Zwischen Literatur und Anthropologie: Diskurse, Medien, Performanzen 3-8233-6144-9

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Zwischen Literatur und Anthropologie: Diskurse, Medien, Performanzen
 3-8233-6144-9

Table of contents :
Front......Page 1
Errata......Page 6
Inhaltsverzeichnis......Page 10
Vorwort (Assmann, Gaier, Trommsdorff)......Page 12
I. Drei Forschungsprogramme......Page 14
1. Zusammenfassung......Page 16
2 Stand der Forschung......Page 18
3.1 Institutionelle Voraussetzungen und Konsequenzen......Page 25
3.2 Eigene Vorarbeiten: Forschergruppe „Konstitution und Funktionfiktionaler Texte"......Page 26
3.3 Eigene Vorarbeiten: Kolloquien: Vortrags- und Diskussions-Veranstaltungen......Page 28
4 Ziele, Arbeitsprogramm......Page 30
Bibliographie......Page 32
1. Zusammenfassung......Page 34
2. Stand der Forschung......Page 35
3. Institutionelle Voraussetzungen und Konsequenzen; eigene Vorarbeiten......Page 42
4. Ziele, Arbeitsprogramm......Page 47
4.1.1 Anthropologische Wesensbestimmungen, Spezifika und Charakteristika......Page 48
4.1.2 Formal- und Regionalanthropologie......Page 49
4.1.3. Anthropologische Fundamentalien und kulturelle Konstrukte......Page 50
4.1.5. Literatur und Diskurs......Page 53
4.1.6. ,,Diskurs" als Modell kultureller Konstruktion......Page 55
4.1.7. Beispiele für die semantische und pragmatische Dimension der kulturellen Konstruktion anthropologischer Diskurse.......Page 56
4.2. Forschungsfelder......Page 58
4.2.1. Die in der kulturellen Konstruktion aktualisierten anthropologischen Fundamentalien (Charakteristika und Spezifika)......Page 59
4.2.2. Die semantische Dimension der kulturellen Konstruktion anthropologischer Fundamentalien (Ordnung der semantischen Felder nach Gegenstandsbereichen......Page 60
4.2.3. Die pragmatische Dimension der kulturellen Konstruktion vonanthropologischen Fundamentalien......Page 61
5. Bibliographie......Page 65
1. Zusammenfassung......Page 72
2. Stand der Forschung......Page 73
3. Ziele, Methoden, Arbeitsprogramm......Page 83
4. Bibliographie......Page 86
II. Diskurse......Page 90
I.......Page 92
II.......Page 94
III......Page 99
IV.......Page 103
V.......Page 105
VI.......Page 109
VII.......Page 113
VIII.......Page 114
IX.......Page 115
X.......Page 117
XI.......Page 118
XII.......Page 120
1.......Page 122
2.......Page 127
3.......Page 132
4.......Page 139
5.......Page 140
Groh: Theologische und philosophische Voraussetzungen der Rede vom Buch der Natur......Page 144
Groh: Die Entstehung der Schöpfungstheologie oder der Lehre vom Buch der Natur bei den frühen Kirchenvätern in Ost und West bis zu Augustin......Page 152
1. Klemens von Alexandrien (ca.150-215)......Page 154
2. Origenes (ca.185-253)......Page 155
4. Basilius von Caesarea (ca. 330-379) und Ambrosius von Mailand (339-397)......Page 158
5. Augustins Rede vom Buch der Natur......Page 163
III. Medien......Page 166
Für eine Theorie des vergleichenden Sehens......Page 168
Lilliput oder zwei Arten des Sehens......Page 170
Heinrich Wölfflin: vergleichendes Sehen in der Kunstgeschichte......Page 172
Matt Mullican: vergleichendes Sehen in der zeitgenössischen Kunst......Page 175
Fazit......Page 178
Horn: Der Mensch im Spiegel der Schrift. Graphologie zwischen populärer Selbsterforschung und moderner Humanwissenschaft......Page 180
Stefan Effenberg, die Medien und die Medientheorie......Page 206
Verdachtsmomente......Page 207
Glaubwürdigkeit......Page 210
Selbstreflexivität......Page 213
Selbstreflexivität in der Tagespresse......Page 216
Selbstreflexivität im Fernsehen......Page 223
Selbstreflexivität am Rande......Page 230
Kramer: Bilder des Anderen und der kulturelle Ort des Fernsehens......Page 232
IV. Performanzen......Page 246
Trauer hüben und drüben......Page 248
Verehrung der "kleinen Götter"......Page 250
Westliche Psychologisierung......Page 255
Lamentationsforschung als Ethnographie der Performanz......Page 256
Rituelle Trauer im Affektverbund......Page 258
Die semiotische Ausdrucksfigur des Umgeben-Seins......Page 260
Das Lamento als kommunikative Gattung der Frauen......Page 264
Rituelle Trauer in einem Implikationennetzwerk......Page 268
Literatur:......Page 269
I.......Page 272
II.......Page 274
III.......Page 278
IV.......Page 281
V.......Page 286
1.0 Goals of this paper......Page 290
2.1 Cross-cultural studies of adult spatial language and cognition......Page 291
2.2 Consequences for theories of conceptual development......Page 295
3.0 Tenejapan Tzeltal: Adult spatial language and cognition......Page 299
3.2 The Absolute systern (Euclidean/projective, geographically-centered)......Page 300
4.2 Questions: children's production age 2-4......Page 304
4.3 Child data: age 4-12 Farm Animal games......Page 311
4.4 How do the children do it?......Page 312
5.0 What, if anything, is unnatural? Absolute vs. Relative systems......Page 313
6.0 Conclusion......Page 315
References......Page 316
Author Note......Page 319
1. Einleitung......Page 320
2. Was ist prosodische Stilisierung?......Page 321
2.1 Well I know you......Page 322
2.2 Well you never know......Page 324
3. Prosodische Stilisierung in der Forschung......Page 326
4. Prosodische Stilisierung im Gespräch: Wann? wozu?......Page 328
4.1 I know......Page 330
4.2 Never mind......Page 331
4.3 She gets mad at you......Page 335
4.4 Well I know you - nochmals......Page 338
4.5 Well you never know - nochmals......Page 339
4.6 Zusammenfassung......Page 340
5. Prosodische Stilisierung im Gespräch: Warum?......Page 341
Transkriptionskonventionen......Page 342
1. Einleitung......Page 344
2.1. Die Verwendung unterschiedlicher Stimmen zur Animation verschiedener Figuren......Page 345
2.2. ,,Die Überlagerung von Stimmen" als Mittel der Evaluation fremder Rede......Page 349
2.3. ,,Die Überlagerung von Stimmen" bei der Rekonstruktion der Gedankenwelt einer Figur......Page 354
2.4. ,,Die Überlagerung von Stimmen" bei der Animation geschriebener Texte......Page 357
2.5. ,,Fremde Rede in versteckter Form"......Page 358
3. Schlussfolgerungen......Page 362
Transkriptionskonventionen......Page 363
V. Forschungsbericht......Page 366
Anthropologie und Biologie......Page 368
Die „Wiederkehr des Körpers"......Page 374
II. Körperthemen in Literatur und Anthropologie......Page 377
Körpersprache, Mimik, Gestik......Page 378
Wirkungsrichtung Wort-Körper......Page 379
Körpergrenzen......Page 380
Wirkungsrichtung Körper- Wort......Page 381
Krankheit und Gestalt......Page 383
Physiologie der Kultur......Page 386
Der „Riss"......Page 387
Philosophie......Page 391
Naturwissenschaftliche Biologie......Page 394
Humanethologie und Soziobiologie......Page 395
Soziologie des Körpers......Page 397
Psychologie......Page 398
Anthropology of the Body......Page 401
Medizinische Anthropologie und Psychosomatik......Page 404
Feministische Kulturwissenschaft......Page 405
Historische Anthropologie......Page 406
Literaturwissenschaft......Page 409
Back......Page 413

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Zwischen Literatur und Anthropologie

LITERATUR UND ANTHROPOLOGIE Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 511 herausgegeben von Gerhart v. Graevenitz Band 23 · 2005

Aleida Assmann / Ulrich Gaier / Gisela Trommsdorff (Hrsg.)

Zwischen Literatur und Anthropologie Diskurse, Medien, Performanzen

� Gunter Narr Verlag Tlibi�gen

Umschlagabbildung: Albert Krüger, Initiale, in: ,,Pan", Erster Jahrgang 1895/1896, vol. IV, S. 250

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im lntt:rnet über_ abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© 2005 · Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http://www.narr.de E-Mail: [email protected] Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1436-4573 ISBN 3-8233-6144-9

Errata zu Assmann / Gaier / Trommsdorff (Hrsg.), Zwischen Literatur und Anthropologie ISBN 3-8233-6144-9

Im Beitrag von Helga Kotthoff, ,,Die Sozio-Logik der rituellen Trauer in Georgien", sind durch ein Versehen die georgische Schrift entfallen und die Transkriptionen fehlerhaft wiedergegeben. Der Verlag und die Herausgeber entschuldigen sich für diesen Mangel. Die korrekte Wiedergabe lautet wie folgt:

s. 248f. Ausschnitt aus dem Lamento einer Nachbarin auf Dimitri (Mi1a) Gabrielasvili (Muxrani, Ostgeorgien, 1995, D. G. ist im hohen Alter eines natürlichen Todes gestorben): lN:

cl;_)Eio cl30~::ioo cl::i6 6.)J3.)~::i3b aoli~:J3:J6-mjM

('H) seni svilebi sen na~valevs misdeven-tko, deine Kinder folgen Deiner Spur (sag ihm) 2

cJ::i6 cJ 3o~::ioli aM';'.JJ3~:.i(l) a.)ao~.)-UJJM

('H) sen svilebs .moukvdet mamida-tko.%% deinen Kindern' soll ihre Tante sterben (sag ihm) 3

4

5

C:).)o MM .xiC:10~.)6 .)af')öb3~0.), da.)('), ~3:.J~.)'ß;_]M b oa.) b .)J;_Jm;_io;_i6-mJM

('H) rac ro P,iridan amogsvlia, 3mao, ('H) gvelapers imas a~eteben-tko. was aus deinem Mund herauskam, Bruder, alles machen sie (sag ihm) cl06o U';'.)~OJM ~.) UMUMU .)M.)301 ~.)MOö:.JO" .:ifi ';'.)6~.:i ('H) seni suliko da sosos aravis darigeba ar unda. deine Suliko und Soso brauchen Belehrungen von niemandem 3:.J6003.:i~;_i. ao0.)

genacvale, mi;a. ich begebe mich an deinen Platz, Mita

I

2

S. 257f.

Ausschnitt aus dem Lamento einer Tochter für den Verstorbenen Memedi 3renti (Batumi, Ad3arien, 1997; er ist im hohen Alter eines natürlichen Todes gestorben): lT: ~~o a.:i~~(Y)(}j 8MOMd.:i6::io';'J~ lio';'JaC:1::ioli, a.:ia.:i, didi madloba mobr3anebul s;umrebs, mama. vielen Dank den hergekommenen Gästen, Vater. 2

3.:i6li.:i J';'JffiM::JOOm, m::i~.:i li, 8.:i3M.:i8 3.:i6li.:, J';')mC:1::ioom a::i 'bMO~::JO1, a.:ia.:i.

gansa~utrebit, qvelas, magram gansakutrebit mezoblebs, mama. besonders, allen, aber pesonders den Nachbarn, Vater. 3

4

5

3.:i~.:i~36::J6. a.:ia.:i.

gadagqvnen, mama. alles haben sie für dich gemacht 1, Vater. UOff'lü b~::J clo bcv1a ~~:)00 cYJf1x.::iC:1 ~.)~0M~6::i6, a.:ia.:i. sicocxlesi xom dresi oder dadiodnen, mama. als du noch lebtest sind sie zweimal pro Tag gekommen, Vater. öJOOlb';'j~CYJO~b::Jb, a.:iacvljM

g~itxulobdnen, mamo~o: haben nach dir gefragt, Väterchen 6

C:w1öMC:1 .:,(.10li a::ia::i~ odo.:iM, - 8.:icl.:i, fü::J~.:, li ::JOM~::JOM~O, a.:ia.:i

rogor aris memed bi3iao, - mama, qvelas ecodebodi, mama wie geht es Onkel Memed, - Vater, alle haben Mitleid mit dir gehabt, Vater

7

';'Jb, M.:i a::i'bMo~::ioo ~M~o.:i, a.:ia.:i.

ux, · ra mezoblebi gqolia, mama. ach, was für Nachbarn hast du gehabt, Vater: 8

8::JÜ bc•18 .:, J.:>';'JMO 3.:,(.1,

mec xom akauri var, ich bin doch auch von hier, 9

8.:,(.1.:, .:iC:130QM~o m';').:, 'li::J,.:, li::imo J.:>C:1o::ioo otj36::i6, 8.:i8oJM

mara arvicodi tu ase, aseti ~argebi iqvnen, mami~o aber ich habe nicht gewusst, dass sie so gut waren, Väterchen 10

o::i6 ~.:,30'{].:, li::ili, o8oo(Y)a MM8, 'ö::i6 OtJ 30 .:,li::imo, a.:ia.:i

sen dagipases, imiiom rom, sen iqavi aseti, mama sie haben dich geschätzt, weil du so gewesen bist, Vater 11

o::J6 oti.:i3o. a.:ia.:i, o::J6. a.:ia.:i, o::i6 cl::ia(Y)o::i3~::i a.:iaoJM.

sen iqavi, mama, sen, mama, sen semogevle mami~o. du warst, Vater, Du, Vater, ich umrunde dich2 Vater.

1 2

,gadagqvnen' wörtlich: sie sind dir gefolgt. ,semogevle' wörtlich: Ich mache mich um dich herum.

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"JJ060liJ6J~0~ 8C'l30~6:i6 ~0 360bJli :ib~0, 8080. f>08~:i680 8.:.8.:i. u~anas~nelad movidnen da gnaxes exla, mama. ramdenma mama:::. zum letzten Mal sind sie gekommen und haben dich gesehen - Vater. 8m0~o li080 ~~J .:.j 00~0~3606, 8.:i80Jcv1, mteli sami .di-e ak gadagqvnen, mami~o, die ganzen drei Tage haben sie alles für dich gemacht, Väter chen, 0 Uofo bC'l8 .3:f18.:.MO~U ov jM6J6, 8.:.80 JC'l, 0 isini xom purmarils gic;:qoben, mami~o, sie richten doch Essen für dich, Väterchen, .3·;:f>80MO~li 30v jMOJ6, 3.:i~.:.8.:i'bJ6J6, 8.:.8.:i, purmarils gic;:qoben, galamazeben, mama, sie richten Essen für dich, machen dich schön, Vater, 1.:ioC'l~C'lC'l .3"Jf>8.:ifm~li 0ovjMOJ6, 7306 '808M3J3~J· 8.:.80. saboloo purmarils gic;:qoben, sen semogevle, mama sie richten das letzte Essen für dich, ich umrunde dich Vater . .3"Jf>80f10~0.:i60 bM8 o~ 3o 7306, 8.:.8oJM ~.:. .:.8o~cv18.:.o 0.:.8.:if>m~02,06 7l:i6, 8.:.8.:i, purmariliani xorµ iqavi sen, mami~o da ami~omac gamartleben sen, mama, du bist doch gastfreundlich gewesen, Väterchen, und deshalb tun sie das für dich, Vater, 3.:ili0b0~ 02,06 8.:.80JC'l. gasaxeleben mami~o. sie geben dir Ehre, Väterchen. C'lJ, 73060 c'.§OMo8 0, 808.:i, oh, seni cirime, mama, oh, dein Leid mir, Vater, ()(Y)~C"l, ()(")~(") li0.:im:ioo.:i Ul"J V"JUlJ60.), bolo, bolo saatebia tu cutebia . ' die letzten, letzten Stunden oder Minuten, Ul"J f,.:, .:.f10 .:if>3000, 8.:.80. tu ra ari arvici, mama. oder weiß ich nicht was sind das, Vater. c•1J, 73060 ö'J~oli c'.§Ofio8 0, 8.:.80, 73060 U"J~ol.. oh, seni gulis cirime, mama, seni sulis. oh, Leid deines Herzens mir, Vater, deiner Seele. füJ~0 .:i b.:.~00'bf>~J600, f>M8 "Jj"Jf10o, 8.:.80, qvela axalgazrdebia, rom uqureb, mama, alle jungen Leute sind hier, wenn man schaut, Vater, j3J~.) f>d~J()O.), 8080JM, .:.8 .:if>J80MJU 8080JC'l. qvela r3lebia, mami~o, am aremares mami~o. alle Schwiegertöchter, Väterchen, sind hier, Väterchen.

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7JJ6 ÖMd ~3:JI.'::'..'.'> Uol.'>6 h. . :iC:1mM :]6.'> ö.'.)M6~..... a. . a. . . sen xom qvelastan saerto · ena gkonda, mama

du hast doch mit jedem eine gemeinsame Sprache gehabt, Vater.

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~3:Jl.'::'..'0li, ~3:Jl.'::'..'.'>U. ff;')~.'>~ .'>M.'>3oh .'>c:'1 ~.'>:)l.'::'..'.'>J.'>M.'>J:)ilder" in den Künsten, in den Wissenschaften und in anderen kulturellen Repräsentationsformen. Einen Schwerpunkt bilden dabei Teilprojekte mit wissenschaftshistorischer Ausrichtung, die die Rolle traditioneller metaphysischer Denkmuster in den anthropologischen Konzepten des 19. und 20. Jahrhunderts untersuchen. (b) ,,Konstitution und Konstruktion von Sinn" Mehrere Teilprojekte befassen sich mit Problemen der Konstruktion und Konstitution von Sinn". Von den vielfältigen Facetten des Sinnbegriffs werden hier vor allem zwei Komplexe ins Zentrum gestellt. Zum einen geht es um die sinnstiftende", d.h. geteilte Werthaltungen und Deutungsmuster in einer Gemeinschaft vermittelnde Funktion von (,,kulturell konstruierten", vgl. 3.1.3) sozialen Normen. Diese werden in unterschiedlichen Feldern wie Recht, Moral, Alltagskommunikation und Ästhetik zum Thema gemacht, und zwar sowohl aus philosophisch-systematischer Perspektive, wie auch aus der Perspektive einer vergleichenden Entwicklungspsychologie und Soziologie. Zum anderen geht es um den „sinnhaft" vermittelten (,,kulturell konstruierten") Zugang zur Wirklichkeit. Dabei liegt der Schwerpunkt der Forschung insbesondere bei verschiedenen Formen der ästhetisch vermittelten, persuasiven Realitätskonstruktion bzw. Wahrnehmungsveränderung, die durch neuere Entwicklungen in den Printmedien und in den visuellen Medien geschaffen wurden. Beide Komplexe dieser Gruppe, zusammen mit ihrer Nähe zu den Gruppen „Anthropologie der Kommunikation" und „Anthropologie der Medien", machen sie zu einem zentralen Disku~sionsort für den Zusammenhang von semantischer und pragmatischer Dimension. 11

11

(3)

Die pragmatische Dimension der kulturellen Konstruktion von antfzropologischen Fundamentalien

(a) ,,Anthropologie der Kommunikation" Die hier versammelten sozial- und sprachwissenschaftlichen Teilprojekte befassen sich mit Formen und Funktionen mündlicher Kommunikation als einer der Elementarformen soziokulturellen Lebens. Kommunikation wird hierbei nicht losgelöst vom jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext betrachtet, sondern als kontextuell verankert und zugleich als wesentliches

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Erster Verlängerungsantrag

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Mittel zur Konstitution, Erhaltung und Veränderung kultureller Praktiken und sozialer Strukturen. Im Fokus der Projekte steht die Frage nach der interaktiven Bedeutungsaushandlung in unterschiedlichen (privaten und öffentlichen, unmittelbaren wie auch medial vermittelten) Kontexten und unterschiedlichen kommunikativen Gattungen (Alltagserzählungen, Diskussionen, öffentlichen Reden, phone-in Programmen im Radio, etc.). Es werden jedoch nicht nur die Funktionen verbaler Mittel bei 'der alltäglichen Sinnkonstitution, sondern auch die Kookkurrenz verbaler mit non-verbaler Verfahren (wie Prosodie, Stimmqualität, Gestik und Mimik) untersucht. Den gemeinsamen Interessenschwerpunkt der Teilprojekte bildet die Erfassung unterschiedlicher Ausprägung „sekundärer Ästhetisierung" in mündlichen, nicht literarischen Gattungen. Dabei zielen die vorliegenden Teilprojekte - u.a. in Auseinandersetzung mit Fragen ästhetischer Formgebung in literarischen T~xten auf eine nähere Bestimmung der anthropologischen Merkmale der Asthetisierung. Durch die Fragenkomplexe der Bedeutungsaushandlung in unterschiedlichen kommunikativen Vorgängen, der Formgebung und Stilisierung in verschiedenen kommunikativen Gattungen und der ästhetischen Gestaltung alltäglicher und ritueller Kommunikation steht diese Projektgruppe in enger Verbindung mit den Gruppen „Konstitution und Konstruktion von Sinn" und „Anthropologie der Medien". (b) ,,Anthropologie der Medien" Als Grundprämisse einer historischen Anthropologie der Medien kann der „organologische Zirkel" gelten. Er besagt, daß der Mensch sich im Laufe seiner Geschichte Werkzeuge erschafft und von diesen Werkzeugen seinerseits erschaffen und immer wieder umgeschaffen wird. Dieses grundsätzliche Wechselverhältnis von Menschen und Werkzeugen kann auf die Medien ausgedehnt werden. Medien sind Mittler: Vom spiritistischen Medium bis zur technischen Apparatur stellen sie einen Zugang her, wozu wir sonst keinen unmittelbaren Zugang haben. Medien sind jedoch nicht nur Vermittler, sondern produktive Instrumente der Welterzeugung; indem sie zwischen Mensch und Welt vermitteln, bringen sie die Welt und den Menschen erst eigentlich hervor. Erarbeitet wurden in diesem Rahmen (1) theoretische Konzepte von Medium, Medialität und Intermedialität (2) historische Semantiken der Thematisierung von Medien (3) kulturelle Kontextbedingungen für verschiedene Konzeptualisierungen und Thematisierungen von Medien.

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SFB 511

5. Bibliographie Doris I3achmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Fischer-Taschenbuch 12781, Frankfurt a.M. 1996. Moritz I3assler (Hrsg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, orig. Ausg., Fischer-Taschenbuch 11589, Frankfurt a.M. 1995. Ulrich I3eck, Anthony Giddens, Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, dt. Erstausgabe, edition suhrkamp 1705 = NF 705, Frankfurt a.M. 1996. Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe, (Hrsg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Rowohlt Enzyklopädie 575, Reinbek bei Hamburg 1996. Pierre I3ourdieu, Loi"c J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, dt. Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996. Clara Cappetti, Writing Chicago. M~dernism, Ethnography, and the Novel, New York 1993. James Clifford, The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge (MA), London 1988. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 4. Aufl., Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 696, Frankfurt a.M. 1995 (1. Aufl. 1987). Dieter Groh, Rolf-Peter Sieferle, Die Naturerfahrung in der ökonomischen Gesellschaftstheorie, Arbeitspapier Nr. 1 der Projektgruppe „Naturerfahrung und Gesellschaftstheorie", Universität Konstanz 1978. Dieter Groh, Rolf-Peter Sieferle, ,,Experience of Nature in Bourgeois Society and Economic Theory. Outlines of an Interdisciplinary Research Project", Social Research 47 (1980), 557-581. Ruth Groh, Dieter Groh, ,,Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung", in: Heinz-Dieter Weber (Hrsg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, 53-95; überarbeitet in: dies., Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur 1, Frankfurt a.M. 1991, 52159. Susanne Günthner, Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation. Analysen deutsch-chinesischer Gespräche, Linguistische Arbeiten 286, Tübingen 1993. Susanne Günthner, Hubert Knoblauch, ,,'Forms are the Food of Faith'. Gattungen als Muster kommunikativen Handelns", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46 (1994), 693-723. Wolfgang Iser, Theorie der Literatur. Eine Zeitperspektive, Konstanzer Universitätsreden 182, Konstanz 1992. ders., Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991. Hans Robert Jauß, ,,Epilog auf die Forschergruppe ,Poetik und Hermeneutik"', in: Gerhart v. Graevenitz, Odo Marquard (Hrsg.), Kontingenz, Poetik und Hermeneutik XVII, 1998, 525-534. Immanuel Kant, ,,Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" in: Kants gesammelte Schriften, erste Abteilung: Werke, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1917, Bd. VII, p. 117-333. Helga Kotthoff, ,,The Social Semiotics of Georgian Toast Performances. Oral Genre al Cultural Activity", Journal of Pragmatics 24 (1995), 353-380. Francesco Loriggio, ,,Anthropology, Literary Theory, and the Traditions of Modernism", in: Marc Manganaro (Hrsg.), Modernist Anthropology. From Fieldwork to Text, Princeton (NJ) 1990, 215-265.

Erster Verlängerungsantrag

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Thomas Luckmann, ,,Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen", Kölner Zeitsclzrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27 (1986), 191-211. Thomas Luckmann, ,,Kommunikative Gattungen im kommunikativen ,Haushalt' einer Gesellschaft, in: Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla (Hrsg.), Der Ursprung der Literatur. Medien, Rolle11, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, Materialität der Zeiclzen, hrsg. vom Graduiertenkolleg Siegen, Müchen 1988, 279-288. Marc Manganaro, ,,Textual Play, Power, and Cultural Critique. An Orientation to Modemist Anthropology", in: ders. (Hrsg.), Modernist Anthropology. From Fieldwork to Text, Princeton (NJ) 19~0, 3-47. George E. Marcus, Michael M.J. Fischer, Anthropology as Cultural Critique. An Experimental Moment in the Human Sciences, 4. print, Chicago, London 1986. Ruth Rhees, ,,Some Developments in Wittgenstein's View of Ethics", Philosophical Review 74 (1965), 17-26. Gottfried Seebaß, Das Problem von Sprache und Denken, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 279, Frankfurt a.M. 1981. Rolf-Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, edition suhrkamp 1567 = N.F. 567, Frankfurt a.M. 1989. ders. , Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie, Frankfurt a.M. 1990. Justin Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschafts-soziologische Darstellung der Kulturantlzropologie und Ethnologie, 2., durchgesehene, verbesserte und um ein Nachwort vermehrte Aufl., Ethnologische Paperbacks, Berlin 1981 (1. Aufl. 1974). Karlheinz Stierle, ,,Literaturwissenschaft", in: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Fischer Lexikon. Literatur, 3 Bde., Fischer Taschenbuch 4566, Frankfurt a.M. 1996, II, 1156-1185.

--. SFB 511

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(4) Übersicht über die Teilprojekte, gegliedert nach Projektbereichen ' TP Exkarnation - Zur Grenze Anglistik 1 zwischen Körper und Schrift. Untersuchung zu einer Anthropologie-der Medien TP Anthropologie des Mythos

Graezistik

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TP Anthropologie und „Neue Germanistik Mythologie" im 18. Jahrhun3 dert: zu Funktion und Verfahren konjekturalen Denkens TP Entstehung und Ordnung Germanistik Diskurse anthropologischer 4 der Moderne TP Anthropologische Vorausset- Geschichte zungen wissenschaftlicher Diskurse: Theologische und teleologische Denkmuster und deren Widerpart in den Wissenschaften seit dem 16. Jahrhundert TP Zur Entstehung ästhetischer Romanistik Naturerfahrung. Naturphiloso6 phische und anthropologische Perspektiven 5

TP Fiktion und Gegenfiktion: die Slawistik Provokation des Mimetischen 7 im Diskurs der Phantastik TP Ästhetische Phänomene in Sprachwiss./ mündlichen kommunikativen Soziologie Gattungen: Formen und Von Rahmung zu Performance

8

Assmann FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Baudy FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Gaier FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Graevenitz v. FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Groh, D. Geschichte FG Universität Konstanz

Groh, R. (TP-Leiter: v.Graevenitz) FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Lachmann FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Luckmann/Kotthoff/ CouperKuhlen/Günthner FG Sprachwiss/ FG Soziologie Universität Konstanz

/

Erster Verlängerungsantrag

TP Medien Identität 9

und

63 kulturelle Medienwiss.

TP Anthropologische Grundlagen Philosophie 10 normativer Rede

Paech FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz Seebaß Philosophie FG Universität Konstanz

TP Die Medialisierung des Sehens Soziologie 11 - Schnitt und Montage ~ls Ästhetisierungsmi ttel medialer Kommunikation TP Die Entdeckung der Land- Romanistik 12 schaft. Petrarca und die Anfänge des neuzeitlichen Landschaftsbewußtseins

Soeffner FG Soziologie Universität Konstanz

TP Historische Anthropologie Kunstwissen13 westlicher Bildmedien schaft

Thürlemann FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz

TP Glaubwürdigkeit und literari- Germanistik 14 sehe Entgrenzung des Textensembles der Zeitung im 20. Anthropologische Jhd. Dimensionen moderner Pressekommunikation subjektiver Psychologie TP Kulturvergleich 15 Erziehungs- und Entwicklum!Stheorien

Todorow FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz

Stierle FG Literaturwissenschaft Universität Konstanz

Trommsdorff Psychologie FG Universität Konstanz Gladigow TP Religiöse Muster einer Plurali- Religionswiss. Religionswiss. Abt. A sierung von Sinn Universität Tübingen Hauschild TP Takt und Tabu. Ethnologie als Ethnologie Völkerkundliches B Selbst- und Fremdgestaltung in Institut Deutschland Universität Tübingen

SFB 511

64

(5) Alphabetische Liste der am Sonderforschungsbereich

beteiligten Wissenschaftler Name, Vorname Albers, Irene Assmann, Aleida Auffahrt, Christoph Baron, Bettina Baudy, Gerhard Brendel, Judith CouperKuhlen, Elizabeth Flowe, William Friedlmeier, Wolfgang Geimer, Peter Gaier, Ulrich Gladigow, Burkhard Göckel, Susanne Graevenitz, Gerhart von Grether, Reinhold Groh, Dieter Groh, Ruth Grosse, Max Günthner, Susanne Hauschild, Thomas Hartung,

Fachgebiet

Romanistik Anglistik

Fachgruppe der Universität Konstanz/ andere Universitäten Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft

GA Teilprojekt Kennziffer / EA GA TP 12 GA TP 1

Religionswissenschaft Universität Tübingen EA TPA Soziologie

Soziologie

Gräzistik

Literaturwissenschaft GA TP2

Germanistik

Literaturwissenschaft EA TP14

Anglistik

Sprachwissenschaft

GA TPS

Anglistik

Sprachwissenschaft

EA TPS

Psychologie

Psychologie

EA TP 15

Kunstwissenschaft

Literaturwissenschaft EA TP 13

EA TPS

Germanistk Literaturwissenschaft GA TP3 Religionswissenschaft Universität Tübingen GA TPA Soziologie

Soziologie

Germanistik

Literaturwissenschaft GA TP4/Z

Germanistik

Literaturwissenschaft EA TP 1

Geschichte Romanistik Romanistik Germanistik

Geschichte Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft Sprachwissenschaft

Ethnologie

Universität Tübingen GA TPB

Germanistik

Sprachwissenschaft

EA TPS

GA GA EA EA

TPS TP6 TP 12 TPS

EA TPS

/

/ ,, /

Erster Verlängerungsantrag

Martin Hoeren, Ursula Horn,Eva Jaber, Dunia Jeftic, Carolina Kahre, Mirko Kempe, Michael Kleeberg, Bernhard Kotthoff, Helrra Kramer, Stefan Kruse, Christiane Lachmann, Renate Luckmann, Thomas Metzger, Stefan Möcks, Claudia Michel, Ute Paech, Joachim Raman, Shankar Raab, Jürgen Rapp, Wolfa:an2: Rieger, Stefan Rippl, Gabriele Röckl, Barbara Roughley, Neil Schramm, Caroline Seebaß,

65 EA TP8

Anglistik

Sprachwissenschaft

Germanistik Philosophie Anglistik

Literaturwissenschaft EA TP4 EA TPlO Philosoohie Literaturwissenschaft EA TP 1

Germanistik

Literaturwissenschaft EA TP14

Geschichte

Geschichte

EA TPS

Geschichte

Geschichte

EA TPS

Germanistik

Sprachwissenschaft

EA TP8

Medienwissenschaft

Literaturwissenschaft EA TP9

Kunstwissenschaft

Literaturwissenschaft EA TP 13

Slavistik

Literaturwissenschaft GA TP7

Soziologie

Soziologie

Germanistik

Literaturwissenschaft EA TP3

Gräzistik

Literaturwissenschaft EA TP2

Ethnologie Medienwissenschaft

Universität Tübingen EA TPB Literaturwissenschaft GA TP9

Anglistik

Literaturwissenschaft EA TPl

Soziologie Germanistik

EA TP 11 Soziologie Literaturwissenschaft EA TP3

Germanistik

Literaturwissenschaft EA TP4

Anglistik

Literaturwissenschaft GA TP 1

Anglistik

Literaturwissenschaft GA TP 1

Philosophie

Philosophie

Slavistik

Literaturwissenschaft EA TP7

Philosoohie

Philosophie

GA TP8

EA TPlO

GA TPlO

SFB 511

66 Gottfried Soeffner, Hans-Georg Stierle, Karlheinz Strube, Christian Sutrop, Margit Thürlemann, Felix Todorow, Almut Trommsdorf, Gisela Weinberg, Manfred

Soziologie

Soziologie

Romanistik

Literaturwissenschaft GA TP 12

Geschichte

Geschichte

EA TPS

Philosophie

Philosophie

EA TP 10

Kunstwissenschaft

Literaturwissenschaft GA TP 13

Germanistik ·

Literaturwissenschaft GA TP 14

Psychologie

Psychologie

Germanistik

Literaturwissenschaft GA

GA TPll

GA TP 15

z

/

/

SFB 511

Zweiter Verlängerungsantrag (2001)

1. Zusammenfassung Der SFB 511 Literatur und Anthropologie hält in seinem Verlängerungsantrag für die Jahre 2002-2004 an der im letzten Verlängerungsantrag ausführlich dargestellten und begründeten kulturanthropologischen Ausrichtung seiner Forschungen fest. Hinsichtlich seines besonderen Gegenstandsbereichs - der Literatur - verfolgt er weiterhin eine dreifache Fragestellung: 1. Warum produzieren Menschen Literatur? 2. Was wird in Literatur über ,den' Menschen gesagt? 3. Wie verhalten sich die literarischen Darstellungen zu anderen sprachlichen Artikulationen des ,Menschlichen' oder zu anderen medialen Formen seiner Repräsentation? Auf die erste Frage antwortet die ,Anthropologie der Literatur'. Sie untersucht die anthropologischen Grundlagen von Literatur und Kunst allgemein. Gefragt wird nach der Rolle, die literarische oder künstlerische Verfahren in der Geschichte des Selbst- und Weltverstehens des Menschen auch im Sinne der Erprobung und Kritik von Universalisierungen eines kulturspezifischen Humanen - gespielt haben. Auf die zweite Frage antwortet die ,Literarische Anthropologie'. Sie untersucht die anthropologischen oder anthropologisch relevanten Aussagen literarischer Texte. Dabei wird ein weitgefaßter Literaturbegriff vorausgesetzt, der offen für seine diskursiven Kontexte bleibt. Die Berücksichtigung dieser Kontexte bedeutet dabei auch hier, Kulturspezifisches im Sinne einer interkulturellen Perspektivierung zu berücksichtigen. Auf die dritte Frage gerichtet ist die Zusammenführung literaturwissenschaftlicher Projekte mit kunst- und medienwissenschaftlichen, sprachwissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen, ethnologischen, geschichtswissenschaftlichen und philosophischen Arbeitsvorhaben. Die besonderen Bedingungen und Themen literarischer Formulierungen des ,Menschlichen' werden so konfrontiert mit Konzeptualisierungen des ,Menschen' in anderen Sach- und Wissenschaftszusammenhängen. Im Sinne einer theoretisch-methodischen und damit auch programmatischen Weiterentwicklung wird der SFB 511 sich im nächsten Verlängerungszeitraum verstärkt der Frage nach menschlichen Universalien, genauer: nach dem historisch oder regional je unterschiedlich realisierten Verhältnis von Partikularem und Universalem/Universalisierungen zuwenden. Auf der Ebene der Forschungsinhalte werden die weiterhin bearbeiteten Forschungsfelder (Menschenbilder, Interkulturalität, Rhetorik, Medien und Kommunikation) durch die Bearbeitung neuer Forschungsfelder ergänzt (der mensch-

68

.SFB 511

liehe Körper, Begrenzungen und ,Fehlformen' der dem Menschen anthropologisch zugesprochenen Möglichkeiten sowie Naturwissenschaften und ihre Geschichte). ' .

