnen. Verwiesen sei ein in diesem Zusammenhang auf die Übersichten der sozialpsychologischen Forschung zum unbewussten Handeln in Bargh & Chartland 1999, Hassin et al. 2007 und Wegner 2002. Husserl scheint also mit seiner Hypothese, im menschlichen Verhalten müsse stets Bewusstsein oder zumindest Bewusstseinsfähigkeit vorliegen, eine empirisch zu entscheidende Wette eingegangen zu sein, die er allem Anschein nach zu verlieren droht. Aber der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist nicht, im Lichte der vielen empirischen Evidenzen eine empirische Wette auf das Gegenteil vorzunehmen. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, einen neuen begrifflichen Rahmen zu schaffen, der es ermöglicht, Handeln, Akteursschaft und Personalität auch dort erkennen zu können, wo kein Bewusstsein vorliegt. Ein Cartesianer oder ein Lockeianer (in Bezug auf Person-Sein) wird schon vor dem Hintergrund der begrifflichen Weichenstellungen seiner jeweiligen Theorie große Schwierigkeiten haben, die Phänomene unbewussten Handelns und unbewusster Akteursschaft auf den Begriff bringen zu können, da er durch seine Theorie gezwungen wird, Person-Sein, Handeln und Akteursschaft nur dort sehen zu können, wo Bewusstsein vorliegt. Der Cartesianer bzw. der Lockeianer muss also jeden Tag fürchten, dass das begriffliche Fundament seiner Theorie durch immer neue empirische Befunde bzgl. der Existenz unbewussten Handelns unterminiert wird – im Lichte von Phänomenologie und Kognitionswissenschaften anscheinend tatsächlich existierende Phänomene, für deren Existenz die Theorien des Cartesianers bzw. des Lockeianers aber nicht einmal mehr begrifflichen Raum lassen. Dagegen ermöglichen es die neuen begrifflichen Weichenstellungen des Interaktionismus, etwaige empirische Befunde bereits mit einem maßgeschneiderten begrifflichen System empfangen und ihnen gelassen entgegen sehen zu können.

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standekommens des Handelns als Interaktion von Affordanz und Akzeptanz verständlich gemacht. Für den Handelnden ist der Nagel eine Affordanz, ihn in die Wand zu schlagen, und er kann direkt darauf reagieren, indem er ihn in die Wand schlägt. Der Umstand, dass dem Handelnden das Handeln bewusst ist, spielt dagegen in der Erklärung des Handelns keine Rolle.⁹⁰ Insgesamt ist der Interaktionismus dabei mit den meisten Theorien des Bewusstseins kompatibel.⁹¹ Der Interaktionismus kann dabei auch die phänomenologische bzw. sozialpsychologische Einsicht einfangen, dass einem Handelnden seine Umwelt nicht als eine Ansammlung bloß vorhandener materieller Objekte erscheint, sondern so, als würden Reizungen und Motivationen von den Gegenständen ausgeübt, und als bestände die Umwelt aus einem Feld von Kräften. Aus Sicht des Interaktionismus kann der Handelnde hier die affektiv-motivationale Dimension des Aufforderungscharakters der Affordanzen erfahren. Schließlich kann der Interaktionismus aber auch dem Umstand Rechnung tragen, dass Bewusstsein mehr als etwas bloß Epi-Phänomenales sein kann, indem es zumindest in einigen Fällen eine Art kausalen Beitrag zur Genese menschlichen Handelns leistet.⁹² Dem Raucher kann ein Bild des Raucherbeins, das ihm sein Arzt gezeigt, lebhaft vor das geistige Auge treten, und diese bewusste Vorstellung bringt ihn dazu, die schon ergriffene Zigarette zurückzulegen. Der Bergsteiger kann sich vorstellen, wie er auf der rechten Seite der Felswand nicht weiter kommt, und dies kann zu seiner bewussten Entscheidung führen, auf der

 Hier ist ein Beispiel. Ryle (: ) charakterisiert gekonnt-kontrolliertes Handeln wie folgt: „The careful driver is not actually imagining or planning for all of the countless contingencies that might crop up; nor is he merely competent to recognise and cope with any one of them, if it should arise. He has not foreseen the runaway donkey, yet he is not unprepared for it. His readiness to cope with such emergencies would show itself in the operations he would perform, if they were to occur. But it also actually does show itself by the ways in which he converses and handles his controls even when nothing critical is taking place.“ Dem Fahrer können zwar wesentliche Teile der Situation auf der Straße bewusst sein. Aber entscheidend ist aus Sicht des Interaktionismus nicht, wie vieler Aspekte der Straße er sich bewusst ist – entscheidend ist, dass seine AkzeptanzStruktur so reichhaltig und komplex ausgestaltet ist, dass er in der Lage ist, auf viele der Affordanzen der Straße direkt situationsangemessen zu reagieren, ob nun bewusst oder unbewusst.  Diese Fragen können hier nicht weiter verfolgt werden, was aus interaktionistischer Sicht deshalb vertretbar ist, weil Bewusstsein als Thema im Interaktionismus auf der philosophischen Prioritätsordnung an Relevanz verliert, und weil es hier ohnehin nur primär um eine Analyse des Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion geht, für das höherstufige Formen von Bewusstsein keine Rolle spielen.  Insgesamt ist die Frage, ob Bewusstsein kausal effektiv sein kann, eine sehr schwierige – und möglicherweise schief gestellte – Frage, was unter anderem daran zu sehen ist, dass sich die meisten Beitragenden der Anthologie Does Consciousness Cause Behavior? (Pocket et al. ) schwer tun, sich zu einer eindeutig positiven Antwort durchzuringen.

2 Perspektiven des Interaktionismus

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linken Seite weiter zu klettern. In diesen Fällen liegt es nahe zu sagen, dass etwas Bewusstes kausal effektiv ist.Was hier aus interaktionistischer Sicht geschieht, ist, dass im Rahmen einer bewussten mentalen Simulation auf vorgestellte Affordanzen reagiert wird. Das bewusst vorgestellte Bild des Raucherbeins ist eine Affordanz, den Glimmstängel zurückzulegen. Das Scheitern des vorgestellten Interagierens mit den Affordanzen auf der rechten Seite der Felswand ist eine Affordanz für den Bergsteiger, nun die linke Seite zu erklimmen. Aus interaktionistischer Sicht ist auch eine bewusst vorgestellte Affordanz eine Affordanz, auf die direkt reagiert werden kann.⁹³ Somit wird ersichtlich, dass der Interaktionismus im Gegensatz zum Intellektualismus und zum Anti-Intellektualismus einige erste hilfreiche begriffliche Weichenstellungen vornehmen kann, die beginnen, den Boden für eine überzeugende Theorie der Rolle von Bewusstsein im Handeln zu bereiten. Insbesondere kann der Interaktionismus die Rolle unbewussten gekonnten Handelns ebenso erhellen wie den Umstand, dass Handelnde ihre Umwelt als aus praktischen Möglichkeiten und Kräften bestehend wahrnehmen können. Darüber hinaus lässt der Interaktionismus ebenso dafür Raum, dass einfaches Bewusstsein in gekonntem Handeln präsent sein kann, wie dafür, dass Bewusstsein mehr sein kann als ein Epi-Phänomen.

 Wie gesagt kann es an dieser Stelle nur darum gehen zu zeigen, dass sich für den Interaktionismus an dieser Stelle wichtige Probleme nicht stellen, denen sich Intellektualismus und AntiIntellektualismus ausgesetzt sehen müssen. Eine konstruktive und vertiefende Thematisierung von Bewusstsein, die sich an den Interaktionismus anschließen würde, könnte Bewusstsein etwa im Geiste Merleau-Pontys als einen Aspekt vieler menschlicher Handelnsweisen ansehen (Legrand ). Die in der vorherigen Fußnote angesprochene Frage, ob Bewusstsein kausal effektiv sein kann, wäre dann tatsächlich eine schief gestellte Frage, weil Bewusstsein ein Handeln nicht anstoßen könnte, sondern ein Aspekt des erfahrenen Handelns wäre. Eine andere konstruktive Möglichkeit, diese Thematik weiterzuverfolgen, wäre, einen neuen Begriff des Gewahrseins (oder auch des Bewusstseins) zu entwickeln. Beispielsweise kann schon ein aus wenigen Zellen bestehender Organismus treffend so beschrieben werden, dass er auf sehr komplexe Weise Affordanzen in seiner Umgebung wahrnehmen und darauf reagieren kann (so Michael Turvey in seinem Vortrag „Affordances: Toward an Ontology for all Organisms“). Hier liegt es nahe, mit Turvey einen neuen philosophischen Begriff des Gewahrseins (oder auch des Bewusstseins) von Affordanzen zu entwickeln, der ein Verfügen über Gehirn und Nervensystem nicht voraussetzt. Auf eine solche Weise könnte eine Konzeption der Sensitivität gegenüber der Umwelt entwickelt werden, die – von anthropozentrischen Vorurteilen befreit – für alle (beweglichen) Lebewesen gelten würde, und mittels derer zugleich auch zentrale Factetten menschlichen Handelns erhellt werden könnten.

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e Sprache Welche Rolle spielt Sprache in gekonntem und unreflektiertem Handeln? Auf den ersten Blick scheint Sprechen eine komplexe und hochstufige Angelegenheit zu sein; immerhin ist es naheliegend anzunehmen, dass Sprechende in ihrem Sprechen grammatische Regeln anwenden, dass sie sich jeweils entschieden haben, mit einem bestimmten Wort nun dies und nicht das zu meinen, und dass ihr Gesprächspartner dann interpretieren muss, was ihm zu verstehen gegeben werden soll. Allerdings wird auf den zweiten Blick ersichtlich, dass Menschen grammatische Regeln nicht bewusst anwenden, dass sie nur in den seltensten Fällen eine tatsächliche, Zeit und Bewusstsein erfordernde Entscheidung treffen, mit einem Wort etwas Bestimmtes zu meinen, und dass sie ihren Gesprächspartner zumindest in den meisten Fällen direkt verstehen können, ohne erst in einen Interpretationsprozess einzutreten. Im Angesicht einer Situation äußern Handelnde oft ohne vorherige Überlegung Worte, die der Situation dennoch sehr angemessen sein können, und für ihren Gesprächspartner kann die Äußerung dieser Worte direkt ein Anlass sein, etwas zu tun, ohne dass es diesbezüglich eines eigenen Nachdenkens bedürfte. Eine überzeugende Theorie menschlichen Handelns sollte dieses unreflektierte Umgehen mit Worten verständlich machen können. Zugleich sollte eine überzeugende Theorie den Dreyfus’schen Fehler vermeiden, den Menschen in eine niederstufige, nicht-sprachliche, und eine hochstufige, sprachliche Schicht aufzuspalten – wie gesehen kann Sprache nicht nur auch in vermeintlich niederstufigem Handeln eine Rolle spielen, die Zweiteilung des menschlichen Geistes führt zudem nur dazu, dass die beiden Schichten, einmal getrennt, am Ende nicht wieder zusammengefügt werden können. Darüber hinaus gilt es für eine überzeugende Theorie des menschlichen Umgehens mit Sprache ebenfalls zu beachten, dass das Handeln erwachsener Menschen in Kontinuität zu dem Handeln von Tieren und kleinen Kindern steht. In diesem Kontext sollte auch begrifflicher Raum für die Möglichkeit geschaffen werden, dass etwa bestimmten Tieren, die auf stark strukturierte Weise auf ihre Umwelt reagieren, so etwas wie der Besitz nicht-sprachlicher Begriffe zugesprochen werden kann. Schließlich gilt es dem Phänomen Rechnung zu tragen, dass manche Menschen auf Nachfrage, was sie gerade dabei sind zu tun, eine sehr feinkörnige und genaue Antwort geben können, dass manche nur in der Lage sind, etwas sehr Allgemeines zu sagen, und dass schließlich wieder andere in bestimmten Situationen überhaupt nicht in der Lage sein können, ihr gekonntes Tun in irgendeiner ernstzunehmenden Weise auf den Begriff zu bringen. Wie oben ausgeführt, stehen Intellektualismus und Anti-Intellektualismus auf verschiedene Weise vor Problemen, diesen Anforderungen Rechnung zu tra-

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gen. Der Anti-Intellektualist Hubert Dreyfus spaltet den Menschen in zwei verschiedene Bestandteile, einen sprachlichen und einen nicht-sprachlichen. Damit reißt er wie gesehen eine Kluft auf, die er hinterher nicht mehr überbrücken kann. Als Gewährsmann für den Intellektualismus habe ich oben Jason Stanley ausgewählt, weil er seine Position besonders pointiert und klar formuliert. Für den Zweck der Abgrenzung an dieser Stelle kann es aber hilfreicher sein, den Interaktionismus von der Position eines anderen Intellektualisten abzugrenzen, nämlich derjenigen John McDowells. McDowell setzt der Dreyfus’schen ZweiSpaltung des Menschen eine andere Sichtweise entgegen: Er schlägt nämlich vor, dass der Erwerb sprachlicher Fähigkeiten durch erwachsene Menschen zu einer vollständigen Transformation ihres Wahrnehmens und Handelns führt.⁹⁴ Einmal in begriffliche Fähigkeiten eingeweiht, ist das gesamte Wahrnehmen und Handeln ein anderes geworden. McDowell würde sich dabei so ausdrücken, dass Wahrnehmen und Handeln nun durch und durch sprachlich ist. Damit gelingt es McDowell im Gegensatz zu Dreyfus, auch einen über Sprache verfügenden Menschen als einheitlich zu konzipieren. Allerdings reißt McDowell dabei zugleich eine neue Kluft auf, und zwar nun zwischen erwachsenen Menschen auf der einen Seite und kleinen Kindern und Tieren auf der anderen Seite. Auch hier droht die Gefahr, durch begriffliche Vorentscheidungen eine Kluft zu schaffen, die hinterher nicht überbrückt werden kann, auch wenn es sich nun um eine ganz andere Art von Kluft handelt. Ein Problem dieser Kluft ist, dass sie zu der Annahme führt, ein älteres Kind, dass bereits in die Sprache eingeweiht worden ist, sei eine ganz andere Art von Wesen als ein etwas jüngeres Kind, dass eine entsprechende Einweihung noch nicht erfahren hat. Dabei macht McDowell nirgendwo verständlich, wie diese vermeintlicherweise so entscheidende Art der Transformation vonstatten gehen soll. Hubert Dreyfus hat darüber hinaus auf eine große Klasse von Fällen hingewiesen, in der die Erfahrung des Handelnden nicht so beschaffen ist, dass der Handelnde sie auf Nachfrage sprachlich explizit machen kann; die

 Genau genommen spricht McDowell vom Erwerb begrifflicher Fähigkeit, wobei McDowell (a) seine Position zuletzt dahingehend ausbuchstabiert hat, dass etwas schon dann begrifflich ist, wenn es nur der Möglichkeit nach sprachlich spezifiziert werden kann. Selbst die Erfahrung eines Wein-Geschmacks ist laut McDowell (sowohl in der alten auch der neuen Variante seiner Theorie) begrifflich,weil der Verköstigte prinzipiell in der Lage ist, sich zumindest für einige Sekunden den Geschmack des Weines zu merken, ihn zu benennen und ihn mit dem Geschmack anderer Weine zu vergleichen (vgl. McDowell  und McDowell a). Die Erfahrung einer „neuen“ Farbe verdankt sich dann der Arbeit begrifflicher Fähigkeiten, wenn es dem Erfahrenden möglich ist, die Farbe mit einem (neuen) sprachlichen Begriff zu spezifizieren (laut McDowell reichte schon eine Benennung der Art „diese neue Farbe dort“). Im Hintergrund steht der Kantische Gedanke, dass Erfahrung eine kategoriale Form hat und haben muss.

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Idee einer vollständigen Transformation kann nicht aufrecht erhalten werden.⁹⁵ Was sich damit ergibt, ist Folgendes: Eine gelungene philosophische Konzeption des menschlichen Umgangs mit Sprache sollte jede Art von Kluft vermeiden. Anders als in Dreyfus’ Sichtweise sollte nicht der eine Teil des Menschen vom anderen abgespalten werden. Und anders als in McDowells Sichtweise sollte nicht der erwachsene Mensch vom kleinen Kind und dem Rest der Tierwelt abgespalten werden. Gefordert ist also eine Konzeption, die weder ein Transformations- noch ein Schichten-Modell ist. Gefordert ist eine Konzeption, die den Gedanken einer vollständigen Transformation vermeidet, die dabei aber den Menschen einheitlich konzipiert und entsprechend eine einheitliche Erklärung für menschliches Handeln liefert, ob dort mit Sprache umgegangen wird oder nicht. Genau dies kann der Interaktionismus leisten. Sprachliche Begriffe können nämlich aus Sicht des Interaktionismus so verstanden werden, dass sie Sprecher und Hörer ein ganzes Bündel an Affordanzen bieten. Die handlungstheoretische Grundstruktur des Umgangs mit sprachlichen Begriffen ist grundsätzlich dieselbe wie etwa die des Umgangs mit Nutzgegenständen.⁹⁶ Sprachliche Begriffe transformieren nicht das gesamte menschliche Handeln, sondern sie treten als sprachliche Affordanzen gleichberechtigt neben die nicht-sprachlichen Affordanzen, so dass diese durch jene ergänzt und bereichert, aber nicht grundlegend verändert werden. Das zumindest ist der interaktionistische Vorschlag für eine zentrale begriffliche Weichenstellung, um aus der genannten theoretischen Schwierigkeit zu entkommen, um den eingangs angeführten Anforderungen an eine gelungene Konzeption sprachlichen Handelns zu entsprechen, und um dabei

 McDowell (: ) schreibt in seinem jüngsten Beitrag zu seiner Debatte mit Dreyfus, bezugnehmend auf eines von Dreyfus’ Beispielen, das Beispiel sei „not a counterinstance to the pervasiveness thesis, but falls outside ist scope“. (Die pervasiveness thesis besagt: „rational mindedness pervades the lives of the rational animals we are, informing in particular our perceptual experience and our exercises of agency“ (S. ).) Vielleicht gegen McDowells Absichten, aber der Sache angemessen, kann man nun sagen, dass McDowell Dreyfus hier in einem wichtigen Sinne recht gibt. An der Stelle der Diskussion, aus der das Zitat stammt, bezieht sich die „pervasiveness thesis“ nicht auf Sprache, sondern auf praktisches Selbst-Wissen; dennoch wird deutlich, dass McDowell einsieht, dass seine Konzeption des durch begriffliche Fähigkeiten geleiteten Handelns am Ende auf wenigstens einige Phänomen-Bereiche nicht zutrifft. Selbst wenn diese Phänomen-Bereiche sehr klein wären (was, wie aus dem bisher Ausgeführten hervorgehen sollte, nicht stimmt), ergäbe sich für McDowell ein neues Problem: Er würde auf einmal von zwei verschiedenen Typen menschlichen Handelns ausgehen, einem, der transformiert wird und der innerhalb der Reichweite der „pervasiveness thesis“ liegt, und einem, der nicht transformiert wird und der außerhalb der „pervasiveness thesis“ liegt. Und dann winkte McDowell eine nur allzu unwillkommene Konsequenz: Ein Dreyfus’scher Dualismus.  In Sein und Zeit spielt Heidegger ebenfalls mit diesem Gedanken,vgl. Heidegger , § und S.  und S. ; vgl. aber S. .

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die Phänomene des menschlichen Umgangs mit sprachlichen Begriffen zu erhellen. Diese Kernidee der interaktionistischen Sprachkonzeption kann leicht an einem Beispiel erläutert werden. Ein großes Feuer im Wald kann für einen nichtsprachlichen Höhlenmenschen eine Affordanz sein zu fliehen. Auf diese Affordanz kann er direkt reagieren, indem er flieht. Als Lagerfeuer domestizierte Flammen vor dem Höhleneingang dagegen können für den Höhlenmenschen eine Affordanz sein, näher zu treten und sich zu wärmen.⁹⁷ Angenommen nun, die Höhlenmenschen entwickeln im Laufe der Zeit etwas, das man als den „sprachlichen Begriff des Feuers“ bezeichnen könnte. Dann kann ein großes Feuer im Wald für einen Höhlenmenschen nicht nur eine Affordanz sein zu fliehen. Es kann zugleich eine Affordanz sein, mit größtem Nachdruck zu brüllen: „Feuer!!!“. Reagiert er auf die Affordanz des Feuers in dieser Weise, dann kann sein Ausruf wiederum für seine anwesenden Stammesgenossen, die das Feuer noch nicht bemerkt hatten, eine Affordanz sein, nämlich etwa die Affordanz, umgehend zu fliehen. Ein Stamm, der über den sprachlichen Begriff des Feuers verfügt, wird entsprechend Waldbrände besser überleben als ein Stamm, dem sich mangels dieses sprachlichen Begriffs weniger Handlungsmöglichkeiten bieten. Steht nun der Häuptling des Höhlenmenschen-Stammes des Abends frierend vor der Höhle, dann kann diese Situation für ihn auch ein Anlass sein, auf die ungenutzte Feuerstätte zu zeigen und in gebietendem Tonfall und mit strengem Blick zu sagen: „Feuer!“. Im Kontext dieser Situation, in diesem Tonfall geäußert von dieser Person zu dieser kalten Stunde, wird die Äußerung des Wortes für die anderen, ihm untergebenen Höhlenmenschen jedoch keine Affordanz sein zu fliehen. Stattdessen wird es ihnen eine Affordanz sein, damit zu beginnen, Steine aneinanderzuschlagen, um ein Lagerfeuer zu entfachen. Kurz gesagt kann es Affordanzen geben, sprachliche Begriffe zu äußern, und die Äußerungen sprachlicher Begriffe können Affordanzen sein, etwas zu tun. Dabei kann dieses Tun sowohl mit einer Bewegung der Beine zu tun haben als auch mit einer Bewegung der Lippen, indem auf eine Äußerung mit einer anderen Äußerung reagiert wird. Sprache ist aus interaktionistischer Sicht ein Handeln, das im Umgehen mit Äußerungen besteht, nicht ein formales Zeichensystem zur inneren Widerspieglung des Aufbaus einer äußeren Welt.⁹⁸ Paradigma ist eine Aufforderung wie „Duck dich!“, nicht eine Aussage wie „Die Katze sitzt auf der Matte“.⁹⁹

 Vgl. Husserls :  über die Affordanz von Kohle.  Die Aussage „Sprache ist Handeln“ ist natürlich keine ungenaue Ausdruckweise für die Plattitüde „Sprechen ist Handeln“, sondern soll ausdrücken, dass es aus interaktionistischer Sicht am fruchtbarsten und philosophisch erhellendsten ist, die Natur der Sprache im Handeln zu suchen. – In einem Sinne ist es naheliegend zu denken, dass Sprache so etwas wie eine reprä-

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Von dieser Kernidee ausgehend kann der Interaktionismus zentrale Facetten des Umgehens mit Begriffen verständlich machen. Zunächst kann der Interaktionismus die Natur sprachlicher Begriffe auf neue Weise erhellen, indem er die Gemeinsamkeiten zwischen sprachlichen Begriffen und anderen Dingen, die im Handeln eine Rolle spielen, hervorhebt. Mit dem, was man als „eine Wasserflasche“ bezeichnen kann, kann man viele Dinge machen: Die Wasserflasche kann etwa eine Aufforderung sein, daraus zu trinken, damit die Blumen zu gießen, sie sich an einem heißen Tag über den Kopf zu gießen, mit ihr den Kuchenteig auszurollen, usw. Verschiedene Situationen können den Handelnden auffordern, zur Wasserflasche zu greifen, und er kann auf verschiedene Weise mit der Wasserflasche auf die Erfordernisse der Situation reagieren. Zu was die Wasserflasche einen Handelnden im Einzelfall auffordert und wie er darauf reagiert, ermisst sich anhand der Beschaffenheit seiner Akzeptanz-Struktur und der jeweiligen konkreten Situation. Ist der Handelnde z. B. gerade sehr durstig, wird die Wasserflasche für ihn eine Affordanz sein, aus ihr zu trinken. Ganz analog verhält es sich aus Sicht des Interaktionismus mit sprachlichen Begriffen, oder dem, was der Interaktionismus darunter zu verstehen vorschlägt. In erster Näherung ist ein Begriff aus interaktionistischer Sicht der Type aller konkreten Lautfolgen, die den Begriff instanziieren, und dabei aus handlungstheoretischer Sicht das Bündel von Affordabilitäten, die er bietet. Der Begriff des Feuers ist vor diesem Hintergrund

sentationale Struktur habe, mittels der etwa den Daheimgebliebenen auf Wahrheits-getreue Weise von den Landschaften in Japan berichtet werden könne. Natürlich soll hier nicht das, was an diesem Gedanken richtig ist, geleugnet werden; der Vorschlag ist nur, Sprache andersherum vom Paradigma des Handelns aus und nicht vom Paradigma des Repräsentierens aus zu untersuchen. Die Frage, wie man von einem einfachen Umgehen mit Sprache zu einem komplexen gelangen kann, muss ohnehin im Kontext der Frage nach der Sprachentstehung beantwortet werden. Der interaktionistische Vorschlag lautet dann, dass eine Beantwortung der Frage nach der Sprachentstehung und -entwicklung aus philosophischer Sicht nicht als etwas „bloß“ Genetisches abgetan werden sollte, sondern dass die Antwort auf diese Frage so verstanden werden sollte, dass sie zeigt, wie eine komplexe Sprache im Grunde eine Erweiterung derjenigen grundlegenden Bausteine menschlichen Handelns ist, die der Interaktionismus schon in anderen Kontexten freigelegt hat. Ich werde auf diesen Punkt auch noch einmal zurückkommen.  Am raffinertesten drückt dies freilich Wittgenstein in § der Philosophischen Untersuchungen aus,wo er ein Sprachspiel beschreibt, in dem Worte wie „Säule“, „Platte“ und „Balken“,von denen man denken könnte, sie dienten allein beschreibenden Zwecken, tatsächlich dadurch ausgezeichnet sind, dass sie Handlungs-auffordernden Charakter besitzen. (Natürlich charakterisiert Wittgenstein die Sprache des § als „primitiv“. Aber Wittgenstein kann, so schlage ich zumindest vor, so verstanden werden, dass sein Beispiel des Kaufmanns in § einen aus seiner Sicht paradigmatischen Umgang mit Sprache beschreibt („So, und ähnlich, operiert man mit Worten.“), und dass er in den Abschnitten im Anschluss an § das Beispiel des § nach und nach ergänzt, um zur Sichtweise des § zu gelangen (vgl. z. B. §§, )).

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der Type aller Äußerungen von „Feuer“, und er ist dadurch charakterisiert, welche Affordabilitäten er bietet. Auf ein Feuer im Wald etwa kann mit dem Ausruf „Feuer!“ reagiert werden, um anderen einen Anlass zu geben zu fliehen. Auf eine kalte Feuerstätte kann mit „Feuer!“ reagiert werden, um anderen einen Anlass zu geben, ein Lagerfeuer zu entfachen. Und auf das in Sichtweite kommende feindliche Schiff kann mit „Feuer!“ reagiert werden, um seine Matrosen dazu zu bringen, die Kanonen abzufeuern. Wie die Wasserflasche, so ist auch der Begriff des Feuers dadurch charakterisiert, dass er all diese Handlungsmöglichkeiten bietet. Ähnlich wie im Falle der Wasserflasche ermisst sich die Frage, wie mit welchem Begriff auf eine Situation reagiert wird, und wie auf die Äußerung dieses Begriffes reagiert wird, an den Akzeptanz-Strukturen der Handelnden und an der konkreten Situation. Die Kälte vor dem Höhleneingang kann für den Häuptling direkt eine Affordanz sein, „Feuer!“ zu sagen, und genau so wenig, wie er entscheiden muss, in welchem Sinne er denn nun „Feuer!“ meint, müssen seine Stammesmitglieder überlegen, wie sie ihn nun verstehen sollen.¹⁰⁰ Anders als im Falle im Falle der Wasserflasche ist aber im Falle der Begriffe die intersubjektive Dimension wichtig, so dass eine Äußerung eines Begriffs auch wirklich für andere eine Affordanz ist, etwas zu tun. Wenn es jeder andere abartig fände, mit einer Wasserflasche Blumen zu gießen, dann ist dies für den Handlungserfolg nicht entscheidend; wenn es aber die Matrosen abartig fänden, auf „Feuer!“ mit dem Abfeuern der Kanonen zu reagieren, dann wird dem Schiff kein langes Leben in der Seeschlacht beschert sein. Der Umstand, dass die Sprecher alle auf die im wesentlichen gleiche Weise auf die Äußerung eines Begriffs in einem Kontext reagieren, kann, sehr grob gesagt, dadurch verständlich gemacht werden, dass sie von vornherein dieselbe menschliche Natur teilen (d. h. über eine ähnliche Akzeptanz-Struktur verfügen), und dass sie sich im Verlaufe vergangener Interaktionen wechselseitig synchronisiert haben.¹⁰¹ Nicht angenommen werden muss dagegen, dass es so etwas wie Bedeutungen in einem Fregischen dritten Reich

 Natürlich ist es aus interaktionistischer Sicht immer noch eine hervorragende Frage, wie genau die „Auswahl“ einer Affordanz funktioniert. Entscheidend ist aber, dass „etwas meinen“ und „etwas verstehen“ im Interaktionismus nicht mehr als Leistungen eines Subjekts verstanden werden (auch wenn im Rahmen alltäglicher Handlungs-Geschichten so geredet wird, vgl. Kapitel IV unten).  Die Frage, wie ein Zeichen für einen Handelnden bedeutsam sein kann, kann der Interaktionismus daher im Kern so beantworten, dass das Zeichen für den Handelnden auf dieselbe Weise bedeutsam ist wie gewöhnliche Gebrauchsgegenstände – es bietet dem Akteur Affordanzen. Die Frage, warum es dem Akteur die Affordanzen bietet, die es ihm bietet, kann dann mit Rekurs auf vergangene Interaktionen beantwortet werden – d. h. unter Rekurs auf das apriorische Perfekt der Akzeptanz-Struktur und das apriorische Plusquamperfekt der Affordanzen.

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gibt, die von allen Sprechern gleichermaßen erfasst würden.¹⁰² Und ebenfalls muss schließlich nicht angenommen werden, sprachliche Zeichen seien bloß zufällige, sinnliche Hülsen für Bedeutungen, die als platonische Entitäten jenseits der sinnlichen Welt angesiedelt seien.¹⁰³ Was wirklich bedeutsam ist, ist aus interaktionistischer Sicht das konkrete Zeichen oder die konkrete Äußerung selbst, und zwar, weil sie für einen Handelnden in eben der konkreten Situation Affordanzen sind, etwas Bestimmtes zu tun. Nun kann man die Frage stellen, warum denn ein Begriff, geäußert in einer bestimmten Situation, für einen Akteur eine Affordanz ist, etwas zu tun. Und die nächstliegende Antwort des Interaktionismus lautet, dass die Äußerung eines Begriffs deshalb eine Affordanz ist, weil eine entsprechende Akzeptanz vorliegt. So allzu naheliegend diese Antwort nun ist, so sehr hilft sie doch zugleich, um etwas Wichtiges zu sehen. Mit „Begriff“ nämlich kann einerseits (wie bisher) etwas gemeint sein, mit dem man ähnlich wie mit einem Werkzeug umgehen kann. Der Begriff „Feuer“ ist als sprachliches Zeichen oder als einzelne Äußerung „weltlich real“ – quasi „ein Ding in der Welt“ –, und etwa mit diesem Zeichen kann ein Handelnder etwas anfangen oder nicht. Andererseits kann mit „Begriff“ aber auch die kognitive „Fähigkeit“ gemeint sein, die es einem Akteur erlaubt, mit einem sprachlichen Zeichen oder einer konkreten Äußerung etwas anzufangen und mit ihnen umzugehen. Verfügt einer der Höhlenmenschen noch nicht über den Begriff des Feuers, im Sinne der kognitiven Fähigkeit, dann kann er mit dem Begriff „Feuer“, im Sinne der weltlichen Realität, in der Äußerung des Häuptlings nichts anfangen.¹⁰⁴ Der Interaktionismus nun kann diesen wichtigen Unterschied leicht einfangen: Begriffe im Sinne der weltlichen Realität zeichnen sich dadurch aus, dass sie (Bündel von) Affordabilitäten sind. Begriffe im Sinne der kognitiven Fähigkeiten, durch die das Umgehen mit Begriffen im Sinne der weltlichen Realisation ermöglicht wird, sind Akzeptabilitäten. Der Einfachheit halber kann hier

 Genauer gesagt kann es für bestimmte Zwecke hilfreich sein, so zu reden, als hätten alle Sprecher eine gemeinsame Bedeutung aus einem dritten Reich erfasst. Dabei muss man sich aus interaktionistischer Sicht aber gewahr sein, dass dies die kognitive Komponente menschlichen Handelns nur sehr grob trifft, und dass auf diese Weise keine tiefere Analyse übereinstimmenden sprachlichen Verhaltens geliefert wird.  Vgl. die Unterscheidung von Symbol und Zeichen in Wittgensteins Tractatus, auch wenn Symbole dort nicht platonistisch verstanden werden.  Verfügt der Höhlenmensch ansonsten über gar keine Begriffe (im Sinne der kognitiven Fähigkeiten), dann wird für ihn völlig unverständlich sein, warum der Häuptling vor dem Höhleneingang ständig merkwürdige Laute von sich gibt. Verfügt der Höhlenmensch ansonsten schon über viele Begriffe (im Sinne der kognitiven Fähigkeiten), dann wird er zumindest erkennen, dass der Häuptling einen Begriff (im Sinne der weltlichen Konkretion) verwendet, den er, der Höhlenmensch, noch nicht beherrscht.

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von „Begriffs-Affordabilitäten“ und „Begriffs-Akzeptabilitäten“ gesprochen werden. Beispielsweise verfügt eine Person, für die eine panische Äußerung „Feuer!“ im Wald eine Begriffs-Affordanz zu fliehen ist, über die entsprechende BegriffsAkzeptanz. Dennoch kann es sein, dass dieselbe Person nicht versteht, warum der Häuptling selbst bei großer Kälte vor dem Höhleneingang verharrt und immer wieder „Feuer!“ ruft, obwohl doch augenscheinlich keine Gefahr droht. Eine solche Person hätte nicht alle Affordabilitäten gemeistert, die der Begriff „Feuer“ bietet; es fehlte ihr an der Begriff-Akzeptabilität, vermöge der die Äußerung „Feuer!“ durch den Häuptling eine Begriffs-Affordanz für sie wäre, ein Lagerfeuer zu entfachen. Vor diesem Hintergrund kann der Interaktionismus verständlich machen, wie sprachliche Begriffe (im Sinne der Begriffs-Akzeptabilitäten) die Wahrnehmung derer verändern kann, die über sie verfügen. Für den nicht-sprachlichen Höhlenmenschen ist ein Feuer im Wald bloß eine Affordanz zu fliehen. Dem Höhlenmenschen aber, der über die Begriffs-Akzeptabilität des Feuers (im Kontext von Waldbränden) verfügt, bieten sich nicht nur mehr Handlungsmöglichkeiten. Auch das Feuer selbst kann für ihn ein anderes werden. So ist es nun beispielsweise nicht nur eine Affordanz für ihn zu fliehen, sondern auch „Feuer!“ auszurufen. Im Fall des Feuers mag der Unterschied noch marginal sein, aber im Falle komplexerer Begriffe kann der Unterschied größer werden; eine Person kann dann ihre Umwelt teilweise mit neuen Augen sehen. Somit kann der Interaktionismus verständlich machen, dass Sprache nicht nur etwas ist, mit dem umgegangen wird, sondern auch etwas, das einen entscheidenden Beitrag dazu leistet, wie Menschen ihre Umwelt erscheint.¹⁰⁵ Zugleich kann der Interaktionismus verständlich machen, dass der Erwerb sprachlicher Begriffe (im Sinne von Begriffs-Akzeptabilitäten) nicht zu einer vollständigen Transformation der Strukturen menschlichen Wahrnehmens und Handelns führt. Viele Bereiche menschlichen Handelns können demnach durch den Erwerb von Begriffs-Akzeptabilitäten unbeeinflusst bleiben. Eine Lücke  Besonders in Bezug auf Nachdenken im Rahmen mentaler Simulationen kann das Verfügen über Begriffs-Affordanzen und Begriffs-Akzeptanzen einen entscheidenden Einfluss haben. Laut Interaktionismus ist aber auch nicht-sprachliches Denken möglich, indem im Rahmen mentaler Simulationen mit vorgestellten nicht-sprachlichen Affordanzen interagiert wird. – Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte noch einmal deutlich gemacht werden,was der an dieser Stelle der wirklich entscheidende philosophische Punkt ist: Der Punkt ist, begrifflichen Raum für eine Konzeption von Sprache zu eröffnen, die weder ein Transformations- noch ein Schichtenmodell ist. Entsprechend gilt es einzufangen, was am Gedanken einer Transformation richtig ist, dabei aber keine fundamentale Kluft zu nicht-sprachlichen Wesen aufkommen zu lassen, und zugleich die Kontinuität von sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhaltensweisen einzufangen. Dies ist die Aufgabe, in deren Kontext die vorliegende Passage steht.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

zwischen zwei Bäumen im dichten Wald kann für Mensch und Bär (sagen wir) gleichermaßen eine Affordanz sein hindurchzuschlüpfen, ganz unabhängig vom Verfügen über Begriffs-Akzeptabilitäten. Vor allem Dreyfus’ Beispiele aus dem Bereich des körperlichen Handelns und insbesondere des Sports sind an dieser Stelle anzusiedeln. Zudem kann der Interaktionismus Raum für die Existenz nicht-sprachlicher Begriffe lassen. Eine wichtige Motivation zur Annahme der Existenz nichtsprachlicher Begriffe ist, dass Tiere, Kinder und erwachsene Menschen in nichtsprachlichen Bereichen auf stark strukturierte Weise auf die Gegebenheiten ihrer Umwelt reagieren können, ohne dabei jedoch auf sprachliche Begriffe zurückgreifen zu können. Der Interaktionismus nun verfügt bereits über eine Konzeption, die mit dem Begriff eines nicht-sprachlichen Begriffs getroffen wird: Nämlich die Konzeption der Akzeptanzen.Wenn für jemanden – ob Mensch, ob Tier – ein Feuer regelmäßig eine Affordanz ist zu fliehen, dann liegt dies darin begründet, dass die Kreatur regelmäßig über die entsprechende Akzeptanz verfügt. Man kann diese nicht-sprachliche, kognitive Ermöglichungsbedingung strukturierten Umgehens mit den Gegebenheiten der Welt als „nicht sprachlichen Begriff“ bezeichnen, muss es aber aus interaktionistischer Sicht nicht tun, da mit dem Begriff der Akzeptabilität bereits ein begriffliches Werkzeug besteht, um dieselben Hintergrund-Bedingungen strukturierten Handelns sprachlich in den Vordergrund rücken zu können.¹⁰⁶ In methodologischer Hinsicht ist der Interaktionismus im Geiste Wittgensteins ein „Bottom-Up-Approach“ der bei klaren und einfachen Formen menschlichen Umgehens mit Sprache beginnt und dann seinen Weg empor arbeitet, hin zu immer komplexeren Gebrauchsweisen ursprünglich einfacher Worte.¹⁰⁷ Verständlich machen konnte der Interaktionismus bisher den Umgang mit einem Begriff wie „Feuer!“. Aber von diesem schmucklosen, einfachen Pa-

 Anzumerken ist, dass es problematisch wäre, aus dem Grund zu zögern, Tieren den Besitz nicht-sprachlicher Begriffe zuzuschreiben, weil Tiere bloß aus unstrukturierten Trieben handelten. Eine solche Sichtweise wäre nicht nur von einem wissenschaftlich (und moralisch) problematischen Anthropozentrismus getragen, sie würde auch der Komplexität tierischen Handelns nicht gerecht. – Für sehr hilfreiche Überlegungen zur Entwicklung eines nicht-sprachlichen Begriffs des Begriffs unter Rekurs auf den Begriff der Affordanz, vgl. Demmerling .  Für die implizite Wittgenstein-exegetische These gibt es viele Indizien, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann – vgl. aber zumindest die folgende Bemerkung (auf S.  der Vermischten Bemerkungen): „Der Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels ist eine Reaktion; erst auf dieser können die komplizierteren Formen wachsen. Die Sprache – will ich sagen – ist eine Verfeinerung, ‚im Anfang war die Tat‘.“ (Man beachte die Nähe zwischen Wittgensteins Analyse von Sprache als „Verfeinerung“ und der interaktionistischen Analyse von Sprache als „Erweiterung“.)

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radigma aus ist es noch gewisser Weg bis hin zu einem sprach-artistischen Jonglieren mit dem Wort „Feuer“, wie es sich in Schillers Dichtung ausdrückt: „Freude, schöner Götterfunken, […] wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heilligthum.“ Den Weg von „Feuer!“ zu „feuertrunken“, und vom einfachen Wort zum komplex komponierten Satz zurückzulegen, ist die Aufgabe, der sich eine interaktionistische Theorie der Sprache stellen muss. Wittgensteins Werk etwa kann so gelesen werden, dass er bereits bedeutende Schritte auf diesem Weg zurückgelegt hat.¹⁰⁸ An dieser Stelle jedoch können derartige Fragen nicht weiterverfolgt werden. In dialektischer Hinsicht ist es hier nur erforderlich gewesen zu zeigen, dass der Interaktionismus aufgrund seiner grundlegenden begrifflichen Weichenstellungen ein größeres Potential zur Erklärung der Rolle der Sprache im Handeln zwischen Reflex und Reflexion besitzt als seine beiden dialektischen Gegenspieler. Allein einen letzten Punkt gilt es noch zu erwähnen. Sprachliche Begriffe (im Sinne begrifflicher Werkzeuge oder weltlicher Konkretionen) können auch dazu dienen, ein Handeln zu beschreiben. Entscheidend ist dabei aus interaktionistischer Sicht, dass die Fähigkeit, ein Handeln mit sprachlichen Begriffen gut zu treffen, und die Fähigkeit, gut zu handeln, vollkommen voneinander dissoziiert sein können.Wer über die entsprechenden Begriffs-Akzeptanzen verfügt, kann ein Handeln feinkörnig beschreiben, wer über die entsprechenden Handlungs-bezogenen Akzeptanzen verfügt, kann das Handeln gut ausüben können.¹⁰⁹

 Potential für eine Weiterentwicklung bieten neben dem Werk Wittgensteins auch insbesondere die sprachphilosophischen Schriften Merleau-Pontys, Peirces und Meads.  An dieser Stelle sollte noch eine Anmerkung zu McDowell gemacht werden. McDowell argumentiert in Mind and World und in späteren Werken (a), dass ein bestimmter intuitiver Gedanke falsch ist. Dabei handelt es um den Gedanken, dass einem Menschen in der Wahrnehmung zunächst eine Anschauung gegeben ist, auf die er dann in einem zweiten Schritt Begriffe anwenden kann. Laut McDowell ist dieser Gedanke falsch, weil der dem Mythos des Gegebenen zum Opfer fiele. In einer Erfahrung, und damit auch in einer Anschauung, sind laut McDowell immer schon subjektive Fähigkeiten am Werk, die die Erfahrung zu der machen, die sie ist.Würde man dies ablehnen, dann nähme man an, es könnte einem Menschen die Welt direkt so gegeben sein, wie sie unabhängig von einer menschlichen Perspektive wäre. Man würde einen Fehler begehen, dessen sich Sinnesdatentheorien auf prominente Weise schuldig gemacht haben. Zudem gäbe es bei Voraussetzung des Mythos des Gegebenen keine Möglichkeit mehr, für seine Wahrnehmung selbst (und nicht nur für sein bewusstes Urteil über eine Anschauung) mit Gründen einstehen zu können. In Mind and World hat McDowell dabei noch die Sichtweise vertreten, selbst in dem, was man als „anschauliche Erfahrung“ bezeichnen könnte, seien sprachliche Begriffe am Werk. Unter dem Einfluss von Charles Travis hat McDowell (a) diese Sichtweise mittlerweile aufgegeben. Gemäß McDowells neuer Sichtweise ist eine anschauliche Erfahrung zwar immer noch dadurch charakterisiert, das dort begriffliche Fähigkeiten am Werk sind. Aber die Bedeutung dessen, was dies heißt, hat sich nun geändert. Nun heißt es, dass die Anschauung bloß der Form

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Insgesamt gelingt es dem Interaktionismus damit, die begrifflichen Weichen hin zu einer Konzeption von Sprache zu stellen, die weder ein Transformationsnoch ein Schichten-Modell ist. Damit wird keine Kluft aufgerissen, weder zwischen zwei verschiedenen Teilen des Menschen noch zwischen erwachsenen Menschen und kleinen Kindern. Schließlich kann der Interaktionismus verständlich machen, dass Sprache etwas ist, mit dem man etwas machen und umgehen kann, und zugleich etwas, durch das mit-geprägt wird, wie einem Handelnden seine Umwelt allererst erscheint.

f Kognition Welche Rolle spielen Geist und Kognition im unreflektierten Handeln? Aus vielerlei Perspektiven liegt es nahe, die Begriffe des Geistes und der Kognition an Bewusstsein oder Bewusstseinsfähigkeit zu binden.¹¹⁰ Wie gesehen konzipiert etwa der Intellektualist Stanley vor dem Hintergrund einer semantischen Analyse sprachlicher Zuschreibungen den Geist primär mittels bewusstseinsfähiger mentaler Zustände. Und auch Anti-Intellektualist Dreyfus sieht vor dem Hintergrund seiner phänomenologischen Introspektion Geist und Kognition nur dort,wo

nach sprachlich ist; sie hat eine kategoriale Form, so dass Aspekte der Erfahrung mit sprachlichen Begriffen benannt werden können. Mit diesem Manöver will McDowell gedanklichen Raum für die Möglichkeit schaffen, dass man etwa einen bestimmten Vogel sehen kann, ohne dass einem der entsprechende sprachliche Begriff sofort einfällt. Mit Hilfe des Interaktionismus kann nun eine Alternative sowohl zu der von McDowell abgelehnten Sichtweise als auch zu McDowells beiden Konzeptionen gewonnen werden. Demnach ist jede Erfahrung immer schon in dem nichtsprachlichen Sinne begrifflich, dass sie durch die Akzeptanz-Struktur desjenigen strukturiert ist, der die Erfahrung macht. (Wie am Beispiel des Feuers beschrieben, können Begriff-Akzeptanzen in Einzelfällen direkt einen Beitrag dazu leisten, wie einem Handelnden seine Umwelt erscheint.) In einem zweiten Schritt kann diese Erfahrung dann mit sprachlichen Begriffen beschrieben werden, sofern der Beschreibende über entsprechende Begriffs-Akzeptanzen verfügt. Dabei ist es aber aus interaktionistischer Sicht genau falschherum gedacht, dass die Erfahrung schon eine Form haben muss, die es erlaubt, sie mit sprachlichen Begriffen zu beschreiben. Vielmehr sind die sprachlichen Begriffe (als sprachliche Werkzeuge) im Verlaufe vergangener Interaktionen gerade entstanden, um die menschliche Erfahrung zu beschreiben. In einer Analogie: Der Sand muss nicht eine Form haben, so dass er von der Schaufel aufgenommen werden kann; stattdessen ist die Schaufel als Werkzeug geschaffen worden, um den Sand so aufzunehmen, wie er ist. Genau so muss menschliche Erfahrung nicht eine Form haben, so dass sie von sprachlichen Begriffen „aufgenommen“ werden kann; stattdessen sind die sprachlichen Begriffe als Werkzeuge geschaffen worden, um die menschliche Erfahrung so aufzunehmen, wie sie ist.  Hier kann insbesondere an die Debatte gedacht werden, die gegenwärtig unter dem Schlagwort „mark of the mental“ geführt wird.

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Bewusstsein vorliegt. Dennoch spricht vieles dafür, dass auch unbewusstes Handeln zwischen Reflex und Reflexion eine kognitive Komponente hat (und so ist bisher auch geredet worden). Immerhin hat ein solches Handeln neuronale Grundlagen, kann, wie gesehen, sehr intelligent und gekonnt sein, ist lern- und trainierbar, kann gelobt und getadelt werden, und lässt in einigen Fällen die Persönlichkeit eines Menschen besser erkennen als seine bewussten Entscheidungen. Entsprechend liegt es nahe, zumindest eines der Worte „Geist“ oder „Kognition“ derart zu verstehen, dass mit ihrer Hilfe die geistig-kognitiven Grundlagen unbewussten gekonnten Handelns begrifflich fassbar gemacht werden können. Eine überzeugende Theorie gekonnten Handelns sollte in der Lage sein, eine entsprechende Konzeption bereit zu stellen. Dabei sollte eingefangen werden, dass es subjektive Hintergrund-Bedingungen dafür gibt, dass einem Akteur seine Umwelt so erscheint, wie sie ihm erscheint, und dass es auch im unreflektierten gekonnten Handeln individuelle Unterschiede gibt. Schließlich sollte Stellung zu der Frage genommen werden, wie unreflektiertes Handeln „nach unten“ zu Reflexen abgegrenzt werden kann. Der zentrale Vorschlag des Interaktionismus lautet, „Kognition“ im relevanten Sinne überhaupt nicht vom Paradigma des bewussten Denkens her zu konzipieren – sei es, dass „Kognition“ als „unbewusst“ charakterisiert würde oder als „bewusstseinsfähig“ oder „der Möglichkeit nach bewusst“. Stattdessen schlägt der Interaktionismus ein neues positives Verständnis vor, und zwar eines, das bereits genannt worden ist: den Begriff der Akzeptanz-Struktur. Die kognitiven Grundlagen gekonnten Handelns werden demnach mittels des Begriffs der AkzeptanzStruktur analysiert. Ein Handeln ist unter anderem deshalb das,was es ist, weil auf Seite des Handelnden eine bestimmte Akzeptanz-Struktur vorliegt. Auf diese Weise kann zunächst verständlich gemacht werden, dass unreflektiertes Handeln eine kognitive Komponente hat, auch ohne dass mentale Zustände angewandt werden müssten oder sonst in irgendeiner Form bewusstes oder bewusstseinsfähiges Denken erforderlich wäre. Zudem kann verständlich gemacht, dass die Art und Weise, wie einem Handelnden seine Umwelt erscheint, subjektive Hintergrund-Bedingungen hat. Die Umwelt eines Akteurs besteht unter anderem deshalb für ihn aus bestimmten Affordanzen, weil er über eine bestimmte Akzeptanz-Struktur verfügt. Zugleich kann eingefangen werden, dass es individuelle Unterschiede selbst im unbewussten Handeln geben kann. Weil verschiedene Individuen über unterschiedliche Akzeptanz-Strukturen verfügen, kann ihnen das, was man als „ein und derselben Gegenstand in ihrer Umgebung“ bezeichnen könnte, unterschiedliche Affordanzen bieten, und entsprechend können sie individuell verschieden auf ihn reagieren.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

Schließlich bietet der Interaktionismus auch gedanklichen Raum, um die Frage zu stellen, wie sich Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion „nach unten“ abgrenzen lässt. Hier ist der Interaktionismus kompatibel mit dem Vorschlag, der in der Einleitung unterbreitet worden ist: Dann kann gesagt werden, dass etwas nur dann ein Handeln im Mittelreich und nicht ein bloßer Reflex ist, wenn es sich Prozessen im Gehirn und Nervensystem verdankt, die über Vorgänge im Rückenmark und Kleinhirn hinausgehen. Somit kann der Interakionismus Grundlagen für eine Konzeption von Kognition im unbewussten und unreflektierten Handeln bereitstellen. Das Bestehen subjektiver Hintergrund-Bedingungen menschlicher Erfahrung kann dabei ebenso eingefangen werden wie die Möglichkeit individueller Unterschiede im unreflektierten Handeln.

g Lernen Was passiert, wenn eine Person etwas lernt? Jede Theorie gekonnten Handelns sollte erhellen können, wie Könnertum im Handeln überhaupt zustande kommt. Dabei sollte eine solche Theorie dem Umstand Rechnung tragen, dass vieles gekonnte Handeln durch bewusste oder unbewusste Nachahmung gelernt wird. Zugleich sollte sie Raum für die Möglichkeit lassen, dass auch die Angabe von Regeln und Tatsachen eine Rolle in einem Lernprozess spielen kann. In einigen Fällen scheint man dabei etwas zu treffen, wenn man sagt, ein gekonnt Handelnder wisse von einem Weg, wie man etwas mache. Aber auch den Umstand, dass auch kleine Kinder und Tiere in der Lage sind, etwas zu lernen, gilt es zu berücksichtigen. Verständlich gemacht werden sollte darüber hinaus, wie nicht nur mit Hilfe sprachlicher Begriffe etwas gelernt werden kann, sondern wie die Sprache selbst erworben wird. Schließlich sollte erhellt werden können, dass eine Person im Verlaufe eines Lernprozesses oft auf immer intelligentere Weise handeln kann, und dass es oft treffend ist, von einigen gekonnt Handelnden zu sagen, sie verfügten über so etwas wie „tacit knowledge“. Die beiden dialektischen Gegenspieler des Interaktionismus, der Intellektualismus und der Anti-Intellektualismus, stehen vor Problemen, diesen Anforderungen Rechnung zu tragen. Der Fairness halber muss dabei aber darauf hingewiesen werden, dass der Anti-Intellektualismus hier aus Sicht des Interaktionismus fast richtig liegt und sich nur wenigen Problemen ausgesetzt sehen muss. Nur der Intellektualismus gerät an dieser Stelle in große Probleme. Entsprechend ist es an dieser Stelle einmal nicht erforderlich, eine grundlegend neue begriffliche Weichenstellung vorzunehmen. Stattdessen kann an dem angesetzt werden, was an der anti-intellektualistischen Konzeption des Lernens

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richtig ist. Auch hier, so der Vorschlag, bietet der Interaktionismus die beste Erklärung, da er mittels seiner begrifflichen Ressourcen die anti-intellektualistische Analyse verfeinern kann, so dass sich auch die wenigen Probleme des Anti-Intellektualismus im Interaktionismus nicht mehr stellen. Die Kernidee des Interaktionismus lautet in diesem Zusammenhang, dass Lernen etwas ist, das man als „Weltbereicherung“ bezeichnen könnte. Aus Sicht des Interaktionismus agieren Menschen – in einem zeitlichen Sinne – immer schon mit Affordanzen. Bereits die Akzeptanz-Struktur des gerade geborenen Babys führt dazu, dass einige wenige Dinge in seiner Umwelt für das Baby Affordanzen sind. Die meisten Objekte im Raum aber werden für den Säugling allenfalls Affordanzen bieten, ihre weiteren Gebrauchsmöglichkeiten durch Erschmecken, Ertasten und spielerisches Probieren zu erkunden. Mit jeder Interaktion aber – sowohl im Falle des Babys wie im Falle des professionellen Experten – wird die Akzeptanz-Struktur des Handelnden auf etwas komplexere Weise ausgeprägt. Dies wiederum führt dazu, dass die Welt des Handelnden etwas reicher und komplexer wird, indem sie nun mehr – oder zumindest komplexere oder feinere – Affordanzen bietet. Auf diese neuen oder feineren Affordanzen kann der Handelnde erneut reagieren, und entsprechend wird seine AkzeptanzStruktur wieder feiner und komplexer ausgeprägt. Mit jeder Interaktion wird damit die Welt eines Handelnden reicher. Aus interaktionistischer Sicht beginnt Lernen also nie bei „null“, sondern setzt bei immer schon vorhandenen Affordabilitäten und Akzeptabilitäten an. Für einen Lernenden wird die Welt seiner Affordanzen dann aber immer reicher, je mehr sich seine Akzeptanz-Struktur im Lernen ausbildet und erweitert, verändert, verfestigt und verfeinert. In einem Sinne ist aus Sicht des Interaktionismus jedes Handeln Lernen.¹¹¹ Der Interaktionismus ist aber zugleich damit kompatibel, dass es eine Vielzahl an Wegen gibt, einen Lernerfolg auf besonders effiziente Weise zu erzielen. Drei dieser Wege sollen hier kurz Erwähnung finden. Einer der Wege besteht im Ausprobieren. Ein Kind kann etwa einen Gegenstand aufnehmen und herausfinden, welche weiteren Affordanzen er ihm bieten kann. Das weltoffene Kind ist damit das Paradigma für einen Weg des Lernens, der auch in vielen anderen Domänen erfolgreich eingeschlagen wird. Ein anderer Weg besteht in der Nachahmung. Hier können Menschen Anhaltspunkte gewinnen, welche Affordanzen ihnen etwa ein Gegenstand bieten

 Der erwähnte eine Sinn erschöpft sich in der neurowissenschaftlichen Plattitüde „neurons which fire together, wire together“. In einem anderen Sinne ist natürlich nicht jedes Handeln Lernen: Die Welt desjenigen, der über Jahre hinweg jeden Tag Briefe abstempeln muss, wird nicht reicher und bunter; stattdessen wird sie vermutlich sogar ärmer und grauer.