2. Stand der Forschung Die im ersten Verlängerungsantrag formulierte Programmatik hat sich im Verlauf der Arbeit der letzten Jahre als äußerst fruchtbar erwiesen. Ihr wird der SFB 511 Literatur und Anthropologie deshalb auch im hiermit beantragten Verlängerungszeitraum 2002-2004 weiter folgen. Allerdings haben die Forschungen der letzten Jahre durchaus auch theoretisch-methodische Fortschreibungen nahegelegt, die im Folgenden als besondere Leitperspektiven der weiteren Arbeit zu erläutern sind. Dazu gehört die grundsätzliche Frage nach menschlichen Universalien/Universalisierungen, aber auch eine Fokussierung des menschlichen Körpers, der Begrenzungen und ,Fehlformen' der ,dem' Menschen anthropologisch zugeschriebenen Möglichkeiten sowie eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften (und ihrer Geschichte). Diese Forschungsperspektiven werden unter (4) Ziele, Methoden, Arbeitsprogramm näher erläutert. Zur Kenntnisnahme der neu einzubeziehenden Universaliendiskussion wurde eine kommentierte Bibliographie zum Thema Universalien in Auftrag gegeben. Diese ergänzt die im ersten Bewilligungszeitraum erstellte Überblicksdarstellung und kommentierte Bibliographie Positionen der Anthropologie, die inzwischen als eigenständige Studie in der Zeitschrift für Historische Soziaiforschung/Historical Social Research (Funk 2000) erschienen ist. Ebenso wurde zum Themengebiet Der menschliche Körper als Paradigma der Kulturtheorie wie unterschiedlicher körperbezogener Forschungsrichtungen eine kommentierte Bibliographie erstellt, die zusammen mit dem Universalien-Papier den Verlängerungsanträgen der Teilprojekte wie den - aus den Diskussionen einer dafür eingerichteten Arbeitsgruppe hervorgegangenen ,,Allgemeinen Angaben" zugrunde gelegt wurde. Auf der Grundlage seiner bisherigen kulturanthropologischen Forschungsergebnisse sieht sich der SFB 511 Literatur und Anthropologie inzwischen in der Lage, sich mit der von allen Fundamentalanthropologien vorausgesetzten Möglichkeit von universalen Aussagen über ,den' Menschen eingehender als bisher auseinanderzusetzen. Diese Erweiterung einer schwerpunktmäßig differentiellen kulturanthropologischen Forschung durch die vor allem im interkulturellen VP.rgleich sich aufdrängende Frage nach transkulturellen Invarianzen und deren Verhältnis zu den Differenzen bestätigt auch die Empfehlung der Gutachter bei der letzten Begutachtung des SFB 511, die Tradition der deutschen ,Philosophischen Anthropologie' stärker in die Forschung mit einzubeziehen. Auf ein aktuelles Beispiel einer neuerlichen Fundamentalanthropologie - die vor allem im Übergangsfeld von Kulturund Naturwissenschaften diskutierten Entwürfe einer biologischen Gesamt-

Zweiter Verlängerungsantrag

69

anthropologie - wird unten, im Sinne der Beschreibung der Auseinandersetzung des SFB 511 mit solchen Konzepten, noch genauer einzugehen sein. Der Stand der Universaliendiskussion ist bisher in den einzelnen am SFB beteiligten Disziplinen durchaus verschieden. Nachfolgend einige, notwendig unvollständige, Hinweise. Dabei ist vorab darauf hinzuweisen, dass die unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge im SFB nicht wie in der allgemeinen Forschungslandschaft nebeneinander stehen bleiben, sondern in den einzelnen Projekten, Tagungen und der Abteilung Geisteswissenschaften im „Forschungszentrum für den wissenschaftlichen Nachwuchs" transdisziplinär aufeinander zu beziehen sind: Jeder der disziplinär entwickelten Zugänge stellt methodische und thematische Herausforderungen an sämtliche Teilprojekte im SFB unter dem gemeinsamen Problem des Verhältnisses zwischen Partikularem und Universalem/Universalisierungen. Auf diese Weise wird auch jedes Teilprojekt den Gesichtspunkten unterworfen, die durch die beteiligten Disziplinen und ihre Zugänge eingebracht werden, und steht mithin in einem multidimensionalen transdisziplinären Feld. Vorauszusetzen ist grundsätzlich, dass die Literatur, als besonderer Gegenstandsbereich des SFB 511, immer schon eine Vorschule der Anthropologie oder eine experimentelle Anthropologie darstellt. Fiktion ist, wie schon Aristoteles in seiner Poetik erkannte, eine unablässige Bewegung zwischen der Generalisierung des Partikularen und der Partikularisierung des Generellen. Immer schon ist dem Wort selbst die unauflösbare Spannung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen eingeschrieben, sofern das Wort als Element der langue erst in der parole zu seiner Aktualisierung gebracht werden muß und diese Aktualisierung sowohl die Referentialisierung des Besonderen als auch die Referentialisierung des Allgemeinen bedeuten kann. Literatur ist ihrem Wesen nach Interdiskurs, sie bewegt sich im Spannungsfeld von Typ und Individualität, von Fremdheit und Vertrautheit, von Erfahrung und Theorie. Insofern kann auch die These aufgestellt werden, dass die Literatur, sei es als orale oder schriftlich verfaßte Literatur, der anthropologischen Reflexion, noch ehe sich im eigentlichen Sinne anthropologische Disziplinen ausdifferenzieren konnten, durch ihre eigene unablässige Bewegung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen der conditio humana vorgearbeitet hat. Wenn dies sich systematisch als Hypothese formulieren läßt, so läßt diese Hypothese sich andererseits in der historischen Entfaltung der Literatur im einzelnen belegen. Aus ihren imaginären Probehandlungen gingen immer neue Formen des Interdiskurses hervor und brachten Dispositive humaner Selbstartikulation hervor, die ein wissenschaftlicher Diskurs des Anthropologischen aufgreifen konnte. Insofern hat es seine besondere Berechtigung, einen eigenen Zugang zur Erfahrung des Anthropologischen zu suchen, der von der Erfahrung der Literatur und dem in ihr sich manifestierenden anthropologischen ens realissimum, der Sprache, ihren Ausgang nimmt.

SFB 511

70

Die moderne Literaturwissenschaft knüpft an eine mit der antiken Rhetorik und Poetik einsetzende Tradition an, die die Kompetenz zur· Herstellung verbaler Konstrukte (mündlicher uµd schriftlicher Texte) und zur darin ermöglichten Perspektivierung von Menschenbildern und deren systematischer Beschreibung ,universalisiert' hat. Als ,literarische Anthropologie' geht sie den von literarischen Texten und in von der Poetik definierten Gattungen entworfenen Konzepten des Menschen nach, als ,Anthropologie der Literatur' befaßt sie sich, je nach Fokus, mit eher universalen oder historisch und kulturell varianten Verfahren der Konstitution, Medialität und Rezeption von Texten. Literaturwissenschaft, sobald sie textbezogen und womöglich komparatistisch arbeitet, führt automatisch zur Kontrastierung universeller und differentieller Aspekte und ihren unterschiedlichen Relationen; was vorangetrieben werden muß, ist die Präzisierung des Status universalisierender Zuschreibungen durch interkulturelle Studien, die Entwicklung einer Begriffssprache zur Beschreibung transkultureller Praktiken und die Modellbildung zur Erfassung des Zusammenspiels universeller und partikularer Aspekte. Jm interdisziplinären Rahmen des SFB Literatur und Anthropologie findet Literaturwissenschaft deshalb ihre genuine Aufgabe darin, • Literatur als den Raum zu erfassen, in dem eine Gesellschaft in allen ihren Sinnprovinzen sich hinsichtlich ihrer kulturellen und historischen Besonderheit reflektiert und anthropologisch mögliche Alternativen fiktional · erprobt; die Beziehungen zur Soziologie, Geschichtswissenschaft und Philosophie liegen auf der Hand. • Literatur als fiktionalen Experimentier- und Übungsraum für kognitive Verfahren vom Logisch-Analytischen bis zum Phantastischen und Imaginären sowie für sprachliche und kommunikative Verfahren zu beschreiben; die Beziehungen zur Sprachwissenschaft und zur Psychologie sind deutlich; neue Perspektiven werden durch Forschungen eröffnet, die in nicht-geisteswissenschaftlichen Disziplinen Erkenntnisverfahren (z.B. Metaphorik, Konjektur) aufdecken, die zugleich literarisch konstitutiv sind. • Literaturwissenschaftliche Verfahren in · ihrer allgemein kulturwissenschaftlichen Anwendbarkeit als Modelle für die differentielle Beschreibung der Beziehungen zwischen Universalem/ Universalisierungen und Partikularem in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erproben. So lassen sich, nur als Beispiele, die Verfahren der Intertextualitäts- und Dialogizitätsforschung fruchtbar zur Beschreibung interkultureller Kontakte und sogar interdisziplinärer Beziehungen anwenden. Diese vorstehend für die Literatur und Literaturwissenschaft im engeren Sinne beschriebenen Voraussetzungen gelten ebenso für die in Kunst und Medien manifestierte Bildlichkeit und ihre jeweilige wissenschaftliche Erforschung, die jedoch deren je eigene semiotische Organisationsformen und spezifische Kommunikationsstrukturen zu berücksichtigen hat (vgl. dazu

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Zweiter Verlängerungsantrag

71

die im Sammelband Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Band 7 unserer Veröffentlichungsreihe Literatur und Anthropologie, zusammengefaßten Forschungsergebnisse). Die Pfzilosophie versteht sich traditionell - nicht nur in ihren anspruchsvolls- . ten Entwürfen, sondern auch in manchen skeptischen Gegenströmungen (z.B. Hume) - als Wissenschaft von den ,allgemeinsten Grundlagen'. Deshalb ist die Frage der universellen Geltung bei ihr immer im Spiel. Das gilt für die philosophische Ästhetik genauso wie für die philosophische Anthropologie, auch wo diese nicht (wie 1bei Scheler, Plessner, Rothacker, Gehlen u.a.) auf die Gewinnung universeller formalanthropologischer Wesensbestimmungen (SFB-Verlängerungsantrag 1999-2001, S. 29-66) abzielt, sondern auf weniger anspruchsvolle Charakterisierungen (wie bei Kant). Und es gilt natürlich erst recht für die großen philosophischen Teilgebiete: An der Aufgabe der theoretischen Philosophie, die allgemeinsten Prinzipien der erkennbaren Wirklichkeit zu bestimmen, hat sich auch nach der ,erkenntnistheoretischen Wende' der Neuzeit und nach dem linguistic turn des 20. Jahrhunderts grundsätzlich nichts geändert. Die Einsicht in die bestehende Pluralität und historische wie kulturelle Variabilität von Theorien und Sprachen hat zwar ihre Relativität sichtbar gemacht und zur Zurückhaltung gegenüber vorschnellen Universalismen geführt. Sie hat aber keineswegs einen (selbstwiderlegenden) radikalen Relativismus und Skeptizismus nach sich gezogen, auch wenn ein solcher bei manchen Autoren anklingt. Ebenso bleibt es die Aufgabe der praktischen Philosophie, allgemeine Bedingungen überlegten, normengeleiteten Handelns zu spezifizieren und Begründungsmöglichkeiten für Normen und Werte zu prüfen. Das unübersehbar gewordene Faktum des intra- wie interkulturellen Wertepluralismus hat relativistische Tendenzen begünstigt, die Diskussion um und die Suche nach universalisierbaren Moralprinzipien aber nie abreißen lassen. Im Gegenteil, die zunehmende Globalisierung hat sie verstärkt. Denn damit scheint die Entwicklung zumindest eines Grundkatalogs von Normen, die transkulturelle Geltung haben, unumgänglich geworden zu sein. Um ihre Formulierung bemühen sich heute Philosophen verschiedener Länder gemeinsam, zunehmend auch im direkten Kontakt mit anderen Wissenschaftlern und Literaten. Die Sprachwissenschaft bewegt sich seit ihren Anfängen zwischen universalistischen und partikularistischen Theorien. Die heutige Diskussion gilt dem Verhältnis zwischensprachlicher Differenz und Gemeinsamkeit, anthropologischem Relativismus und Universalismus. An die Stelle der generativen Universalgrammatik ist die moderne Typologie getreten, die die Grenzen der sprachlichen Vielfalt abzustecken versucht (Greenberg 1963, Croft 1990). Diese setzt sich - anhand innovativer Beschreibungsinstrumentarien z.B. statistischer ,Universalien' oder implikativer Aussagen (Plank/ Filimonova 2000) - neue Beschreibungsziele, wie die Erforschung von systematischen Kookkurenzen bei genetisch nicht verwandten Sprachen oder die diachrone Entwicklung typologischer Eigenschaften (Croft, Denning et al. 1990). Eine stärkere Beachtung funktionaler Gesichtspunkte in der Verwendung typolo-

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SFB 511

gisch kookkurenter und statistisch ,universaler' Elemente und ihre\Korrelierung mit ,anthropologischen Konstanten' der alltagssprachlichen Kommunikation wäre allerdings wünschenswert und könnte die Brücke zur Rhetorik, Literatur und Medienwissenschaft schlagen. Ungeachtet der Verbreitung einer typologisch geprägten Universalienforschung erlebt gerade in den letzten Jahren die Debatte um den sprachlichen Relativismus einen Zuwachs an Interesse. Neuere empirische Untersuchungen zu Farbterminologien und Raumkonzeptualisierungen veranschaulichen, dass die· biologische Wahrnehmungs- und Kognitionsfähigkeit des Menschen kulturell und sprachlich verschiedene Lösungen zuläßt, so dass dem Sprachrelativismus neue Argumente zugeführt werden (Lucy 1992; ßrown/Levinson 1992, 1993; Foley 1997). Neuere Arbeiten der Chicago School, insbesondere die von Silverstein (1976, 1977, 1979, 1992), erweitern die Relativitätshypothese, in dem sie diese vom rein referentiell-semantischen auf den pragmatisch-indexikalischen Bereich des erlebten Diskurses ausdehnen (s. auch Gumperz/Levinson [Hgg.] 1996). Auch von der Kognitionswissenschaft sind Anregungen hinsichtlich der Universalienfrage zu erwarten, die nicht nur für die Sprachwissenschaft, sondern auch für die Philosophie, Soziologie und insbesondere die Literaturwissenschaft im SFB 511 von Relevanz sind: Lakoff (1987) und Johnson (1987) stellen eine variable Kopplung von sprachlicher Bedeutung an vorsprachliche Körpererfahrung über kinästhetische AbbHdschemata fest, was als Beitrag zur Erkenntnistheorie des enactionism (Maturana/Varelal984; Varela/Thompson/Rosch 1991) gelten kann, Hier wird Erkenntnis als erlebte Handlung aufgefaßt, z.B. als enacted discourse, der in die Herstellung „inter-aktionaler Texte" (Silverstein 1992) eingebracht wird. Die enge Verknüpfung der soziologischen mit einer anthropologischen Perspektive haben Plessner und Gehlen in ihren Werken ebenso beispielhaft demonstriert wie die notwendige Einbeziehung naturwissenschaftlich geprägter Welt- und Menschenbilder in kulturtlzeoretische Analysen und Interpretationen. Diese von Plessner und Gehlen vorgenommene Akzentsetzung charakterisiert den soziologischen Zugang zur Konzeption des Sonderforschungsbereiches 511. Aus der „exzentrischen Positionalitat" (Plessner 1975) und dem durch sie geprägten „gebrochenen Weltbezug" (Schulz 1994) ergibt sich jene „natürliche Künstlichkeit" (Plessner), die den Menschen zur ,Konstruktion' seiner Umwelt zwingt: der Mensch hat keine natürliche Umwelt, sondern muß sich diese immer erst und immer wieder neu aufbauen, die ihm entsprechende Umwelt fst in diesem Sinne künstlich. Sie ist das, was er aus ,der' Natur und sich selbst macht - ein Teil der Kultur. Zur ,Natur' des Menschen gehört es demnach, Kulturwesen zu sein und Kultur zu schaffen: soziale Ordnungen (Normierungen, Moralen, Werte, Institutionen, Kommunikationsmuster, Medien, Fiktionen etc.). Diese sozialen Welten sind ihm einerseits als „sozio-historisches Apriori" (Luckmann 1980) vorgegeben, andererseits werden sie durch menschliches Handeln immer wieder neu erzeugt und verändert. Die fortwährende Modulation gesellschaftlicher

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Zweiter Verlängerungsantrag

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Ordnungen - zentraler Gegenstand soziologischer Forschung und Theorien - lenkt den soziologischen Blick bei der Frage nach ,anthropologischen Universalien' auf eine - vermutlich der prinzipiellen Labilität sozialer Ordnungen entspringenden - Tendenz zur Universalisienmg bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, Werte, Welt- und Menschenbilder. Diese Universalisierungstendenz muß sorgfältig von der Frage nach - wie auch immer formulierten und behaupteten - Universalien unterschieden werden. Wie notwendig eine solche Unterscheidung ist, zeigt sich am Beispiel der Diskussion über ,allgemeine Menschenrechte' (Universalisierung ,westlicher' Verfassungsideen); über das Vertrauen in die prinzipielle Tauschbarkeit und Kompatibilität aller Waren und Geldwerte (die Leitidee ,moderner' Ökonomie) und über die Idee einer Weltreligion, einer Ökumene aller Menschen. Für anthropologisch fundierte, (wissens-)soziologische Forschung und Theoriebildung ergeben sich im Kontext des Sonderforschungsbereichs 511 folgende Leitfragen: Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, dass menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen (choses, Durkheim), Vergegenständlichungen hervorbringt und erhält? Weiter: Welches sind die konkreten historischen Bedingungen, durch die menschliches Handeln und die von ihm hervorgebrachten, zunächst partikularen Welten für beispielhaft und damit universalisierbar gehalten werden? Schließlich: Lassen sich übergreifende Strukturen, Typologien, Handlungsmuster und Regeln nachweisen, die nicht nur dafür verantwortlich sind, dass kulturanthropologische Differenzen entstehen, sondern auch dafür genutzt werden können, dass diese Differenzen komparativ ,verstehend' aufeinander bezogen werden können? Zur Geschichtswissenschaft: Im Bereich der Historischen Anthropologie, die Anregungen aus der Ethnologie und Soziologie aufnahm, ist die Frage nach der Universalität am Beispiel von geschlechtlichen Differenzierungen, von Körpererfahrung und Sexualität, aber auch von Gewalt und Religion diskutiert worden. Z.B. galt die Geschlechtersegregation der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zunächst weithin als naturgegebenes und eben nicht als geschichtliches Phänomen. Die Leistung der Historischen Anthropologie war es, solche und andere universalistischen und teleologischen Annahmen der ,großen Erzählungen', die von Voltaire bis zur Historischen Sozialwissenschaft Bielefelder Provenienz (Wehler, Kocka) teilweise die Geschichtsschreibung beherrschten, aufgebrochen und damit eine Wiederaufnahme der historistischen Problemdimension ermöglicht zu haben. Die Auseinandersetzung zwischen Mikro- und Makrohistorie, ,Teil und Ganzem', die seit den 1980er Jahren die Geschichtstheorie intensiv beschäftigt (vgl. Groh 1985; Acham/Schulze 1990), läßt sich in vielen Fällen als Gegensatz von universalistischen und partikularistischen Ansätzen beschreiben. Angesichts der Dichotomie von kulturalistisch-subjektiven (Thompson, Medick, Lüdtke) und strukturell-objektiven (Braudel- Schule, Wehler) Positionen wurde bereits zu Beginn der 1970er Jahre eine Vermittlung beider

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SFB 511

Ansätze als „dritter Weg" vorgeschlagen (Groh 1971, 1988, 1995),,ein Vor; \ schlag, der erst neuerdings wieder aufgenommen wurde (van Dülmen 2000). Beide Ansätze universalisierten jeweils ein Partikulares, die Mikro; historie die subjektive Perspektive der Betroffenen, die Makrohistorie objek; tive Strukturen und Prozesse. So gesehen ist auch die Beschreibung der strukturgeschichtlich ausgerichteten Makrohistorie trotz ihres universalisti; sehen Charakters eine perspektivische, während die Mikrohistorie umge; kehrt kaum weniger universalistisch ist, wenn sie etwa auf der Irreduzibili; tät persönlicher Erfahrung beharrt. Aus der Perspektive des kulturhistori; sehen Teilprojekts von Ruth Groh Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung. Naturphilosophische und anthroplogische Perspektiven, in dem von Beginn des SFB 511 an das Problem der Universalien, im Spannungsfeld von Universa; lismus und Partikularismus, im Zentrum stand, sowie aus der Perspektive des wissenschaftshistorischen Teilprojekts von Dieter Groh Anthropologische

Voraussetzungen wissenschaftlicher Diskurse: Theologische und teleologische Denkmuster und deren Widerpart in den Wissenschaften seit dem 16. Jahrhundert hat die Geschichtswissenschaft in den verschiedensten Gegenstandsberei; chen Partikulares universalisiert, um ihm universelle und das heißt auch überzeitliche Geltung zu verschaffen. Eine systematische Diskussion der Universalienproblematik hat außer in diesen Projekten in den historischen Wissenschaften bisher wohl nicht stattgefunden. Die Suche nach anthropo; logischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Diskurse führte in den ge; nannten Projekten zu dem Ergebnis, dass die zugrundeliegenden Men; schenbilder - idealtypisch gesehen - entweder einer positiven, optimisti; sehen oder einer negativen, pessimistischen Anthropologie folgen. Als We; sensbestimmungen des Menschen beanspruchen sie universelle Geltung. Hier begegnet man jeweils einer Universalisierung von Partikularem, die sich nicht zu rechtfertigen vermag. Auf den ersten Blick scheint die Ethnologie prädestiniert, wesentliche Bei; träge zum Problem menschlicher Universalien zu liefern. Als universalisti; sehe ,psychologische' Fragestellung oder als evolutionärer Diskurs, der auf Universalien zielte, setzt ihre Entwicklung darum auch in Deutschland (La; zarus, Steinthal), England (Tylor, Frazer) und in den USA (Morgan, Boas) ein. Doch die ethnologische Praxis des späten 19. und des 20. Jahrhunderts (Malinowski) führt immer wieder zur partikularen Verfeinerung der Daten; basis, so dass schließlich Kulturrelativismus, monographische ,dichte Be; schreibung' und die Dekonstruktionsbewegung der ,writing culture' die Szene beherrschten. Merkwürdigerweise führen aber gerade die verfeiner; ten ethnologischen Methodologien der letzten Jahrzehnte, die Situations; und prozessuale Analyse, die Netzwerkanalyse usw. zu einer neuen Verein; heitlichung ethnologischer Kategorien. Auch die ,dichte Beschreibung' führt heute zu einem ,dichten Vergleich', in dem Wanderungen und funktionale Äquivalente bestimmter Kulturgüter in erweiterter Perspektive geschildert werden (Kramer). So hat insbesondere die französische und britische sozial; anthropologische Tradition (Durkheim, Mauss, Radcliffe-Brown, Turner)

Zweiter Verlängerungsantrag

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immer wieder zur Schaffung von Kategorien geführt, die in einer Fülle von vergleichenden Untersuchungen der Ethnologie, der Kulturhistorie und der historischen Anthropologie erhärtet werden konnten. Neben ethnologischen Kategorien wie ,Totemismus', deren Artefakt-Charakter früh durchschaut wurde (Levi-Strauss), sind eine Fülle weiterer Kategorien auch aus der Ethnologie heraus in Umlauf gesetzt worden, die sich keineswegs einer so grundlegenden Kritik ausgesetzt sahen wie die alten Begriffe der evolutionistischen Ethnologie. Heute strahlen solche Begriffe weit über das enge Feld der Ethnologie hinaus; zu nennen sind etwa: Körperschaft, Segmentation, generalisierter Tausch, Liminalität und Übergangsritual, Schriftkultur, Autopoiesis und Schismogenese. Begriffe von Körper, Seele und Reflexion der menschlichen Existenz (vgl. SFB-Papier Der menschliche Körper, S. 363406); Verhältnisse von Ressourcen, Umwelt und kulturspezifischen Technologien, Ästhetik, Macht und kulturelle Konstruktion als Universalie oder systematisches Element von ,Kultur' erweisen sich auch nach der Dekonstruktionsbewegung als hartnäckige ,veritable Signifikate' (Foucault), welche den Anschluß der Ethnologie sowohl an den Verbund spezialisierter Kulturwissenschaften wie an einen kulturwissenschaftlich gut informierten Neo-Evolutionismus (J. Diamond, Johnson/Earle, Luhmann) nahelegen. Im Dialog mit Geographie, Linguistik, Biologie und Medizin einerseits und den spezialisierten Kulturwissenschaften andererseits trägt die Ethnologie heute wieder im Gefolge von Psychologie, Soziologie und textwissenschaftlicher Selbstreflexion zu einer allgemeinen Anthropologie bei. Die Psychologie hat als Wissenschaft vom Denken, Erleben und Handeln ebenso sehr die biologischen Grundlagen als auch die kulturellen Bedingungen menschlichen Handelns zum Thema. Daher befaßt sich die Psychologie zwar einerseits seit ihren Anfängen mit der Frage nach Universalien, beobachtet andererseits aber die vielfachen Unterschiede psychologischer Phänomene und Prozesse. Entscheidend dabei ist aus psychologischer Sicht die unterschiedliche Wirksamkeit zunächst vorausgesetzter anthropologischer Universalien in verschiedenen kulturellen Kontexten. So werden primäre (biologische) Bedürfnisse durch Lernerfahrung jeweils kulturell überformt. Die dabei wirksamen Sozialisations- und Enkulturationsprozesse weisen allerdings je nach ihrer Funktion für den Einzelnen und für soziale Gruppen kulturpsychologische Besonderheiten auf, die keinen unmittelbaren Rückschluß auf Universalien mehr erlauben. Unter dieser Perspektive leistet die Psychologie einen wichtigen Beitrag zur klassischen Frage nach dem Anteil von Anlage und Umwelt (nature-nurture-Kontroverse) und schlägt so eine Brücke zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Wurde die Diskussion früher weitgehend zugunsten der einen oder anderen Position geführt, so wird sie heute wesentlich differenzierter wieder aufgenommen (Maccoby 2000), unter anderem in Anschluß an Autoren wie Gesell, Thompson und Amatruda (1934), die feststellten, dass Anlage und Umwelt nicht voneinander abgrenzbar sind. Eine gleichermaßen kulturwissenschaftlich wie biologisch angelegte Psychologie geht heute im Sinne von Trevarthen (1983) und

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. SFB 511

Tomasello (2000) davon aus, dass eine genetisch verankerte Disposition vorliegt, Kultur durch soziale Interaktion (und deren ontogenetischer Entwicklung) anzunehmen und zu vermitteln. Dazu werden in der ,kulturinformierten' Entwicklungspsychologie im Sinne von Jahoda (1998) Prozesse der Entkulturation des Einzelnen und der Stabilisierung, Veränderung und Weitergabe von Kultur untersucht, wobei die Beziehungen zur Sprach- und Literaturwissenschaft sowie zur Soziologie und Philosophie eine wichtige Rolle spielen. Diese Skizzen zum Diskussionsstand der Frage von Partikularem und Universalem/Universalisiertem in den am SFB 511 beteiligten Disziplinen lassen sich so zusammenfassen: Die früheren Entweder-Oder-Theorien und deterministischen Modelle sind überholt; allenthalben sind multifaktorielle Theorien in der Diskussion. Vorgeschlagen werden Modelle für das Verhältnis der verschiedenen Faktoren, etwa zwischen Natur und Kultur, Partikularem und Universalem/Universalisierungen. Dabei treten dem „levels approach" z.B. in der Cross-Cultural-Universals-Forschung (Malinowski 1975), der charakterisiert ist durch die Annahme (a) biologisch gegebener Grundbedürfnisse, (b) kultureller ,Imperative' zu ihrer Befriedigung und (c) einer spezifischen historischen Gestalt dieser Befriedigung, zunehmend Modelle der Interdependenz, der Wechselwirkung und der dynamischen Veränderung an die Seite. Der SFB 511, der eine Vielfalt von Disziplinen mit ihren Modellbildungen umfaßt, kann als idealer Raum für die transdisziplinäre Modelldiskussion im Bereich des Universalen/Universalisierten und Partikularen/ Historischen verstanden werden. Sofern Sprache und Sprachverwendung als „cultural universal par excellence" zu bezeichnen ist (Wiredu 1996, 28), kann Literaturwissenschaft, besonders wo sie interkulturelle Vergleiche anstellt, über die bisherigen Aspekte der literarischen Anthropologie und der Anthropologie der Literatur hinaus mit komplexen dynamischen und multifaktoriellen Modellen in die Diskussion eingreifen. Indem der SFB 511 auf der Grundlage seiner unverändert kulturanthropologischen Ausrichtung die Universaliendiskussion aufnimmt, vermag er nicht nur die jeweiligen historischen und/oder regionalen Verhältnisse von Universalem/Universalierungen und Partikularem zu beschreiben, sondern auch den Stellenwert der Behauptung menschlicher Universalien etwa in der aktuellen, von den Naturwissenschaften angestoßenen, aber inzwischen auch darüber hinaus vehement geführten Diskussion um den Entwurf einer evolutionären Gesaintarithropologie kritisch zu analysieren. Diese Diskussion, die nachfolgend kurz skizziert werden soll, ist von besonderem Interesse, weil sich auch in den Kulturwissenschaften verstärkt Tendenzen zeigen, historische Entwicklungen und kulturelle Prozesse in Analogie zur natürlichen Evolution zu erklären. Eine wichtige Grundlage ,evolutionärer' Kulturentwicklungstheorien ist die Auffassung, ,Kultur' stelle ein Kontinuum dar, in dem Tier und Mensch gleichermaßen ihren lediglich quantitativ zu differenzierenden Ort innehät-