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kann, wenn sie sehen, wie andere mit ihnen umgehen.¹¹² In einigen Fällen kann dies dazu führen, dass Handelnde sogar auf unbewusste Weise so auf Affordanzen reagieren, wie es andere in ihrer Umgebung zuvor getan haben. Je mehr dann entsprechend mit der Affordanz interagiert wird, desto stärker prägt sich wiederum die Akzeptanz-Struktur des Handelnden aus. Schließlich kann auch aus Sicht des Interaktionismus die Verwendung explizit formulierter Regeln in Einzelfällen ein effizienter Weg sein, um schnelle Lernerfolge zu erzielen. Wie bereits in der Diskussion des Regelfolgens erwähnt, können sie etwa derart als geistige Stütze dienen, dass sie im Rahmen mentaler Simulationen Affordanzen sein können. Beispielsweise kann ein Baseball-Trainer seinem jungen Schützling die explizite Regel mit auf den Weg geben: „Halte, wenn der Ball kommt, den Fanghandschuh so, dass er vor deinen Augen ist“. Ist dann der Ball im Anflug, kann dies für den Schüler nicht nur eine Affordanz sein, den Fanghandschuh auszustrecken. Es wird nun gleichfalls eine Affordanz sein, an die vom Trainer genannte Regel zu denken. Dies wiederum kann dann eine Affordanz sein, die Position des Fanghandschuhs zu korrigieren. Nach einigen Interaktionen wird ein heranfliegender Ball für den Schüler schließlich wiederum nur noch eine einzige Affordanz sein, nämlich ihn mit einem vor den Augen positionierten Fanghandschuh zu fangen. Vor diesem Hintergrund kann es gemäß dem Interaktionismus in zweierlei Hinsicht treffend sein zu sagen, im Lernen lerne man Wege, wie man etwas macht. Zum einen kann damit der Verweis auf die explizite Regel gemeint sein. Auch wenn der Schüler in einem fortgeschrittenen Stadium nicht mehr an die Regel denken muss,wird er sie,wenn ihn seine Erinnerung an sein ursprüngliches Training nicht im Stich lässt, auf Nachfrage angeben können. Und zum anderen kann damit, dass man im Lernen Wege lerne, wie man etwas mache, gemeint sein, dass man bestimmte Akzeptabilitäten erwirbt. Für den Schüler etwa ist, nach einigem Training, ein heranfliegender Ball nun eine Affordanz, ihn auf professionelle Weise zu

 Unmittelbar erfolgreich ist eine direkte Nachahmung natürlich nur, wenn Nachgeahmter und Nachahmender im relevanten Sinne über dieselbe Ausgestaltung ihrer Akzeptanz-Strukturen verfügen. Der schwer zu sehende Ball wird nicht auf einmal für einen zur Affordanz, nur weil man versucht, einen professionellen Torhüter nachzuahmen. Stattdessen muss die Möglichkeit zum Lernen durch Nachahmung schon durch eine Ähnlichkeit der Ausgestaltungen der AkzeptanzStrukturen vorbereitet sein, sei es dadurch, dass das Lernen relativ triviale allgemein-menschliche Dinge betrifft, oder sei es dadurch, dass der Schüler bereits sehr viel gelernt hat, und nun in die Lage kommt, von seinem Lehrer auch die Dinge zu lernen, die dieser nicht in expliziten Regeln formulieren kann.

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fangen. Dabei ist es naheliegend zu sagen, er wisse von einem Weg, wie man einen Ball im Baseball fängt.¹¹³ Im Rahmen der interaktionistischen Analyse des Lernens kann auch verständlich werden, wie auch nicht-sprachliche Kinder und Tiere etwas lernen können. Auch wenn ihnen explizit formulierte Regeln wenig nützen würden, können sie beispielsweise etwas lernen, indem sie entweder einfach handeln oder etwas ausprobieren oder etwas nachahmen. Auch sie können vor dem Hintergrund ihrer bisher bestehenden Akzeptanz-Struktur so auf Affordanzen reagieren, dass ihre Akzeptanz-Struktur weiter ausgebildet und ihre Welt aus Affordanzen reicher wird. Im Lichte der interaktionistischen Analyse des Umgehens mit sprachlichen Begriffen und der interaktionistischen Analyse des Lernens kann darüber hinaus der Erwerb des ersten sprachlichen Wissens leicht erhellt werden. Grob gesagt sind sprachliche Begriffe (als weltliche Konkretionen) etwas, das kleine Kinder einladen kann, sich mit ihnen zu beschäftigen, um herauszufinden, welche konkreten Affordanzen sie ihnen bieten. Durch Nachahmung, Probieren und anderes Handeln kann dann nach und nach die Akzeptanz-Struktur so ausgeprägt werden, dass für die Lernenden die Affordabilitäten, die ein bestimmter Begriff anderen bietet, immer mehr auch Affordabilitäten ihrer eigenen Welt werden.¹¹⁴ Aus interaktionistischer Sicht ist Lernen ein gradueller Prozess, der zu immer intelligenterem Handeln führen kann. Mit jeder Interaktion verändert sich die Akzeptanz-Struktur einer Person. Entsprechend kann sie im Anschluss an jede Interaktion immer feinkörniger und diffiziler auf das reagieren, was ihr ihre Umwelt nun bietet. Vor diesem Hintergrund kann dann gesagt werden, dass das Handeln der Person immer intelligenter wird.¹¹⁵

 Offensichtlicherweise ist diese Ausbuchstabierung nur im Rahmen des Interaktionismus möglich, und der Interaktionismus unterscheidet sich sehr stark vom Intellektualismus. Entsprechend kann Stanley nicht replizieren, das, was nun vorgeschlagen wird, das Verfügen über eine Akzeptanz, habe er eigentlich schon immer mit dem Wissen um Wege gemeint. Um dies sagen zu können, müsste er erst nahezu alle Aspekte seiner Theorie ändern.  Aus bestimmter Perspektive betrachtet kann dies nahezu trivial wirken. Der Punkt muss jedoch in Abgrenzung zu intellektualistischen Theorien wie denjenigen Stanleys und McDowell gesehen werden, in denen jede ernstzunehmende Form von Lernen schon das Verfügen über Sprache voraussetzt. Wie aus dem zuvor Ausgeführten deutlich geworden sein sollte, übersieht Stanley dabei nicht schlicht eine Trivialität, sondern wird durch unbedachte Konsequenzen des Gebrauchs seiner Methodologie zu der Konzeption geführt, die er hat.  Zumindest werden Interaktionstiefe und Interaktionsbreite vergrößert und so die Interaktion von Affordanz und Akzeptanz immer gelingender. Ob es im Einzelfall pragmatisch angezeigt ist, das Handeln als „intelligent“ zu bezeichnen, ermisst sich wiederum an dem kontextuell variablen, von außen angelegten Standard.

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Ein Ergebnis des Lernens kann auch die Ausbildung von Gewohnheiten sein. Konzeptionen der Habitualisierung finden sich freilich schon bei Philosophen wie Aristoteles, Hegel und Husserl, aber der Interaktionismus kann Licht auf einige Aspekte dieses Prozesses werfen, die bei jenen großen Denkern weniger stark beleuchtet werden. So führt der Prozess der Habitualisierung aus interaktionistischer Sicht dazu, dass sich der sich Habitualisierende und seine Umwelt verändern. Angenommen z. B., eine Person zieht in eine neue Stadt. Dann wird ihr eine bestimmte Wegkreuzung in der Stadt nicht viel sagen. Angenommen aber, die Wegkreuzung liegt auf dem Weg zur Arbeit der entsprechenden Person. Dann wird für die Person die Wegkreuzung im Verlaufe eines Prozesses der Habitualisierung eine andere. Darüber nachdenkend, wird sie vielleicht allenfalls schulterzuckend zu Protokoll geben, dass die Kreuzung eben aus zwei abzweigenden Wegen bestehe. Ist die Person dagegen aber als Handelnde auf dem Weg unterwegs, dann wird sie der eine Weg nun einladen und auffordern, gerade ihn einzuschlagen, und es kann sich für sie dabei sogar so anfühlen, als zwinge sie der Weg, ihn zu wählen. Vermöge des Prozesses der Habitualisierung hat hier ein zunächst nichts sagender Bestandteil der Welt im Leben eines Handelnden eine neue Struktur gewonnen. Derlei Gewohnheiten können dabei intelligent sein, etwa die Gewohnheit, explizit zu kontrollieren, ob die Wohnungstür zugezogen oder alle Herdplatten ausgeschaltet sind; oder die Gewohnheit, über wichtige Entscheidungen erst einmal eine Nacht zu schlafen.¹¹⁶ Zudem können Gewohnheiten auch flexibel sein: Gerade weil Federer seine Schläge so gewohnt-routiniert ausführen kann, kann er flexibel auf die Eigenheiten der jeweiligen Situation reagieren. Zudem kann man etwa die Gewohnheit haben, auf seinem Arbeitsweg bei Grün geradeaus über die Ampel zu fahren, und bei Rot vor der Ampel nach rechts abzubiegen. Und der aristotelische Phronimos kann aus Gewohnheit moralisch handeln und gerade dabei flexibel auf das reagieren, was die jeweilige Situation erfordert.¹¹⁷ Ein anderes Ergebnis eines Lernprozesses kann schließlich der Gewinn von sogenanntem „tacit knowledge“ sein. Durch Handeln, Probieren und Nachah Genau genommen können Gewohnheiten in einem doppelten Sinne intelligent sein: Gemäß der oben vorgeschlagenen Analyse können sie zu einer regelmäßig gelingenden tiefen Interaktion mit vielen Affordanzen führen; darüber hinaus können sie dienlich sein, einen darüber hinausgehenden Handlungserfolg zu erzielen, etwa die Gewährleistung des Brandschutzes und das Vermeiden vorschneller Entscheidungen.  Hier wende ich mich implizit gegen das problematische Vorurteil, Gewohnheiten seien dumm, starr, oder in einem anderen Sinne defizitär. Eine solche Annahme findet sich beispielsweise bei Ryle (: ;  – ), aber auch bei einigen Psychologen (vgl. z. B. Schwabe und Wolf ). Der zentrale Punkt ist, begrifflichen Raum für das Begreifen des Phänomens zu schaffen, dass Gewohnheiten intelligent sein können.

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mung kann die Akzeptanz-Struktur einer Person so ausgebildet worden sein, dass sie in einem Bereich sehr feinkörnig auf sehr viele Affordanzen reagieren kann. Dann kann es treffend sein, von dieser Person zu sagen, sie wisse, wie man in dem entsprechenden Bereich Tätigkeiten erfolgreich verrichte. Da aber, wie oben diskutiert, das Wissen, wie man in einem Bereich gekonnt handelt, von der Fähigkeit, dieses Wissen sprachlich zu artikulieren und entsprechende explizite Regeln zu formulieren, vollkommen dissoziiert sein kann, ist es möglich, dass die Person nicht in der Lage ist, ihr Wissen, wie man in dem entsprechenden Gebiet erfolgreich ist, sprachlich zu spezifizieren. In diesem Sinne verfügt sie dann über „tacit knowledge“. Somit ist der Interaktionismus in der Lage, mittels seiner begrifflichen Ressourcen auch den Bereich des Lernens zu erhellen. Dabei kann er sowohl einfangen, dass es verschiedene Wege des Lernens gibt, von unbewusster Nachahmung bis hin zur Orientierung an expliziten Regeln. Er kann sowohl verständlich machen, wie auch kleine Kinder und Tiere etwas lernen können, als auch, wie das erste Wissen um den Umgang mit sprachlichen Begriffen erworben wird. Schließlich kann er auch einfangen, dass ein Lernprozess dazu führen kann, dass der Lernende graduell immer gekonnter und intelligenter handelt, und dass dann unter Umständen sogar davon gesprochen werden kann, dass er über „tacit knowledge“ verfügt. Und mit seinem grundlegenden Verständnis von Lernen als „Weltbereicherung“ macht der Interaktionismus auf eine allgemeine Struktur all dieser Facetten des Lernens aufmerksam und kann damit dazu beitragen, es besser zu verstehen und es auf neue Weise zu sehen.

h Expertise Was ist Expertise? Wodurch zeichnet sich das Handeln derer aus, die als Experten wertgeschätzt werden? Auf den ersten Blick könnte man denken, Experten seien dadurch charakterisiert, dass sie über bewusstseinsfähiges Wissen in Bezug auf Tatsachen in einem bestimmten Gegenstandsbereich verfügten. Aber wie bereits diskutiert zeichnet sich Expertise auch gerade dadurch aus, dass Experten gelungen, angemessen und teils unbewusst den spezifischen Details der Situationen Rechnung tragen können, in denen sie sich jeweils befinden. Eine überzeugende Konzeption expertenhaften Handelns sollte verständlich machen können, dass expertenhaftes Handeln sowohl in unbewusstem gekonnten Tun liegen kann als auch in explizitem Nachdenken als auch in größtenteils unreflektierten Handlungsweisen, in denen kurze Episoden bewussten Nachdenkens eine Rolle spielen. Zudem sollte erhellt werden, dass sich Experten auch dadurch auszeichnen, dass sie mit neuen Situationen leicht umgehen können.

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Eingefangen werden sollte auch, dass Expertise auch darin bestehen kann, mit nur einer Art und Weise, wie man etwas gekonnt tut, vertraut zu sein; ein Beispiel wäre ein Chirurg, der immer dieselbe Technik auf sehr gekonnte Weise anwendet. Wichtig ist zudem, der Möglichkeit Rechnung zu tragen, dass sich Handeln durch explizite Selbst-Reflexion verbessern lässt und Handelnde so besonders effektiv zu Experten werden können. Darüber hinaus sollte zu der Frage Stellung genommen werden, wie sich expertenhaftes Handeln zu Handeln im „Flow“ verhält. Und schließlich sollte eingefangen werden, dass es etwa ehemaligen Sportlern möglich ist, in einem solchen Tätigkeitsbereich Experte zu sein, den sie selbst aus körperlichen Gründen nicht mehr selbst ausüben können. In dialektischer Hinsicht ist festzustellen, dass sowohl Intellektualismus als auch Anti-Intellektualismus nicht in der Lage sind, all diesen Anforderungen Rechnung zu tragen.Wiederum muss sich der Anti-Intellektualismus hier weniger Problemen ausgesetzt sehen, so dass an einige seiner positiven Einsichten angeknüpft werden kann. Aber auch der Anti-Intellektualismus weist zentrale Nachteile auf, indem er Expertise unplausiblerweise allein in einem vollkommen absorbierten Handeln sieht und dabei die Abwesenheit bewussten Überlegens zur Voraussetzung für das Vorliegen expertenhaften Handelns macht. Einen Ausweg aus all diesen Schwierigkeiten liefert wiederum – so der Vorschlag – der Interaktionismus. Gemäß der Kernidee der interaktionistischen Analyse expertenhaften Handelns zeichnet sich der Handeln von Experten durch eine besondere Art der Interaktion von Affordanz und Akzeptanz aus, nämlich eine Interaktion, die durch eine große Interaktionsdichte und eine große Interaktionstiefe charakterisiert ist. Mit anderen Worten zeichnet sich expertenhaftes Handeln gemäß dem interaktionistischen Vorschlag dadurch aus, dass die Akzeptanz-Struktur des Experten so reich und fein ausgebildet ist, dass im expertenhaften Handeln mit besonders vielen Affordanzen auf besonders feinkörnige Weise interagiert wird. Zwar geht es dem Interaktionismus dabei nicht darum, so etwas wie „den“ alltäglichen, volkspsychologischen Begriff der Expertise rational zu rekonstruieren, sondern darum, ein hilfreiches begriffliches Werkzeug bereitzustellen, um die Phänomene expertenhaften Handelns auf den Begriff bringen zu können. Aber der Interaktionismus kann an eine Eigenschaft anknüpfen, die man am alltäglichen Begriff finden zu können scheint, und zwar die Eigenschaft, dass die Standards zur Zuschreibung von Expertise kontextuell je nach pragmatischem Zweck variieren können. In einem Sinne sind die meisten Menschen – wie oben erwähnt – Experten des Alltags, indem sie etwa auf die vielen Affordanzen, die ein alltägliches Gespräch bietet, auf durchaus subtile Weise reagieren können. In einem anderen Kontext, in dem es z. B. darum geht, einen neuen Chefdirigenten einzustellen, können die Standards aber deutlich höher liegen. Möglich ist es dabei auch, dass

2 Perspektiven des Interaktionismus

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im Rahmen bestimmter Kontexte die beiden Größen der Interaktionsdichte und der Interaktionstiefe voneinander entkoppelt werden. So kann es beispielsweise möglich sein, ein Handeln treffend als „expertenhaft“ zu bezeichnen, wenn nur mit verhältnismäßig wenigen Affordanzen interagiert wird, aber auf eine besonders feinkörnige und subtile Weise. Und ebenso ist der umgekehrte Fall denkbar. Prinzipiell ist es damit möglich, dass es in bestimmten Kontexten nur um die Größe des einen Faktors (Interaktionsdichte oder Interaktionstiefe) geht, sofern hinsichtlich des anderen Faktors eine Mindest-Schwelle erfüllt ist. Darüber hinaus kann expertenhaftes Handeln aus interaktionistischer Sicht auch in einem feinkörnigen Interagieren mit vielen vorgestellten Affordanzen im Rahmen einer mentalen Simulation liegen. Insgesamt besteht Expertise damit aus Sicht des Interaktionismus nicht darin, dass man von mehr Tatsachen weiß, sondern dass man zu einem Menschen wird, der in einem bestimmten Gebiet zu Hause ist (bzw. in Bezug auf ein bestimmtes Gebiet in seinem Handeln eine besonders große Interaktionsdichte und Interaktionstiefe manifestieren kann). Vor diesem Hintergrund kann der Interaktionismus zunächst verständlich machen, dass expertenhaftes Handeln auch in unbewusstem gekonntem Tun bestehen kann. Für einen Experten kann eine Situation auch unbewusst viele Affordanzen bieten, auf die er dann sehr feinkörnig und subtil reagiert. Da der Interaktionismus das gelingende Interagieren von Affordanz und Akzeptanz nicht an irgendeine Form von Bewusstseinsfähigkeit knüpft, hat er keine Schwierigkeiten, diesem Aspekt menschlicher Expertise Rechnung zu tragen. Zugleich kann der Interaktionismus einfangen, dass Expertise auch im Nachdenken liegen kann. Was hier aus interaktionistischer Sicht geschieht, ist paradigmatischerweise eine Interaktion mit vorgestellten Affordanzen im Rahmen einer mentalen Simulation. Wenn ein Experte bereits viel mit wirklichen Affordanzen zu tun gehabt hat – etwa mit vielen Schachfiguren auf einem Schachbrett – dann kann sich seine Akzeptanz-Struktur im Verlaufe dieser Interaktionen so ausgeprägt haben, dass er nun in der Lage ist, die einzelnen Schachfiguren bloß im Geiste zu verschieben. Viel vergangenes Handeln, Probieren, und Nachahmen großer Meister haben ihn nun zu jemandem gemacht, der Fehler nicht erst auf einem Schachbrett aus Holz machen muss, sondern sie auf einem vorgestellten Schachbrett im Geiste antizipieren kann. Da der Interaktionismus anders als der Anti-Intellektualismus nicht von einer Zweiteilung menschlicher Kognition ausgeht, bei der nur eine Hälfte mit Expertise in Verbindung zu bringen wäre, kann der Interaktionismus auch diese Facette expertenhaften Handelns leicht einfangen. Ebenfalls kann Interaktionismus dem von Barbara Montero (2013; siehe Kapitel II) angeführten Umstand Rechnung tragen, dass in expertenhaftem Handeln wie dem professionellen Ballett-Tanz unreflektiertes körperliches Handeln und

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

ein bewusstes Nachdenken über zukünftige Bewegungen jeweils sehr schnell aufeinander folgen können.Wie oben beschrieben führt Barbara Montero etwa das Beispiel an, dass ein Tanzpartner einen Fehler gemacht hat, so dass man überlegen muss, mittels welcher Bewegungen man darauf reagiert. Aus interaktionistischer Sicht ist hier eine bestimmte Situation – der Umstand, dass der TanzPartner einen Fehler gemacht hat – eine Affordanz, eine mentale Simulation zu beginnen. Im Rahmen der mentalen Simulation kann sich dann im Geiste eine Möglichkeit vorgestellt werden, wie man auf den Fehler reagiert. Erscheint die Simulation als erfolgreich, kann dies eine Affordanz sein, das entsprechende Handeln tatsächlich umzusetzen. Aus interaktionistischer Sicht sind mentale Simulationen dabei nicht nur in dem defizitären Fall des Vorliegens eines Fehlers erforderlich, sondern können im Gegenteil auch im Rahmen eines gelingenden Interagierens mit wirklichen Affordanzen von Vorteil sein, um potentielle Fehler und potentiellen Erfolg zu antizipieren. Der Interaktionismus kann auch verständlich machen, dass sich Expertise im Handeln in einigen Fällen gerade durch explizite Selbst-Reflexion besonders effizient erwerben lässt. Aus interaktionistischer Sicht kann eine explizite SelbstReflexion dazu führen, dass man sich seine Art des Reagierens auf Affordanzen zu Bewusstsein bringt und sie gedanklich von außen betrachtet. Auch wenn dabei viele Details des Reagierens auf Affordanzen gar nicht oder nur schwer zu Bewusstsein zu bringen sind, kann schon eine grobe Betrachtung des eigenen Handelns von außen dazu führen, dass man sich neuer Verbesserungsmöglichkeiten gewahr wird. Geht man etwa ständig denselben Weg, mag man auf die Details des Weges immer feinkörniger reagieren können; betrachtet man diese Tätigkeit aber im Zuge einer mentalen Simulation von außen, kann man feststellen, dass ein ganz anderer Weg noch viel schneller ans Ziel führen könnte (im wörtlichen und im metaphorischen Sinne von „Weg“).¹¹⁸ Durch den Interaktionismus kann auch eingefangen werden, dass es möglich ist, dass ein Experte etwa nur eine einzige Technik beherrscht, eine Operation durchzuführen, dass er aber dabei dennoch treffend als „Experte“ bezeichnet wird, weil er diese eine Technik besonders geschickt und situations-sensitiv zur Ausübung bringen kann. Aus der Perspektive des Interaktionismus zeichnet sich

 Dort, wo tatsächlich eine Bewusstseinsfähigkeit vorliegt in dem Sinne, dass der Handelnde praktisches Wissen bzw. autoritatives Selbstwissen um sein Tun hat, ist es freilich nicht zwingend erforderlich, sein Handeln von außen zu betrachten. Dort hingegen, wo keine Bewusstseinsfähigkeit in dem Sinne vorliegt, dass der Handelnde praktisches Wissen bzw. autoritatives Selbstwissen um sein Tun hat, ist es dagegen erforderlich, sein Tun von außen zu betrachten, um es sich in diesem Sinne zu Bewusstsein bringen zu können. Der erstpersonale und der drittpersonale epistemische Zugang unterscheiden sich dann in einem solchen Fall in keiner Weise.

2 Perspektiven des Interaktionismus

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das Handeln jenes Chirurgen durch eine geringe Interaktionsdichte und eine große Interaktionstiefe aus: Er reagiert nur auf wenige Affordanzen, aber auf eine besonders subtile und feinkörnige Weise. Wie nun oben beschrieben können im Rahmen der interaktionistischen Analyse expertenhaften Handelns die Größen der Interaktionsdichte und der Interaktionstiefe voneinander entkoppelt werden. In bestimmten Kontexten kann es dann für eine treffende Zuschreibung von Expertise nur auf das Maß der einen Größe ankommen, sofern das Maß der anderen Größe eine bestimmte Mindest-Schwelle nicht unterschreitet. Vor diesem Hintergrund ist der Interaktionismus damit kompatibel, dass das Handeln jenes Chirurgen treffend als „expertenhaft“ bezeichnet wird: Es erfüllt ein Mindestmaß an Interaktionsdichte, und die große Interaktionstiefe rechtfertigt im vorliegenden Kontext die Zuschreibung von Expertise. Der Interaktionismus kann auch verständlich machen, inwiefern sich Expertise durch die Fähigkeit zu einem leichten Umgang mit neuen Situationen auszeichnet. Aus Sicht des Interaktionismus sind nämlich scheinbar „neue“ Situationen für den Experten gar nicht so neu. Vor dem Hintergrund seiner diffizil ausgebildeten Akzeptanz-Struktur weisen vielmehr „neue“ Situationen in seinem Gebiet der Expertise für ihn bereits eine reiche Struktur auf. Angenommen z. B., erstmals in der Geschichte der Menschheit wird Atomkraftwerk von einem Tsunami getroffen. Anders als der Laie ist nun für den Experten nicht so, dass ihm die Situation gar nichts sagt. Vielmehr wird auch ihm auch die Nuklear-Ruine noch Affordanzen bieten, die er aus anderen Kontexten kennt. Der Interaktionismus kann ebenfalls zu der Frage Stellung nehmen, wie expertenhaftes Handeln und Handeln im „Flow“ zusammenhängen. Natürlich kann man den Begriff des Flows so weit fassen, dass jede gelingende Affordanz-Akzeptanz-Interaktion als „Flow“ zählt, und dann folgte analytisch, dass jedes expertenhafte Handeln ein Handeln im „Flow“ wäre (wenn es auch nicht folgte, dass jedes Handeln im „Flow“ ein expertenhaftes Handeln wäre). Aber es liegt nahe, den Begriff des Flows etwas enger nur auf das hochkonzentrierte, vertiefte, reibungslose, subjektiv anstrengungslose Aufgehen in einer Tätigkeit zu beschränken. Dann aber wird ersichtlich, dass expertenhaftes Handeln und Handeln im Flow dissoziierbar sind (siehe Kapitel II): Der Experte kann mit großer subjektiver Anstrengung über ein theoretisches Problem nachdenken und der Hobby-Sportler im Flow aufgehen. Dennoch kann aus Sicht des Interaktionismus festgehalten werden, dass die große Interaktionsdichte und Interaktionstiefe des expertenhaften Handelns ein Geraten in den „Flow“ zumindest wahrscheinlicher macht. Schließlich kann der Interaktionismus einfangen, dass Menschen etwa im Bereich körperlicher Tätigkeiten Experten sein können, selbst wenn sie entsprechende Tätigkeiten nicht mehr selbst ausüben können. Ein Beispiel ist der alte SkiLehrer, dem sein körperlicher Zustand zwar verbietet, sich selbst auf die Piste zu

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

begeben, der aber Jahr für Jahr Nachwuchssportler erfolgreich in kompliziertesten Stunts unterweisen kann. Aus Sicht des Interaktionismus ist die AkzeptanzStruktur des Ski-Lehrers im Rahmen vieler vergangener Interaktionen auf diffizile Weise ausgebildet worden. Nun sind die Gegebenheiten der Pisten zwar keine Affordabilitäten mehr für ihn, weil die entsprechenden körperlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. Aber im Rahmen einer mentalen Simulation sehen die Dinge anders aus: Dort kann er vor dem Hintergrund der Annahme operieren, sein Körper sei noch athletischer Bestform.Vor dem Hintergrund seiner ansonsten noch vorhandenen diffizil ausgebildeten Akzeptanz-Struktur kann er dann mental simulieren, wie er gekonnt auf die Affordanzen der Piste reagiert. Dieses Wissen, wie man erfolgreich auf die Affordanzen der Piste reagiert, wird sich kaum sprachlich in expliziten Regeln kodifizieren lassen. Im individuellen Training aber steht es dem Ski-Lehrer zur Verfügung, um je individuelle Hinweise zu geben, wenn ihm etwa die Körperhaltung eines Schülers als verbesserungswürdig erscheint. Insgesamt kann der Interaktionismus damit auch den Phänomenbereich expertenhaften Handelns erhellen.Verständlich gemacht werden kann nicht nur,wie expertenhaftes Handeln auch in unbewusstem und gekonntem Tun liegen, sondern auch, wie es im Überlegen bestehen kann. Der Möglichkeit, dass expertenhaftes Handeln auch in der Vertrautheit mit nur einer einzigen Technik, wie man etwas tut, bestehen kann, kann ebenso eingefangen wie die Möglichkeit eines Experten, der sein Können aus körperlichen Gründen nicht mehr selbst ausüben kann.Verständlich gemacht werden können auch das Verhältnis des Handelns im Flow zum expertenhaften Handeln sowie die die Rolle expliziter Selbst-Reflexion für die Entstehung von Expertise. Und schließlich kann auch die Fähigkeiten von Experten analysiert werden, mit neuen Situationen leicht zurechtzukommen. Somit bleibt festzustellen, dass der Interaktionismus die für das menschliche Handeln so zentralen Phänomene des Regelfolgens, der Intelligenz, der Kontrolle, des Bewusstseins, der Sprache, der Kognition, des Lernens und der Expertise jeweils erhellen kann. Dagegen ist bereits in den beiden vorangehenden Kapiteln argumentiert worden, dass Intellektualismus und Anti-Intellektualismus vor großen Schwierigkeiten stehen, jenen Phänomenen Rechnung zu tragen. Zusammengenommen ergibt sich damit ein Argument der besten Erklärung: Weil der Interaktionismus die genannten Phänomene besser erklären kann als seine beiden dialektischen Gegenspieler, ist es rational angezeigt, den Interaktionismus als die beste Konzeption zu akzeptieren, um die Grundstrukturen des gekonnten Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion begrifflich fassbar und damit begreifbar machen zu können.

3 Diagnose

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Dass sich dieses Ergebnis dabei keinem Zufall verdankt, sondern es tiefere Ursachen in den grundlegenden begrifflichen Weichenstellungen des Interaktionismus hat, werde ich im nächsten Abschnitt dieses Kapitels vorschlagen.

3 Diagnose Gemäß dem Interaktionismus sind die Begriffe der Affordanz und der Akzeptanz für das Mittelreich überaus hilfreiche Mittel der Einteilung, um eine allgemeine Übersicht gewinnen und eine Orientierung bietende Landkarte erstellen zu können. Schon Schiller hat auf beeindruckende Weise das Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion entdeckt. Doch wie an der Diskussion von Intellektualismus und Anti-Intellektualismus gezeigt, entzieht sich das Mitteleich einer angemessenen Charakterisierung, so dass das einmal Entdeckte wieder verdeckt zu werden droht. Warum nun führt die Voraussetzung des Interaktionismus hier zu einem besseren Ergebnis als die Voraussetzung der Theorien seiner dialektischen Gegenspieler? Eine Ursache – so der Diagnosevorschlag – liegt in der Methodologie. Im Zentrum der Forschung stehen aus interaktionistischer Sicht die Phänomene des menschlichen Lebens und das, was sie möglich macht. Diese Phänomene gilt aus interaktionistischer Sicht hinsichtlich ihrer allgemeinen Struktur philosophisch so zu analysieren, dass sie auf ungewöhnliche Weise beschrieben werden; das allzu Vertraute wird zunächst unvertraut, aber nur, damit am Ende im scheinbar Altbekannten eine neue Orientierung gewonnen werden kann. Dabei geht der Interaktionismus davon aus, dass die Phänomene des menschlichen Lebens zu verschiedenen Zwecken aus unterschiedlichen Perspektiven individuiert werden können. Damit kann er die ursprüngliche philosophische Freiheit erkennen, über die grundlegenden begrifflichen Weichenstellungen seiner Konzeption selbst entscheiden zu können, abhängig allein von der Frage, was dem Gewinn philosophischer Erkenntnis am zuträglichsten ist.¹¹⁹ Ganz anders sieht es hingegen im Falle des Intellektualismus und des AntiIntellektualismus aus. Stanley und Dreyfus begründen die Verwendung ihrer jeweiligen Methode nicht groß, sondern setzen sie schlichtweg voraus, so, als sei sie das Natürlichste der Welt. Für Stanley scheint es schlicht selbstverständlich zu sein, dass philosophische Erkenntnis durch eine semantische Analyse sprachlicher Zuschreibungen bzw. eine rationale Rekonstruktion von Intuitionen gewonnen wird. Für Dreyfus scheint es schlichtweg selbstverständlich zu sein, dass philosophische Erkenntnis durch eine Art von phänomenologischer Introspektion

 Ausführlicher werde ich auf diesen Punkt noch einmal im vierten Kapitel eingehen.

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

gewonnen wird.¹²⁰ Erst vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen beginnen Stanley und Dreyfus überhaupt, ihr philosophisches Nachdenken aufzunehmen. Dann aber, so die Diagnose, ist es längst zu spät. Dann nämlich sind die grundlegenden begrifflichen Weichen für das Folgende längst schon gestellt. Dann ist der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück schon getan – und gerade er erschien den Intellektualisten und den Anti-Intellektualisten unschuldig (vgl. §308 der Philosophischen Untersuchungen). Durch die Folgen dieses ursprünglichen Voraussetzens ihrer Methoden sind Intellektualismus und Anti-Intellektualismus in einem entscheidenden Sinne fremdbestimmt. Ganz im Gegensatz dazu gewinnt der Interaktionismus die philosophische Autonomie in der Analyse der Phänomene des menschlichen Lebens zurück, indem er die Wahl seiner methodologischen Grundausrichtung und seiner begrifflichen Werkzeuge selbst in die Hand nimmt.¹²¹ Vor dem Hintergrund dieses Punktes ergibt sich auch noch eine zweite Ursache dafür, dass der Interaktionismus das Handeln im Mittelreich besser erhellen zu können scheint als seine dialektischen Gegenspieler. Grob gesagt werden Intellektualismus und Anti-Intellektualismus zu einem bestimmten Bild menschlichen Handelns geführt, einem Bild, das Dreyfus zumindest in Bezug auf die obere seiner beiden Schichten vertritt.¹²² Im Zentrum menschlichen Handelns

 Der Fairness halber muss erwähnt werden, dass Stanley einige Aspekte seiner bereits in seinem Aufsatz von  verwendeten Methode in seinem neueren Buch (:  – ) post hoc verteidigt; auf einige der Punkte bin ich im ersten Kapitel bereits eingegangen. Wie im ersten und zweiten Kapitel, so kann auch hier eine Diagnose dessen, was Stanley und Dreyfus nicht explizit sagen, sondern wodurch sie in einem tieferen Sinne zu ihren Theorien geführt werden, immer nur einen Vorschlagscharakter haben. Wenn aber – das sollte ebenfalls angemerkt werden – die Berücksichtigung der Ergebnisse der bisherigen Diagnosen zur Entwicklung einer erfolgreicheren Konzeption geführt hat, dann ist das zumindest ein Indiz dafür, dass die bisherigen Diagnosen tatsächlich etwas getroffen haben.  In diesem Geiste habe ich auch eingangs § der Philosophischen Untersuchungen zitiert. (Dabei soll natürlich nicht behauptet werden, Stanley oder Dreyfus seien Fliegen.) Meinem Vorschlag gemäß ist freilich das Aufdecken unbemerkt vorausgesetzter begrifflicher Weichenstellungen, durch die erst einer Theorie ihre spezifische Form gegeben wird, nur ein Teil der philosophisch zu leistenden Arbeit. Genauso wichtig ist es, zur Analyse der Phänomene menschlichen Lebens solche begrifflichen Werkzeuge zu finden, die tatsächlich hilfreich sind. (Wiederum sei bemerkt, dass ich an anderer Stelle vorgeschlagen habe, dass Wittgenstein so verstanden werden kann, dass er dies ähnlich sieht.)  Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte hervorgehoben werden, dass ich nicht behaupte, Stanley und Dreyfus würden das Bild explizit vertreten. Stattdessen schlage ich vor, dass das Bild im Hintergrund ihres Denkens steht. Der Witz der vorliegenden Darstellung ist es, etwas explizit und (über)deutlich zu machen, das ansonsten implizit und verschwommen bleiben würde (vgl. § der Philosophischen Untersuchungen). Selbst wenn Stanley und Dreyfus auf den ersten Blick

3 Diagnose

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steht diesem Bild zufolge ein bewusstes Subjekt. Pardigmatischerweise wählt, initiiert, und kontrolliert dieses bewusste Subjekt eine Handlung; und wo dieses Paradigma einmal nicht zutrifft, wird angenommen, dass das bewusste Subjekt seine zunächst unbewussten mentalen Zustände zumindest auf Nachfrage explizit machen und zu Bewusstsein bringen kann.¹²³ Zentral für den Interaktionismus ist nun, dass er ohne den Gedanken eines bewussten Subjekts auskommt. Seine erkannte Freiheit in der Gestaltung grundlegender Begrifflichkeiten ausnutzend, setzt der Interaktionismus an die Stelle des bewussten (transzendentalen) Subjekts die Akzeptanz-Struktur. Mit dieser fundamentalen begrifflichen Weichenstellung einher geht die Entstehung vieler neuer Denkweisen, die alle zusammen und miteinander wechselwirkend einen Beitrag zu einer erhellenderen und Phänomen-gerechteren Analyse menschlichen Handelns leisten können (so zumindest der Vorschlag). Dabei sind zumindest einige dieser neuen Denkweisen schnell genannt. Erstens wird die Einseitigkeit der Zweiteilung zwischen dem Handeln eines personalen bewussten Subjekts einerseits und einem bloß reflexhaften Kausal-Ereignis andererseits erkannt und ein dritter Weg bereitet: Die Individuierung von Ereignissen als Inter-

zurückweisen würden, an dem Bild orientiert zu sein, könnten sie damit auf den zweiten Blick erkennen, dass ihre Theorien dem Bild doch näher kommen als ihnen lieb sein kann. In diesem Sinne ist die hier vorgenommene Skizzierung des Bildes eher ein Muster, mit dem Theorien verglichen werden können, als eine detaillierte Portraitierung tatsächlich existierender Theorien.  Wiederum, so der Vorschlag, sind es unhinterfragte Vorannahmen, die zu einem solchen Bild führen. Geht man davon aus, dass philosophische Erkenntnis durch phänomenologische Introspektion gewonnen werden kann, dann liegt es nahe, zur Erkenntnis seines „Selbst“ den Blick „nach innen“ zu richten. Was findet man dann dort als einen selbst ausmachend? Die Antwort lautet, dass man dort sein Bewusstsein findet, und entsprechend liegt es nahe zu denken, dass das, was einen selbst und was andere Personen ausmacht, nichts anderes ist als das Bewusstsein. Aber wie leicht zu sehen ist, ist verdankt sich dieser Gedanke nicht einem Treffen der Sache selbst, sondern ist vielmehr der verwendeten introspektiven Methode geschuldet. Wenn man den bewussten Blick nach innen wendet, kann man dort gar nichts anderes finden als sein Bewusstsein. Die Methode der Untersuchung präjudiziert schon das Ergebnis ihrer Anwendung. Geht man nun davon aus, dass philosophische Erkenntnis durch eine Analyse sprachlicher Zuschreibungen oder eine rationale Rekonstruktion von Intuitionen gewonnen wird, dann liegt es nahe, menschliches Handeln philosophisch so zu analysieren, wie es alltagssprachliche Intuitionen nahelegen. Wie beschrieben werden Ereignisse im Alltag oft entweder als reflexhafte Kausal-Ereignisse oder als bewusste und entscheidungsbasierte Handlungen ganzer Personen verständlich gemacht. Da die Phänomene menschlichen Handelns in den meisten Fällen schlecht als reflexhafte Kausal-Ereignisse verständlich gemacht werden können, liegt es dann nahe, menschliches Handeln als bewusste und entscheidungsbasierte Handlungen ganzer Personen zu analysieren. Wiederum wird das Ergebnis der Untersuchung durch die verwendete Methode vorweggenommen.

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aktionen von Affordanz und Akzeptanz.¹²⁴ Zweitens wird die Akzeptanz-Struktur aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit individuiert und damit als etwas, das bedeutungsvoll und nicht bloß kausal-subpersonal ist, das aber zugleich von außen aus drittpersonaler Perspektive untersucht werden kann. Damit kann nicht nur die philosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrung beibehalten werden, sondern die Frage nun dank des Blicks von außen auch auf eine Weise beantwortet werden, die wissenschaftlich informiert und anschlussfähig ist. Drittens muss Handeln nun nicht mehr als initiiert durch ein bewusstes handelndes Subjekt verstanden, sondern kann als nicht bewusstseinspflichtiges direktes Reagieren und Interaktion von Affordanz und Akzeptanz in neuem Lichte gesehen werden.Viertens wird begrifflicher Raum dafür geschaffen, dass Handeln nicht atomistisch durch eine einzelne Entscheidung bestimmt ist, sondern es im Angesicht der holistischen Komplexität der Akzeptanz-Struktur ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren gibt, vor deren Hintergrund auf bestimmte Weise auf Gegebenheiten in der Umwelt reagiert wird. Fünftens erlaubt die Konzeption einer einheitlichen Akzeptanz-Struktur eine einheitliche Konzeption des Menschen, anstatt ihn etwa in eine reflektierte obere Schicht und eine reflexhafte untere Schicht zu zerteilen. Sechstens wird eine neue Sichtweise auf die Umwelt gewonnen, die nun nicht mehr bloß Arena zur Umsetzung vorher gefasster Entscheidungen ist, sondern die den Handelnden jetzt mittels ihrer Möglichkeiten und subtilen situativen Kräfte leitet, und die ihn zuvor zu dem gemacht hat, der er ist. Siebtens wird eine diachrone Denkweise eingeführt; dabei wird zum einen die Akzeptanz-Struktur als temporal entstanden und wandelbar angesehen und zum anderen die Umwelt eines Handelnden als etwas, das für ihn vor dem Hintergrund seiner in der Vergangenheit ausgebildeten Akzeptanz-Struktur immer schon bedeutungsvoll ist. Achtens schließlich wird Kontrolle im Handeln nun als ein durch die jeweilige Akzeptanz-Struktur strukturiertes Reagieren auf Gegebenheiten der Umwelt verstanden, so dass ein Akteur weder ein „aktiver“ Schöpfer ganz neuer Kausalketten ist noch ein „passiver“ Spielball seiner Umgebung. All diese neuen Denkweisen, nebst anderen, sind es,

 Anders ausgedrückt, aber dasselbe meinend, wird hier im Anschluss an Husserl und Merleau-Ponty vom „Raum der Motivationen“ gesprochen. Genau genommen ist die Rede von einem „dritten Weg“ in zweierlei Hinsicht irreführend: Erstens gibt es im Rahmen des vorgeschlagenen Perspektivismus sehr viele mögliche Perspektiven auf menschliches Handeln, und nicht genau drei (oder vier oder fünf). Und zweitens sollten die beiden zuvor genannten Weisen der Individuierung von Ereignissen nicht ohne weiteres als hilfreich akzeptiert werden: Immerhin verdanken sie sich einer problematischen Herkunft und können zudem als philosophische Enkel der Cartesianischen Kategorien der res cogitans und der res extensa angesehen werden.

3 Diagnose

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die es dem Interaktionismus erlauben, die Phänomene menschlichen Handelns im Mittelreich auf die Weise zu analysieren, auf die er sie analysiert. Ungeachtet dieser Punkte kann es hilfreich sein, noch auf einige allgemeine Vorteile der interaktionistischen Analyse unreflektierten Handelns hinzuweisen. So kann zunächst das Potential des Interaktionismus als allgemeine Handlungstheorie hervorgehoben werden. Dabei kann der Interaktionismus etwa begriffliche Werkzeuge bereitstellen, um die Phänomene menschlichen Handelns in Einzelfällen genauer untersuchen zu können; etwa das Handeln des Chirurgen, des Fußball-Spielers, des Jazz-Pianisten, usw. Darüber hinaus verfügt der Interaktionismus über eine gewisse integrative Kraft. Integrieren kann er dabei nicht nur philosophische Einsichten ganz unterschiedliche Herkunftsrichtung, sondern auch empirische Erkenntnisse aus Psychologie und anderen Kognitionswissenschaften. Exemplarisch sei die Anschlussfähigkeit an Befunde aus der (Sozial)-Psychologie genannt. Heute wissen wir, dass schon die kurzzeitige Präsentation bestimmter Worte, etwa von Worten, die mit dem Stereotyp älterer Menschen assoziiert werden, zu veränderten Handelnsweisen führt, etwa indem die Personen, denen die Worte präsentiert werden, langsamer gehen (Bargh et al. 1996, Bargh & Chartland 1999). Finden Personen auch nur eine 10-Cent-Münze in der Telefonzelle, handeln sie fortan wesentlich hilfsbereiter (Isen & Levin 1972). Befinden sich Menschen in der Aura einer Autoritätsperson, fügen sie auf Befehl einer dritten Person Stromstöße zu, selbst wenn diese dritte Person unter Schmerzensschreien widerspricht (Milgram 1974). Haben Personen gerade eine geistig anspruchsvolle Aufgabe erledigt, sind sie anschließend deutlich weniger geneigt, selbst in trivialen Dingen die Initiative zu ergreifen (Baumeister et al. 1998). Es hat herausgestellt, dass die Stimmung, in der sich ein Mensch befindet, entscheidend seine Wortwahl beeinflusst (Beukeboom & Semin 2006). All dies sind Dinge, die nicht absichtlich geschehen, wenn man „absichtlich“ in diesem Kontext so versteht, dass der Akteur bzgl. dieser Dinge der Möglichkeit nach autoritatives Selbst-Wissen besitzt (Absicht3).¹²⁵ Eine rückwärtsgewandte Handlungstheorie würde versuchen, irgendwelche Fehler in jedem der zugrunde liegenden Experimente aufzuspüren, um das volkspsychologische Bild, das einem beim Betrachten der Oberflächenstruktur der Grammatik entgegen kommt, so gut wie möglich gegen die Wissenschaft zu verteidigen. Eine vorwärtsgewandte Handlungstheorie würde dagegen versuchen, diese Befunde möglichst gut zu integrieren, um so einen größeren begrifflichen

 Für eine Übersicht über eine Vielzahl derartiger „situationistischer“ Studien aus philosophischer Sicht siehe Doris . Für eine Übersicht aus psychologischer Sicht siehe Ross & Nisbett . Eine kürzere hilfreiche psychologische Übersicht liefern auch Bargh & Chartland .

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Rahmen aufzuspannen, in dem sich wissenschaftliche Befunde und philosophische Einsichten wechselseitig erhellen können. Der Interaktionismus ist genau eine solche vorwärtsgewandte Handlungstheorie. Die genannten Befunde bestätigen den Interaktionismus in seinem Kern, d. h. darin, dass sich Welt und Akteur stets wechselseitig beeinflussen. Viele der genannten Einflüsse können als Affordanzen verstanden werden. Diese führen zu Modifikationen der Akzeptanz-Struktur eines Menschen. Dadurch ändert sich seine Welt, d. h. das, was für ihn eine Affordanz ist. Und dadurch handelt er auf andere Weise. Damit besitzt der Interaktionismus das Potential, zentrale theoretische Lücken zu schließen. Denn obwohl einige der genannten empirischen Befunde teilweise schon Jahrzehnte alt sind, können sie von einigen traditionelleren philosophischen Handlungstheorien bestenfalls negativ als Störfaktoren verständlich gemacht werden, die den Vollzug autonom-reflektiert absichtsvoller Handlungen in Ausnahmefällen behindern. Der Interaktionismus hingegen kann die Einflüsse der genannten Faktoren als die positiven und allgegenwärtigen Phänomene verständlich machen, die sie einer Vielzahl empirischer Befunde zufolge sind, und sie mittels seiner begrifflichen Werkzeuge auf konstruktive Weise begreifbar werden lassen. Zudem fehlt es auch in der Psychologie an einer einheitlichen Theorie, in die sich die Vielzahl von Befunden so integrieren lässt, dass sich die Resultate wechselseitig erhellen können. Denn das dort vorherrschende Davidsonianische Paradigma ist mit den genannten situationistischen Einsichten inkompatibel, und das situationistische Paradigma etwa mit dem Bestehen individueller Unterschiede im menschlichen Verhalten.¹²⁶ Auch hier kann der Interaktionismus helfen, eine wichtige theoretische Lücke zu schließen. Dabei kann der Interaktionismus schließlich nicht nur vergangene Befunde ordnen, systematisieren und miteinander in Beziehung setzen.Vielmehr könnte er darüber hinaus prinzipiell auch mittels seiner Grundgedanken und grundlegenden begrifflichen Weichenstellungen den Kognitionswissenschaften Orientierung bei ihrer zukünftigen Forschung bieten. Als ein besonders naheliegendes Beispiel sei genannt, dass er Gehirn-zentrierte Neurowissenschaftler auf die immense Relevanz der Umwelt für das Handeln aufmerksam machen kann (vgl. für eine Entwicklung dieses Gedankens Noë 2009).

 Natürlich ist es aus philosophischer Sicht nicht trivial zu behaupten, die situationistischen Befunde seien mit Davidsons Handlungstheorie inkompatibel. Für eine sehr ausführliche diesbezügliche Argumentation siehe Di Nucci . (Die Existenz dieser bereits existierenden ausführlichen Argumentation ist dabei auch ein Grund dafür, warum hier auf eine Abgrenzung des Interaktionismus gegenüber Davidsons Handlungstheorie verzichtet wird.)

3 Diagnose

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Doch auf längere Sicht bedarf der Interaktionismus selbst einer gründlicheren Ausarbeitung, Präzisierung und Klärung. Zwar kann der Interaktionismus neben den genannten Vorteilen das leisten, wozu er in diesem Kontext gedacht ist, nämlich jenseits von Intellektualismus und Anti-Intellektualismus einen neuen Weg aufzeigen, um das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion auf erhellende Weise philosophisch zu analysieren. Er birgt jedoch auch das Potential, eine eigene philosophische und psychologische Handlungstheorie zu sein, und um dieses Potential zu entfalten, müsste der Interaktionismus weiter vertieft werden – freilich ein ganz eigenes philosophisches Projekt. Weiter geklärt werden müsste erstens die Natur von Affordanzen; in diesem Kontext würden die oben erwähnten Differenzierungen zwischen verschiedenen Begriffen der Affordanz hilfreich sein. Zweitens gilt es, auch die Akzeptanz-Struktur näher zu analysieren. Obwohl die Akzeptanz-Struktur aus Sicht des Interaktionismus holistischer Natur ist, wäre es wünschenswert, am Ende präzise Vorhersagen über das Zusammenwirken der verschiedenen Aspekte treffen zu können: Befindet sich etwa die gewohnte Wasserflasche eines durstigen Akteurs ein wenig außerhalb der Griffreichweite, während ausnahmsweise ein neuartiges Wasserglas in Griffreichweite steht, auf welche der beiden Affordanzen wird der Akteur dann letzten Endes reagieren? Sicherlich erlauben es schon allein die derzeit bestehenden empirischen Daten nicht, hier zur Zeit präzise Vorhersagen zu treffen, aber jedenfalls ist dies ein Punkt, an dem die philosophische Weiterentwicklung des Interaktionismus und eine empirische Forschung Hand in Hand gehen könnten. Zudem wäre es darüber hinaus auch wünschenswert, mehr über die neuronalen Grundlagen des Reagierens auf Affordanzen zu erfahren (vgl. dazu schon Ridderinkhof et al. 2011). Insgesamt sind Affordanzen und Akzeptanzen in diesem Sinne Explanantia und Explananda zugleich. Drittens schließlich gilt es, den Interaktionismus derart zu erweitern, dass die Reichweite seiner Anwendung über das Handeln im Mittelreich hinaus ausgedehnt wird. Denn wie argumentiert liefert der Interaktionismus erstens die beste Erklärung des Handelns zwischen Reflex und Reflexion. Und zweitens ist eine Sichtweise, die à la Dreyfus den Menschen in eine unreflektierte und eine reflektierte Schicht spaltet, nicht haltbar. Dann aber liegt es nahe, den Interaktionismus auch auf das auszudehnen, was man als „höhere Kognition“ bezeichnen könnte. Wäre seine Analyse höherer Kognition mindestens genau so gut wie diejenige klassischerer Theorien, wäre es – qua Einheitlichkeit und besserer Erklärung für unreflektiertes Handeln – rational angezeigt, den Interaktionismus auch für jenen Phänomenbereich zu akzeptieren. Erfordert sind in diesem Kontext etwa eine interaktionistische Analyse des Sprechens, des Überlegens und des autonom-reflektierten Handelns. Abschließend ist noch eine weitere zukünftige Entfaltungsmöglichkeit des Interaktionismus zu nennen. Der Interaktionismus kann nämlich nicht nur so

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verstanden werden, dass er in der Lage ist, einen begrifflichen Rahmen zur Integration verschiedener empirischer Befunde aufzuspannen. Vielmehr kann er auch so verstanden werden, dass er in Bezug auf einen phänomenalen Kernbereich auch selbst ernstzunehmenden empirischen Gehalt hat und einer empirischen Überprüfung zugänglich ist. Was gezeigt werden müsste, um die Plausibilität des Interaktionismus auch empirisch nachzuweisen, ist, dass er menschliches Handeln besser vorhersagen kann als andere Handlungstheorien, die ebenfalls empirischen Gehalt aufweisen. In philosophischer Hinsicht ist dabei vor allem an die Davidson’sche Handlungstheorie zu denken, aus psychologischer Sicht tritt die situationistische Strömung hinzu, der gemäß Verhalten primär anhand von Gegebenheiten der Situation und nicht anhand von individuellen Eigenschaften vorhergesagt wird (vgl. Ross & Nisbett 1991, vgl. Doris 2002). Gemäß des Davidson’schen Ansatzes wird Handeln anhand von Wünschen und Überzeugungen vorhergesagt. Gemäß des situationistischen Ansatzes wird Verhalten anhand der Beschaffenheit der jeweiligen Situation vorhergesagt (beispielsweise wird vorausgesagt, dass jeder, der eine Münze findet, danach mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit anderen hilft). Dagegen würde der Interaktionismus voraussagen, dass sich das Verhalten an den vorhandenen Affordanzen ermisst, in Bezug auf deren Einfluss man keine oder falsche Überzeugungen haben kann (pace Davidson), dass aber bestimmte Gegebenheiten für verschiedene Personen vermöge ihrer je individuell unterschiedlichen Akzeptanz-Struktur unterschiedliche Affordanzen bieten (pace den Situationismus). Entlang dieser gedanklichen Linien ein konkretes Experiment-Design zu entwickeln und das entsprechende Experiment durchzuführen, ist damit eine weitere zukünftige Entfaltungsmöglichkeit des Interaktionismus. Die interaktionistische Wette lautet, dass nicht etwa ein Rekurs auf Wünsche und Überzeugungen oder ein Rekurs auf Situationstypen den besten empirischen Erfolg garantieren wird, sondern ein Rekurs auf Affordanzen und Akzeptanzen. Vorerst bleibt festzuhalten, dass der Interaktionismus bereits für sich verbuchen kann, das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion philosophisch erfolgreich analysieren zu können. Insgesamt bietet der Interaktionismus damit wichtige Grundbausteine für ein verbessertes Verständnis menschlichen Handelns – ein Verständnis, das methodisch reflektiert ist, das an aktuelle kognitionswissenschaftliche Einsichten anknüpft, das sich als hilfreich zur Vermeidung bestimmter philosophischer Probleme erweist und das die menschliche Alltagserfahrung durch eine interessante Wiederbeschreibung auf neue Weise erhellen kann.