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Zweiter Verlängerungsantrag

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ten (vgl. Ruse 1997). Kulturelle Leistungen bedeuten in dieser Perspektive erweiterte kognitive Fähigkeiten des Menschen, seine Umwelt zu bewältigen und damit für sein Überleben zu sorgen. Mittels solcher Erklärungen könnten nicht-evolutionäre Theorien über den Menschen entweder naturwissenschaftlich fundiert (Boyd/Richerson 1988; Durham/ Boyd/Richerson 1997), oder gar zurückgewiesen werden (Lumsden/Wilson 1981; Barkow u.a. [Hgg.] 1992; Plotkin 1997). Als problematisch müssen evolutionäre Kulturtheorien besonders dann gelten, wenn anthropologische Spezifika wie ,Sprachlichkeit', ,Vernünftigkeit', ,Moralität' oder ,Fiktionsvermögen' als biologische Universalien bestimmt werden, die beim Menschen in deutlicher, bei seinen evolutionsgeschichtlich nächsten Verwandten in rudimentärer Form aufträten. Wenn in diesem Zusammenhang neuerdings die Überwindung der ,postmodernen Zersplitterung' der anthropologischen Disziplinen mittels eines neuen Gesamtentwurfs des Menschen angemahnt wird (Dennett 1995; Wilson 1998), schließt sich aus der Perspektive des SFB 511 der Kreis zu der im ersten Bewilligungszeitraum problematisierten Entstehung der Anthropologie als Globaldisziplin: Wie die Gesamtschau der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert als Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Disziplinen im 19. Jahrhundert verstanden werden kann, so können auch die jüngsten evolutionären Entwürfe einer Gesamtanthropologie am Ende des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die (diesmal kulturanthropologisch bewirkte) Ausdifferenzierung der anthropologischen Disziplinen verstanden werden. Die Gesamtentwürfe reichen von der Aufnahme traditioneller Formeln: der Mensch ein Säugetier oder ein kompensierendes Mängelwesen, bis hin zu neueren Fassungen vom ,vorprogrammierten' Menschen oder vom Menschen als ,Überlebensmaschine' für seine Gene (Dawkins 1976, 1995; Eibl-Eibesfeldt 1986; Wilson 2000; vgl. kritisch: Rose 1998). Gemeinsam ist ihnen, dass sie den konstruktiven und metaphorischen Charakter ihrer Menschenbilder übersehen oder ihn sogar explizit zurückweisen. Dass der Mensch letztlich von einem Natur- und Kulturwesen in ein reines Naturwesen verwandelt wird, wird meist nicht bemerkt, womit erneut anthropologische Wesensbestimmungen auftreten, die den Anspruch erheben, hinreichende Bedingungen dessen zu sein, was der Mensch ist. Praktisch werden hier allerdings lediglich partikulare menschliche Eigenschaften zu universalen hypostasiert - zumeist unter thetischem Verweis auf die Evolution als universalem und verbindlichen Paradigma aller Wissenschaften. Solche Erklärungen sind problematisch und aus wissenschafts- und kulturhistorischer Sicht erklärungsbedürftig (vgl. Gould 1996; Mayr 1998). Denn in welcher Weise sie auch reformuliert wird - die Vorstellung eines eindeutigen und in seiner Reichweite uneingeschränkten naturwissenschaftlichen Wissens des Menschen über sich selbst übersieht die notwendig universale anthropozentrische Zirkularität jeglichen Wissens. Auch die naturwissenschaftlich „objektive" Realität ist nur eine eingeschränkte. Sie ist kulturell vermittelt und damit notwendig perspektivisch. Im Sinne der für den SFB 511 grundlegenden Frage nach der semantischen und pragmatischen Di-

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mension anthropologischer Fundamentalien (vgl. den ersten Verlängerungsantrag 3.1.7) werden deshalb auch kulturelle Entstehungs- und Rezeptionsprozesse evolutionstheoretisch fundierter Kulturtheorien auf Basis des methodologischen Konzepts eines ,perspektivierten Pluralismus' kritisch nachzuzeichnen sein.

3. Ziele, Methoden, Arbeitsprogramm Auch bezüglich der allgemeinen Zielstellung des Ersten Verlängerungsantrags (s. S. 29-66) besteht keine Notwendigkeit einer Revision. Hinzu kommt jedoch die oben bereits im Stand der Forschung benannte verstärkte Berücksichtigung der Frage nach menschlichen Universalien und der kulturanthropologischen Beschreibung des jeweiligen Verhältnisses von Universalem/Universalisierungen und Partikularem. Darüber hinaus haben sich aus den einzelnen Forschungsprojekten, vor allem aber durch deren intensiven Austausch, weitere Themenfelder herauskristallisiert, die die Arbeit des SFB 511 im neuen Verlängerungszeitraum verstärkt mitbestimmen werden: • Der menschliche Körper • Begrenzungen und ,Fehlformen' der dem Menschen anthropologisch zugesprochenen Möglichkeiten • Naturwissenschaften.und ihre Geschichte Diese Themenbereiche seien hier eingehender erläutert. Der menschliche Körper Im Folgeantrag 1999-2001 wurde betont, dass die kulturelle Natur des Menschen keine constructio ex nihilo ist, es vielmehr „vorkonstruktiv gegebene" grundlegende Dispositionen des Menschen gibt, die ihm „schon vor bzw. in Absehung von der bereits erfolgten kulturellen Ausformung zuzuschreiben sind". Von diesen als genotypische Merkmale gefaßten Vermögen des Menschen. wurden phänotypische Merkmale unterschieden, die direkt wahrnehmbar in Erscheinung treten - etwa als körperlicher Ausdruck von Emotionen und Schmerz. Während jedoch genotypische Merkmale niemals ,als solche' erscheinen, sondern ausschließliches Produkt der anthropologischen Theorie sind (vgl. den ersten Verlängerungsantrag S. 29-66), zeigt sich der menschliche Körper in phänotypischen Merkmalen zwar ,jenseits' sachtheoretischer Konstruktionen, wenn auch nicht so, ,,wie er wirklich ist", denn auch körperliches Ausdrucksverhalten muß stets interpretiert werden. In den letzten zwanzig Jahren hat sich eine Geschichtsschreibung des menschlichen Körpers als Thema literatur-, kultur- und sozialhistorischer Untersuchungen etabliert. Im Zentrum des Interesses standen bislang vor allem die Fragen nach historisch gewandelten Geschlechteridentitäten und Geschlechterverhältnissen. Im Rahmen poststrukturalistischer Theoriebil-

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dung und einem kulturwissenschaftlichen Verständnis, das ,Kultur' als bloßen Text auffaßte, ließ sich allerdings durchaus eine kulturalistische Abgehobenheit der Diskussionsbeiträge von der sozialen oder psychosomatischen Realität (vgl. Duden 1991; Epstein/Straub 1991) konstatieren. Kulturanthropologie versteht sich hier als Möglichkeit, in der konkreten Beschreibung historischer oder regionaler Ausprägungen von Körperlichkeit dennoch nicht hinter die theoretische Reflektiertheit der benannten Positionen zurückzufallen. In diesem - wenn auch nicht immer als genuine Kulturanthropologie ausgewiesenen - Sinne finden; sich inzwischen verstärkt methodische Ansätze, die ausgehend von der ·performativen Funktion gesellschaftlicher Praktiken, die Körperdiskursen nachfolgen, sie ergänzen oder ihnen widersprechen, formuliert und im Rahmen einzelner, zeiträumlich begrenzter Studien auch umgesetzt worden sind (vgl. die Sammelbände Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte 1999; Lindenberger/Lüdtke 1995; Sarasin/Tanner 1998). Im Rahmen der Kulturwissenschaften begegnen allerdings inzwischen auch Ansätze, die einen ganz aus der Perspektive der Naturwissenschaften verstandenen Körper als Grundlage einer neuen Gesamtanthropologie in Anschlag bringen. Die Frage nach dem menschlichen Körper gehört zu den Grundbeständen jeder Anthropologie. Im SFB 511 erhält sie jedoch ihre Spezifik unter Gesichtspunkten der sich kommunikativ und literarisch semiotisierenden und artikulierenden Existenz. Dabei sind naturwissenschaftliche Konzepte der Anthropologie ebensowenig zu vernachlässigen wie kognitionswissenschaftliche Forschungen (,,enactionism"). Begrenzungen und ,Fehlformen' der dem Menschen anthropologisch zugesprochenen Möglichkeiten Als ein weiterer neuer Aspekt in der Grundorientierung ist die Aufmerksamkeit auf Begrenzungen und ,Fehlformen' der ,dem' Menschen anthro- · pologisch zugesprochenen Möglichkeiten zu nennen. Der These von der unbegrenzten Plastizität des Menschen als eines sich selbst erschaffenden und uneingeschränkt wandelbaren Wesens wird dabei entgegengestellt, dass solche Plastizität in der Realität selten gegeben ist und dass insofern · Beschränkungen und Begrenzungen des Möglichkeitsraumes selbst ein anthropologisches Faktum darstellen. Dies heißt gerade nicht, die alte Prämisse vom ,Mängelwesen' zu erneuern oder die anthropologische Thematik auf Beschädigung respektive eine Opferperspektive zu reduzieren. Vielmehr geht es einerseits darum, der konstitutiven menschlichen Endlichkeit und Unvollkommenheit gerecht zu werden, andererseits die grundsätzliche Fragilität und Zerstörbarkeit menschlicher Substanz stärker in Rechnung zu stellen. So läßt sich etwa von der Reflexion traumatischer Erfahrungen im Individuellen wie Sozialen behaupten, dass sie das Nachdenken über Grundlagen menschlicher Existenz und die Normen menschlichen Zusammenlebens immer neu anstoßen. Allgemeiner gesagt geht es somit darum,

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jene konkreten (historischen resp. ,regionalen', aber auch individuellen) Situationen zu berücksichtigen, die immer wieder zu Abweichungen vom (anthropologisch) vorausgesetzten Verständnis ,des' Menschen führen, und so zu Bestimmungen des Menschlichen zu gelangen, die solche ,Devianzen' noch mit zu umfassen vermögen. Naturwissenschaften und ihre Geschichte Der SFB 511 hat sich im Rahmen eines Workshops, aber auch in den Sitzungen seines Forschungskolloquiums im WS 2000/2001 intensiv mit den Chancen und Problemen einer Diskussion mit den Naturwissenschaften um grundlegende anthropologische Fragestellungen auseinandergesetzt. Diese Diskussion soll im Allgemeinen wie in den Forschungen der einzelnen Teilprojekte (erweitert um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Naturwissenschaften) im neuen Verlängerungszeitraum verstärkt fortgesetzt werden. Während diese Stichworte für thematische und methodologische Fortentwicklungen der Forschungen des SFB 511 Literatur und Anthropologie stehen, zeigt sich dessen Kontinuität an der fortgesetzten Bearbeitung anderer Themenfelder. Dazu gehören: Rhetorik, Menschenbilder, Medien und Kommunikation. Diese Gesichtspunkte bleiben auch im zweiten Verlängerungsantrag erhalten und belegen, dass da's Verhältnis von Fundamentalien und kultureller Konstruktion schon im ersten Verlängerungsantrag eine Rolle spielte, wenngleich der Interessenschwerpunkt auf der Beschreibung kulturanthropologischer Differenzen lag. Dieser Schwerpunkt soll nun im Sinne der in (2) Stand der Forschung erläuterten Entwicklung hin zu einer Erforschung jeweils universaler u1'.d partikularer Gesichtspunkte weiterentwickelt werden, vor allem aber noch stärker als bisher zu einer auf Transdisziplinarität angelegten und aus den im SFB 511 mitarbeitenden Disziplinen gespeisten Modellbildung für die Verhältnisse der Abhängigkeit, Implikation, Wechselwirkung, Expression, Reflexion und Inszenierung von Universalem/ Universalisierungen und Partikularem führen. Wie mehrfach angedeutet, sieht der SFB angesichts der fortschreitenden Globalisierung dringenden Bedarf an Modellen, die auf den verschiedensten Gebieten Globalität mit Regionalität zu vereinbaren ermöglichen. Alle Teilprojekte werden deshalb vor drei Fragen gestellt: Wie verhält sich das jeweilige Teilprojekt zur Annahme von anthropologischen Universalien/Universalisierungen im bearbeiteten Bereich? Welche Aussagen zum Verhältnis von anthropologischen Universalien/Universalisierungen und kulturellen Differenzen legt das Teilprojekt nahe? Welche Funktion und Leistung hinsichtlich anthropologischer Universalien/Universalisierungen, kultureller Differenzen und transkultureller Metakommunikation hat Literatur?

Zweiter Verlängerungsantrag

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Gerade in diesem dritten Problembereich sieht der SFB 511 seine genuine Aufgabe und seine Chance, zu der in vielen Disziplinen geführten Debatte einen richtungsweisenden und entscheidenden Beitrag zu leisten. Denn in dieser Debatte ist die Rolle der Literatur als Medium der Artikulation, Kritik, Überwindung kultureller Konzepte vom Menschen (,literarische Anthropologie'), als Inszenierung anthropologischen und kulturspezifischen Handelns im Modus der Fiktion (,Anthropologie der Literatur') und als ausgezeichnetes Feld der Entwicklung und Erprobung von Modellen des Verhältnisses von Universalem und Partikularem bisher kaum wahrgenommen worden. Demgegenüber läßt sich jedoch behaupten, dass die ihrerseits anthropologisch relevante literarische ,Inszenierung' von Anthropologica und ihre kulturelle Ausformung nicht nur ein exemplarisches Untersuchungsfeld für diese Fragen bietet, sondern es erlaubt, in einer interdisziplinären Betrachtungsweise über die sonst zu beobachtenden fachspezifischen Verengungen hinauszugelangen und somit Grundlegenderes zum alle menschliche Kultur bestimmenden Zusammenspiel von Partikularem und Universalem/Universalisierungen aussagen zu können.

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II. Diskurse

Hans Robert Jauss

Karl Löwith und Luigi Pirandello „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen" wieder gelesenl

Karlheinz Stierle zum 22.11.1996

I. Karl Löwiths Habilitationsschrift ist weithin in Vergessenheit geraten. Die philosophischen und hermeneutischen Debatten der letzten Jahrzehnte haben die Problematik, die sein Buch: ,,Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen" entfaltet, nicht explizit aufgenommen, weder in der poststrukturalen Theorie oder im Dekonstruktivismus, noch in der Theorie des kommunikativen Handelns, aber auch nicht in der Auseinandersetzung über den Geltungsanspruch der Hermeneutik. Dabei hatte Löwith schon 1928 - der späteren Logozentrismuskritik weit voraus - die Einseitigkeit subjektzentrierter Vernunft in der Geschichte der neueren Philosophie ins Licht gerückt. Er hatte ihr vor allem entgegengehalten, dass sie den Vorrang der Mitwelt vor der Umwelt verkannt, das ursprünglichere Miteinandersein von Ich und Du dem Verhältnis von Subjekt und Objekt nachgeordnet und dabei insgesamt vernachlässigt habe. Die nach wie vor bedenkenswerte Ausgangsthese seiner dialogischen Hermeneutik lautete: ,,Zu sich selbst zurück kehrt der Mensch aber zumeist nicht von ,Objekten', sondern von Subjekten, d. h. von Seinesgleichen; denn die ,Welt' an die er sich vorzüglich kehrt, ist die ihm entsprechende Mitwelt" (S. 1).2 Damit stellt sich heute die rückschauende Frage, ob die seither so gern beschworene Austreibung des Subjekts wie auch der vermeintliche Untergang einer Philosophie des Sinns3 und schließlich die Wendung zum ,Anderen der Vernunft' letztlich nicht die unerkannte Folge der Tendenz gewesen ist, die Beziehung von Mensch und Welt auf das monologische Verhältnis von Subjekt, und Objekt zu reduzieren. So gesehen musste die schon von Löwith geforderte Kritik der subjektzentrierten Vernunft nicht unabdingbar Erstmals veröffentlicht in: Romanistische Zeitschrift filr Literaturwissenschaft, 20, 1996, S. 200-226. 2 Das Individuum in der Rolle des Mitmensc/1en, München 1928; Wiederabdruck Darmstadt 1962, danach im Text mit Seitenzahl zitiert; Pirandello: Cosi e (se vi pare) zitiert nach: Maschere nude, Milano: Mondadori, 1958, Bd. l. 3 Dazu M. Frank: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt 1980, S. 36ff. 1

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in die Sackgasse einer negativen Theologie der Destruktion von Sinn überhaupt, in die Selbstpreisgabe des Menschen an die anonymen Diskurse der Macht oder in die jüngste Rückwendung zur Heilkraft einer vernunftfernen Ästhetik der Natur führen. 4 Vielmehr kann aus Löwiths dialogischer Hermeneutik ein nicht mehr egologischer Subjektbegriff - das Individuum als ,Dividuum' - gewonnen und Verstehen erneut dialogisch, als ein Sich-Verstehen im Andern, begründet werden, womit nicht das schlechthin Andere, sondern der konkret begegnende Andere gemeint ist. Löwiths Analysen des Miteinanderseins führen vom Miteinander-Sprechen zur Problematik der gegenseitigen Anerkennung von Mensch und Mitmensch, von Ich und Du. Sie eröffnen damit ein intersubjektives Verstehen, das der Differenz des Eigenen zum Fremden entspringt und im dialogischen Verhältnis erfordert, einander mit den Augen des Andern zu sehen und sich gegenseitig als Person in ihrer Eigenheit und ihrem Eigenrecht zu achten. Die dialogische Hermeneutik impliziert damit die ihr eigene, in der Freiwilligkeit allen Verstehens begründete Moralität. Darin lag der von Löwith noch nicht ausgeführte Ansatz einer hermeneutischen Moral, den ich in meinen Wegen des Verstehens aufgenommen und im Blick auf den moralischen Anspruch des Ästhetischen vertreten habe.s Der literarischen Hermeneutik, um die es hier in erster Linie gehen soll, hat Löwiths Buch eine exemplarische Applikation hinterlassen, die als Prüfstein seiner eigenen Theorie,' aber auch im Blick auf Pirandello, den er dafür wählte, noch nicht ausgeschöpft zu sein scheint. Seine Interpretation von Cos1 e (se vi pare) stellte das Drama in eine Perspektive, die den philosophischen Zugang zum Gesamtwerk Pirandellos eröffnet: ,,Die Erkenntnis, dass der Mensch in seinen Lebensverhältnissen nicht als pures, nacktes Individuum, sondern in der Form verhältnismäßiger Bedeutsamkeit - als persona zur Geltung kommt, isf der monomanische Grundgedanke in der gesamten künstlerischen Produktion Pirandellos" (S. 84). Persona ist dabei zunächst im ursprünglichen Sinn von Maske zu verstehen. Der Obertitel seiner Theaterstücke: Maschere nude trifft dann die Intention, ,,die den Menschen in seinem eigentlichen Sein verdeckende ,Maske' zu demaskieren- ,finche si scopre nuda", bis sich das maskierte Dasein in seiner Nacktheit zeigt" (S. 85). Als personae gewinnen die Masken dabei eine eigentümliche Realität. Die Personen in Cos1 e(se vi pare) (von Löwith übersetzt: ,Sofern es euch so erscheint, ist es so') sind einzig und durchgängig dadurch bestimmt, wie sie einander oder sich selbst erscheinen: ,,Der Ton· liegt nicht auf dem Erscheinen als einem ,bloßen' Schein, sondern auf der Erscheinungsweise eines Seins" (ebd.). Soviel Schein, soviel Sein: das Erstgegebene ist nicht, was einer für sich selbst, als vermeintlich selbstständiges Individuum ist, sondern was er für Einen oder für die Andern bedeutet.

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S. dazu meine Studien zum Epoc/1emvandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt 1989, S. 17ff. München 1984, Kap. 2

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Soweit der Ansatz von Löwiths Interpretation, deren Leistung und Grenzen in der Wiederlektüre zunächst zu prüfen sind. Sodann soll der Frage nachgegangen werden, wie Pirandellos Grundkonzeption, mit der er die Abkehr vom naturalistischen Illusionstheater vollzog, entstand und auf verschiedene Weise erprobt wurde. Der Konflikt zwischen dem Für-sichSein und dem Sein-für-Andere ist in seinem Werk vielfältig, sowohl komisch als auch tragisch, ausgestaltet worden. Er kann so weit gehen, dass die Personen in der verhältnismäßigen Bedeutung, ih der sie zueinander stehen, völlig aufgehen, dass die Identität des eigenen Selbst dabei verloren geht und es unmöglich erscheint, einander jenseits der angenommenen Rollen überhaupt noch zu erkennen. Wenn es derart Pirandellos Personen versagt ist, sich selbst im Andern zu verstehen, wird eine Prämisse der idealistischen Hermeneutik, das dialektische Verhältnis des Eigenen und des Fremden, dem das Verstehen des Individuellen entspringt, außer Geltung gesetzt. 6 Da Löwith am Ende Pirandellos Darstellung überschärft fand und ihn der Ausgang des Stücks unbefriedigt ließ (S. 102), bleibt abschließend zu erörtern, wie er selbst das Sich-Verstehen im Andern begründet hat, anders gesagt: wie das Individuum primär in der Rolle des Mitmenschen erfahrbar werden und dabei doch seine selbstständige Gestalt bewahren oder wiedergewinnen kann. II.

Cosz e(se vi pare) ist vorab im Gang der Handlung und in der hintergründigen Motivation wie folgt zu charakterisieren. Das Drama, aus einer Novelle weitergeführt, entwickelt und verwickelt sich an dem folgenden Fall. Den drei Personen der inneren Handlung: Herrn Ponza, dessen Frau (von Löwith mit X bezeichnet) und seiner Schwiegermutter, Frau Frola, stehen in der äußeren Handlung die Einwohner einer süditalienischen Stadt gegenüber. Sie befremdet das merkwürdige Verhalten der zugezogenen Familie: Herr Ponza wohnt mit seiner Schwiegermutter zusammen, hat für seine Frau ein Zimmer in einem anderen Haus gemietet und verhindert, dass sich die beiden anders als vom Fenster aus sehen und sprechen können. Er erklärt dazu, seine erste Frau sei verstorben; er könne seiner zweiten, jetzigen Frau nicht zumuten, mit der Mutter seiner ersten Frau zusammen zu sein. Doch dann stellt sich heraus, dass diese einfache Erklärung trügt und eine intrikate, in sich selbst widersprüchliche Motivation der drei Personen verbirgt. Frau Frola erklärt, ihr Schwiegersohn bilde sich nur ein, mit einer zweiten Frau verheiratet zu sein, wohingegen Herr Ponza behauptet, Frau Frola, die den Tod ihrer Tochter nicht habe verschmerzen können, glaube unverwandt, seine zweite Frau sei ihre Tochter. Beide bestärken einander in ihrer Wahn-

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Dazu Wege des Verstehens, Kap. l, bes. S. 4/7.

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idee (pazzia), überzeugt, dass nur so der Andere vor Verzweiflung bewahrt und größeres Unglück vermieden werden könne. ' Ist das Paradox dieser wechselseitigen Lebenslüge zwar absonderlich, aber immer noch durchschaubar, so steigert Pirandello im letzten Akt die Verstrickung der drei Personen für die internen Gegenspieler wie für die externen Zuschauer ins Unentscheidbare. Er läßt Frau X herbeirufen und befragen, wer sie in Wahrheitsei, worauf sie antwortet, sie sei für Frau Frola ihre Tochter, für Herrn Ponza hingegen seine zweite Frau. Sie hat mithin eine Doppelrolle angenommen, sich sowohl auf die Wahnidee ihres Mannes als auch auf die ihrer Mutter eingelassen, um beide nicht unglücklich zu machen: ,,Qui c'e una sventura, come vedono, ehe deve restar nascosta, per· ehe solo cosi puo valere il rimedio ehe la pieta le ha prestato" (S. 1077). Die Wahrheit dieses Verhältnisses muss verborgen bleiben; sie wäre für den Mann wie für die Mutter unerträglich· ein Unglück, das ihnen nur durch ein Mittel erspart werden kann: zu handeln ,als ob', mithin für jeden die Person zu sein, für die man sie hält, die Gestalt anzunehmen, in der man dem An· dern erscheint. Dieses ,Handeln-als-ob' ist nicht allein für Frau Frola ein Erweis ihres Mitleids. Schon ihre Mutter hatte bekundet: ,,Abbiamo ognuno le nostre debolezze, e bisogna ehe ce la compatiamo a vicenda" (S. 1026), und auch ihr Mann sieht sein Verhalten nicht anders, als „un'opera di carita ehe mi costa tanta pena e tanti sacrifizii" (S. 1070). Ihre Einwilligung i~ diese Lebensweise ist einmütig (,,Se il nostro accordo e perfetto! Siamo contente, contentissime", S. 1025), obschon durch eine Fiktion ermöglicht, mit der sich die Frage nach ihrem ,wahren Verhältnis' erübrigt, die von den Gegenspielern unablässig und unbarmherzig wiederholt wird. Kann und darf die Frage nach der Wahrheit .verleugnet, und preisgegeben werden, wenn es im Miteinandersein darum geht, sich über einen modus vivendi zu verständigen? Für den normalen Verstand ein Skandal, mit dem sich die Außenstehenden nicht abfinden können. Ihre bohrende Frage nach der Wahrheit, die sich hinter dem Verhältnis der drei Personen verbirgt, wird denn auch am Ende geradezu ad absurdum geführt. Als man Frau X, deren Auftritt bis zuletzt hinausgezögert ist, schließlich befragt, wer sie denn nu~, von ihrer Doppelrolle abgesehen, eigentlich und in Wahrheit für sich selbst sei, lautet ihre Antwort: ,Für mich selbst bin ich niemand' (,,per me nessuna! [... ] Per me, io sono colei ehe mi si crede", S. 1077) .. Laudisi, der philosophische Kopf unter den Gegenspielern, kommentiert mit einem höhnischen Lachen: ,,Ed ecco, o signori, come parla la verita!" (S. 1078). Die Wahrheit, die aus Frau X spricht, ist eine Bestreitung der ihr abverlangten Wahrheit. Für sie wie für ihre Mutter und ihren Mann gilt: soviel Schein, soviel Sein. Eine objektive Wahrheit, die unabhängig von ihrer subjektiven Bedeutung für die beiden andern bestünde, bleibt den Zuschauern entzogen; sie bleibt hier so unerklärbar wie das Wesen, das Frau X in Wahrheit für sich selbst sein müsste, aber zu sein bestreitet. So hinterlässt das Drama eine offene Frage, bei der nicht sicher ist, ob sie Pirandello für

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beantwortbar hielt - die Frage, wie sich der Mensch in seiner verhältnismäßigen Bedeutung für die Andern erfahren und gleichwohl als selbstständiges Wesen verstehen kann. Karl Löwith hat das in ihren personae verselbständigte Dasein der drei Personen im Gang der Handlung Schritt für Schritt nachgezeichnet und hervorgehoben, wie ihr Verhältnis als in sich geschlossene Welt für jeden ganz in der Bedeutung verbleibt, die er für die beiden andern verkörpert. Das sie einheitlich bestimmende Verhältnis kann als Solidaritätskreis (in den Worten der Mutter: ,,questo mondo chiuso d'amore", S. 1025) nur von außen gestört und aufgebrochen werden. Es muss zerbrechen, sobald im Verlauf der äußeren Handlung die Hauptpersonen einzeln und nacheinander befragt werden und jede der Drei gezwungen wird, ihr stillschweigendes Einvernehmen zu brechen und ihren Stand- und Gesichtspunkt isoliert zur Sprache zu bringen. Die Standpunkte widersprechen sich erst als isolierte, wenn sich jeder der Drei genötigt sieht, ,,von sich aus das ganze Verhältnis als sein Verhältnis zu den andern sich selbst und anderen verständlich zu machen" (S. 90). Dem ist aus meiner Sicht hinzuzufügen, dass Pirandello den latenten Widerspruch im reziproken Verhältnis der drei Personen dramatisch höchst wirkungsvoll verschärft hat. In ihrem Verhalten ist nicht allein das, was ein jeder für sich selbst ist, völlig in seine zwiespältige familiäre Rolle entäußert, sondern zugleich auf Vorstellungen des Einen vom Andern fixiert, die den Außenstehenden als Wahngebilde erscheinen müssen. Die von Löwith herausgestellte Macht der reflexiven Zweideutigkeit ist nicht einfach positionell bedingt, sondern in das Paradox gesteigert, dass für Herrn Ponza, Frau Frola und Frau X die verhältnismäßige Bedeutung ihrer personae keine Wahngebilde (pazzia) sind, sondern eine ihnen durchaus bewusste Fiktion (im Sinne einer ,willing suspension of disbelief'). Dabei entspringt ihr Unglück nun aber - wie man erwarten könnte - gerade nicht daraus, dass ihr stilles Einvernehmen durch die Trugbilder ihrer Rollen erkauft ist. Es tritt erst ein, wenn es durch die Intervention von Dritten gestört wird, die verstehen wollen und daran scheitern, die Wirklichkeit und zugleich das Wahngebilde vor Augen zu haben, ohne Sein und Schein unterscheiden zu können: ,,ecco~i dannati al meraviglioso supplizio d'averdavanti, accanto, qua il fantasma e qua la realita, e di non poter distinguere l'uno dall'altra" (S. 1041). So kommentiert Laudisi, der als einziger erkannt hat (und hier für den Autor spricht), dass die intersubjektive Wahrheit eines Verhältnisses zwischen Personen nicht auf einer Seite liegen kann, sondern stets auch davon abhängt, wie sie die Andern sehen, woraus folgt, dass ihr Verhältnis zueinander aus den Augen des Dritten durchaus widersprüchlich erscheinen mag (,,Pero le dico: rispetti cio ehe toccano gli altri, anche se sia il contrario di cio ehe vede e tocca lei", S. 1018). Mit Hilfe der erst nach Löwiths Buch zu Ehren gekommenen Rollentheorie erläutert: hier macht sich Rollendistanz, verstanden als Freiheit, sich zu seiner Rolle zu verhalten, auf verschiedene Weise geltend. Sie ermöglicht