4 Fazit

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4 Fazit Vieles menschliche Handeln geschieht unreflektiert, und dieses unreflektierte Tun stellt oft gerade den besten und gekonntesten Bereich menschlichen Wirkens in der Welt dar. Wie wir in der Einleitung gesehen haben, ist es leicht, die kognitive Komponente dieses Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion überzuintellektualisieren, wie Kant es tut, oder sie unterzuintellektualiseren, wie Kleist es tut. Wie sich dann in größerem Detail in dem ersten und zweiten Kapitel ergeben hat, ergeht es dem Intellektualismus und dem Anti-Intellektualismus genau so: Der Intellektualismus überintellektualisiert die kognitive Komponente gekonnten Handelns, der Anti-Intellektualismus unterintellektualisert sie. Schiller hat dagegen eine Alternative vorgeschlagen, die der Natur des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion Rechnung trägt. Auf seinen Spuren wandelnd ist der Interaktionismus nun die Theorie, um Schillers Einsicht systematisch weiter auszuarbeiten. Unter Rekurs auf zentrale Einsichten Wittgensteins, Husserls, Heideggers, Merleau-Pontys, Gibsons und Bourdieus sowie ihrer Weiterentwicklung kann der Interaktionismus das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion auf neue Weise verständlich machen und erhellen. Dabei kann der Interaktionismus zentrale Facetten menschlichen Handelns, von Regeln über Intelligenz, Kontrolle, Bewusstsein, Sprache und Kognition bis hin zu Lernen und Expertise auf bessere Weise erklären als der Intellektualismus und der Anti-Intellektualismus. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Interaktionismus und den anderen Ansätzen wurde an einer anderen Bestimmung der Natur des Menschen festgemacht: Gemäß dem Interaktionismus ist der Mensch nicht primär ein bewusstes Selbst, dessen unbewusste Kognition nur Beiwerk und für das die Außenwelt nur die Arena des Wirkens ist. Stattdessen wird der Mensch monistisch bestimmt: Das Reflektierte und Bewusste sind nur Variationen in einer größtenteils unreflektierten und unbewussten Kognition, und die immer schon verstandene Umwelt leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Menschen so handeln, wie sie es tun. Wie wir jedoch in der Einleitung ebenfalls gesehen haben, wurde Schiller durch einen Kantischen Gedankengang dazu gebracht, letzten Endes doch in eine Kantische Anthropologie „zurückzukippen“: Dem Gedanken der Zurechnung eines Handelns zu einer Person als Ganzer. Wie ist es möglich, ein Handeln einer Person als Ganzer so zuzurechnen, dass es gerechtfertigt, die Person für dieses Handeln als ihr eigenes Handeln zur Verantwortung zu ziehen? Kant und letzten Endes auch Schiller konnten sich diesen Gedanken nur durch die Annahme einer intelligiblen Vernunft bzw. eines im Hintergrund stehenden bewussten Willens erklären. Nur wenn ein Handeln auf eine besondere Quelle innerhalb der Person –

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III Die Natur der praktischen Intelligenz

auf ihre intelligible Vernunft bzw. ihren bewussten Willen – zurückgeführt werden könne, sei es demnach möglich, der Person ein Handeln als ihr Handeln verantwortbar zuzurechnen. Dann hätten wir den Menschen doch wieder zweigeteilt und ein vernünftiges bewusstes Selbst als Kern innerhalb der Person ausgemacht, der von unbewusster Kognition als Beiwerk umhüllt wird. Es muss betont, wie wichtig diese Frage der gerechtfertigten Zurechenbarkeit ist. Denn aus Sicht des Interaktionismus zeichnet sich ein Gelingen menschlichen Handelns gerade durch eine große Interaktionsdichte und eine große Interaktionstiefe aus. Bourdieu nun führt ein erschreckendes Beispiel für genau einen solchen Fall an. Laut Borudieu (1997: 204) ist gerade ein „Apparatschik“ ein Mensch, der sich im Laufe der Zeit perfekt an seine Umwelt angepasst hat: Der Apparatschik, der alles dem Apparat verdankt, ist der Mensch gewordene Apparat, der bereit ist, einem Apparat, der ihm alles gab, alles zu geben: Man kann ihn ohne Besorgnis in Spitzenfunktionen berufen, weil er nichts zur Beförderung seiner eigenen Interessen tun kann, was nicht eben dadurch den Erwartungen und Interessen des Apparats Genüge leistete [.]

Ein Beispiel für ein besonders gelungenes Handeln aus interaktionistischer Sicht scheint ausgerechnet das Handeln eines Apparatschiks zu sein, der seine Akzeptanz-Struktur perfekt an die möglichen Affordanzen eines vielleicht moralisch zwielichten Regimes angepasst hat. Nun scheint es aber eine zentrale Errungenschaft der Aufklärung zu sein, ein menschliches Selbstverständnis entwickelt zu haben, demgemäß das Handeln des Apparatschiks gerechtfertigterweise mit guten Gründen kritisierbar und demgemäß er für sein Handeln moralisch verantwortlich ist. Doch auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, wie der Interaktionismus noch Raum für Verantwortbarkeit und Rationalität lassen kann, wenn am Handeln des Apparatschiks aus Sicht des Interaktionismus alles gelingend ist. Und derselbe Punkt kann auch noch auf andere Weise gemacht werden. Denn bisher haben wir lediglich über menschliches Handeln gesprochen, und dieses Handeln unter Rekurs auf die Kognition bestimmt. Wichtig scheinen aber auch insbesondere menschliche Handlungen als rein normativ individuierte Einheiten von Ereignissen zu sein. Die ganze Dimension der Normativität ist durch den Interaktionismus noch nicht berührt. Das Problem ist, dass man sich Normativität,Verantwortung und Rationalität nur verständlich machen zu können scheint, wenn man von der Existenz eines bewussten Selbst ausgeht, das in bewusster Überlegung Gründe und Gegengründe sorgsam gegeneinander abwägt. Aber diese Annahme widerspricht der Grundannahme des Interaktionismus, dass Überlegungen nichts anderes sind als Variationen in einem einheitlichen Interaktionsgeschehen. Muss man sich zwischen der interaktionistischen Analyse menschlichen Handelns und der Sichtweise

4 Fazit

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entscheiden, dass Menschen für ihr Handeln verantwortlich sind und dafür mit Gründen einstehen können? Das Schicksal des Interaktionismus ist mit der Beantwortung diese Fragen verbunden. Nur aufgrund des Problems der verantwortbaren Zurechenbarkeit ist Schiller in seiner Analyse des Mittelreichs gescheitet. Nur aufgrund seiner philosophischen Motivation, die rational-normative Dimension menschlichen Wahrnehmens und Handelns verständlich zu machen, konzipiert McDowell seine Theorie so intellektualistisch, wie er es tut. Und nur wenn eine überzeugende Antwort auf diese Fragen geliefert, kann die interaktionistische Analyse unreflektierten Handelns länger akzeptiert werden als bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich erstmals das Problem rationaler Verantwortbarkeit stellt. Nur wenn eine überzeugende Antwort auf diese Fragen geliefert wird, kann vermieden werden, dass sich Schillers Scheitern wiederholt. Aufgrund dieses Problems folgt nun das vierte Kapitel dieser Arbeit, in der es um Rationalität im Handeln zwischen Reflex und Reflexion geht. Dort werde ich eine neuartige, alternative und konstruktive Konzeption von Rationalität ohne Reflexion und von Verantwortung ohne Kontrolle vorschlagen, eine Konzeption, die den Interaktionismus stützt und stärkt, ergänzt und erweitert, bekräftigt und komplementiert.

IV Rationalität ohne Reflexion Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‘Urphänomene’ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt. – Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §654

Der Mensch ist klassischerweise als das rationale Tier bestimmt worden, als dasjenige Lebewesen, das aus Gründen handelt und das diese Gründe zur Rechtfertigung seines Handelns anführen kann, wenn es für sein Handeln verantwortlich gemacht wird. Diese Verortung des Menschen im rationalen Raum ist traditionell mit einer bestimmten Konzeption der kognitiven Grundlagen rationalen Handelns einhergegangen, nämlich derjenigen Konzeption, dass ein Mensch nur dann rational handelt, wenn er (im relevanten Sinne) reflektiert bzw. kontrolliert bzw. absichtlich handelt.¹ In den ersten drei Kapiteln dieser Arbeit habe ich aber argumentiert, dass ein Großteil menschlichen Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion angesiedelt und damit (im relevanten Sinne) nicht reflektiert bzw. kontrolliert bzw. absichtlich ist.² Aus diesem Befund könnte man nun auf den ersten Blick zu folgern geneigt sein, dass das rationale Tier in einem Großteil seines Handelns doch nur Tier ist und nicht rational. Das jedoch wäre eine verheerende Konsequenz: Denn die Möglichkeit, Gründe und Gegengründe in Bezug auf eine Handlung anzuführen scheint essentiell dafür zu sein, einen Akteur für seine Handlung verantwortlich machen zu können. Und einen Akteur verantwortlich machen zu können, ist wichtig, damit er im epistemischen Bereich für die Wahrheit seiner Äußerungen und im moralischen Bereich für die Richtigkeit seines Tuns einstehen kann. In diesem Kapitel möchte ich eine Antwort vorschlagen. Zur Befreiung aus der entstandenen theoretischen Schwierigkeit gilt es, eine der Annahmen aufzugeben, deren Voraussetzen die Schwierigkeit erst entstehen gelassen hat – nämlich die Annahme, dass ein Mensch nur dann rational handelt, wenn er (im relevanten Sinne) reflektiert bzw. kontrolliert bzw. absichtlich handelt. Das Problem bzgl.

 Genauer gesagt, wenn er reflektiert im weiten oder engen in der Einleitung bestimmten Sinne handelt, bzw. wenn er im Geiste eines anspruchsvollen Verständnisses von „Kontrolle“ (vgl. Fischer & Ravizza ) und nicht nur gemäß dem im dritten Kapitel bestimmten Sinne kontrolliert handelt, bzw. wenn er gemäß der im dritten Kapitel getroffenen Unterscheidungen absichtlich im Sinne von Absicht oder Absicht oder Absicht (und nicht bloß absichtlich im Sinne von Absicht oder Absicht oder Absicht) handelt.  Aber natürlich kann es – in anderem Sinne – absichtlich im Sinne von Absicht oder Absicht und kontrolliert gemäß der in Kapitel III vorgeschlagenen Bestimmung von „Kontrolle“ sein; vgl. auch die Beobachtungen zu Antizipation und mentaler Simulation in Kapitel III.

IV Rationalität ohne Reflexion

237

menschlicher Rationalität und Verantwortlichkeit entsteht nur vor dem Hintergrund jener Annahme, aber das Problem kann aufgelöst werden, indem die Annahme aufgegeben wird. Positiv gesprochen schlage ich vor, ein neues Verständnis menschlicher Rationalität zu gewinnen, das ohne die Voraussetzung der Reflexion auskommt. Und dabei schlage ich zugleich vor, ein neues Verständnis menschlicher Verantwortlichkeit zu gewinnen, das ohne die Voraussetzung der Kontrolle auskommt.³ Die Gewinnung dieser neuen Konzeption geht dabei mit dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen neuen Verständnis dessen einher, was es heißt, als Mensch in der Welt zu handeln. Die Entwicklung einer solchen Konzeption ist von größter Relevanz, weil sie erlauben würde, eine stärkst mögliche Konzeption menschlicher Rationalität innerhalb der tatsächlichen Grenzen der menschlichen Psyche zu entwickeln. Damit würde die Konzeption das Projekt fortführen, an dem Schiller gescheitert ist, nämlich die kognitiven Grundlagen menschlichen Handelns einerseits feinfühlig zu analysieren, andererseits aber auch eine starke Konzeption von Rationalität und Moralität zu gewinnen, durch die die gerade erkannten Grundlagen menschlichen Handelns nicht schon wieder überintellektualisiert werden. Obwohl ich im Folgenden Anleihen bei Kant, Wittgenstein, Hegel, Husserl, Heidegger, dem Konsequentialismus und der Ordinary Language Philosophy nehmen werde, ist eine solche Konzeption von Rationalität ohne Reflexion bzw. Verantwortlichkeit ohne Kontrolle bisher (meines Wissens) noch nicht entwickelt worden. Ein Grund hierfür ist sicherlich darin zu finden, dass das Projekt der Ausarbeitung einer Konzeption von Rationalität ohne Reflexion bzw. Verantwortung ohne Kontrolle generell als schwierig angesehen wird. Denn wer eine solche Konzeption verteidigt, muss hinsichtlich einer Vielzahl von Problemfelder Lösungen finden, in Bezug auf die die traditionelle Kopplung von Verantwortlichkeit und Rationalität an Kontrolle und Reflexion schon scheinbar alternativlose Antworten gefunden hat. So muss geklärt werden, wie ein Ereignis einer Person als ihre Handlung zugerechnet werden kann, wenn die Hervorbringung des Ereignisses nicht unter der reflektierten Kontrolle der Person gestanden hat. Ebenfalls gilt es zu klären, was es noch heißen kann, aus Gründen zu handeln, wenn es nicht heißt, dass der Akteur Gründe abwägt. Es gilt zu klären, wie ein Handeln über-

 Grob gesagt verstehe ich unter einer Konzeption rationalen Handelns eine Konzeption, die verständlich macht, inwiefern Handeln aus Gründen geschieht und mit Gründen verteidigt werden kann, und unter einer Konzeption menschlicher Verantwortlichkeit eine Konzeption, die verständlich macht, wie ein Handeln als richtig oder falsch angesehen, einer Person zugrechnet und dann ggf. als mit Gründen zu verteidigen hingestellt wird. In diesem Sinne sind eine Konzeption rationalen Handelns und eine Konzeption menschlicher Verantwortlichkeit also wechselseitig verschränkt, wobei eine Konzeption menschlicher Verantwortlichkeit umfassender ist.

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IV Rationalität ohne Reflexion

haupt als richtig oder falsch angesehen werden kann, wenn der Akteur nicht ein reflektiertes Urteil gefällt hat. Es gilt zu klären, wie Zuschreibungen von Verantwortung überhaupt fair sein können, wenn sich der Akteur nicht mit freier reflektierter Kontrolle dazu entschieden hat, genau so zu handeln, wie er gehandelt hat. Und es stellen sich noch weitere Probleme … Angesichts dieser fundamentalen Schwierigkeiten werde ich mich im Folgenden darauf beschränken zu verteidigen, dass die Entwicklung einer Konzeption von Verantwortung ohne Kontrolle bzw. Rationalität ohne Reflexion überhaupt möglich ist. Mit anderen Worten werde ich also einen neuen konstruktiven Vorschlag machen, ohne an dieser Stelle zu behaupten, dass er die einzig akzeptable Sichtweise auf Verantwortung und Rationalität darstellt. Gezeigt werden soll allein, dass hier ein alternativer Denkweg besteht, über den sich weiter nachzudenken lohnt. Zur Entwicklung dieses Ansatzes werde ich zuerst die Grundlagen der erwähnten „orthodoxen“ Sichtweise auf Verantwortung und Rationalität kurz präsentieren (Abschnitt 1), um vor dem diesem Hintergrund zunächst die sieben Kernideen meines alternativen Vorschlags darzustellen (Abschnitt 2). Dann werde ich verteidigen, dass meine Konzeption möglich ist, obwohl sie eine für manchen vielleicht ungewohnte Methodologie mit sich bringt und in gewisser Hinsicht kontraintuitiv ist (Abschnitt 3). Im Anschluss werde ich zeigen, wie mit den zentralen Problemen der Handlungszurechnung (Abschnitt 4) und der Normativität (Abschnitt 5) umgegangen werden kann. Zudem werde ich eine alternative Konzeption von Rationalität und Gründen vorstellen (Abschnitt 6). Auf die Fragen des Zwecks und der Fairness von Verantwortungszuschreibungen (Abschnitt 7) sowie auf die Rolle der Freiheit (Abschnitt 8) gehe ich dann ein. Abschließend endet das Kapitel mit einer Konklusion (Abschnitt 9).

1 Die orthodoxe Sichtweise Zunächst werde ich sieben Grundgedanken dessen, was man als „orthodoxe“, Kontroll- und Reflexions-basierte Konzeption menschlicher Verantwortung und Rationalität zu bezeichnen geneigt sein könnte, darstellen, um vor diesem Hintergrund im Anschluss den Kontrast zu den sieben Kernideen meiner alternativen Sichtweise deutlich machen zu können. Unter den „orthodoxen Konzeption“ verstehe ich eine nicht unverbreitete Denkweise über Rationalität und Verantwortung, die teilweise an ein alltägliches Verständnis menschlicher Verantwortung anknüpft, die sich in verschiedenen juristischen und philosophischen Verantwortungstheorien findet, die am typischsten in der aristotelischen Moralpsychologie ausgedrückt wird, die am besten in der Theorie John Martin

1 Die orthodoxe Sichtweise

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Fischers und Mark Ravizzas ausbuchstabiert ist, und die insbesondere Handlungstheoretiker wie Korsgaard zu ihren Anhängern zählen kann. Hier geht es mir nur darum, in stark idealisierender Form die weitgehend geteilten, typischen Grundgedanken dieser orthodoxen Konzeption so explizit wie möglich zu machen. (Die Motivation, diese „orthodoxe“ Konzeption an dieser Stelle zu skizzieren, ist es, vor diesem Hintergrund die Eigenheiten meiner Alternative besonders deutlich hervortreten lassen zu können; da das Ziel in diesem Kapitel wie gesagt allein in der konstruktiven Entwicklung einer Alternative besteht, geht es mir nicht darum zu behaupten, dass der ein oder andere Philosoph Vertreter der orthodoxen Sichtweise ist und dass er falsch liegt).⁴ Erstens ist für die Orthodoxie die Methode typisch, mittels der die orthodoxe Konzeption gewonnen wird. Demnach wird davon ausgegangen, dass es eine ideale und reine Theorie menschlicher Verantwortlichkeit gibt, die sich in der tatsächlichen Praxis der Zuschreibung von Verantwortung unrein ausdrückt. Um die ideale Theorie zu gewinnen, gelte es, den Inhalt sprachlicher Zuschreibungen von Verantwortung zu betrachten und rational zu rekonstruieren. Verwenden beispielsweise Menschen Äußerungen wie „Entschuldigung, aber ich hatte mich zu dem Zeitpunkt nicht unter Kontrolle“, dann kann dies so rational rekonstruiert werden, dass es etwas wie eine Kontrolle gibt, deren Vorliegen notwendige Bedingung dafür ist, an etwas schuld zu sein.Verwenden Menschen Äußerungen wie „Sei nicht so willensschwach, streng‘ dich mehr an“, dann kann dies so rational rekonstruiert werden, dass es so etwas wie einen Willen gibt, der stark oder schwach sein kann. Wichtiges Mittel dieser Methode sind dabei Intuitionen, ob man ein bestimmtes Wort (wie „Kontrolle“ oder „Willen“ oder „verantwortlich“) auf bestimmte Fälle anwenden würde oder nicht. Zweitens ist eine bestimmte Sichtweise auf menschliches Handeln typisch, die u. a. Ergebnis der Anwendung der genannten Methode ist. Dabei gibt es gemäß dieser Sichtweise auf der einen Seite bloße körperliche Ereignisse und auf der anderen vollwertige Handlungen. Vollwertige Handlungen sind idealtypischerweise solche Ereignisse, hinter denen eine Person als ganze steht. Der personale Kern eines Menschen wird dabei verstanden als ihr reflektiertes, kontrolliertes Bewusstsein. Entstammt ein Ereignis einer bewussten, reflektierten Entscheidung

 Um leicht abweichende Konzeptionen immer noch als Spielarten der orthodoxen Konzeption klassifizieren zu können, verstehe ich die folgenden sieben Grundgedanken nur als typisch, aber nicht als notwendig. Ich schlage jedoch vor, dass Verantwortungskonzeptionen fruchtbar dadurch klassifiziert werden können, dass gesagt wird, dass das Vertreten eines der sieben Grundgedanken jeweils hinreichend ist, um ein Proponent der orthodoxen Konzeption zu sein. Umgekehrt sind die sieben Kernideen meiner Alternative jeweils notwendig, aber nur zusammen hinreichend, um Vertreter der Alternative zu sein.

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IV Rationalität ohne Reflexion

und wird es kontrolliert gemäß dieser Entscheidung zustande gebracht, handelt es sich bei dem Ereignis um eine vollwertige Handlung, die auf den personalen Kern des Handelnden zurückgeht. Idealtypischerweise ist eine Handlung damit ein raum-zeitlich klar abgrenzbares, partikulares Ereignis. Drittens ergibt sich aus dieser Sichtweise gleichsam von selbst eine bestimmte Antwort auf die Frage der Zurechenbarkeit, d. h. darauf, wie einem Menschen ein Ereignis als seine Handlung zugerechnet werden kann. Ein Ereignis ist gemäß dieser Sichtweise einem Menschen genau dann als seine Handlung zurechenbar, wenn das Ereignis seinen Ursprung in dem personalen Kern des entsprechenden Menschen hat. Idealtypischerweise ist dies der Fall, wenn der Mensch vorher über das entsprechende Ereignis reflektiert und sich dafür entschieden hat. In Randfällen kann es reichen, dass der Mensch über Selbst-Wissen hinsichtlich seiner Absichten(≥3) verfügt, so dass er sie auf Nachfrage umgehend explizit machen kann. Viertens ist die orthodoxe Konzeption durch eine bestimmte Auffassung von Normativität im Handeln gekennzeichnet. Zentral dafür ist gemäß der orthodoxen Konzeption die Urteilskraft und Einsichtsfähigkeit des Einzelnen. Im Rahmen seines Reflexionsprozesses trifft er ein Urteil, was er tun soll. Und entsprechend lässt sich moralische, epistemische oder andersgeartete Richtigkeit oder Falschheit seines Handelns darauf zurückführen, dass er ein richtiges oder falsches Urteil gefällt hat. Fünftens ist das Herzstück der orthodoxen Konzeption eine bestimmte Sichtweise auf Rationalität im Handeln. Demnach geschehen alle vollwertigen Handlungen aus Gründen. Dass sie „aus Gründen“ geschehen wird dabei im doppelten Sinn als kausal-motivationale These einerseits und als normative These andererseits verstanden. Der Grundgedanke ist, dass ein Akteur idealtypischerweise gute und schlechte Gründe und Gegengründe gegeneinander abwägt. Das Ergebnis dieses Abwägens ist eine begründete Entscheidung, die motivational ursächlich für das Handeln ist. In einer verbreiteten Variation dieses Gedankens ist der motivational-ursächliche Grund ein Wunsch-Überzeugungs-Paar, so dass in dieser Variante die Dimension des Abwägens und der Güte von Gründen auf den ersten Blick eine geringere Rolle spielt. Sechstens ergibt sich ein klarer Zweck der Verantwortungs-ZuschreibungsDiskurse. Gemäß der orthodoxen Konzeption geht es dabei darum herauszufinden, ob jemandem Schuld bzw. Verdienst zukommt oder nicht. Um diese epistemische Frage zu beantworten, gilt es herauszufinden, ob der potentielle Akteur mit seinem reflektierenden Bewusstsein das potentiell zu verantwortende Ereignis wirklich hervorgebracht hat oder nicht. Hat der Akteur das Handeln hervorgebracht, dann kommt ihm Verdienst oder Schuld zu, und er ist entsprechend zu loben oder zu tadeln. Hat er es nicht hervorgebracht, kommen ihm Verdienst und

1 Die orthodoxe Sichtweise

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Schuld nicht zu (beeinflussende Faktoren außerhalb seiner bewussten Kontrolle wie eine schwere Kindheit, Drogeneinfluss oder Manipulation durch andere können Hinweise auf eine verminderte Schuldigkeit sein). Die orthodoxe Konzeption ist dabei konzeptionell dafür offen, dass in die Beantwortung der Frage nach der Höhe der Strafe bzw. der Stärke des Lobes oder des Tadels weitere Zwecke eingehen, beispielsweise eine kollektive Abschreckung. Siebtens und letztens spielt in der orthodoxen Konzeption Freiheit eine entscheidende Rolle. Damit einem Menschen ein Ereignis zu Recht als seine Handlung zugerechnet werden kann, ist es demnach erforderlich, dass das Ereignis wirklich seinem personalen Kern, d. h. seinem reflektierenden Bewusstsein entstammt. Untergraben wird die Freiheit entweder dadurch, dass unbewusste Einflüsse oder vorhergehende Kausalursachen verhindern, dass das reflektierende Bewusstsein – und damit die Person – die Quelle der potentiellen Handlung ist. Oder sie wird untergraben, wenn aufgrund äußerer Faktoren die Handlung nicht so ausgeführt werden kann wie geplant, etwa wenn der Akteur geschubst wird.Vor und während der Ausführung des körperlichen Ereignisses ist also Freiheit erforderlich. Das gesamte Geschehen findet gemäß der orthodoxen Sichtweise in einer logischen Sekunde statt, und unmetaphorisch gesprochen doch zumindest in einem kurzen, fest umrissenen Zeitraum. In einer Überlegung drückt die Person ihr Selbst und ihre wahren Werte aus, wägt Gründe ab, trifft dann mit Willensfreiheit eine Entscheidung und setzt diese daraufhin unter ihrer Kontrolle in die Tat um. Richtig oder falsch ist die Handlung je nach dem, ob das Urteil bzw. die Entscheidung der Person richtig oder falsch gewesen ist. Damit setzt die orthodoxe Konzeption schon eine ganz bestimmte Sichtweise auf Mensch, Welt und Handeln voraus. Der Mensch ist primär sein reflektierendes Bewusstsein, sein Handeln die kontrollierte Umsetzung dessen, für das er sich reflektiert entschieden hat. Die Umwelt ist die stillstehende Arena, in der der Mensch aktiv werden kann. Grundsätzlich steht gemäß diesem Bild die Welt still, aber Menschen können aktiv werden und etwas verändern, indem sie reflektieren und ihre Entscheidung in die Tat umsetzen. In diesem Sinne ergibt sich eine statische Sichtweise auf menschliches Handeln und die Welt. In Verantwortungszuschreibungen wird die eine Einzelhandlung in der Vergangenheit bewertet, und der potentiell Verantwortliche wird als Autor und Quelle dieses vergangenen Ereignisses adressiert. Der ideale Mensch ist gemäß dieser orthodoxen Konzeption der stets autonom Reflektierende, der Fremdeinflüsse und Fehlurteile vermeidet und der auf diese Weise dafür sorgt, dass es gerade seine wahren reflektierten Werte sind, aufgrund derer Veränderungen in der Welt stattfinden.

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IV Rationalität ohne Reflexion

2 Die Alternative Diese orthodoxe Sichtweise ist sicherlich intuitiv stark verankert und weit verbreitet, so dass sie vielen als alternativlos erscheint. Mein zentraler Punkt in diesem Kapitel ist es hingegen zu zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Es gibt eine Alternative, und zwar eine Alternative, die menschliche Verantwortlichkeit und Rationalität ganz anders konzipiert als es die orthodoxe Sichtweise tut. Jeden der sieben Grundgedanken der klassischen Konzeption ersetzt die Alternative jeweils durch eine vollkommen verschiedene Kernidee. Dessen ungeachtet, dass die Alternative bis zu einem gewissen Grade „kontraintuitiv“ ist, bringt sie wichtige Vorteile mit sich. So kann sie das Problem der Verantwortung für unreflektiertes Handeln lösen und verständlich machen, wie auch unreflektiertes Handeln rational sein und aus Gründen erfolgen kann. Dabei erlaubt die Alternative, Verantwortlichkeit und Rationalität im Handeln als kompatibel mit den Einsichten in die Natur menschlichen Handelns zu verstehen, die ich in den ersten drei Kapiteln mit Hilfe von Husserl, Heidegger, Wittgenstein, Bourdieu, Gibson, Merleau-Ponty und den Kognitionswissenschaften gewonnen habe. Und die Alternative bringt noch weitere Vorteile mit sich, auf die ich später zurückkommen werde. Mein Ziel in diesem Kapitel ist es aber wie gesagt nur zu verteidigen, dass die Alternative überhaupt möglich und kohärent ausbuchstabierbar ist. Erstens stellt sich für die Entwicklung einer Alternative das Problem, dass eine rationale Rekonstruktion des Inhalts der Zuschreibungen von Verantwortung nahezulegen scheint, dass Kontrolle und Reflexion für Verantwortlichkeit und Rationalität zentral sind. Meine Alternative vermeidet dieses Problem, indem sie mit guten Gründen von einer ganz anderen Methode Gebrauch macht. Demnach ist es zur Gewinnung philosophischer Erkenntnis nicht ziel-, sondern irreführend, sich auf Intuitionen zu verlassen und den Gehalt sprachlicher Zuschreibungen etwa von Verantwortung rational zu rekonstruieren.⁵ Demnach prägen zwar sprachliche Strukturen unser Denken auf eine tiefe Weise. Dabei ist die Sprache aber nicht eine von einem allwissenden Volk geschaffene nahezu ideale Theorie, die dann durch den praktischen Gebrauch verunreinigt worden ist.Vielmehr ist sie auf kontingente Weise und zu primär praktischen Zwecken entstanden.⁶ Sagt jemand „Sei nicht so willensschwach, streng‘ dich mehr an“, dann ist es gerade irreführend anzunehmen, es gäbe so etwas wie einen Willen. Vielmehr dient die Aussage dem rein pragmatischen Zweck, jemanden zu größerer Leistungsbereit-

 Ich komme hier auf methodologische Fragen zurück, die in den Kapiteln I, II und III in anderen Kontexten bereits diskutiert worden sind.  Vgl. die Diskussion des „linguistischen Fehlschlusses“ in Kapitel I.

2 Die Alternative

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schaft zu ermuntern. Man würde, wie Wittgenstein es nennt, in der Sprache liegenden Bildern aufsitzen, wenn man derartige Äußerungen zum Anlass nähme zu glauben, der menschliche Geist bestehe u. a. aus einem Willen, der stark oder schwach sein könne. Nun geht die Kritik an der Methode der orthodoxen Sichtweise auch mit einer neuen positiven Methodologie einher. Demnach ergibt ein feinfühliger Blick etwa auf sprachliche Zuschreibungen von Verantwortung, dass diese Zuschreibungen mit einer Vielzahl komplex strukturierter Phänomene verwoben sind, die einem gewöhnlicherweise nicht auffallen, weil sie so alltäglich sind. Gewissermaßen stellen diese Phänomene den unreflektierten Hintergrund der Zuschreibungen von Verantwortung dar. Dabei gilt es, diesen unreflektierten Hintergrund sprachlicher Zuschreibungen genauer zu analysieren. Zweitens ist für die Alternative eine ganz andere Sichtweise auf menschliches Handeln kennzeichnend. Betrachtet man menschliches Handeln nicht so, wie es einem die Strukturen der Sprache und die sprachlichen Zuschreibungen von Verantwortung nahelegen, sondern auf eine genauere feinfühligere Weise, dann ergibt sich die Konzeption, die ich im dritten Kapitel vor dem Hintergrund der Einsichten der genannten Denker entwickelt habe. Handeln ist demnach eine direkte dynamische Interaktion von Akzeptanz und Affordanz,von bewussten und unbewussten kognitiven Strukturen auf der Seite des Akteurs und von auf bestimmte Weise konzipierten Gegebenheiten der Umwelt. Das Bewusstsein ist hierfür nicht zentral. Handeln ist nicht ein partikulares Ereignis, sondern eine konstante dynamische Interaktion. Drittens ergibt sich für die Alternative nun aber das Problem, wie ein Ereignis einer Person als ihre verantwortbare Handlung zugerechnet werden kann. Dies ist insbesondere deshalb ein Problem, da Personen im Sinne aktiver, bewusster, Akteurs-Kausalität ausübender Subjekte in der alternativen Sichtweise auf menschliches Handeln gar nicht vorkommen. Entsprechend kann auch nicht darauf rekurriert werden, dass einer Person ein Ereignis genau dann als ihre Handlung zugerechnet werden kann, wenn das Ereignis seinen Ursprung in einer bewussten Entscheidung hat. Die orthodoxe Konzeption steht zwar ebenfalls vor großen Problemen, etwa dass Personen auch unreflektiertes Handeln wie etwas das unbedachte Überfahren von Schulkindern, das Übersehen einer Person in großer Not, und das Vergessen eines Schutzbefohlenen als ihre verantwortbaren Handlungen zugerechnet werden können. Aber dass sich die Orthodoxie entscheidender Probleme ausgesetzt sehen muss, hilft zur Entwicklung einer Alternative nicht weiter. Um eine positive alternative Konzeption der Zurechnung zu entwickeln, sind dagegen drei Ideen entscheidend. Erstens muss zwischen zwei Begriffen des Handelns unterschieden und damit eine hybride Handelns-Theorie entwickelt werden. Gemäß einem weiten kognitionswissenschaftlich ausbuchstabierbaren Handelns-Begriff ist jede Interaktion, die eine Grundlage in der

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IV Rationalität ohne Reflexion

Kognition eines Wesens hat, ein Handeln.⁷ Auf diese Weise können Reflexe von Handeln wie einem unbedachten Kratzen unterschieden werden. Daneben gibt es jedoch auch noch einen Handlungsbegriff, mittels dessen Hilfe einige Ereignisse in den Bereich der Verantwortbarkeit gehoben werden können. Die Einsicht hinter der Unterscheidung liegt darin, dass der Begriff der Handlung bzw. des Handelns einerseits zu dem pragmatischen Zweck der Verantwortungszuschreibung verwendet werden kann und andererseits zu dem davon zunächst ganz verschiedenen Zweck der Unterscheidung zwischen bloßen Geschehnissen und denjenigen Ereignissen, in deren Zustandekommen die kognitive Beschaffenheit involvierter Lebewesen eine Rolle spielt. Die zweite Idee lautet, dass ein Ereignis aus verschiedenen Perspektiven heraus individuiert werden kann. Wie ein Hasen-Entenkopf einmal als Hasenkopf und einmal als Entenkopf angesehen werden kann, so kann ein und dasselbe Ereignis auch einmal als Handeln und einmal als Handlung individuiert werden. Drittens bleibt zu sagen, was gemeint ist, wenn davon gesprochen wird, dass ein Ereignis, das als Handeln individuiert werden kann, auch als verantwortbare Handlung individuiert werden kann. Gemäß diesem Gedanken kann ein Handeln gleichsam als Handlungs-Geschichte ausgelegt werden. Zwar legt eine feinkörnige Betrachtung menschlichen Handelns eine Analyse in den Begriffen der Affordanz und Akzeptanz nahe. Aber Handeln kann auch grobkörnig so individuiert werden, dass davon ausgegangen wird, dass es einen verantwortlichen Akteur gibt, der eine Entscheidung gefällt und diese Entscheidung dann umgesetzt hat. Gerade für Zuschreibungen von Verantwortlichkeit ist eine derartige grobkörnige Individuation pragmatisch hilfreich. Der Handelnde ist dann auf drei Weisen mit seinem früheren Handeln verbunden: Einmal ist seine Akzeptanz-Struktur Teil der Interaktion gewesen, zweitens wird er nun zum Protagonisten der Handlungs-Geschichte gemacht, und drittens kann er nun mit ein wenig Distanz sich selbst als Protagonisten der Geschichte betrachten und mögliche Fehler einräumen. Viertens ergibt sich für die Alternative aber das Problem verständlich zu machen, wie eine Handlung als fehlerhaft angesehen werden kann, wenn der Fehler nicht in einem Fehlurteil im Rahmen eines bewussten Überlegungsprozesses liegt. Gemäß der alternativen Sichtweise sollte der Begriff des Fehlers, zumindest für eine große Klasse von Fällen, nicht internalistisch, sondern sozialexternalistisch verstanden werden. Demnach bilden sich durch tagtägliches, gewohntes Handeln Erwartungen heraus, wie andere Menschen handeln. Bei Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte betont werden, dass diese grobe Bestimmung nur dazu dient, die beiden Handelns-Begriffe voneinander abzugrenzen. Es soll also nicht der wenig erkenntnisfördernde und zudem zirkularitätsverdächtige Versuch unternommen werden, „Handeln“ unter Rekurs auf „Interaktionen“ zu definieren.

2 Die Alternative

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spielsweise erwartet man, dass sich die zweite Person, die einen Fahrstuhl betritt, an eine entfernte Stelle stellt. Verletzt eine andere Person diese gewohnten Erwartungen, wird ihr zugeschrieben, einen Fehler gemacht zu haben. In diesem Sinne gilt für eine große Klasse von Fällen: Die Quelle der Normativität ist die Normalität. Eine Einsicht hinter dieser Analyse des Begriffs des Fehlers ist es, dass es – entgegen dem Vorgehen der orthodoxen Konzeption – sinnvoll sein kann, verschiedene Fragen auseinanderzuhalten und getrennt zu beantworten, nämlich die Frage nach einer Analyse des Begriffs des Fehlers, die Frage nach der Zurechenbarkeit eines fehlerhaften Handelns zu einer Person und die Frage nach der Rechtfertigbarkeit einer Fehler-Zuschreibung mit Gründen. Fünftens ergibt sich das Problem, wie unreflektiertes, interaktiv verstandenes Handeln als rational und als aus Gründen erfolgend analysiert werden kann, wenn es nicht das Ergebnis eines Prozesses des Abwägens von Gründen ist, in deren Lichte dann gehandelt wird. Zentral ist, das motivationale Verständnis des Handelns aus Gründen von dem normativen Verständnis der Gerechtfertigtheit des Handelns zunächst zu trennen. Dann ergibt sich, dass ein Handeln im motivationalen Sinne aus Gründen erfolgen kann, indem es die Affordanzen sind, die den Akteur dazu bringen, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Dies kann – in psychologisch allzu grobkörniger Weise – auch in der Form einer Zuschreibung eines Wunsch-Überzeugungs-Paars ausgedrückt werden. Eine andere Frage ist jedoch, ob das Handeln normativ gerechtfertigt ist. Dazu ist die Frage zu beantworten, ob und welche Werte durch das Handeln realisiert werden. Ein Handeln ist dann – so der Vorschlag der Alternative – genau dann gerechtfertigt, wenn durch das Handeln Werte bestmöglich bzw. hinreichend gut realisiert worden sind. Im Dialog kann der Akteur sein Handeln später verantworten, indem er darauf hinweist, dass durch sein Handeln die entsprechenden Werte tatsächlich realisiert worden sind. Dass die Werte realisiert worden sind, spricht dann für das Handeln. Der Akteur muss an diese Werte nicht vorher gedacht oder in ihrem Lichte gehandelt haben. Dennoch erfindet er sie nicht, sondern legt sein Handeln so aus, dass deutlich wird, dass dort tatsächlich Werte realisiert worden sind. Wie im Detail erläutert werden wird, verschmelzen im Falle des tugendhaften Akteurs die motivationale und die normative Dimension wieder, indem für ihn die Umstände, durch die Werte realisiert werden, deshalb, weil durch sie Werte realisiert werden, Teile seiner Affordanz-Landschaft wird. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass durch das Handeln des Tugendhaften Werte realisiert werden. Damit kann auch unreflektiertes Handeln aus guten Gründen erfolgt sein. Insgesamt werde ich zwischen sieben verschiedenen Gattungen dessen unterscheiden, was mit „Grund“ gemeint wird, sowie zwischen verschiedenen Grundierungs-Relationen, aufgrund derer überhaupt erst verständlich wird, was es jeweils heißt, dass „etwas für etwas spricht“. Dadurch ergibt sich eine deutlich differenziertere Sichtweise

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IV Rationalität ohne Reflexion

darauf, was es heißt, aus einem Grund zu handeln, als sie von der orthodoxen Konzeption üblicherweise vorausgesetzt wird. Sechstens ergibt sich das Problem, welchen Zweck Verantwortungszuschreibungen und der Austausch von Gründen zur Bewertung einer Handlung noch haben können. Denn der Zweck kann nicht sein, herauszufinden, ob ein einzelner Akteur an seiner Handlung „schuld“ hat. Erstens gibt es gemäß der Alternative (akteurs-kausal) aktive Personen nur im Rahmen von Handlungs-Geschichten. Und zweitens wäre eine Zuschreibung von „Schuld“ in dem Sinne unfair, als dass gemäß dem Interaktionismus jedes Handeln durch ein Zusammenwirken persönlicher und situativer Faktoren vollständig verständlich gemacht werden kann.⁸ Gemäß der Alternative dienen Verantwortungszuschreibungen jedoch einem anderen Zweck. Es geht nicht darum, den einzelnen wie vor einem Strafgericht für sein vergangenes Tun zur Rechenschafft zu ziehen. Stattdessen geht es darum, den Akteur mit Blick auf die Zukunft zu verbessern. Indem er auf Probleme hinsichtlich seines vergangenen Handelns aufmerksam gemacht wird, bekommt er die Chance, an sich selbst zu arbeiten und sein „Selbst“ zu verbessern. Dadurch wird sowohl das menschliche Projekt der je individuellen Selbst-Konstitution befördert als auch dafür gesorgt, dass die Kognition des zur Verantwortung gezogenen Individuums daraufhin verbessert wird, dass es fortan stärker die gemeinsamen Werte der Wertegemeinschaft realisiert. Wenigstens ein Teil der unter vielfältigen historischen Einflüssen entstandenen Praxis der Zuschreibung von Verantwortung lässt sich – so der Vorschlag der Alternative – auf diese Weise rechtfertigen. Siebtens schließlich ergibt sich für die Alternative das Problem, wie sie sich zur Frage der Freiheit verhält. Gemäß der orthodoxen Konzeption ist Freiheit eine conditio sine qua non. Und gestützt wird diese Sichtweise durch die starke Intuition, dass Sollen Können impliziert, d. h. dass der Akteur nur verantwortlich ist, wenn er anders hätte handeln können, als er tatsächlich gehandelt hat. Diese Sichtweise steht der Alternative aus besagten Gründen nicht offen, d. h. deshalb nicht, weil es gemäß ihr außerhalb von Handlungs-Geschichten keinen akteurskausal Handelnden gibt, der mit freiem Willen handeln könnte, und weil jedes Handeln vollständig aus persönlichen und situativen Faktoren verständlich zu machen ist.⁹ In diesem Sinne ist gemäß der Alternative Willens- oder Entscheidungsfreiheit in dem orthodoxen, substantiellen Sinne nicht erforderlich. Dennoch kann die Alternative zwei Intuitionen verständlich machen, die den Proponenten der orthodoxen Konzeption leiten. Einmal ist eine Art von Handlungsfreiheit tatsächlich eine notwendige Bedingung für das berechtigte

 Vgl. Kapitel III.  Vgl. Kapitel III.

2 Die Alternative

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Aufrechterhalten einer Verantwortungszuschreibung – d. h. wenn sich herausstellt, dass ein Akteur geschubst worden ist, dann wird die Verantwortungszuschreibung zurückgezogen. Dabei schaut die Alternative aber nicht auf den Gehalt solcher Äußerungen, mittels derer Verantwortungszuschreibungen zurückgezogen werden, sondern auf ihren pragmatischen Zweck. Demnach wäre es schlicht nicht sinnvoll, einen Akteur zur Verantwortung zu ziehen, wenn er geschubst worden ist, weil kein Anlass zur Verbesserung des Akteurs bestünde. Zudem kann die Alternative verständlich machen, was an der Intuition, dass Sollen Können impliziert, richtig ist. Demnach geht es nicht darum, dass Akteure stets bewusste Entscheidungen treffen und sich im Moment der Entscheidung auch anders hätten entscheiden können. Stattdessen ist wichtig, dass Personen in dem Moment, in dem sie für ihr vergangenes Handeln zur Verantwortung gezogen werden, über die (geistige und körperliche) Offenheit verfügen, ihr Handeln mit Blick auf die Zukunft zu verbessern. In der Alternative wird das „Sollen impliziert Können“ damit zu einem „Gesollt haben impliziert anders handeln können werden“. Ist eine Person, z. B. aufgrund einer geistigen Krankheit, nicht in der Lage, die grundlegenden Strukturen ihres Handelns mit Blick auf die Zukunft zu verbessern, ist es auch nicht sinnvoll, ihr einen Vorwurf in Bezug auf ihr vergangenes Handeln zu machen. Im Falle einer grundlegend offenen Person ergibt sich zudem, dass die Verantwortungszuschreibungen je stärker und intensiver werden, desto stärker sich die Person mit ihrem vergangenen Handeln identifiziert – denn dann muss mehr getan werden, um sie von der Notwendigkeit einer Veränderung zu überzeugen. Das gesamte Geschehen findet gemäß der Alternative über einen ausgedehnten Zeitraum statt, und der Ablauf ist im Vergleich zur orthodoxen Konzeption genau umgekehrt. Zunächst findet ein spontanes, unreflektiertes Handeln statt, indem direkt auf Affordanzen reagiert wird. Weicht dieses Handeln von den gewohnten Erwartungen anderer ab, können sie bewusst aufmerken, weil sie das Gefühl haben, dass etwas schief läuft. Dann liegt es nahe, das Handeln als eine Handlungs-Geschichte auszulegen, in der von einer Person mit Akteurs-Kausalität die Rede ist. Ist derjenige, dem auf diese Weise eine Handlung zugerechnet wird, geistig frei und offen, wird er seine Handlung mit Gründen verteidigen, aber auch bereit sein, im Zweifelsfall an seinem Selbst zu arbeiten. Die Gründe, die er dann zur Verteidigung seines Handelns anführt, können auf Werte rekurrieren, die in dem Handeln tatsächlich realisiert worden sind. Bei Bedarf kann der Akteur am Ende an sich selbst arbeiten, um sein Handeln für die Zukunft zu verbessern. Damit schlägt die Alternative eine neue Sichtweise auf Mensch, Welt und Handeln vor, die der orthodoxen Konzeption diametral entgegengesetzt ist. Der Mensch ist nicht primär sein reflektierendes Bewusstsein und sein Handeln die kontrollierte Umsetzung dessen, für das er sich reflektiert entschieden hat. Die

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IV Rationalität ohne Reflexion

Umwelt ist nicht die stillstehende Arena, in der der Mensch aktiv werden kann. Vielmehr ist Handeln gemäß der Alternative nichts anderes als die ständige dynamische Interaktion von Affordanz und Akzeptanz. Die Umwelt ist ein Teil dieser Interaktion, indem sie Aufforderungen zum Handeln bereit hält, die das Handeln in diesem Sinne leiten. Der Mensch ist Teil dieser Interaktion, indem er ob seiner Akzeptanz-Struktur einerseits einen Beitrag dazu leistet, dass die Affordanzen das sind, was sie sind, und andererseits ob seiner Akzeptanz-Struktur direkt auf die Affordanzen reagiert. In diesem Sinne ist der Mensch Produkt von und „Gegenstück“ zu seiner Umwelt. Gemäß der Alternative steht nichts statisch still, sondern alles fließt in einer ständigen dynamischen Veränderung. Vom Tier unterscheidet sich der Mensch entscheidend dadurch, dass die Dynamik bei ihm eine besondere Form annehmen und dabei Verantwortungszuschreibungen und den Austausch von Gründen beinhalten kann. Dies ermöglicht eine neue Dimension individueller Selbst-Konstitution sowie das gemeinschaftliche Projekt des gemeinsamen Realisierens von Werten. Der ideale Mensch ist dabei dann der Phronimos, der gekonnt und unreflektiert die gemeinsamen Werte realisiert. Die Alternative soll also eine neue Sichtweise auf die Natur menschlichen Handelns ermöglichen, eine Sichtweise, durch die die tatsächliche kognitive Beschaffenheit des Menschen respektiert und zugleich eine starke Konzeption menschlicher Rationalität gewonnen wird. Da eine derartige Alternative bisher noch nicht entwickelt worden ist und da die orthodoxe Konzeption oftmals für alternativlos gehalten wird, wäre es schon ein großer Fortschritt, wenn gesehen werden könnte, dass eine derartige Alternative überhaupt möglich und kohärent ausbuchstabierbar ist. Die zugrunde liegende neue Sichtweise auf die Natur menschlichen Handelns ist bereits im dritten Kapitel näher erläutert worden. Im Folgenden werde ich daher verteidigen, dass sich die anderen sechs neuen Kernideen kohärent ausbuchstabieren lassen und die Alternative damit wirklich eine echte Möglichkeit ist.

3 Methode Wie bereits erwähnt ist es ein erstes zentrales Problem für die Entwicklung meiner Alternative, dass die weit verbreitete Methode der rationalen Rekonstruktion des Gehalts von sprachlichen Zuschreibungen und Intuitionen nahelegt, dass Kontrolle und Reflexion tatsächlich für Verantwortung und Rationalität wichtig sind, während meine Alternative sich auf den ersten Blick dem Einwand ausgesetzt sehen muss, hier zu einem kontraintuitiven Ergebnis zu kommen. In Antwort auf diesen Einwand habe ich hervorgehoben, dass die Alternative mit guten Gründen von der Verwendung jener verbreiteten Methode Abstand nimmt. Um zu vertei-

3 Methode

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digen, dass die Alternative eine wirkliche Option darstellt, gilt es deutlich zu machen, dass es tatsächlich gute Gründe zur Vorsicht im Umgang mit jener klassischen Methode gibt, sowie verständlich zu machen, wie die alternative, neue Methode in etwa beschaffen ist. Im Rahmen des dialektischen Projekts aufzuzeigen, dass die Alternative eine echte Möglichkeit ist, geht es mir nicht darum zu argumentieren, dass die neue Methode bei Lichte betrachtet alternativlos ist, sondern nur darum zu zeigen, dass fruchtbar sein kann, die alternative Methode einmal vorauszusetzen.¹⁰ Das Funktionieren der orthodoxen Methode habe ich bereits damit beschrieben, dass der Gehalt sprachlicher Äußerungen als Schlüssel für eine dahinter liegende ideale Theorie aufgefasst wird, die mittels rationaler Rekonstruktion gewonnen werden kann.¹¹ Intuitionen, wie man einen Begriff verwenden würde, sind gemäß der orthodoxen Methode ebenfalls ein probates Mittel, um Hypothesen hinsichtlich der richtigen rationalen Rekonstruktion zu testen. Als Beispiel habe ich bereits den Fall erwähnt, dass der Gehalt von Äußerungen der Form „Sei nicht so willenschwach, streng‘ dich mehr an“ dahingehend rational rekonstruiert wird, dass es im menschlichen Geist so etwas wie einen Willen gibt, der stark oder schwach sein kann. Die orthodoxe Methode geht dabei mit der Annahme einher, dass die in der gewöhnlichen Sprache liegende Volkspsychologie den menschlichen Geist zumindest im Groben „richtig“ individuiert habe. Entsprechend könnten Kognitions- und Neurowissenschaften allein die neuronalen Realisierungen jener volkpsychologisch zu individuierenden Bestandteile des menschlichen Geistes untersuchen (vgl. sowohl Stanley 2011: 146 ff. als auch Bennett & Hacker 2003: 3). Schwierigkeiten, die ideale Theorie zu gewinnen, bestehen gemäß der orthodoxen Methode deshalb, weil pragmatische und situative Faktoren der komplexen Praxis die reine Idealform der Theorie verschleierten. Die orthodoxe Methode muss sich jedoch dem Einwand ausgesetzt sehen, in ihrer Rekonstruktion von Intuitionen und Sprache auf eine vermeintliche Erkenntnisquelle zurückzugreifen, die in Wirklichkeit keine hilfreiche Erkenntnis-

 Wie an den Beispielen Stanleys und Dreyfus’ in Kapitel I und II gezeigt, kann es gravierende Konsequenzen für den gesamten Wert seines philosophischen Schaffens haben, wenn man nicht über seine Methodologie reflektiert; wer etwa schlichtweg die Methode des rationalen Rekonstruierens von Intuitionen voraussetzt, weil „man“ es so macht, riskiert zumindest, dass selbst die Früchte seiner größten philosophischen Anstrengungen nicht den geringsten philosophischen Wert besitzen, einfach, weil die unhinterfragt vorausgesetzte Methode gar nicht in der Lage ist, derartige wertvolle Ergebnisse zu liefern. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt es sich, auf das Thema der Methodologie erneut explizit zurückzukommen.  Vgl. Kapitel I.

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quelle zur Erkenntnis der Natur etwa von Verantwortung, Rationalität und Handeln ist. Denn warum sollte überhaupt angenommen werden, dass Sprache und Intuitionen eine akzeptable Erkenntnisquelle sind? Für Aristoteles (in einer Interpretation) hat noch die Annahme nahegelegen, die gewöhnliche volkspsychologische Praxis sei absichtlich so geschaffen worden, dass sie die Natur der Phänomene menschlichen Handelns richtig treffe (vgl. z. B. NE 1003a17, 1110a1, 1110a20, 1110b31, 1113b23). Und für Kant hat noch – einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum populären Idee folgend – die Annahme nahegelegen, dass man seinen theoretisch unverdorbenen Intuitionen im moralischen Bereich vertrauen dürfe, weil es so etwas wie eine allgemeine Menschenvernunft gebe (Kant 1787: B492, Kant 1798: 327). Spätestens mit Nietzsche und dem späten Wittgenstein liegt jedoch ein Blick auf die Faktizität der menschlichen Sprachpraxis sowie der menschlicher Intuitionen nahe, der von metaphysischen Vorstellungen einer allgemeinen Menschenvernunft und eines logischen, in der Sprache widergespiegelten Aufbaus der Welt entzaubert ist. Die menschlichen Sprachen scheinen sich nicht zur Widerspiegelung eines logischen Aufbaus der Welt, sondern eher zu pragmatischen Zwecken entwickelt zu haben. Sie scheinen in ihrer Entwicklung von Zufällen und Machteinflüssen beeinflusst zu sein und sie hätten sich vor 3000 Jahren auch ganz anders entwickeln können. Ebenfalls liegt es nahe anzunehmen, dass sich Intuitionen entscheidend durch biologische und kulturelle Einflüsse so ausgeformt haben, wie sie sich ausgeformt haben, und dass diese biologischen und kulturellen Einflüsse besser in evolutionstheoretischen und soziokulturellen Begriffen verständlich gemacht werden können, als dass von ihnen gesagt werden könnte, sie seien der Vernunft oder der Wahrheit auf der Spur (vgl. Kapitel I). Bertrand Russell wird in diesem Kontext die Bemerkung zugeschrieben, was die gewöhnliche Sprache inkorporiere, sei bestenfalls die Metaphysik der Steinzeit. Eine etwas differenziertere Betrachtungsweise liefert John Austin (1956: 11): Certainly ordinary language has no claim to be the last word, if there is such a thing. It embodies, indeed, something better than the metaphysics of the Stone Age, namely, as was said, the inherited experience and acumen of many generations of men. But then, that acumen has been concentrated primarily upon the practical business of life. If a distinction works well for practical purposes in ordinary life (no mean feat, for even ordinary life is full of hard cases), then there is sure to be something in it, it will not mark nothing: yet this is likely enough to be not the best way of arranging things if our interests are more extensive or intellectual than the ordinary. And again, that experience has been derived only from the sources available to ordinary men throughout most of civilised history: it has not been fed from the resources of the microscope and its successors.

3 Methode

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Es ist wichtig, dass sich Austins Einsicht auf jede philosophische Methodologie bezieht, die darauf rekurriert, Sprache oder Intuitionen rational zu rekonstruieren. Laut Wittgenstein in Warren Goldfarbs Interpretation (1983) nun begehen Vertreter der orthodoxen Methode den Fehler, die zu praktischen Zwecken und unter Zufällen und Machteinflüssen entstandenen Sprachen und Intuitionen unter einem irreführenden Blickwinkel zu betrachten, nämlich so, als könne sie Aufschluss über eine ideale Theorie geben. Was damit droht, ist laut Wittgenstein eine „Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“.¹² Die Alternative schlägt dagegen eine ganz andere Sichtweise vor, die mit einer grundlegenden Drehung der Betrachtungsweise einhergeht – Wittgenstein schreibt: „Die Betrachtung muss gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.“¹³ Gemäß der Alternative geht es nicht länger darum, mittels alltäglicher Sprache und Intuitionen eine reine oder ideale Theorie rational zu rekonstruieren und dann zu fragen, inwieweit dieses Ideal oder diese Reinform dann empirisch realisiert sind. Stattdessen geht es darum, die Faktizität des menschlichen Lebens an erste Stelle zu setzten, ohne sie als bloßen Schatten irgendeines Ideals aufzufassen. Es wird nicht länger gefragt, was das Reine ist und ob es realisiert ist. Stattdessen wird im Sinne eines Kantischen Denkmanövers gefragt, was das Faktische ist, und wie es überhaupt möglich ist. Dies lässt sich leicht an einem Beispiel erläutern. So schreibt Wittgenstein: „Die Verantwortung leugnen, heißt, den Menschen nicht zur Verantwortung ziehen.“¹⁴ Diese Bemerkung – so schlage ich vor – muss im Sinne der Wittgenstein’schen Drehung der Betrachtungsweise verstanden werden. Gemäß der orthodoxen Methode kann sich aus einer theoretisierenden Betrachtung alltäglicher Verantwortungszuschreibungen ergeben, dass Verantwortlichkeit Kontrolle erfordert. Vor diesem Hintergrund kann dann argumentiert werden, dass dieses Ideal der Verantwortlichkeit oft nicht realisiert ist, weil Menschen de facto keine Kontrolle (im relevanten Sinne) ausüben. Dies wäre eine neue und überraschende Erkenntnis. Wittgenstein aber schlägt vor, die Betrachtungsweise um das eigentliche Bedürfnis herum zu drehen, d. h. um die Faktizität der Verantwortungszuschreibungen. Ist die Perspektive auf diese Weise gedreht, kann es nicht sein, dass erkannt werden kann, dass die faktischen Verantwortungszuschreibungen geleugnet werden müssen. Denn es gibt kein Ideal mehr, anhand dessen sich die Rechtmäßigkeit des Faktischen ermessen muss. Das Faktische steht nun an erster Stelle, d. h. das Faktum, dass Verantwortungszuschreibungen vorgenommen

 Philosophische Untersuchungen, §.  Philosophische Untersuchungen, §.  Vermischte Bemerkungen, S. .

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werden. Leugnet also jemand Verantwortlichkeit, dann hat er nach Drehung der Betrachtungsweise nichts erkannt, sondern einen Vorschlag zur Änderung der faktischen Zuschreibungspraxis gemacht – er hat vorgeschlagen, den Menschen nicht länger zur Verantwortung zu ziehen. Anders als bei Kant gilt es gemäß der Alternative die Möglichkeit der Faktizität nicht dadurch verständlich zu machen, dass mittels transzendentaler Argumente nach der logisch einzig möglichen Erklärung faktischer Vermögen gefahndet wird. Stattdessen beschränkt sich die Alternative, so wie ich sie zu verstehen vorschlage, auf das bescheidenere Projekt, die tatsächlichen Bedingungen besser zu verstehen, die das menschliche Leben und Handeln möglich machen. Diese Aufgabe ist schon schwierig genug, denn diese Ermöglichungsbedingungen sind uns üblicherweise verborgen. Wittgenstein schreibt:¹⁵ Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf.

Die alternative Methodologie kann nun auf zwei Weisen vorgehen, um die „für uns wichtigsten Aspekte der Dinge“ philosophisch zu analysieren. Erstens kann sie den für ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur relevanten Phänomenen nachspüren. Sie kann dann versuchen, diese Phänomene mit Blick auf das Ziel einer Erhellung der menschlichen Natur so phänomen-gerecht wie möglich zu beschreiben. Dabei muss sie dann versuchen, sich so wenig wie möglich durch vorgefundene Meinungen, Sprechweisen und Intuitionen blenden zu lassen. Als Beispiel kann etwa Husserls und Gibsons treffende Beschreibung der Phänomene des Reagierens auf Affordanzen genannt werden. Diese Denker orientieren sich gerade nicht an Intuitionen und Sprechweisen, sondern an den Phänomenen selbst, und beschreiben sie so, wie es für eine Analyse der menschlichen Natur am hilfreichsten ist. Um diese Phänomene, für die das gewöhnliche Reden keine Namen kennt, treffend auf den Begriff bringen zu können, ist oft die Einführung neuer Begriffe von großer Hilfe. Beispiele sind etwa die Begriffe „Affordanz“, „Reiz“ (in Husserls technischem Sinne) und „Motivationsbeziehung“. Zugleich kann darüber nachgedacht werden, was diese Phänomene erst möglich macht. Mit Husserl konnte z. B. gesehen werden, dass ein gekonntes Reagieren nur möglich ist, wenn es so etwas wie eine AkzeptanzStruktur gibt. Die Existenz der Akzeptanz-Struktur ist (zumindest laut dem Interaktionismus) essentiell für ein tiefes Verständnis der Natur menschlichen Handelns, aber ihre Existenz kann weder (pace Stanley) durch eine rationale  Philosophische Untersuchungen, §.

3 Methode

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Rekonstruktion von Intuitionen und Zuschreibungen noch (pace Dreyfus) durch eine bloße Beschreibung von Phänomenen erkannt werden. Stattdessen ist die Frage relevant, was diese feinfühlig beschriebenen Phänomene erst möglich macht. Zur Beantwortung dieser Frage nun können – wie es auch im dritten Kapitel geschehen ist – auch kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse mit herangezogen werden. Ein mögliches Problem hierbei besteht allerdings darin, dass die kognitionswissenschaftlichen Befunde nicht selten in bestimmten begrifflichen Rahmen formuliert sind – etwa einem Rahmen, in dem die Existenz von so etwas wie „Repräsentationen“ nicht etwa kritisch hinterfragt wird, sondern in dem der Begriff der Repräsentation schon vorausgesetzt wird, um alle Forschungsfragen und -antworten überhaupt erst zu formulieren. Laut der Alternative ist dies die Stelle, an der die eigentliche philosophische Arbeit zu leisten ist: Es gilt, neue begriffliche Rahmensysteme zu schöpfen, die es erlauben, die feinfühlig erkannten Phänomene und ihre Ermöglichungsbedingungen mittels solcher Begriffe zu beschreiben, die einerseits eine Beantwortung humanistischer Fragen nach der menschlichen Natur ermöglichen und die andererseits eine Anschlussfähigkeit an empirische Befunde gewährleisten. In diesem Sinne ist philosophische Arbeit laut der Alternative begriffliche Arbeit. Aber es ist keineswegs die rationale Rekonstruktion alltäglicher Begriffs-Verwendungen, sondern ganz im Gegenteil die Schöpfung ganz neuer begrifflicher Rahmensysteme, die den Boden dafür bereiten, feinfühlig beschriebene Phänomene unter Berücksichtigung empirischer Befunde so zu erklären, wie es einer tieferen Erkenntnis der menschlichen Natur am zuträglichsten ist. Einerseits sind die Ergebnisse einer solchen Analyse der faktisch bestehenden Phänomene dann radikal, weil sie sich stark von der Sichtweise der Orthodoxie sowie von den durch Intuitionen nahegelegten Bildern unterscheiden. Andererseits sind die Ergebnisse aber auch zugleich geradezu trivial, weil nur das Gewöhnlichste auf ungewöhnliche Weise wiederbeschrieben wird. Zweitens kann die alternative Methodologie auch darin bestehen, die soziale Praxis der Zuschreibung bestimmter Begriffe selbst zu analysieren. In einigen Fällen nämlich sind weniger die Phänomene von Interesse, sondern vielmehr die sozialen Praktiken der Verwendung bestimmter Begriffe. Interessiert man sich beispielsweise für Verantwortung, dann ist es gerade die Praxis der Zuschreibung von Verantwortlichkeit, die wichtig ist. Anders als bei einer Analyse der Phänomene ist hier (zunächst) nicht relevant, wie die Psyche des Handelnden beschaffen ist; entscheidend ist (zunächst) vielmehr, was andere ihm zuschreiben. Auf ähnliche Weise fallen auch die im Folgenden zu untersuchenden Themen etwa der Normativität und der Rationalität in diesen zweiten Bereich der sozialen

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IV Rationalität ohne Reflexion

Praktiken.¹⁶ Wichtig ist, dass sich eine Analyse der sozialen Praxis der Zuschreibung bestimmter Begriffe fundamental von der orthodoxen Methode einer rationalen Rekonstruktion sprachlicher Intuitionen unterscheidet. Wittgenstein drückt das so aus: Philosophische Probleme „werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen“.¹⁷ In der orthodoxen Methodologie wird das Arbeiten der Sprache gerade missverstanden: Es wird davon ausgegangen, die alltägliche Sprache versuche, eine dahinterliegende Realität adäquat widerzuspiegeln, wenn es ihr auch nur unvollkommen gelinge, so dass eine rationale Rekonstruktion vonnöten sei. Dagegen geht die Alternative davon aus, dass sprachliche Zuschreibungen von Begriffen wie „Verantwortung“ keineswegs versuchen, so etwas wie ein dahinterliegendes Wesen der Verantwortlichkeit zu treffen. Gemäß der Alternative gibt es in Fällen wie der Rede von Verantwortlichkeit kein hinter der Sprache liegendes metaphysisches Wesen der Verantwortlichkeit. Stattdessen gibt es nur die soziale Praxis der Verwendung von „Verantwortung“. Wer etwas Gegenteiliges glaubt, hypostasiert und verdinglicht laut der Alternative unseren alltäglichen Sprachgebrauch. Das tatsächliche Arbeiten unserer Sprache muss dagegen so verstanden werden, dass Zuschreibungen etwa von „Verantwortlichkeit“ primär praktischen Zwecken dienen; laut der Alternative zeichnet sich der alltägliche Gebrauch nicht dadurch aus, dass er eine dahinterliegende metaphysische Realität treffen will, sondern dadurch, dass er einen bestimmten pragmatischen Witz hat. Entsprechend gilt es, nicht etwa rationale Rekonstruktionen vorzunehmen, sondern die lebensweltlichen pragmatischen Kontexte zu beachten, in die der tatsächliche Gebrauch von Worten eingebettet ist. Im Folgenden soll vor allem auf diesen zweiten Strang der alternativen Methodologie zurückgegriffen werden. Wie bereits gesagt, geht es mir in diesem dialektischen Kontext nur darum zu zeigen, dass die alternative Methodologie eine ernsthafte Option und die alternative Gesamt-Konzeption damit eine echte Möglichkeit ist.¹⁸ Dennoch kann auf  Und freilich kann man nicht alle philosophisch relevanten Topoi eindeutig zuordnen: Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, ist es philosophisch sehr relevant, nicht nur die Phänomene menschlichen Handelns zu analysieren (siehe Kapitel III), sondern auch die volkspsychologische soziale Praxis der Handlungs-Individuierung (siehe unten). Außerdem hat es sich beispielsweise bei der Analyse von Intelligenz im Handeln als notwendig erwiesen, sowohl auf Phänomene als auch auf eine soziale Praxis der Zuschreibung zu verweisen.  Philosophische Untersuchungen, §.  Eine ausführlichere Explikation der alternativen Methodologie muss an dieser Stelle Aufgabe für eine andere Gelegenheit bleiben. Hier geht es nur darum aufzuzeigen, dass es überhaupt möglich ist, die orthodoxe Methodologie mit guten Gründen abzulehnen und eine Alternative zu entwickeln.

4 Zurechenbarkeit

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einige Vorzüge der alternativen Methodologie hingewiesen werden. So ist sie vorsichtiger, weil sie nicht darauf angewiesen ist, Sprache und Intuitionen als legitime philosophische Erkenntnisquellen anzusehen; damit hängt die Legitimität der alternativen Methode im Gegensatz zur Legitimität der orthodoxen Methode nicht von dem Ausgang empirischer Studien über die Zuverlässigkeit von Intuitionen ab. Die Alternative ist zeitgemäßer, indem sie methodologisch den Erkenntnisfortschritt berücksichtigt und damit die Möglichkeit ernst nimmt, dass sprachliche Strukturen und Intuitionen in die Irre führen können. Zudem ist die Alternative bescheidener, weil sie sich auf eine Untersuchung der Faktizität und seiner Möglichkeit beschränkt, sie ist offener, weil sie empirisch anschlussfähig ist, sie ist tiefer, weil sie im Sinne eines Kantischen Manöver die Bedingungen der Möglichkeit des Faktischen untersucht und sie ist erhellender, weil sie dadurch echte Selbsterkenntnis liefert, dass sie das Gewöhnliche auf ungewöhnliche Weise beschreibt.

4 Zurechenbarkeit Gemäß der orthodoxen Konzeption kann ein Ereignis einer Person genau dann als ihre Handlung zugerechnet werden, wenn die Person die Handlung hervorgebracht hat, d. h. wenn die Handlung der Kontrolle, der Reflexion oder der Absicht eines Menschen entstammt.¹⁹ Einer alternativen Konzeption, die Verantwortung ohne Kontrolle (im relevanten Sinne) und rationales Handeln ohne Reflexion ausbuchstabieren will, steht diese Sichtweise nicht offen. Daher gilt es zur Entwicklung der alternativen Konzeption näher auszubuchstabieren, wie die Frage der Zurechenbarkeit dann beantwortet werden kann, d. h. wie es möglich ist, ein Ereignis einer Person als ihre Handlung zuzurechnen, so dass bei Bedarf für diese Handlung Verantwortung übernommen und sie mit Gründen gerechtfertigt werden kann. Wie in der Einleitung angesprochen ist es immerhin dieser Umstand, dass die Orthodoxie hier auf den ersten Blick alternativlos erscheint, der Schiller dazu gebracht hat, trotz seiner Einsicht in die Natur des Mittelreichs zwischen Reflex und Reflexion in die Bahnen orthodoxen Denkens zurückzukehren.

 Siehe die Einleitung dieses Kapitels für die entsprechenden Qualifikationen von „Kontrolle“, „Reflexion“ und „Absicht“.

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a Probleme der orthodoxen Handlungs-Konzeption Eine grundlegende Einsicht zur Entwicklung einer Alternative liegt in der Aufgabe einer die Orthodoxie leitenden Annahme, nämlich derjenigen, dass der Handlungsbegriff zwei verschiedene Funktionen zugleich erfüllen kann. Der orthodoxe Handlungsbegriff dient zunächst dazu, Ereignisse, hinter denen eine Person als ganze gestanden hat, von solchen Ereignissen abzugrenzen, bei denen dies nicht der Fall ist. Unter einer Person oder dem entsprechenden personalen Kern wird dabei im Wesentlichen das reflektierte und kontrollierende Bewusstsein einer Person verstanden. So verstanden soll der orthodoxe Handlungsbegriff zum einen die normative Aufgabe erfüllen, verantwortbare Ereignisse von solchen Ereignissen abzugrenzen, für die man sich nicht verantworten muss. Der Grundgedanke ist, dass eine Person genau dann Verantwortung für ein Ereignis übernehmen muss, wenn das Ereignis ihr selbst bzw. ihrem personalen Kern entstammt. Zum anderen soll der orthodoxe Handlungsbegriff die anthropologisch-psychologische Aufgabe übernehmen, solche Ereignisse, deren Hervorbringung sich der inneren, relevanten Struktur belebter Wesen verdankt, von solchen Ereignissen zu trennen, bei denen dies nicht der Fall ist und die bloße Reflexe oder bloße Geschehnisse darstellen. Auch wenn in der Handlungstheorie mitunter noch von einer Dichotomie von Handlungen (im orthodoxen Sinne) und Geschehnissen ausgegangen wird, kann auch im Rahmen der orthodoxen Konzeption eingesehen werden, dass der orthodoxe Handlungsbegriff nicht beide Funktionen zugleich erfüllen kann. Denn in einem relevanten Sinne handeln auch kleine Kinder, Tiere, Schlafwandler und Psychopathen, und nicht alle mit ihnen verbundene Ereignisse sind bloße Geschehnisse oder Reflexe. Zugleich sind sie aber nicht für ihr Tun verantwortlich. Vor diesem Hintergrund haben „Handlungs-Dualisten“ wie etwa Thomas von Aquin und Korsgaard nahegelegt, von einem Bereich des Verhaltens zu sprechen, der – als orthodoxes Äquivalent zum Mittelreich – zwischen dem Bereich der Reflexe und dem Bereich der reflektierten Handlungen angesiedelt ist. Dann aber stellten sich für die Orthodoxie wichtige neue Probleme. So hat die Orthodoxie erstens keine begrifflichen Ressourcen, um die Natur des „Verhaltens“ sowie die Grenze zwischen Reflexen und Verhalten verständlich zu machen, da der orthodoxe Handlungsbegriff gerade im Bereich der Kontrolle, Reflexion bzw. Absichtlichkeit (im jeweils relevanten Sinne) operiert und nicht im Bereich des Verhaltens. Und zweitens lädt eine differenziertere Betrachtungsweise zu einem differenzierenderen Blick ein, der erkennen lässt, dass entgegen der Annahme der Orthodoxie die Fragen des Vorliegens einer Handlung im Sinne der Orthodoxie, der Zurechnung, der Verantwortung, und des Handelns im Gegensatz zu bloßen

4 Zurechenbarkeit

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Geschehnissen in fast²⁰ alle Richtungen auseinander fallen können. So kann es Handlungen im orthodoxen Sinne geben, für die niemand verantwortlich ist und die nicht zurechenbar sind. Eine geistig derangierte Person könnte sich etwa bewusst, reflektiert und unter Abwägung von Gründen entscheiden, sich absichtlich zu verletzen. Obwohl hier (wie argumentiert werden kann) eine Handlung im Sinne der Orthodoxie vorliegt, würde man die kranke Person nicht verantwortlich machen oder ihr das Handeln als ihr Handeln zurechnen. Das Vorliegen einer Handlung im Sinne der Orthodoxie ist also nicht hinreichend für das Vorliegen von Verantwortung und das Vorliegen von Zurechnung. Weiterhin kann es Handlungen im orthodoxen Sinne geben, die zwar einer Person zugerechnet werden, die aber nicht Verantwortlichkeit mit sich bringen. Es kann etwa berichtet werden, dass eine Person am Wochenende schwimmen gegangen ist. Hier liegt eine Handlung im Sinne der Orthodoxie vor und die Handlung wird der Person zugerechnet, aber die Person wird dafür nicht verantwortlich gemacht. Das Vorliegen einer Handlung im Sinne der Orthodoxie ist also wiederum nicht hinreichend für Verantwortlichkeit und auch das Vorliegen einer Zurechnung ist nicht hinreichend für Verantwortlichkeit. Darüber hinaus kann es Fälle geben, in denen keine Handlung im Sinne der Orthodoxie vorgelegen hat, in denen ein Ereignis einer Person aber sehr wohl zugerechnet wird und sie dafür verantwortlich gemacht wird. Über klassische Beispiele wie fahrlässiges Handeln und unabsichtliches Unterlassen hinausgehend kann man an verschiedene Beispiele zu verantwortenden unreflektierten Handelns denken, etwa das Vergessen eines Hundes im Auto (vgl. Sher 2009), das unabsichtliche Überfahren von Kindern auf der Straße, oder das übersehende Vorbeilaufen an einer Person in Not; diese Fälle können derart ausbuchstabiert werden, dass der Handelnde im relevanten Sinne nicht kontrolliert gehandelt hat, aber dennoch als verantwortlich angesehen wird. Das Vorliegen einer Handlung im Sinne der Orthodoxie ist also nicht notwendig für das Vorliegen von Zurechnung und Verantwortlichkeit. Schließlich kann es Fälle geben, in denen keine Handlung im Sinne der Orthodoxie und keine Verantwortlichkeit vorliegt, in denen ein Ereignis aber einer Person zugrechnet wird. Beispielsweise kann eine Person eine Türklinke heruntergedrückt haben. Dies kann ihr zugerechnet werden, ohne dass sie sich – in einem Falle, in dem aus diesem Handeln weder gute noch schlechte Konsequenzen folgen – dafür verantworten muss. Wiederum ergibt sich, dass das Vorliegen einer Handlung im Sinne der Orthodoxie nicht notwendig ist für Zurechenbarkeit, und dass eine Zurechnung nicht hinreichend für Verantwortung ist.

 Die einzige Ausnahme ist, dass eine Zurechnung immer notwendig für Verantwortlichkeit ist.

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IV Rationalität ohne Reflexion

Zur Gewinnung einer alternativen Konzeption der Zurechnung kann aus den Problemen der Orthodoxie gelernt werden. Gelernt werden kann erstens, dass die Fragen nach der Abgrenzung eines Handelns von Reflexen und Geschehnissen auf der einen Seite und nach der Verantwortbarkeit und Zurechenbarkeit auf der anderen Seite gänzlich verschiedenen voneinander sind und dass es nicht aussichtsreich zu sein scheint, beide Fragen mittels eines einzigen Konzepts zu beantworten. Und gelernt werden kann zweitens, dass der Handlungsbegriff gemäß der orthodoxen Konzeption weder zur überzeugenden Beantwortung der einen noch zur überzeugenden Beantwortung der anderen Frage taugt. Daher schlage ich erstens vor, zwei verschiedene Antworten auf die beiden verschiedenen Fragen zu suchen, anstatt sie beide mit einer einzigen Antwort beantworten zu wollen. Und ich schlage zweitens vor, den Handlungsbegriff der orthodoxen Konzeption gänzlich aufzugeben, da er zur Beantwortung keiner der beiden Fragen geeignet ist. Gemäß der Alternative sollte nicht gefragt werden, was vollwertige Handlungen eigentlich ausmacht, und dabei gehofft werden, so die anderen Fragen zu beantworten. Stattdessen sollten direkt die beiden verschiedenen Fragen gestellt werden, wodurch sich das Handeln von Tieren und Menschen von Reflexen unterscheidet, und wie es möglich ist, einer Person ein Ereignis als ihre Handlung zuzurechnen. In Antwort auf diese beiden verschiedenen Fragen ergibt sich eine hybride Handlungstheorie.

b Die alternative Grundstruktur einer hybriden Handlungstheorie Die Frage, wie das Tun von Tieren und Menschen auf der einen Seite von bloßen Reflexen und bloßen Geschehnissen auf der anderen Seite unterschieden werden kann, ist laut Harry Frankfurt (1978) gerade die entscheidende Frage der Handlungstheorie, und ich habe in der Einleitung bereits vorgeschlagen, sie mittels des Begriffs des Handelns (im Gegensatz zu „Handlung“) zu beantworten. Grob gesprochen verstehe ich unter „Handeln“ alle (körperlichen und geistigen) Bewegungen eines selbst-organisierenden Systems, die in enger Verbindung zu solchen Prozessen im Gehirn des Systems stehen, die über Prozesse im Rückenmark und Kleinhirn hinausgehen. Damit umfasst der Begriff des Handelns sowohl reflektiertes Vorgehen als auch alles Tun von Tieren, Psychopathen, Schlafwandlern und kleinen Kindern. Er liefert dabei einen Ansatz, wie die Abgrenzung zwischen Handeln und Reflexen näher ausbuchstabiert werden kann. Und mit dem Interaktionismus habe ich im dritten Kapitel eine konstruktive Konzeption vorgeschlagen, wie Handeln – und insbesondere das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion – positiv ausbuchstabiert werden kann. Diese Konzeption ist externalistisch in dem Sinne, dass die Umwelt eine entscheidende Rolle in der

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Interaktion spielt, und sie kommt ohne die Annahme eines Akteurs-Kausalität ausübenden Subjekts aus. In die Ausbuchstabierung der Konzeption können Befunde aus Psychologie, Neurowissenschaft, und anderen Kognitionswissenschaften eingehen. Eine ganz andere Frage lautet jedoch, wie es möglich ist, einer Person ein Ereignis als ihre Handlung zuzurechnen und sie dann gegebenenfalls dafür zur Verantwortung zu ziehen. Ich schlage vor, diese Frage mittels des Begriffs der Handlung (im Gegensatz zu „Handeln“) zu beantworten. In erster Näherung verstehe ich unter „Handlung“ dabei ein Ereignis, das auch als Handeln individuiert werden kann, unter einer Individuierung, bei der dieses Ereignis einer Person zugerechnet ist, so dass sie dafür zur Verantwortung gezogen werden kann. Dieser Handlungsbegriff unterscheidet sich damit vom Handlungsbegriff der Orthodoxie. Der Handlungsbegriff der Orthodoxie ist psychologistisch und internalisitisch, indem er Kontrolle, Bewusstsein oder Absichtlichkeit zu einem notwendigen Bestandteil von Handlungen macht. Gemäß dem Handlungsbegriff der Alternative gibt es nicht diese inneren Voraussetzungen, und er wird sozialexternalistisch verstanden. Für eine Ausbuchstabierung des Handlungsbegriffs ist ein Blick auf die soziale volkspsychologische Praxis hilfreich, und entsprechend können zu seiner Entwicklung keine Befunde aus der Kognitionswissenschaft, aber Befunde aus Soziologie oder Sprachwissenschaften herangezogen werden. Zwar wird eine solche hybride Handelns-Theorie in der gegenwärtigen Handlungstheorie meines Wissens nicht wirklich vertreten: Klassische Positionen tendieren zur orthodoxen Handlungs-Konzeption, Positionen in der Philosophie der Kognitionswissenschaften zu dem, was ich als „Handeln“ bezeichne, und Askriptivisten und Anti-Psychologisten zu etwas, das – trotz des Bestehens zentraler Unterschiede – dem ähnelt, das ich als „Handlung“ bezeichne, aber niemand scheint die letzten beiden Positionen gemeinsam zu vertreten.²¹ Dennoch können die Grundzüge meiner hybriden Handelns-Theorie anhand einer Verwandtschaft zu einem weit bekannten Gedankengebilde erläutert werden, nämlich Kants Auflösung der Freiheits-Antinomie. Wie bereits in der Einleitung diskutiert, verdeutlicht Kant am Beispiel einer Person, die durch eine boshafte Lüge

 Hinsichtlich der orthodoxen Konzeption denke ich etwa an Aristoteles (NE), Thomas von Aquin (ST), Korsgaard (), Bratman () und Fischer & Ravizza (), hinsichtlich des Handels an Heidegger (), Merleau-Ponty (), Wheeler () und Hutto & Myin (), und hinsichtlich des Askriptivismus an Hart (, vgl. dazu Stoecker ), sowie hinsichtlich des Anti-Psychologismus an Michael Thompson (). Anscombe und Davidson sind den genannten Optionen vor dem Hintergrund der Komplexität ihrer Arbeiten sowie der entsprechenden divergierenden Interpretationen nicht ohne Weiteres zuzuordnen.

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Unordnung in die Gesellschaft gebracht hat, seinen Hauptpunkt wie folgt (1787: B582 ff.): In der ersten Absicht geht man seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht, zum Teil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt; wobei man denn die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht läßt. […] Ob man nun gleich die Handlung dadurch bestimmt zu sein glaubt: so tadelt man nichtsdestoweniger den Täter, und zwar nicht wegen seines unglücklichen Naturells, nicht wegen der auf ihn einfließenden Umstände, ja sogar nicht wegen seines vorher geführten Lebenswandels […]. [D]ie Handlung wird [vielmehr] seinem intelligiblen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld[.]

Scheinbar besteht eine Spannung dazwischen, dass wir das Verhalten einer Person einmal feinkörnig beschreiben und dann als durch persönliche und situative Faktoren vollständig bestimmt ansehen können, und dass wir ihr einmal dasselbe Ereignis als ihre von ihr zu verantwortende Tat zurechnen. Die Spannung entsteht, weil es so wirkt, als erfordere Zurechenbarkeit positiv gesehen so etwas wie Akteurs-Kausalität (in einem metaphysisch substantiellen Sinne) und negativ gesehen so etwas wie eine Unbestimmtheit durch Faktoren außerhalb der Kontrolle der handelnden Person. Und dies stände mit einer vollständigen Bestimmtheit des Verhaltens durch persönliche und situative Umstände im Widerspruch. Kant stellt jedoch die Frage, wie es überhaupt möglich ist, einer Person ein Verhalten als ihre Handlung zuzurechnen. Und die Antwort lautet, dass dasselbe Verhalten, das einmal als feinkörnig durch persönliche und situative Umstände bestimmt verständlich gemacht werden kann, auch aus einer anderen Perspektive individuiert werden kann, so dass das Verhalten in dieser Individuierung eine zurechenbare Handlung ist. Dies ist eine sehr hilfreiche Einsicht, die festgehalten werden sollte. Allerdings ist Kant zudem davon ausgegangen, dass diese andere Perspektive der Individuierung als auf einer intelligiblen bzw. noumenalen Ebene liegend (geradezu metaphysisch) ausgezeichnet ist. Wie nun aber in der Einleitung hervorgehoben worden ist, ist eine solche Annahme eines intelligiblen Charakters auf einer noumenalen Ebene gemäß Kants eigenen Standards nicht besonders plausibel. Im Folgenden werde ich daher den Kantischen Grundgedanken ohne die noumenale Metaphysik übernehmen. Demnach kann ein Ereignis einerseits als Handeln und damit als feinkörnige Interaktion von Affordanz und Akzeptanz individuiert werden. Andererseits kann dasselbe Ereignis aber auch aus einer anderen Perspektive als zurechenbare Handlung individuiert werden. Diese andere Perspektive ist aber nicht metaphysisch ausgezeichnet, sondern, wie ich vorschlagen werde, die narrative Perspektive der Volkspsychologie.

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c Der Perspektivismus Bevor ich näher erläutern werde, wie im Rahmen einer Individuierung von Verhalten aus der narrativen Perspektive der Volkspsychologie dieses Verhalten einer Person als ihre Handlung zugerechnet werden kann, gehe ich noch einmal auf den zugrunde liegenden Perspektivismus ein.²² Grob gesprochen besagt der Perspektivismus zunächst, dass ein und dasselbe aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich individuiert werden kann.²³ Schon wenn man die Annahme ablehnt, dass es so etwas wie einen Blick von nirgendwo gibt, d. h., eine Sichtweise, die nicht durch subjektive Bedingungen dessen konstituiert ist, dessen Sichtweise sie ist, dann muss zugestanden werden, dass jede Individuierung von etwas Perspektivität mit sich bringt. Nun liegt es zudem nahe, davon auszugehen, dass ein und dasselbe aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Ein anschauliches Beispiel stellt der von Wittgenstein diskutierte Hasen-Enten-Kopf dar. Aus der einen Perspektive betrachtet treten Aspekte in den Vordergrund, die ihn als Hase erscheinen lassen, während aus der anderen Perspektive betrachtet Aspekte in den Vordergrund treten, die ihn als Ente erscheinen lassen. Um einen Namen für dasjenige zu haben, das aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich individuiert werden kann, d. h. dasjenige, von dem der Hasen-EntenKopf eine Instanziierung ist, schlage ich vor, den Begriff des Musters im Lebensteppich zu verwenden.²⁴ Das Muster des Hasen-Enten-Kopfs kann demnach aus der einen Perspektive als Hase und aus der anderen Perspektive als Ente erscheinen. Für die vorliegenden Zwecke ist es am fruchtbarsten, Perspektiven abstrakt und so zu verstehen, dass es ihrer mehrerer geben kann, also etwa eine Perspektive der Volkpsychologie, eine Perspektive der Neurobiologie, eine Perspektive der kognitiven Psychologie, usw. Diesen Gedanken habe ich im dritten Kapitel an dem Beispiel erläutert, dass es verschiedene Perspektiven auf ein Gemälde in einem Museum geben kann. Welche Perspektive jeweils die beste ist, ermisst sich an dem jeweiligen praktischen Zweck, der erreicht werden soll. Es gibt aber keine „ausgezeichnete Perspektive“, von der aus gesehen werden kann, wie das Bild „eigentlich“ beschaffen ist. Ein Erkenntnisfortschritt wird dagegen er-

 Damit knüpfe ich an Ausführungen an, die in Abschnitt a des dritten Kapitels gemacht worden sind.  Vgl. zum Perspektivismus Conant  und Conant . Der zugrunde liegende Gedanke findet sich freilich prominent bei Kant und Nietzsche und als zeitgenössisches Beispiel habe ich im dritten Kapitel Daniel Dennetts Mittelweg zwischen „Realismus“ und „Anti-Realismus“ erwähnt.  Die Metapher stammt bekanntermaßen von Wittgenstein, der sie aber zu einem Zweck ins Spiel bringt, der von dem meinigen leicht verschieden ist (Philosophische Untersuchungen, Teil II, i, §, S. ).

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möglicht, indem die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Perspektiven erhellt werden.²⁵

d Handlung ist Narration Während es gemäß der Alternative mit der im dritten Kapitel erörterten drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit eine solche Individuationsweise bestimmter Muster im Lebensteppich gibt, durch die diese Muster als Handeln ausgelegt werden können, und die dabei ein zu einem tieferen philosophischwissenschaftlichen Verständnis menschlichen Wirkens in der Welt beitragen kann, gibt es auch noch eine andere, hier entscheidende Perspektive auf die im Wesentlichen selben Muster, nämlich die Perspektive der Volkspsychologie. Ihre grobkörnigere Individuierungsweise ist zwar, so schlage ich vor, zur Gewinnung eines tieferen Verständnisses menschlichen Wirkens in der Welt zu unbeholfen, aber sie dient vorzüglich dem Zweck, Menschen Ereignisse als ihre Handlungen zuzurechnen und damit die Möglichkeit der Verantwortbarkeit zu eröffnen. Zum besseren Verständnis sollte an dieser Stelle noch einmal auf die Wittgensteinischen und Kantischen Grundzüge der verwendeten Methodologie aufmerksam gemacht werden: Die Alternative rekonstruiert nicht den Gehalt sprachlicher Zuschreibungen von Verantwortlichkeit dahingehend, dass AkteursKausalität erforderlich ist, und fragt dann, ob in der Welt, die auch auf deterministische Weise vollständig verständlich gemacht werden zu können scheint, so etwas wie Akteurs-Kausalität wirklich realisiert ist. Stattdessen setzt sie das Faktum, dass sich Menschen tatsächlich Ereignisse als Handlungen zurechnen, an erste Stelle, und fragt, wie dieses Faktum möglich ist. Die Antwort nun liegt in einem besseren Verständnis gerade derjenigen Individuierungsweise, durch die die entsprechenden Zurechnungen de facto vorgenommen werden. Um dann diese Individuierungsweise bzw. Perspektive besser verständlich machen zu können, gilt es, diese Perspektive von außen zu beschreiben, da nur auf diese Weise die  Etwa im Lichte von Dennetts Theorie liegt es nahe anzunehmen, dass ein wissenschaftlicher Fortschritt dadurch entsteht, dass das aus einer Perspektive Betrachtete auf etwas aus einer anderen und fundamentaleren Perspektive Betrachtetes reduziert wird, etwa etwas aus dem „intentional stance“ Betrachtetes auf etwas aus dem „physical stance“ Betrachtetes. Gemäß meiner Alternative dagegen ist keine Perspektive fundamentaler als eine andere. Hilfreich ist es dagegen zu sehen, wie dasjenige, was aus der einen Perspektive auf eine bestimmte Weise individuiert wird, aus einer anderen Perspektive ganz anders individuiert werden kann, und wie diese Individuierungsweisen zusammenhängen. Im Falle des Hasen-Enten-Kopfes ist das Interessante gerade, was es über den Hasen-Enten-Kopf und über unsere jeweiligen Betrachtungsweisen sagt, dass er einmal als Hase und einmal als Ente erscheinen kann.

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Perspektivität der Perspektive in den Blick gerückt werden kann.²⁶ So kann aus der Innenperspektive der Volkspsychologie gerade nicht erkannt werden, was es heißt, etwas als Handlung zu individuieren, weil die spezifische Individuierungsweise nicht im Blickpunkt der Volkspsychologie steht, sondern es so wirkt, als würden Handlungen direkt gesehen. Mit Wittgenstein gesprochen kann gesagt werden, dass die spezifische Individuierungsweise der Volkspsychologie dem Menschen als eigentliche Grundlage der Zurechnung aufgrund ihrer Einfachheit und Alltäglichkeit nicht mehr auffällt. Ich schlage nun vor, dass die spezifische volkspsychologische Individuierungsweise von Mustern im Lebensteppich als Handlungen von außen erhellend mit den Metaphern beschrieben werden kann, dass Muster im Lebensteppich als Handlungs-Geschichten ausgelegt werden. Mit der Metapher der Handlungs-Geschichte knüpfe ich dabei an das Phänomen der Narrativität an, das aus Alltag, Literaturwissenschaft und Philosophie bekannt ist: Kleinen Kindern werden Märchen erzählt, Erwachsenen Geschichten in Romanform präsentiert und die Vergangenheit des Menschengeschlechts von Historiografen in erzählerischen Ordnung in Geschichtsbüchern niedergelegt. Verschiedene Philosophen haben darüber hinaus bereits darauf hingewiesen, dass dem Erzählen von Geschichten noch eine weit größere Bedeutung im menschlichen Leben zukommt. So ist argumentiert worden, dass erst das Erzählen von Geschichten über sich selbst dazu führe, sein Leben als Ganzes als kohärent geordnet anzusehen, und damit überhaupt erst so etwas wie eine diachrone personale Identität und damit auch ein „Selbst“ (in einem Sinne des Wortes) zu besitzen.²⁷ Wie ich nun vorschlagen möchte, findet sich die Grundstruktur des Phänomens des Erzählens von Geschichten auch noch an ganz anderer Stelle: Wann immer wir in der Volkspsy-

 Natürlich findet die Betrachtung aber nicht von einem Blick von nirgendwo aus statt, sondern aus der Perspektive von Philosophen und Wissenschaftlern, die – ähnlich, wie es Soziologen tun – bestimmte menschliche Praktiken zwar von außen, aber immer vor dem Hintergrund lebensweltlicher Gewissheiten betrachten, die sie als Menschen mitbringen.Vgl. auch die Diskussion der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit im dritten Kapitel.  Vgl. besonders Schechtman  und , Dennett , Ricœur , Hutto  und die Anthologie MacKenzie & Atkins . Für eine vehemente Kritik an den narrativen Ansätzen, vgl. G. Strawson . Laut Strawson ergibt sich ein Dilemma: Entweder wird der Begriff des Erzählens von Geschichten sehr eng gefasst (etwa als das explizite Erzählen von Geschichten), dann ist die Narrationsthese falsch (und es wäre chauvinistisch von Philosophen, die ihr eigenes Leben narrativ fassen, davon auszugehen, dass dies bei allen Menschen so sei). Oder der Begriff des Erzählens von Geschichten wird weit gefasst (und alltägliche Aussagen wie „Ich koche gerade einen Kaffee“ würden als Narrative gelten), dann werde die Narrationsthese trivial. In Kürze werde ich eine Antwort auf Strawson vorschlagen.

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chologie etwas als Handlung individuieren, so schlage ich vor, erzählen wir eine kleine Geschichte. Laut Peter Lamarques literaturwissenschaftlichen Analyse (2004) gibt es vier Minimalbedingungen dafür, dass etwas eine Narration ist: Es muss ein fiktionales, nicht genuin beschreibendes Element geben, es müssen mindestens zwei Ereignisse vorkommen, es muss eine temporale Verbindung vorliegen und es muss eine nicht-triviale Verbindung zwischen den Ereignissen geben. Gemäß der Alternative erfüllt die volkspsychologische Auslegung von Mustern im Lebensteppich genau diese Bedingungen. Zunächst wird ein Ereignis beobachtet. Das involvierte Wesen wird dann zum Protagonisten einer Geschichte gemacht. Gemäß der Struktur von Handlungs-Geschichten verfügt der Protagonist über die Akteurs-Kausalität und ist in der Ausübung dieser Akteurs-Kausalität von der Umwelt unbeeinflusst. In einem wichtigen Sinne enthalten Handlungs-Geschichten damit ein fiktionales Element, da eine feinkörnigere Individuation derselben Muster im Lebensteppich ohne die Annahme der Existenz eines Akteurs-kausalen, von seiner Umwelt unbeeinflussten Subjekts auskommt.²⁸ Zur Erklärung des Zustandekommens des Ereignisses wird dann ein weiteres, zeitlich weiter zurückliegendes Ereignis und damit die Vorgeschichte jenes Ereignisses erfunden: Demnach hat sich der Akteur zunächst vor die Wahl zwischen verschiedenen Handlungs-Verläufen gestellt gesehen und sich dann für einen der Handlungs-Verläufe entschieden. Somit gibt es auch im Rahmen von Handlungs-Geschichten zwei Ereignisse, und diese Ereignisse befinden sich in einer temporalen Abfolge. Das vorhergehende Ereignis der Entscheidung für einen bestimmten Handlungsverlauf macht dann das zunächst beobachtete Ereignis des Handelns verständlich, indem letzteres als die Umsetzung der entsprechenden Entscheidung begriffen werden kann. Damit besteht auch eine nicht-triviale Verbindung zwischen den Ereignissen, so dass im Falle des Erzählens von Handlungs-Geschichten auch die vierte Bedingung für das Vorliegen von Narrationen erfüllt ist. Zugegebenermaßen wird in der volkspsychologischen Redeweise über Handlungen das erste Ereignis der Entscheidung nicht immer explizit gemacht; wie ich jedoch vorschlagen möchte, steht ein teleologisches Verständnis von Handlungen, demgemäß Handlungen immer der Umsetzung von Entscheidungen, der Erfüllung von Wünschen, der Erreichung von Zielen oder der Ausführung von Absichten dienen, stets im Hintergrund der volkspsychologischen Handlungsindividuation.²⁹

 Insofern die Rede von einem fiktionalen Element irreführend ist, kann der Gedanke, dass in der Volkspsychologie Ereignisse als Handlungs-Geschichten ausgelegt werden, auch ohne Lamarques Verweis auf fiktionale Elemente ausbuchstabiert werden.  Offensichtlicherweise entspricht der Inhalt der Handlungs-Geschichten im Wesentlichen der orthodoxen Handlungskonzeption. Dies ist kein Zufall, denn methodisch ist die orthodoxe

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Die volkspsychologische Auslegungsweise von Mustern im Lebensteppich als Handlungs-Geschichten kann am besten anhand eines Beispiels verständlich gemacht werden. Man betrachte etwa folgenden Fall unreflektierten Handelns, für das der Akteur aber verantwortlich erscheint (vgl. Sher 2009): Wilfried ist dabei, einen alten Freund zu begrüßen, den er in einem Kiosk trifft, an dem er kurz mit seinem Auto angehalten hatte, um ein paar Zigaretten zu kaufen. Plötzlich muss Wilfried feststellen, wie der Freund über eine Lebenskrise zu berichten beginnt. Innerhalb von Sekunden wird Wilfrieds Aufmerksamkeit vollständig auf die Not des Freundes gelenkt. … Als Wilfried den Kiosk Stunden später als geplant verlässt, realisiert er, dass er seinen neuen Hund in seinem Wagen vergessen hat, den er direkt in der Sonne geparkt hatte. Außerdem muss Wilfried erkennen, dass der Hund aufgrund der Hitze im Auto bereits gestorben ist. Im Gegensatz zu Wilfried hätte sich fast jede normale und gesunde Person an den Hund erinnert und wäre rechtzeitig zu ihm zurückgekehrt.

Aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit kann dieser Fall feinkörnig analysiert und vollständig unter Rekurs auf die Interaktion von Affordanz und Akzeptanz verständlich gemacht werden. Derselbe Fall kann aber auch aus volkspsychologischer Perspektive individuiert werden. Dann liegt ein Dialog wie dieser nahe: „Wo ist Wilfried?“ – „Er sitzt im Gefängnis: Er hat seinen neuen Hund in seinem Wagen verschmoren lassen.“ In dieser Beschreibung wird die Komplexität von Wilfrieds Verhalten sowie der Einflüsse der Umwelt dramatisch reduziert, oder, besser gesagt, sehr grobkörnig ausgelegt. Es wird angenommen, Wilfried habe sich für den Tod seines Hundes entschieden, und Wilfried wird dann als akteurs-kausales Subjekt hingestellt, der den Tod unter seiner Kontrolle hervorgebracht hat. Unabhängig aller Umweltfaktoren, Vorbedingungen und unbewusster Einflüsse wird Wilfried zu einem Akteur gemacht, der die alleinige Quelle seiner Handlung ist und der sie verantworten und dafür mit Gründen einstehen muss. Der Akteur, der eine bestimmte zeitlich abgrenzbare Handlung kausal initiiert und kontrolliert ausführt, ist kein Bestandteil der Welt, die man auch auf feinkörnigerer Weise genauer beschreiben könnte, sondern der Protagonist einer Handlungs-Geschichte. Damit könnte man fast sagen, dass sich verantwortliche Akteursschaft einer wechselseitigen Anerkennung als verantwortliche Akteure verdankt. Aber der Begriff der Anerkennung legt nahe, dass vorher schon ein verantwortlicher Akteur da ist, den es nur zu erkennen und anzuerkennen gelte.

Handlungs-Konzeption ja gerade durch eine rationale Rekonstruktion der Inhalte volkspsychologischer Zuschreibungen gewonnen worden. Im Rahmen einer Drehung der Betrachtungsweise geht es nun aber um eine Betrachtung dieser Zuschreibungspraxis von außen, um den unreflektierten Hintergrund der Zuschreibungen und dabei etwa ihre narrative Form verständlich machen zu können.

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Dagegen ist es gemäß meinem Vorschlag so, dass die Akteursschaft allererst im Rahmen einer narrativen Auslegung geschaffen wird. Daher schlage ich vor, diesen Gedanken so auszudrücken: Akteursschaft wird anerzählt. Damit wird deutlich, wie sich das Problem der Zurechenbarkeit auch von nicht bewusst kontrolliertem Handeln im Lichte einer Wittgensteinschen Drehung der Betrachtungsweise auflöst. Betrachtet man in der Sprache angelegte Bilder auf philosophisch-theoretisierende Weise, so liegt es nahe, davon auszugehen, es gebe so etwas wie zeitlich abgrenzbare „Handlungen“ und so etwas wie von ihrer Umwelt unabhängige „Akteure“. Dann stellte sich die Frage, wie die „Handlungen“ mit den „Akteuren“ verbunden sein müssten, damit eine „Handlung“ einem „Akteur“ gerechtfertigterweise als seine Handlung zugerechnet werden könnte. Nach Drehung der Betrachtungsweise ist derartigen Fragen der Boden unter den Füßen entzogen. Wenn die volkspsychologische Praxis mitsamt ihres unreflektierten Hintergrunds aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit von außen beschrieben wird, wird ersichtlich: Das, was in der Volkspsychologie „Handlung“ genannt wird, und das, was in der Volkspsychologie „Akteur“ genannt wird, entstehen gleichzeitig im Rahmen einer narrativen Auslegung lebensweltlicher Handelnsmuster. Und genau in diesem Akt der narrativen Auslegung ist dem Akteur die Handlung auch schon zugeschrieben; er wird gerade zum Protagonisten dieser einen Handlungs-Geschichte gemacht. Es besteht nicht mehr die Notwendigkeit, „Akteure“ und „Handlungen“ durch Elemente wie „Initiation“ und „Kontrolle“ zu verbinden, weil sie im Rahmen einer narrativen Auslegung immer schon verbunden sind.³⁰ Wenn Akteure in einem relevanten Sinne erst im Rahmen von HandlungsGeschichten entstehen, dann scheint sich auf den ersten Blick die Frage zu stellen, wer es denn sei, der diese Handlungs-Geschichten erzähle. In einem wichtigen Sinne vermischt diese Frage aber verschiedene Perspektiven. Denn die Rede von Handlungs-Geschichten ist gerade eine Metapher, die die volkspsychologische Praxis von außen beschreiben soll; das Wort „erzählen“ bezeichnet in diesem  Nun wird auch deutlich, was meines Erachtens auf Strawsons Vorwurf geantwortet werden sollte, Narrativitätsthesen seien entweder trivial, wenn ein weiter Begriff der Narration vorausgesetzt werde, oder falsch, wenn ein enger Begriff der Narration vorausgesetzt werde. Es sollte meines Erachtens ein sehr weiter Begriff der Narration vorausgesetzt werden. Aber während das Ergebnis dann in einer Weise trivial ist (und im Kontext der vorgeschlagenen Drehung der Betrachtungsweise auch sein sollte), ist es in einer anderen Weise durchaus gleichsam radikal, weil nun eine ungewöhnliche, neue und erhellende Beschreibung der Praxis ermöglicht wird, mit der man vorher nicht gerechnet hätte – es wird nun deutlich, dass es gerade narrative Auslegungen sind, die ermöglichen, jemandem ein Ereignis als seine Handlung zuzurechnen, und zwar gänzlich unabhängig davon, ob eine entsprechende Entscheidung, Reflexion, Kontrolle oder Absicht (im jeweils relevanten Sinne) vorgelegen hat.

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Kontext keine eigene Handlung, sondern beschreibt die gewöhnliche Praxis der Handlungszuschreibung auf ungewöhnliche Weise. Das „wer“ in der Frage scheint aber das volkspsychologische Handlungs-Verständnis, dass es stets eine hinter einem Tun stehende Person gibt, schon vorauszusetzen. In diesem Sinne ist es damit unmöglich, die Frage zu beantworten, weil sie zwei verschiedene Perspektiven vermischt und bei Lichte besehen nicht verständlich ist. Gesagt werden kann aber, dass aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit beschrieben das Erzählen von Handlungs-Geschichten Teil einer komplexen Interaktion von Affordanz und Akzeptanz ist, an der auf subjektiver Seite dynamische selbst-organisierende Systeme beteiligt sind. Zudem kann gesagt werden, dass es aus der Innenperspektive der Volkpsychologie selbstredend Personen sind, die einander Handlungen zuschreiben.³¹ Dass dabei die Aussage, dass Personen einander Handlungen zuschreiben, von außen betrachtet im Grunde wiederum eine narrative Form hat, liegt in der Natur der Sache.³²

e Auslegung Gemäß der Orthodoxie hängt das Vorliegen einer Handlung (im Verständnis der Orthodoxie) von etwas Deskriptivem ab, nämlich von der psychischen Verfasstheit des potentiellen Akteurs zum Zeitpunkt der potentiellen Handlung. Gemäß der Alternative nun scheint das Vorliegen einer Handlung (im Verständnis der Al-

 Sind Personen damit nicht Teile der metaphysischen Ausstattung der Welt? Zunächst möchte ich vorschlagen, die Redeweise von einer „metaphysischen Ausstattung der Welt“ im Quineschen Sinne deflationär zu verstehen: „To be is to be the value of a bound variable“ (Quine  / ). Dann kommt es, so schlage ich vor, auf die Perspektive an. Im volkspsychologischen Reden wird über Personen quantifiziert und in diesem Sinne sind sie Teil der metaphysischen Ausstattung der volkspsychologischen Welt. Wenn es aber darum geht, eine feinkörnige Analyse menschlichen Handelns zu liefern und die unreflektierten Hintergrund-Bedingungen der volkspsychologischen Praxis zu beschreiben, dann ist es wenigstens philosophisch sehr gefährlich, den Personenbegriff vorauszusetzen. Denn es droht die Gefahr, in der Sprache liegenden Bildern aufzusitzen oder die verschiedenen Perspektiven miteinander zu vermischen.  Anders gesagt ist an dieser Stelle ein Gedanke Wittgensteins hilfreich, nämlich die Warnung davor, das Sprachspiel der Auslegung von Ereignissen als Handlungs-Geschichten selbst wiederum durch etwas Tieferes fundiert ansehen zu wollen. Wittgenstein schreibt (in den Philosophischen Untersuchungen, §§ – ): „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‘Urphänomene’ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt. – Nicht um die Erklärung eines Sprachspiels durch unsre Erlebnisse handelt sich’s, sondern um die Feststellung eines Sprachspiels. – Wozu sage ich jemandem, ich hätte früher den und den Wunsch gehabt? – Sieh auf das Sprachspiel als das Primäre! Und auf die Gefühle, etc. als auf eine Betrachtungsweise, eine Deutung, des Sprachspiels!“

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ternative) von etwas Askriptivem abzuhängen, nämlich davon, ob ein eine Handlungs-Geschichte erzählt wird. Damit stellt sich für die Alternative die Frage, ob das Vorliegen einer Handlung (im Verständnis der Alternative) gänzlich dem Belieben des Zuschreibenden anheimgestellt ist. Dass dies nicht so ist, möchte ich nun abschließend hervorheben, indem ich einen im bereits Gesagten impliziten Gedanken explizit mache. Damit wird ersichtlich, dass der Handlungsbegriff der Alternative jenseits der Positionen des Deskriptivismus und des Askriptivismus liegt.³³ Demnach hängt die Individuation eines Ereignisses als Handlung (im Verständnis der Alternative) zwar vom Zuschreibenden ab, aber sie ist nicht beliebig. Denn wie bereits in der Erläuterung des Perspektivismus angesprochen, gibt es stets etwas, nämlich Muster im Lebensteppich, die auf verschiedene Weise ausgelegt werden können. In diesem Sinne gibt es also etwas vom Zuschreibenden Unabhängiges, das in einer Auslegung als Handlungs-Geschichte besser oder schlechter getroffen werden kann. Die Rede von der Auslegung stammt dabei von Heidegger, der sie der hermeneutischen Tradition des Verstehens von Texten entnommen und auf die Struktur menschlichen Verstehens überhaupt übertragen hat (1927: §§32 ff.). Ähnlich, wie ein Text (etwa eines klassischen Philosophen) scharfsinniger und weniger scharfsinnig ausgelegt werden kann, so kann auch eine volkspsychologische Handlungs-Individuation die zugrunde liegenden Muster im Lebensteppich besser oder schlechter treffen. An dieser Stelle ist es hilfreich, zur Illustration auf einen verwandten Gedanken Wittgensteins zu verweisen. Wittgenstein thematisiert dabei die Frage, wann ein Ereignis als willkürlich oder absichtlich angesehen wird. Er schreibt:³⁴ Das Kind lernt gehen, kriechen, spielen. Es lernt nicht, willkürlich und unwillkürlich zu spielen. Aber was macht die Bewegungen des Spiels zu willkürlichen Bewegungen? Nun, wie wäre es denn,wenn sie unwillkürlich wären? – Ich könnte auch fragen:Was macht denn diese Bewegungen zu einem Spielen? – Daß sie Reaktionen auf gewisse Bewegungen, Laute etc. des Erwachsenen sind, daß sie einander so folgen, mit diesen Mienen und Lauten (dem Lachen z. B.) zusammengehen. Kurz, macht es Bewegungen SO, so sagen wie sie seien willkürlich. Bewegungen in solchen Syndromen heißen „willkürlich“.