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Laudisi, der als ein Dritter dem Ich-Du-Verhältnis der kleinen Familie gegenübersteht, das paradoxe Verhältnis ihrer Beziehungen als subjektive Wahrheit ihres modus vivendi zu begreifen. Sie muss als Wahrheit des Scheins für die Betroffenen zunichte werden, wenn sie genötigt sind, aus ihrer Rolle herauszutreten, um sie zu rechtfertigen, was von jedem erfordert, den Widerspruch zu erklären, warum er für sich selbst ein Anderer ist als die persona, die er für die Andern darstellt. Die aufgenötigte Rollendistanz kann sie hier nicht zur Selbständigkeit des Einen gegenüber den Andern befreien. Denn sie nötigt, die in Rücksicht auf die Andern eingegangene Rolle als eine bloße Fiktion preiszugeben, die als modus vivendi darin bestand, davon abzusehen, was jede Person für sich bedeutrn mochte. Im Heraustreten aus der Rolle findet sich das isolierte Ich an einer ihm unerklärbaren Leerstelle; es muss sich selbst unkenntlich bleiben, solange es erwartet, ein Für-sichSein jenseits seiner Rollen, in seiner unverhältnismäßigen Existenz, zu finden, statt es im Verhältnis zu den Anderen selbst zu suchen und zu erproben - ein Konflikt, den auszutragen die drei Personen sich weigern. Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen ist in der verschärften Interpretation Pirandellos kein substantieller Gegenpol zur Verhältnisbestimmtheit alles Miteinanderseins. Hier führt die Frage nach dem Für-sichSein unweigerlich ins Leere. Das zeigt sich nicht allein in den drei Personen, sondern wird auch eigens von Laudisi thematisiert. Sein Zwiegespräch vor dem Spiegel demonstriert, dass man zwar mit sich selbst auf Du und Du zu stehen und sich gründlich zu kennen glaubt, dann aber erfahren muß, dass dieses Für-sich-Sein beim einsamen Blick in den Spiegel zum Wahngebilde wird, sobald man dabei bedenkt, wie anders einen die Andern sehen: ,,Da bist Du ja, sag mal, wer von uns beiden ist nun verrückt? Ja, ich weiß wohl: Ich behaupte ,Du' und Du zeigst mit dem Zeigefinger auf mich. So, Du-aufDu stehend kennen wir einander gründlich. Das Elend ist aber, dass Dich die ,Andern' nicht -so sehen wie ich Dich sehe. Und was wird aus Dir, wie Dich die Andern sehen? Ein Wahngebilde, mein Lieber." Der Schluss dieses Monologs fasst die moralische Problematik des ganzen Stücks prägnant zusammen: ,,Und doch, siehst Du jene Narren? Ohne sich um das Wahngebilde zu kümmern, das sie mit sich selbst in sich selbst herumtragen, rennen sie voller Neugierde dem Wahngebilde anderer Menschen nach und glauben, das verhielte sich hier anders" (S. 93/94). Diese programmatische Stelle (von Löwith übersetzt, doch nicht in seine Argumentation einbezogen) dürfte wohl am besten erklären, warum Pirandello am Ende Frau X selbst noch auftreten läßt. Löwith sieht darin eine bloße „Konzession an das verständnislose Publikum innerhalb und außerhalb des Stückes". Ihm zufolge "wäre es konsequenter gewesen, auf diese drastische Bestätigung ihrer Unselbstständigkeit durch sich selbst zu verzichten. Ihr Auftreten ist absurd, weil sie nun doch als eine scheinbar selbstständige Person (... ) ihre rein verhältnismäßige Existenz, ihre Bestimmtheit durch Angehörigkeit ausspricht. Daraus motiviert sich in rechtmäßiger Weise ein Widerspruch gegen Pirandellos Lösung" (S. 99). Hier kann ich

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Löwith nicht folgen. Warum soll Frau X nicht aussprechen dürfen, was schon im Falle von Herrn Ponza und Frau Frola bemerkbar war und von Laudisi am Spiegel vor Augen geführt wurde? Was in alledem zutage tritt, ist just das Wahngebilde eines für sich seienden ,Individuums' jenseits der Rollen des Mitmenschen! Frau X sagen zu lassen: ,,per me (sono) nessuna!... Per me, io sono colei ehe mi si crede", scheint mir ganz in der dramatischen Konsequenz der Grundkonzeption zu liegen, die Löwith zuvor philosophisch wie folgt erläutert hat: ,,Ein selbstständiges Individuum ist sie (Frau X) nur körperlich, ihrer existentiellen Wirklichkeit nach existiert sie für zwei andere Personen. Außer ihrem ,Sein-für-Andere' hat sie kein ,Ansichsein', ihr Ansichsein ist wirklich nur jene ,bloße Abstraktion von allem Sein-fürAnderes', mit welcher Hegel Kants Begriff vom ,Ding-an-sich' kennzeichnet" (S. 98). Sollte nicht eben dies dramatisch gezeigt werden? Worin anders wäre „Pirandellos Lösung" zu erwarten? Löwiths Absicht war es, an Pirandellos Drama zuzeigen, ,,dass und wie einer zunächst an ihm selbst durch andere bestimmt, aber kein für sich seiendes ,Individuum' ist" (S. 102). ,Zunächst' meint hier, daß jeder gemeinhin in verschiedenen Rollen steht, was solange nicht problematisch sei, ,,als ich ja nicht einfach in diesen Verhältnissen aufgehe, sondern mir in diesen meinen Angehörigkeiten meine Selbstständigkeit wahren kann. Ich kann mich in diese Verhältnisse mehr oder weniger ,einlassen"' (S. 102). Problematisch werde die Wechselseitigkeit des Rollenverhältnisses erst dann, ,,wenn sich der eine durch des andern Dasein in einem solchen Ausmaß bestimmen läss, dass sein eigenes Dasein seine existentielle Bedeutung primär aus dem Verhältnis zum andern empfängt und verliert" (S. 100). Gerade in dieser Problematik hat Pirandello dem modernen Drama eine neue Quelle zwischenmenschlicher Konflikte erschlossen, das vorzüglich geeignet war, Löwiths philosophische These zu erläutern. Cosi e (se vi pare) demonstriert das verselbständigte Verhältnis der drei Personen am Grenzfall der Selbstpreisgabe an ihre familiäre Rollen. Das Drama zeigt nicht und läßt auch nicht absehen, wie sie ein freies Verhältnis der Kommunikation und damit ihr verlorenes eigenes Dasein wiedergewinnen könnten. Diesen Schritt zeigt Löwith im nächsten Kapitel: ,,Miteinandersein als Miteinandersprechen", ausgehend von einer Prämisse, mit der Pirandellos Stück seine ,raison d'etre' verlieren würde: ,,Man ist eine Person in dem Maße, wie man von der Rolle aus und durch die Verwirklichung gerade dieser Rolle hindurch zu sich selbst kommt''.7 Der Begriff ,Person' meint nunmehr ein solches Individuum, ,,welches gerade dadurch ausgezeichnet ist, dass es sich mit andern und mit sich selbst teilen kann" (S. 106). Ein solcher Weg stand Pirandello nicht offen. Sein Drama endet aporetisch, obschon nicht in purem Pessimismus. Während es das naive Selbstverständnis der internen und externen Zuschauer - die Illusion, als für sich seiende Individuen nicht anders zu sein als sie die Andern sehen - zerstört und gegen 7

Löwith, S. 106 (Zitat von Karl Vossler).

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den Schein des Objektiven das Eigenrecht der intersubjektiven Wahrheit ausspielt, zeichnet es die drei Personen durch eine durchaus moralische Motivation aus. Ihr internes Verhältnis, das so gänzlich in sich selbst \ befangen erscheint, rechtfertigt letztlich eine Ethik.des Mitleids. Sie haben sich willentlich auf die Fiktion ihrer Rollen eingelassen und auf ihr selbständiges Wesen verzichtet, um in Rücksichtnahme auf die Andern für sie als personae dem Bild zu entsprechen, das sie ihr Leid ertragen und vergessen läßt. Darum lässt sich die Antwort der Frau X auf die Frage, wer sie denn für sich selbst sei: ,Für mich selbst bin ich niemand', mit Karl August Ott auch als eine Antwort deuten, die das christliche Gebot der Selbstlosigkeit auf die Spitze treibt.8

III Der Konflikt im Miteinandersein entspringt bei Pirandello nicht dem Gegensatz zwischen selbstständigen Individuen, sondern dem Widerspruch zwischen dem Sein-für-Sich und dem Sein-für-Andere, in den sich der Einzelne als persona im unabdingbaren Rollenverhältnis zu anderen Personen verstrickt sieht. Diese Einsicht Löwiths ermöglicht, genauer bestimmen zu können, wie Pirandello zu der eigentümlichen Grundidee seines Werks gelangt ist, die eine anthropologische Wendung anzeigt und ineins damit dem modernen Theater eine neue Quelle dramatischer Konflikte erschloß. Pirandellos Abkehr vom Naturalismus, sein Schritt über die P~ychologie des Fin de Siede, wie auch über das fragliche Vorbild Nietzsches hinaus, aber auch seine Differenz zu Autoren, die nach der Jahrhundertwende moderne Verfahren eines dezentrierten, multiperspektivischen Erzählens erprobten, werden nach Löwiths Interpretation erst eigentlich trennscharf erfassbar. Die naturalistische Illusion der repräsentierten Wirklichkeit wird vom Theater Pirandellos nicht allein dadurch abgetan, dass es die Welt der Bühne und die Realität d~s Lebens frn Drama selbst gegeneinander in Szene setzt. Die vermeintlich objektive Lebenswirklichkeit zerfällt nunmehr in eine Vielzahl bewusster und unbewusster Rollen - in den Vorschein subjektiver Welten, der das klassische Subjekt verschwinden, mithin das eigene, substanzlos gewordene Ich unerkennbar werden lässt. Ge':Viss hatte die zeitgenössische Psychiatrie, vorab Alfred Binet und Theodule Ribot, bereits die „multiplicite du moi" gesehen und Sigmund Freud mit der Entdeckung der ,Topologie des Unbewussten' begründet, warum das in verschiedene Regionen und Instanzen aufgespaltene,Ich,nicht als „Herr im eigenen Hause" gelten könne. 9 Doch setzen all diese Theorien, obschon sie die vorgebliche Ei?beit des menschlichen Charakters in ein Bündel von Trieben, Wünschen

s Lexikon der Weltliteratur, hg. G. v. Wilpert, Stuttgart 1968, Bd. II, S. 971 9 Dazu R. Behrens: ,,Metaphern des Ich", in: Die literarische Modeme in Europa, hg. H.J. Piechotta et al., Opladen 1994, S. 334f.

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und Vorstellungen auflösen, immer noch die alte egologische Prämisse voraus: die pluralen Dimensionen des Ich werden im Zerfall des Selbstbewusstseins als dessen disjecta membra bestimmt, nicht aber auf das Verhältnis des Selbst zu den Andern zurückgeführt. Daß das präsumptiv unteilbare Individuum gerade im Verhältnis zu Seinesgleichen, in den vielerlei Rollen des Miteinanderseins, als geteilte Existenz (,Dividuum') erfahren wird und neu zu bestimmen ist, scheidet Pirandellos Konzeption von seinen Vorgängern, Nietzsche einbegriffen, den er kaum gekannt haben dürfte. Nietzsches Kritik am „reinen, willenlosen, schmerzlosen, zeitlosen Subjekt der Erkenntnis" (Zur Genealogie der Moral, III. 12) verbleibt durchaus noch im Bannkreis des von ihm abgetanen subjektorientierten Denkens. Zwar gibt es für ihn nurmehr ein perspektivisches Sehen und Erkennen: ,,je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser Begriff dieser Sache, unsere ,Objektivität' sein" (ebd., III 12). Doch dieses Argument betrifft nurmehr das Verhältnis des Subjekts zum Objekt, zur Sachwelt, nicht das zur Mitwelt; die „verschiedenen Augen" sind nicht die Augen eines Andern, kann dieser - und sei es der Nächste - doch allein „über die Veränderungen an uns" wahrgenommen werden: ,,Wir bilden ihn nach unserer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten unseres eigenen Systems". 10 Dabei wird die substantielle Einheit des selbstherrlichen Bewußtseins zwar aufgegeben, doch sogleich wieder durch die Metapher eines neuen Herrschaftsgebildes ersetzt: ,,Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschaftsgebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins ist" (Der Wille zur Macht, Nr. 561). In Löwiths Interpretation tritt das Rollenverhältnis mit gutem Grund an die Stelle der Perspektivik. Ist doch Perspektive von Haus aus ein subjektzentrierter Begriff. Wie Jean Starobinski zeigte, ist ihre Bedeutung für das Selbstverständnis und Ethos der beginnenden Modeme darauf zurückzuführen, daß die kopernikanische Wende in der europäischen Aufklärung das Weltverständnis und die Naturerfahrung breiterer Schichten eingeholt hatte. Der als ,Sehepunkt' (oder ,Gesichtspunkt') geltend gemachte Standpunkt des Individuums setzt im 18. Jahrhundert die Einsicht voraus, daß die Natur im Sinne des antiken Kosmos hinfort unkenntlich, der Weltraum neutral, iso- trop und homogen ist, so daß kein Ort mehr den Vorzug vor einem andern haben kann. Wenn derart das Universum keinen absoluten Mittelpunkt und keine letzte Begrenzung mehr hat, dann kann auch jedes Bewußtsein das Recht für sich beanspruchen, die Welt durch eigene Tätigkeit zu organisieren: ,,Le ,point de vue' de l'individu ne sera pas seulement le

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Morgenröte, II, 118: ,,Was ist denn der Nächste".

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centre d'une contemplation, mais le point d'appui d'une action \ transformatrice" .11 Die anthropologische Wendung, die sich bei Pirandello wie bei anderen Klassikern der Modeme des beginnenden 20. Jahrhunderts abzeichnet, ist näherhin an einer ihnen gemeinsamen Tendenz zu fassen: der Preisgabe der subjektzentrierten Perspektive wie der insgeheimen Teleologie, die der Geschichte des Individuums, zumal im Paradigma des Bildungsromans, unterstellt wurde. Es geschah dies in der Absicht, die terra incognita des unbewußten Lebens zu erkunden, die bislang jenseits der Grenzen des Selbstbewußtseins verborgen blieb. Die Krise des dezentrierten Ichs konnte bei den Zeitgenossen Pirandellos als Verlust aller Normen und Werte der überkommenen Lebensordnung aufgenommen und beklagt, aber auch als Gewinn einer unerahnten Erweiterung des Erfahrungshorizonts positiviert, die Entgrenzung des Subjekts als neue Chance der Dichtung ergriffen werden. 12 Man denke nur an James Joyces Ulysses, in dem die Existenz Stephens und Blooms in der Wirklichkeitsfülle und Zeitentiefe eines einzigen Tags ungleich reicher vor Augen gestellt wird, als es die vollständige Chronik ihres Lebens vermocht hätte. Die integrale Fiktion des ,stream of consciousness' ermöglicht, im Spiegel des unreflektierten und unzensierten Bewußtseins den Einzelnen in seiner ,je meinigen Welt' darzustellen, die im Gewebe der Koexistenz mit hunderten von Personen auftaucht und doch im Zu-gleichsein mit den Andern für sich bleibt. In Virginia Woolfs The Waves hingegen, wo die Sensibilisierung der Wahrnehmung gleichermaßen auf bisher nicht Sagbares ausgreift, ersteht gerade aus dem Zugleichsein von sechs Personen auf den Lebensstufen zwischen Kindheit und Erwachsensein ein Gruppenbewußtsein, das als ein Überich den Einzelnen nicht für sich, sondern im sich wandelnden Verhältnis zu den Freunden erkennbar macht, mithin in einer geschlossenen, ,je unsrigen' Welt, die alle Anderen ausschließt. In Marcel Prousts A la recherche du temps perdu erscheint das dezentrierte Ich in der Diskontinuität eines Lebens, dessen Phasen in der Rückschau die Gestalt in sich geschlossener, erinnerter Welten annehmen, zentriert um ein immer wieder anderes Ich, das mit seiner Welt ins Dasein tritt und mit ihr wieder erlischt. Die Welt des Andern unterliegt demselben Solipsismus; auch das privilegierte Du, die jeweils geliebte Frau zumal, bleibt in seinem Für-sich-Sein stets unkenntlich. Wonach Proust Erkenntnis erst in der Erinnerung möglich wird, bleibt Erwiderung und damit Kommunikation per se ausgeschlossen. Dann kann das Ich nach dem letzten Glücksfall der wiedergefundenen Zeit, der es seine Berufung als Dichter erkennen läßt, seine einsame Welt den Andern erst retrospektiv eröffnen. Wenn uns das Kunstwerk der Erinnerung damit ermöglichen soll, ,,de voir l'univers avec les yeux d'un

11

1789 - Les emblemes de /a raison, dt. Ausgabe: 1789 - Die Embleme der Vernunft, München

12

S. dazu R. Behrens (wie Anm. 8), im Blick auf „Romaneske Entgrenzung des Subjekts bei D' Annunzio, Svevo und Pirandello".

1989, s. 185.

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autre, de voir les cents univers que chacun d'eux voit, que chacun d'eux est", wird authentische Erinnerung, die als wiedergefundene Zeit die jemeinige Welt par excellence und damit unteilbar ist, zum letzten Refugium des Individuums, ihre Niederschrift zur einzig verbliebenen Legitimation der Dichtung. Das teilbare Individuum, bei Proust in Gestalt der Reihe seiner „mois successifs", die zuguterletzt die profane Erleuchtung der wiedergefundenen Zeit doch noch unverhofft in der retrospektiven Einheit seines Werks vereint, ist zu dieser Zeit indes auch als Leiden und Untergang an seiner Spaltung dargestellt worden, wie Renate Lachmann an den modernen Varianten des romantischen Doppelgängermotivs zeigte.13 Dabei erscheint der Körper als Ort der Spaltung: das zensierte inoffizielle Bewußtsein tritt nach außen, die schismatische Person erfährt sich als eine „Selbanderheit, in der der Andere das Selbst verdrängt" (S. 437). Dabei kann die Ähnlichkeit des Doppelgängers zur bedrohlichen Ununterscheidbarkeit gesteigert (wie in Dostojevskijs Der Doppelgänger), das Gegenbild aber auch als Trugbild seiner selbst erkannt, wenn nicht gar eine gänzlich unähnliche Person als Doppelgänger adoptiert werden, dessen sich das verzweifelte Ich durch Mord zu entledigen sucht (wie in Nabokovs Verzweiflung). Das Spiegelbild verkehrt in alledem seine überkommene Funktion: hatte es dazu gedient, das sich betrachtende Ich seiner Identität zu versichern, so erweist sich nun seine tückische Macht, wenn es das Selbst im Alter Ego unerkennbar werden läßt, wobei das Trugbild der Gleichheit in der „Schreckensvision einer sich ins Unendliche fortrnultiplizierenden Doppelgängerschaft" enden kann.1 4 An diesem Beispiel wird vorzüglich greifbar, wie anders Pirandello die Dezentrierung des Subjekts motiviert. Sie geht nicht aus dem Verdoppelungswahn eines ununterscheidbaren Double, sondern aus der erschreckenden Erfahrung hervor, daß das eigene Selbst darum zum Trugbild wird, weil es in den Augen jedes Andern verschiedene Gestalt annehmen muß und sich in keiner dieser Gestalten wiedererkennt. Hier kann die Entgrenzung des Subjekts nicht mehr positiviert, nicht als Befreiung von den Schranken des reflexiven Bewusstseins aufgenommen werden. Wenn bei Pirandello gerade das bisher Vertrauteste, das selbstgewisse Ich, zum Fremdesten wird, entspringt der Verlust seiner substantiellen Einheit einer Fremdheit, die ihm von außen auferlegt ist, in Gestalt von Fixierungen (für ihn: Trugbildern) seiner Person, denen er sich nicht zu entziehen vermag. Selbstentfremdung, seit Rousseau aus dem Verhältnis des Menschen zur Geschichte und Gesellschaft begründet, sofern er sich gerade in seinem eigenen Werk nicht wiedererkennt, wird nunmehr aus der Kluft zwischen

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Dazu Renate Lachmann: ,,Der Doppelgänger als Simulacrum:. Gogol', Dostoevskij, Nabokov, in: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt 1990, Kap. V. 3. Wenn in Dostoevskijs Der Doppelgänger Goljadkin der Ältere auf dem nächtlichen Nachhauseweg von einem „gräßlichen Abgrund an vollkommen Gleichen" bedrängt wird (ebd., s. 477).

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\ Selbstsicht und Fremdsicht seiner personhaften Existenz erklärt, die alles \ Verhalten im gesellschaftlichen Leben der Modeme bestimmt. Diese Auffassung, die den Vorrang der Mitwelt über die Umwelt, obschon ex negativo, wieder anerkennt, ist zu dieser Zeit - wie mir scheint - Pirandello allein eigentümlich; sie begründet seinen Rang an der Seite der angeführten Protagonisten der jüngst vergangenen Modeme. Wie er zu dieser Konzeption gelangt sein könnte, die er selbst als seine ,kopernikanische Wende' ansah, soll im Weiteren skizziert werden.

IV. Davon ist in seinem Roman II fu Mattia Pascal (1904) die Rede, wo der Held auf das Ansinnen, sein Leben zu beschreiben, erwidert: ,,Maledetto sia Copernico!". Wie könne man wagen, einen Roman mit Sätzen wie: ,,11 signor conte si levo per tempo, alle ore otto e mezzo precise ... " zu verfassen, nachdem Kopernikus nicht allein die Illusion, die Sonne drehe sich um die Erde, zerstört, sondern damit auch dem Menschen seine angemaßte Würde benommen habe, sich als Mittelpunkt der um seinetwillen geschaffenen Welt anzusehen? Wie könne man sich angesichts seiner unendlichen Kleinheit dann noch vermessen, die Einzelheiten seines Lebens oder auch die Kalamitäten der ganzen Menschheit der Aufzeichnung für wert zu befinden?1s Hat die kopernikanische Wende mit dem anthropozentrischen Weltbild nicht auch dem anthropozentrischen Erzählen ein Ende gesetzt? Was aus diesen Fragen für die Dichtung zu folgern ist, hat Pirandello in seinem Essai Umorismo (auch 1904 erschienen) zu erörtern begonnen. Kopernikus, so ist dort zu lesen, 16 sei einer der größten Humoristen, weil er das stolze Weltbild der Antike zerlegte, dem sodann die Erfindung des Teleskops den Gnadenstoß versetzt habe (S. 221). Der Humorist wird zuvor mit der Spiegelmetapher eingeführt: ,,La coscienza, insomma, non e una potenza creatrice; ma lo specchio interiore in cui il pensiero si rimira; si puo dire anzi ch'essa sia il pensiero ehe vede se stesso, assistendo a quello ehe fa spontaneamente (S. 177). Pirandello wird später - wie in Cosi e (se vi pare) angemerkt - gerade dies bestreiten: daß man ,sich sehend sehen' und dabei sein spontanes Tun erfassen könne. Hier läßt er den Humoristen diesen Vorgang sine ira et studio analysieren, woraus ein neues Gefühl entspringe, das Pirandello 11il sentimento del contrario" nennt (S. 178). Humor ist eine reflexive Einstellung, die im naiven Verhalten des Andern erkennt, was sich hinter ihm verbirgt, nicht um darüber zu lachen, sondern im ,Gefühl für das Entgegengesetzte', das Nachsicht und Mitgefühl, aber auch Zorn, Spott und Hohn auslösen könne (S. 196). Humor wird dabei im Unterschied zur Komik aus der reflektierenden Teilnahme eines Betrachters bestimmt, der die Ober-

1s 16

II Ju Mattia Pascal, Milano 1988 (Oscar Classici moderni), S. 6ff. Umorismo, zitiert nach der 2. Aufl., Milano (s. d.)

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flächlichkeit der konventionellen Normen bemerkt, als Formen der Anpassung (Vortäuschen von Kraft, Ehrbarkeit, Sympathie, Klugheit) durchschaut und darauf zurückführt, was er die ,soziale Lüge' (,,il mentire sociale") nennt (S. 210). In diesem Zusammenhang setzt eine erste Überlegung ein, die der Auffassung von der ,Einfachheit der Seele' widerspricht: ,,La sua vita e equilibrio mobile; e un risorgere e un assopirsi continuo di affetti, di tendenze, di idee; un fluttuare incessante fra termini contradittorii". Wir fluktuieren nicht allein zwischen Furcht und Hoffnung, wahr und falsch, schön und häßlich, gerecht und ungerecht, sondern haben auch zumindest vier bis fünf Seelen die instinktive, die moralische, die affektive, die soziale - in unserer Brust (S. 222). Wie man sieht, ist die hier beginnende Dezentrierung des Subjekts noch nicht intersubjektiv begründet, sondern entspringt Pirandellos Version einer Philosophie des Lebens, das sich im ständigen Fluss seiner wechselnden Empfindungen nicht begrifflich, als eine Realität außerhalb unserer Erfahrung, fassen lasse (S. 219). Im Kontrast zum fluktuierenden Lebensgefühl der wandelbaren Seele steht dabei die unwandelbare, kontingente Gestalt des Körpers. Als Beispiel dafür folgt ein Fall, mit dem der spätere Roman Uno, nessuno e cento rnila einsetzen wird: ,Was für eine Qual, sein ganzes Leben lang eine häßliche Nase mit sich spazieren zu führen ... Was für ein Glück, daß wir das mit der Zeit nicht mehr wahrnehmen' (S. 216). Der sterbliche Körper, nicht die unsterbliche Seele, die hier offenbar nur einen Moment des allgemeinen Lebensflusses darstellt, ist für den Verfasser des Urnorismo der Sitz des kontingenten Ichs! Gleichwohl nähert er sich an einer Stelle schon seiner späteren Konzeption. Das kontingente Ich, das seine Defizienz vergisst oder verdrängt, kann nicht verhindern, daß sie die Andern bemerken. Wenn sie über die häßliche Nase lachen, vergessen sie, daß auch sie Besonderheiten haben, die sie längst nicht mehr wahrnehmen, sondern hinter ihrer Maske verbergen. Hier erscheint der Mensch als Träger von Masken, ohne dies noch zu bemerken, im Widerspruch zu seinem Glauben, eine ,einfache Seele' zu sein. Die einfache Seele hat die Wahrheit der einfachen Dinge in der Natur verloren: ,,Vero il mare, sf, vera la montagna; vero il sasso; vero un filo d'erba; ma l'uomo? Sempre mascherato, senza volerlo, di quella tal cosa ch'egli in buona si figura d'essere: bello, grazioso, infelice ec. ec. E questo fa tanto ridere, a pensarci" (S. 217). Die Entdeckung der maskierten Existenz des Menschen ist offenbar aus der von Pirandello neu bestimmten Einstellung des Humoristen hervorgegangen,17 der dabei der Auflösung der ,einfachen Seele' - wohl nicht ganz frei von Nostalgie - die Wahrheit der Dinge als Kontrapost entgegensetzt, 17

Pirandellos „sentimento de! contrario" habe ich mit ,Gefühl für das Entgegengesetzte' wiedergegeben, Joachim Ritter folgend, dessen Bestimmung des Humors als Positivierung des Ausgegrenzten (in: Subjektivität, Frankfurt 1974, S. 79) den Sinn der Wendung am besten trifft.

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mithin das, was auch Löwith nach seiner ,Kehre' als Natürlichkeit der Natur\ exponieren wird. Damit sind zwei Möglichkeiten gegeben. Der Dichter kann \ das ,Gefühl für das Entgegengesetzte', näherhin den Widerspruch zwischen dem maskierten, offiziellen Dasein seiner Personen und dem ausgegrenzten Antrieb und verborgenen Zentrum ihres Handelns, in das Bewußtsein des Humoristen selbst verlegen.1 8 Dann erscheint sein Ich in der Doppelrolle dessen, der sich selbst ,sehend sieht' und dabei mit Verwunderung oder Erschrecken bemerkt, wte seine selbstgenügsame Identität zerfällt und sich in verschiedene Rollen auflöst, die er im Maskenspiel der Gesellschaft für die Andern nolens volens einnimmt. Diesen Schritt zeigt Uno, nessuno e cento mila, der 1925 erschienene letzte Roman ·Pirandellos, der indes schon 1910 angekündigt ist. 19 Der Dichter kann den Widerspruch zwischen dem Für-sich-Sein und dem Sein-für-Andere aber auch im Bewußtsein von Personen austragen lassen, die in einer Konstellation auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind, nun aber ohne ihre Konflikte aus der überlegenen Sicht des Humoristen zu vermitteln. Dann erscheint die maskierte Existenz des Menschen nicht mehr im versöhnlichen Licht des Humors, der dem Entgegengesetzten und Ausgegrenzten wieder sein Eigenrecht zuzubilligen weiß. Sie erscheint nunmehr als moderne Quelle einer Tragik, in die verstrickt die Personen vergeblich ihren Autor suchen müssen, der ihrer Existenz Sinn verleihen könnte. Diesen Schritt zeigt das Drama f ei personnaggi in cerca d'autore, 1921 uraufgeführt, das als ein Seitenstück zu Cos1 e (se vi pare) von 1917 betrachtet werden kann.

V. Uno, nessuno e cento mild setzt mit einem Motiv ein, das den Text als humoristischen Roman in die Nachfolge des Tristram Shandy stellt. Es ist die schon in Umorismo als Beispiel eingeführte häßliche Nase, wiederum ihrem Träger noch nie aufgefallen, nun aber nicht von ihm selbst bemerkt, als er sich im Spiegel betrachtet, sondern von seiner Frau, die ihn spöttisch darauf aufmerksam macht, dass seine Nase nach rechts hängt (S. 3). Die unerwartete Entdeckung trifft ihn wie eine ,unverdiente Rüge' (wo er für diesen Defekt doch nichts kann!) und läßt ihn sein Gesicht und seine Gestalt nach weiteren Defekten absuchen, die ihm jetzt in der Tat auch erst vor Augen treten. Wie war es möglich, fragf er sich, daß er bislang nicht einmal seinen Körper kannte: ,,le cose mie ehe pur intimamente m'appartenevano: il naso, le orecchie, le mani, le gambe".. (S. 6). Ein verhältnismäßig kleiner Anlaß für ein unverhältnismäßig großes Ubel! Denn mit dieser Erfahrung der Spaltung

1s Dazu W. Preisendanz: ,,Humor als Rolle", in:

Identität (Poetik und Hermeneutik VIII), hg.

0. Marquard / K. Stierle, München 1979, S. 423-434 19 Nach M. Gug!ielminetti, in seiner Ein!. zu Uno, nesszmo e cento mila, Milano 1992, S. xi.