Damit lehnt Wittgenstein gerade den Gedanken ab, ob etwas als willkürlich gelten könne, müsse sich anhand eines Blickes in den Geist des Handelnden ermessen.

 Grob gesagt besagt der Askriptivismus, dass Handlungssätze nicht der Beschreibung von Handlungen dienen, sondern der Zuschreibung etwa von Verantwortung an einen Menschen.Vgl. für eine Darstellung, Diskussion und partielle Verteidigung des Askriptivismus Stoecker .  Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band , §§  – .

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Stattdessen kann geschaut werden, ob bestimmte Muster im Lebensteppich vorliegen. Daran entscheidet sich, ob Willkürlichkeit bzw. das Vorliegen einer Handlung treffend zugeschrieben werden können oder nicht.³⁵ Greift das Kind nach einem hingehaltenen Keks, um ihn sich fröhlich grinsend in den Mund zu schieben, ist es treffend, dieses Muster als willkürliche Handlung auszulegen, verschluckt sich das Kind an dem Keks und weint, ist es treffend, Unwillkürlichkeit zuzuschreiben.³⁶ Welche Ereignisse genau können dann als Handlung zugerechnet werden? Wie Wittgensteins drei- bzw. vierfache hervorgehobene Verwendung demonstrativer Ausdrücke („so“, „diesen“, „SO“, „solchen“) deutlich macht, sind die Muster im Lebensteppich zu komplex und die volkspsychologische Individuierungspraxis zu vielschichtig und von zu vielen unterschiedlichen Zwecken geleitet, als dass sich eine klar spezifizierbare Liste mit hinreichenden und notwendigen Bedingungen finden ließe; stattdessen gilt es, sich die jeweiligen Individuierungsweisen von Fall zu Fall anzuschauen. Als grobe Orientierung denke ich aber sagen zu können, dass ein Ereignis genau dann als Handlung zurechenbar und verantwortbar ist, wenn es auch als Handeln auslegbar ist, d. h. eine Grundlage in der Kognition des handelnden Wesens hat. Betont werden muss dabei, dass es um Zurechenbarkeit und Verantwortbarkeit geht, d. h. um die grundlegenden Möglichkeiten der Verantwortung und Zurechnung. Wie ich jedoch in der Diskussion

 An dieser Stelle liegt der Vorwurf nahe, die alternative Konzeption sei in einem problematischen Sinne behavioristisch. Hier schließt sich ein Kreis, denn Wittgensteins Verteidigung gegen den Vorwurf, ein Behaviorist zu sein, habe ich in den ersten Kapiteln dieser Arbeit diskutiert. Wittgenstein leugnet nicht das Mentale, sondern nur eine falsche, problematische Konzeption des Mentalen. Im Kontext der dortigen Diskussion ging es um Wittgensteins Ablehnung des Gedankens, menschliches Handeln unter Rekurs auf das Vorliegen mentaler Zustände erklären zu wollen. Übertragen auf diese Diskussion menschlichen Handelns bedeutet ist der analoge Gedanke die Ablehnung der Annahme, menschliches Handeln müsse immer durch eine bewusstseinsfähige Absicht initiiert und kontrolliert sein. Aber hierbei handelt es, so zumindest der zugrunde liegende Gedanke, lediglich um philosophische Konzeptionen, die durch ein Betrachten von in der Sprache liegenden Bildern in einem philosophischen Licht nahegelegt worden sind. Keineswegs abgelehnt wird aber – so schlage ich zumindest vor, Wittgenstein zu verstehen – der Gedanke, dass Handeln kognitive Voraussetzungen hat. Aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit heraus können diese kognitiven Strukturen fruchtbar als Akzeptanz-Struktur analysiert werden. Und auch für die volkspsychologische Praxis der Handlungs-Individuation können psychische Prozesse mitunter eine Rolle spielen – sie sind aber keine allein entscheidenden notwendigen und hinreichenden Bedingungen.  Wittgensteins feinfühlige Beschreibung der Bewegungen als „Reaktionen auf gewisse Bewegungen, Laute etc. des Erwachsenen“ macht zugleich deutlich, dass dasselbe Muster im Lebensteppich auch auf feinkörnigere Weise individuiert werden kann, nämlich als direktes Reagieren auf Affordanzen.

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der orthodoxen Handlungskonzeption argumentiert habe, können de facto das Vorliegen von Verantwortung und Zurechnung und Handeln auseinanderfallen. So kann etwa ein Psychopath handeln, aber de facto nicht verantwortlich gemacht werden. Hier schlage ich vor, die Begriffe so zu bestimmen, dass gesagt wird, dass dem Psychopathen das Muster im Lebensteppich, das auch als Handeln ausgelegt werden kann, zwar zurechenbar ist, dass es ihm aber de facto nicht zugerechnet wird. Ebenfalls kann es vorkommen, dass eine Handlung zugerechnet wird und die Handlung verantwortbar ist, dass aber de facto keine Verantwortung zugeschrieben wird. Wie ich vorschlagen möchte, sind die Gründe, warum die Möglichkeiten der Zurechnung und Verantwortungszuschreibung nicht immer genutzt werden, pragmatischer Natur; darauf werde ich noch zurückkommen. Schließlich gilt es noch zu betonen, dass mein Vorschlag, dass ein Ereignis genau dann als Handlung zurechenbar ist, wenn es auch als Handeln auslegbar ist, lediglich eine grobe Orientierung darstellt.³⁷ Zumindest in einigen Fällen wird in der Volkpsychologie auch davon geredet, dass eine Person etwas vergessen hat und auch, dass die Erde um die Sonne kreist, Frankreich und Deutschland ihre wechselseitige Verbundenheit betonen oder der Text seine Leser verwirrt. Der philosophisch entscheidende Punkt hinter all diesem ist es aber, dass gemäß der Alternative, im Gegensatz zur Konzeption der Orthodoxie, jedes als Handeln auslegbare Muster als Handlung ausgelegt werden kann und damit zurechenbar und verantwortbar ist. Nun zeigt sich, wie es ungeachtet psychischer Voraussetzungen wie dem Vorliegen von Kontrolle, Reflexion oder Absichtlichkeit möglich ist, einen Menschen für all sein Handeln verantwortlich zu machen, sei das Handeln reflektiert oder unreflektiert.

f Die Rolle der Volkspsychologie jenseits von Realismus und Skeptizismus Abschließend kann es hilfreich sein zu hervorzuheben, dass die Alternative eine differenzierte Sichtweise auf die Volkspsychologie einzunehmen erlaubt. Aristoteles beispielsweise hat – die orthodoxe Sichtweise geradezu erschaffend – in der Nikomachischen Ethik die Volkpsychologie für bare Münze genommen und ist entsprechend in der Entwicklung seiner Moralpsychologie durch Volkspsychologie und Introspektion motiviert gewesen. So ist es nur natürlich, dass sich die volkspsychologische Individuierungweise menschlichen Handelns in seiner Moralpsychologie widerspiegelt. Dagegen ist David Velleman (2012: 10) vor dem

 Vgl. schon die Diskussion der prinzipiellen logischen Unabhängigkeit von Handeln und Handlungen in der Einleitung.

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Hintergrund feinkörnigerer Analysen menschlichen Handelns in Bezug auf Aristoteles’ Sichtweise sowie in Bezug auf die ihm folgenden Moralpsychologen skeptisch: In my view, the field of moral psychology consists largely of Nicomachean fan fiction. Fan fiction is the genre in which fans of a movie or novel write further adventures of its characters, trying always to preserve something about them that will make them recognizable from the original. In Nicomachean fan fiction, the leading character is the rational agent, who has desires, makes choices, suffers weakness-of-will, acts voluntarily or involuntarily, is or is not responsible for his actions. And of course this rational agent has motivating thoughts expressible in a practical syllogism. We all know this character, we all know how [he] thinks, and so we can all continue his story, modifying him in this or that respect but never so much as to make him unrecognizable. We all know this character, I say, but we don’t know him in reality, because he doesn’t really exist. He’s a fictional character, and we moral psychologists are simply spinning out his further adventures.

Vor dem Hintergrund der Wittgensteinischen Drehung der Betrachtungsweise und des Kantischen Perspektivismus kann leicht erkannt werden, dass Aristoteles und Velleman beide gleichermaßen recht und unrecht haben.Velleman hat recht, dass Aristoteles mit seiner Moralpsychologie die Natur menschlichen Handelns nicht besonders genau und feinkörnig getroffen hat. Aristoteles hat lediglich eine von vielen möglichen Individuierungsweisen vorausgesetzt, und nahegelegt worden ist sie ihm in gewissem Sinne lediglich durch in der Sprache angelegte Bilder. Aber Velleman hat unrecht, wenn er annimmt, Aristoteles’ Beschreibungsweise sei schlichtweg falsch oder eine bloße Fiktion. Die volkspsychologische Individuierungen, von deren Gehalt Aristoteles ausgeht, können von außen betrachtet als eine pragmatisch hilfreiche grobkörnige Auslegung dessen angesehen werden, das Velleman zu anderen, philosophisch-wissenschaftlichen Zwecken lieber in feinkörnigerer Weise beschrieben sehen wollen würde.³⁸ Die alternative Konzeption der Zurechnung unterscheidet sich somit von der orthodoxen Konzeption dadurch, dass sie im Rahmen einer alternativen Methode die volkspsychologische Praxis samt ihres unreflektierten Hintergrunds von außen beschreibt, den orthodoxen Handlung-Begriff ablehnt, die Struktur einer hybriden Handlungstheorie samt der neuen Begriffe des Handelns und der Handlung einführt, von einem Perspektivismus ausgeht, und schließlich Handlungen und Akteure als Produkte narrativer Auslegungen ansieht. Damit eröffnet  In diesem Sinne entspricht Vellemans Skeptizismus der Russell’schen These, die gewöhnliche Sprache verkörpere nur die Metaphysik der Steinzeit, und die Position der Alternative, die den pragmatischen Nutzen der volkpsychologischen Individuierungsweise erkennt, ohne sie für die einzig mögliche oder einzig sinnvolle Individuierungsweise zu halten, Austins Position.

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IV Rationalität ohne Reflexion

die Alternative die Möglichkeit, sowohl die Frage nach einer Abgrenzung von Handeln und Reflexen als auch die Frage nach der Möglichkeit der Zurechnung jeweils getrennt zu beantworten, ohne in die Schwierigkeiten zu geraten, in die die Orthodoxie aufgrund ihrer konzeptuellen Vorannahmen geraten musste. Indem die Alternative erlaubt, einem Handelnden prinzipiell all sein reflektiertes und unreflektiertes Handeln als verantwortbare Handlung zuzurechnen, ist der Boden bereitet für eine weite und starke Konzeption menschlicher Rationalität, in der ausnahmslos alles Handeln in den Raum der Gründe gestellt werden kann.

5 Normativität Eine Handlung ist gemäß der Alternative das Produkt einer narrativen Auslegung solcher Muster im Lebensteppich, die sich auch als Handeln auslegen lassen. Aber zu bestimmten alltäglichen Erklärungszwecken können Muster im Lebensteppich auch als Handlung ausgelegt werden, ohne dass dem Akteur damit Verantwortung zugesprochen werden würde. Von einem kleinen Kind etwa kann gesagt werden, dass es die Handlung ausgeführt hat, selbstständig durch die Wohnung zu laufen, ohne dass dem Kind deshalb notwendig Verantwortung zugesprochen werden muss. Was muss hinzukommen, damit einem Wesen auch eine fehlerhafte oder richtige Handlung zugesprochen werden kann und die Handlung damit zu etwas zu Verantwortendem wird? Gemäß der Orthodoxie ist die Antwort einfach: Die Grundlage davon, dass eine Handlung richtig oder falsch ist, liegt demnach darin, dass der Akteur zu Beginn der Handlung im Rahmen eines vernünftigen und einsichtsvollen Reflexionsprozesses ein Urteil gefällt hat, etwa ein Urteil, nun bestimmte Regeln auf bestimmte Weise anzuwenden. Ein richtiges Regelfolgen oder ein Fehler kann dem Akteur dann zugerechnet werden, weil er es ist, der sich entschieden hat, auf die Weise zu handeln, auf die er gehandelt hat. Einer alternativen Konzeption von Verantwortung ohne Kontrolle bzw. Rationalität ohne Reflexion steht diese Antwort nicht offen. Um zu zeigen, dass die vorgeschlagene Konzeption von Verantwortung ohne Kontrolle eine ernsthafte Alternative ist, gilt es daher, deutlich zu machen, dass es eine ernstzunehmende alternative Antwort auf jene Frage gibt. Auch wenn es in diesem dialektischen Kontext nur darum geht zu zeigen, dass die Alternative überhaupt eine ernsthafte Möglichkeit darstellt, kann es hilfreich sein, darauf hinzuweisen, dass sich die orthodoxe Konzeption wichtigen Problemen ausgesetzt sehen muss. So macht sie sich erstens einer Überintellektualisierung schuldig, wenn sie davon ausgeht, am Beginn jedes zurechenbaren und verantwortbaren Ereignisses liege ein Urteil. Oben sind bereits einige potentielle Gegenbeispiele angedeutet worden: Personen können unter Umständen auch

5 Normativität

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dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie etwas vergessen oder übersehen haben oder in ihrem Handeln moralisch problematische unbewusste Vorurteile manifestieren. Und zweitens scheint die Orthodoxie das Problem der Zurechenbarkeit eines Fehlers nicht wirklich zu lösen. Denn gemäß der Orthodoxie kann ein Ereignis genau dann einer Person zugerechnet werden, wenn es ihrer bewussten Entscheidung entstammt. Aber niemand, oder fast niemand, entscheidet sich dafür, einen Fehler zu machen, zumindest nicht unter dieser Beschreibung. In diesem Sinne hat ein Fehler doch nicht seinen Ursprung im Bewusstsein eines Akteurs und damit kann er dem Akteur gemäß den Standards der Orthodoxie nicht als seine Handlung zugerechnet werden.³⁹ Aus methodischer Sicht stellt sich die dialektische Lage wie folgt dar. Gemäß der orthodoxen Methodologie wird der Gehalt sprachlicher Zuschreibungen wie „Er folgt der Regel falsch“ dahingehend rational rekonstruiert, dass Menschen stets Regeln anwenden. Vor dem Hintergrund der orthodoxen Handlungskonzeption, die den Ursprung einer Handlung in Bewusstsein, Kontrolle oder Absichtlichkeit verortet, liegt es dann nahe anzunehmen, Menschen würden stets die mentale Operation vornehmen, eine Regel in einem Urteilsakt anzuwenden. Setzt man nun aber dieselbe Regel- und Handlungskonzeption wie die Orthodoxie voraus und sieht man zugleich, dass vieles menschliche Handeln seinen Ursprung gerade nicht in Bewusstsein, Kontrolle oder Absichtlichkeit hat, dann droht ein Skeptizismus in Bezug auf das Regelfolgen. Demnach scheint es schlichtweg falsch, dass Menschen regelmäßig Regeln folgen.⁴⁰ Die Alternative nun vermeidet aufgrund ihrer Methodologie sowohl die orthodoxe Position als auch die skeptische Reaktion. Denn gemäß der Drehung der Betrachtungsweise fragt die Alternative nicht, ob ein durch rationale Rekonstruktion gewonnenes Ideal tatsächlich realisiert ist. Stattdessen wird das Faktum, dass Menschen Regeln folgen und Fehler begehen, an die erste Stelle gesetzt und gefragt, wie dieses Faktum möglich ist. Zur Beantwortung gilt es wiederum, die volkpsychologische Perspektive, in der die Begriffe des Regelfolgens und des Fehlers ihre Heimat haben, samt ihres unreflektierten Hintergrunds von außen zu betrachten. Auf diese Weise kann dann  Kant, als wichtigster Proponent der Erklärung von Normativität unter Rekurs auf Urteile, hat zur Erklärung der Existenz von Fehlern im moralischen Bereich bekanntlich einen Trieb zum Bösen postuliert. Aber erneut stellt sich das Problem, dass sich kaum jemand dafür entscheiden würde, von einem Trieb zum Bösen überkommen zu werden. Wie also soll die Annahme der Existenz eines Triebs zum Bösen helfen, die Zurechenbarkeit moralisch problematischen Handelns verständlich zu machen?  Da der Begriff der Regelskepsis üblicherweise zunächst mit Kripke () assoziiert wird, sollte ich darauf hinweisen, dass ich an anderer Stelle vorgeschlagen habe, dass Kripkes skeptische Lösung als deutlich differenzierter interpretiert werden kann als auf eine Weise, dergemäß er die im Haupttext erwähnte regelskeptische Position vertritt.

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IV Rationalität ohne Reflexion

ein tieferes Verständnis der Begriffe des Regelfolgens und des Fehlers gewonnen werden. Diese Betrachtungsweise voraussetzend, liegt zunächst eine wichtige Einsicht nahe: Die Frage, wann ein Handeln als „richtig“ oder „falsch“ angesehen wird, ist von der Frage, ob gute Gründe zur Rechtfertigung des Handelns angeführt werden können, grundverschieden. In diesem Sinne ist das Wort „Normativität“ heteronom und bezeichnet vollkommen verschiedene Dinge. Dieser klare Befund wird durch die Konzeption der Orthodoxie verdeckt, da dort die beiden Fragen aufgrund der vorausgesetzten Handlungskonzeption zusammenfallen: Weil davon ausgegangen wird, ein Mensch wäge zunächst Gründe ab, und treffe dann ein begründetes Urteil, das richtig sei, wenn die Gründe gemäß ihrer Stärke richtig abgewogen worden seien, ist eine Handlung gemäß der Orthodoxie richtig, wenn sie durch Gründe rechtfertigbar ist.Wichtig ist aber, dass die beiden Fragen gerade vor dem Hintergrund der orthodoxen Handlungskonzeption zusammenfallen. Lehnt man diese Konzeption dagegen ab, liegt es nahe, die beiden grundverschiedenen Fragen auseinanderzuhalten und getrennt zu beantworten. Dabei geht es mir in diesem Abschnitt nur darum, die erste Frage zu beantworten, d. h. die Frage, wann ein Handeln als „richtig“ bzw. als „Fehler“ angesehen wird. Auf die zweite Frage der Rechtfertigbarkeit mit Gründen werde ich im nächsten Abschnitt eingehen. Um dem Topos, das ich hier untersuche, einen Namen zu geben, kann gesagt werden, dass ich hier die basale Richtigkeits-Normativität untersuche. Es handelt sich um die Frage nach der Zuschreibung richtigen oder fehlerhaften Handelns im Gegensatz zur Normativität guter Gründe. Und es handelt sich um eine basale Form der Richtigkeits-Normativität, da ich die Struktur der Zuschreibungen von richtigem und falschem Handeln nur für eine große Klasse von Fällen, aber nicht für alle Fälle analysiere.⁴¹ Um zunächst den Begriff des Fehlers vor dem unreflektierten Hintergrund seines Gebrauchs zu analysieren, schlage ich vor, als begriffliches Instrumentarium den Begriff der Erwartung einzuführen. Den Begriff der Erwartung verstehe ich hierbei wiederum ähnlich wie die Begriffe der „Auslegung“ und der „Narra Genau genommen ist das Wort „Normativität“ derart heteronom, dass man zuweilen den Eindruck haben könnte, es bezeichne im Idiolekt jedes einzelnen Sprechers etwas anderes. Entsprechend wird hier nicht versucht herauszufinden, was die meisten Menschen bzw. Philosophen mit „Normativität“ meinen, nicht zuletzt, da es eine derart geteilte Bedeutung vermutlich gar nicht gibt. Stattdessen verwende ich das Wort „Normativität“ bzw. die Worte „RichtigkeitsNormativität“ und „Normativität guter Gründe“ als quasi technische begriffliche Werkzeuge, um wichtige Facetten der Phänomene menschlichen Handelns philosophisch zu analysieren. Diese derart begrifflich herausgehobenen Facetten sollten für das Selbstverständnis jedes Menschen von größter Bedeutung sein, ganz egal, ob er vor dem Hintergrund seines jeweiligen Idiolekts geneigt ist, diese Facetten mit dem Wort „Normativität“ zu bezeichnen oder nicht.

5 Normativität

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tion“ im quasi-technischen Sinne, um die gewöhnliche volkspsychologische Praxis samt ihres lebensweltlichen Hintergrunds von außen zu beschreiben. Der Begriff wird weder im volkspsychologischen prognostischen Sinne („ich erwarte einen heißen Sommer“) noch im volkspsychologischen moralisierenden Sinne („ich erwarte gefälligst mehr Respekt“) verwendet, sondern in einer Mischung aus beidem, um ein Phänomen des lebensweltlichen Hintergrunds zu bezeichnen, für das die volkspsychologische Sprache keinen Namen kennt. Angenommen etwa, ein Akteur steht im Fahrstuhl und eine zweite Person betritt den Lift. Dann wird der Akteur erwarten, dass sich die zweite Person an einen weit entfernten Punkt im Fahrstuhl stellt. Anders gesagt wird der Akteur beiläufig antizipieren, dass sich die zweite Person an einen weit entfernten Punkt stellt, und in diesem Sinne hat der Begriff der Erwartung einen prognostischen Aspekt. Aber angenommen, die zweite Person verletzt diese Erwartung und stellt sich im ansonsten menschenleeren Fahrstuhl dicht neben den Akteur. Dann wird der Akteur negativ überrascht aufmerken, das Verhalten der Person als falsch empfinden, vielleicht empört sein und ihr zuschreiben, einen Fehler gemacht zu haben. In diesem Sinne hat der Begriff der Erwartung auch einen normativ-moralischen Aspekt. Hinsichtlich der Entstehung dieser Art von Erwartungen ist es dabei naheliegend, dass Erwartungen durch gewohntes Handeln hervorgebracht werden. Sieht man andere Personen stets die entfernte Ecke des Fahrstuhls ansteuern und wird die jeweils entfernte Ecke für einen selbst zur Affordanz, sich dort zu platzieren, dann erwartet man allmählich auch gleichsam automatisch von anderen, dass sie sich entsprechend verhalten. Nun schlage ich vor, die volkspsychologische Zuschreibungspraxis von Fehlern und richtigem Regelfolgen mittels des Begriffs der Erwartung sowie mittels der alternativen Konzeption der Handlungs-Individuierung zu analysieren. In einer großen Zahl von Fällen wird demnach eine Fehlerzuschreibung an eine Person vorgenommen, sofern die Person in ihrem Handeln die Erwartungen des Zuschreibenden Akteurs verletzt.⁴² Dabei wird der oft unreflektiert handelnde Akteur durch das Handeln der Person überrascht, das sich von einer solchen Interaktion von Affordanz und Akzeptanz unterscheidet, die der Akteur von seinem eigenen Tun und seiner üblichen Erfahrung mit anderen gewöhnt ist. Derart überrascht, lenkt der Akteur dann seine bewusste Aufmerksamkeit auf den Fall. Dabei kann er dann die entsprechenden Muster im Lebensteppich als eine Handlungs-Geschichte auslegen, dergemäß die Person eine fehlerhafte Handlung begangen hat. Getreu des Inhalts üblicher Handlungs-Geschichten wird dem

 Das Vorliegen einer derartigen Verletzung ist der Alternative gemäß weder notwendig noch hinreichend für eine Zuschreibung eines Fehlers; vielmehr ist es typisch.

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IV Rationalität ohne Reflexion

Protagonisten der Geschichte dann zugeschrieben, mit seiner bewusst-reflektierten Kontrolle in irgendeiner Form hinter der fehlerhaften Handlung zu stehen. Im Falle des aufdringlich wirkenden Fahrstuhlfahrers liegt es im Rahmen üblicher Handlungs-Geschichten beispielsweise nahe zu unterstellen, dass er ein bestimmtes Motiv gehabt hat, das ihn geleitet hat und durch das seine Handlung initiiert worden ist. So kann dann gerätselt werden: „Wollte er mich schockieren? Oder wollte er zeigen, dass ihm unsere kulturellen Werte und Normen egal sind?“ Kurz gesagt werden die Begriffe des Fehlers und des Regelfolgens also (in einer großen Klasse von Fällen) dann angewandt, wenn bestimmte Muster im Lebensteppich bestehen, die als Handlung ausgelegt werden können und durch die die Erwartungen des die Begriffe Anwendenden verletzt worden sind. Im Gegensatz zur Konzeption der Orthodoxie setzt die alternative Analyse der Begriffe des Fehlers und des Regelfolgens damit nicht voraus, dass das Vorliegen von Fehlern oder Regelfolgen psychische Voraussetzungen wie das Fällen eines Urteils oder die mentale Operation des Anwendens einer Regel hat. Zugleich wird „Fehler“ und „Regelfolgen“ gemäß der Alternative aber auch nicht einfach willkürlich zugeschrieben, da bestimmte Muster im Lebensteppich vorliegen müssen und diese Muster auch als Handeln, d. h. als Interaktion von Affordanz und Akzeptanz, auslegbar sein müssen.⁴³ Wie verhalten sich gemäß der Alternative die Auslegungen als Fehler und als richtiges Regelfolgen zueinander? Im Lichte der Konzeption der Orthodoxie könnte man erwarten, dass Richtigkeit und Falschheit symmetrisch zugeschrieben werden: Es wird eine Handlung als ein zeitlich abgegrenztes Ereignis betrachtet und geschaut, ob sie richtig oder falsch ist. Aber im Lichte einer Drehung der

 Somit setzt Normativität pace Burge () das Bestehen einer sozialen Praxis voraus, hat aber tatsächliche Grundlagen in der Struktur menschlichen Handelns und ist in diesem Sinne keine beliebige soziale Konstruktion. Man könnte überlegen, dass die Möglichkeit, einen Fehler zugeschrieben zu bekommen, einen gewissen normativen Druck erzeugt. Die Praxis der Zuschreibung von Fehlern würde damit, zumindest für bestimmte Akteure in bestimmten Bereichen, die Affordanz-Struktur der Handelnden mitgestalten und überformen. (Auf diesen Punkt werde ich zurückkommen.) Dabei kann die Teilnahme an diesem unter Umständen normativen Druck erzeugenden Sprachspiel der Zuschreibung von Fehlern und der Rechtfertigung konstitutiv dafür sein, überhaupt als moralische Person im Sinne der Handlungs-Geschichten anerkannt zu werden.Wer jedes Mal, wenn er gelobt oder getadelt wird, wild den Kopf schüttelt und davon läuft, anstatt sich mit dem Protagonisten der Handlungs-Geschichte zu identifizieren und sein Verhalten mit Gründen zu verteidigen, kann nicht als moralische Person behandelt werden. Vor dem Hintergrund, dass die gemeinschaftlichen Sprachspiele so sind, wie sie sind, muss sich in diesem Sinne derjenige, der als moralische Person im Sinne der Handlungs-Geschichten anerkannt werden will, auf das Sprachspiel der Normativität einlassen.

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Betrachtungsweise ergibt sich, so schlage ich vor, dass Zuschreibungen von Richtigkeit und Falschheit asymmetrisch vorgenommen werden. Um diese Beobachtung auszubuchstabieren, kombiniere ich nun einen Gedanken Heideggers mit Gedanken John Austins. Demnach bilden Zuschreibungen von Falschheit, Richtigkeit sowie das Anführen von Rechtfertigungsgründen, so, wie sie in der Praxis tatsächlich vorgenommen werden, eine Kaskade und lassen sich, wie man modern gesprochen sagen würde, treffend unter Rekurs auf ein Default-andChallenge Modell zum Ausdruck bringen. Zunächst wird das Handeln anderer sowie das eigene Handeln als gemäß den Erwartungen ablaufend wahrgenommen, ohne dass hier bewusste Aufmerksamkeit erforderlich wäre.Werden aber die Erwartungen einmal verletzt, rückt das ungewohnte Handelnsmuster in den Fokus der bewussten Aufmerksamkeit – dies ist der Heideggerische Gedanke. Das ungewohnte Handelns-Muster wird dann als das Gemacht-Haben eines Fehlers ausgelegt. Fehlerzuschreibungen sind in diesem Sinne also nachrangig zur direkten Wahrnehmung des erwarteten regelmäßigen Reagierens auf Affordanzen. Wenn nun aber ein Handelns-Muster als das Gemacht-Haben eines Fehlers ausgelegt wird, dann wird dem hiermit gleichzeitig individuierten Akteur auch Verantwortlichkeit zugeschrieben.Voreingestellt nun, so schlage ich mit Austin (1956) vor, werden diese Verantwortungszuschreibungen akzeptiert. Ausnahmsweise aber können die Verantwortungszuschreibungen auch angefochten werden.Wenn eine Person etwa der Meinung ist, ihr werde deshalb unberechtigterweise Verantwortung für einen Fehler zugeschrieben, weil ihr Handeln anders ausgelegt werden müsse, dann kann sie die Zuschreibung anfechten. Zu diesem Zwecke kann sie dann Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe anführen (siehe Austin 1956). Sie kann etwa darauf insistieren, einer einschlägigen moralischen Regel doch richtig gefolgt zu sein. In diesem Sinne ist dann die explizite Erwähnung, einer Regel doch richtig gefolgt zu sein, nachrangig zur Zuschreibung eines Fehlers. Mit Austin (1962) kann gesagt werden, dass es der Begriff eines Fehlers ist, der „die Hosen anhat“ – der ein „trouser word“ ist. Der explizite Begriff des doch richtig gehandelt Habens dient dagegen nur vor allem dazu, Zuschreibungen von Fehlern im Einzelfall anzufechten und dann eine Diskussion über die richtige Auslegung und Bewertung des entsprechenden Handelns zu eröffnen. Dabei kann der Begriff des richtigen Handelns aber auch noch in seltenen Fällen in anderen Kontexten verwendet werden, etwa zum Training oder zur Bewertung. Dass aber der Begriff des richtigen und guten Handelns nachrangig ist zum Begriff des Fehlers, erklärt, warum in der volkpsychologischen Praxis viel häufiger getadelt als gelobt wird (vgl. Knobe 2003): Es liegt nicht daran, dass die Welt so schlecht ist; vielmehr ist sie so gut, dass gute Gewohnheiten einer Gesellschaft zum unreflektierten Erwartungshorizont geworden sind, der nicht mehr eigens in das Licht der Aufmerksamkeit gerückt wird, und vor dem als Hintergrund erst bestimmte

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IV Rationalität ohne Reflexion

Verhaltensweisen als Fehler erscheinen. Dass mehr getadelt als gelobt wird, liegt also nicht in so etwas wie der Schlechtheit des Menschen, sondern schlicht in der Struktur unserer Begriffe und ihrer lebensweltlichen Anwendung.⁴⁴ Zum besseren Verständnis sollte abschließend noch ein Gedanke explizit gemacht werden, der im bereits Gesagten schon impliziert ist. Die Alternative lehnt die Vorstellung der Orthodoxie ab, Regelfolgen und das Begehen eines Fehlers seien Angelegenheiten, die im Inneren des Geistes eines einzelnen abliefen. Stattdessen werden Regelfolgen und das Begehen eines Fehlers sozialexternalistisch verstanden. Eine Voraussetzung dafür, dass dieses Verständnis möglich ist, ist es, dass alle Menschen grundlegend in ihrem Verhalten übereinstimmen. Denn ansonsten würden Menschen nicht nur die Erwartungen, die andere an sie herantragen, nie akzeptieren, es würden sich auch gar nicht erst entsprechende Erwartungen herausbilden. De facto aber ist es so, dass sich das Verhalten der Menschen grundlegend gleicht und sie im Sinne einer prästabilierten Harmonie miteinander übereinstimmen.⁴⁵ Erst vor dem Hintergrund einer solchen grund-

 An diese Einsicht anschließend können unter Rekurs auf den zeitlichen Wandel der Erwartungen einige Ansätze zur Erklärung der Phänomenologie moralischer Problemwahrnehmung entwickelt werden: Z. B. wird es (laut der Alternative) nie so etwas geben wie eine moralisch ideale Gesellschaft, in der alle Menschen nur noch für ihr Handeln gelobt werden müssten. Mit jeder „Verbesserung“ der Praxis prägen sich nämlich neue Erwartungen aus, vor denen als Hintergrund dann alte, vorher unproblematische Verhaltensweisen wiederum als Fehler erscheinen. Es erklärt sich auch, warum es so wirkt, als gäbe es einen ständigen moralischen Fortschritt: Vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen, aktuellen Erwartungen erscheinen viele der HandelnsMuster in der Vergangenheit als Fehler; die Erwartungen, vor deren Hintergrund die vergangene Praxis bewertet wird, sind nicht dieselben, vor deren Hintergrund die vergangene Praxis gelebt worden ist. Und es erklärt sich auch, warum es so wirkt, als würden ständig neue moralische Probleme gesehen: Weil die Praxis zufällig, aber auch im Lichte absichtlicher moralischer Reformen gewandelt wird, ändern sich die jeweiligen Erwartungen. Und damit werden mit einem Mal vorher moralisch unproblematische Handelnsmuster als Fehler ausgelegt.  Warum stimmen Menschen de facto in ihrem Handeln im Sinne einer prästabilierten Harmonie grundlegend überein? Die Details sind interessant und komplex, aber hinsichtlich der generellen Stoßrichtung der Antwort zeigt sich mein Vorschlag wieder in seinem trivialen Lichte: Menschen sind biologisch ähnlich ausgestattet und sie leben in einer im Wesentlichen gleichen Umwelt – ein Umstand, der vor dem Hintergrund der im dritten Kapitel mit Bourdieu entwickelten Einsicht wichtig ist, dass sich eine Akzeptanz-Struktur gerade erst in der Gegenwart bestimmter Affordanzen ausbildet. Außerdem haben sich die Menschen gleichermaßen unter evolutionärem Selektionsdruck entwickelt, in den – in der ein oder anderen Weise – auch soziokulturelle Faktoren eingeflossen sind. Nietzsche () etwa hat prominent die Rolle betont, die Praktiken des schmerzhaften Bestrafens von Abweichlern zur Entwicklung einer Gleichheit der Menschen gespielt haben. Menschen ahmen einander zudem von Geburt an unbewusst nach und lehren ihre Nachkommen explizit bestimmte Dinge. Vor allem können sie sich wechselseitig zur Verantwortung ziehen und ihr abweichendes Verhalten in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Und

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legenden Übereinstimmung ist dann die Zurechnung von Fehlern oder richtigem Regelfolgen im Einzelfall möglich.⁴⁶ Wie Wittgenstein gezeigt hat, irrt dagegen die Orthodoxie, wenn sie glaubt, eine tiefere Erklärung der Übereinstimmung zwischen den Menschen dadurch liefern zu können, dass sie sagt, die Menschen hätten sich konventionell auf bestimmte Regeln geeinigt, deren Befolgung fortan das übereinstimmende Verhalten ermögliche. Denn die Orthodoxie verschiebt in ihrer Theorie die de facto existierende Übereinstimmung nur an eine andere Stelle, nämlich an die Stelle der gleichen vernünftigen Anwendung der Regeln in den verschiedenen Einzelurteilen aller Menschen.⁴⁷ Zudem hätten sich die Menschen ohne die Existenz einer vorgängigen grundlegenden Übereinstimmung nie auf bestimmte konventionelle Regeln einigen können. Indem sie die Faktizität an die erste Stelle setzt, ermöglicht die Alternative mithin, die grundlegende Übereinstimmung dort zu verorten, wo ihr Platz tatsächlich ist. Somit liefert die Alternative vor dem Hintergrund einer Drehung der Betrachtungsweise ein Verständnis der basalen Richtigkeits-Normativität, demgemäß Fehler und Regelfolgen antipsychologistisch und sozialexternalistisch aufgefasst werden.⁴⁸ Auf diese Weise werden die Probleme der Orthodoxie vermieden und es wird deutlich, wie unabhängig psychischer Voraussetzungen wie dem Fällen eines Urteils auch hinsichtlich unreflektierten Handelns Zurechnungen verantwortbarer fehlerhafter Handlungen vorgenommen werden können.

können sich einige gar nicht anpassen, werden sie als verrückte Psychopathen oder als uneinsichtige Straftäter in Gefängnisse gesperrt und so von den untereinander Übereinstimmenden räumlich ferngehalten.  Auf den Bereich der Moral bezogen bedeutet diese Einsicht, dass Menschen immer schon auf eine übereinstimmende Weise handeln müssen, die sich als richtiges Befolgen der moralischen Regeln auslegen lässt, damit man in einem Einzelfall davon sprechen kann, dass eine Person einen moralischen Fehler gemacht oder doch richtig gehandelt hat. Bewusst anwenden müssen sie die moralischen Regeln dabei gerade nicht, oder nur in Einzelfällen zu Trainingszwecken. In gewissem Sinne hat Hegel diesen Gedanken mit seiner Konzeption der Sittlichkeit bereits antizipiert. (Ich werde darauf zurückkommen.)  In diesem und im nächsten Satz wird der Begriff der Regel wiederum im Sinne der Orthodoxie und nicht im Sinne der Alternative gebraucht.  Normativität in diesem Sinne kann mithin metaphysikfrei unter Rekurs auf soziale Praktiken und die Struktur menschlichen Handelns verständlich gemacht. Freilich ist damit noch nichts über „Normativität“ etwa im Sinne moralischer Werte und Gründe gesagt. Darauf werde ich in Kürze zurückkommen.

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IV Rationalität ohne Reflexion

6 Rationalität Als das rationale Tier ist der Mensch essentiell durch seine Rationalität ausgezeichnet: Er kann aus Gründen handeln und Gründe zur Rechtfertigung seines Handelns anführen. Die Frage ist nur, was es heißt, aus Gründen zu handeln und Gründe zur Rechtfertigung seines Handelns anzuführen. Gemäß der Orthodoxie besteht der Mensch aus zwei Schichten, einer rudimentären, tierischen, automatischen Schicht, und einer darüber liegenden bewussten, kontrollierenden und reflektierenden Schicht. Dieser Vorstellung nach handelt der Mensch aus Gründen, wenn er in Ausübung der höheren Schicht handelt, indem er Gründe abwägt, dann im Bewusstsein dieser Gründe agiert, und die Gründe später zur Rechtfertigung seines Handelns explizit machen kann. Einer alternativen Konzeption, die die menschliche Rationalität im Handeln ohne eine Voraussetzung der Reflexion verständlich machen will, steht diese Antwort naturgemäß nicht offen. Um zu zeigen, dass die Alternative eine ernsthafte theoretische Option darstellt, gilt es daher verständlich zu machen, wie eine alternative Konzeption des Handelns aus Gründen und der Rechtfertigung eines Handelns mit Gründen aussehen kann.⁴⁹

a Probleme der Orthodoxie Auch wenn es mir in diesem dialektischen Kontext wiederum nur darum geht aufzuzeigen, dass der Vorschlag der Alternative überhaupt einen ernstzunehmenden und gangbaren Weg darstellt, ist es hilfreich, auf vier grundlegende Probleme der orthodoxen Konzeption aufmerksam zu machen. Das Ansinnen,

 Ich gehe davon aus, dass die orthodoxe Konzeption gegenwärtig eine gewisse Verbreitung unter Philosophen genießt, was ich daran festmache, dass sozialpsychologische Studien, die die genannte Konzeption angreifen, auf große Empörung unter Philosophen stoßen (vgl. Haidt ). Zudem denke ich etwa an John Martin Fischers (Fischer & Ravizza ) und Christine Korsgaards () Konzeptionen von Gründen im Handeln. Möglicherweise ebenfalls genannt werden könnten Aristoteles (NE), Thomas von Aquin (ST), Dancy (), Parfit () und Scanlon (). Auch die Vertreter aller noch so verschiedenen Positionen in der Willensfreiheits-Debatte eint die Annahme, dass das Treffen einer gründe-gestützten Entscheidung für moralische Verantwortlichkeit zentral ist (Kane , Fischer , Pereboom ). In weiten Teilen ausnehmen möchte ich dagegen John McDowells (, b, c, d) Konzeption, die zwar in mancherlei Hinsicht der Orthodoxie nahe kommt (vgl. McDowell ), die aber als grundsätzlich im Geiste der Alternative stehend aufgefasst werden kann. In diesem Kontext geht es mir nicht darum, für oder gegen die Theorie eines spezifischen Philosophen zu argumentieren, sondern darum, einer grundlegenden Denkweise über menschliche Rationalität im Handeln eine Alternative gegenüberzustellen.

6 Rationalität

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diese Probleme entweder zu lösen oder konzeptionell gar nicht erst entstehen zu lassen, kann dann die Entwicklung der Alternative dann leiten. Erstens steht die Orthodoxie vor der Herausforderung, bisher (meines Wissens) noch nicht über eine konstruktive handlungstheoretische Konzeption des Handelns aus Gründen zu verfügen, die die tatsächlichen Grenzen der menschlichen Kognition respektiert und die den menschlichen Geist nicht überintellektualisiert. So handeln Menschen oft auf eine Weise, die zwar unreflektiert ist, die aber nichtsdestotrotz als rational erscheint. Als Beispiel lässt sich der Phronimos anführen, der ohne über Gründe nachzudenken⁵⁰ stets unreflektiert, aber zielsicher das moralisch Richtige tut. Zudem habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass man auch von unreflektiert gehandelt Habendenden Gründe zur Rechtfertigung ihres Verhaltens verlangt, etwa von Personen, die in ihrem Handeln moralisch problematische unbewusste Vorurteile manifestiert haben. Wie sich zweitens unter Rekurs auf Normy Arpaly (2003) deutlich machen lässt, ist Rationalität in einem relevanten Sinne nicht nur eine erstpersonale Angelegenheit, wie die orthodoxe Betonung des Handelns im Lichte von Gründen nahelegt, sondern eine drittpersonale. Ein Beispiel wäre eine geistig derangierte Person, die sich nach langer Überlegung entscheidet, sich selbst zu verletzen – obwohl die Person aus erstpersonaler Sicht im Lichte von Gründen gehandelt zu haben scheint, wird die Irrationalität des Tuns gerade aus drittpersonaler Perspektive deutlich. Drittens muss sich die Orthodoxie dem Vorwurf ausgesetzt sehen, den für die menschliche Rationalität grundlegenden Begriff des Grundes bisher noch nicht auf hilfreiche Art verständlich gemacht zu haben, so dass er mit einer Vielzahl von Attributen belegt worden ist, die sich scheinbar widersprechen. Beispielsweise ist unklar, ob ein Grund wie „die Person ist in Not“ dafür spricht, der Person zu helfen, oder dafür, dass es gut ist, der Person zu helfen, oder dafür, dass man die Einstellung erwerben sollte, der Person zu helfen, oder dafür, dass man die Einstellung erwerben sollte, dass es gut ist, der Person zu helfen.⁵¹ Weiterhin ist es einerseits vor dem Hintergrund einer rationalen Rekonstruktion der Rede von Gründen naheliegend, dass Gründe propositionale Form haben, andererseits scheint es psychologisch dubios anzunehmen, dass Menschen in ihrem Handeln stets durch Gedanken mit propositionaler Form motiviert werden. Zudem wird einerseits davon geredet, dass alles Handeln aus Gründen geschieht und nichts in der Welt ohne Grund passiert, dass aber trotzdem

 Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte ich noch einmal wiederholen, dass ich nicht behaupte, die Orthodoxie würde behaupten, ein rationaler Akteur zeichne sich immer dadurch aus, dass er Gründe abwäge, sondern dass ich behaupte, die Orthodoxie verfüge über keine handlungstheoretische Konzeption des Handelns aus Gründen.  Auf diese grundlegende Schwierigkeit hat Pamela Hieronymi () aufmerksam gemacht.

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IV Rationalität ohne Reflexion

der Verbrecher doch eigentlich keine Gründe für seine Tat hatte.⁵² Schließlich scheint es einerseits so, als würden Gründe etwa im moralischen Bereich auch unabhängig von allen subjektiven Umständen gelten, andererseits scheinen Gründe nur bei Vorliegen gewisser subjektiver Umstände Menschen auch motivieren zu können. Wie sich bald zeigen wird, wird es zur Entwicklung der Alternative hilfreich sein, diese offenen Fragen und Schwierigkeiten hinsichtlich des orthodoxen Begriffs eines Grundes ernst zu nehmen. Viertens und letztens muss sich die Orthodoxie einer nachdrücklichen Herausforderung von Seiten der Sozialpsychologie, der Kognitionspsychologie, der Neurowissenschaft und anderer Kognitionswissenschaften ausgesetzt sehen. So gibt es, wie bereits mehrfach angesprochen, eine Vielzahl von empirischen Befunden, die nahelegen, dass ein Großteil menschlichen Handelns unreflektiert und gleichsam automatisch abläuft (siehe oben). Daneben gibt es auch eine Vielzahl von empirischen Befunden, die nahelegen, dass die Gründe, die Personen anführen, um ihr Handeln zu rechtfertigen, nicht die Explizit-Machung von Gründen sind, die sie sich zuvor schon überlegt hatten (Nisbett & Wilson 1977). Interpretiert man diese empirischen Befunde durch die Brille des Zwei-Schichten-Modells der menschlichen Natur, ergibt sich, dass der Mensch zumeist seine tierische Natur auslebt und damit zumeist bloß intuitiv, aber nicht rational handelt. Damit erscheint er viel weniger rational zu sein als angenommen. In diesem Sinne kann hier gleichsam von einer „empirisch informierten Rationalitäts-Skepsis“ gesprochen werden. Philosophische Vertreter der Orthodoxie haben versucht, die Annahme, dass Rationalität im Handeln keine Randerscheinung im menschlichen Leben ist, dadurch zu verteidigen, dass sie die Glaubwürdigkeit und Auswertung einzelner Studien angegriffen haben. Aber solange das Zwei-Schichten-Modell der Orthodoxie mitsamt seiner Kopplung von Rationalität an Reflexion vorausgesetzt wird, hängt die Rationalität des Menschen stets an einer empirischen Bedrohung.⁵³

 Natürlich kann die Orthodoxie prinzipiell etwas zu derartigen Fällen sagen. So könnte sie etwa behaupten, der Verbrecher sehe eine bestimmte Tatsache fälschlicherweise als Grund an und werde dadurch motiviert. Meines Erachtens wäre eine solche Beschreibung allerdings irreführend (der Verbrecher kann direkt gehandelt haben, ohne über Tatsachen nachzudenken und ohne versehentlich zu denken, seine Tat sei bestimmt moralisch richtig). Ich werde auf Fragen aus dem Umkreis dieser Thematik zurückkommen.  Bekanntermaßen toben hier auch außerhalb der Philosophie in den Kulturwissenschaften die „rationality wars“; für eine Übersicht siehe Stanovich . Um Missverständnisse zu vermeiden, wiederhole ich an dieser Stelle noch einmal, dass es mir in diesem Kontext nicht darum geht, für oder gegen die Theorie eines spezifischen Philosophen zu argumentieren, sondern einer grundlegenden Denkweise über menschliche Rationalität im Handeln eine Alternative gegenüberzustellen.

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b Die Drehung der Betrachtungsweise Wiederum ergibt sich die gleiche dialektische Lage wie bei den Themen zuvor: Die Orthodoxie geht in ihrer Methodologie vom Gehalt sprachlicher Verwendungen des Wortes „Grund“ aus. Diese Verwendungen werden von Orthodoxie rational rekonstruiert, um die Natur von Gründen sehen zu können, die in der Umgangssprache nur unrein ausgedrückt sei. Unter anderem, weil in der Volkspsychologie oft so geredet wird, als hätten Menschen Gründe stets vorher erwogen („Was hast du dir dabei nur gedacht?“), wird davon ausgegangen, dass aus Gründen zu handeln idealtypischerweise bedeutet, Gründe abzuwägen und im Bewusstsein dieser Gründe zu handeln. Somit ergibt sich mittels der rationalen Rekonstruktion ein klares und ideales Bild dessen, was es heißt, aus einem Grund zu handeln, auch wenn das Bild aufgrund vieler widersprüchlicher Intuitionen noch verschwommen sei und durch weitere theoretische Arbeit geschärft werden müsse. An diesem idealen Bild nun setzt der Skeptizismus an und argumentiert, dass das, was das ideale Bild des Handelns aus Gründen erfordert, de facto zumeist nicht realisiert ist, wie empirische Befunde zeigten. Der Skeptizismus scheint dann skeptisch in Bezug auf das,was den Menschen qua höherer Schicht über die übrige Tierwelt erhebt. Gemäß der alternativen Drehung der Betrachtungsweise dagegen werden die Methodologie und das entsprechende Ergebnis abgelehnt, das Orthodoxie und Rationalitäts-Skeptizismus teilen. Demnach sollte überhaupt nicht die Methode einer rationalen Rekonstruktion zur Gewinnung einer hinter der Sprache liegenden Theorie verwendet werden. Dann aber ergibt sich auch nicht das ideale Bild, dass aus Gründen zu handeln idealtypischerweise bedeutet, Gründe abzuwägen, im Bewusstsein dieser Gründe zu agieren und die Gründe bei Bedarf explizit machen zu können. Entsprechend folgt, dass der Skeptizismus gar nicht die menschliche Rationalität im Handeln bedroht, sondern nur die Realisiertheit eines idealen Bildes. Alternativ wird nun die Faktizität an erste Stelle gesetzt, d. h. der Umstand, dass Menschen de facto von manchem Handeln in mancherlei Hinsicht sagen, es sei aus Gründen geschehen oder es lasse sich mit Gründen rechtfertigen. Die Frage der Alternative ist dann nicht, ob Menschen rational handeln, sondern was es heißt und wie es möglich ist, rational zu handeln. Um diese Frage einer Antwort zuführen zu können, gilt es dabei, die Praxis der Rede von Gründen von außen zu betrachten, so dass ihr unreflektierter Hintergrund in den Blick kommen kann, d. h., etwa auch die unbewussten Begleitumstände der Situationen, in denen vom „Handeln aus Gründen“ gesprochen wird.Was sich aus einer solchen Betrachtung ergibt, ist, dass das Wort „Grund“ nicht genau Phänomen bezeichnet, sondern sieben verschiedene …

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c Die Grundgedanken der alternativen Gründekonzeption Der Mensch ist das Wesen, das aus Gründen handelt und sein Handeln mit Gründen rechtfertigen kann – aber was dies heißt,versteht man, so schlage ich vor, deutlich besser, wenn man sieht, dass mit „Grund“ nicht genau ein Phänomen bezeichnet wird, sondern mindestens sieben verschiedene, die jedoch eng ineinander verwoben sind. Zudem können, so schlage ich ebenfalls vor, mindestens fünf verschiedene „Grundierungs-Relationen“ unterschieden werden, d. h. fundamentale Relationen, aufgrund derer ein Grund überhaupt erst für etwas spricht. Mittels der Hervorhebung der Verschiedenheit dieser Phänomene kann nicht nur ein besseres Verständnis davon entwickelt werden, was es heißt, aus einem Grund zu handeln, es wird zudem möglich, ein starkes Verständnis menschlicher Rationalität im Handeln zu entwickeln, das ohne die Voraussetzung der Reflexion auskommt. Eine der Kernideen der alternativen Konzeptualisierung ist sehr einfach und naheliegend, nämlich, die Frage der Motivation von der Frage der Rechtfertigung zu trennen. Im Bild der Orthodoxie sind Motivation und Rechtfertigung durch die Vorstellung aneinander gebunden, dass ein Akteur typischerweise über rechtfertigende Gründe nachdenkt und ihn die besten Gründe auch motivieren. Wird aber der Gedanke aufgegeben, dass Menschen üblicherweise vor ihrem Handeln Gründe abwägen, können die eigentlich zu unterscheidenden Themen der Motivation und der Rechtfertigung wieder getrennt werden. Insofern ein relevanter Aspekt der Rationalität die Frage der Rechtfertigbarkeit mit guten Gründen betrifft, eröffnet sich somit die Möglichkeit, dass potentiell alles menschliche Handeln rational ist, vollkommen ungeachtet des Vorliegens irgendwelcher psychischer Voraussetzungen. Anders als die Orthodoxie vermeidet die Alternative damit nicht nur eine Überintellektualisierung, sie entkoppelt Rationalität auch vollkommen von psychischen Voraussetzungen. Damit verabschiedet sie sich auch vom Zwei-Schichten-Modell der Orthodoxie und kann verständlich machen, dass alles menschliche Handeln durch und durch rational sein kann. Eine bloße Analyse des faktischen unreflektierten Hintergrunds ergibt damit, dass der Mensch noch viel rationaler ist, als es sich selbst der Vertreter der Orthodoxie erträumt. Indem der Vertreter der Orthodoxie auf allzu gut gemeinte Weise seine Konzeption des Menschen mit geistigen Vermögen überfüttert, bringt er sich selbst darum, die unbegrenzte Reichweite der menschlichen Rationalität zu erkennen.

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d Fründe Ich werde nun nacheinander auf die sieben zusammenhängenden Phänomene eingehen, die mit „Grund“ bezeichnet werden. Um die Möglichkeit der Vollständigkeit zu schaffen, werde ich auf alle sieben Phänomene zu sprechen kommen; dabei ist es aber für meine Zwecke nur relevant, dass es hilfreich ist, die sieben verschiedenen Phänomene zu unterscheiden, und nicht, dass die Auflistung tatsächlich vollständig ist und es nicht auch noch ein achtes Phänomen geben könnte. Auf diejenigen Phänomene, die zur Entwicklung meiner Alternative wichtiger sind, werde ich ausführlicher eingehen. Jedes der Phänomene – oder auch ein Verbund der Phänomene – kann mit dem Wort „Grund“ bezeichnet werden. Um hier „Grund“ auf eindeutige Weise in seine Bestandteile zergliedern zu können, werde ich für jedes der Phänomene einen neuen Begriff prägen.⁵⁴ Das erste Phänomen, das mit „Grund“ bezeichnet werden kann, nenne ich „Frund“ (von „Faktischer Grund“). Dabei führe ich den Namen „Frund“ hier nur der besseren Übersichtlichkeit neu ein: „Frund“ ist nämlich nur ein anderen Name für einen Begriff, den ich bereits in den ersten Kapiteln eingeführt habe: den Begriff der Affordanz. In einem Sinne – im Sinne namens „Frund“ – sind Affordanzen Gründe, und zwar betreffs des Themas der Handlungsmotivation. Damit haben Fründe – zunächst – nicht das Geringste mit Fragen der Rechtfertigung zu tun. Ein Frund ist eine Eigenschaft einer Situation, die einen Akteur auffordert und in diesem Sinne für ihn dafür spricht, auf bestimmte Weise zu reagieren.⁵⁵ Die tiefere Grundlage, die Grundierung dafür, dass die Eigenschaft psychisch für den Akteur dafür spricht, liegt in der Struktur der Affordanz-Akzeptanz-Interaktion begründet. Weil der Akteur häufig mit Gegebenheiten der Umwelt interagiert hat, hat sich eine bestimmte Akzeptanz-Struktur herausgebildet, und gegeben seine Akzeptanz-Struktur, die unter anderem seine Fähigkeiten und seine derzeitigen Projekte umfasst, fordert ihn eine bestimmte Gegebenheit der Welt auf, darauf zu reagieren. Ist ein Akteur beispielsweise durstig, spricht die Wasserflasche in seiner Reichweite für ihn dafür, aus ihr zu trinken. Oder betrachten wir den oben an Dieses Vorgehen der Entwicklung neuer begrifflicher Werkzeuge, um die Phänomene des Lebens auf den Begriff bringen zu können, so dass sie aus ihrer allzu großen Vertrautheit heraus explizit in den philosophischen Blickpunkt gerückt werden können, ist dabei paradigmatisch für die Methode der Alternative. Freilich ist dies dort unnötig, wo bereits hilfreiche begriffliche Werkzeuge existieren. Im Falle von Gründen aber – so die Diagnose – wird die Vielzahl komplex ineinander verschränkter Facetten durch den undifferenzierten Gebrauch des einzigen Wortes „Grund“ verschleiert. Entsprechend kann es hier hilfreich sein, das begriffliche Repertoire zu erweitern.  Offensichtlicherweise handelt es sich bei diesem „Dafür-Sprechen“ nicht um das DafürSprechen im Sinne der Normativität guter Gründe.