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seines leibhaften Daseins (Plessners berühmte Ausgangsformel: ,,Ich bin, aber ich habe mich nicht" illustrierend!)20 begann das ganze Unglück seines Lebens. Man beachte: die Erfahrung, sich selbst nicht so gesehen zu haben, wie ihn die Andern sehen, entspringt nicht der Introspektion, sondern der Intervention der ihm am nächsten stehenden Person. Auf die Paradoxie der Ich-Position stößt nicht ein Akt der Introspektion, sondern die schockartige Entdeckung, ein Anderer, sich selbst Fremder zu sein als der Moscarda, den die Andern - jeder auf seine Weise - in ihm sehen. Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen entdeckt sich als Dividuum, im Widerspruch von Selbstsicht und Fremdsicht betroffen, gegen den sich der Erzähler in Uno, nessuno e cento mila mit grimmigem Humor zu behaupten sucht, indem er den Zwiespalt, der doch wohl auch seine ahnungslosen Mitmenschen betreffen müßte, in der wachsenden Obsession, einer Wahnidee zu verfallen, bis zum Äußersten erprobt. Moscardas Entdeckung verändert mit einem Schlag alles, sein Verhältnis zum Mitmenschen wie zur Welt überhaupt. Als ob der Defekt seiner Nase nichts Geringeres sei als ein Schaden, der nicht ihm allein, sondern der Welt im Ganzen angetan wurde (S. 6), beginnt er die Andern zu befragen. Haben sie nicht allesamt wie seine Frau seine körperlichen Defekte bemerkt, ja gerade dies und nichts Anderes in ihm gesehen? Steht nicht zu erwarten, daß die Befragung seines Freundes eine Kettenreaktion auslösen und man in den nächsten Tagen eine wachsende Zahl von Mitbürgern der Stadt vor Schaufenstern sehen werde, um ihre Gesichter nach bisher unbemerkten Schönheitsfehlern abzusuchen? Doch wenn einer für die Andern nicht der sein kann, der er bisher zu sein glaubte, was ist er dann für sich selbst? Mit dieser Frage beginnt das obstinate, unweigerlich scheiternde Unternehmen Moscardas, sein fremd gewordenes, wahres Ich zu suchen, das sich ihm bei jedem Schritt wieder entzieht (S. 14). Es führt ihn zunächst erneut vor den Spiegel und dort zu der zweiten Entdeckung, daß sein Körperbild die Erwartung, sich selbst im Spiegel sehend zu sehen (wie in Umorismo noch behauptet), dementiert: Gerade angesichts seiner körperlichen Erscheinung zerfällt die Evidenz des Selbstbewußtseins an der Unmöglichkeit, sich nicht erst reflexiv, sondern unmittelbar, nicht nur sehend, sondern lebend (,,non potendo vedermi vivere") zu begreifen. Der Zweifel setzt mit der komischen Pointe ein, für die Andern, die Moscarda nur von außen sehen, trügen offenbar ,seine Ideen und seine Gefühle eine Nase'. Doch welche Beziehung bestehe überhaupt zwischen seinen Ideen und seinem Körper? ,,Per me nessuna" (S. 13). Betrachte er sich selbst von außen, so erscheine ihm sein Körper paradoxerweise wie ein von ihm untrennbarer Fremder, wie der Körper eines Andern. Der Versuch, sich vor dem Spiegel in der Unmittelbarkeit seiner Gesten zu erfassen, schlägt fehl. Das spontane Leben erweist sich als uneinholbar und aller Beobachtung spottend. Der beobachtende Blick arretiert jede Geste und läßt sie fingiert 20

Die Frage nach der conditio humana, Frankfurt 1976, S. 56

--Hans Robert Jauss

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erscheinen; er kommt immer schon zu spät, um sie in ihrem unvorhersehba, ren Entstehen zu begreifen. Das Experiment, sich selbst im unmittelbarer\, Leben des Körpers zu verstehen, das bei der schiefen Nase einsetzte, endet · denn auch mit einer nicht gewollten Regung derselben, ihrem eruptiven Niesen, auf das sein humoristisches Bewußtsein die einzig angemessene Antwort findet: ,,- Salute! - gli dissi. E guardai nello specchio il mio prima riso da matto" (S. 22). Doch damit nicht genug. Die begleitende Argumenta, tion setzt den Fall, ein _Anfall seiner Wut äußere sich spontan, für ihn selbst evident. Schließt das nicht ein, daß dieser unmittelbare Wutausbruch für die Andern gleichwohl nicht dasselbe bedeuten würde wie für ihn selbst? Für den einen könnte sie furchterregend sein, ein anderer könnte sie entschuld, bar finden, ein dritter darüber lachen, und so fort: ,,ciascuno a suo modo" (S. 16). Mithin bleibt der eigene Körper nicht allein dem Selbstbewußtsein ent, zogen, sondern erscheint ihm zugleich wie ein fremdes, namen- und her, renloses Objekt, dem jeder andere auf seine Weise Bedeutung verleihen kann. Damit wird der Sinn des Titels Uno, nessuno e centomila im vollen Sinn eingelöst. Die Verstrickung erreicht ihren aporetischen Gipfel mit einer dritten Entdeckung: daß der eine Name Moscarda den singularen Träger und zugleich ebensoviele Weisen, ihn zu sehen, meinen kann, daß diese ,,centomila Moscarda" auf seinen armen Körper bezogen, ja in ihm einbeg, riffen sind - daß auch sein Körper als Ding an sich „uno e nessuno" wäre wie das Ich des Erzählers, wenn er sich selbst im Spiegel in die Augen schaut (S. 15). · · Damit ist die Grundkonzeption des Romans aus der Exposition des 1. Buches vorgestellt, die sodann am Schicksal Moscardas konsequent entfaltet wird. Die Entdeckung der Unvereinbarkeit von Selbstsicht und Fremdsicht führt ihn mehr und mehr, in die ,schlechte Unendlichkeit' der Erfahrungen seines unkenntlichen Selbst und seiner Fixierung durch die Andern. Seine eigene Vergangenheit w1e die Geschichte seiner Familie erscheint ihm fremd und fremder; sie löst sich in Geschichten auf, die er in den Augen der Andern verkörpert (S. 53). Aber auch die Andern unterliegen der fatalen, inhärenten Vielfalt der Person, wie das berühmte Beispiel der drei Personen im Salon zeigt, die nicht bemerken, daß sich hier in Wahrheit acht Personen miteinander unterhalten: ,,1. Dida, com'era per se; 2. Dida, com'era per me; 3. Dida com'era per Quantorzo; 4. Quantorzo, com'era per se; 5. Quantorzo, com'era per Dida; 6. Quantorzo, com'era per me; 7. il caro Genge di Dida; 8. il caro Vitangelo di Quantorz9" (5_. 111). Die weitere Handlung ist der Versuch des Erzählers, sich aus seinem Gefangensein in den Gestalten zu befreien, die er für die andern einnimmt (S. 62), sie nacheinander aufzudecken und sie durch unerwartbare Handlungen zu widerlegen (S. 50). 21 So wenn Moscarda, der im Ruf steht, wie schon sein 21

Dazu im Einzelnen R. Behrens (wie Anm. 8), der den Roman als kontrastives Seitenstück zu II fu Mattia Pascal interpretiert, und P. Kohlhaas: ,,,Mit anderen Augen' -

Untersuchungen zur Thematik und Ästhetik des Perspektivischen im Prosawerk Luigi \

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Vater ein Wucherer zu sein, sich selbst in seiner Bank bestiehlt, davon den Mietzins für einen zuvor gekündigten Mieter bezahlt und am Ende mit seinem Vermögen eine karitative Anstalt stiftet, in der er als nunmehr Obdachloser selbst sein Leben beenden will. Sein bizarres Verhalten, das für die Andern den Verdacht einer beginnenden ,pazzia' nurmehr zu bestätigen scheint, folgt gleichwohl einer aufklärerischen Intention, deren Scheitern nolens volens ein tragikomisches Ausmaß erreicht. Wie Rousseau, der im Vorwort zu Narcisse (1753) erklärt, wie er als erster und von allen verkannt zur Entdeckung des „öffentlichen Trugbilds der Tugend" gelangt sei, das die Übel der modernen Welt mit den vermeintlichen Errungenschaften der Zivilisation maskierte,22 so steht und verbleibt auch Moscarda völlig allein mitseiner Entdeckung, dass die als natürlich hingenommene Wirklichkeit der Dinge nurmehr ein Trugbild sei, das die erschreckende Realität des zwischenmenschlichen Daseins maskiere. Seine Aufforderung an alle, ,,di penetrare lo scherzo spaventoso ehe sta sotto alla pacifica naturalezza delle relazioni quotidiane, di quelle ehe vi pajono le piu consuete e normali" (S. 79) stößt auf Unverständnis, nicht allein bei seiner Frau und später bei seiner Geliebten Anna Rosa (die durch ihn verwirrt am Ende mit einem Pistolenschuss reagiert), sondern auch bei hochgestellten Personen wie dem Notar, dem Bischof oder dem Richter. Wie bei Rousseau endet auch bei Pirandello das scheiternde Experiment seines Humoristen im Rückzug aus der verblendeten Gesellschaft in die Fraglosigkeit der Natur. Nur dass für Moscarda dieser Rückzug mit der Preisgabe seines Namens, der letztverbliebenen Form, die ihn einschließen würde, erkauft sein soll: ,,Non e altro ehe questo, epigrafe funeraria. Conviene ai morti. A chi ha concluso. Io son vivo e non concludo. La vita non conclude. E non sa di nomi, la vita. Quest'albero, respiro tremolo di foglie nuove: Sono quest'albero. Albern, nuvola; domani libro o vento: i1 libro ehe leggo, i1 vento ehe bevo. Tutto fuori, vagabondo' (S. 164). Der offene Ausgang verbirgt die Alternative eines anderen Auswegs aus der erfahrenen Divergenz von Selbstsicht und Fremdsicht. Wenn „in dieser Divergenz das Leben pulsiert, das im Bild nur stillgestellt, nicht aber wirklich dargestellt werden kann", dürfte dies den offenen Schluss noch nicht hinreichend erklären. 23 Zwar hat Moscarda am Ende das Leben in der Natur nicht angehalten, wohl aber sich selbst dabei aus dem Leben seiner Mitmenschen ausgeschaltet. Er hat damit die Möglichkeit preisgegeben, den Grundwiderspruch zwischen dem Für-sich-Sein und dem Sein-für-Andere in einer weiteren Einsicht aufzuheben, die Pirandello (wie schon Rousseau) nicht zu Gebote stand: dass sich das verlorene Subjekt nicht gegen, sondern

Pirandel/os (Diss. Konstanz, noch unveröffentlicht), der besonders eingehend den argumentativen und zugleich dialogischen Gestus des Erzählers in ihrer ästhetischen Funktion würdigt. 22 S. dazu meine Studien ... (wie Anm. 3), S. 80 23 R. Behrens (wie Anm. 8), S. 351

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durch seine Rollen - in der ständigen Hin-und-Her-Bewegung des Leben~,! das doch wohl auch das Zusammenleben von Personen einbegreifen müsst~ - wiederfinden kann.

VI. Fällt die humoristische Einstellung eines Moscarda weg, so verstricke\:\ sich die auf sich selbst.gestellten Personen in einen dramatischen Konflikt, der Pirandellos Grundkonzeption in ihrer tragischen Variante vor Auge\:\ führt. Als habe er den Schritt, mit dem sich der Icherzähler aus seiner Fi~tion zurückzieht, eigens themat,isieren wollen, kündigt sich das daraus folgende Dilemma bereits im ironischen Titel der Sei personnaggi in cerca d'autore (1921) an - die paradoxe Situation der sechs Personen, zwar vo 0 einem Autor geschaffen, dann aber auf Gedeih und Verderb sich selb~t überlassen zu sein, als dramatis personae eines Stücks, dessen Sinn sie nich.t kennen, verzweifelt suchen und dabei scheitern. Sie müssen scheitern, weH der Autor fehlt, der ihrem Drama Sinn verleihen könnte, anders gesagt - wie er im Vorwort behauptet-: der sich ihnen entzog, nachdem er sie schuf. S0 kann das in den sechs Personen angelegte Drama nicht stattfinden und muss statt dessen das Drama ihrer vergeblichen Suche aufgeführt werden, ,,con tutto questo ehe essa ha' di tragico per il fatto ehe questi sei personnaggi sono stati rifiutati" (40). Das Vorwort,2:1 aus dem ich die Intention des Stücks exponierte, ist für se'in Verständnis unentbehrlich, ~eil es die Sicht des All.tors vorgibt, der sich selbst ins Spiel bringt, um sich hernach aus ihm Zll,rückzuziehen. Doch bleibt er als Abwesender stets gegenwärtig, weil sein Fehlen die Suche der sechs Personen motiviert, auch dann noch, wenn sie sich in ihrer Verzweiflung, ihn nicht finden zu können, an den Schauspieldirektor wenden. Denn ihm wird zugemutet, anstelle des fehlenden Autors ihr Drama aufzun~hmen und a_uf der Bühne zum Ende zu bringen. Doch wa.rum wollte ihr Autor die Personen sogleich wieder abweisen, nachdem er sie schuf? Das Vorwort verhüllt diese Frage in ein nicht leicht durchschatlbares Gewand. Er gibt vor, Verfahren romantischer Ironie auf humoristische Weise verwenden zu wollen (S.28). Wenn er ankündigt, sein Stück sei das Drama, auf der Suche nach einem Autor zu sein und dabei abgewiesen zu werden, brüskiert er sein Publikum damit, dass sich das ihm vor Augen tretende Drama offenbar auf eine immer wieder andere Illusionsebene verlagert, mithin in verschiedene Dramen zu zerfallen scheint, deren Synthese dem Betrachter anheimgestellt bleibt. Das Drama erscheint - erstens - aus der Sicht des Autors, als spontane Erleuchtung seiner Phantasie: ,,Infatti dovevano proprio apparire ciascuno in quello stadio di creazione raggiunto nella fantasia dell'autore al momento

2,1

Zit. nach dem Vorwort zu: Sei personnaggi in cerca d'autore in: Pirandello-Werkausgabe, hg. M. Rössner, Bd. 8 (1988), 5.20; ital. in: Masc/zere nude, Milano 1967, Bd. I (4.).

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ehe questi li volle scacciare da se" (S. 39). Dies hinterläßt den Zweifel: ,,Ma si puo rappresentare un personaggio, rifiutandolo?" (S. 40). Es bleibt dann wohl nur übrig, die Folgen ihrer Abweisung darzustellen, woraus sich zweitens - ein anderes Stück anstelle des erwarteten ergibt: das Drama des Scheiterns der Personen in ihrer Suche nach dem Autor. Wenn sie diese Suche auf die Bühne führt, setzt ihr Ansinnen, dort ihrem Leben durch seine Aufführung den fehlenden Sinn zu geben, aber voraus, daß sie - im Widerspruch zu der Behauptung, sie seien spontan der Phantasie entsprungen doch schon ein Eigenleben geführt haben. Dieses tritt in den Episoden ihrer Familiengeschichte zutage, die sie den Schauspielern als mögliches Sujet vorspielen, woraus sich - drittens - ein wiederum anderes Stück, das vorgegebene, nun wiederholte Drama ihres Lebens, ergibt. Auf dieses müßte nun - viertens - ein letztes Stück, das eigentliche Schauspiel folgen, von dem erwartet wird, daß es in der theatralischen Fiktion das sinnfremde Leben der sechs Personen zu erklären und ihre Konflikte im höheren Sinn der Kunst zu lösen vermag. Die Umsetzung des vorgegebenen Lebens in die andere Welt der Bühne mißlingt, weil sich die Personen ständig weigern, ihr eigenes Drama in seiner Darstellung durch die Schauspieler wiederzuerkennen. So gerät der Widerspruch zwischen Leben und Fiktion, erfahrener und gespielter Rolle, zur Komödie der scheiternden Aufführung eines Dramas, das aus der Sicht der Personen indes die Tragödie ihres Lebens war. Sie erweist sich als unaufführbar, weil jede der vier Hauptpersonen darauf insistiert, ihre eigene Sicht des Vorgefallenen zu behaupten. Der Konflikt in der Familie wird dadurch fatal, daß jede Person - der Vater wie die Tochter, die Mutter wie der Sohn - darauf beharrt, ihr „eigenes Drama" durchzusetzen und dabei auf den Protest der Andern stößt, von denen jeder gleichfalls behauptet, allein im Recht zu sein. In dieser Gestalt kehrt hier der Widerspruch zwischen dem Für-sich-Sein und dem Sein-für-Andere wieder, den Pirandello in Uno, nessuno e cento mila humoristisch traktierte, den er nun aber als Quelle eines tragischen Befangenseins verstehen läßt, das in der reziproken Fixierung der sechs Personen unlösbar bleibt. Es lösen zu sollen und nicht lösen zu wollen (oder nicht lösen zu können?), war - wie der Autor selbst gesteht der tiefere Grund, warum er nicht die sechs Personen als solche, wohl aber „ihr Drama" und damit ihre ratio vivendi abwies.2s Gleichwohl ist dieses ironisch abgewiesene Drama keine bloße Hypothese, sondern der im irritierenden Wechsel der Perspektiven umspielte feste Kern und substantielle rote Faden im zerstückelten Gang der Handlung. Das Stück, das die Aufführung in statu nascendi einführt, die Bühnenarbeit und ihre Figuranten in chaotischer Heiterkeit vorstellt, auch weiterhin das Komische und das Tragische mischt und das Phantastische mit dem Realistischen kontrastiert, 25

„Ora, per quanto cercassi, io non riuscivo a scoprir questo senso in quei sei personaggi (... ) Bisogna ora intendere ehe cosa ho rifiutato,di essi; non essi stessi, evidentemente; bensi il loro dramma" (S. 37 / 40).

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gewinnt mit dem Auftreten der sechs Personen den Ernst und die Tiefe \J.ef Spannung zwischen dem Sublimen und dem Grotesken. Es erreicht seinefl Gipfel, wenn sich die Gestalten des abgewiesenen Dramas in den Rollefl ihres Lebens gegenseitig übertrumpfen und beim letzten Ausbruch ihrer' Leidenschaften, der Gewalt einer tragischen ,Furie des Verschwinden&' anheimfallend, ihr Ende finden (,,e man mano il crescere di questO interessamento al prorompere delle passioni contrastanti ora nel Padre, ofl'l nelle Figliastra, ora .nel Figlio, ora in quella povera Madre; passioni cl:ie cercano (... ) di soppraffarsi a vicenda, con una tragica furia dilaniatrice."26 Der Widerspruch zwischen Für-sich-Sein und Sein-für-Andere, der v1 Cosz e (se vi pare) durch die stumme Einwilligung in die für den Anderß lebensnotwendige, obschon fiktive Rolle verdeckt blieb, wird in Sei persort' naggi in cerca d'autore offen ausgetragen. Denn jede der vier Hauptpersoneß versucht vergeblich, ihr eigenes Drama, das sie zur Person macht, gegen die Andern, aber auch gegen das Unverständnis des Direttore-Capocomico zt.1 behaupten. Sich als Einzelner in der Rolle des Mitmenschen für sich selbe,t zu verwirklichen, ist jeder Person in der Familie dadurch benommen, daß ihre Rolle für die Andern gegen ihren Willen ein für alle Mal festgelegt zt.1 sein scheint. Vorab für den Vater, der im Bordell von Madama Pace mit de!' eigenen Stieftochter verkuppelt wird, wobei sie die Mutter überrascht, und der sich seither vergeblich dagegen auflehnt, diesen ihn zutiefst beschämeß' den Augenblick als Enthüllung seines wahren_ Charakters hinzunehmeß· Sein eigenes Drama ist hinfort, diese fatale, einem schieren Zufall geschuldete Bedeutung seiner Rolle als ein unerklärbares Verhängnis erleiden ztt müssen. Seine Not wird unablässig von seiner Stieftochter geschürt, derel'l eigenes Drama die obsessionelle Rolle ist, sich am Vater für ihre Schande ztl rächen. Sieht der Autor im Vater das Leiden des Geistes verkörpert, so il'l der Mutter das Leiden der Natur: ihr Drama ist, kein Bewusstsein einer Rolle zu haben und die· Szene ihres Unglücks nicht wiederholen zu könne(!, weil es für sie nicht vergangen, sondern in ihrem Schmerz ständig gege(lwärtig ist. Dem allem stellt sich der Sohn entgegen, indem er verweigert, überhaupt eine Rolle in dem Drama der Andern zu spielen, was ihn aber nicht davor bewahrt, als Augenzeuge die letzt~ Szene ihrer Tragödie ztl berichten. Der Pistolenschuss, der ihren makabren Ausgang markiert, ill dem die stumm gebliebenen jüngsten Geschwister umkommen, macht für die Schauspieler die Frage: Fiktion oder Realität unentscheidbar, während die Schatten der vier verbli.ebenen Personen, vom unwirklichen Grünlicht des Scheinwerfers angestrahlt, ins Nichts entschwinden. Pirandellos Stück ist immer schon als „Theater im Theater" interpretiert worden, dessen kritische Funktion Peter Szondi auf den spezifischen Nenner des „Spiels von der Unmöglichkeit des Dramas" gebracht hat.27 Die Unmöglichkeit des Dramas betrifft zunächst die Kritik an dem zuerst von Diderot 26

Ebd., S. 38

27

Theorie des modernen Dramas, Frankfurt 1959, S. lOSff.

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erhobenen Anspruch des naturalistischen Theaters, durch eine möglichst vollkommene Nachahmung der Wirklichkeit die Wahrheit des Dargestellten ans Licht zu bringen. Dieser Anspruch wird im Scheitern des Versuchs, das Drama der sechs Personen in die sinntragende Form eines Schauspiels umzusetzen, zunichte: ihre Weigerung, sich selbst und die Momente ihrer Vergangenheit in der gegenwärtigen Aufnahme durch die Schauspieler wiederzuerkennen, deckt Schritt für Schritt die Kluft zwischen Lebenswirklichkeit und theatralischer Fiktion auf und thematisiert dabei die topischen Argumente der Debatte über das Wahre, das nicht mit dem Wahrscheinlichen zusammenfällt. Das Scheitern des Dramas an der naturalistischen Illusion der Wirklichkeit bringt aber auch zutage, dass das vergangene Leben der Personen sich selbst schon gegen die dramatische Form sperrte. Solange jede Person für sich allein auf ihrer Sicht beharrt 2B und verkennt, dass ihr eigenstes Drama immer auch Teil des Dramas der Andern ist, kann die subjektive Dramatik auch nicht in das intersubjektive Verhältnis gelangen, das die Struktur eines Dramas voraussetzen würde. Dann erstarrt das reziproke, auf Erwiderung angelegte Rollenverhältnis zur einseitigen Behauptung der immer gleichen Position. Der Konflikt wird nicht eigentlich ausgetragen, sondern als Verhängnis hingenommen und immer nur wiederholt. Darin liegt der tiefere Grund für das Trugbild des Dramas und der Suche der sechs Personen. 29 Das hermeneutische Dilemma ihres Konflikts liegt darum nicht einfach wie Pirandello meinte - in einer Täuschung über die Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens, die durch die leere Abstraktion der Worte unweigerlich hervorgerufen werde, sondern in seinem Rollenbegriff, verstanden als „Gefesseltsein des Lebens an eine Form" (S. 25). Gemeint ist vorab der Vater, der es als ein schweres Unrecht empfindet, sich gleichsam an die Situation im Bordell „festgenagelt" zu finden, als wäre seine ganze Existenz damit identisch. Im Drama des Vaters sieht Pirandello letztlich „il tragico conflitto immanente tra la vita ehe di continuo si muove e cambia e la forma ehe la fissa, immutabile" (S. 38). Dieser Deutung ist das Beispiel indes unangemessen, weil es die Rolle als Fessel des Lebens auf einen Extremfall reduziert. Die Lebensphilosophie Pirandellos läßt ansonsten durchaus auch die Möglichkeit zu, die Rolle des Einzelnen im Verhältnis zu den Andern nicht als Fessel, sondern als Form zu verstehen, die das unaufhörlich bewegte Leben auch wieder aufzulösen vermag. So wenn er programmatisch bemerkt: ,,Tutto cio ehe vive, per il fatto ehe vive, ha forma, e per cio stesso deve morire: tranne l' opera d' arte, ehe appunto vive sempre, in quanto e forma" (S. 44).

2a 29

Szondi verweist dazu auf das Strindbergsche Ich, welches die Bühne für sich in Alleinherrschaft fordert (ebd., S. 112). So schon Szondi, wenn er zum lebensphilosophischen Subjektivismus Pirandellos bemerkt: ,,An ihm zu allererst ist das Drama der sechs Personen gescheitert und aus ihm ihre ewig erfolglose Suche nach einem Autor zu verstehen" (ebd.).

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Nimmt man diese These beim Wort, so könnte sie erlauben, den' Sinn. Des Titels noch anders zu deuten und zu fr'agen: Entspringt die Suche nach dem fehlenden Autor letztlich nicht der unausgesprochenen Sehnsucht der abgewiesenen Personen, aus der vergänglichen, obschon in Rollen gefesselten Form ihrer Existenz in den Bereich des Unvergänglichen, der erfüllten, ewigen Formen der Kunst zu gelangen? Dann wäre das Ziel ihrer Suche das Trugbild einer Befreiung durch die Kunst, ihr Scheitern die Erfahrung des unaufhebbaren Widerspruchs zwischen ihren ewigen Formen und dem ständigen Wandel des Lebens. Doch die Kunst, Ausnahme und Gegenpol des Lebens, kann das Leben keineswegs von sich selbst befreien. Sie vermag nur, es zu einer Einsicht zu befreien, die den Personen Pirandellos versagt ist: daß der Einzelne seine mitmenschliche Rolle nicht als ein Verhängnis hinzunehmen genötigt ist, sondern in ihr die Chance ergreifen kann, sich selbst im Konflikt mit den Andern auf das Wechselspiel des Verstehens einzulassen, ihre Achtung zu gewinnen und damit der subjektiven Täuschung seines eigenen Dramas zu entgehen.

VII. Löwiths Habilitationsschrift .ist erst 1965 wieder eine eingehende philosophische Würdigung zuteil geworden. Es war Michael Theunissen, der in: Der Andere - Studien zur Sozialontologie der Gegenwart Löwiths These in seine Darstellung der Opposition der Philosophie des Dialogs (vorab der Buhers als Protagonist ihrer Blütezeit in den zwanziger Jahren) und der Transzen~ dentalphilosophie (der Intersubjektivitätstheorie Busserls, Heideggers und Sartres) eingereiht hat. Wenn Theunissens Thema seither „aus dem Schatten der Inaktualität herausgetreten" und heute nicht mehr nur Gegenstand einer einzelnen Disziplin, sondern „weithin schon Thema der Ersten Philosophie'' geworden ist,30 war dies nicht zuletzt sein Verdienst. Danach ist die Aktuali· tät von Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen für die Philosophie nicht mehr eigens zu erweisen und kann ich mich damit begnügen, Theunissens kritische Würdigung kurz zu referieren, um'daran die Frage anzuknüpfet1, welcher Ertrag und welche Anregungen der literarischen Hermeneutik aus Löwiths Buch verbleiben. Theunissen setzt bei Löwiths Heideggerkritik ein. Er zeigt, das Löwiths These vom Vorrang der Mitwelt vor der Umwelt sehr wohl noch eines mit Heidegger gemeinsam hat: ,,den Ansatz bei der Welt als dem Worin des Erfahrens von Dingen ·und Mitmenschen" (S. 415). So daß man, wenn Lö· with an Situationen denkt, in denen die Umwelt aus der Mitwelt begegnet, sich fragen könne: ,,Was kommt da eigentlich woran zum Vorschein - die Mitwelt an der Umwelt oder die Umwelt an der Mitwelt?" (S. 417). Sodann 30

Der Andere - Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 1977, S. vii/1 (zit. nach der 2. Aufl.).

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wird gezeigt, daß Löwith Heidegger zurecht vorwirft, sein Verständnis der ,,freigebenden Fürsorge", das die Anderen nur zu sich selbst befreien kann, indem es sie von mir befreit" (S. 179), übergehe das eigentliche Miteinandersein von Ich und Du. Löwiths Gegenthese: sein Aufweis der Konstitution des Ich durch das Du, die seine ganze Strukturanalyse des Miteinanderseins tragen soll, gerate indes in Schwierigkeiten, wo Löwith die Art der Verbundenheit von Ich und Du zu klären versucht. Seine Behauptung: ,,Als ,Du' bist zu zunächst nicht du selbst" (zit. S.431) sei problematisch, weil sie ein Für-sich-Sein impliziert, das vom Andern unabhängig und unbetroffen wäre. Damit werde das Selbst des absoluten Verhältnisses faktisch vom dialogischen Leben abgelöst (S. 439) und damit auch die gegenseitige Anerkennung der im Ich-Du-Verhältnis einbehaltenen Selbstständigkeit der Partner verfehlt (S. 432). Löwiths anthropologisch fundamentale These setze im Titel: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen die fragwürdige Spaltung des Individuums in ein apersonales und in ein personales Selbst voraus: ,,der Mensch - dieser einzelne, faktisch existierende Mensch - ist ,Individuum', unteilbare und sich nicht mitteilende Substanz, nur im Verhältnis zu sich selbst; im Verhältnis zu Anderen ist er ,Person' im Sinne der ,persona', der Rolle" (S. 424). Präsentiere sich die Unterscheidung von ,Du' und ,Du selbst' als ein „eminent produktiver Beitrag zur Erkenntnis des dialogischen Miteinanderseins" (S. 435), so bleibe doch dunkel, wie Löwith das ,Du selbst' als eine erste Person in zweiter Person auslegen wolle (S. 434). Obschon er das Verhältnis von Ich und Du gegen Heidegger als das eigentliche Miteinandersein auszeichne und seine Ursprünglichkeit darin sehe, dass ,,die Begegnung mit dem alter allererst das Verständnis für die alii erweckt" (S. 421), denke er doch „das ,Du selbst' trotz aller gegenteiligen Versicherungen nach Art des ,anderen Ich' oder ,anderen Selbst"' (S. 434) und falle damit letztlich wieder in Heideggers Prämissen zurück (S. 435).

VIII. Sieht man den Streit über den Vorrang der Mitwelt über die Umwelt mit Theunissen darin vermittelt, daß die Umwelt in und an der Mitwelt begegnet, die Mitwelt aber auch an der Umwelt zum Vorschein kommen kann, so bleibt dem Mitsein mit Anderen doch wohl noch ein hermeneutischer Vorzug: es vermag eher einen Zugang zu der Umwelt zu eröffnen, die ich mit den Anderen teile, als es dem einsamen Subjekt möglich wäre, wenn ihm die Dingwelt in ihrem Ansichsein fremd entgegensteht. Als Umwelt wird die Dingwelt allererst durch ihre mitweltliche Bestimmtheit erfahrbar. Das bezeugt vorab die poetologische Tradition der Mimesis, versteht man sie nicht als Nachahmung, sondern als Aneignung einer Wirklichkeit, die deren Anblick als Mitwelt zum Vorschein bringt. Gleichviel ob dieser Anblick idealistisch überhöht (wie z. B. in der bukolischen Dichtung) oder naturalistisch beschrieben wird (wie z.B. im realistischen Roman), erscheint die darge-

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stellte Wirklichkeit nicht mehr per se, sondern selbst noch in ihrer Fremdheit oder historischen Feme als Umwelt einer Mitwelt, anders gesagt: als sinnbe.1 stimmte Lebenswelt. Wird die sinnfremde Realität der Dingwelt derart als ,Subsinnwelt' (nach Schütz und Luckmann) verstehbar, so kann ihre Aneignung in der Modern~ indes auch so erfolgen, daß die Widerständigkeit des Realen kontrastiv be.1 wahrt bleibt und eigens thematisiert wird. Die mitweltliche Bestimmtheit der Umwelt erreicht im Milieubegriff des 19. Jahrhunderts einen Höhe.1 punkt, wenn Balzac die physiognomische Einheit von Charakter und sozia.1 ler Umwelt im Pere Goriot auf den Nenner bringt: ,,ihre ganze Person (ge.1 meint ist die Wirtin) erklärt die Pension, wie die Pension wiederum ihre Person erklärt".31 Doch die hier vorausgesetzte Harmonie zwischen Lebewe.1 sen und milieu ambiant wird bald wieder preisgegeben, wenn sich im Roman Zolas die schützende Umwelt als eine feindselige Macht erweist, die den Menschen im ,Räderwerk der Gesellschaft' dem Verhängnis seiner unkennt.1 lieh gewordenen Natur zum Opfer fallen läßt. Die Widerständigkeit einer' sinnfremden Realität hat auch Flaubert thematisiert. So wenn der passiv~ Held der Education Sentimentale, der sein Leben als Flaneur verspielende Frederic Moreau, immer wieder in Situationen gerät, die sein schon über.1 lebtes Ideal eines romantischen Lebens und Liebens an der Härte und Gleichgültigkeit der Realität zerschellen lassen, während seine Freunde im Scheitern der Revolution von 1848 erfahren müssen, wie ein sie überrollen.1 des Geschehen ihren politischen Traum an der Wirklichkeit der Geschichte zunichte macht. Aus unserer Zeit lässt sich als Beispiel der Nouveau Roman Robbe-Grillets anführen, wo in La Jalousie der Leser dadurch konsterniert wird, daß er selbst die dargestellte Wirklichkeit auf drei namenlose, nur mit Initialen gekennzeichnete Personen zuordnen muß, um zu erkennen, daß ee der singulare, obsessionelle Blick eines Eifersüchtigen ist, dem er folgte, aber keinen Hinweis findet, der ihm die Bedeutung der kontrastiv, in geometrisierender Beschreibung verdinglichten Umwelt einer Plantage entschlüsseln könnte.

IX. Hermeneutisch gesehen folgt aus Löwiths These vom Vorrang der Mitwelt über die Umwelt daß dem apophantischen als (etwas als etwas verstehen) ein intersubjektives als (sich als Einer im Verhältnis zu Anderen verstehen) vorzuordnen oder zumindest - folgt man Theunissens Vermittlungsvorschlag - als gleichursprünglich zur Seite zu stellen sei. Der Gewinn dieser Prämisse ist, dass ihr Ausgangspunkt nicht mehr ein für sich seiendes Individuum ist, sondern das Verhältnis des Einen zum Andern, mithin das Individuum als Person. Der Andere als Person ist dabei zweideutig 31

S. dazu und zum Milieu-Begriff meine Studien ... (wie Anm. 3), ~- 148ff.

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bestimmt: er ist „Einer und Etwas - Person und Sache zugleich", sofern sich nach einer Person sowohl fragen läßt, ,,wer sie ist, wie auch was sie ist" (S. 60). Problematisch wird diese Prämisse, wenn sie das Individuum später doch wieder in seinem Für-sich-Sein zu fassen, mithin es als apersonales Selbst aus der Verhältnismäßigkeit seiner personalen Existenz zu lösen sucht. Das zeigt schon die Verwendung des Personbegriffs, der von Löwith als Rollenverhältnis eingeführt wird, am Ende aber auch die ,Persönlichkeit' in ihrem unverhältnismäßigen Sein meinen soll. In seinem Rekurs auf Kant verschwindet die Gleichsetzung von Person und Rolle und wird das Postulat übernommen, daß der Mensch nicht bloß Mittel zum Zweck sein dürfe, sondern als Person vorzüglich durch „Selbstzweck" zu bestimmen sei (S. 141). Die durch eine Rolle - als Vater, als Ehemann, als Bürger - begriffene Person ist indes in dem, was sie in ihrer Rolle für den Andern ist, nicht nur Mittel zu einem Zweck, noch ist sie in dem, wer sie dabei für sich selbst ist, allein durch ihren Selbstzweck zu bestimmen. Kant hat hier offensichtlich nicht das Rollenverhalten im Blick. ,Sache' im Gegensatz zu ,Person' meint für Kant die „res corporalis" (zit. S. 141), ,Person' die Auszeichnung, sich selbst die Zwecke seines Daseins zu setzen, was das Verhältnis zu den Andern primär nicht benötigt. Die Abhebung der so verstandenen Person von Löwiths Rollenbegriff der persona zeigt sich bei Kant schon darin an, daß er sie als unsere „bessere Person", als unser „eigentliches Selbst", als „Persönlichkeit" versteht (zit. S. 144) und den Menschen als Vernunftwesen dadurch auszeichnet, ,,daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst, genommenen Zwecken zu perfectionieren". 32 Damit erlangt das auf sich selbst gestellte Subjekt seine Autonomie und wird ineins damit der Begriff der Bildung inthronisiert - der Bildung zum Telos der Persönlichkeit, die in Goethes organologischer Fassung (,,geprägte Form, die lebend sich entwickelt") literarisch in der genuin deutschen Form des Bildungsromans zu bedeutender Wirkung gelangen sollte. Zur gleichen Zeit tritt in Hegels Jenenser Philosophie des Geistes aber auch ein alternativer Begriff von Bildung zutage, der nicht mehr wie bei Kant in der Selbsterfahrung des erkennenden Ichs, sondern im komplementären Verhältnis sich erkennender Individuen gründet: ,,Die Erfahrung des Selbstbewusstseins gilt nicht länger als ursprünglich. Sie ergibt sich vielmehr für Hegel aus der Erfahrung der Interaktion, in der ich mich mit den Augen des anderen Subjektes kennen lerne. Das Bewusstsein meiner selbst ist Derivat einer Verschränkung der Perspektiven".33 Die Alternative dieses intersubjektiven Bildungsbegriffs ist in der Folgezeit so wenig zur Geltung gelangt wie die Ich-Du-Philosophie Feuerbachs, bei der Löwiths philosophie-historische Perspektive einsetzt. Hätte es nicht 32 33

Anthropologie,§ 86 (Werke in zwölf Bänden, Bd. 12, Frankfurt 1964, S. 625/673). J. Habermas: ,,Arbeit und Interaktion", in: Technik und Wissenschaft als ,Ideologie', Frankfurt, 1968, S. 12f.