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geführten Fall des Akteurs Wilfried, der, durch einen Freund in Not aufgehalten, seinen Hund im heißen Auto vergessen hat. In diesem Fall ist die Not des Freundes Wilfrieds Frund gewesen, in dem Kiosk zu verharren. Sie hat für ihn dafür gesprochen, seine ganze Aufmerksamkeit auf den Freund zu lenken.⁵⁶ Im Anschluss an die Erläuterungen im dritten Kapitel sollte noch einmal festgehalten werden, dass ein Akteur immer schon in einer praktisch erfahrenen Welt aus Affordanzen bzw. Fründen situiert ist, indem er von Geburt an aufgrund biologischer Grundlagen und dann aufgrund von Nachahmung mit den Gegebenheiten seiner Umwelt interagiert.⁵⁷ Ein Frund ist also zumindest im Normalfall nicht erst aufgrund eines bewussten Urteils ein Frund;⁵⁸ am Anfang des Handelns aus Fründen steht nicht ein Subjekt, das erst die Fründe setzt, sondern das Handeln selbst.⁵⁹ Zudem sollte noch einmal hervorgehoben werden, dass Affordanzen bzw. Fründe ein einheitliches Phänomen darstellen. Wie Heidegger (1927: §32) jedoch in diesem Kontext betont, können zu bestimmten Zwecken verschie-

 Im letzten Abschnitt habe ich vorgeschlagen, dass auch das Wort „Normativität“ mehrdeutig ist und etwa die Frage, ob etwas als Fehler oder richtiges Regelfolgen ausgelegt wird,von der Frage der Rechtfertigung zu trennen. Dabei habe ich die erste Frage im letzten Abschnitt thematisiert und werde auf die zweite Frage der Rechtfertigung im übernächsten Unterabschnitt (f) eingehen. An dieser Stelle kann jedoch noch ein dritter (erst kurz angesprochener) Topos lokalisiert werden, der teilweise mit „Normativität“ in Verbindung gebracht wird, nämlich das Phänomen des normativen Drucks. So fühlt es sich für viele Menschen beispielsweise falsch an, etwas zu stehlen oder bei einer Aufgabe zu schummeln, auch wenn sie nicht beobachtet werden; auch wenn sie es wollen, scheinen sie es nicht ohne Weiteres zu können – es scheint einen normativen Druck zu geben, gegen den sie sich erst anstemmen müssen. Dieses Phänomen kann aus der AffordanzAkzeptanz-Interaktion heraus verständlich gemacht werden. Die Aufgabe ist für einen Akteur üblicherweise eine Affordanz, ehrlich erledigt zu werden, weil seine Akzeptanz-Struktur entsprechend beschaffen ist; seine Akzeptanz-Struktur ist entsprechend beschaffen, weil sie in Interaktion mit einem sozialen Umfeld ausgebildet worden ist, in der Aufgaben grundsätzlich ohne Schummeln erledigt werden (und Abweichungen bestraft werden). So gesehen sind Fründe auch in einem moralischen Sinne normativ, aber dies betrifft weder die Frage der Auslegung als Fehler oder als richtiges Regelfolgen noch die Frage der Rechtfertigung mit „guten Gründen“, sondern das Phänomen des Gefühls des normativen Drucks.  Vgl. die Ausführungen zum Lernen in Kapitel III.  Vor diesem Hintergrund wäre es auch irreführend zu sagen, Wilfried habe fälschlicherweise geglaubt, einen guten Grund zu haben. Richtig verstanden ist die Not des Freundes für ihn direkt ein Frund gewesen, darauf zu reagieren, ohne dass er dazu erst irgendeine Meinung in Bezug auf „Gründe“ (was auch immer nun damit gemeint ist) hätte erwerben müssen.  Ich betone dies noch einmal, um die Alternative von bestimmten Spielarten des Subjektivismus abzugrenzen, die alle Gründe und Werte auf Werturteile durch bewusstes Subjekt reduzieren wollen. Fründe bzw. Affordanzen haben objektive Gegebenheiten der Welt zur Grundlage, hängen aber auch von der Kognition eines Akteurs ab. Dennoch sind sie nicht seine willkürliche Schöpfung.

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dene Aspekte dieses Phänomens thematisch abgehoben und das Phänomen in diesem Sinne „auseinandergelegt“ werden. So können sowohl eine Wertkomponente als auch eine Tatsachenkomponente von dem Phänomen abgehoben werden. In Bezug auf Wilfrieds Handlungsmotivation ist die Tatsache gewesen, dass der Freund etwas gesagt hat, und der Wilfried motivierende Wert die Not des Freundes. Der Wertbegriff muss hier aber zunächst streng im motivationalen Sinne verstanden werden.⁶⁰ In einem relevanten Sinne ist eine solche Auseinanderlegung des einheitlichen Phänomens des Frunds bzw. der Affordanz aber künstlich.

e Kründe Im Anschluss an Davidson (1963) werden unter Handlungsgründen mitunter Paare aus Überzeugungen und Wünschen („belief and desires“) verstanden. Eine Anführung eines solchen Wunsch-Überzeugungs-Paars kann dem Gedanken nach eine Handlung dadurch erklären, dass das Paar die Kausalursache für die entsprechende Handlung gewesen ist. Auf diesen Begriff von Gründen gehe ich kurz ein, um auch dieses Verständnis von Gründen in meiner Gründe-Topologie zu verorten. Der Eindeutigkeit halber bezeichne ich einen Grund in diesem Verständnis als „Krund“ (von „Kausaler Grund“). Ich möchte dabei den konstruktiven Vorschlag machen, dass Kründe andere Individuationen dessen sind, was ich mit „Frund“ bezeichnet habe. Das Wasserglas in Griffreichweite ist für einen durstigen Akteur beispielsweise eine Aufforderung, daraus zu trinken, und in diesem Sinne ein Frund. Retrospektiv kann die Reaktion des Akteurs auf das Wasserglas aber auch als kausale Folge des Vorliegens eines Krunds ausgelegt werden: So kann gesagt werden, dass der Akteur den Wunsch hatte, seinen Durst zu löschen, und der Überzeugung war, dass das Trinken aus dem Wasserglas die Erfüllung seines Wunsches bewirken werde. In diesem Sinne hat das Wunsch-Überzeugungs-Paar dafür gesprochen, aus dem Wasserglas zu trinken.⁶¹ Die tiefere Grundierung des „Dafür-Sprechens“ ist hier diejenige des Kausalverhältnisses.⁶²

 Zunächst ist er nur normativ im Sinne des normativen Drucks, aber nicht im Sinne der Rechtfertigung mit guten Gründen.  Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte wiederum darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem „Dafür-Sprechen“ nicht um das Dafür-Sprechen im Sinne der Normativität guter Gründe handelt.  In diesem Sinne kann also das, was mittels des Begriffs des Frunds beschrieben werden kann, auch mittels des Begriffs des Krunds beschrieben werden. Wichtig ist aber dennoch, dass ein Verständlich-Machen eines Handelns mit Hilfe des Begriffs des Frundes hilfreicher und die

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f Wründe Nun verlasse ich das Thema der Motivation und gehe auf das davon vollkommen verschiedene Thema der Rechtfertigung ein. Menschliches Handeln kann mit guten Gründen gerechtfertigt werden. Diese Gründe sprechen dann dafür, dass das Handeln gut gewesen ist.⁶³ Ebenfalls scheint es Gründe gleicher Art zu geben, die dafür sprechen, dass ein Handeln schlecht gewesen ist. Diese Art von Gründen nenne ich „Wründe“ (von „Wert-bezogene Gründe“). Wie ich vorschlagen möchte, beziehen sich Wründe auf menschliches Handeln, d. h. auf das, was etwa als Reaktion auf Fründe oder als Handlung im Sinne der volkspsychologischen Handlungs-Geschichten ausgelegt werden kann. Ein Wrund ist der Umstand, dass durch eine Handlung ein Wert realisiert wird. Der Umstand, dass durch eine Handlung ein Wert realisiert wird, spricht dann dafür, dass die Handlung gut oder schlecht ist. Dieses Dafür-Sprechen ist dabei nun nicht mehr in dem vorher diskutierten motivationalen Sinne zu verstehen, sondern in dem genuinen Sinne der Rechtfertigung. Der Umstand, dass durch eine Handlung ein Wert realisiert wird, macht die Handlung gut oder schlecht, ganz unabhängig von den Motivationen oder Überzeugungen einzelner. Das Dafür-Sprechen ist also nicht durch psychische Gegebenheiten grundiert, sondern dadurch, dass ein Wert

Phänomene treffender ist als ein Rekurs auf Kründe. Wichtige Unterschiede sind beispielsweise, dass ein Frund etwas in der Umwelt des Akteurs ist, während ein Rekurs auf Kründe alle Handlungs-erklärenden Faktoren ins „Innere“ des Akteurs verlegen würde. Zudem ist ein wichtiger Unterschied, dass ein Rekurs auf Fründe einfangen kann, dass Akteure oft keine Überzeugungen in Bezug auf ihr spontanes Handeln ausbilden und sogar spontan ihren Überzeugungen zuwider handeln können.Darüber hinaus ist der Begriff des Frunds den Phänomenen menschlichen Handelns auf den Leib geschneidert, während sich der Begriff des Krunds unter anderem einer Kombination zweier Konzeptionen verdankt, die beide zur Gewinnung eines genauen Verständnisses menschlichen Handelns nicht zielführend sind. Zum einen verdankt sich der Begriff des Krunds mit seinem Rekurs auf Überzeugungen und Wünsche nämlich der Volkspsychologie. Doch wie gezeigt individuiert diese Konzeption menschliches Handeln aus pragmatischen Gründen besonders grobkörnig. Zum anderen verdankt sich der Begriff des Krundes einer teleologischen Konzeption menschlichen Handelns, indem stets Mittel zur Erfüllung von Wünschen („desires“) gesucht werden (aus soziologischer Sicht ist es rückblickend fast zwingend, dass jemand wie Davidson, der erst lange zur Antiken Philosophie gearbeitet hat und dann in die Analytische Philosophie der er Jahre hineingewachsen ist, diese Kombination von Gedanken entwickeln musste). Doch aus Sicht der Alternative setzt eine teleologische Konzeption menschlichen Handelns ein einseitiges Verständnis der menschlichen Natur voraus, indem sie den Menschen zu einem sklavenhaften Vollzeitstrategen macht, der stets über die besten Mittel zur Erreichung von solchen Zielen nachdenken muss, die ihm durch seine Wünsche vorgegeben sind.  Bei diesem „Dafür-Sprechen“ handelt es sich offensichtlicherweise endlich um das DafürSprechen im Sinne der Normativität guter Gründe.

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realisiert wird. Ein wenig Terminologie von Jonathan Dancy (2004) übernehmend, kann gesagt werden, dass ein Wrund pro tanto dafür spricht, dass eine Handlung gut oder schlecht ist. Alles in allem kann es aber sein, dass eine Handlung gut ist, auch wenn einzelne Wründe dafür sprechen, dass sie schlecht ist, und umgekehrt.⁶⁴ Mein Vorschlag zur Individuation eines der mit „Grund“ bezeichneten Phänomene setzt prominent die Begriffe des Wertes und der Realisierung von Werten voraus, so dass es diese Begriffe näher zu erläutern gilt. Als Begriffe, die zum Begreifen eines primitiven Phänomens gedacht sind, lassen sie sich zwar nicht durch Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen verständlich machen, aber sie können anhand von Beispielen, der Angabe von Charakteristika und anhand einer Analogie erläutert werden. Diese Analogie, um die Natur von Werten im Sinne der Alternative auf hilfreiche Weise verständlich machen zu können, bezieht sich auf Farben. Redet man von dem Roten, dem Blauen, oder dem Gelben, wird deutlich, dass sich Farben in einem Sinne als abstrakte Entitäten verständlich machen lassen. Genau so, so schlage ich vor, können auch Werte als abstrakte Entitäten aufgefasst werden, beispielsweise als die Hilfsbereitschaft, als die Nächstenliebe oder als die Pflichtvergessenheit. Auch wenn es etwas künstlich klingt, kann man sagen, dass Farben realisiert sein können, indem diese Trinkflasche das Blaue realisiert und jene Säule das Graue. Genau so kann Handeln auch Werte realisieren, indem das Eingehen auf den Freund den Wert der Hilfsbereitschaft realisiert und das Vergessen des schutzbefohlenen Hundes den (negativen) Wert der Pflichtvergessenheit. Ein buntes Bild oder ein Fleck in einer Mischfarbe kann mehrere Farben zugleich realisieren, und genauso kann eine Handlung mehrere Werte zugleich realisieren, Wilfrieds Handeln etwa gleichermaßen den Wert der Hilfsbereitschaft wie den Wert der Pflichtvergessenheit. Die Realisiertheit von Farben kann man direkt sehen, indem man etwa direkt sieht, dass diese Flasche blau ist. Genau so kann man die Realisiertheit von Werten direkt sehen, indem man etwa direkt sieht, dass dieses Eingehen auf den Freund hilfsbereit ist. Auf Farben kann man sich in propositionaler Rede beziehen, indem

 Wichtig ist also, dass ein Akteur üblicherweise nicht deshalb auf eine bestimmte Weise handelt, weil das Handeln einen Wert realisiert. Der Rekurs auf die Realisation von Werten macht verständlich, warum ein bestimmtes Handeln gut und wertvoll ist, nicht, warum ein Akteur auf bestimmte Weise handelt (bzw. sich für ein Handeln entscheidet). Die hypothetische Handlung, sich jetzt die Zähne zu putzen, kann etwa gut sein, weil sie zur Realisierung des Wertes eines gesunden und beschwerdefreien Lebens beiträgt, auch wenn die Zahnbürste dem kleinen, widerspenstigen Kind in diesem Moment keinerlei wirkliche Affordanzen bietet. Locker gesprochen hat das kleine Kind zwar keinen Frund, aber einen Wrund, sich die Zähne zu putzen. (Und einige Jahre später kann es einen Frund, aber keinen Wrund haben, Zigaretten zu rauchen.)

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man etwa sagt „Das ist blau“, und genau so kann man sich auch auf Werte in propositionaler Rede beziehen, indem man sagt „Das war pflichtvergessen“.⁶⁵  Es ist offensichtlich, dass im Rahmen der Alternative alle metaethischen Fragen nach Realismus und Anti-Realismus und Objektivismus und Subjektivismus in der Moral auf die Frage nach dem Status der Werte (und darauf, was es heißt, dass ein Handeln „gut“ oder „schlecht“ ist) verschoben werden. Das ist konzeptionell ein großer Vorteil, da meine Topologie der Gründe damit von allen meta-ethischen Fragen nach Realismus, Anti-Realismus, Objektivismus und Subjektivismus unabhängig ist. Meine Topologie ist mithin neutral in Bezug auf die Beantwortung jener metaethischen Fragen. Entsprechend sollte die Topologie von jedem akzeptiert werden können, egal, welche metaethischen Überzeugungen er ansonsten vertritt. – Obwohl die Alternative aber offiziell neutral in Bezug auf die Beantwortung jener metaethischen Fragen ist, möchte ich zumindest den Gedanken erwähnen, dass mit Husserl, Heidegger und Wittgenstein eine Alternative zu den klassischen Positionen des Realismus, Anti-Realismus, Objektivismus und Subjektivismus entwickelt werden könnte. Zur Entwicklung der Alternative würde erneut auf die Methodologie der Orthodoxie verzichtet, d. h. es würden nicht sprachliche Verwendungen von „Wert“ oder „gut“ oder „schlecht“ rational rekonstruiert, so dass sich auch kein Ideal von „dem Guten“ oder „dem Bösen“ ergäbe, in Bezug auf dessen Realisiertheit naturalistisch gesonnene Philosophen dann skeptisch sein könnten. Stattdessen wird von dem Faktum ausgegangen, dass manche Handlungen als gut und andere als schlecht bewertet werden. Gefragt wird dann, wie dieses Faktum möglich ist.Vor dem Hintergrund der bisher entwickelten Topologie der Gründe ergibt sich schon, dass mit der Trennung der Wründe von Fründen und Kründen subjektivistische Intuitionen, die Frage der Motivation zu erklären, konzeptionell von der Frage der Bewertung ferngehalten werden können. Dennoch scheint es auch weitgehend zustimmungsfähig zu sein, dass es keine Werte gäbe, wenn es keine Menschen gäbe. Mit Husserl können Werte dann als Teil einer intersubjektiv geteilten „Wertewelt“ verstanden werden (Husserl, Einleitung in die Ethik, S. ). Ohne Menschen gäbe es zwar keine Wertewelt, aber die Wertewelt ist von dem Belieben eines einzelnen vollkommen unabhängig. An dieser Stelle kann es aufschlussreich sein, die Analogie zwischen Werten und Farben noch weiter zu führen. So hängt die Kategorisierung von Farben zwar von den Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen ab, aber sie können sich nicht aussuchen, ob sie die Realisierung einer bestimmten Farbe wahrnehmen oder Farben auf eine bestimmte Weise kategorisieren. Genau so hängt die Kategorisierung und Wahrnehmung von Werten zwar von den kognitiven Faktoren der Menschen ab, aber sie können sich nicht aussuchen, ob sie die Realisierung eines bestimmten Werts wahrnehmen und wie sie die Werte grundlegend kategorisieren. Die Farben werden zwar kategorisiert, wie sie kategorisiert werden,weil Welt, Mensch und Sprache auf eine bestimmte Weise beschaffen sind und eine bestimmte Vorgeschichte haben; dennoch können Farben aber „richtig“ oder „falsch“ wahrgenommen und Personen mit Farbwahrnehmungsstörungen hier nicht für voll genommen werden. Genau so werden die Werte so kategorisiert wie sie kategorisiert werden, weil Welt, Mensch und Sprache auf eine bestimmte Weise beschaffen sind und eine bestimmte Vorgeschichte haben; dennoch können die Realisierungen von Werten richtig oder falsch wahrgenommen, und Personen mit moral-epistemologischen Defiziten hier nicht für voll genommen werden. In Bezug auf Farben sind zudem ontologische Positionen attraktiv, denen gemäß die Abstrakta wie „das Blaue“ oder „das Rote“ gerade aufgrund des Vorkommens in einzelnen Fällen existieren. Genauso scheint es in Bezug auf Werte attraktiv, dass die Abstrakta wie „Hilfsbereitschaft“ und „Nächstenliebe“ gerade aufgrund des Vorkommens in einzelnen Fällen existieren; handelt etwa niemand mehr „ritterlich“, kann man sich unter dem

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Somit wird deutlich, wie Rationalität ohne Reflexion möglich ist: Auch unreflektiertes Handeln kann rational sein, indem durch das Handeln Werte realisiert werden. Durch das unreflektierte Zueilen des Phronimos auf die Person in Not kann der Wert der Hilfsbereitschaft genau so realisiert werden wie durch das zögerlich-zauderliche Zugehen auf die Person in Not durch den zunächst lange Überlegenden. Der (negative) Wert der Respektlosigkeit kann auch durch die Manifestation eines unbewussten Vorurteils realisiert werden, nicht nur durch eine lange geplante Beleidigung. Entsprechend wird ersichtlich, wie es möglich ist, dass es in Bezug auf reflektiertes wie auch in Bezug auf unreflektiertes Handeln Wründe geben kann: Die Realisation eines Wertes durch ein Handeln ist jeweils ein Wrund, der dafür spricht, dass das Handeln gut oder schlecht ist. In diesem Sinne ist Rationalität im Handeln vollkommen unabhängig von psychischen Mechanismen wie einer Reflexion, die für die Rationalität bürgen würden.Was die Alternative damit anbietet, ist ein anti-psychologistisches Verständnis von Rationalität. Diese Entwicklung dieses Verständnisses ist möglich geworden, weil der Begriff des Grundes in eine motivationale und eine rechtfertigende Komponente zergliedert worden ist. Doch nun müssen die analytisch getrennten Komponenten synthetisch wieder zusammengesetzt werden, da eine wichtige kritische Frage nahe liegt. Die Frage lautet, ob es nicht doch einen psychischen Mechanismus wie Reflexion geben muss, durch dessen Anwendung garantiert wird, dass in einem Handeln wirklich Werte realisiert werden. Denn es scheint die Dichotomie nahezuliegen, dass ein Handeln entweder durch Reflexion oder Absicht hervorgebracht worden und in diesem Sinne „aus Gründen“ geschehen ist, oder dass ein Handeln bloß unreflektiert passiert und damit bloß zufällig „Gründen gemäß“ ist. Wer eine solche Dichotomie vertritt, könnte anführen, dass doch auch ein Regenschauer zur Dürrezeit oder das Verhalten der fütternden Vogeleltern gegenüber ihren Küken den Wert der Hilfsbereitschaft zu realisieren scheint, dass diese Dinge aber doch gerade nicht aus Gründen, sondern bestenfalls gemäß Gründen zu geschehen scheinen. Als Antwort ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass sich der Begriff des Wertes und damit auch der des Wrundes auf Handeln bezieht, so dass die Rede von einer Wert-Realisation durch Naturereignisse wie Regenschauer

Wert der Ritterlichkeit nicht mehr viel vorstellen. Obwohl es schließlich Hinweise auf einige kulturelle Unterschiede in der Farbwahrnehmung gibt, liegt es nahe davon auszugehen, dass für alle biologisch ähnlich gebauten, in derselben Welt lebenden und eine im Groben gleiche Geschichte teilenden Menschen im Wesentlichen dieselben Farben existieren. Genauso liegt es nahe, dass trotz einiger kultureller Unterschiede für alle biologisch ähnlich gebauten, in derselben Welt lebenden und eine im Groben gleiche Geschichte teilenden Menschen im Wesentlichen dieselben Werte existieren, nämlich die Werte der gemeinsamen Wertewelt.

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konzeptionell ausgeschlossen wird. Bzgl. fütternder Vogeleltern sehe ich nicht, was dagegen spricht zu sagen, dass auch durch tierisches Handeln ab und an Werte realisiert werden und in diesem Sinne Wründe für das Handeln sprechen können; gemäß der Alternative sollte die Differenz zwischen Menschen und Tieren an anderer Stelle lokalisiert werden. Vor allem aber ist zu antworten, dass die Dichotomie eines bewussten Handelns aus Gründen und eines unreflektierten, bloß Gründen gemäßen Handelns irreführend und nicht vollständig ist.Wie ich im Rahmen der Diskussion des Regelfolgens im dritten Kapitel ausgeführt habe, gibt es nämlich auch noch eine dritte Möglichkeit: Der Umstand, dass eine Person in ihrem Handeln Werte realisiert, kann eine systematische, nicht-zufällige Grundlage in der Kognition der Person haben, auch ohne dass die Person vorher über das Handeln reflektiert haben oder absichtlich handeln muss. Grob gesprochen kann gesagt werden, dass das Wert-realisierende Handeln auch verkörpert sein kann. Genauer gesagt kann es so sein, dass die Akzeptanz-Struktur eines Akteurs so ausgestaltet ist, dass gerade solche Gegebenheiten Affordanzen (bzw. Fründe) für ihn sind, dass durch die Interaktion mit eben diesen Affordanzen Werte realisiert werden. Für den Phronimos etwa ist eine Notlage einer anderen Person immer eine Affordanz, der Person zur Hilfe zu eilen; die Handlungsweise des Phronimos hat eine feste Grundlage in seiner Kognition, in seiner Akzeptanz-Struktur, auch ohne dass der Phronimos über Fründe oder Wründe nachdenken müsste. Für den Phronimos wird das Rechtfertigende zum unreflektiert Motivierenden und der Gehalt rechtfertigender Werte formt den Gehalt seiner motivationalen Werte; aufgrund des rechtfertigenden Wertes der Hilfsbereitschaft etwa ist die Notlage eines anderen für den Phronimos eine Affordanz zu helfen und „Hilfe in Not“ entsprechend ein motivationaler Wert.⁶⁶ Das Handeln des Phronimos geschieht wie jedes Handeln aus Fründen, aber im Gegensatz zu den Fründen anderer Menschen sind die Fründe des Phronimos in besonders starkem Maße solcherart, dass durch die Interaktion mit ihnen Werte realisiert werden.⁶⁷ Am Grunde der

 Hier besteht ein Anknüpfungspunkt an Husserls im dritten Kapitel erwähnte Konzeption der Vernunftmotivation, bei der der Handelnde durch den „Sinn der als Reiz fungierenden Sachen“ motiviert wird, anstatt blind von seinen Neigungen getrieben zu werden (Husserl :  f.). Der vernünftige Phronimos verfällt etwa nicht im Angesicht einer Person in Not in panisches Mitleid und wird so zum Helfen getrieben, sondern wird stattdessen durch die moralisch relevante Hilfsbedürftigkeit der Person in Not motiviert.  Es besteht auch die Möglichkeit, dass durch das Handeln des Phronimos Werte realisiert werden, selbst wenn der Umstand, dass durch das Handeln Werte realisiert werden, nicht direkt ein Frund für den Phronimos ist. Ein analoges Beispiel wäre, dass eine Person nur durch solche Lücken zwischen zwei anderen Menschen geht, die vor dem Hintergrund sozialer Normen „groß genug“ sind; in einem Sinne ist hier die Lücke der Frund, nicht der Umstand, dass durch das Gehen durch die Lücke soziale Normen befolgt werden – aber natürlich werden in dem Handeln

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Rationalität im Handeln liegt damit gemäß der Alternative nicht ein bestimmter psychologischer Mechanismus, sondern die Rationalität ganzer Menschen. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in den ersten drei Kapiteln ist es naheliegend, dass es vielfältige Ursachen dafür geben kann, dass die AkzeptanzStruktur des Phronimos entsprechend ausgestaltet ist. So können etwa einige Formen Wert-realisierenden Handelns wie bestimmte Formen des Altruismus biologische Grundlagen haben. Andere Handels-Weisen können durch unbewusste Nachahmung erworben werden sein. Ebenfalls kann Erziehung eine Ursache gewesen sein. Gerade auf den Aspekt der Bildung werde ich im nächsten Abschnitt noch einmal zurückkommen. Und mit Husserl (Einleitung in die Ethik, S. 292 f.) kann gesagt werden, dass explizite und bewusste Werturteile ebenfalls eine Rolle darin gespielt haben können, dass bestimmte Werte zuerst explizit thematisiert und sie dann habitualisiert worden sind. Mit Heidegger muss aber festgehalten werden, dass auch ein bewusstes Urteil eine (mentale) Handlung mit kognitiven Hintergrund-Bedingungen ist, so dass bewusste Urteile Fründe nicht allesamt ex nihilo erschaffen, sondern die Fründe-Landschaft eines Individuums vor allem modifizieren können.⁶⁸ Eine Konsequenz dieser Konzeption ist es, dass ein Akteur wissen kann, wie man rational bzw. moralisch handelt, auch ohne dass er weiß, dass er weiß, wie man rational bzw. moralisch handelt. Dieses Prinzip, dass man Wissen haben kann auch ohne das Wissen, dass man das Wissen hat, ist aus der Erkenntnistheorie als „Anti-Luminosity“ bekannt (Williamson 2000). Im Kern ist AntiLuminosity nur die Anwendung der anti-cartesianischen Erkenntnis, dass Menschen nicht ihre gesamte Kognition transparent ist, auf den Bereich der Erkenntnistheorie. In Bezug auf die Rationalität im Handeln kann es etwa sein, dass eine Person durch unbewusste Nachahmung bestimmte Gewohnheiten erworben hat, durch die zielsicher Werte realisiert werden. In einem Sinne weiß sie damit,

soziale Normen befolgt. Analog können durch ein Handeln auch Werte realisiert werden, selbst wenn der Umstand, dass durch das Handeln Werte realisiert werden, nicht direkt das ist, was den Handelnden motiviert, so zu handeln wie er handelt.  Husserl und Heidegger thematisieren beide Werte im motivationalen Sinne, einschließlich der Motivation, rechtfertigende Werte zu realisieren. Husserl kann so verstanden werden, dass er davon ausgeht, dass sich Werte eines Werturteils verdankten, das dann habitualisiert werde (so dass man Werte direkt wahrnehmen, d. h. „wertnehmen“ könne). Heidegger kann so verstanden, dass er Husserl zu widersprechen versucht, indem er behauptet, dass Affordanzen ein einheitliches Phänomen seien, von dem eine Wert-Komponente nur nachträglich abgehoben werden könne. Gemäß der Alternative haben Husserl und Heidegger beide Recht: Affordanzen sind ein einheitliches Phänomen, von dem eine Wert-Komponente nachträglich abgehoben werden kann, aber die Affordanz-Landschaft kann durch das Habitualisieren bewusst vorgenommener WertUrteile modifiziert werden.

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wie man die entsprechenden Werte realisiert. Zugleich kann es aber sein, dass sie keine Namen für die entsprechenden Werte kennt, und sie kann sogar überrascht sein, wenn sie darauf hingewiesen wird, dass sie in ihrem Handeln jene Werte realisiert. Zudem kann es sich bei dem Rationalitäts-spezifischen bzw. moralischen Wissen-Wie um „tacit knowledge“ handeln, dass nur schwer vollständig in propositionaler Form vermittelbar ist und ohnehin besser durch unbewusste Nachahmung und praktische Übung erworben werden kann. Aus der alternativen Konzeption menschlicher Rationalität im Handeln ergibt sich vor diesem Hintergrund, dass fast alle Menschen in ihrem Handeln in rudimentärer Form rational sind. Das Ideal ist der Phronimos, der eine große Zahl von Werten in seinem Handeln zu einem hohen Grade realisiert. Beispielsweise muss er nie darüber nachdenken, ob und mit welchem Engagement er helfen soll, sondern kann stattdessen den gesamten Fokus seiner Aufmerksamkeit darauf lenken, wie genau er seine ganze Kraft am besten zur Hilfe einsetzt. Für den Phronimos ist Moral damit kein Thema, obwohl sein Handeln durch und durch moralisch ist. Aber auch wenn die meisten weniger idealen Menschen im Unterschied zum Phronimos in einen inneren Konflikt aus egoistischer Neigung und moralischer Pflicht geraten können, realisiert auch ihr unreflektiertes Handeln zumindest einige Werte bis zu einem gewissem Grade. Beispielsweise kann gesagt werden, dass zur Zeit viele Europäer durch die gewohnten Bahnen ihres Handelns den Wert der Friedfertigkeit bis zu einem gewissem Grade realisieren.⁶⁹ In diesem Sinne teilt die Alternative die Hegelsche Sichtweise, dass es kollektive unreflektierte moralische Gewohnheiten, d. h. eine Sittlichkeit gibt (vgl. Hegel 1821). So gesehen sind Menschen nicht vor allem deshalb rational, weil sie über einen psychologischen Mechanismus der Reflexion verfügen, sondern weil sie Teil einer Kultur sind, dank derer ihnen das unreflektierte Realisieren von Werten zur zweiten Natur gemacht worden ist.⁷⁰

 In diesem Sinne ist das Handeln der meisten Menschen in bestimmten Hinsichten ähnlich wie dasjenige des idealen Phronimos strukturiert (für einen strukturell gleichen Gedanken in Bezug auf die Frage nach der empirischen Plausibilität der Existenz eines buddhistischen Weisen siehe Siderits :  f.; vgl. auch Velleman ).  Das zeigt natürlich (aus Sicht der Alternative), wie viel an Kants eingangs thematisiertem Gedanken dran ist, es gebe eine allgemeine Menschenvernunft. Nur sollte man dennoch vorsichtig sein zu denken, diese allgemeine Sittlichkeit könne explizit gemacht werden, indem man Menschen nach ihren moralischen Intuitionen befragte. Die Sittlichkeit ist schließlich in weiten Teilen nicht transparent und es würde ein cartesianisches Bild eines sich selbst transparenten Geistes voraussetzen, wenn man annähme, dass daraus, dass Menschen „intuitiv“ wissen, wie man moralisch handelt, folgen würde, dass die Menschen dieses Wissen dann auch qua Abfrage ihrer Intuitionen explizit machen könnten.

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g Sründe Im Rahmen der bisher dargestellten Topologie der Gründe habe ich eine antipsychologistischte Analyse menschlicher Rationalität im Handeln entwickelt und verdeutlicht,was es heißt, unreflektiert aus Gründen zu handeln. Es gilt aber noch, die weitere Frage zu beantworten, wie es möglich ist, eine Handlung mit Gründen zu rechtfertigen, auch wenn dort keine vorher erwogenen Gründe explizit gemacht werden. Um auch diese Frage beantworten zu können, ist es hilfreich, auch die restliche Topologie der Gründe zu präsentieren. Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich das mit „Grund“ bezeichnete Phänomen, das ich „Srund“ nenne (von „Szientistischer Grund“). Sründe betreffen das Thema wissenschaftlicher Erklärungen. Ein Srund ist eine fundamentale Eigenschaft der Welt, wie etwa ein Naturgesetz. Das Naturgesetz kann ein partikulares Ereignis erklären und in diesem Sinne dafür sprechen, dass das Ereignis eintritt. Die tiefere Grundierung liegt in diesem Fall darin, dass das Stattfinden des partikulären Ereignisses das allgemeine Gesetz instanziiert. Locker gesprochen kann etwa das Gravitationsgesetz als Srund dafür angeführt werden, dass der Apfel zu Boden fällt. Gäbe es schon allgemeine Gesetze in Psychologie und Kognitionswissenschaft, könnten auch Sründe dafür angeführt werden, warum eine spezifische Affordanz-Akzeptanz-Interaktion stattfindet. Auf die entscheidenden Fragen, inwieweit Sründe immer die Form allgemeiner Gesetze haben müssen oder können und welche Rolle ceteris-paribus-Klauseln spielen, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen.

h Pründe Wichtiger für die Frage der Rechtfertigung eines Handelns im Dialog ist dagegen ein weiteres mit „Grund“ bezeichnetes Phänomen, nämlich das Phänomen, das ich als „Prund“ zu bezeichnen vorschlage (von „Propositionaler Grund“). Pründe betreffen das Thema der semantischen Artikulation von Fründen, Kründen, Wründen, oder Sründen (oder Tründen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde). In diesem Sinne sind Pründe kein eigenständiges Phänomen und weisen keine eigene Grundierung auf. Ein Prund ist eine Proposition, die einen Frund, Krund, Wrund, Srund, oder Trund zum Gehalt hat. Als Pründe werden dabei etwa die zunächst nicht propositionalen Fründe und Wründe in ein propositionales Gewand gekleidet.⁷¹ Ein Prund wird „wahrgemacht“, wenn es der Fall ist, dass der

 Somit wird deutlich, wie es möglich ist, dass Handeln (feinkörnig betrachtet) nicht durch

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entsprechende Frund, Krund, Wrund, Srund oder Trund besteht, der von ihm artikuliert wird. In diesem Sinne weisen Pründe kein eigenes Verständnis des Dafür-Sprechens auf, sondern sprechen für das, für das der jeweilige Frund, Krund, Wrund, Srund oder Trund spricht. „Dass Wilfried pflichtvergessen gehandelt hat“ ist etwa ein Prund, der den Wrund zum Gehalt hat, dass durch Wilfrieds Handeln der (negative) Wert der Pflichtvergessenheit realisiert wird. Wenn der Wert der Pflichtvergessenheit wirklich durch Wilfrieds Handeln realisiert worden ist, dann ist der Prund wahr, andernfalls nicht. Ist der Prund wahr, spricht er für das, für das der Frund, Krund,Wrund, Srund oder Trund spricht, den er zum Gehalt hat; in diesem Fall spräche der Prund also (pro tanto) dafür, dass Wilfrieds Handeln schlecht ist. Wichtig ist vor allem die Einsicht, wie vielfältig das Phänomen des Prundes ist und wie verschiedenen die Arten von Gründen, die sich unter seiner einheitlichen Oberfläche der propositionalen Form verbergen. Ein Prund kann damit beispielsweise dafür sprechen, ein Handeln auf bestimmte Weise zu bewerten (wenn sein Gehalt ein Wrund ist), Handeln zu erklären (wenn sein Gehalt ein Frund oder Krund ist), das Geschehen von Ereignissen zu erklären (wenn sein Gehalt ein Srund ist), Evidenzen anzuführen (wenn sein Gehalt ein Trund ist) oder in Einzelfällen die Frage zu beantworten, was man in Zukunft tun soll (wenn sein Gehalt ein Frund, Wrund oder Trund ist). Diese phänomenale Verschiedenheit von Pründen wird jedoch durch ihre propositionale semantische Oberflächenstruktur sowie die Eigenschaft verborgen, dass Pründe als Antworten auf eine „Warum“Frage verstanden werden können. Pründe zu thematisieren ist daher besonders dazu hilfreich, um Verwirrungen vorzubeugen. Aufgrund seiner Methodologie der rationalen Rekonstruktion sprachlicher Zuschreibungen liegt es etwa besonders dem Vertreter der Orthodoxie nahe anzunehmen, es gebe nur genau eine Art von Gründen und nur genau ein mit „Grund“ bezeichnetes Phänomen. Damit hat er aber nur die Pründe gesehen und nicht die verschiedenen Arten von Gründen, die der Gehalt von Pründen sein können.

i Dründe Ein weiteres als „Grund“ bezeichnetes Phänomen ist das Phänomen, das ich „Drund“ nenne (von „Diskursiver Grund“). Dründe betreffen das Thema der Hermeneutik und des Überredens oder Überzeugens anderer „mit Gründen“. Ein

Propositionen geleitet ist, dass Fründe, Kründe oder Wründe aber in der Sprache in propositionaler Form erscheinen.

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Drund ist die Äußerung eines Prundes im Rahmen eines Dialogs. Der Zweck der Äußerung des Drundes ist, dass der Hörer auf den Drund reagiert, indem er seinen mentalen Haushalt neu ordnet und etwa eine neue Überzeugung erwirbt oder ein neues Handeln beginnt. Ist der Gehalt des Prundes, der als Drund geäußert wird, etwa ein Wrund, dann ist der Zweck der Äußerung des Drundes, dass der Hörer das Handeln, auf das sich der Wrund bezieht, genau so bewertet wie der Sprecher.⁷² Je nach pragmatischem Kontext können weitere Zwecke sein, dass der Hörer den Akteur der thematisierten Handlung verurteilt oder lobpreist, oder dass er die Handlung in Zukunft selbst ausführen wird. Ist der Hörer psychisch entsprechend verfasst, spricht der Drund dann auch für ihn dafür, auf die entsprechende Weise auf den Drund zu reagieren. Die Grundierung der Dründe – die tiefere Ursache dafür, dass sie für einen Akteur für etwas sprechen – liegt genau wie im Falle der Fründe in der Struktur der Affordanz-Akzeptanz-Interaktion begründet. Das Fahrrad z. B. ist für einen Akteur nur eine Affordanz, wenn es ihm etwas sagt, d. h. wenn der Akteur etwa Erfahrungen mit Fahrrädern gemacht hat, über die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, verfügt und das Projekt verfolgt, seinen Ort zu verändern. Genau so kann ein Drund, die Äußerung eines Prundes, für einen Hörer nur eine Affordanz, ein Frund, sein, mit einer Neuordnung seines mentalen Haushalts zu reagieren, wenn der Drund ihm etwas sagt. In diesem Fall muss der Drund an etwas anknüpfen, was dem Hörer schon etwas sagt, etwa an seine bisherigen Überzeugungen, Erfahrungen, und Wertanschauungen, und der Hörer muss die grundlegende Offenheit mitbringen, sich überhaupt überzeugen zu lassen anstatt unter allen Kosten auf seinem Standpunkt zu verharren. Um ein etwas klischeehaftes Beispiel zu bemühen, wird ein Drund, der auf den Wert den Nächstenliebe rekurriert, einen Christen eher überzeugen als einen neolibertären Utilitaristen. Wichtig ist, dass Dründe einerseits an die Akzeptanz-Struktur des Hörers anknüpfen müssen, andererseits dem Akteur aber auch etwas Neues sagen müssen, da andernfalls keine Notwendigkeit bestünde, ihn überhaupt von etwas zu überzeugen. Das hermeneutische Phänomen der Dründe macht somit deutlich, an welcher Stelle Gründe Akteurs-relativ sind. Dründe sind durch und durch Akteurs-relativ und ein Drund, der noch die Sichtweise des einen Hörers entscheidend verändert hat, kann beim nächsten Hörer nur auf taube Ohren und zuckende Schultern stoßen. Dagegen ist es vollkommen Akteurs-neutral, ob ein Prund wahrgemacht wird oder nicht, und ob etwa ein Wert durch ein Handeln realisiert ist oder nicht.⁷³  Es sei denn natürlich, der Sprecher will den Hörer täuschen und mit Dründen zu einer Überzeugung bringen, die er, der Sprecher, gar nicht teilt.  Dass die Wahrheit eines Prundes oder etwa die Realisiertheit eines Wertes Akteurs-neutral ist, bedeutet aber natürlich nicht, dass ihre Erkenntnis gänzlich von Menschen unabhängig ist; es ist

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Im Falle des vollkommen rationalen Akteurs und Hörers fallen die Dinge zusammen, weil er sich idealerweise genau dann von einem Drund überzeugen lässt, wenn der als Drund geäußerte Prund wahr ist und etwa der entsprechende Wert wirklich realisiert wird. Da Dründe aber nur die hermeneutische Dimension betreffen, können die Akeurs-relative Überzeugungskraft und das wirkliche Realisieren von Werten mitunter stark auseinanderfallen.

j Tründe Vor dem Hintergrund, dass die meisten Menschen einerseits nicht vollkommen rational sind und ihre Akzeptanz-Strukturen Idiosynkrasien aufweisen, dass sie aber andererseits im Austausch von Gründen der Wahrheit auf die Spur kommen wollen, ist es hilfreich, dass es schließlich noch ein siebtes mit „Grund“ bezeichnetes Phänomen gibt, nämlich das Phänomen, das ich „Trund“ nenne (von „etwas Treffender Grund“). Tründe betreffen das Thema der Epistemologie. Ein Trund ist im Allgemeinen eine Eigenschaft eines Ereignisses und im Besonderen einer Handelnssituation. Diese Eigenschaft ist dann Evidenz dafür, dass ein als Drund geäußerter Prund wirklich wahrgemacht wird, d. h., dass der entsprechende Frund, Krund, Wrund oder Srund (oder ein anderer Trund, der Gehalt des Prundes ist) wirklich besteht. In diesem Sinne spricht ein Trund dann im Erfolgsfall dafür, dass es rational ist, auf einen Drund mit der Neuordnung seines mentalen Haushalts zu reagieren. Dieses Dafür-Sprechen ist anders als bei Dründen kein motivationales, sondern eines, das es rechtfertigt und rational macht, auf die entsprechende Weise zu reagieren. Grundiert sind Tründe dadurch, dass sie im Vorliegen von Evidenz bestehen. Ein Drund, der nur aufgrund der kognitiven Ähnlichkeiten von Sprecher und Hörer zu Veränderungen beim Hörer führt, überredet nur; ein Drund dagegen, in Bezug auf den es Tründe dafür gibt, dass der geäußerte Prund wahr ist, überzeugt auch und ist in diesem Sinne ein „guter Grund“. Beispielsweise können zwei Diskutanten unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob Wilfried für sein Verhalten moralisch zu verurteilen oder zu entschuldigen ist. Seine Anklägerin könnte dann anführen, dass Wilfrieds Verhalten den Wert der Pflichtvergessenheit realisiert. Sein Verteidiger könnte darauf insistieren, dass dies gar nicht der Fall sei. Die Anklägerin könnte dann Eigenschaften der Situation, und in diesem Sinne Tründe, anführen, die für ihre Sichtweise sprechen. Sie

Akteurs-neutral, dass diese Flasche das Blaue realisiert, aber ohne Gehirne und Augen wäre es nicht zu erkennen.

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könnte etwa hervorheben, dass Wilfried den Hund über Stunden im Auto gelassen habe, dass man von jedem Hunde-Besitzer erwarten könne, seine Pflichten zu kennen, usw. Sein Verteidiger könnte dann andere Eigenschaften der Situation, und in diesem Sinne Tründe, nennen, die für seine Sichtweise sprechen. Hierauf kann die Anklägerin wiederum mit Tründen eingehen. Die Tründe ermöglichen es den Dialogpartnern damit, triangulatorisch vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Sichtweisen und in der gemeinsamen Betrachtung einer Situation der Wahrheit auf die Spur zu kommen.⁷⁴ Damit liegen nun alle Ressourcen vor, um verständlich zu machen, wie es möglich ist, Handeln „mit Gründen“ zu rechtfertigen, auch wenn der Akteur nicht vorher über „Gründe“ nachgedacht hat oder andersartig durch „Gründe“ geleitet

 Zusammenfassend gesagt bezeichnen „Frund“, „Krund“, „Wrund“, „Srund“, „Drund“ und „Trund“ verschiedene Facetten potentiell rationalen menschlichen Handelns. Auch wenn diese Facetten dabei komplex ineinander verschränkt sind, ist sie zu unterscheiden aus philosophischer Sicht besonders erkenntnisfördernd, um den unreflektierten und immer schon vorausgesetzten Hintergrund der Rede von „Gründen“ explizit in den Blick nehmen zu können. – Die Verschiedenheit der Facetten und ihre Zusammenhänge können nun noch einmal an einem Beispiel illustriert werden. Angenommen, eine Anwältin sagt zu einer Richterin: „Sprechen Sie meinen Mandanten frei, Euer Ehren, denn sehen Sie doch, dass es Notwehr war!“. Dann führt die Anwältin in einem Sinne einen Prund an: Die Proposition „dass es Notwehr war“ spricht, wenn sie wahr ist, dafür, den Mandanten frei zu sprechen. Zugleich kann in dieser Proposition ein Wrund artikuliert sein: Denn es realisiert Werte wie Gerechtigkeit und wie die Vermeidung von Unrecht, Personen, die aus Notwehr gehandelt haben, freizusprechen.Teilt die Richterin diese Werte – wie man von ihr in ihrer Position erwarten sollte –, dann ist die Äußerung der Anwältin für sie dabei ein Drund, den Angeklagten freizusprechen: Die Richterin wird durch das von der Anwältin Geäußerte entsprechend motiviert. Vielleicht aber ist der Richterin ohnehin klar, dass Personen, die aus Notwehr gehandelt haben, freigesprochen werden sollten, aber sie ist sich unsicher, ob im vorliegenden Fall wirklich aus Notwehr gehandelt worden ist. Dann kann es sein, dass die Anwältin mit ihrem „sehen Sie doch“ die Richterin auf einen bestimmten Aspekt der zu bewertenden Situation aufmerksam machen will. In diesem Sinne hat sie dann einen Trund angeführt – sie hat ihre Dialogpartnerin auf einen bestimmten Aspekt der Situation aufmerksam gemacht, den diese übersehen hat. Freilich müsste die Anwältin einer skeptischen Richterin gegenüber in der Folge sofort konkretere Evidenzen nennen. Dabei könnte die Anwältin dann etwa darauf aufmerksam machen, dass ihr Mandant angegriffen worden ist, und dass dieser Angriff für ihn ein Frund gewesen ist, sich zu wehren. Weil der Frund des Angeklagten hier darin bestanden hat, auf einen Angriff mit einer Abwehr zu reagieren (und nicht etwa, auf die Präsenz eines ungeliebten Menschen mit einem Agressionsabbau zu reagieren), realisiert es Werte, die sein Tun besser dastehen lassen.Wenn man nun nur sagt, die Anwältin habe eben darauf aufmerksam gemacht, dass es gute Gründe gebe, ihren Mandaten freizusprechen, dann ist das nicht verkehrt und sogar Alltags-pragmatisch sinnvoll. Aber aus philosophischer Sicht werden dann all die verschiedenen Facetten des Handelns aus Gründen miteinander vermischt, die zu unterscheiden aus philosophischer Sicht hilfreich ist, wenn die unreflektierten Hintergrund-Bedingungen des Handelns aus Gründen in ihre einzelnen Bestandteile analysiert und in den Vordergrund gehoben werden sollen.

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worden ist, die dann explizit gemacht werden. Dies zeigt dann auch, wie ein Verständnis von Rationalität ohne Reflexion notwendig in ein alternatives Verständnis von Verantwortung eingebettet ist. Am Anfang steht das unreflektierte Reagieren auf Fründe. Dieses unreflektierte Handeln ist in vielen Fällen zumindest in einem rudimentären Sinne rational, indem das Handeln Werte realisiert und es damit Wründe gibt, dass das Handeln gut ist. Soweit es eine kollektive Sittlichkeit gibt, haben die meisten Menschen in einem rudimentären Sinne moralisches Wissen-Wie. Dieses ist ihnen aber oft nicht transparent, sie können es nicht gut artikulieren und aufgrund seiner praktischen Struktur ließe es sich auch nur grobkörnig in propositionale Form bringen. Wie aus der Debatte um Wissen-Wie bekannt ist, können die praktische Fähigkeit, wie man etwas tut, und die Fähigkeit, jenes Wissen-Wie zu artikulieren, zudem auseinanderklaffen.⁷⁵ Weicht das Handeln einer Person aber von unreflektierten Erwartungen der anderen ab, kann der Person zugeschrieben werden, einen Fehler gemacht zu haben. Die Muster im Lebensteppich, die man feinkörnig als ihr unreflektiertes Reagieren auf Fründe auslegen kann, werden dann grobkörnig als HandlungsGeschichte ausgelegt, inklusive der Fiktion, die Person habe sich für die fehlerhafte Handlung entschieden, da sie sie sonst nicht ausgeführt hätte. Auch wenn derartige Verantwortungszuschreibungen voreingestellt akzeptiert werden, kann die Person die Zuschreibung anfechten und in einen Dialog eintreten, um ihr Handeln zu verteidigen. Immerhin hängt die Zurechnung eines Fehlers von den Erwartungen anderer ab, die sich irren könnten. Um herauszufinden, ob das Handeln der Person wirklich alles in allem schlecht (bzw. in abgeleiteten Fällen gut) ist, gilt es herauszufinden, ob durch das Handeln Werte bestmöglich bzw. hinreichend gut realisiert worden sind. In diesem Sinne gilt es herauszufinden, welche Wründe für oder gegen die Handlung sprechen. Aufgrund der unterschiedlichen kognitiven Verfasstheit der Beteiligten wird ein Drund nicht sofort auf die Akzeptanz des jeweils anderen stoßen. Um zu sehen, ob das unreflektierte Handeln tatsächlich rational und alles in allem gut gewesen ist, können die Dialogpartner dann Tründe anführen und in diesem Sinne den jeweils anderen auf Eigenschaften der zu bewertenden Situation aufmerksam machen. Weil das rationalitäts-spezifische bzw. moralische Wissen-Wie in vielen Fällen nicht epistemisch transparent ist und der Akteur unreflektiert gehandelt hat, hat er oft keinen epistemischen Vorteil hinsichtlich der Wründe oder Tründe, die bestehen und die für oder wider sein Handeln angeführt werden könnten. Da die Fähigkeiten zum rationalen Handeln und zur Artikulation der Rationalität jenes Handelns auseinanderfallen können, ist es zudem möglich, dass auch ein vollkommen ratio-

 Vgl. Kapitel I.