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nahe gelegen, die Darlegung von Kants Begründung der Autonomie des Menschen mit Hegels Dialektik der Intersubjektivität des Geistes zu konfrontieren? Statt dessen bezieht sich Löwith nurmehr auf Hegels theologische Jugendschriften, um Kants Moral der Achtung Hegels Metaphysik der Liebe entgegenzusetzen, die noch nicht wechselseitige Anerkennung, sondern nurmehr die Vereinigung von Ich und Du postuliert(§ 38). Der Rekurs auf Kants Moral der Achtung vermag den Vorrang der Selbstreflexion, der Perfektionierung des autonomen Subjekts zum Selbstzweck der Persönlichkeit, indes nicht im Sinne von Löwiths These, der Verhältnisbestimmtheit des Ich durch das Du, zu revidieren. Denn wenn Kants Bestimmung des Selbstzwecks auch die Pflicht einschließt, ,,einen jeden Menschen, also auch mich selbst, jederzeit als einen Selbstzweck zu achten und nicht nur als Mittel zu einem Zweck zu gebrauchen" (zit. S. 144), beschränkt dies zwar unsere Freiheit in Ansehung unserer selbst, gilt aber für jeden Anderen, ohne Ansehung seiner individuellen Person. Schon Gadamer hatte dazu bemerkt: „Denn Achtung im kantschen Sinne ist Achtung vor dem Gesetz; d. h. aber das Phänomen der Achtung enthält in sich selbst eine Verallgemeinerung des Menschlichen und nicht die Tendenz der Anerkennung des Du in seiner Sonderart und um dieser Sonderart willen". 34 Darum bleibt in den letzten Kapiteln von Löwiths Buch ungeklärt, wie die Möglichkeit eines einzigartigen Verhältnisses zu sich selbst Individualität konstituieren (§ 43) und gleichwohl im Verhältnis des Miteinanderseins gründen soll(§ 40).

X. Gewiss ist die Frage nach der Möglichkeit, sich selbst als einzigartiges Individuum zu erfahren, für Löwiths These unerlässlich. Doch wäre dann nicht weiterzufrage:ri., ob Individualität überhaupt im unverhältnismäßigen Dasein des Einzelnen zu suchen und nicht eher im Verhältnis des Miteinanderseins, näherhin im Prozeß der Bildung zur Person - zum „Individuum in der Rolle des Mitmenschen" - zu fassen ist? Hier käme Löwith die Anthropologie Helmuth Plessners, seine Theorie vom Doppelgängertum des Menschen als einer jedwede Selbstauffassung ermöglichenden Struktur, zu Hilfe. Plessner nimmt hier den intersubjektiven Bildungsbegriff auf, um ihn zu einem neuen Verständnis des Grundverhältnisses von sozialer Rolle und menschlicher Natur weiterzuf~hre1:. Doppelgängertum steht danach für die Fähigkeit des Menschen, sich selbst in Rollen zu verdoppeln und zu verkörpern - eine Entäußerung, die gerade nicht zur Selbstentfremdung führen muß, sondern als „Chance, ganz er selbst zu sein", ergriffen werden kann: „Was Rolle ihm nach unserer Gesellschaftsauffassung grundsätzlich und jederzeit gewährt, nämlich eine Privatexistenz zu haben, eine Intimsphäre für sich, hebt nicht nur nicht sein Selbst auf, sondern schafft es ihm. Nur an 31

Rezension in: Logos, Bd. XVIII (1929), S. 440.

Karl Löwith und Luigi Pirandel/o

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dem andern seiner selbst hat er - sich".35 Damit ist die „idealistische Trennung von Selbstsein und Rolle, von intelligiblem und empirischem Charakter, überwunden und zugleich die Gleichsetzung von Innerlichkeit und Eigentlichkeit, Öffentlichkeit und Uneigentlichkeit, in Frage gestellt, die das Selbstverständnis des Bildungsbürgertums bestimmt hat und im Theorem der Selbstentfremdung weiterlebt, das bei Heidegger die Gestalt der Verfallenheit im defizienten Modus des Man annahm.36

XI. Die Dichotomie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit im Miteinandersein gehört zu dem Erbteil seines Lehrers, von dem sich Löwith nicht ganz frei zu machen wußte. Seine Gegenthese zu Heideggers Daseinsanalytik, daß das eigentliche Miteinandersein primär dem dort übergangenen Verhältnis von Ich und Du entspringe und als solches allererst das Verständnis für die beliebigen Anderen (alii) erschließe, setzt zwar die Konstitution des Ich durch das Du voraus. Doch diese Prämisse wird von Löwith nurmehr an einer Vorzugsgestalt des Ich-Du-Verhältnisses, der nach Kant beschriebenen Freundschaft, aufgewiesen, ohne deren idealistische Vorgaben zu bedenken. Wie schon die Achtung des. Andern als eines Selbstzwecks, die bei Kant das zweifache Tugendprinzip der eigenen „Vollkommenheit", aber fremden „Glückseligkeit" erfordert (S. 157), den Mitmenschen ganz allgemein (universaliter), nicht aber den Anderen in seiner konkreten Individualität betrifft, so auch in Kants Bestimmung der Freundschaft als der Vereinigung von Liebe und Achtung: wo die Selbstliebe verschlungen ist in der Idee der großmütigen Wechselliebe" (S. 160). In dieser Idee verschlungen ist zugleich Ego und Alter in ihrer Singularität, das Individuum in den kontingenten, fremden Zügen seiner Gestalt, in der sich Ich und Du begegnen. Kants Ideal der Freundschaft steht noch in einer säkularen Tradition, in der das Einander-Verstehen von Ich und Du stets durch eine allgemeine Norm: den Vorgriff auf Vollkommenheit, bestimmt wird (bei Kant als Pflicht, daß man sich als Person und wechselseitig selbst perfectionieren" soll). Die Geschichte der Freundschaft zeigt in allen Traktaten und Zeugnissen bis in unsere Tage, daß das Einander-Verstehen im Ich-Du-Verhältnis zumeist über ein Drittes vermittelt wird, gleichviel ob dieses als Ideal der Tugend, des guten Lebens, eines gemeinsamen Ziels oder einer emphati11

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„Soziale Rolle und menschliche Natur", in: Diesseits der Utopie, Frankfurt 1974, S. 32f., und in: Die Frage nach der Conditio humana, Frankfurt 1976, S. 68f. Ebd., S. 69, und zu Heidegger in: Diesseits der Utopie, S. 34: ,,Seine Theorie von der Verfallenheit im defizienten Modus des Man ist der deutschen Innerlichkeit aus der Seele gesprochen".

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Hans Robert Jaus&

sehen Erfüllung der Zweisamkeit bestimmt wurde. 37 Der Vorgriff auf Volk kommenheit, der das kontingente Ich-selbst und Du-selbst verdeckt,\ist wohl nirgends so entschieden in Frage gestellt worden wie durch das biö]i; sehe Gebot der Nächstenliebe. Den Andern als seinen Nächsten zu lieben, der auch als der Fernste, wenn nicht gar als Feind begegnen kann, schließt die Trefflichkeit der einander Gleichen wie die Pflicht zur beiderseitigen Vervollkommnung gerade aus. Weder Sympathie für die Person des Andern noch das Verstehen seiner Eigenheit, sondern allein - wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt - das tätige Erkennen einer Not, in der jeder' Fremde zum Nächsten werden kann, darf den Erweis der Agape bestimmen, Insofern wäre das Gebot: ,,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst,/ mit der impliziten Begründung: ,,denn er ist wie du" das experimentum crucis einer Theorie vom „Individuum in der Rolle des Mitmenschen". Nicht so für Löwith, der den christlichen Begriff des Nächsten im Gegensatz zum Du eines Ich verstehen will und ihn als „zunächst fernliegend" abtut, ,,weH die nächstliegende Bestimmung des andern eine hinsichtlich seiner rück, sichtslose Rücksichtnahme auf einen selbst ist" (S. 74f.), und Nietzsche das letzte Wort in der Sache belässt (S. 168). Dass diese Rücksicht auf einen selbst, die den Andern zum „Meinigen'' machen will, vorab „altruistischen Egoismus" bekunde (S. 74), ist in Löwiths Theorie das Seitenstück zu Heideggers „zunächst und zumeist" anzutref, fender Verfallenheit an das „Man". Der Vorzugsgestalt des eigentlichen Miteinanderseins steht hier eine zweite Vorzugsgestalt gegenüber: das Verfallen des Miteinanderseins in Zweideutigkeit38 oder in ein (wie in Cosi ese vi pare) verselbständigtes Rollenverhältnis. Tertium non datur. Man fragt sich rückschauend: Warum eigentlich? - ob das so sein muß, ob die Welt, die ich mit den Anderen teile, notwendig in eigentliches und uneigentliches Dasein geschieden ist, ob wir nicht auch ein „Dazwischen" kennen, in dem sich das Individuum in der Rolle des Mitmenschen bewegen und entfalten kann, ohne der vermeintlich fatalen Dichotomie anheimzufallen. Bleibt von dieser Löwiths zentrale Analyse des Miteinanderseins als Miteinandersprechen (§ 24-32) de facto nicht unberührt? Wenn sich das Individuum dadurch als Person versteht, ,,daß es sich mit anderen und mit sich selbst teilen kann", wenn der eine den andern auf Erwiderung anspricht, wenn einer „als Person sowohl andern wie sich selbst Rede und Antwo'rt stehen kann" (S. 106), wenn schließlich der Widerspruch oder die wechselseitige Korrektur eine Übereinstimmung in der Sache herbeiführt (S. 66f., 114), ist dies alles schwerlich ein Privileg des „eigentlichen Miteinanderseins", vielmehr die 37

38

Hierzu kann ich auf eine eigene Abhandlung verweisen: ,,Probleme des Verstehens: Das privilegierte Du und der kontingente Andere", in: ,,Kontingenz", hg. G. v. Graevenitz/ 0. Marquard, München 1996 (Poetik und Hermeneutik XVII). Als Beispiel für Zweideutigkeit, wenn ein jeder sich selbst in Rücksicht auf einen andern bestimmt, s. S. 82: ,,Als Angehöriger eines Kreises spricht und handelt ein jeder im Sinne des ,Wir', aber nicht ,für seine Person'( ... ) Die Rolle, welche er als persona spielt, ist ihm vorgezeichnet durch die Tendenz seines Kreises" (so in Heideggers Seminar?).

Karl Löwith und Luigi Pirandello

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Leistung eines Gesprächs, das wechselseitig den Anspruch des Sich-Entsprechens einzulösen sucht.

XII. Darin läge dann auch der Ausweg für die Personen Pirandellos, der ihnen versagt ist, solange sie in ihren Rollen derart verfangen bleiben, daß ihr Miteinandersein im Gespräch selbst zerfällt. Das Gegenbeispiel ist im modernen Drama, das bis zum Überdruss das Thema der Selbstentfremdung auszuschöpfen pflegt, selten zu finden. Mir steht dafür vorab nur ein Zeitgenosse Pirandellos, Jean Giraudoux, vor Augen. In seinem Theater wird das Rollenverhältnis nicht als Entfremdung, sondern als Entäußerung seiner selbst aufgefasst, in der die Personen in der Bejahung ihrer Rollen sich selbst im Andern, das Ich selbst im Du selbst erkennen und so im Dialog ihr eigentliches Wesen verwirklichen, das Vorurteil widerlegend, daß dem modernen Drama das gelingende Gespräch versagt sei. Dabei gewinnt der dramatische Konflikt seine volle Schärfe, wenn das Ich-Du-Verhältnis durch das Hinzutreten eines Dritten in Frage gestellt wird. So am schönsten im Amphitryon 38, Giraudoux' Gegengesang zu Kleist, wo sich Alkmene des göttlichen Doppelgängers zu erwehren weiß, der nicht allein an der im Rollenverhältnis bewährten Solidarität des menschlichen Paars, sondern auch daran scheitert, daß ihm - dem Dritten - die aus dem vergangenen Leben erwachsene Gemeinsamkeit des Paars als dessen unteilbare Erinnerung entzogen bleibt.39 So wird am Ende nicht allein Plessners Theorie, daß in der Entäußerung an übernommene Rollen die Chance liege, sich selbst im Andern zu verstehen, sondern auch das Schlusswort Karl Löwiths bestätigt, das den Leser nach der vorstehenden Kritik überrascht. Mit ihm möchte ich schließen - in Dankbarkeit des philosophischen Lehrers gedenkend, der mich über die Schwelle des Rigorosums geleitete: ,,Als Individuum ein Mitmensch sein und diese Rolle haben und spielen macht den Ernst und Reiz des menschlichen Lebens aus, dessen Wohl- und Übelbefinden, dessen Glück und Unglück vorwiegend durch das Verhältnis des einen zum andern bestimmt ist. Es genügt, dass überhaupt ein Anderer da ist, der einen achtet und anerkennt, um sich selber achten zu können und sich selber kenntlich zu werden: es genügt aber auch, dass man, mit Kant gesagt, überhaupt unter andern lebt, ,um sich einander böse zu machen.' Das Verhältnis zu Seinesgleichen ermöglicht sowohl die Selbstunterscheidung wie den Vergleich mit andern, innerhalb derer sich alles menschliche Leben als ein Zusammenleben in Auseinandersetzung bewegt" (S. 180).

39

S. dazu Vf.: Ästlzetische Erfahrung ... , Kap. II D.

Renate Lachmann

Der Einbruch des Phantasmas in den realistischen Text - Goncarovs ,Oblomovs Traum'

Im Realismus ist es der Diskurs selbst, der vom Phantasma affiziert wird. Der Einbruch des Unwirklichen in die normale Lebensweltlichkeit realistischer Fiktion erfolgt durch unterschiedliche Verfahren. Der Realismus muß sich dabei mit einer doppelt pointierten Repräsentationsproblematik auseinandersetzen. Das wird besonders deutlich bei der Situierung des Phantasmas. Während sich das Phantasma einerseits aus der mimetischen Bindung zu befreien versucht, ist es andererseits auf die mimetischen Parameter angewiesen, durch die es in Erscheinung treten kann; und während sich die Mimesis im Phantasma eine Selbstüberschreitung erlaubt (Amimetismus), muß sie zu dessen Konturierung, d. h. In-Erscheinung-Bringen, auf realistische Strategien zurückgreifen und eine Legitimationstopik zitieren, die zwischen den Polen erklärbar/ unerklärbar, wahrscheinlich/ unmöglich zu vermitteln versucht. Das Phantasma ist ein mimetischer Bastard, der dem realistischen Diskurs zu schaffen macht. Im Falle Goncarovs ist es die Traumerzählung, in der eine andere Welt wirklichkeitsfremd ersteht, die die realistisch präsentierte nachhaltig beunruhigt.

1. Francisco Goyas Schlaf der Vernunft gebiert Monster; Ivan Goncarovs Schlaf der Realität gebiert einen Idyllentraum, dessen Phantasmen bedrohlich sind. 1 Dieser Traum, in dem Goncarov seinen Haupthelden in den verlorenen Zustand der Kindheit zurückversetzt, motiviert - erzähltechnisch gesehen - die Entfaltung einer russischen Idyllenszenerie, die zugleich als Rekonstruktion eines vergangenen Glückszustandes und als satirische Zeichnung einer Gegenwart und Zukunft gefährdenden Rückständigkeit erscheint. Damit gewinnt die Idylle - deren stilistische und topische Ausstattung Goncarov als Kenner der Tradition ausweist - eben jene Doppel-

1

Goyas 43. Blatt seiner Capriclws (1797 /98) trägt die Inschrift: ,,EI sue·o de Ja razon produce rnonstruos". Russisch „son" hat wie das spanische Wort „sue-o" die Doppelbedeutung von Schlaf und Traum.

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Renate Lachmann

wertigkeit, die den Verlust ihrer literarischen Unschuld (Folge ihres prekären Status im Kontext des Realismus) 2 bekundet. ' In der russischen Rezeptionsgeschicl).te hat dies dazu beigetragen, daß nicht nur die Unentschiedenheit in der Ausrichtung des idyllischen Entwurfs, sondern das Idyllische selbst unberücksichtigt blieb und vom satirischen Moment gänzlich verdrängt wurde. Das somit dominant gewordene Satirische allerdings hat in der sozialkritisch orientierten Literaturkritik, die gleich nach Erscheinen des Romans den Ton angab, eine Auslegung erfahren, in der die Idylle als ihr Gegenteil wiederkehrte. Die Erzählung des Wunschtraums, die auf eine psychologisierende Traumsimulation verzichtet,3 führt Oblomov in die umfriedete Enklave des gelobten Landes der Kindheit und damit in den Schoß der Ländlichkeit, den Schoß der Familie und den der Mutter zurück. Das Idyllenphantasma bricht in eine den ersten Teil des Romans beherrschende Szene ein, die den Komödienstil des 18. Jahrhunderts zitiert: Oblomov wird als Typ des exzentrischen Faulpelzes vorgestellt, der im Bett liegend - umgeben von seinen topisch gewordenen Attributen, Schlafrock, Nachtmütze und Pantoffel, - die Defilade seiner geschäftigen und ehrgeizigen Bekannten über sich ergehen läßt. Deren, einem Hausfriedensbruch nahekommenden Ansinnen, er möge sich am urbanen Leben aktiv beteiligen und das hieße, arbeiten und Geld verdienen, hält er sein eigensinniges „Wann soll man leben?" (,,Kogda ze zit'?")4 entgegen. Als Text im Text erfüllt die Traumerzählung zum einen die Funktion einer Quintessenz des Romans, zum andern die einer nachgestellten Vorgeschichte, die das Weltmodell der Trägheit illustriert und die NichtEntwicklung des Helden erklärt.5

Preisendanz, Wolfgang, ,,Reduktionsformen des Idyllischen im Roman des neunzehnten Jahrhunderts (Flaubert, Fontane)", in: Idylle und Modernisierung in der europäisclzen Literatur des 19. Jahrlzunderts, hg. v. Hans Ulrich Seeber und Paul Gerhard Klussmann, Bonn 1986, S. 81-92. Und ders., ,,Spuren der Idylle im Zeitalter des Realismus", in: Auf den Weg gebracht. Idee und Wirk/iclzkeit der Gründung der Universität Konstanz, hg. v. Horst Sund und Manfred Timmermann, Konstanz 1979, S. 421-431. 3 Friedrich Scholz hat in „Gonfarovs Roman Oblomov und der russische Realismus", in: I. A. Goncarov. Beiträge zu Werk und Wirkung, hg. v. Peter Thiergen, Köln/Wien 1989,.S. 135-152 diesen stilistisch motivierten Verzicht als Mangel apostrophiert: ,,So haben wir in Oblomovs Traum einen Versuch vor uns, ein wichtiges Element einer früheren in eine darauffolgende literarische Periode zu überführen, ohne daß es gelungen wäre, es, der neuen Methode entsprechend, umzugestalten, d. h. in unserem Falle den Traum in einer psychologisch glaubwürdigen Weise zu gestalten." S. 149. 4 Zit. wird nach der Ausgabe Goncarov, Ivan A., Oblomov. Roman v cetyrech castjac/z, hg. v. L. S. Gejro, Leningrad 1987. s Nach eigener Aussage hat Goncarov den ersten Teil seines Romans in der 2. Hälfte der vierziger Jahre niedergeschrieben. 1849 veröffentlichte er Ob/omovs Traum aus diesem Teil mit dem Untertitel „Episode aus einem unvollendeten Roman". Alle vier Teile des Romans erschienen 1859. Vgl. dazu: Gerigk, Hans-Joachim, ,,Oblomow, Bartleby und der Hungerkünstler. Drei Beispiele für die Überwindung des agonalen Menschen", in: I. A. Goncarov. Beiträge zu Werk und Wirkung, hg. v. Peter Thiergen, Köln 1989, S. 15- 30.

Der Einbruch des Phantasmas in den realistischen Text

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Im Traumtext kompensiert Goncarov den Mangel an echter Lebenszeit, den sein Held im Romantext beklagt, durch den Entwurf einer konservativen Utopie. 6 Einer auf extrovertierte Tätigkeit, Betriebsamkeit und Fortschritt ausgerichteten und darin sich verausgabenden Gesellschaft, die den raschen Verzehr der Lebenszeit einkalkuliert, wird eine alternative Gesellschaft gegenübergestellt, die sich in ihrer Apraxie und Apathie selbst erhält und ihre Zeit still stellt. Die Vorstellung, daß ein Leben ohne Arbeit möglich sei, ist das zentrale Thema (und das Phantasma) der konservativen Utopie. Diese legitimierte asoziale, den Fortschritt hintertreibende Haltung, die den Namen 'Oblomoverei' (oblomovscina) erhielt, ist nun das Ärgernis, das Anlaß gab, den Idyllenentwurf als abschreckendes Programm einer nationalen Selbstbehinderung zu lesen. In der Lektüregeschichte des Romans avanciert Oblomov zur populärsten Figur der negativen Eigenbestimmung des Russischen. Nicht nur die Literatur- und die Gesellschaftskritik geben der Figur die Kontur des Antihelden, des Repräsentanten der Gescheiterten und sozialen Schädlinge, der eine zur Selbstzerstörung führende Melancholie und Lethargie verkörpert, auch die Literatur macht sie zu einem russischen Antihelden. So etwa, wenn Ivanov, Cechovs wohl jammervollste Gestalt (nimmt man alle Varianten des gleichnamigen Stückes zusammen), mit larmoyantem Pathos, auf Oblomovs Requisit anspielend, bekennt: ,,Ich habe schon den Schlafrock an." (Ja uze nadel chalat.),7 was für ihn Ende, Resignation und Eingeständnis des totalen Versagens bedeutet. Etwa zur selben Zeit schreibt der Sozialrevolutionär Petr Kropotkin: „Das ganze russische Leben, die ganze russische Geschichte trägt Spuren dieser Krankheit [der Oblomoverei] -jener Trägheit von Geist und Herz, jenes 'Rechtes auf Faulheit', das als Tugend proklamiert wird, jenes Konservatismus und jener Schlaffheit, jener Verachtung fiebrischer Tätigkeit, die Oblomoff charakterisieren und die zur Zeit der Leibeigenschaft selbst unter den besten Leuten in Rußland und sogar unter den Unzufriedenen, so gebräuchlich war."8

6

7 8

Andrzej Walicki, W kreg11 konserwatywnej utopii, Warschau 1964, hat diesen Begriff zur Charakterisierung der Slavophilen-Ideologie eingeführt. Sergej T. Aksakovs Eine Familienclzronik ist deren literarisch-affirmativer Ausdruck. Cechov, Anton, ,,Ivanov", in: Sobranie socinenij, Bd. 9, Moskau 1956, 4. Akt, X. Szene. Kropotkin, Petr, Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur, Frankfurt am Main 1975, S. 154-164. Kropotkin sieht die Oblomoverei als Ergebnis der Leibeigenschaft und nicht auf Rußland beschränkt. Für ihn ist Oblomov der konservative Typus „nicht im politischen Sinne, sondern im Sinne von Konservatismus des Wohllebens." Und er begründet dies sozial-psychologisch so: ,,Ein Mann, der eine gewisse Wohlhabenheit erreicht oder ererbt hat, läßt sich nicht gern dazu bringen, etwas Neues zu unternehmen, weil es Unmmehmlichkeiten und Sorgen in seine gesicherte Existenz hineintragen könnte. Er bringt daher ein Leben hin, dem alle Impulse des wirklichen Lebens fehlen, aus Furcht, daß durch diese die Ruhe seiner dahinvegetierenden Existenz gestört werden könnte." (S. 162) - Im russisch-deutschen Wörterbuch von Ivan J. Pavlovskij (R11ssko-ne111eckij slovar', Riga 1911) wird die 'oblomov~6na' zum Synonym für „Trägheit und Gleichgültigkeit, Theilnahmslosigkeit, Stumpfheit, Mangel an

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Renate Lachmann

Der sozialrevolutionär ausgerichtete Literaturkritiker Nikolaj Dobroljubov hatte mit seiner bahnbrechenden Rezension von 1859 die Konzentration auf diesen Lektüremodus vorbereitet. 9 Oblomov wird zu einer der prominentesten fiktionalen Inkarnationen jenes Sozialtyps, den die russische Literatur im 19. Jahrhundert in den sogenannten „überflüssigen Menschen" (hierin sozialanalytische Funktionen übernehmend) hervorgebracht hat und die so stark in die Selbstinterpretation der Gesellschaft eingegangen sind, daß sie zu ihrem fiktionalen einen quasi historischen Status dazu gewonnen haben. Aus Dobroljubovs Sicht kann sich weder die Gesellschaft von dem sie lähmenden Lebenskonzept noch die Literatur von dem es darstellenden Typ befreien. ,,Es ist schon seit langem bekannt, daß alle Helden der bemerkenswerteren russischen Erzählungen und Romane daran leiden, daß sie kein Ziel im Leben erkennen und keine passende Tätigkeit für sich finden. Infolgedessen empfinden sie Langeweile und Abscheu gegenüber jeglicher Handlung, worin sie eine starke Ähnlichkeit mit den Oblomovs haben. In der Tat, öffnen Sie zum Beispiel 'Onegin', 'Held unserer Zeit', 'Wer ist schuld' oder 'Rudin' oder 'Überflüssige Menschen' oder 'Hamlet des Scigrovskij uezd' - in jedem werden Sie Züge finden, die mit den Zügen Oblomovs fast identisch sind." (,,Oblomovscina", S. 321) Und er schließt daraus: ,,Die Sache ist die, daß dies der angestammte Typ unseres Volkes ist, von dem loszukommen nicht ein einziger unserer bedeutenden Künstler vermochte." (S. 314) Für Dobroljubov ist die archaisch-pphen, Naturkundlern und Dichtern sowie von Philo und Kirchenväte:t:-n stammte, legte er seine Exegese der Schöpfungsgeschichte, die wiederum mittels einer Fülle von Stellen aus dem Alten und Neuen Testament anger~ichert wurde. 31 Die Schönheit der Schöpfung, so wie sie in der Billigungsformel „U1. 1 r,1,, ...,., H•r•••tlfotohlt. 1, ,...,.,., 1,,·,., '"''"'"''"i.,Jf""l,r l w•a-1,, ' "'"'"· ... , ,hc, ~ ......... ;i,,.,.., •nd l 1,,fc ,h

Abb.3

Nichts nützt nämlich die schönste Seelenhermeneutik, wenn man argumentieren könnte, daß die Eigenheit der Handschrift nichts anderes sei als der Niederschlag einer individuellen Anatomie. Diesem Einwand war schon Js

Georg Meyer: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie. Vorschule der gerichtlichen Schriftvergleichung, 2. Auflage bearb. und erw. v. Hans Schneickert, Jena 1925, Abb. 5.23.

Der Mensch im Spiegel der Schrift

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1895 der Physiologe und Psychologe Wilhelm Preyer entgegengetreten. Schreibexperimente mit der linken Hand, dem Fuß oder dem Mund zeigen, daß die Eigentümlichkeit der persönlichen Schrift auch hier gewahrt wird. Das führt Preyer zu seiner immer wieder zitierten Formel, die Handschrift sei „Gehirnschrift", d.h. nicht abhängig von der jeweiligen Anatomie der Hand und des Arms. Vielmehr entsteht ihre Eigentümlichkeit im Gehirn, dem Zentrum der Bewegunskoordination wie der Sprache, wobei Preyer von einem speziellen „Schreibcentrum" analog dem Spachzentrum ausgeht. 36 Preyer interessiert sich für eine kausale Ableitung der Individualität und versteht diese Individualität zunächst einmal vor allem als „Verschiedenheit" - nicht also als Wesenhaftigkeit. ,,Wie kommen die Verschiedenheiten der Handschriften zu stande?" heißt darum das grundlegende Kapitel. Was die Schrift individuell strukturiert, sind nach Preyer „Bewegungserinnerungsbilder im Großhirn"; 37 sie wirken unwillkürlich und unbewußt an der willkürlichen und gezielten Schreibbewegung mit und geben ihr damit nicht nur ihr spezifisches Gepräge, sondern sind aufschlußreich für die innere Disposition der schreibenden Person. So verrät ein Häkchen oder eine Rundung (der später so genannte „Zähigkeitshaken") am Ende von langen Strichen (Abb.3): eine Tendenz zum Festhalten, zum Egoismus, zur Hartnäckigkeit. Preyers Erklärung ist dafür ist ebenso kompliziert wie aufschlußreich: ,, ... das Festhalten dessen, was Schutz gewährt, erfreut befriedigt, [ist] bei kleinen Kindern[ ... ] die[ ... ] sich [mit den Fingern] wie mit Haken an das Kleid der Mutter anklammern, eine lange Jahre hindurch sehr oft wiederholte Bewegung. Solche erbliche Bewegungen hinterlassen stärkere Bewegungserinnerungsbilder im Großhirn, als andere. Wenn bei Willkürbewegungen mit der Hand, welche zu jenen frühen Handbewegungen keine Beziehung haben, zuvor ein Bild der auszuführenden Bewegung entsteht, beim Schreiben ein Schriftbild, dann kann die Muskelbewegung [... ] auch von den unter der Bewußtseinsschwelle gleichsam fortglimmenden früheren Impulsen, jetzt verblaßten Erinnerungsbildern, mitbestimmt werden und so der unnötige Haken dem Schriftzeichen zuwachsen. [... ] ohne irgendein bewußtes Erinnern wird das [... ] erlernte Schriftbild unmittelbar durch jenes Erinnerungsbewegungsbild modifiziert. Arm und Hand sind nur die Hebelvorrichtung, welche das Schriftbild infolge dieser 'latenten Innervation', fixiert.".38

Die individuelle Variation der Schulschrift verdankt sich also einer im Bewegungszentrum des Hirns gespeicherten Bewegung, die im Schreibakt unwillkürlich wiederholt wird. Preyers Formel von der Handschrift als Gehirnschrift, die 50 Jahre später von Rudolf Pophal programmatisch aufgegriffen werden wird, changiert also, wenn ich es richtig verstehe, zwischen zwei Theorien der Schrift, oder besser: zwei Aufschreibemodellen, die erklä-

36

37 38

Wilhelm Preyer: Zur Psychologie des Schreibens, Hamburg/Leipzig 1895, S. 37. Preyer: Zur Psychologie des Schreibens, a.a.0., S. 108. Preyer, ebd.