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naler Akteur große Mühe hat, die vielen in seinem Handeln stark realisierten Werte sprachlich auf den Begriff zu bringen. Dies zeigt aber nur, dass die Eigenschaft, ein rationaler Akteur zu sein, streng von der Eigenschaft unterschieden werden muss, ein rationaler Diskutant zu sein. Nichtsdestotrotz kann das zu rechtfertigende Handeln vollkommen rational gewesen sein. Die Rationalität eines solchen Handelns liegt nicht in dem, was dem Akteur zum Zeitpunkt des Handelns durch den Kopf gegangen ist, sondern in dem Handeln selbst. Und im Rahmen eines Wahrheits-orientierten Dialogs kann diese im Handeln liegende Rationalität dann von den Gesprächspartnern gemeinsam entdeckt werden. Vor dem Hintergrund dieses alternativen Rationalitätsverständnisses kann nun deutlich werden, dass die empirisch informierte Rationalitätsskepsis aus konzeptuellen Gründen inadäquat ist, selbst wenn alle zugrunde liegenden Experimente einwandfrei durchgeführt worden sind. Denn die empirisch informierte Rationalitäts-Skepsis teilt mit der Orthodoxie die problemtische Konzeption eines Zwei-Schichten-Modells des Menschen: Weil ein Handeln nicht einer rationalen Reflexion und damit der höheren Schicht entstammt, wird davon ausgegangen, dass es automatisch, intuitiv, und irrational vonstattengegangen ist. Weil der personale Kern eines Menschen als sein reflektierendes Bewusstsein verstanden wird, wird davon ausgegangen, dass ein unreflektiertes Handeln nicht unter seiner Kontrolle gestanden hat und damit geradezu zufällig zustande gekommen ist. Werden später „Gründe“ zur Rechtfertigung eines solchen Handelns angeführt, wirken sie wie sophistische Rationalisierungen, die nur dazu dienten, den schönen Schein zu erwecken, das Handeln sei rational, obwohl es in Wirklichkeit nicht im Lichte von „Gründen“ vollzogen worden sei und damit nicht rational sein könne. Im Lichte der Alternative kann hingegen deutlich werden, dass auch unreflektiertes Handeln zielsicher geschehen und sehr wohl rational sein kann und dass das spätere, teils mühsame Anführen von rechtfertigenden Wründen keine scheinheilige Rationalisierung ist, sondern ein Entdecken von in dem Handeln tatsächlich realisierten Werten. Die Dichotomie zwischen dem Explizit-Machen von handlungsleitenden Gründen einerseits und den bloßen Rationalisierungen andererseits ergibt nur vor dem Hintergrund des Zwei-Schichten-Modells Sinn; wird aber dieses Modell durch die Alternative ersetzt, kann ersichtlich werden, dass es noch eine dritte Option gibt, nämlich das Entdecken von unreflektiert realisierten Werten.

k Klärungen dank der Topologie der Gründe Nun sollte zwar mittels der Kartierung der Topologie der Gründe mein Ziel erreicht worden sein zu zeigen, dass es möglich ist, eine alternative Konzeption von Ra-

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tionalität ohne Reflexion zu entwickeln. Darüber aber noch hinausgehend möchte ich zum Abschluss vorschlagen, dass die Topologie der Gründe auch das Potential für hilfreiche Klärungen hinsichtlich der zusammenhängenden, mit „Grund“ bezeichneten Phänomene mit sich bringt.Was nämlich oft als „Grund“ bezeichnet wird, ist oft nur eines der verschiedenen Phänomene oder aber eine Kombination aus einigen der Phänomene. Sich darüber klar zu werden hilft nicht nur, philosophischen Verwirrungen vorzubeugen, sondern auch besser zu verstehen, was es für den Menschen als rationales Wesen bedeutet, aus Gründen zu handeln.⁷⁶ Was heißt es, aus Gründen zu handeln? Einerseits können Menschen auf Affordanzen reagieren, die für sie dafür sprechen, etwas zu tun, und in diesem Sinne können sie aus Fründen handeln. In dem Sinne, dass die Interaktion mit diesen Fründen dazu führt, dass Werte realisiert werden, können Menschen zielsicher und regelmäßig auch aus Wründen handeln, selbst wenn sie selbst nicht bewusst darum wissen, welche Werte durch ihr Handeln realisiert werden. Ihnen kann es genügen, dass sich das Handeln richtig anfühlt und die Wründe im Rahmen eines späteren Rückblicks gefunden und dann in den bewussten Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden können. Für einen Tugendhaften kann zudem der Umstand, dass durch eine Interaktion moralische Werte realisiert werden, selbst zum Frund werden, und vor diesem Hintergrund seiner moralischen Gesinnung ist ihm die Hilfsbedürftigkeit der Person in Not dann ein Frund. Der motivationale Aspekt derartiger Interaktion kann (auf etwas weniger hilfreiche Weise) auch mittels des Begriffs des Krunds verständlich gemacht werden, und in diesem Sinne kann eine Person auch aus Kründen handeln. Zudem gilt es im Rahmen der Entwicklung der Alternative nicht das Phänomen aus den Augen zu verlieren, das von der Orthodoxie als Paradigma auserkoren worden ist, selbst wenn die Alternative die orthodoxe Theorie ablehnt. Es handelt sich dabei um den Phänomen-Komplex der Überlegung. Denn auch wenn es allenfalls die fiktiven Protagonisten volkpsychologischer Handlungs-Geschichten sind, die jeder ihrer Taten ein Wägen von Gründen voranstellen oder stets zumindest der Leitung durch Gründe bedürfen, so ist das Phänomen der Überlegung doch wenigstens ein seltener, aber nichtsdestotrotz vorhandener Bestandteil menschlicher Lebenswirklichkeit. Freilich ist es ein ganz eigenes Thema für sich, die Untiefen mentalen

 Damit soll freilich nicht die Auffassung vertreten werden, alle Fragen nach der Natur von Gründen ließen sich auf diese Weise auflösen. Wie schließlich oben beschrieben worden ist, werden im Rahmen des hier unterbreiteten Vorschlags etwa Fragen nach Realismus und AntiRealismus und Objektivismus und Subjektivismus in Bezug auf Gründe lediglich auf die Frage nach der Natur von Werten verschoben. Dennoch ermöglichen die hier vorgenommenen Unterscheidungen verschiedener Aspekte der Rede von Gründen einige sehr hilfreiche Klärungen, wie im Folgenden gezeigt wird.

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Handelns im Lichte der alternativen Konzeption menschlichen Handelns neu auszuleuchten, und so muss dies Aufgabe für eine andere Gelegenheit bleiben. Immerhin lohnenswert zu erwähnen ist aber der alterative Grundgedanke, Überlegungen als eine mentale Simulation eines Handelns zu verstehen.⁷⁷ Überlegt ein Akteur etwa, ob er in ein anderes Land ziehen sollte, kann er simulieren, wie gut er mit den dortigen Gegebenheiten interagieren und zurechtkommen würde; mit anderen Worten simuliert er, welche Fründe dort für ihn bestehen und wie er mit ihnen interagieren kann. Dies kann er dann im Vorausblick auf eine spätere Entscheidung als Tründe dafür festhalten, dass der Umzug hilfreich wäre oder nicht. Ebenfalls kann sich ein um die Moralität seines Tuns besorgter Akteur im Rahmen einer derartigen Simulation versichern, dass sein anvisiertes Handeln Werte bestmöglich realisiert. Der rationale Diskutant kann zudem im Voraus mögliche Dialoge simulieren, um sich zu überlegen, mittels welcher Pründe und Tründe der andere von der Wahrheit überzeugt werden kann. Und auch Heuchler und Menschenfänger können im Voraus mögliche Dialoge simulieren und schauen, mittels welcher Dründe sie den anderen auf ihre Seite ziehen können. Indem das Ergebnis derartiger Überlegungen – in sprachlicher Form als Prund festgehalten – das zukünftige Handeln informieren kann, gibt es auch eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie ein im Anschluss an eine Überlegung geschehendes Handeln „aus Gründen“ geschehen kann. Hinter der einheitlichen Oberfläche des „Handelns aus Gründen“ verbergen sich mithin Komplexität und Vielfalt. Was aber sind überhaupt „Gründe“, so lautet die nächste Frage. Sind es Wunsch-Überzeugungs-Paare, wie die einen Vertreter der Orthodoxie sagen, oder Überlegungen oder Tatsachen, wie die anderen meinen? „Weder … noch“ und „alles zusammen“ ist die Antwort der Alternative. Wie nämlich die Topologie der Gründe zeigt, gibt es gar nicht genau ein Phänomen namens „Grund“, sondern mindestens sieben, alle verschiedenen voneinander und zugleich komplex verschränkt. Scheinbar von der Existenz genau eines Wortes auf die Annahme der Existenz genau eines Phänomens schließend, heben die Vertreter der Orthodoxie aus Sicht der Alternative immer nur einzelne Phänomene aspektiv in den Vordergrund. „Gründe“ können Kründe und in diesem Sinne Wunsch-ÜberzeugungsPaare sein. Wer eine solche Theorie vertritt, hat ein Phänomen getroffen, wenn er die menschliche Handlungs-Motivation auch nicht so feinkörnig einzufangen vermag wie ein Vertreter des Interaktionismus. Ausgespart aber werden viele andere Phänomene und Topoi, das Thema der Rationalität mit den Wründen, das Thema der wissenschaftlichen Erklärung mit den Sründen, das Thema der Her-

 Vgl. dazu Kapitel III.

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meuneutik mit den Dründen und das Thema der Epistemologie mit den Tründen. Sind „Gründe“ Überlegungen (im Sinne von „considerations“)? Wer so denkt, hat zweifellos etwas getroffen, das Phänomen der Pründe nämlich, ihre propositionale Form und ihre Rolle der semantischen Repräsentation des Ergebnisses einer mentalen Simulation, was man tun soll. Aber dennoch wird auch hier Wichtiges verfehlt: Denn von den Fragen der Hermeneutik, von der Epistemologie war bisher nicht die Rede, und eine Theorie der Handlungsmotivation ohne Überintellektualiserung scheint hier kaum möglich. Oder sind „Gründe“ stattdessen Tatsachen? Wer so denkt, denkt raffinierter, indem es ihm gelingt, mittels eines Konzepts gleich mehrere Phänomene zu treffen: Als Tatsachen verstanden haben „Gründe“ die propositionale Form eines Prundes, realisieren Werte wie Wründe und liegen in der Welt wie Fründe. Doch auch diese Theorie ist nicht vollständig und schweißt in ihrem Begriff zusammen, was eigentlich verschieden ist. Ignoriert werden die hermeneutische und die epistemische Dimension ebenso wie die wissenschaftstheoretische. Als motivationale Theorie verstanden muss eine derartige Konzeption darüber hinaus behaupten, Menschen seien stets durch etwas Propositionales motiviert – eine Konzeption, gegen die ich im ersten Kapitel ausführlich argumentiert habe. Auch wenn es also nur das eine Wort „Grund“ gibt, heißt das nicht, dass es nicht vieles gibt, das so heißt. Wofür sprechen Gründe? Sprechen sie dafür, dass etwas gut oder schlecht ist, oder dafür, dass etwas der Fall ist, oder dafür, dass man etwas tut oder glaubt, oder dafür, dass man etwas tun oder glauben sollte? Gemäß der Alternative ist es einfach: Wründe sprechen dafür, dass etwas gut oder schlecht ist. Sründe sprechen dafür, dass etwas der Fall ist. Fründe und Dründe sprechen dafür, dass man etwas tut oder glaubt. Und Tründe sprechen dafür, dass man etwas tun oder glauben sollte. Sind schließlich Gründe subjektiv und von den Wünschen der Handelnden abhängig, oder sind sie von diesen unabhängig und objektiv? Die Topologie der Gründe ermöglicht eine differenzierende Antwort. Von Wünschen selbst sind nur Kründe abhängig. Gemäß dem Interaktionismus aber ist Handeln die Interaktion von Affordanz und Akzeptanz. Damit gibt es mit den Akzeptanzen eine subjektive Seite, wenn es aus dieser Perspektive und gemäß dieser Konzeption auch nicht so etwas wie ein Akteurs-kausales Subjekt gibt. Vor dem Hintergrund der Akzeptanzen können dann Affordanzen für einen Akteur bestehen, denen er sich nicht nach Belieben entziehen kann und die ihm epistemisch intransparent sein können. Moralisch sozialisierten Akteuren, die unbeobachtet schummeln wollen, kann sich beispielsweise ein normativer Druck entgegenstellen. Obwohl die psychischen Grundlagen des Gefühls eines solchen Drucks aus erstpersonaler Perspektive nicht transparent sind und obwohl sich dem Druck oft nicht beliebig entzogen werden kann, hat der Druck subjektive Ermöglichungsbedingungen. Für

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einen moralisch sozialisierten Akteur kann die Not eines anderen Menschen ein Frund sein, der eine „objektive“ Komponente hat; aber er hat auch eine subjektive Komponente und wäre der Akteur nicht unter Menschen, sondern unter Wölfen aufgewachsen, wäre dieselbe Gegebenheit kein Frund für ihn. Obwohl sie also auch eine „objektive“ Komponente haben, haben Fründe, und damit auch Dründe, auch entscheidend eine „subjektive“ Seite. Anders sieht es dagegen mit Wründen, Sründen, Tründen und Pründen aus. Ob ein bestimmter Wert in einem Einzelfall realisiert worden ist, kann richtig oder falsch sein, ganz egal, wie die Mehrheit der Mitglieder einer Gemeinschaft die Situation beurteilen würde. Zugegebenerweise gäbe es vielleicht keine Werte, wenn es keine Menschen gäbe, und es bedarf bestimmter Erkenntnisfähigkeiten, um zu sehen, ob ein Wert im Einzelfall realisiert worden ist. Aber gleiches gilt auch für alle Bereiche der Wissenschaft. Somit scheint die Diagnose nahezuliegen, dass Philosophen, die behaupten, Gründe seien subjektiv, von Kründen, Fründen oder Dründen ausgehen, und Philosophen, die behaupten, Gründe seien objektiv, von Wründen, Sründen, Tründen oder Pründen. Und vor diesem Hintergrund lässt sich auch ein scheinbarer Widerspruch aufklären: „Alles geschieht aus einem Grund“, sagen Menschen manchmal, ebenso wie „auch der Mörder hatte seine Gründe“; dagegen wird aber auch gesagt, der Mörder habe doch keine Gründe gehabt. Gemäß der Alternative kann gesagt werden, dass alles insofern aus einem Grund geschieht, als dass es für alles Sründe gibt, und im Falle des Handelns insbesondere Fründe oder Kründe. Dass der Mörder auch seine Gründe hat, kann insofern als motivationale These verstanden werden, als gesagt wird, dass sein Handeln unter Rekurs auf Fründe oder Kründe verständlich gemacht werden kann. Dass er dagegen keine Gründe gehabt habe, kann insofern als normative These verstanden werden, als gesagt wird, dass durch sein Handeln keinerlei Werte realisiert werden, die als Wründe dafür sprechen, dass das Handeln gut ist. All dies legt nahe, dass man die Topologie der Gründe als hilfreich dafür ansehen könnte, um verständlich zu machen, was es heißt, aus Gründen zu handeln. Am wichtigsten bei all dem ist aber das im Rahmen der Entfaltung der Topologie neu aufgedeckte Verständnis menschlicher Rationalität: Menschliche Rationalität ist nicht länger an Reflexion gebunden, steht nicht länger mit Spontanität in Widerspruch, und ist nicht länger so etwas wie eine höhere Schicht über einer animalischen Basis. Vielmehr findet sie sich auch im unreflektierten Handeln, kann auch mit Spontanität in Harmonie verbunden sein, und ist etwas, das die einheitliche Natur des Menschen gleichsam vollständig „durchdringt“.

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7 Zweck Zu welchem Zweck werden Verantwortungszuschreibungen überhaupt vorgenommen? Zu welchem Zwecke wird einem Handelnden etwa ein Fehler zugeschrieben und erwartet, dass er mit guten Gründen für sein Handeln einstehen kann? Gemäß der Orthodoxie ist die Antwort klar. Ausgegangen wird von der anthropologisch-handlungstheoretischen Annahme, dass einem Akteur genau dann Schuld oder Verdienst gebührt, wenn die zu verantwortende Handlung dem personalen Kern des Akteurs selbst entstammt, d. h. seinem reflektierten Bewusstsein. Die Praxis des Einforderns guter Gründe dient dann dem epistemischen Zweck herauszufinden, ob – im negativen Falle – die scheinbare Verletzung der Erwartungen anderer auf den personalen Kern eines Akteurs zurückgeführt und ihm zugrechnet werden kann oder nicht. Hat sich der Akteur ohne Gedanken an eine gute Rechtfertigung dafür entschieden, die Erwartungen zu verletzen, bzw. sie absichtlich verletzt, dann hat er schuld, ansonsten nicht. Nun steht diese Antwortoption der Alternative aus verschiedenen Gründen nicht offen. So widerspricht die von der Orthodoxie vorausgesetzte anthropologisch-handlungstheoretische Annahme nicht nur der Anthropologie der Alternative. Vor allem hat der Gedanke der Akteurs-Kausalität im Rahmen der Alternative nur einen Platz innerhalb der Handlungs-Geschichten, während Handeln aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit und mittels des Interaktionismus prinzipiell vollständig unter Rekurs auf persönliche und situative Faktoren verständlich gemacht werden kann. Damit aber scheint auch den Begriffen der Schuld und des Verdienstes im Rahmen der Alternative allenfalls ein Platz im Rahmen der Handlungs-Geschichten zukommen zu können. Nun ist es aber in einem philosophisch anspruchsvolleren Sinne wenig informativ zu sagen, der Zweck einer Praxis sei in einem ihrer Bestandteile – etwa in einem Bestandteil der HandlungsGeschichten – zu verorten. Denn zwar ist zum Beispiel der Zweck der Praxis des Schachspielens in einem Sinne das Schach-Matt-Setzen des Gegners. Aber diese Aussage ist wenig informativ, und der Zweck der Praxis des Schachspielens als Ganzer muss in etwas anderem gefunden werden, etwa im Zeitvertreib, im Spaß oder im Training bestimmter Fähigkeiten. Entsprechend gilt es für die Alternative, vor dem Hintergrund ihrer Anthropologie auch eine alternative Sichtweise auf den Zweck der Zuschreibung von Verantwortung zu entwickeln.⁷⁸

 Es ist sehr wichtig, dass die Suche nach einem Zweck der Praxis der Zuschreibung von Verantwortung, durch den dann das Aufrechthalten und Teilnehmen an der Praxis gerechtfertigt wird, von einem Standpunkt von außenhalb der Praxis vorgenommen werden muss. Denn dies ist die einzige seriöse Möglichkeit der Rechtfertigung einer Praxis, die es überhaupt gibt. Angenommen, es geht um die Gerechtfertigtheit der Praxis der Hexenverbrennung. Aus der Innen-

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Auch wenn es hier nur darum geht zu zeigen, dass die Entwicklung einer ernstzunehmenden Alternative überhaupt möglich ist, kann es in dialektischer Hinsicht hilfreich sein zu erwähnen, dass es in Wirklichkeit die Orthodoxie ist, die sich vor große Probleme gestellt sehen muss. Denn methodisch geht die Orthodoxie so vor, dass sie den Gehalt sprachlicher Zuschreibungen wie „Er ist schuld; er hätte es doch vermeiden können, wenn er sich mehr angestrengt hätte“ rational rekonstruiert. Damit gewinnt sie ein ideales Bild von Verdienst und Schuldhaftigkeit, das in der Umgangssprache nur unrein ausgedrückt zu sein scheint. In Bezug auf die Realisiertheit dieses Bildes von Verdienst und Schuldhaftigkeit droht aber sogleich die Skepsis, wenn gesehen wird, dass doch bei näherer Betrachtung jedes Handeln prinzipiell vollständig unter Rekurs auf persönliche und situative Faktoren verständlich gemacht werden kann; in einem wichtigen Sinne scheint dann eine Person nie anders handeln gekonnt zu haben, als sie tatsächlich gehandelt hat, und entsprechend erscheint jede Zuschreibung von Schuld unfair. Die Alternative nun vermeidet einen derartigen Skeptizismus, indem sie die von Skepsis und Orthodoxie geteilte Methodologie ablehnt, mittels rationaler Rekonstruktion des Gehalts sprachlicher Zuschreibungen ein Ideal zu gewinnen,

perspektive eines an dieser Praxis Teilnehmenden sind die dieser Praxis zugrundeliegenden Werte konstitutiv für die Perspektive – vielleicht etwa die Annahme, dass es so etwas wie Hexen gibt, die eo ipso böse und verbrennens-würdig sind. Entsprechend kann sich aus seiner Perspektive heraus nie ergeben, dass Hexenverbrennung als Praxis nicht gerechtfertigt ist, und positive Rechtfertigungsgründe sind für ihn wenig relevant, weil aus seiner Innenperspektive Hexenverbrennung als Praxis gar nicht zur Disposition stehen kann. Aber von außen betrachtet realisiert eine solche Praxis keine Werte, sondern verletzt im Gegenteil Werte, die man im Kernbereich der Moral zu verorten geneigt sein könnte. In diesem Sinne ist die Praxis der Hexenverbrennung nicht gerechtfertigt, während ihre sofortige Abschaffung gerechtfertigt ist. Dies ergibt sich für jemanden, der die Praxis von außen betrachtet, dessen Perspektive aber durch das Akzeptieren zentraler Werte (wie denjenigen, die man als im Kernbereich der Moral verortet ansehen könnte) konstituiert wird. Nun ist es aber wichtig, dass sich eine solche Sichtweise gleichermaßen für jemanden ergeben kann, der eigentlich Teilnehmer an der Praxis der Hexenverbrennung ist, der sich aber von dieser Praxis und der ihr zugrundeliegenden Wertanschauungen kognitiv distanziert und der sie in diesem Sinne von außen betrachtet.Vor dem Hintergrund anderer Werte, die immer noch seine Perspektive konstituieren, kann er dann etwa erkennen, dass die Praxis der Hexenverbrennung, an der er eben noch teilgenommen hat, moralisch zutiefst problematisch und ungerechtfertigt ist. Er kann dann mit sich selbst in Reine kommen und fortan konsistenter handeln, indem er seine Teilnahme an der Praxis der Hexenverbrennung aufgibt und auf die Abschaffung der Praxis hinarbeitet. Auf eine solche Weise können nie alle Werte auf einmal hinterfragt werden, weil es immer schon der Akzeptanz von Werten bedarf, die die Perspektive (mit‐)konstituieren, aus der etwas bewertet wird. Aber hinterfragt werden kann etwa, ob die Praxis der Zuschreibung von Verantwortung von außen betrachtet gerechtfertigt ist, betrachtet vor dem Hintergrund zentraler Werte wie Gerechtigkeit, Fairness, usw. Um eben die Frage nach einer derartigen Rechtfertigung geht es hier.

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dessen Realisiertheit dann bezweifelt werden kann. Stattdessen wird die Betrachtungsweise gedreht. Dann werden die sprachlichen Zuschreibungen von Verantwortung aus der drittpersonalen Perspektive der Bedeutsamkeit von außen betrachtet. Auf diese Weise kann in Blick kommen, der Realisierung welcher weit geteilten Werte der gemeinsamen Wertewelt die Zuschreibungen dienen. Im Lichte einer wichtigen Einsicht Nietzsches gilt es dabei allerdings, die Aufgabe zu qualifizieren. Wie Nietzsche (in der Genealogie der Moral auf S. 817 f.) hervorhebt, ist die menschliche Praxis der Zuschreibung von Verantwortung nämlich keineswegs eine homogene Einheit, sondern ein vielschichtiges Konglomerat komplex ineinander geschobener Bestandteile, die sich historisch unter den wechselvollsten Einflüssen entwickelt haben. So können in der Praxis moralische Gefühle wie Dankbarkeit und Groll ebenso eine Rolle spielen wie ein gefühltes Ansinnen nach Gerechtigkeit, primitive Bedürfnisse nach Rache, als auch metaphysische Vorstellungen von Schuld, wie sie von den Gedankenkomplexen der jüdischen und christlichen Religion entwickelt worden sind. Die Praxis kann sich entwickelt haben aufgrund des Ineinandergreifens bestimmter Gefühle, weltanschaulichen Gedankenguts, gut gemeinter Sozialreformen und kaltblütiger Machtbestrebungen, möglicherweise überformt durch Effekte soziokultureller Evolution. Im Angesicht der Einsicht Nietzsches liegt es nun nahe anzunehmen, dass die Praxis trotz ihres auf den ersten Blick homogenen Erscheinungsbildes nicht ein einmal zu einem bestimmten Zweck geschaffenes einheitliches Ganzes ist, sondern aus einer Vielschichtigkeit von Faktoren besteht,von denen sich heute einige unter Rekurs auf einen verständlichen Zweck rechtfertigen lassen und andere nicht. So könnte es beispielsweise sein, dass sich heute zwar das Tätigen von Zuschreibungen von Fehlern und richtigem Regelfolgen sowie das Einfordern von Gründen ebenso rechtfertigen lässt wie das Haben positiver moralischer Gefühle wie Dankbarkeit. Andere Teile der Praxis, wie vielleicht Gefühle starker Empörung und die Forderung nach Vergeltung um jeden Preis könnten genetisch aufgrund von Rachebedürfnissen und metaphysisch stark aufgeladenen Konzeptionen von Schuld entstanden sein und sich heute in ihrer Existenz nicht mehr rechtfertigen lassen. Es kann also nie darum gehen, den Zweck der Praxis als Einheit verstanden zu finden, sondern immer nur von Teilen dieses vielschichtigen Konglomerats aus Einflüssen, betrachtet aus der Perspektive der Gegenwart. Gemäß der Alternative kann aber ein sehr entscheidender Zweck einer großen Klasse von Verantwortungszuschreibungen gefunden werden.⁷⁹ Dem Grundge Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte betont werden, dass daraus, dass bestimmte Teile der Praxis der Verantwortungszuschreibung auf die im Folgenden vorgeschlagene Weise gerechtfertigt werden können, nicht folgt, dass alle anderen Teile der Praxis ungerechtfertigt sind. Erstens könnte es sein, dass es noch andere Wege der Rechtfertigung gibt, durch die sich andere

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danken des alternativen Vorschlags nach ist der Zweck derartiger Zuschreibungen von Verantwortung keineswegs, einen Täter mit Blick auf seine Vergangenheit zu richten. Stattdessen ist der Zweck, einen Mitmenschen mit Blick auf seine Zukunft zu verbessern. Wird ein einzelner zur Verantwortung gezogen, erhält er demnach einen Anhaltspunkt, inwiefern seine bisherige gewohnte Handlungsweise aus der Sicht anderer problematisch ist. Die bisherige Handlungsweise hat aber – feinkörnig beschrieben – eine Grundlage in seiner Kognition, nämlich in der bisherigen Ausgestaltung und Ausgebildetheit seiner Akzeptanz-Struktur. Durch die Verantwortungszuschreibungen erhält der einzelne damit die Chance, sich selbst zu ändern und damit seine Handlungsweisen für die Zukunft zu verbessern. In diesem Sinne dienen Verantwortungszuschreibungen der Bildung des einzelnen Menschen, d. h. sie dienen dazu, dass er seinen Charakter bzw. seine AkzeptanzStruktur besser aus-bilden kann.⁸⁰ „Besser“ heißt dabei zum einen, dass der einzelne von seiner Tradition lernen kann, allmählich zu einem Vehikel der Sittlichkeit gemacht wird, und ihm eine Realisierung der Werte der gemeinsamen Wertewelt dann zur Gewohnheit wird. Zum anderen heißt das „besser“, dass eine

Teile der Praxis rechtfertigen lassen.Und zweitens folgt daraus, dass sich ein Teil einer Praxis nicht auf eine solche Weise rechtfertigen lässt, lediglich, dass er nicht gerechtfertigt ist, aber nicht, dass er ungerechtfertigt ist (ebenso, wie daraus, dass eine Person nicht musikalisch ist, nicht folgt, dass sie unmusikalisch ist – es darf hier nicht das konträre mit dem kontradiktorischen Gegenteil verwechselt werden). Daraus alleine, dass ein Teil einer Praxis nicht gerechtfertigt ist, folgt entsprechend noch nicht, dass er ungerechtfertigt ist und aufgegeben werden muss; dazu müsste erst das Aufgeben der Praxis gerechtfertigt werden können. (Beispielsweise könnten die Gründe, die zur Entwicklung bestimmter tradierter Bräuche geführt haben, heute nicht mehr nachvollzogen werden und die Aufrechterhaltung der Bräuche nicht mehr gerechtfertigt werden können, ohne dass deshalb zwingende Gründe bestehen müssen, die Bräuche umgehend abzuschaffen.) – Anders gesagt: Es wird hier nur ein hinreichendes, aber kein notwendiges Kriterium der Gerechtfertigtkeit einer Zuschreibung von Verantwortlichkeit vorgeschlagen. Nur wenn sich herausstellen sollte, dass alle anderen potentiellen Versuche, Verantwortungszuschreibungen zu rechtfertigen, nicht erfolgreich wären, wäre das Vorliegen einer Rechtfertigung in dem hier vorgeschlagenen Sinne notwendig dafür, dass eine Zuschreibung von Verantwortlichkeit gerechtfertigt wäre. –Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Vorschlag auch nicht revisionär: Nur, wenn ein bestimmter Teil unserer Praxis der Verantwortungszuschreibung nicht auf die hier vorgeschlagene Weise gerechtfertigt werden könnte, und wenn sich darüber hinaus keine andere überzeugende Rechtfertigung dieses Teil der Praxis finden ließe, und wenn zudem positive Gründe für seine Revision bestünden, müsste der entsprechende Teil der Praxis geändert werden.  Es sollte betont werden, dass der Vorschlag nicht Existenz von so etwas wie abstrakten Charaktereigenschaften voraussetzt, die dann im Rahmen von Verantwortungszuschreibungen verbessert werden. Stattdessen kann die Akzeptanz-Struktur eines Handelnden als sehr feinkörnig ausgestaltet angesehen werden, und eben dieser Umstand kann zu erklären helfen, warum oft stets neue Verbesserungen und Adjustierungen mit Hilfe von Verantwortungszuschreibungen erforderlich sind.

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allmähliche Aus-Bildung der jeweiligen Akzeptanz-Struktur das je individuelle Projekt der menschlichen Selbst-Konstitution befördert. Schon Hegel betont dabei (in §151 der Rechtsphilosophie) die Relevanz eines derartigen pädagogischen Prozesses der Bildung menschlicher Wesen zu vollwertigen Menschen: „Die Pädagogik ist die Kunst, die Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird.“ Zusammengefasst ergibt sich (Hegel 1830: 543): „Der Mensch ist, was er als Mensch sein soll, erst durch Bildung.“ In seinen Grundzügen kann dieser Prozess der Bildung leicht nachvollzogen werden. Nicht nur wird die Akzeptanz-Struktur des einzelnen nämlich dadurch ausgebildet, dass er unbewusst andere nachahmt und er sich von vornherein mit einer Welt aus Affordanzen konfrontiert vorfindet, die ihn zum Handeln einladen, und in Reaktion auf die seine Akzeptanz-Struktur weiter ausgestaltet wird, wodurch sich ihm wiederum weitere Affordanzen auftun. Durch die Zuschreibungen von Verantwortlichkeit erhält er darüber hinaus einen besonderen Ansatzpunkt zu sehen, dass sein Handeln nicht unbedingt immer die Werte der Gemeinschaft realisiert. Dieser Ansatzpunkt ist deshalb besonders wichtig, weil – nach Aufgabe des Menschenbilds der Orthodoxie – gesehen werden kann, dass Menschen nicht alle Grundlagen und Motive ihres Handelns epistemisch transparent sind. Aufgrund ihrer anderen Perspektive und ihrer im Detail verschiedenen Ausprägung ihrer Akzeptanz-Struktur sind es nun aber die anderen, die Idiosynkrasien und Probleme im eigenen Handeln besonders gut erkennen können. Beispielsweise könnten andere deutlich besser sehen, ob eine Person in ihrem Handeln moralisch problematische unbewusste Vorurteile manifestiert als die Person selbst. Seine Handlungsweisen im Lichte derartiger Verantwortungszuschreibungen zu ändern, kann zwar im Einzelfall schwierig sein und Zeit und Übung erfordern. Aber immerhin der Ansatzpunkt für derartige Änderungen wird durch die Zuschreibungen durch andere bereitgestellt. Damit eine derartige Bildung eines Menschen möglich ist, wird schon vorausgesetzt, dass der zu Bildende wenigstens in einem rudimentären Sinne auf drei Weisen ein rationales Wesen ist. Erstens muss sein Handeln in einem rudimentären Sinne schon die Werte der gemeinsamen Wertewelt realisieren; denn ohne ein grundlegend mit den Erwartungen der anderen übereinstimmendes Verhalten gäbe es nichts, vor dem als Hintergrund eine Abweichung von den Erwartungen als Fehler (und nicht bloß als wirres Chaos) ausgelegt werden kann. Zweitens muss die Person in dem Sinne rational diskutieren können, dass sie selbst gute Gründe finden und die guten Gründe anderer als solche erkennen kann. Und drittens, und dieser Punkt ist neu, muss die Person auch in Bezug auf das Management ihres mentalen Haushalts rational sein. Dies bedeutet, den gegen das

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eigene Handeln angeführten Gründen so offen zu begegnen, dass man aufgrund ihrer dann, wenn es gute Gründe sind, in der Lage ist, seine Handlungsweisen entsprechend zu verändern. Aus hermeneutischen Gründen ist dies nicht trivial: Denn aufgrund angeführter Gründe zu akzeptieren, einen Fehler gemacht zu haben, erfordert geistige Arbeit, da sich schließlich die kritisierte Handlungsweise nicht umsonst erst so entwickelt hat, wie sie sich entwickelt hat. Entsprechend gilt es zu erkennen, dass etwas an einem selbst, an seiner Akzeptanz-Struktur, problematisch ist, und zwar aufgrund von Gründen, die man (als Dründe) überhaupt erst aufgrund anderer Teile seiner Akzeptanz-Struktur akzeptiert. Das Ideal der rationalen Offenheit liegt hier in der Mitte zwischen zwei problematischen Extremen, die man beide als „Willensschwäche“ bezeichnen kann. Das eine problematische Extrem wäre eine zu große Offenheit, bei der sich ein Akteur in opportunistischer Manier von jedem Menschenfänger breitschlagen lässt, sich zu ändern. Das andere problematische Extrem wäre eine zu geringe Offenheit, bei der es ein Akteur trotz des Vorliegens guter Gründe zur Änderung aufgrund seiner geistigen Unflexibiltät nicht schafft, sich zu ändern.Wiederum wird deutlich, dass Rationalität im Verständnis der Alternative nicht eine Eigenschaft mentaler Prozeduren ist, sondern eine Eigenschaft ganzer Menschen. Ein ersten Zweck der Zuschreibung liegt dann darin, dass die AkzeptanzStruktur eines einzelnen so aus-ge-bildet wird, dass durch sein Handeln fortan die Werte der gemeinsamen Wertewelt besser realisiert werden. Durch den Prozess der Bildung werden die Akzeptanz-Strukturen von Personen so ausgebildet, dass die Personen in ihrem aus dieser Akzeptanz-Struktur fließenden Handeln auf unreflektierte Weise die Werte der Gesellschaft realisieren. Der einzelne wird auf diese Weise zu einem Vehikel kollektiver Sittlichkeit gemacht. Und ein zweiter Zweck liegt schließlich darin, dass die Aus-Bildung der eigenen Akzeptanz-Struktur im Anschluss an Verantwortungszuschreibungen einen wichtigen Beitrag zum je individuellen Projekt der menschlichen Selbst-Konstitution leisten kann.⁸¹ Ich möchte dabei vorschlagen, menschliche Selbst-Konstitution als einen dynamischen Prozess aufzufassen. Sie ist das Projekt eines ganzen Lebens.⁸² Selbst-Konstitution hat eine genuin diachrone Dimension, und im Rahmen dieses jeweils lebenslangen Prozesses kommt den Zuschreibungen von

 In diesem Sinne unterscheide ich zwischen einer Rechtfertigung der Praxis der Zuschreibung von Verantwortung, die gegenüber der Gemeinschaft als nach der Rechtfertigung Fragender gegeben werden kann, und einer Rechtfertigung, die gegenüber dem einzelnen Individuum als nach der Rechtfertigung Fragendem gegeben werden kann. Dabei wird gerade nicht behauptet, man könne die eine Art der Rechtfertigung auf die andere reduzieren.  An dieser Stelle besteht eine große Übereinstimmung mit Konzeptionen des Selbst, wie sie vom Pragmatismus entwickelt worden sind; vgl. dazu Menary .

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Verantwortung eine bedeutende Rolle zu. Eine meines Erachtens überzeugende Sichtweise auf menschliche Selbst-Konstitution als das Projekt eines Lebens ist dabei die folgende. Am Anfang steht ein selbst-organisierendes System namens „Mensch“, das sich als natürliches Wesen in bestimmten Umständen vorfindet. Es findet sich gewissermaßen als bereits gemäß einem bestimmten genetischen Bauplan aufgebaut vor, bereits aufgrund einer bestimmten kognitiven Verfasstheit handelnd, bereits an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit und umgeben von bestimmten anderen. Für all diese Dinge hat sich das Individuum nicht entschieden. Vielmehr liegt mit Heidegger die Redeweise nahe, dass diese Umstände etwas sind, in das das Individuum geworfen ist. Somit kann man gewissermaßen sagen, dass die erste Entscheidung eines Individuums determiniert ist durch die Umstände, in die es zunächst geworfen ist. Allerdings ist die kognitive Struktur, mit der ausgestattet sich ein Individuum vorfindet und die sich im Verlaufe früher Sozialisation und Erfahrung ausgebildet hat, alles andere als wohlgeordnet. Um nun diese Struktur kohärenter machen und in größeren Einklang mit der physischer und sozialer Umwelt zu bringen, bedarf sie weiterer Verfeinerung und Aus-Bildung.⁸³ Wiederum sind es hier die anderen, die im Zweifel mehr sehen können. Mittels ihrer Verantwortungszuschreibungen können sie daher wertvolle Ansatzpunkte für das dynamische Projekt der Selbst-Konstitution geben.⁸⁴

 Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte ich betonen, dass sich gemäß meinem Vorschlag das Selbst einer Person konstant durch gute und schlechte Erfahrungen verändert. Mit jeder Erfahrung verändert sich die basale Wertestruktur eines Individuums ein wenig. Es ist also nicht so, dass eine Person die meiste Zeit starr einem vorgezeichneten Weg folgt und ihr Selbst in den wenigen Momenten der Reflexion umgestaltet; jede Erfahrung führt zumindest in einem minimalen Sinne zu einer Umgestaltung des Selbst.  Jeder Teilnehmende an der Praxis der Verantwortungszuschreibungen sollte diese Rechtfertigungen nachvollziehen und vor sich selbst ablegen können. Sofern ein Teilnehmer dabei auf einen Widerspruch stößt – glaubt er etwa an metaphysisch robuste Formen von Schuld und Vergeltung, die er als rationaler Mensch dann aber bei Lichte betrachtet nicht mehr akzeptieren kann –, erhält er hier einen Ansatzpunkt, mit sich selbst in Reine zu kommen, seine widersprüchlichen Überzeugungen neu zu ordnen und fortan konsistenter zu handeln. Somit kann deutlich werden, dass der hier unterbreitete Vorschlag zur Rechtfertigung zentraler Teile der Praxis der Zuschreibung von Verantwortung von sogenannten „Zwei-Ebenen-Theorien“ verschieden ist, wie sie von einigen Konsequentialisten vorgeschlagen worden sind. Die Frage, wie sich eine Praxis für einen Teilnehmer an der Praxis aus der Innenperspektive darstellt, und die Frage, ob die Praxis von außen betrachtet gerechtfertigt werden kann, müssen selbstredend auf das Strengste unterschieden werden. Aber die vorgeschlagene Rechtfertigung sollte von jedem Teilnehmer an der Praxis der Verantwortungszuschreibung nachvollzogen werden können, sofern er sich einmal kognitiv von der Praxis distanziert und sie von außen vor dem Hintergrund anderer, zentraler Werte betrachtet.

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Auch wenn sich im Rahmen der Alternative der Zweck der Zuschreibungen von Verantwortung bei Lichte betrachtet nicht in einer Erkenntnis über Schuld oder Verdienst finden lässt, sollte nun deutlich geworden sein, dass im Rahmen der Alternative in Bezug auf eine große Klasse von Fällen ersichtlich werden kann, inwiefern die Praxis der Verantwortungszuschreibung überhaupt zielführend ist: Sie dient dazu, dem einzelnen einen Ansatzpunkt zur Verbesserung seiner Akzeptanz-Struktur zu geben, so dass er zu einem Vehikel der kollektiven Sittlichkeit gemacht werden und sein Projekt der individuellen Selbst-Konstitution voran treiben kann.

8 Freiheit Die Entwicklung meiner alternativen Sichtweise auf Rationalität ohne Reflexion und auf Verantwortung ohne Kontrolle (im relevanten Sinne) ist nun weitgehend abgeschlossen, aber vom Topos der Freiheit ist bisher noch nicht die Rede gewesen. Das kann überraschen. Denn traditional wird das Thema der Verantwortung als mit dem Thema der Freiheit verbunden angesehen, und man könnte denken, dass eine Handlung nur dann im Raum der Rationalität stehen kann, wenn der Handelnde die Freiheit gehabt hat, richtig oder falsch zu handeln. Genauer gesagt ist etwa die Intuition verbreitet, dass Personen, die geschubst oder bedroht worden sind, nicht frei gehandelt haben und deshalb nicht verantwortlich sein können. Zudem ist die Intuition verbreitet, dass Sollen Können impliziert und ein Akteur nur dann berechtigterweise zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn er anders hätte handeln können als er tatsächlich gehandelt hat. Die Orthodoxie nun kann dem Thema der Freiheit einen zentralen Platz in ihrem Gedankengebäude zuweisen. Denn was gemäß der Orthodoxie entscheidend ist, ist, dass eine zurechenbare Handlung wirklich dem personalen Kern, dem Bewusstsein eines Menschen entstammt. Wird diese Weise des Zustandekommens einer Handlung gestört, dann wird gemäß der Orthodoxie die Freiheit der Person untergraben. Im Lichte der Orthodoxie ist demnach jeder unbewusste bzw. nicht bewusst abgesegnete Einfluss auf das Zustandekommen eines Handelns eine potentielle Bedrohung der Freiheit des Akteurs. Vor diesem Hintergrund steht die

All dies ist selbstredend mit der Wittgenstein’schen Methodologie kompatibel, die Faktizität an die erste Stelle zu setzen. Es ist Teil unserer aufgeklärten Praktiken, dass jede einzelne Praxis kritisch auf ihre Gerechtfertigkeit hin überprüft werden kann (auch wenn es nicht möglich ist, alle Praktiken auf einmal von einem Blick von nirgendwo aus auf ihre Gerechtfertigtheit hin zu überprüfen). Maßstab für die Rechtfertigung sind nicht etwa hinter der Alltagssprache vermutete ideale Theorien, sondern die Werte der gemeinsamen Wertewelt.

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orthodoxe Sichtweise auf Freiheit der Alternative nicht offen: Denn gemäß der Alternative wird Handeln schließlich gerade nicht durch ein bewusst kontrollierendes Subjekt verursacht, und es gibt stets eine Vielzahl unbewusster Faktoren, die einen relevanten Einfluss auf die Interaktion von Affordanz und Akzeptanz nehmen können. Wichtig ist dabei, dass nicht nur inkompatibilistische Theorien von Willensfreiheit mit der Alternative nicht kompatibel sind, sondern auch kompatibillistische.⁸⁵ Der Kompatibilismus, so wie er üblicherweise verstanden wird, teilt nämlich – etwa in der Ausbuchstabierung durch John Martin Fischer – mit dem Inkompatibilismus die Annahme, dass eine Handlung unter der bewussten Kontrolle eines Akteurs zustande kommen muss, nur dass der Kompatibilismus – locker gesprochen – in einer möglichen Determiniertheit dieses bewusst kontrollierten Prozesses kein so entscheidendes Problem sieht wie der Inkompatibilismus. Anders als die Orthodoxie kann die Alternative mithin weder auf inkompatibistische noch auf kompatibilistische Theorien menschlicher Willensfreiheit zurückgreifen, und so stellt sich die Frage, wie die Alternative mit den genannten Intuitionen umgeht, denen gemäß dem Thema der Freiheit eine gewisse Rolle im Zusammenhang mit Verantwortlichkeit zukommt (einmal vorausgesetzt, dass die Intuitionen überhaupt etwas treffen). Auch wenn es an dieser Stelle wiederum nur darum geht zu zeigen, dass es überhaupt möglich ist, eine ernstzunehmende Antwort anzubieten, kann es hilfreich sein zu betonen, dass es gerade die Orthodoxie ist, die sich einigen ernstzunehmenden Problemen ausgesetzt sehen muss. Methodisch geht die Orthodoxie so vor, sprachliche Zuschreibungen der Form „Das war nicht freiwillig – ich bin bedroht worden“ oder „Es ist noch offen, wie ich mich entscheiden werde“ rational zu rekonstruieren und dadurch ein Ideal von Freiheit zu entwickeln. In Bezug auf die Realisiertheit dieses Ideals droht aber sogleich die Skepsis, wenn gesehen wird, dass aus einer anderen Perspektive betrachtet alles menschliche Handeln vollständig durch situative und persönliche Faktoren bestimmt ist. Und darüber hinaus kann argumentiert werden, dass Freiheit im Sinne einer Unbestimmtheit durch persönliche Faktoren sogar eine Zurechnung einer Handlung zu einer verantwortlichen Person unterminieren würde. So schreibt David Hume (1748: 71):

 Dies wird etwa von John Martin Fischer anerkannt. Für Diskussionen der Bedrohung selbst kompatibilistischer Willensfreiheitstheorien durch die am Ende des dritten Kapitels erwähnte Befunde, dass menschliches Handeln oftmals gleichsam automatisch abläuft und entscheidend durch Faktoren der spezifischen Situation beeinflusst ist, siehe Sie & Wouters  und Vargas .

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Actions are, by their very nature, temporary and perishing; and where they proceed not from some cause in the character and disposition of the person who performed them, they can neither redound to his honour, if good; nor infamy, if evil. The actions themselves may be blameable; they may be contrary to all the rules of morality and religion: But the person is not answerable for them; and as they proceeded from nothing in him that is durable and constant, and leave nothing of that nature behind them, it is impossible he can, upon their account, become the object of punishment or vengeance. According to the principle, therefore, which denies necessity, and consequently causes, a man is as pure and untainted, after having committed the most horrid crime, as at the first moment of his birth, nor is his character anywise concerned in his actions, since they are not derived from it, and the wickedness of the one can never be used as a proof of the depravity of the other.

Einerseits scheint es zwar intuitiv zu sein, dass Freiheit als Offenheit der Überlegung eine Offenheit der Kausalkette erfordert; andererseits aber scheint Hume einen guten Punkt zu haben, wenn er sagt, dass ein Handeln eine kausale Verbindung zu dem Handelnden aufweisen muss, damit man es ihm zurechnen kann. All diese Probleme können nun – so der Vorschlag – im Lichte der Alternative aufgelöst werden, indem die Betrachtungsweise herumgedreht wird. Dann wird nicht länger darüber nachgedacht, ob ein durch rationale Rekonstruktion gewonnenes Ideal der Freiheit wirklich realisiert ist; stattdessen wird geschaut, welche Arten von Freiheit de facto zugeschrieben werden und welchem Zweck diese Zuschreibungen dienen. Der Grundidee der Alternative gemäß ist Willensfreiheit weder im kompatibilistischen noch im imkompatibilistischen Sinne für Verantwortlichkeit erforderlich.⁸⁶ Dennoch können auf fruchtbare Weise zwei verschiedene Arten von Freiheit unterschieden werden. Die Praxis der Zuschreibung von Verantwortung von außen betrachtend wird dann deutlich, dass diese zwei Arten ganz unterschiedliche Rollen in der Zuschreibungspraxis spielen. Wie jeweils im Lichte der Alternative erkannt werden kann, tragen diese Rollen dazu bei, den Zweck der thematisierten großen Klasse von Verantwortungszuschreibungen zu erreichen, nämlich die Bildung des einzelnen. Zuerst zu nennen ist die Freiheit des fließenden Florierens. Hinter diesem Konzept verbirgt sich dabei ein interaktionistisches Pendant zur Handlungsfrei Der Klärungs halber: John Martin Fischer verhält sich in seinem Semikompatibilismus neutral zu der Frage, ob Freiheit und Determinismus miteinander kompatibel sind, und behauptet lediglich, dass moralische Verantwortlichkeit mit dem Determinsmus kompatibel ist (Fischer : ). Als die Determinismus-kompatible, Freiheits-relevante Komponente moralischer Verantwortlichkeit bestimmt er dann die guidance control (Leitungskontrolle). Mein Vorschlag lautet entsprechend präziser gefasst, dass auch das Vorliegen von Leitungskontrolle nicht für moralische Verantwortlichkeit erforderlich ist, wenn relevante Teile der faktisch bestehenden Praxis nur genau genug betrachtet werden.

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heit. Positiv gesprochen ist die Freiheit des fließenden Florierens die „Metafähigkeit“, gelingend zu handeln.⁸⁷ Diese Möglichkeit zur gelingenden Interaktion mit der Umwelt erfordert einerseits das Vorhandensein (bzw. das „Zuhandensein“) einer stabilen und gewohnten Umwelt. Andererseits erfordert es eine feine Ausgestaltung der eigenen Akzeptanz-Struktur, die an die Gegebenheiten der Umwelt angepasst ist, so dass sich die Umwelt nicht als fremd und belanglos darstellt, sondern als eine Fülle von Affordanzen.⁸⁸ Für jemanden, der über die Freiheit des fließenden Florierens verfügt, ist sein Handeln vollkommen bestimmt durch seine Akzeptanz-Struktur und die Gegebenheiten der Umwelt. Und auch jemand, der nicht überlegen oder nicht Entscheidungen treffen kann, kann über die Freiheit des fließenden Florierens verfügen. Die Freiheit des fließenden Florierens kann, so wie ich das Phänomen zu analysieren vorschlage, in Analogie zu einer Platonischen Tugend als eine Art Ideal verstanden werden, von dem sich graduell auf verschiedene Weise entfernt werden kann. Zwang und Drohung etwa können den gewohnten Fluss des Handelns stören. Die Umwelt kann sich verändern und, etwa im Falle von Naturkatastrophen, ungewohnt, fremd und feindlich werden. Und auch der Handelnde kann sich verändern, sich verletzen und krank werden. Eine schwere Krankheit unterminiert die Freiheit des fließenden Florierens damit ebenso, wie eine kurzfristige Inhaftierung sie unterminiert. Jeweils ist die gewohnte gelingende Interaktion von Affordanz und Akzeptanz gestört. Nun schlage ich vor, dass im volkspsychologischen Reden über Freiheit in einigen Fällen das Phänomen der Freiheit des fließenden Florierens getroffen wird und dass dies als dem von der Alternative hervorgehobenen Zweck der Verantwortungszuschreibungen dienlich verstanden werden kann. Demnach ist es nur dann sinnvoll, einem gehandelt Habenden zum Zwecke der besseren zukünftigen Ausbildung seiner Akzeptanz-Struktur Verantwortung zuzuschreiben, wenn das Handeln auch wirklich durch seine Akzeptanz-Struktur bestimmt gewesen ist. Insofern stimmt die Alternative hier ganz mit Hume überein. Hat ein vermeintliches Handeln gar keine Grundlage in der Kognition des vermeintlich gehandelt Habenden, ist es demnach sinnlos, der Person Verantwortung zuzuschreiben, weil überhaupt nicht die Notwendigkeit besteht, dass sie ihre Kognition besser ausbildet. Ist eine Person etwa auf eine Vase geschubst worden, die dann zerbrochen ist, so ist es nicht erforderlich, die Person für das Zerbrechen der Vase zur Verantwortung zu ziehen, weil ihr Umgang mit Vasen, zumindest im Angesicht dieses

 Streng genommen handelt es sich dabei natürlich nicht um eine Fähigkeit.  Vgl. die Diskussion von Kontrolle in Kapitel III. Allenfalls in diesem Sinne ist Kontrolle für Verantwortung wichtig.

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einen Ereignisses, keiner Verbesserung bedarf. Genau wie die Orthodoxie kann die Alternative damit einfangen, dass Freiheit in einem Sinne eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung einer Verantwortungszuschreibung ist. Anders als in der orthodoxen Theorie liegt gemäß der alternativen Konzeption der Grund dafür aber nicht in der Metaphysik menschlicher Akteursschaft, sondern in dem pragmatischen Zweck der Praxis der Verantwortungszuschreibungen. Die zweite hier wichtige Art der Freiheit ist die Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens. Dabei handelt es sich um die schon erwähnte rationale Offenheit, sein geistiges Leben im Angesicht von gegen sein Handeln angeführten Gründen zu verbessern und umzu-bilden. Wie beschrieben ist dies nicht trivial, da es gilt, die Leistung zu vollbringen, sich denkend von einem Teil der Grundlagen seines Denkens zu entfremden und diese Grundlagen dann zu ändern – und das, ohne seine fundamentalen Prinzipien zu verraten. Wie bereits in der Diskussion der rationalen Offenheit vorgeschlagen, kann es hilfreich sein, das Phänomen der Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens in Analogie zu einer Aristotelischen Tugend als die Mitte zwischen problematischen Extremen zu verstehen. Zum einen kann eine Person es nicht schaffen, sich selbst treu zu bleiben und zu flexibel in der Umgestaltung ihres geistigen Lebens sein. Zum anderen kann es eine Person nicht schaffen, die nötigen Konsequenzen aus dem Vorliegen guter Gründe zur Änderung ihres Selbst zu ziehen und zu starr in der Umgestaltung ihres geistigen Lebens sein. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass eine geistig derangierte Person in Bezug auf einen Bereich – oder in Bezug große Teile ihres geistigen Lebens – überhaupt nicht die Möglichkeit hat, sich zu ändern. Beispielsweise kann von einigen Psychopathen gesagt werden, dass ihnen in diesem Sinne die Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens abgeht und dass sie durch eigenes Zutun nie die Fähigkeit erwerben können, durch Moral motiviert zu werden. Nun schlage ich vor, dass im volkspsychologischen Reden über Freiheit in einigen Fällen das Phänomen der Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens getroffen wird und dass dies als dem von der Alternative hervorgehobenen Zweck der Verantwortungszuschreibungen dienlich verstanden werden kann. Verfügt eine Person etwa in einem Bereich über gar keine Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens, ist es im Lichte der Alternative auch nicht sinnvoll, sie zur Verantwortung zu ziehen. Denn wenn sie sich in Anbetracht von Verantwortungszuschreibungen nicht ändern kann, ist es auch nicht zielführend, ihr Verantwortung zuzuschreiben. Auf diese Weise wird deutlich, dass es auch im Lichte der Alternative gute Gründe dafür gibt, Psychopathen oder Schlafwandler aufgrund der entsprechenden Unfreiheit ihres Handelns nicht zur Verantwortung zu

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ziehen.⁸⁹ Und ebenfalls verständlich gemacht werden kann, was gemäß der Alternative an der Intuition, dass Sollen Können impliziert, richtig ist. Richtig ist, dass es nur sinnvoll ist, einer Person zuzuschreiben, anders als gesollt gehandelt zu haben, wenn sie sich für die Zukunft ändern kann. Im Rahmen der Alternative gilt daher: Gesollt haben impliziert anders handeln können werden.⁹⁰ Schließlich

 Wenn behauptet wird, Psychopathen seien nicht moralisch verantwortlich, weil ihnen die Einsichtsfähigkeit in das Unrecht ihres Tuns fehle, dann kommt man hier aus Sicht der Alternative auf die falsche Weise zum richtigen Ergebnis. De facto können Psychopathen sehr wohl moralische Normen verstehen, werden aber aufgrund emotionaler Fehlfunktionen nicht dadurch motiviert; vgl. Pickard .  Meine Lösung kann damit auch verständlich machen, warum die Personen in den Frankfurt Cases oder Martin Luther (im (fiktiven) Falle seines „Hier stehe ich und kann nicht anders“) für ihr Tun zur Verantwortung gezogen werden, auch wenn sie in einem metaphysischen bzw. in einem psychologischen Sinne nicht anders handeln konnten als sie es getan haben: Sie können sich so vorgestellt werden, dass sie sich für die Zukunft ändern können, und daher ist es sinnvoll, sie für Handeln zur Verantwortung zu ziehen (im Falle Luthers natürlich nur, insofern es als moralisch problematisch angesehen wird). Zu Illustrationszwecken kann es hilfreich sein, die hier vertretene Sichtweise von Harry Frankfurts einflussreichen Konzeptionen von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit abzugrenzen. Grob gesagt sieht Frankfurt Willensfreiheit in dem Umstand, dass man frei ist, jeden beliebigen Wunsch erster Stufe zu seinem tatsächlichen Willen zu machen (Frankfurt 1971: 24). Dieser Franfurt’sche Ansatz unterscheidet sich wie folgt von der hier vertretenen Konzeption der Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens: Erstens ist für die Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens nicht eine vor dem Handeln liegende Freiheit (zur Ausbildung des Willens) relevant, sondern eine in der Zukunft liegende Freiheit, sich selbst im Lichte gerechtfertigter Verantwortungszuschreibungen zu verbessern. Zweitens wird hier, wie im dritten Kapitel an dem Phänomen der Kontrolle diskutiert, keine meta-volitionale Konzeption vorausgesetzt. Und drittens wird darüber hinaus in der hier vorgeschlagenen Konzeption nicht davon ausgegangen, dass die Annahme der Existenz eines „Willens“ zu Erklärung menschlichen Handelns hilfreich ist (vielleicht basiert eine solche Sichtweise lediglich auf einer sprachlichen Verwirrung, wie in der Diagnose des ersten Kapitels vorgeschlagen, und in jedem Fall würde sie im Lichte der im dritten Kapitel diskutierten Phänomene ein zu mechanistisches Bild menschlichen Handelns (erst Überlegung, dann Ausformung des Willens, dann Körperbewegung) voraussetzen). Für Frankfurt ist Willensfreiheit allerdings nicht notwendig für moralische Verantwortlichkeit (1971: 23 f.). Notwendig für Verantwortlichkeit ist laut Frankfurt stattdessen, dass sich ein Akteur mit seinem Tun identifiziert. Laut dem hier unterbreiteten Vorschlag (der wie gesagt nur beansprucht, einen Teil der komplexen, tatsächlich bestehenden Praxis der Verantwortungszuschreibung zu rechtfertigen) ist es dagegen (für eine gemäß dem hier unterbreiteten Vorschlag gerechtfertigte Zuschreibung von Verantwortlichkeit) notwendig, dass sich ein Akteur in relevanter Weise in der Zukunft ändern kann, d. h. dass er über die Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens verfügt. Obwohl beide Verantwortungs-Konzeptionen viel teilen (etwa die Ablehnung der Notwendigkeit robuster alternativer Handlungsmöglichkeiten zum Zeitpunkt des Handelns) und obwohl sie in den meisten Fällen zu denselben Ergebnissen kommen, kann man sich nun Fälle überlegen, in denen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Erstens kann

8 Freiheit

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kann die Alternative auch verständlich machen, welchen Einfluss es auf Verantwortungszuschreibungen hat, wenn die Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens in Richtung des einen oder des anderen Extrems verfehlt wird. Wird die Freiheit in die Richtung einer zu großen Flexibilität verfehlt, dann – so schlage ich vor, die Phänomene zu analysieren – wird die Stärke der Zuschreibungen von Verantwortung abgeschwächt. Zu sehen ist dies beispielsweise im Falle von Kindern, denen schon Verantwortung zugeschrieben wird, ohne dass sie (normalerweise) mit größtem Nachdruck zur Rechtfertigung ihres Handelns gezwungen würden. Der Grund hierfür liegt gemäß der Alternative darin, dass von Kindern angenommen werden kann, ohnehin schnell zu lernen, so dass gar kein Anlass besteht, mit Nachdruck auf der Falschheit ihres Handelns zu beharren. Genau anders herum sieht es aus, wenn die Freiheit in die Richtung einer zu großen Starrheit verfehlt wird. Identifiziert sich ein Akteur aus tiefstem Herzen mit seinem früheren, moralisch oder anderweitig problematischen Handeln, dann

man sich eine Person vorstellen, die auf Basis moralisch problematischer, unbewusster Vorurteile handelt, mit denen sie sich aber – sobald man sie etwa darauf anspricht – nicht identifiziert. Zudem verfügt diese erste Person über die Freiheit zur Gestaltung ihres geistigen Lebens. Zweitens kann man sich auch eine Person vorstellen, die auf der Basis derselben moralisch problematischen, unbewussten Vorurteile handelt. Im Gegensatz zur ersten Person identifiziert sich diese zweite Person voll und ganz mit ihren unbewussten moralischen Vorurteilen, sobald man sie etwa darauf anspricht. Und im Gegensatz zur ersten Person verfügt diese zweite Person nicht über die Freiheit zur Gestaltung ihres geistigen Lebens. Aus Sicht Frankfurts wäre nun die erste Person, die sich mit ihrem Handeln nicht identifiziert, nicht verantwortlich, während die zweite Person, die sich mit ihrem Handeln voll und ganz identifiziert, verantwortlich wäre. Dagegen beurteilt die Alternative die Fälle der beiden Personen genau andersherum: Es ist sinnvoll, der ersten Person Verantwortung zuzusprechen, da sie über die Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens verfügt und sich ändern kann, während es – zumindest, sofern allein die von der Alternative herausgestellte Art und Weise der Rechtfertigung eines Teils der Praxis betrachtet wird – nicht sinnvoll ist, der zweiten Person, die sich nicht mehr ändern kann, Verantwortung zuzusprechen. Naheliegenderweise wird hier die Auffassung vertreten, dass sich die alternative Beurteilung der Fälle gut rechtfertigen lässt, während dies im Falle der Frankfurt’schen Beurteilung der Fälle nicht der Fall ist. Meine Herausforderungen an den Frankfurtianer lauten daher: Durch was soll es gerechtfertigt werden können, der ersten Person keine Verantwortung zuzuschreiben, wenn eine Zuschreibung von Verantwortung doch dazu führen würde, dass sie fortan nicht mehr auf der Basis der moralisch problematischen, unbewussten Vorurteile handeln würde, ein Umstand, über den die Person im Anbetracht dessen wohl selbst sehr glücklich wäre, dass sie sich selbst in keinster Weise mit diesen Vorurteilen identifiziert? Durch was soll es mit anderen Worten gerechtfertigt werden können, dieser Person hier ihre Chance zur Selbst-Verbesserung zu entziehen? Und durch was soll es gerechtfertigt werden, die zweite Person zur Verantwortung zu ziehen, wenn doch – per definitionem – jede noch so nachdrückliche Zuschreibung von Verantwortung hier nicht dazu führen kann, dass sich die Person ändert?

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wird die Zuschreibung der Verantwortung intensiviert. Denn nun besteht ein Anlass, mehr zu tun und mehr Gründe oder Vorwürfe anzubringen, damit sich selbst der Starrkopf verändert. In Bezug auf jede Person, die im relevanten Bereich überhaupt über die Freiheit zur Gestaltung des geistigen Lebens verfügt, gilt demnach gemäß der Alternative: Je stärker sich ein Akteur nun mit seinem früheren Handeln identifiziert, desto intensiver ist die Zuschreibung von Verantwortung. Anders als es Orthodoxie annimmt, ermisst sich die Stärke der Verantwortungszuschreibungen damit nicht primär am Motiv eines Täters zum Zeitpunkt der Tat, sondern an der Stärke der späteren Identifikation eines Akteurs mit seinem früheren Handelns.⁹¹ Somit wird deutlich, dass auch die Alternative einen Platz dafür hat, dass Freiheit für die Praxis der Zuschreibung von Verantwortung wichtig ist.⁹² Zum

 Ich ziehe meine Gewissheit, dass dies richtig ist, aus Woolfolks et al. () empirischen Untersuchungen, denen gemäß nicht etwa die Frage einer Determiniertheit des Handelns primär für die Intensität einer Zuschreibung von Verantwortung ist, sondern der Grad der Identifikation eines Akteurs mit seiner früheren Handlung. Dabei schließe ich nicht aus, dass noch andere Umstände eine Rolle in der Stärke der Zuschreibung von Verantwortung spielen, etwa die persönliche Betroffenheit des Zuschreibenden, die persönliche Beziehung des Zuschreibenden zum Akteur, usw. Ich habe in diesem Absatz mehrfach davon gesprochen, dass im Lichte der Alternative Gründe dafür gegeben werden können, dass einige Details der Praxis der Verantwortungszuschreibung sinnvoll sind. Damit ist vor allem gemeint, dass vor dem Hintergrund des im letzten Abschnitt hervorgehobenen Zwecks einer großen Klasse der Verantwortungszuschreibungen und im Lichte der Werte der heute anerkannten gemeinsamen Wertewelt Wründe bestehen, dass die Details gut sind. Zumindest teilweise wird sich die Praxis wohl auch kausal aufgrund einer Anerkennung dieser guten Gründe so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt hat. Aber vor dem Hintergrund der erwähnten Einsicht Nietzsches muss zum einen festgehalten werden, dass auch andere Faktoren einen Einfluss in der Genese der Praxis gespielt haben, von einem vielleicht biologisch verankerten Durst nach Rache bis hin zu einer ideengeschichtlich tradierten Metaphysik von Schuld und Verdienst. Und zum anderen muss festgestellt werden, dass die Gründe, die Teilnehmer der Praxis zugunsten der Rechtmäßigkeit der Praxis anführen würden, teilweise durch jene anderen Faktoren beeinflusst sein können. So könnten sie etwa anführen, dass es ihnen ganz einfach intuitiv vorkomme, dass der Mörder die Todesstrafe verdient habe. Es geht mir dabei an dieser Stelle allein darum zu verdeutlichen, dass mein Vorschlag gerade nicht an derartige Intuitionen anknüpft, sondern in einem abstrakteren Sinne an weit geteilte Werte – was dazu führt, dass mein Vorschlag sowohl eine stabile Rechtfertigung mit sich bringt als auch zugleich zu einem gewissen Grade kontraintuitiv ist.  Nur der Abgrenzung halber, und um Verwirrungen zu vermeiden, kann es sinnvoll sein, noch eine dritte Art der Freiheit zu identifizieren, die allerdings für Fragen der Verantwortlichkeit nicht direkt relevant ist. Bei dieser dritten Art handelt es sich um die Freiheit der kreativen Autonomie. Die Freiheit der kreativen Autonomie ist die Freiheit davon, in den Begriffen und Wertanschauungen seiner Tradition gefangen zu sein. Sie ist die Freiheit dazu, ganz neue Begriffe und Werte zu prägen. Freilich entstammt die Metapher der Autonomie, der Selbst-Gesetzgebung, dem politi-

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einen können Verantwortungszuschreibungen aufgrund der Abwesenheit der Freiheit des fließenden Florierens zurückgezogen werden. Und zum anderen kann zugleich im Einklang mit der Orthodoxie gesagt werden, dass Verantwortlichkeit eine geistige Offenheit und Flexibilität erfordert. Aber gemäß der Alternative ist diese Freiheit nicht in einer Entscheidung vor Beginn des Handelns zu verorten, sondern in dem Umgang mit einer Verantwortungszuschreibung nach Abschluss des Handelns.

9 Fazit Gemäß traditioneller Weisheit ist der Mensch das rationale Tier, das für seine Taten verantwortlich ist. Im Lichte orthodoxen Denkens werden die Rationalität und Verantwortlichkeit des Menschen an psychische Voraussetzungen geknüpft, nämlich an das Vorliegen von Reflexion oder Kontrolle (im relevanten Sinne). Doch eine solche Konzeption würde die kognitive Komponente menschlichen Handelns überintellektualiseren und könnte insbesondere nicht der Rationalität des allgegenwärtigen Handelns im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion Rechnung tragen. In diesem Kapitel habe ich daher eine alternative Konzeption entwickelt, dergemäß auch das Handeln im Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion als rational erkannt werden kann. Im Rahmen der Orthodoxie ist Rationalität keine Angelegenheit einer höheren Schicht des Menschen. Stattdessen ist menschliches Handeln durch und durch rational, und der Mensch kann für all sein Handeln verantwortlich gemacht werden. Um diese Lösung zu entwickeln, ist es erforderlich gewesen, in Bezug auf eine Vielzahl von eng verwobenen Themen mit orthodoxem Gedankengut zu brechen. So ist eine Klärung der Methodologie ebenso erforderlich gewesen wie eine Thematisierung des Problems der Zurechnung, eine Diskussion des Problems der Zuschreibung von Fehlern, eine Entwicklung einer alternativen Sichtweise auf das Handeln aus Gründen sowie eine alternative Konzeption des Zwecks von Verantwortungszuschreibungen und der

schen Bereich, und wenn sie in einem neuzeitlichen Sinne auf den Bereich der individuellen Selbst-Bestimmung übertragen wird, droht schnell die Gefahr, einem orthodoxen Subjektverständnis zu verfallen, in dem das Subjekt eine Art eigener Entität ist, die nur bedauerlicherweise in einer bestimmten Tradition steht. Die Schöpfung neuer Werte und Begriffe darf daher nicht als creatio ex nihilo verstanden werden, sondern als ein bloß partielles Ausbrechen aus der Tradition, bei dem vor dem Hintergrund einiger tradierter Grundlagen andere Spielregeln der sozialen Ordnung in ihrer Kontingenz erkannt auf ihre Gerechtfertigtheit hin befragt werden. Positiv gesprochen ist die Freiheit der kreativen Autonomie die Fähigkeit, sich von einigen Denkweisen in althergebrachten Begriffen und Regeln zu verabschieden und neue Begriffe zu prägen.

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Rolle der Freiheit. In dialektischer Hinsicht ist es mir dabei nur darum gegangen aufzuzeigen, dass die Alternative überhaupt eine ernstzunehmende Option darstellt. Zum Schluss zu bemerken bleibt damit nur noch, dass die Alternative dieselbe menschliche Praxis des Anführens von Gründen und der Verantwortungszuschreibungen betrachtet wie Orthodoxie, dabei aber die gesamte philosophische Betrachtungsweise herumdreht. Am Ende bleibt die gewöhnliche Praxis weitgehend wie sie ist, aber ihre philosophische Betrachtung wird auf den Kopf gestellt – oder, genauer gesagt, vom Kopf auf die Füße.

V Fazit Die Aufgabe ist nicht so sehr zu sehen, was noch keiner gesehen hat, als über das, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner gedacht hat. – Arthur Schopenhauer, zugeschrieben in Anlehnung an Parerga und Paralipomena, Band 2, S. 122

Das Mittelreich ist jetzt kein Geheimnis mehr. Seine Wege sind durchwandert, seine Regionen durchquert, eine Landkarte ist erstellt, neue Orientierung gewonnen. Doch es war eine seltsame Reise: Denn zunächst scheint es, als seien Menschen als Handelnde im Mittelreich immer schon zu Hause. Mit größter Gekonntheit verrichten sie schließlich das, was in ihrem Leben das Gewöhnlichste ist, nämlich ihr Handeln zwischen Reflex und Reflexion. Geschwind fangen sie den schwer zu erhaschenden Ball, mühelos ergreifen sie die Türklinge beim Betreten eines Raumes, zielsicher schlagen sie den Golfball, instantan huschen sie durch eine Lücke in einer Menschenmenge, spontan eilen sie zur hilfsbedürftige Person in Not. Nirgends, so scheint es, kennen sich Handelnde so gut aus wie im Mittelreich. Auch, wenn Menschen nun beginnen, diesen unreflektierten Bereich ihres tagtäglichen Tuns zum Thema einer Reflexion zu machen, finden sie sich oft bereits mit einem Kontingent expliziter Meinungen ausgestattet vor, Meinungen, die ihnen vorspiegeln, sie würden sich hier gut auskennen. Unreflektiertes Handeln – das scheint gemäß der expliziten Meinungen des westlichen Denkers klarerweise etwas Reflexhaftes zu sein, stumpf und dumpf, starr und dumm, ein Handeln bloß des Körpers, nicht des Kopfes, getrieben von subpersonalen Mechanismen und äußeren Umständen, nicht kontrolliert durch ein in freier Autonomie selbst entscheidendes bewusstes Subjekt. „Ohne bewusste Kontrolle keine Verantwortung“, gilt gemäß jener expliziter Meinungen gleichermaßen, und „ohne Reflexion über Gründe keine Rationalität“ – entsprechend erscheint das unreflektierte Handeln dann eher als ein artionales Kausal-Ereignis denn als eine rationale, verantwortbare Handlung einer ganzen Person. Zementiert werden diese vorgefundenen Meinungen auch noch durch die Anwendung bestimmter philosophischer Methoden. Versucht man etwa, philosophische Erkenntnis durch eine rationale Rekonstruktion vorgefundener Intuitionen zu gewinnen, dann spiegelt das Ergebnis eines solchen Versuchs am Ende lediglich jene vorgefundenen Meinungen in systematisierter Form wider. Dagegen gelangt man zu einer ganz anderen Sichtweise, wenn man die philosophische Selbst-Besinnung auf die Natur unreflektierten Handelns an jenen vorgefundenen Meinungen und Methoden vorbei noch einige Schritte weiter und tiefer treibt. Dann nämlich wird das zunächst so bekannt und vertraut wirkende

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V Fazit

unreflektierte Tun auf einmal fremd. Wie Schillers Tiefenblick in die menschliche Natur erkannt hat, liegt das unreflektierte Handeln in einem Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion, einem Mittelreich, das sich unmöglich in den traditionellen Kategorien reflexhafter Kausalereignisse und personaler bewusster Handlungen fassen lässt. Zugleich werden Anhaltspunkte sichtbar, die nahelegen, dass unreflektiertes Handeln in Wirklichkeit sehr intelligent ist und dass es Menschen in Wirklichkeit doch als verantwortbar zugerechnet werden kann – etwa, wenn Kleists Ringer für seine spontane unreflektierte Drehung gelobt wird. Entsprechend regt sich der Verdacht, dass die vorgefundenen expliziten Meinungen über unreflektiertes Handeln möglicherweise falsch oder zumindest einseitig sind, und dass Methoden, die jene problematischen Meinungen als legitime Erkenntnisquelle betrachten, gleichermaßen mit Zweifel bedacht werden sollten. Dann jedoch fehlt es an neuen Begrifflichkeiten, um eine mögliche Intelligenz und Rationalität unreflektierten Handelns begreifbar werden zu lassen. Eine erste neue Orientierung im fremd gewordenen Alltäglichen liefern kann nun der Interaktionismus. Auf den Schultern von Intellektualismus und AntiIntellektualismus stehend, aber ihre Probleme und unbedachten methodologischen Vorannahmen vermeidend, schmiedet er neue begriffliche Werkzeuge, die den Phänomenen unreflektierten Handelns wirklich angemessen sind. Unreflektiertes Handeln wird nun bestimmt als die Interaktion von Affordanz und Akzeptanz. Mittels dieser Begrifflichkeiten und mittels einer Vielzahl damit einhergehender neuer begrifflicher Weichenstellungen ermöglicht es der Interaktionismus, zentrale Phänomene unreflektiert gelingenden Handelns reflexiv nachvollziehbar werden zu lassen. Verständlich gemacht werden kann insbesondere die Intelligenz unreflektierten gekonnten Handelns, die nun als das Gelingen der Interaktion von Affordanz und Akzeptanz analysiert wird. Und ebenfalls verständlich gemacht werden kann die Kontrolliertheit unreflektierten Handelns: Weder ist das Handeln „aktiv“ in dem Sinne, dass ein bewusstes Subjekt hier neue Kausalketten schöpfen würde, noch ist es „passiv“ in dem Sinne, dass der Handelnde bloß ein Spielball seiner Umwelt wäre; stattdessen besteht das Handeln in einem solchen direkten Reagieren auf Affordanzen, das durch eine komplex ausgebildete Akzeptanz-Struktur strukturiert und in diesem Sinne kontrolliert ist. Insgesamt bietet der Interaktionismus damit eine Konzeption, die für sich verbuchen kann, ohne die Annahme eines bewussten Subjekts auszukommen, dabei zentrale Einsichten verschiedener großer Denker zu integrieren, und zudem empirisch informiert und anschlussfähig zu sein. Zu einer weiteren Neu-Orientierung im fremd gewordenen Alltäglichen beitragen kann schließlich auch die gerade vorgeschlagene alternative Sichtweise auf Rationalität. Wie zuvor stellt sich das Problem, dass durch die vorgefundenen Meinungen erstens eine solche Sichtweise nahegelegt wird, die den Phänomenen

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unreflektierten Handelns nicht angemessen ist, dass es aber zweitens schwierig ist, eine alternative Sichtweise, die den Phänomenen gerechter werden würde, überhaupt auch nur zu formulieren. Was durch die vorgefundenen Meinungen nahegelegt wird, ist, dass Verantwortung eine Art von bewusster Kontrolle und dass Handeln aus Gründen eine Art von Reflexion erfordert. Was die Alternative hingegen vorschlägt, ist, dass die tatsächlich bestehende Praxis der Zuschreibung von Verantwortung und des Gebens von Gründen reflexiv besser nachvollzogen werden kann, wenn Verantwortlichkeit nicht an Kontrolle und Rationalität nicht an Reflexion gekoppelt wird. Wer entsprechend in einer Reflexion über die Praxis allein auf seine vorgefundenen Meinungen vertraut, kann aus Sicht der Alternative falsche Meinungen darüber haben, was er eigentlich tut, wenn er an der Praxis teilnimmt. In konstruktiver Hinsicht nun werden alternative Denkweisen aufgezeigt, wie auch unreflektiertes Handeln einem Menschen qua Auslegung als Handlungs-Geschichte als verantwortbare Handlung zugerechnet werden kann, und wie sich ein Wert-realisierendes unreflektiertes Reagieren auf Affordanzen als gerechtfertigtes Handeln aus Gründen analysieren lässt. Darüber hinaus lautet ein weiterer zentraler Gedanke der Alternative, dass ein wichtiger und rechtfertigbarer Zweck der Praxis der Zuschreibung von Verantwortung darin liegt, einem Akteur einen Anhaltspunkt zu geben, seine Akzeptanz-Struktur mit Blick auf sein zukünftiges Handeln besser auszubilden. Insgesamt wird menschliches Handeln im Rahmen der Analyse als Interaktion von Affordanz und Akzeptanz als strukturgleich zum tierischen Handeln analysiert; da Menschen aber über eine geteilte Sprache verfügen, eröffnet sich ihnen hier ein völlig neuer Horizont an Möglichkeiten zur Selbst-Vervollkommnung, indem nun jedes Handeln, ob reflektiert oder unreflektiert, in den normativen Raum der Gründe gestellt werden kann. In diesem Sinne ist menschliches Handeln gemäß der Alternative durch und durch rational. – Freilich konnten hier lediglich einige neue Denkwege vorgeschlagen werden, in Bezug auf die noch viele Fragen offen bleiben mussten. Aber zumindest einige der Vorzüge der alternativen Wege sollten bereits in den Blick gekommen sein können. So erreichen etwa der Interaktionismus und die Alternative mit ihrer Konzeption von Rationalität im unreflektierten Handeln zusammen genau das, das zu erreichen Intellektualisten wie McDowell antreibt und das sie zu ihren intellektualistischen Konzeptionen führt – und das aber, ohne irgendeine Form von Überintellektualisierung vornehmen zu müssen, wie sie von Anti-Intellektualisten wie Dreyfus kritisiert wird. Beinahe wäre eine ähnliche Konzeption, wie sie hier vorgeschlagen worden ist, schon in den Blick Schillers geraten. Denn wie beschrieben stand zwar einer adäquaten Analyse des Mittelreichs durch Schiller, seinen Entdecker, Schillers eigene Überzeugung im Weg, moralische Zurechenbarkeit erfordere die Präsenz eines überwachenden bewussten Willens. Doch der hier vorgeschlagene Gedanke,

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das Projekt der menschlichen Selbst-Konstitution bestehe in einer immer weiteren, feineren, schöneren Ausbildung seines Charakters – gewissermaßen seiner Akzeptanz-Struktur – lag Schiller nicht fern. Schließlich beschwört er in seinen Schriften explizit die immer feinere Ausbildung des Charakters eines Menschen, und damit seine „Charakterschönheit, die reifste Frucht seiner Humanität“ (1793: 113). Was in jedem Falle am Ende durch die erneute Reise ins Mittelreich ermöglicht wird, ist Folgendes: Die ursprüngliche Vertrautheit des unreflektierten Handelns, die in der philosophischen Reflexion verloren gegangen ist, wird zurückgewonnen, indem erkannt wird, dass die so ungewöhnlich wirkenden neuen Beschreibungen unreflektierten Handelns am Ende nichts anderes treffen als das Gewöhnlichste in seinem Kern. Verdeckt wird dieses Gewöhnlichste in der Reflexion durch vorgefundene Meinungen und durch auf diesen Meinungen aufbauende Methoden eines vermeintlichen philosophischen Erkenntnisgewinns. Doch dank neuer Begriffe und Denkweisen, deren Maßstab allein die Phänomene und ihre Hintergrund-Bedingungen, nicht aber die vorgefundenen Meinungen sind, kann das Verdeckte wieder-entdeckt werden. Das Gewöhnlichste, das eigentlich immer schon offen daliegt, kann nun mit neuen Augen gesehen werden. Über das, was jeder sieht, kann nun etwas Neues gedacht werden. Für praktische Entscheidungen, ob individuell oder politisch, kann dies große Konsequenzen haben, da sich in diesen Entscheidungen oft an den problematischen vorgefundenen Meinungen orientiert wird anstatt an der treffenderen Analyse menschlichen Handelns, wie sie nun vorgeschlagen worden ist. Aber dies ist nur eine Gebrauchsmöglichkeit dessen, was der intellektuell Heimkehrende von seiner Reise mitbringt: Eines Stücks Selbst-Erkenntnis, einer neuen und vertieften Orientierung in dem, was er tut, wenn er das tut, was er immer tut.

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Personenverzeichnis Alexandrov, Anton IX Alvarez, Maria 18 Anscombe, Elizabeth G. M. 25, 259 Aristoteles VII, 25, 218, 250, 259, 207, 271, 280 Arpaly, Nomy 5, 281 Astington, Janet W. 14 Austin, John 250, 251, 271, 277 Aydede, Murat 28 Bach, Kent 49 Baird, Jodie 14 Banks, Susan 335 Bargh, John A. 28, 59, 205, 197, 199, 229 Baumeister, Roy 174, 229 Baxley, Anne M. 9 Bengson, John 327 Bennett, Maxwell R. 249 Beukeboom, Carniel J. 229 Beyer, Christian IX, 87, 100, 109, 199 Blattner, William 87 Blumer, Herbet 122 Bourdieu, Pierre 27, 30, 110, 121, 153, 155, 156, 158, 163, 167, 233, 243, 242, 278 Bratman, Michael 259 Braver, Lee 103 Bruya, Brian J. 21, 27, 108, 113, 194 Burge, Tyler 17, 27, 71, 157, 158, 276 Carman, Taylor 21 Chemero, Anthony 28, 122, 134, 138, 158 Churchland, Patricia 129 Churchland, Paul 129 Collins, Harry M. 63, 93 Colombetti, Giovanna 328 Conant, James IX, 261 Csikszentmihalyi, Mihaly 21 Dancy, Johnathan 280, 289 Darley, John M. 176 Davidson, Donald 141, 142, 230, 232, 259, 287, 288 Demmerling, Christoph IX, 101, 108, 210

Dennett, Daniel 128, 139, 171, 261, 262, 263 Devitt, Michael 27, 60, 69 Dewey, John 26 Di Nucci, Ezio 230 Doris, John 229, 232 Dreyfus, Hubert VII – IX, 26, 28, 30, 34 – 36, 38, 47 – 49, 70, 77, 79 – 119, 139, 142, 157, 167, 170, 189 – 190, 198, 202 – 204, 210, 212, 225 – 226, 231, 249, 253, 325 Düvel, Eike IX Ellermann, Christina IX Engstler-Schooler 12 Ericsson, K.A. 113 – 114 Federer, Roger 97, 113, 142 – 143, 145, 161, 218 Fischer, John Martin IX, 236, 239, 259, 280, 314 – 315 Fodor, Jerry 42 – 43, 51, 56, 68, 74 – 75, 196 Forstmann, Birte U. 335 Føllesdal, Dagfinn 330 Frankfurt, Harry 196, 258, 318 – 319 Franklin, Anna 146 Frede, Dorothea IX Frege, Gottlob 16 – 17, 34, 44, 51, 92, 181 Gallagher, Shaun 17, 27, 106, 122 Gendler, Tamar Szabó 168, 196 – 197 Gibson, James J. VIII, 28, 30, 119, 121 – 122, 134 – 139, 141, 143 – 144, 147 – 148, 152 – 153, 160, 162, 167, 233, 242, 252 Gierlinger, Frederik IX Ginet, Carl 64, 196 Ginsborg, Hannah 27 Glick, Ephraim 69 Goenka, Satya N. 193 Goldfarb, Warren 251 Goodale, Melvyn A. 57 Grahle, André IX Grünbaum, A.A. 152

340

Personenverzeichnis

Haidt, Jonathan 28, 280 Hart, Herbert L. A. 193, 259 Hassard, John 122 Hassin, Ran R. 27 – 28, 199 Haugeland, John 56 – 57 Hausen, Friedrich IX Heft, Harry 134 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26, 76, 218, 237, 279, 294, 310 Heidegger, Martin VII – VII, 23 – 27, 29 – 30, 34 – 35, 67 – 68, 79 – 81, 83 – 87, 90, 93, 96, 98, 102 – 103, 105 – 106, 109 – 111, 114, 119, 121, 145, 153 – 155, 157, 160 – 161, 204, 233, 237, 242, 259, 268, 277, 286, 290, 293, 312 Hetherington, Stephen C. 188 Hieronymi , Pamela 281 Hume, David 314 – 316 Husserl, Edmund VII, 24, 30, 67 – 67 , 81, 83, 87, 110, 112, 116 , 119, 121, 130 – 140, 143 – 145, 147 – 148, 152 – 153, 155, 162 – 164, 167 – 169, 171, 172, 199, 205, 218, 228, 233, 237, 242, 252, 290, 292 – 293 Hutto, Daniel D. 28, 57, 68, 114, 122, 158, 169, 259, 263 Isen, Alice M.

229

Jeannerod, Marc 27 Jensen, Rasmus Thybo

87

Kane, Robert 280 Kant, Immanuel VIII, 3 – 4, 6 – 10, 12, 14, 18, 22, 24 – 26, 28 – 29, 31, 35, 37 – 38, 73, 76, 78, 96, 111 – 112, 145, 160, 203, 233, 237, 250 – 252, 255, 259 – 262, 271, 273, 294 Katsafanas, Paul 9 Keller, Wilfried IX Kiverstein Julian 328, 333, 336 Kleist, Heinrich von 10 – 15, 21, 24 – 26, 28 – 30, 38, 53, 55, 73, 80, 96 – 97, 100, 233, 324 Knobe, Joshua 277 Koffka, Kurt 91, 136, 143 Korsgaard , Christine IX, 239, 256, 259, 280 Kraft, Herbert 11

Kraft, Tim IX Krause, Roland IX Kripke, Saul 273 Lamarque, Peter 264 Latane, Bibb 176 Law, John 122 Legrand, Dorothée 201 Levin, Paula 229 Lewin, Kurt 134 Locke, John 74, 199 Löwenstein, David IX Mackenzie 263 Malpas, Jeff IX McDowell, John VII, IX, 26 – 29, 31, 35 – 36, 46 – 47, 75 – 76, 83 – 84, 95, 100 – 102, 104, 111 – 112, 116, 118 – 119, 145, 157 – 161, 203 – 204, 211 – 212, 217, 235, 280, 325 McManus, Denis 99 Mead, George Herbert 122, 211 Melcher, Joseph M. 108 Menary, Richard 171, 311 Merleau-Ponty, Maurice VIII, 23, 26 – 27, 68, 79 – 81, 83 – 84, 87 – 91, 94, 98, 101 – 102, 106, 110, 114, 119, 121, 149, 152 – 153, 157, 167, 201, 211, 228, 233, 242, 259 Milgram, Stanley 229 Montero, Barbara 113, 221 – 222 Morsella, Ezequiel 164 Mühlhölzer, Felix IX, 125, 179 Neal, David 28 Nietzsche, Friedrich 96, 250, 261, 278, 308, 320 Nisbett, Richard E. 105, 229, 232, 282 Noë, Alva IX, 59, 107 – 108, 122, 188, 230 Norman, Richard 134 Pacherie, Elisabeth 17, 59 Parfit, Derek 27, 280 Pavić, Adriana IX Pereboom, Derk 280 Pickard, Hanna 318

Personenverzeichnis

Polanyi , Michael 63 Putnam, Hilary 17 Quine, Willard Van Orman

267

Railton, Peter 40 – 41, 52 Ricoeur, Paul 263 Ridderinkhof, Richard 174, 231 Rietveld, Erik 27, 79, 122, 134, 149, 164, 174 Robbins, Philip 28 Romdenh-Romluc, Komarine 87 – 90, 167 Rosch, Elenor 122 Ross, Lee 106, 229, 232 Rucinska, Zuzanna IX Ryle, Gilbert 27 – 28, 33 – 36, 40 – 42, 48, 54, 58, 65, 80, 93, 103, 200, 218 Scanlon, Thomas M. 280 Schechtman, Maria 263 Schiller, Friedrich VII, XI, 1 – 10, 12 – 15, 18, 22, 24 – 25, 56, 62, 73, 94, 96, 164, 191, 211, 225, 233, 235, 237, 255, 324 – 326 Schooler, Jonathan W. 12, 108 Schopenhauer, Arthur 323 Schwabe, Lars 218 Searle, John 81, 83, 85, 87, 104 – 105, 108, 111, 116, 145 Selinger, Evan 122 Setiya, Kieran 18 Shaw, Robert E. 140 Sher, George 257, 265 Siderits, Mark 294 Sie, Maureen IX, 314 Spiegel, Bernt 21 Stanley, Jason VIII, 27 – 29, 32, 35 – 36, 38 – 52, 54, 56, 58 – 59, 61 – 67, 69 – 80, 82 – 85, 87, 89, 92 – 93, 98 – 99, 103, 110, 112 – 113, 116 – 117, 119, 142, 155, 186, 196, 203, 212, 217, 225 – 226, 249, 252

341

Stanovich, Keith E. 197, 282 Steinfath, Holmer IX Stoecker, Ralf 259, 268 Strawson, Galen 263, 266 Taylor, Charles 81 Thagard, Paul 157 Thomas von Aquin 25, 256, 259, 280 Thompson, Evan 122 Thompson, Michael 17, 259 Toribio, Josefa 57 Turvey, Michael T. 140, 201 Varela, Francisco 122, 160 Vargas, Manuel 314 Velleman, David 9, 94, 270 – 271, 294 Vetter, Barbara 42 Wallace, David Foster 97 Wallis, Charles 27, 58, 59 Wegner, Daniel 28, 59, 105, 107, 197, 199 Weichold, Martin IX, 109, 179, 183 Wells, Andrew J. 134 Wheeler, Michael 28, 83, 114, 157, 169, 170, 259 Williamson, Timothy 27, 35, 38, 59, 64 – 65, 69, 167, 189, 293 Wittgenstein, Ludwig VII, 26, 30, 33, 38 – 39, 53, 67, 70 – 73, 78, 81, 110, 117, 119 – 121, 123 – 127, 129 – 130, 147, 152, 161, 169, 175 – 176, 179, 181 – 183, 188, 206, 208, 210 – 211, 226, 233, 236 – 237, 242 – 243, 250 – 252, 254, 261 – 263, 266 – 269, 271, 279, 290, 313 Wolf, Oliver T. 218 Wood, Wendy 28 Woolfolk, Robert L. 320 Worthmann, Hannes IX Wouters, Arno 314

Sachverzeichnis Absicht 14, 17 – 18, 103 – 104, 123 – 127, 129 – 130, 141, 173 – 178, 229, 236, 268 – 269, siehe auch Projekt-Kontrolle – verschiedene Begriffe der 16 – 20, 176 – 178 – als Akzeptanz-Struktur-Modifikation 173 – 178 – bei Wittgenstein 120 – 131, 268 – 269 Affordabilität 143 – 145, 147, 149 – 151, 164, 168 Affordabilitäts-Struktur 145 – 146, 150 – 151, 154 Affordanz 30, 134 – 136, 136 – 234, 243 – 248, 252, 265 – 269, 275 – 278, 285 – 289, 292 – 293, 295 – 297, 302 – 304, 310, 314 – 316, 324 – 325 – apriorisches Plusquamperfekt der 157, 207 – vorgestellte 167 – 173, 194, 201, 209, 221 – 222 – wirkliche 148 – 149, 163 – 164 Affordanz und Akzeptanz, Interaktion von 162, 166 – 167, 182, 185, 198, 200, 217, 228, 265, 275 – 276, 304, 314 – 316, 324 – 325 Affordanz-Landschaft 166, 245, 293 Affordanz-Struktur 148 – 150, 153, 163, 276 Akteurs-Kausalität 243, 246 – 247, 259 – 265 Aktiv-Passiv-Unterscheidung 165, 192 Akzeptabilität 144 – 146, 150 – 152, 208 – 210, 215 – 216 Akzeptabilitäts-Struktur 151 – 152 Akzeptanz 136 – 143, 144 – 145, 147 – 167, 181 – 183, 198 – 200, 210 – 211, 217, 220, 225, 228, 231 – 232, 300, 304 – apriorisches Perfekt der 153, 155, 157 – wirkliche 150, 164 Akzeptanz-Struktur 141, 148 – 160, 164, 168 – 169, 172 – 178, 181 – 187, 191 – 195, 198, 200, 206 – 207, 212 – 224, 227 – 228, 230 – 234, 244, 248, 252, 269, 278, 285 – 286, 292 – 293, 297 – 298, 309 – 313, 316, 324 – 326 Akzeptanz-Struktur-Integration 152 – 153

alief 196 – 197 allgemeine Menschenvernunft 250, 294 Anmut (Schiller) 5 – 11 Anti-Intellektualismus 78 – 119, 119 – 123, 214 – 233 – und Bewusstsein 104 – 107 – und Expertise 112 – 114 – und Intelligenz 100 – 103 – und Kognition 110 – 112 – und Kontrolle 103 – 104 – und Lernen 112 – und Regeln 98 – 100 – und Sprache 107 – 110 Anti-Luminosity 293 Anwendungsmechanismus 43, 61 Askriptivismus (in Bezug auf Handlungen) 268 Aufforderung 55, 84, 87 – 90, 107, 110 – 112, 132 – 148, 142 – 159, 206, siehe auch Affordanz, siehe auch Handlungsaufforderung Auslegung 109, 264 – 268, 271 – 277, 286, 325 Autonomie im Handeln 195, 320 Bedeutung 96 – 97, 109 – 111, 116, 132, 154 – 159, 161, 182 – 183, 207 – 211 begriffliche Fähigkeiten 26, 203 – 204, 206 – 212, vergleiche Sprache begrifflicher Rahmen 71 – 73, 81 – 83 bewusstes Subjekt 157, 198, 227, 286, 324 Bewusstsein 10 – 15, 58 – 59, 94 – 98, 100 – 101, 104 – 107, 110, 116 – 117, 136, 140 – 141, 171 – 174, 196 – 201, 212 – 213, 221 – 228, 239 – 243, 247, 256, 273, 301 – und Anti-Intellektualismus 104 – 107 – und Intellektualismus 58 – 59 – und Interaktionismus 197 – 201 Bewusstseinsfähigkeit 59, 198 – 199, 212, 221 – 222 Bild (Methode) 73 – 78, 116 – 119, 124 – 130 Bildung 309 – 313 Buddhismus 83, 193

Sachverzeichnis

coping 34, 79 – 80, 84 – 110, 114 – 119 – absorbed coping 80, 91, 95 – skilful coping 85 Dafür-Sprechen 285 – 288, 296 de re Wissen 39, 44 de se Wissen 39, 43, 58 Default-and-Challenge Modell 276 Deskriptivismus (in Bezug auf Handlungen) 268 Diskursive Gründe, siehe Dründe drittpersonale Perspektive der Bedeutsamkeit 131 – 134 Dründe 296 – 298, 303 – 305, 311 Dual-Process-Theorie 114, 167 Dualismus 81 – 82, 85 – 86, 100, 102 Erwartung 244 – 247, 274 – 278, 300, 306, 310 Experte 21, 45, 61 – 66, 82, 97, 100, 113, 120, 220 – 223 Expertise 63 – 66, 97 – 98, 112 – 114, 187, 219 – 225 – und Anti-Intellektualismus 112 – 114 – und Intellektualismus 63 – 66 – und Interaktionismus 219 – 225 Faktenwissen 27, 33, 39, 45 – 46, 51 – 54, 62 – 63, 93, 184, vergleiche Wissen-Dass faktische Gründe, siehe Fründe Faktizität 250 – 252, 255, 279, 283, 312 – 313 Fehler 116 – 117, 160 – 161, 221 – 222, 244 – 245, 273 – 279, 286, 299, 306, 308, 310 – 311, 321 Flow VII, 21, 24, 27, 34 – 36, 64, 85 – 88, 97, 103 – 108, 112 – 113. 220 – 224 Frankfurt-Fälle 318 – 319 Freiheit 5, 10, 164, 241, 246, 259, 313 – 322 – der kreativen Autonomie 320 – des fließenden Florierens 315 – 316, 321 – zur Gestaltung des geistigen Lebens 317 – 318 Fründe 285 – 287, 288 – 305 Fründe-Landschaft 293 Fundamentalität (Dreyfus) 86 – 88, 92

343

Gehalt 17 – 18, 39 – 57, 62, 66 – 67, 145, 169 – 170, 196 – 197, 232, 242, 247 – 249 Geist 23 – 26, 33 – 41, 45 – 47, 66 – 86, 96 – 97, 100 – 102, 110, 115 – 130, 135, 138 – 140, 157 – 161, 190, 212 – 214, 243, 249, 280 – 281, 294 Gestaltpsychologie 134 – 137, 143 – 144 Gewohnheit 21, 173, 218 – moralische 4, 218, 291 – 294, 309 – 310 Grazie (Schiller) 5 – 12 Gründe im Handeln VII – IX, 22, 24 – 26, 31, 234 – 242, 245 – 249, 255, 257, 274, 276 – 277, 280 – 325, siehe auch Fründe, Wründe, Sründe, Tründe, Pründe, Dründe – als Considerations 303 – bei Davidson 287 – 288 Grundierung 245, 284 – 287, 295 – 297 guiding propositional states 35, 82 Habitualisierung 218 Habitus 169 Handeln 1 – 326 – aus Gründen VII – IX, 22, 24 – 26, 31, 234 – 242, 245 – 249, 255, 257, 274, 276 – 277, 280 – 325 – bewusstes 10 – 13, 58 – 59, 103 – 107, 190 – 201, 212 – 214, 219 – fahrlässiges 257 – fehlerhaftes 244 – 245, 272 – 279, 300 – gekonntes VII, XI, 2 – 3, 5, 10 – 13, 18 – 30, 35 – 132, 153, 166, 179 – 180, 183 – 184, 186 – 188, 190, 196 – 202, 213 – 214, 219 – 224, 233, 323 – 324 – gelingendes 92, 113, 138, 166, 185, 193, 316, 324 – intelligentes VII – IX, 1 – 32, 33 – 35, 39 – 40, 42 – 45, 51 – 54, 185 – 190, 217, 324, – mentales 50, 193 – rationales VII – IX, 22, 24 – 26, 31, 234 – 242, 245 – 249, 255, 257, 274, 276 – 277, 280 – 325, siehe auch Wründe – unbewusstes 53, 94 – 96, 103 – 107, 190 – 201, 212 – 214, 219 Handlung – als Narration 262 – 267

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– im Sinne der Orthodoxie 18, 238 – 241, 256 – 258 – Unterschied zwischen Handeln und Handlung 258 – 260, siehe auch hybride Handlungstheorie Handlungs-Geschichte 207, 244 – 247, 263 – 268, 275 – 276, 288, 300 – 302, 306, 325 Handlungsaufforderung 84, 90, 97, 110 – 112, 132, 135, 138, 144, 148 – 152, 156, 159, 164, 174, 199, siehe auch Affordanz Handlungsgelegenheit VII, 135, 138, 144, 166, siehe auch Handlungsmöglichkeit, siehe auch Affordabilität Handlungsmöglichkeit 90, 96, 135 – 138, 140, 143, 148, 150 – 152, 205 – 209, 318, siehe auch Affordabilität Hasen-Enten-Kopf 244, 261 – 262 Hintergrund-Bedingungen 30, 110, 125, 138, 149 – 152, 210, 213 – 214, 267, 293, 299 Homunkulustheorie 75, 102 hybride Handlungstheorie 243, 258 – 261, 271 Inkompatibilismus 313 – 314 Intellektualismus 33 – 77, 119 – 123, 189 – 190, 201 – 203, 214 – 233 – und Bewusstsein 58 – 59 – und Expertise 63 – 66 – und Intelligenz 51 – 54 – und Kognition 61 – 62 – und Kontrolle 54 – 58 – und Lernen 62 – 63 – und Regeln 48 – 51 – und Sprache 59 – 60 intellektualistische Legende 33 – 34 Intelligenz 27 – 33, 51 – 54, 93 – 94, 100 – 103, 184 – 190, 33 – 77, 78 – 119 – körperliche 78 – 119 – praktische 120 – 235 – und Anti-Intellektualismus 100 – 103 – und Intellektualismus 51 – 54 – und Interaktionismus 184 – 190 intention in action 17, 36, siehe auch Absicht Intentionalität (im Sinne von Gerichtetheit) 23 – 26, 90, 157 – 161, siehe auch MotorIntentionalität

Interaktion 162, 166 – 167, 182, 185, 198, 200, 217, 228, 265, 275 – 276, 304, 314 – 316, 324 – 325 Interaktionismus 120 – 235, 224 – 235, 246, 252, 258, 303 – 306, 324 – 325 – und Bewusstsein 197 – 201 – und Expertise 219 – 225 – und Intelligenz 184 – 190 – und Kognition 212 – 214 – und Kontrolle 190 – 197 – und Lernen 214 – 219 – und Regeln 179 – 184 – und Sprache 202 – 212 Interaktionsdichte 166, 220 – 223, 234 Interaktionsgeschehen 121, 165 – 166, 234 Interaktionstiefe 166, 185, 217, 221 – 223, 234 Intuitionen (Methode) 53, 66 – 69, 72 – 73, 118, 188, 227, 239, 246 – 255 kausale Gründe, siehe Kründe Knowing How, siehe Wissen-Wie Knowing That, siehe Wissen-Dass Kognition 16 – 18, 24, 28, 30, 61 – 62, 70, 88, 96, 110 – 111, 125 – 126, 162 – 163, 178, 212 – 214 – höhere 82, 84 – 88, 178, 231 – und Anti-Intellektualismus 96, 110 – 112 – und Intellektualismus 61 – 62 – und Interaktionismus 212 – 214 Kompatibilismus 314 – 315 Kontemplieren 93 – 94, siehe auch Reflexion Kontrolle 10, 31, 43, 54 – 56, 90, 94, 103 – 104, 121, 190 – 197, 228, 235 – 242, 255 – 256, 270 – 273, 313 – 318, 323 – 325 – und Anti-Intellektualismus 103 – 104 – und Intellektualismus 54 – 58 – und Interaktionismus 190 – 197 Körpergefühl 153 Körperliche Intelligenz 78 – 119 Kründe 287, 288 – 290, 295 – 296, 302 – 305

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Lebensteppich 261 – 265, 268 – 272, 275 – 276, 300 Lernen 62 – 63, 93 – 96, 110 – 112, 151, 214 – 219, 286, 293 – 294 – und Anti-Intellektualismus 112 – und Intellektualismus 62 – 63 – und Interaktionismus 214 – 219 linguistischer Fehlschluss 66 – 71, 76 mark of the mental 212 mentale Situation 145, 167 – 173, 182, 194 – 195, 201, 209, 216, 221 – 224, 303 – 304 mentaler Zustand 39 – 57, 61 – 62, 66, 69 – 76 Meta-Bewusstsein 11, 58 Meta-Ethik 289 – 290 Mittelreich zwischen Reflex und Reflexion 1 – 32, 33 – 326 mögliche Affordabilität 151 mögliche Affordanz, siehe Affordabilität Motivationsbeziehung 131 – 138, 171 – 172, 292 – 293 Motor-Intentionalität 80 – 81, 90 Mythos des Gegebenen 111 – 112, 118, 211 – 212 Nachahmung 21 – 22, 62, 214 – 219, 286, 293 – 294, siehe auch Lernen Narration 31 81, 262 – 267 Narrativität 263, 266 Normativität 88, 239 – 240, 245, 253 – 254, 272 – 280, 285 – 288 – normativer Druck 180, 276, 286, 287, 304 – Normativität guter Gründe 288 – 301 – Richtigkeits-Normativität 272 – 279 Oberflächenstruktur der Grammatik 124, 126, 147, 165, 229, 296 Objektivismus, in Bezug auf Gründe 304 – 305 offline cognition 170 online cognition 170 Ontologie 146 – 147 Ordinary Language Philosophy 31, 91, 237, 250

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orthodoxe Handlungs-Konzeption, Probleme der 256 – 258 orthos logos 185 personale Identität 74, 263 personales Bewusstsein 137, 140 Perspektivismus 228, 261 – 262, 268, 271 pervasiveness thesis (McDowell) 101, 204 phänomenologischer Fehlschluss 115 – 116 Phronimos VIII, 20, 174, 185, 191 – 192, 218, 248, 280 – 281, 291 – 294 Pragmatismus 171, 311 praktische Intelligenz, siehe auch Intelligenz – und Absichten als Akzeptanz-Struktur-Modifikation 173 – 178 – und Affordanz und Affordabilitä 143 – 147 – und Affordanz und Akzeptanz 136 – 143 – und Affordanz-Struktur und AkzeptanzStruktur 148 – 152 – und Affordanzen 134 – 136 – und Akzeptanz-Struktur-Integration 152 – 153 – und das apriorische Perfekt der Akzeptanz Struktur 153 – 157 – und das apriorische Plusquamperfekt der Affordanzen als Grundlage der Intentionalität 157 – 162 – und Handeln als Interaktion von Affordanz und Akzeptanz 162 – 167 – und vorgestellte Affordanzen 167 – 173 Pro-Einstellung 141 Projekt 16 – 21, 55, 140 – 141, 148 – 152, 174, 177 – 178 Projekt-Kontrolle 16 – 18 Proposition 39 – 48, 87 – 92, 295 – 296 Propositionale Gründe, siehe Pründe Propositionale Intelligenz 33 – 77 propositionales Wissen 35 – 36, 40 – 45, 53 – 55, 58, 62 – 63, 77 Pründe 295 – 296, 303 – 305 Rationalität VIII – XII, 14 – 15, 29 – 31, 26, 76, 112, 162 – 163, 236 – 322, 323 – 325 – im unreflektierten Handeln 236 – 322 – Orthodoxie in Bezug 280 – 283 Raum der Motivationen 228

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Reagieren auf Affordanzen 90, 137, 145, 156, 163, 165, 167, 171, 176, 181, 269 Realismus in Bezug auf Affordanzen 140, 143, 160 reflektiertes Handeln – im sehr weiten Sinne 19, 21 – 24, 120, 177 – im weiten Sinne 19, 177 – im engen Sinne 19, 26, 46 Reflex VII, 1 – 15, 16, 46, 110 – 111 Reflexion VIII, 1 – 6, 8 – 11, 113 – 114, 167 – 169, 170 – 173, 178, 200 – 201, 301 – 303, 323 – 326, siehe Überlegung – und Expertise 224 – und Interaktionismus 222 Regelfolgen 48 – 52, 87, 99, 175, 179 – 184, 272 – 297, 286, siehe auch Regeln – unreflektiertes 99, 179 – 184 – verkörpertes 181 Regeln 33 – 35, 40 – 43, 48 – 54, 62 – 63, 87 – 88, 92 – 94, 98 – 103, 115 – 116, 174 – 185, 214 – 219, 272 – 279, 286 – und Anti-Intellektualismus 98 – 100 – und Intellektualismus 48 – 51 – und Interaktionismus 179 – 184 Reiz (Husserl) 132 – 134, 138 – 139, 148 – 150, 162 – 168, 174 – 175 Reizstärke (Husserl) 131, 133 – 134, 164 Repräsentation VII, 28, 56, 71, 87, 145, 157 – 161, 169 – 170, 253, 304 Repräsentationalismus 157, 160 res cogitans 81 – 82 res extensa 81 – 82 Schichten-Modell 84 – 86, 90 – 119, 202, 204, 209, 212, 228, 280 – 284, 301 schöne Seele 4 – 5 Schuld 7 – 9, 31, 239 – 241, 246, 259 – 260, 277, 306 – 308, 312 – 313, 320 Selbst 312 Selbst-Bewusstsein 14, 73, 94, 101, 106 – 107 Selbst-Bild 5, 13, 115 Selbst-Konstitution 246, 248, 310 – 313, 326 Selbst-Reflexion 99, 114, 220 – 224 Selbst-Wissen 36, 120, 222, 229

semantische Analyse (Methode) 35, 42, 45, 66, 225 – 226 Sinnesdatentheorie 111, 154, 211 Situationismus 229 – 232 Skeptizismus – in Bezug auf Freiheit 313 – 315 – in Bezug auf Normativität 272 – 274 – in Bezug auf Rationalität 280 – 283, 236 – 237 – in Bezug auf Regelfolgen 273 – in Bezug auf Verantwortung 306 – 308 – in Bezug auf dieVolkspsychologie 270 – 271 Skripte 174 Sollen und Können 246 – 247, 313 soziale Praxis 31, 163, 253 – 254 Sozialer Externalismus VIII, 161, 244, 259, 278 – 279 Spezies-Affordabilität 151 Sprache 59 – 61, 68 – 74, 95, 107 – 110, 115, 146 – 147, 171 – 173, 182, 188, 202 – 212, 217, 242 – 243, 249 – 255, 271, 283, 290, 295 – 296, 325 – und Anti-Intellektualismus 107 – 110 – und Intellektualismus 59 – 60 – und Interaktionismus 202 – 212 sprachliches Zeichen 107, 182, 207 – 208 Sründe 295, 303 – 305 sub-personaler Mechanismus 61 – 62 Subjekt-Objekt-Denken 131 – 132, 137 – 139 Subjektivismus, in Bezug auf Gründe 304 – 305 szientistischer Grund, siehe Sründe tacit knowledge 63, 214, 218 – 219 Taschenspielerkunststück 33, 71, 78, 117, 120, 226 Theorie und Praxis, Verhältnis von 85 – 86 Topologie der Gründe 290, 301 – 306 Transformationsmodell 203 – 204, 209, 212, vergleiche dagegen Schichten-Modell treffende Gründe, siehe Tründe Tründe 298 – 301, 303 – 305

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Überlegung VIII, 1 – 6, 8 – 11, 113 – 114, 167 – 169, 170 – 173, 178, 200 – 201, 301 – 303, 323 – 326, siehe Reflexion Überzeugung 45, 58, 62, 130, 188, 196 – 197, 232, 240, 245, 287 – 288, 297 – 298, 303 Umwelt 55, 86, 90, 96, 107 – 110, 131, 138, 142, 154, 157 – 162, 190, 192 – 193, 197 – 202, 209 – 218, 228 – 234, 241, 243, 248, 258, 264 – 266, 316, 324 Unterlassen, unabsichtliches 14, 257 Unzuhandenheit, siehe Zuhandenheit Verantwortung 24, 31, 76, 195, 234, 237 – 258, 262, 268 – 269, 277, 280, 300, 306 – 325 Verdienst 240, 306 – 307, 313, 320 Vernunft 6 – 10, 162 – 163, 233 – 234, 249 – 250 Volkspsychologie 25, 68, 74, 129 – 130, 260 – 272 – Rolle der Volkspsychologie jenseits von Realismus und Skeptizismus 270 – 272 Vor-Strukturiertheit der Welt 154 Wahrnehmung 26 – 28, 112, 128, 137, 139, 146, 155, 158, 160 – 161, 209, 211, 277, 290 – 291 Weltbereicherung 215, 219

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Wert 288 – 294 – motivierender 286 – 287 wertbezogene Gründe, siehe Wründe Werturteil 286, 293 Wille 1 – 32, 67 – 68, 81 – 82, 94 – 96, 164, 191 – 193, 233 – 234, 239, 242 – 243, 249, 318 Willensfreiheit 59, 241, 280, 314 – 318 Willensmetaphysik 9 – 10 Willensschwäche 193, 195, 311 Willensstärke 174, 192 – 193, 195 Wissen-Dass 26 – 27, 33 – 40, 71 – 73, 79 – 80, 86, 187 – 188 Wissen-Wie 26 – 27, 33 – 40, 42 – 47, 49, 57 – 66, 70 – 71, 73, 79 – 80, 85, 87, 187 – 188, 300 Wründe 288 – 294, 295 – 296, 300 – 305, 320 Zuhandenheit 102, 109 – 111, 316 Zurechenbarkeit 6 – 15, 30 – 32, 234 – 235, 240, 255 – 272 Zurechtkommen 80, 84 – 110, 114 – 119, siehe auch coping Zweck (von Verantwortungszuschreibungen) 306 – 313