Eva Horn

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ren sollen, wie die Psyche in die Handschrift kommt. Einerseits ist die Rede von Schriftbild und Bewegungsbild und der Bezug, der zwischen einer zupackenden Charakterdisposition und einem graphisch dargestelltem Häkchen zu bestehen scheint, ikonisch oder symbolisch. Der Mensch malt die Bilder dessen, was ihm unbewußt im Kopf herumspukt, in seine Schrift hinein, wie etwa auch Zahlen (Abb.4). Andererseits - und das ist die für Preyer zentrale Seite - läßt sich Schrift, von der Bewegung her betrachtet, verstehen als eine Art analoger Aufzeichnung von Gehirnprozessen, die Bewegungsabläufe steuern und so die Schrift zur Kurvenschrift, zum 'Enzephalogramm' Werden lassen, vergleichbar der Puls- oder Herzkurve. Diese Methode, alle möglichen biologischen oder physikalischen Prozesse unmittelbar in eine Kurvenschrift zu übersetzen, sie sich also selbst schreiben zu lassen, wurde

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Abb.4

1878 in einem umfangreichen Kompendium über alle damals verfügbaren Apparaturen von Jules Etienne Marey als „Methode graphique" eingeführt.

Der Mensch im Spiegel der Schrift

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Schon in einem Aufsatz von 1894 zieht Preyer die Verbindung zwischen Handschrift und der „graphischen Methode": ,,die geraden und gebogenen Linien der Buchstaben, welche ein Mensch niederschreibt, (sind) eine physiologische Kurvenschrift, aber eine von viel größerer Kompliziertheit als alle anderen, weil das, was schreibt, das Gehirn mit seinem Schreibapparat, den Nerven und Muskeln des Armes, weit komplizierter gebaut ist als irgendein anderes Gebilde, das seinen Zustand selbst aufschreibt."39

Die graphische Methode, wie sie Marey in der Einleitung seines Handbuchs präsentiert, feiert die analoge Aufzeichnung von z.B. wechselnden Druckverhältnissen, Temperaturschwankungen, Pulsschlägen oder Muskelkontraktionen als die Möglichkeit, sowohl die Unzulänglichkeiten unserer Sinneswahrnehmungen als auch die unserer Sprache zu umgehen, und so gleichermaßen die Natur selbst zum Sprechen, bzw. Scheiben zu bringen.4o Sie umgeht diese Unzulänglichkeiten, weil sie weder auf die Unterschwellen menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit (etwa bei extrem kurzen Prozessen oder extrem kleinen Bewegungen) noch auf den begrenzten und diskreten Raum des sprachlich Sagbaren Rücksicht zu nehmen hat. Die Sprache in der Aufzeichnung des Menschen zu umgehen, nicht mehr auf die willkürlich gesetzten und vielleicht trügerischen Worte von Autobiographien, Geständnissen oder Briefen angewiesen zu sein - genau das ist das Begehr der Graphologie, das sie mit der graphischen Methode teilt. 41 Der Traum, den die Graphologie hier träumt, ist die Selbstaufzeichnung der Seele in der Schrift, aber nicht als Selbstdarstellung und autobiographische Inszenierung, sondern als unbewußte und unmittelbare Spur, die mit derselben Zuverlässigkeit und unendlichen Feinheit ihre Vorgänge einzeichnet, wie der Draht, der etwa die Kontraktionen eines Froschmuskels in die berußte Walze des graphischen Apparats ritzt. Schon Michons Rede von der „Photographie der Seele" zeugt von diesem Traum analoger Selbstaufzeichnung des Menschen. Aber ein Graph kann wohl von Quantitäten, nicht aber von Qualitäten zeugen, er kann Unterschiede verzeichnen, nicht aber Identitäten bestimmen. Für das Erkenntnisinteresse des Graphologen nach einer qualitativen Be-

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Wilhelm Preyer: ,,Handschrift und Charakter" (1894), zitiert in: Rudolf Pophal: Die Handschrift als Gehirnschrift. Die Graphologie im Lichte des Schichtgedankens, Rudolstadt 1949 (Ms. des Buchs fertiggestellt 1943). Etienne Jules Marey: La methode graphique dans !es sdences experimentales et particulierement en physiologie et en mededne, Paris 1878, Introduction: " .. .Ja defectuosite de nos sens pour decouvrir !es verites, et puis l'insuffisance du langage pour exprimer et pour transmettre celles que nous avons acquises. [... )la methode graphque traduit [des changements dans l'activite des forces] sous une• forme saisissante que l'on pourrait appeler Je Jangage des phenomenes ·eux-memes." S. I und III.

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Zur Ablösung von Gattungen der Selbstschreibung zu Methoden anloger Aufzeichnung von Prozessen des Körpers vgl. Bernhard Siegert: ,,Schein vs. Simulation, Kritik vs. Dekonstruktion", in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens, Berlin 1993, S.232f.

Eva'J-Iom

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stimmung von Individualität (,,Charakter") muß Schrift also immer mehr sein als nur eine Hirnkurve. Ein Zugriff auf den Charakter, das Wesen des Menschen, also das, was ihn nicht nur von anderen unterscheidet, sondern im emphatischen Sinne mit sich selbst identisch macht, gelingt - das zeigt schon die latente I9konsistenz bei Preyer - nur über die Hinzuziehung eines anderen Codes, eines Codes von Bildern, Symbolen, Analogien und Ähnlichkeiten.

Abb.5

Auf dieser Seite treten darum nun allerlei Deuter auf, die in der Schrift Piktogramme, Symbole, sogar dreidimensionale Körper entziffern. Ein besonders schönes Beispiel ist Rafael Schermans prompte Diagnose einer geplanten Überfahrt anhand eines dampferförmigen Schriftzugs. (Abb. 5) Anja und Georg Mendelssohn suchen in der Schreibbewegung oberhalb der Schreibfläche und im Druck auf das Papier eine dreidimensionale Figur auf, die der Strich des Schreibwerkzeuges sozusagen umkreist. 42 Und natürlich werden in Musikerschriften Notenzeichen und Violinschlüssel gefunden oder, wie im Beispiel von Preyer, versteckte Zahlen (Abb.6). Nicht selten berufen sich diese Ansätze auf eine Art Vulgär-Psychoa~alyse, mit der sie allerdings bestenfalls ein vager Begriff des Unbewußten und eine halbverstandene Begrifflichkeit teilen, wie etwa Max Pulvers Symbolik der Handschrift von 1931 oder das Buch der Mendelssohns. Neben der eher schlichten Suche nach Bildchen und Symbolen in der Schrift (Degen, Peitschen, Brillen usw.

42

Anja und Georg Mendelssohn: Der Mensch in der Handschrift, Leipzig 1928. In seiner Rezension dieses Buches hat Walter Benjamin die Orientierung ihrer Methode an einer Theorie von Schrift als „Bilderschrift" gelobt und ihnen einen „Widerstand gegen die Versuchung moralischer Schriftauswertung" bescheinigt. Tatsächlich aber teilt das Werk nicht weniger den wertenden und trivialen Zug der meisten graphologischen Expertisen, etwa wenn es dem Triebtäter Haarmann Jahre nach dem aufsehenerregenden Prozeß die Diagnose der Homosexualität und Brutalität hinterherträgt. Vgl. Walter Benjamin: Rezension zu Anja und Georg Mendelssohn[ ... ] (1928), in: Gesammelte Schriften. Kritiken und Rezensionen, Frankfurt/M. 1991, S.135139. ',,

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Der Mensch im Spiegel der Schrift

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finden sich schon bei Michon) setzt diese bildorientierte, später so genannte ,,eidetische" Graphologie (Pophal) auf die Entfaltung der Schrift im Raum. H'u,r.,,J~/

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Abb. 1: Selbstreflexivität in der Kriegsberichterstattung

Almut Todorow, Sven Grampp, Bernd Schmid-Ruhe

216

Die Redewendung Im Krieg stirbt als erst~s die Wahrheit" 60 ist nicht nur Motto, sondern auch Grundlage für Auseinandersetzungen mit dem Wahrheitsanspruch, den die Presse an sich selbst richtet (Abb. 1). Kriege sind nicht nur Berichtsgegenstand, sondern bedeuten auch besondere Krisen der Glaubwürdigkeit. Sie stellen für den ohnehin immer präsenten diffusen Manipulationsverdacht eine weitere Zuspitzung dar. In Kriegszeiten werde verschleiert, vertuscht, betrogen, belogen oder schlimmer noch, die Medien würden manipulativ eingreifen, sich zum Handlanger der einen oder anderen Kriegspartei machen oder machen lassen. Die Unterscheidbarkeit zwischen Berichterstattung und Kriegspropaganda - so die Unterstellung werde aufgehoben. Die journalistische Gegenbewegung hierzu ist das Bemühen, verschiedene Quellen zu befragen, vor Ort zu sein und sich mit eigenen Korrespondenten ,ein eigenes Bild zu machen', d.h. Evidenz zu erzeugen durch einen Rahmen, in den die Einzelbilder eingefügt werden können, wie sich in das Textensemble die Einzeltexte fügen. Unter den Verfahren der Glaubwürdigmachung, wie Medien- und Sprachreflexion, Literarisierung und Fiktionalisierung, Einsatz von Photographie und Infographiken, derer sich die Presse bedient, stellt die ostentative Thematisierung der eigenen Verfasstheit die radikalste Art der massenmedialen Glaubwürdigmachung dar. In dieser Ausstellung der Konstruktivität von Nachrichteninhalten zeigt sich.nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit den Verfahren der publizistischen Praxis, sondern auch die Ausstellung der eigenen Konstitutionsmerkmale als Konstruktion. Die Frage Nachrichten vom Krieg oder Propaganda von Kriegsparteien?"6I überführt den möglichen Mangel an zuverlässigen Quellen direkt in die Parteilichkeit. Dabei zeitigt die betonte Hinwendung an den Leser eine Glaubhaftmachung, denn der Mangel an Information scheint nun dialogisch verhandelbar zu sein: Denken Sie daran. Wir versuchen, in unseren Artikeln die Quellenangaben so deutlich wie möglich zu machen." 62 Die vordergründige Entschleierung soll jedem Verdacht vorbeugen, man manipuliere. Dabei wird hier diese Selbstbezichtigung, ja Selbstanklage, überdeutlich praktiziert, indem die Distanz zwischen Leser und Zeitung schrumpft, denn "aus dem Kosovo sind derzeit keine unabhängigen Informationen zu bekommen"63 und was dennoch erfahrbar ist, ist nicht durch unabhängige 11

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Es handelt sich hierbei um die populär gewordene Formel des „The first casualty when war comes is truth." Das Zitat wird in der Regel dem US-Vize-Präsidenten Hiram W. Johnson (1918) zugesprochen. Ebenso gibt es Verweise auf Rudyard Kipling, Arthur Ponsonby, diverse Radiomoderatoren oder gar Aischylos. Das Zitat ist also selbst schon topisch geworden. Siehe zur Diskussion: http:/ / www.guardian.co. uk/notesandqueries /query/ 0,5753,-2151 O,00.html (Stand: 17.06.2003). ci (Anm. 59). ci (Anm. 59). ci (Anm. 59).

Medien unter Verdacht

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Quellen zu überprüfen. Dies sollten unsere Leser immer bedenken"M. Der Kommunikator stellt sich hierbei auf die gleiche Ebene wie der Leser, wenn es um die Nachprüfbarkeit der Fakten geht. Dabei wird das eigene Nichtwissen auf die eigene Verfasstheit zurückgeführt. Dies dekonstruiert nicht nur das scheinbar sichere Verhältnis, das der Journalismus vordergründig zu den Fakten pflegt, sondern kontrastiert in auffälliger Weise den Umgang mit der Faktensprache der Presse. Die Dekonstruktion des eigenen Standpunktes und das Formulieren einer unsicheren Haltung mündet nun aber nicht in einem unkritischen Relativismus, in dem es kontingent geworden wäre, was berichtet wird, oder durch den die Nachrichtenmedien sich selbst obsolet machen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die Ausstellung der Unsicherheit der eigenen Position und das Darstellen des eigenen Reflexionsniveaus ergibt sich eine gesteigerte Glaubwürdigkeit im Sinne Ostermanns, nämlich als prozessuale Kontextualisierung des Berichteten, des Kommentierenden und des Relativierenden. Beide, Medienmacher wie Mediennutzer - deren Weltzugang nun der gleiche ist - sind also abhängig von der Darstellung, wie sie die Sprache vorgibt, aber nicht mehr abhängig von „Fakten", die es nicht mehr zu geben scheint, da „nicht überprüfbare Informationen (.] oft Tatsachen in diesem Krieg" 65 ersetzen. Was nun hinter den nicht mehr sichtbaren „Informationen" zutage kommt, sind die Konstruktionsweisen, nämlich eben wie „Tatsachen" in Sprache überhaupt überführt werden können. Die selbstreflexiven Einschübe organisieren den Text hierbei ähnlich einer Glosse, die von außen in den Text hinein regiert und ihn durch ihre hybride Position als Grenzgänger zwischen dem Außen und dem Innen der Nachricht formt, Lese- und Interpretationsanweisungen gibt und schließlich eine eigene Geltung erlangt. So steht das auf der Seite als Blickfang eingesetzte Bild (Abb. 1) in einer direkten Abhängigkeit zum nebenstehenden Kommentar: Der prekäre Status der Meldungen aus dem Kosovo ist bildhaft repräsentiert im Handschlag der beiden Politiker, die älteste Sicherungsgeste der Glaubwürdigkeit, deren geheime Hintergedanken sich aber niemals erkennen lassen. Ein ganzer Kasten, wie ihn sich die taz zur Wahrung der eigenen Glaubwürdigkeit gönnt 66, kommentiert nicht nur das aktuell Gesagte oder nur einen Artikel. Vielmehr weitet sich diese Glossierung über die Seite auf das ganze Ensemble der Aussagen zu einem Thema aus und kommentiert damit letztlich die Zeitung ,an sich'. Profil, Charakter, politische Ausrichtung und nicht zuletzt die Leserbindung schlagen sich im Umgang mit solchen selbstreflexiven Glossierungen nieder. Sie verlieren sich nicht oder müssen von Ausgabe zu Ausgabe neu entworfen werden, sondern bleiben im Bewusst64

ci (Anm. 59).

65

dpa/afp/Reuters, ,,Vorsicht: Nachrichten vom Krieg", taz, Nr. 5802, 03.04.99, 2.

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ci (Anm. 59).

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Almut Todorow, Sven Grampp, Bernd Sc1mii~-Ru1ze

sein der Leser und steuern somit sowohl vergangene (erinnerte) als auch zukünftige Rezeptionsvorgänge. Was sich dabei ergibt, ist ein dichtes, intertextuelles Verweisungsnetz, das Dargestelltes, Kommentare zum Dargestellten und Kommentare über die Art des Darstellens aneinander bindet und jeweils in dieses Netz neue Verweisungszusammenhänge einbinden kann. Die gegenseitig aufeinander referierenden Texte aktualisieren sich gegenseitig und somit das Kommunizieren an sich. So steuert der taz-Artikel aus dem Kasten heraus das um ihn herum Gesagte, das bereits Gesagte und darüber hinaus das noch zu Sagende.

Selbstreflexivität im Fernsehen Anders als bei der Presse ist die zentrale Struktureigenschaft des Fernsehens die der Diskontinuität. Dieser Befund findet sich bei ganz unterschiedlichen Medientheoretikern. 67 Das Fernsehen zersetze jede Art von Zusammenhang; jeder Gegenstand werde oberflächlich und trivial präsentiert, zum bloßen Entertainment reduziert oder zumindest (unzulässig) popularisiert. Damit einher geht oft ein genereller - und im Vergleich etwa zur Tagespresse ungleich radikaler formulierter -: Manipulati~:msverdacht68 beziehungsweise das Fernsehen wird zum kommunikativ irrelevanten „Nullmedium"69 erklärt. Wir dagegen gehen zunächst einmal von der kommunikativen Relevanz des Fernsehens aus und wollen nicht die angeblichen Trivialisierungsund Nivellierungsprozesse des Fernsehens zum Gegenstand der Untersuchung machen, sondern beobachten, durch welche kommunikativen Strategien das Fernsehen zu überzeugen versucht und vor allem welche selbstreflexiven Glaubwürdigkeitsstrategien das Fernsehen dabei entwickelt hat. Aus mehreren Gründen ist als Untersuchungsgegenstand die Sendereihe 100 Wörter des Jahrhunderts gewählt worden: 1. In dieser Sendereihe sind besonders viele selbstreflexive Giaubwürdigkeitsstrategien zu beobachten, derer sich das Fernsehen auch an anderer Stelle bedient. 2. Die Sendereihe ist zeitgleich zu dem ausgewählten Korpus der Zeitungsbeispiele ausgestrahlt worden7o und liefert somit eine synchrone Vergleichsfolie selbstreflexiver Figuren in der massenmedialen Kommunikation. 3. Die

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Prototypisch Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/M. 1988, vor allem 123-140; oder auch Hans Magnus Enzensberger, ,,Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind", in: ders. Mittelmaß und Walm. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt/M. 1988; siehe auch Lorenz Engell, Vom Widerspruch zur LnngL'Weile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt/M. u.a. 1989, vor allem 233-263. Siehe Postman (Anm. 67) oder auch Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt/M. 1998. Siehe Enzensberger (Anm. 67). Zeitungserhebung: 1.3.-30.5.1999; Erstausstrahlung, der 100 Wörter des Jalirlwnderts ab 23.11.1998 bis Sommer 1999. '

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Medien unter Verdacht

219

Sendereihe ist dem Format Rückblicke auf das 20. Jalzrlzundert zuzuordnen: 71 Diese ,Rückblicke', die als zentralen Gegenstand die Dokumentation und Reflexion des 20. Jahrhunderts wählen, sind besonders interessant, will man die Leistungsfähigkeit der kommunikativen Funktion des Fernsehens untersuchen. Denn gerade das 20. Jahrhundert ist prima facie ein Jahrhundert, das sich ,angemessener' Repräsentation und Reflexion durch das Fernsehen von vorneherein zu entziehen scheint: Wie lässt sich ausgerechnet im Medium Fernsehen ein ganzes Jahrhundert, zumal ein derart ereignisdichtes, beschleunigtes wie das gerade abgelaufene, noch komprimierend abbilden, ohne dass darüber Komplexität, Fülle und Divergenz des historischen Materials reduktionistisch nivelliert und unzulässig popularisiert würden? 72

Damit ist gleichsam die Frage nach Strategien der Glaubwürdigkeitssicherung gestellt. Um einen Eindruck von der Vielzahl der selbstreflexiven Figuren zu gewinnen, die in den einzelnen Beiträgen ausfindig zu machen sind, seien hier einige beispielhaft skizziert. Viermal wird in dem Beitrag Klimakatastrophe - von minimalen Differenzen abgesehen - dieselbe Bildfolge in hohem Tempo aneinander montiert. Die jeweils eingesetzten Bilder verweisen auf mögliche Auswirkungen der Erderwärmung (Wüstenlandschaften, Hurrikan, Überschwemmungen u.ä.). Musik und Kommentar akzentuieren dieselben Bildfolgen unterschiedlich und teilweise inkompatibel. Dabei bedient sich der Beitrag unterschiedlicher Erzählmuster. Am Ende des jeweiligen Bilddurchganges wird ein Schriftzug eingeblendet, der die wertende Haltung der jeweiligen Erzählung auf den Punkt bringt (Tab. 1). Die vier Bilddurchläufe zeichnen nicht nur die Bandbreite möglicher Semantisierungen des Phänomens Klimakatastrophe nach, sondern verweisen auch auf dessen unterschiedlich akzentuierte Einschätzungen im öffentlich-medialen Diskurs - von der kritischen Berichterstattung bis hin zur zynischen. Die fragilen und diffusen normativen Einstellungen, die sich in der massenmedialen Berichterstattung über die Rückblicke auf das 20. Jahrhundert sind u.a.: 100 Jahre - Der Countdown, 20 Tage im 20. Jahrhundert, History, 100 Photos des Jahrhunderts, 100 Deutsche Jahre - siehe zur Diskussion des Formats die Ausführungen in Christian Filk, Kay Kirchmann, ,,Wie erinnerungsfähig ist das Fernsehen? Thesen zum Verhältnis von Geschichte, Medien und kulturellem Gedächtnis", in: Funkkorrespondenz, Nr. 42, 2000, 3-9. Eine von der Kulturzeit-Redaktion beauftragte siebenköpfige Jury wählte hundert Wörter aus, die so die Vorgabe an die Jury - ,,das 20. Jahrhundert auf besondere Weise reflektieren" (Pressetext) sollten. Diverse Fernsehautoren wurden von der Kulturzeit-Redaktion beauftragt, die ausgewählten Wörter in Kurzbeiträgen (ca. 3 - 5 min.) filmisch umzusetzen. Die Erstausstrahlung erfolgte ab dem 23.11.1998 werktags im Rahmen des Magazins Kulturzeit auf 3sat. n Filk/Kirchmann (Anm. 70), 4. Vgl. zum Themenkomplex TV-Jahrhundertrückblicke auch Sven Grampp, ,,Das Nullmedium erinnert sich. Formen der Geschichtsdarstellung in TV-Jahrhundertrückblicken", in: Fabio Crivellari u.a. (Hgg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004 (im Druck). 11

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Almut Todorow, Sven Grampp, Bernd Sclzmid-R.u1ze \

Klimakatastrophe konstatieren lassen, werden im Beitrag dokumentiert und historisch verankert. Kommentierung und unterschiedliche Aktualisierung des Bildmaterials geben jedoch nicht nur vermeintliche Tatsachen und Einschätzungen wieder. Die divergierenden Kontextualisierungen und Sernantisierungen werden zugleich medien- und selbstreflexiv eingesetzt: Bine zentrale Struktureigenschaft der Fernsehberichterstattung wird reflektiert (eben die Aktualisierung und Neu-Semantisierung des Bildmaterials durch einen Kommentar). Da der ,Rückblick' selbst im Gesamten nach dieser Struktur aufgebaut ist (Wiederverwertung und Neu-Semantisierung von Fernsehbildern) arbeitet der Beitrag sowohl medien- als auch selbstreflexiv. Der Beitrag Klimakatastrophe verschränkt so historische Repräsentation, Medien- und Selbstreflexivität. Auf die Spitze getrieben wird die Selbstreflexion im Beitrag Fernsehen; sie mündet in einer Paradoxie. Nach einer direkten Ansprache an den Zuschauer (,,Sie erwarten nun eine Erklärung, was das Fernsehen sei..."), Wird die Erklärung gegeben, das Fernsehen zeige nur das, was man sich wünsche und nicht Sachverhalte der Welt - ein typisches Beispiel für das Kreter-Paradox: Wenn das Fernsehen nur das vermitteln würde, was man sich wünscht, also nicht die ,wirkliche' Welt, dann könnte das Fernsehen auch keinen Wahrheitsgehalt für sich beanspruchen. Demgemäß kann die angeführte kritische Aussage über das Fernsehen nicht zutreffen - sie wird ja selbst im Fernsehen gesendet. Auch hier gilt, wie für jede medial fundierte Kommunikation: ,,Mediale Kommunikation kann nicht gegen sich selbst gewendet werden, kann nicht entschleiert oder gar umgekehrt werden."73 Da die Selbstwidersprüchlichkeit in diesem Beitrag so offensiv und offensichtlich zur Schau gestellt wird - auf der visuellen Ebene überdies unter· stützt durch Spiegel- und Rückkopplungseffekte - kann sie als funktionales Element ironischer und somit relativierender Selbstkommentierung einge· stuft werden.74

73

71

Lorenz Engell, Das Gespenst der Simulation. Ein Beitrag zur Überwindung der ,Medientheorie' durch Analyse ihrer Logik und Ästhetik, Weimar 1994, 54. Engell beschäftigt sich im Kontext mit der Simulationstheorie und der Umsetzung der Simmulationstheorie im Fernsehen mit dem Thema der Selbstwidersprüchlichkeit - vgl. zur Umsetzung im Fernsehen v.a.: 45ff. Zur Ironie in den Medien vgl. Todorow „Ironie" (Anm. 40).

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Medien unter Verdacht

221

Zeitlicher Verlauf des Beitrags (in sec.):

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124 Exposition

153 1. Erzählung: apokalyptisch mit Appell zur Änderung; aggressive Rockmusik

---------------- Schriftzug: ,,katastrophal"

-

2. Erzählung: ästhetisierend; klassische Musik

Schriftzug: ,,phänomenal"

98 3. Erzählung: beschwichtigend; klassischeMusik (Mozarts Kleine Nachtmusik) Schriftzug: ,,normal"

4. Erzählung: apokalyptischfatalistisch; aggressive Rockmusik

Schriftzug: ,,egal"

Tab. 1: Erzählmuster im Beitrag Klimakatastrophe

Die selbstreflexiven Momente im Beitrag Holocaust enthalten dagegen keinerlei ironische Komponenten. Anhand dieses Beitrags kann beobachtet werden, wie die Repräsentation der systematischen Auslöschung jüdischer Existenz im Nationalsozialismus nicht über eine direkte Visualisierung (mittels originalem Dokumentationsmaterial) vollzogen wird. Stattdessen werden leer stehende und ruinenhafte Überreste von Konzentrationslagern gezeigt. Parallel wird ein Off-Kommentar eingesetzt, der die historischen Ereignisse in diesen Lagern erzählend vergegenwärtigt und darüber reflektiert, ob und wie solch ein Verbrechen repräsentiert werden kann. Die selbstreflexive Bearbeitung des Themas vollzieht sich also als permanente Selbstbefragung über angemessene Darstellungsmittel angesichts eines spezifischen historischen Sachverhalts. In den einzelnen Beiträgen wird eine ganze Palette unterschiedlicher selbstreflexiver Figuren eingesetzt. Über die konstatierte Vielfalt der selbstreflexiven Figuren - und das damit ausgewiesene hohe Reflexionsniveau hinaus ist hier bedeutsam, dass die selbstreflexiven Operationen nicht etwa den Zugriff auf Vergangenheit relativistisch unterhöhlen oder einfach „Beobachtungsperspektiven" bereitstellen, ,,die Kontingenz normalisieren" 75, sondern einem reglementierenden Wertesystem folgen und gleichzeitig dieser Reglementierung Glaubwürdigkeit verschaffen. Je nach Kontext und Gegenstand wird Selbstreflexivität unterschiedlich eingesetzt. Einzelne Beiträge, die populärkulturelle Wörter und Phänomene behandeln wie Kaugummi, Reißverschluß oder Pop, werden eher spielerischassoziativ, ironisierend präsentiert und selten moralisch aufgeladen; Phänomene, die aus dem Bereich Militär und Politik stammen und die intentionale Auslöschung menschlichen Lebens behandeln wie etwa Atombombe, 1s Schmidt „Kopplung" (Anm. 36).

222

Almut Todorow, Sven Grampp, Bernd Schmid-Ruhe

Deportation, Holocaust, sind überdurchschnittlich kommentarlastig, zumeist sprachkritisch und mit eindeutigen moralischen Appellen versehen. Diese Beobach tung lässt sich auch auf die selb~treflexiven Strategien übertragen: Populärkulturelle Phänomene wie Fernsehen werden dazu benutzt, um einen ironischen performativen Selbstwiderspruch einzustreuen, der augenzwinkernd mit den Manipulationsverdächtigungen des Rezipienten kokettiert; Beiträge wie Klimakatastrophe werden selbstreflexiv eingeholt durch die Thematisierung der diffusen Beschreibungs- und Beurteilungsgmöglichkeiten, um das Problem als historisches, massenmedial diskursiviertes Phänomen zu perspektivieren. Der Beitrag Holocaust wiederum erhält eine e indeutig außermediale Verankerung, verbunden mit einem moralischen Appell. Hier wird selbstreflexiv nicht das Faktum an sich, die Auslöschung menschlicher Existenz und die moralische Beurteilbarkeit relativiert, sondern ,nur' die Darstellbarkeit dieses Faktums problematisiert. Nicht alle Themen erhalten also dieselbe Relativierung; je näher die einzelnen Beiträge Themen wie etwa Holocaust oder Atombombe kommen, desto apodiktischer wird das Urteil, desto eindeutiger die außermediale Verankerung. Die selbstreflexiven Operationen werden entworfen auf dieses reglementierende Wertesystem hin und erfüllen dabei eine wichtige Funktion. Es wird dabei Bezug genommen auf den jeweiligen Gegenstand und die erwartete Kontextualisierung durch den Rezipienten. Daraus ergeben sich je unterschiedliche Positionierungen des Kommunikators zu seinen Gegenständen und ein jeweils unterschiedlicher Umgang mit Verdachtsmomenten. Ausgestaltet wird dabei die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Rede über einen Gegenstand und immer auch das Bild des Redners und seines Charakters. Der Kommunikator des ,Rückblicks' ist nun nicht einfach glaubwürdig, weil er alles konstruktivistisch relativiert, sondern weil er die Vorgabe des common sense und die damit verbundene angemessene Redeweise über einen bestimmten Gegenstand in die Selbstreflexion mit einbezieht und dabei immer auch sein ethos profiliert. Die selbstreflexiven Figuren funktionieren dabei wie Glossen, die vom. Rand her den jeweiligen Beitrag kommentieren, auf die anderen Beiträge ausstrahlen und dabei das ethos des Kommunikators profilieren. Der allen Beiträg.e n vorangestellte kurze Vorspann (ca. 25 sec.) enthält einige selbstreflexive Elemente, an denen dies glossierende Funktion besonders gut veranschaulicht werden kann:

Medien unter Verdacht

223

Abb. 2: Der Vorspann der 100 Wörter des Jahrhunderts als program matische Signatur

Die Off-Stimme rekurriert im Vorspann von Beitrag zu Beitrag unterschiedlich sowohl auf die Produktionsbedingungen der Reihe (Auswahl der Wörter, Kriterien der Aufnahme; Aussagen darüber, warum Kulturzeit die Aktion initiierte) als auch auf das Verhältnis von medialer Repräsentation und Wirklichkeit (Verweise darauf, dass es nicht um empirische Realität geht, sondern um den öffentlichen Diskurs über die Realität; Betonung der Subjektivität der jeweiligen Beiträge). In der von Beitrag zu Beitrag unveränderten visuellen Ausformung des Vorspanns werden korrespondierend selbstreflexive Elemente arrangiert: Der Bildhintergrund zeigt zunächst ineinander geschachtelte und projizierte Bildsequenzen. Es handelt sich vornehmlich um dokumentarisches Material aus dem Fernseharchiv (z.B. Stalin bei einer öffentlichen Kundgebung, ein Auftritt der Beatles, ein Atompilz, ein Boxkampf Muhammed Alis). Viele Wörter bewegen sich dabei vom Bildvordergrund auf den Bildhintergrund (Abb. 2, screen shot oben links). Die Wörter, zunächst in diffuser Bewegung auszumachen, ordnen sich allmählich zu einer Würfelstruktur, die kurz rotiert und dann zerspringt (Abb. 2, screen shot oben rechts) . Anstelle des Wörterwürfels tritt nun das Schriftzeichen „100 Wörter des Jahrhunderts". Dahinter ist eine Strichliste zu erkennen, die bis zu der Zahl 100 in Fünferbündelungen fortgesetzt wird. Den Bildhintergrund erzeugt nun ein Teppich aus Wörtern, die wie bei einer vertikalen Kamerafahrt von unten in das Bildfeld gelangen und am oberen Bildfeld-

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--·- ··- -------------·-

Almut Todorow, Sven Grampp, Bernd Schmid-Ruhe

rand verschwinden (Abb. 2, screen shot unten links). Das Schriftzeichen „lOO Wörter des Jahrhunderts" und die Strichliste lösen sich auf und aus dern Wörterteppich treten einzelne Titel-Wörter hervor und verschwinden wieder (Abb. 2, screen shot unten rechts). ' . Die Verzahnung der Wörter zu einem Würfel wird hier als selbstreflexi~e Markierung verstanden: Der Wörterwürfel visualisiert symbolisch die l(risd tallisation des 20. Jahrhunderts in einer repräsentativen Wortauswahl ~ -anordnung. Die ,Ordnung der Begriffe' ist dabei das strukturierende Pr~nd zip für die Bilder im Hintergrund. Mittels begrifflicher Organisation wir. somit heterogenes visuelles Material in eine Ordnung überführt und so~t das Jahrhundert ,auf den Begriff gebracht'. Konträr zu diesem repräsentativen Anspruch, wird die Subjektivität des Zugriffs ebenfalls im Vorspann visuell reflektiert. Erstens wird die Subjektivität suggeriert durch die D~rstellung einer Strichliste, die direkt nach der Sprengung des Wortwürfels l.llS Bildfeld rückt - eine solche Strichliste erweckt den Eindruck des bloßen Abhakens eines willkürlichen, nur anhand der Zahl der Jahre motiviert.en Selektionsprinzips. Zweitens wird durch das willkürliche Heraustreten einzelner Wörter aus dem diffusen und weitläufigen Wörterteppich dieser Eindruck verstärkt. Diese selbstreflexive Figur thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Geschichte repräsentativ darzustellen~ und dem konstitutiv subjektiven Zugriff. Vor allem wird dadurch delll F.e_ zipienten vermittelt, dass dieses prekäre Verhältnis markiert und also er kannt ist. Im Hintergrund erscheint, wie beschrieben, zu Beginn des Vorspa~~ dokumentarisches Bildmaterial aus dem Fernseharchiv. Über dieses Materia werden die Wörter gelegt, die im Folgenden den Ausgangspunkt fil~ de~ jeweiligen Einzelbeitrag bilden. Ein Bild kommt aus dem Bildschirmh111ter, grund und der Einzelbeitrag beginnt. Durch das Selektionsprinzip ,Wörter ergibt sich eine spezifische Selektion und Organisation des massenmedialefl Bildgedächtnisses. Es wird dabei auf den medialen Status des Rückblickes verwiesen, nicht auf vermeintlich außermediale historische Phänornen~· . . . h"ltniS Somit wird sowohl das eigene Darstellungsprinzip als auch das Ver a t medialer Repräsentation und (Geschichts-) Realität reflektiert. Der ~erdate~ dass das Fernsehen nicht primär empirisch gesicherte (außermediale) 76 schichtsfakten präsentiert, sondern vor allem' seine eigenen Bilder recycelt, · wird sowohl bestätigt als auch zugleich zur Glaubwürdigkeitssicherufl~ eingesetzt: Mittels des massenmedialen Bildgedächtnisses wird soziale Ged schichtsrealität (re-) konstruiert, kommunikativ anschlussfähig gehalten un

76

Siehe zum Phänomen Recycling als massenmediale Strategie die ausführliche AnalY,f~ . J . . IJer 1 m und K n't'k ean Baudrillard, Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, 1994, vor allem 9-22 und 115-121.

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1

Md· e ien unter Verdacht

225

als ein auf Wiederverwertung massenmedialer Elemente basierendes Konstrukt reflektiert. 77 Der Geschichtszugriff des ,Rückblicks' wird also im Vorspann im Ge:amten relativiert. Jedoch wird durch den selbstreflexiven, problembewussen Ausweis der Selektionen dem medialen Zugriff Glaubwürdigkeit V~rschafft. Die Formen selbstreflexiven Kommentierens funktionieren dabei Wre eine ,intermediale' Glossierung, die Schrift, Bild und Sprache ineinander Versch „ k k ran t. Vom Vorspann, vom Rand her wird die gesamte Sendung 0 B ~~entiert und gesteuert. Der Kommunikator bindet dabei die jeweiligen u ertrage in ein Netz von selbstreflexiven Verweisungszusammenhängen n_d Verleiht ihnen von dem am Rand konstruierten ethos aus Glaubwürdigkert.

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Selbstreflexivität am Rande



S re selbstreflexive Form der Glossierung hat von Graevenitz das topische eprechen "vom Rande her" eines ,,Ichs am Rande" 78 genannt, das sowohl arn~ kombinatorische Methode zur Findung von Argumenten darstellt als /c "Ordnungen des Verstehens"79 stiftet. Das Thematisieren des ,,Ichs", das dort spricht, stellt in diesem Sinne nicht nur seine Gemachtheit und die des Textes aus, sondern erschafft seine eigenen Sinnordnungen" 80. Was th:rch ~~s Sprechen vom Rande her, glossierend und zugleich sich selbst z matrsrerend, geleistet wird, ist das Erschaffen eines eigenen Sinnhoris~~es, das sich selbst nicht aus diesem Horizont herausdenkt und mit dier D~Wegung die Sprache des Machens in den Vordergrund rückt. nich re Sel?stthematisierung und der damit verbundene Selbstentwurf sind Di t an die Medien gebunden, die hier exemplarisch ausgewählt wurden. ,lLaufbilder< des Kinos aus der »Neuen Welt« des amerikanischen Kontinents genauso wie aus dem »Orient« und dem »Femen Osten« nach Europa gebracht. Unter den Bedingungen von Industrialisierung und ökonomischer wie machtstrategischer Expansion haben sie den Grundstein für die - visuelle - Wahrnehmung des Anderen gelegt, wie sie in ihren Grundzügen das kulturelle Selbstbildnis der europäischen Gesellschaften seit der frühen Neuzeit maßgeblich geprägt hat. Seit den großen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, dem Massentourismus im Zeitalter der immer schnelleren Flugmaschinen und nicht zuletzt der transnationalen Verbreitung der technischapparativen Massenmedien ist die Einbeziehung des Anderen in die Diskurse des Eigenen zu einem kulturellen Allgemeingut geworden. Sie appliziert sich inzwischen vor allem auf die Apparatur des Fernsehens und bildet ihre Dispositionen unter dessen medialen Bedingungen heraus. Die auf den Bildschirmen der Medienapparaturen an Gestalt gewinnende Imagination und sich in ihrer Visualität materialisierende Utopie des Anderen trägt auch in Zeiten einer offensichtlichen Verschiebung und Auflösung traditioneller geopolitischer und sprachlich-kultureller Referenzräume in den technischen Medien maßgeblich zur Konstitution des Eigenen in Form der Imagination von kultureller Differenz bei. Dazu hat das Fernsehen, das inzwischen in den meisten Gesellschaften die Funktion eines Leitmediums der interaktionsfreien industriellen Kommunikation eingenommen hat, mehr als jedes andere Medium zuvor einen entscheidenden Anteil geleistet. Es liefert Bilder über jede Epoche und aus jedem Winkel der Welt in die heimischen Wohnzimmer des europäischen und. weltweiten Publikums. Dabei vermittelt es in seiner spezifischen Wahrnehmungssituation als »Alltagsmedium« seiner Nutzer einerseits mehr als jedes andere Medium die Illusion der Aufhebung räumlicher und zeitlicher Differenz unter dem

228

Stefan Kranzer

Diktat einer -- Gemeinsamkeit bildenden - Massenkultur. Auf der anderen Seite haben die meisten Programmformate hinsichtlich des nationalen Wie auch ökonomischen Projektes, für die sie innerhalb der Gesellschaften, innerhalb derer sie produziert und gesendet werden, die Erzeugung Und Kommunikation von kultureller Differenz zu ihrer Strategie gemacht. Der Blick auf das Andere wird dabei quasi zur Stimulanz von Gemeinschaft für die an den jeweiligen Programmen partizipierenden Zuschauer. Das in der Medienkultur scheinbar medial bewirkte räumliche Zusammenrücken der Völker hat die in der medialen Festschreibung und Speicherung der Imagination des Anderen zum Tragen kommende Indifferenz in vielen Fällen gerade dadurch unterstützt, daß es die in der Wahrnehmung Von Fremdheit bewußt werdende Differenz in der massenmedialen Illusion ihrer universalistischen Bilderströme quasi aufgelöst hat. Dabei hat sich das Auge vom Blick getrennt, ohne sich dabei wirklich dem sich auf seine medialen Visualisierungen reduzierenden Fremden annähern zu können. Die Mediatisierung des Blicks auf das Fremde und dessen Abhängigkeit von den ökonomischen Bedingungen der transnationalen Kulturindustrie sowie von den ideologischen Intentionen von deren Akteuren hat vielfach zu einer Verfestigung der bereits vor Jahrhunderten von den ersten Missionarsreisenden aufgeworfenen Vorurteile und exotischen Projektionen geführt. Diese bedienen unter den Bedingungen des Zweite-Hand-Realismus der industriellen audiovisuellen Medienmaschinen vor allem die eigenen Mythen und verfolgen das Ziel der Stärkung ihres·jeweiligen eigenen kulturellen Projektes. Dabei agieren die Medienmaschinen des Fernsehens, die niemals die Realität der von ihnen präsentierten Ereignisse sondern immer nur deren materialisierte Wiederholung darzustellen in der Lage sind, nicht als das Ereignis selbst. Vielmehr lassen sie sich als Diskurse über das Ereignis begreifen, das sie selbst zu sein vorgeben. Exotische Blicke auf das kulturelle Andere tragen auch in der Gegenwart also nicht unerheblich dazu bei, die eigenen Identitäten durch die Konstruktion einer imaginären oder tatsächlichen Differenz immer wieder neu zu konstituieren. 1 So hat sich das kulturelle Selbstverständnis der meisten Gesellschaften auch in Zeiten von Globalisierung und transnationalen Bündnissen in Form einer medialen Differenzkonstruktion bis hin zu dem von Samuel Huntington für das 21. Jahrhundert prognostizierten „Kampf der Kulturen" 2 behaupten können. Die Imagination des Anderen hat ihre ursprüngliche Funktion auch in den transnationalen Medienapparaturen beibehalten. Sie besteht vor allem darin, das vermeintliche Eigene als solches wahrzunehmen und zu fixieren.

1

2

In dieser Hinsicht haben Edward Saids Anmerkungen zum Orientalismus und dem europäischen Blick auf das Fremde trotz ihrer unübersehbaren Mängel nach wie vor Gültigkeit. Edward Said: Orientalismus. Frankfurt a.M. 1985. Ders.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft 11nd Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a.M. 1994. Samuel Huntington: Kampf der Kult11ren. Die Neugestalt11ng der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München 1997.

Bilder des Anderen und der kulturelle Ort des Femsehens

229

Die Realität des Beobachtersubjektes wie des Beobachtungsobjektes innerhalb des zwar transnational angeordneten, dabei aber innerhalb lokaler Aneignungsräume agierenden Wahrnehmungsdispositivs Fernsehen verweigert sich einer fixen Standortbestimmung, über welche die Festschreibung einer Semantik des interkulturellen Dialogs möglich würde, durch ihre inhärente Hybridität und Dynamik. Das Andere wie das Eigene der sich hegemonial als solche begreifenden Kultursysteme sind folglich nicht in einem als Identität definierbaren Zustand der Bewegungslosigkeit oder dem Einfrieren eines Momentes ihrer Entwicklung zu suchen. Vielmehr definieren sie sich vor allem in der Dynamik des medialen Austauschs zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Sie manifestiert sich im Verständnis des Anderen, das sowohl innerhalb des eigenen Ichs wie auch innerhalb der in den Fernsehbildern betrachteten Kultur, nicht aber in der Betrachtung selbst real wird. Unter diesen Gesichtspunkten kann jede Betrachtung des Fremden immer nur innerhalb des jeweils neu zu definierenden - medialen Rahmens eigener kultureller und sozialer Prägung geschehen, aus deren Perspektive der Medienrezipient auf sein vermeintliches Anderes blickt. Dabei bleibt das Andere auch bei der Umkehrbetrachtung des Blicks des Fremden auf sein Anderes weiterhin in jedem Fall auch das exotische Andere des Betrachtenden, dessen Aufrechterhaltung ganz erheblich zum ökonomioschen Erfolgsprojekt des Fernsehens beiträgt. Das Kultur konstituierende Bewußtsein beinhaltet auch bei der Fernsehrezeption immer zugleich die Auseinandersetzung mit dem imaginären Anderen. Diese findet in Zeiten einer transnationalen Medienkultur vor allem medial, also in Form einer mittelbaren, medial materialisierten Erfahrung statt, für die das Fernsehen mehr als jedes andere Medium einsteht. Insofern ist eine Kultur, die sich selbst in Form der Eigen- wie auch der Fremddarstellung mediatisiert und in den Fernsehbildern medial an ein Publikum vermittelt, zwangsläufig zugleich auch interkulturell und ein Objekt wenn nicht gar erst ein Produkt der vergleichenden Analyse. Wie Dirk Baecker es aus systemtheoretischer Perspektive treffend formuliert, bestimmt dabei die Erfahrung des Fremden immer die Wahrnehmung des Eigenen, das aus der Abgrenzung zu seinem Anderen gewonnen wird. 3 In diesem Moment der Erfahrung, so Baecker, ist das Fremde demnach bereits zu einem inhärenten Teil des Eigenen geworden. Es hat sich in dessen innere Prozesse eingeschrieben und diese verändert. Das Fremde kann demnach nicht mehr wirklich fremd sein, und auch die fremden Medien der Repräsentation, beruhen sie auf schriftlichen, performativen oder apparativ auditiven bzw. audiovisuellen Systemen mit ihren jeweiligen kulturspezifischen Dispositiven, werden vom Moment ihrer Wahrnehmung und Nutzung an zwangsläufig zu einem angeeigneten Teil des Eigenen. Damit kann aber auch die Forderung nach der Wahrnehmung des Eigenen nicht länger aufrecht erhalten bleiben, da ja das Fremde, über welches 3

Dirk Baecker: Wozu K11It11r? Berlin 2000, S. 16f.

230

Stefan Kramer

sich das Eigene als solches definiert, im Sinne von Baeckers Modell nicht mehr fremd sondern zum Teil des Eigenen. geworden ist. Produkt und,J\n_ laß der kulturellen Selbstbestimmung verschieben sich in den Dispositiven realer wie virtueller, unmittelbarer wie medialer Wahrnehmung unauflöslich ineinander. 4 Die Prozesse der Kultur werden zu unentrinnbaren Teilen der Auseinandersetzung nicht mit dem als Kultur und - folgt man dem 5 Kulturverständnis Jacques Derridas - damit ursprünglich immer auch kolonialistisch auftretenden Fremden, sondern vor allem mit dem Eigenen. Denn dieses muß sich als nicht minder kolonialistisch präsentieren, um den Selbstanspruch auf Kultur aufrecht erhalten zu können. Eigenes und Fremdes verweigern sich somit tatsächlich in letzter Konsequenz jeder kulturellen Kolonisierung, wenn sie ihre Diskurse über das jeweilige Andere wiederum über das Fernsehen austragen und dabei in der Lage sind, alles Fremde auf die eine oder andere Weise anzueignen und in die Diskurse des Eigenen zu integrieren. In diesem Zusammenhang hat Michel Foucault 1966 in seinem Vortrag „Andere Räume" und in seinem Vorwort zur Ordnung der Dinge den Topos der Heterotopie, den „Anders-Ort", in die wissenschaftlichen Diskurse eingeführt und damit in gewissem Sinne auch die Grundlagen für eine differenzierte Wahrnehmung des transnational/lokal angeordneten Fernsehmodells geschaffen. Mit der Frage nach der Wahrnehmung des Anderen als Element des Eigenen, welche ja nicht nur die rrogramme, sondern vor allem auch die Apparatur des Fernsehens betrifft, ist Foucault über die Repräsentationsproblematik der philosophischen Hermeneutik hinausgegangen. Dabei hat er außerdem den in eine imaginäre Zukunft gerichteten Utopien des Denkens wie auch der Illusion einer Mimesis, einer systematischen Denkbarkeit und Reproduzierbarkeit von äußerer Realität, einen Spiegel vorgehalten. Er hat dem Denken des Eigenen, das bis dahin nur innerhalb des dichotomischen Modells zwischen dem wahrnehmbaren Sein und den unwirklichen, den virtuellen Räumen seiner utopischen Gegenentwürfe oder Perfektionierungen möglich war, einen anderen Ort des Denkens gegenübergestellt. Mit dessen Möglichkeit haben die Diskurse um Postkolonialismus und Postmodernismus seither auf die. eine oder andere Weise immer zu operieren. Insbesondere betrifft er aber auch die Debatten über die transnationale Medienkultur. Deren Dispositive, allen voran das globale Leitmedium Fernsehen, haben es vermocht, die Lücken des (Post-) Kolonialismus und die typographischen Einschreibungen von deren Vermitteltheit neu zu besetzen und damit quasi selbst jenen materiellen Ort der »Heteroto-

4

5

Vgl. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1976. Gilles Deleuze: ,,Was ist ein Dispositiv?", in Fram;ois Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a.M. 1999, S. 153 -162. Jacques Derrida: ,,Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs". In Anselm Haverkamp (Hrsg.): Die Sprache des Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt a.M. 1997, S. 15 - 41.

Bilder des Anderen und der kulturelle Ort des Fernsehens

231

pie« einzunehmen. Dabei bewegen sich ihre kulturellen Räume zwischen ihren globalen und universalistischen geopolitischen und ökonomischen Ordnungsstrukturen und den lokalen, partikularistischen Bedingungen ihrer Produktion und Wahrnehmung. Der Wahrnehmung des Fernsehens liegt längst nicht mehr der mediale Aufzeichnungs- und Speichercharakter zugrunde, welcher noch seine technischen Vorläufermedien, so etwa die Skriptographie, die Phonographie, die Photographie oder die Kinematographie, geprägt hatte. An ihrer Stelle hat sich das Fernsehen, welches in seinen Programmen jeweils einen unmittelbaren Realitätsbezug imaginiert, vor allem als Übertragungsmedium etabliert. Dies bedeutete nach der Einführung der ersten Generation industrieller Medien einen zweiten medienhistorischen Bruch mit erheblichen Auswirkungen auf die kulturellen Prozesse in aller Welt. Dabei hat es seinen - nach 6 Marshall McLuhan - ,,kalten" Charakter unter Beweis gestellt. Dieser äußert sich neben der Mimesis-Illusion auch in der Fokussierung der Zeitstrukturen auf eine immerwährende Gleichzeitigkeit der Bildschirmwahrnehmung. Ihr kommen etwa Nachrichten oder live, also mit dem repräsentierten Ereignis (nahezu) zeitgleich ausgestrahlte Programme entgegen, denen bislang noch kein anderes visuelles Medium eine Konkurrenz entgegenzustellen vermochte. Ergänzt wird die mediale Vorherrschaft des Fernsehens durch seine Fähigkeit zur unbegrenzten Wiederholbarkeit der von ihm präsenti~rten Ereignisse, welche ja zugleich in einer ständigen Gleichzeitigkeit der Bildschirmwahrnehmung aufgeht. Dabei werden die dargestellten Ereignisse nicht zuletzt durch ihre Mediatisierung und Wiederholung in den Programmen des Fernsehens zu Ereignissen der kollektiven Wahrnehmung. Allerdings produziert und kommuniziert das Fernsehen entgegen der zumeist hegemonial-nationalen Fixierungen seiner Institutionen nicht nur die Diskurse der Macht, sondern im selben Zuge auch immer diejenigen des Widerstandes. Beide lassen sich niemals in Richtung einer monosemischen Fixierung voneinander abkoppeln, wie es die jeweiligen Diskurse zu erreichen bemüht sind. Das Fernsehen konstituiert seine Wissenssysteme und Bedeutungsräume nämlich nicht in der bloßen Übertragung von Ereignissen, welche eine Monosemie und einseitige Manipulation der Wahrnehmung in Richtung eines »idealen Lesers« ermöglichen würde. Vielmehr entstehen Wissen und Bedeutung immer erst in deren medialer Aufbereitung sowie in ihrer Visualisierung und Narrativierung, welche zwangsläufig auch immer eine Diskursivierung und die Einbeziehung des Anderen in die Diskurse des Eigenen beinhalten, welche Foucault in seinem Modell der Heterotopie beschrieben hat. Dazu kommt die Aneignung der fremden Diskurse innerhalb symbolischer Räume und die ständige Neu- oder Rekonstruktion einer scheinbaren äußeren Realität in der sich wandelnden Gegenwart der Fernsehrezeption. Anders als beim »heißen«, in seinen 6

Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Düsseldorf 1968.

232

Stefan Kramer

Kommunikationsprozessen weitgehend in sich abgeschlossenen Kino 11"\it seinem strengen Werkcharakter und seinen tradierten Narration(>mustern sieht das Wahrnehmungsdispositiv des Image- und Programmediuins Fernsehen die Gegebenheit und Notwendigkeit einer Offenheit und starken Kontextualisierung der medialen Kommunikationsnetze vor. Die Prozesse der Fernsehkommunikation äußern sich in den zahlreichen intra- und intermedialen Verknüpfungen der Programme sowie in seinen wechselseitigen Bezügen zu gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen und nicht zuletzt auch zum Alltag seines Publikums. In dessen Wahrnehmung lösen sich die ehemals scharfen Grenzziehungen zwischen realen und medialen Sinneseindrücken auf den zahlreichen miteinander kommunizierenden Kontextualisierungsebenen des Fernsehens nahezu auf. Unter seinen apparativen medialen Bedingungen öffnet sich der dispositive Wahrnehmungsraum des Fernsehens unvermeidbar gegenüber den metagesellschaftlichen und -kulturellen wie zugleich inter- oder transmedialen Bezugsräumen, innerhalb derer sich das Medium zu verorten hat. Das schafft die Grundlage für das Eindringen multipler gesellschaftlicher Prozesse und hegemonial ideologischer Ordnungsvorgaben wie zugleich auch widerständiger Diskurse in den inhärenten Bedeutungsrahmen seiner Programme. Das Andere läßt sich dabei in Wirklichkeit kaum noch ausschließen und auf die Funktion einer Differenzstrategie des Eigenen reduzieren, wie. es die Mehrheit der - ökonomisch motivierten - Programmacher und die hegemonialen Diskurse beabsichtigen., innerhalb derer die meisten Programme produziert werden. Zudem entsteht, wie dies ja bereits McLuhan konstatiert, ein hoher Kontextualisierungsgrad der unterschiedlichen Programme untereinander. Diese lösen sich in Richtung einer Intramedialität ihrer Formate auf und vermögen sich dadurch gegenüber den nach außen weitgehend abgeschlossenen Wahrnehmungsräumen des Kinodispositivs abzugrenzen. Wie von Stuart Hall in seinem zirkulär strukturierten Kommunikationsmodell dargelegt, verweist das Fernsehen immer auf die Metastrukturen der Gesellschaft und ihrer hegemonialen und/ oder widerständi7 gen Bedeutungssysteme. Es geht eine lebendige Wechselwirkung mit den Wahrnehmungsprozessen seiner Rezipienten ein. Dabei kommt es neben seinen transnational-hegemonialen Einschreibungen in jedem seiner nationalen oder lokalen kulturellen Aneignungsräume mehr als bei den linear und zielgerichtet angeordneten typographischen Medien oder dem Kino immer auch den jeweiligen angestammten kulturellen Wahrnehmungsmustern entgegen. Es vermag diese genauso für seinen Erfolg nutzbar zu machen, wie es dadurch auf der anderen Seite selbst zu einem - Bedeutungen generierenden - Rahmen für die Ordnungsstrukturen und Wissens- wie Bedeutungssysteme der jeweiligen Kultur seiner Wahrnehmung wird.

7

Stuart Hall: >Encoding/Decoding on> under>beside> back1 > fronti > Age 2 ------------------------------------------------------->

PROJECTIVE back2 > fronti Age 4 ---------------->

Frames of Spatial Reference

291

Piaget's 1928 data:

x is leftz of y for other' s lefti / right1 own lefti/righti ego Age --------> 6 -----------------------> 8 ----------------------------> Age 11/12 Because of this correspondence between acquisition order and the predicted Piagetian order, it is generally held that tlze order of language acquisition is driven by conceptual development. In other words, the presumption is that language does not facilitate or influence the course of conceptual development, but is dependent on it.;

"He's downhill (north) of the house."

,

1,



_,. @ ,

.~

G

F

G

Figure 1: The geometry of Absolute coordinates

However, some recent developments challenge this story. One is the discovery of Absolute languages, where primary or sole emphasis is put on fixedbearing systems for spatial reference. How are these to be placed in the Piagetian scheme? In fact, the inclusion is simple enough. These systems employ fixed angles ('north', 'downhill', etc.) and, as Piaget & Inhelder 1967 (p. 30) declare: "it is the analysis of the angle which marks the transition from

Penelope Brown and Steplzen C. Levinson

292

topological relationships to Euclidean ones". 6 The interesting thiqg about the angles employed is that they are (in the adult language) entirely abstract concepts: 'north' or 'downhill' defines a conceptual slope across the environment, or, if you like, a conceptually infinite series of north-pointing parallel arrows across the landscape, as illustrated in Figure 1. These are thus indubitably Euclidean notions, which do not rely on a physical slope; they are used to establish spatial relationships even on completely flat terrain, even in the dark and at night. To fit the Piagetian conceptual development sequence, the acquisition of these Absolute concepts would need to come after the development of topological ones, and should be enabled by prior projective relations. But as we shall see, the Tzeltal language acquisition data do not fit this prediction. A second basis for doubting the presumption that conceptual development is always prior to and independent of linguistic development is comes from the work of Bowerman. This work shows that, in some respects, conceptual development is led by the linguistic nose, rather than vice versa (Bowerman 1996, this volume; Bowerman & Choi in press, Choi & Bowerman 1991). For example, already at 18 months infants can be shown to have internalized language-specific spatial categories. In addition, there are also reasons to think that some spatial concepts are intrinsically linguistic: for example, 'south' is not given by any individual's independent act of cognition, and even if it were, it would hav~ no necessary collective (communicative) utility. In this respect N 180 degrees is just as culturally arbitrary as feet and inches or other systems of metric distinction. These kinds of spatial notions, then, are the sort of concepts which may be learned first through language, and only later come to play a language-independent role in mental life. They are thus good candidates for where language might promote conceptual development of a sort and at an age unlikely in cultures where the language provides no such concepts in everyday child-relevant contexts. These developments re-invigorate the old debate between the two titans of developmental psychology, Piaget and Vygotsky. Whereas Piaget held that it is action and non-linguistic experience that spurs conceptual development (Ginsburg & Opper 1969:171), yygotsky held that the internalization of linguistic categories can play a central role in conceptual development (Vygotsky 1986, Wertsch 1985). Schematically:

The two hypotfzeses: A. Conceptual development drives linguistic development (PIAGET): evidence: e.g., order of acquisition of Indo-European prepositions matches Piagetian order: topological > projective

6

See also Piaget, Inhelder, B., & Szeminska, A. (1981) for Piaget's later views on Euclidean thinking.

Frames of Spatial Reference

293

Language can also drive conceptual development (VYGOTSKY): evidence: (i) language-specific concepts are encoded very early (Bowerman 1996, Choi and Bowerman 1991, Bowerman and Choi, in press) (ii) Euclidean spatial descriptions emerge at the same time as, or even prior to, topological ones, in Absolute communities (possible development described in this paper) lt is obvious that any investigation of the relation between language and thinking ought to tap linguistic and non-linguistic data independently. This is precisely what we have tried to do in our large-scale cross-cultural project. But if one is interested in the early stages of language acquisition this is often impractical: trying to get pre- or almost pre-linguistic infants to perform on a conceptual (as opposed to a perceptual) task is difficult, especially in cultures where child-rearing practices inhibit exploration and manipulation of the environment. Nevertheless, by studying the first two years of language acquisition, much can be learnt about the child's cognitive development, providing one subscribes to the following assumption, which we believe needs no justification: B.

Semantic distinctions presuppose cognitive distinctions



If the semantics of linguistic expression L presupposes a conceptual distinction D, then evidence that a child/ adult uses L correctly is prima fade evidence that the child/ adult is employing D. When a large set of related terms in different grammatical categories is correctly used by a child, we can be reasonably certain that the relevant conceptual distinctions are being employed. Note, however, that a few cautions must be observed: (a) the rote-learning problem: Since correct usage could be based on mernorized collocations, the child should be observed using novel combinations. (b) the sub-domain problem: Since the correct usage in one context alone might be based on rote-learning or some partially correct understanding, the child should be observed using L across a wide range of applications, in different contexts, and with syntactic variations. (c) the 'absence' problem: Absence of the use of L does not allow us to infer absence of the distinction D. For that, one needs direct evidence that the child cannot reason using D. (d) the problem of usage vs. meaning: lt is in principle possible to exhibit apparently correct usage based. on incorrect analysis of rneaning. However, to Jhe extent that adults themselves converge on identical meanings, they do so through extended use in all dornains and contexts. Therefore child

Penelope Brown and Stephen C. Levinson

294

language should ideally be rnonitored acroil:, all relevant contexts. We will return to these caveats when discussing the significance of our results below. We now turn to a study of the first years of spatial language acquisition in the Mayan cornrnunity of Tenejapa, in southern Mexico (see Figure 2.). In this cornmunity, the Absolute frarne of spatial reference is the single, rnajor adult coordinate systern for spatial description except where objects are touching or in close proxirnity, in which case an Intrinsic systern is used.

N

1 Figure 2: The geographical setting of Tenejapan Tzeltal

3.0 Tenejapan Tzeltal: Adult spatial language and cognition Let us first describe the relevant properties of the linguistic systerns used in each of the two available coordinate systerns. We will use the terrn 'Ground'

J

Frames of Spatial Reference

295

to refer to the landrnark object with respect to which the location of the 'Figure' (the object tobe located) is described (Talrny 1983). 3.1 The Intrinsic systern (topological, object-centered). Where two objects are contiguous, the exact relation of one of thern (the Figure) to the other (the Ground) can be specified by using the narne of a part of the Ground, so that .one says, in effect, things like 'The axe is at the mouth of the hause'. Tzeltal provides a rich set of part narnes, based on human and anirnal prototypes, which can partition any physical object (see Levinson 1994, Brown 1994). These part narnes are used in the possessive (as in 'the mouth of the house'), and are thus grarnrnatically sirnilar to the relational nouns involved in the Absolute systern described below. Sorne exarnples are given in Figure 1. kotol ta sjol karo te tz' i'e. "The dog is standing at tlze 'head' of tlze car." (i.e.,

directly in front of it, at its front) waxal ta xchikin mexa te limete. "The bottle is standing at the 'ear' (i.e., corner) of the table." ta yakan xalten ay, te use. "The fly is at the 'leg' (i.e., handle) of the frying pan." ta yutil bojch, te mantzanae "The apple is at the 'inside' of the gourd." The vocabulary of the Intrinsic systern is in sorne respects quite sirnilar to English spatial prepositions like 'in', 'on', 'under', which, as we have seen, are among the first spatial words to be learned by English children. The Tzeltal terrns are restricted to situations where objects are directly adjacent; for objects that are further apart, the Absolute systern cornes into play. 3.2 The Absolute systern (Euclidean/projective, geographically-centered) There is no Relative 'left' /'right' /'front' /'back' systern in Tenejapan Tzeltal. Instead there is an Absolute 'uphill' /'downhill' systern based ultirnately on the overall general slope of the territory of Tenejapa (downward frorn high South to low North). This has however been abstracted to yield an abstract cardinal direction axis analogous to 'south/north' although systernatically skewed frorn our cartographic axis (as indicated in Figure 2). Together with an orthogonal axis, labelled 'across' at both ends, this provides a systern of cardinal directions (see Figure 3). These directions are used to specify locations of both the srnall-scale (e.g., things on a table-top) and the large-scale, and is not restricted to outside space. The cardinal direction systern is independent of the actual slope of the terrain, being usable on the flat, and even outside the territory altogether. The systern is expressed both in nouns and in verbs of rnotion (e.g. 'ascend' can rnean in effect 'go south'). Because there

296

Penelope Brown and Stephen C. Levinson

is no Relative system (with notions like 'in front of', 'to the left of', etc.), and because the Intrinsic body-part system described above can only be used when objects are contiguous, the Absolute system plays a crucial role in linguistic descriptions of location. Thus in Tzeltal one describes spatial relationships as in the following examples:

s

N

/

'.'The, bottle is uphill of the chair." Figure 3: The Tzeltal absolute system

waxal ta yajk'ol bojch te limete. "The bottle is standing 'uphillwards' [i.e., southwards1of the bowl." clzotol ta yanil amak' te tz'anzalte'e.

Frames of Spatial Reference

297

"The bench is 'beneath' the patio." (downhillwards/north of) ya xnw ta jobel te winike. 'The man is 'ascending' to San Cristobal." ya xwil koel mut. "The bird is flying in a descending direction." (either downhillwards, or straight down) jelaw ta colonia. "He 'crossed' to Colonia." (i.e., went across (orthogonal to) the S-N slope of the land) tzakben tal machit tey xikil ta yajk'ol ti'nel. "Bring me the machete standing 'above' (uphillwards of) the door." ta alan otzesa. "Put it (a puzzle piece) in downhillwards (in the downhillwards hole)."

There is a dedicated spatial vocabulary for this purpose, consisting of (i) intransitive verb roots ('ascend' /'descend'), (ii) their transitivized counterparts ("cause it to ascend/ descend"), (iii) directional adverbs ('ascending' /'descending') and (iv) nouns, which may be unpossessed and hence only implicitly relational ('uphill' /'downhill') or explicitly relational possessed nouns ('its above-or-uphill-side' /'its underneath-or-downhill-side'). This vocabulary is given in Table 1. . 1vocabularv f or th e T zeta 1 1 Ab so ute svstem Ta bl e 1: D e d"1cate d spaha MOTION Verb Directional UP

mo 'ascend'

moel 'ascending'

STASIS Relational Noun: unpossessed ajk'ol, or kajal 'uphill'

DOWN

ko 'descend'

koel 'descending'

alan 'downhill'

ACROSS

jelaw 'cross'

jelawel 'acrossways'

jejch 'side'

Relational Noun: possessed y-ajk'ol 'its-above-side' s-ba 'its top or uphill side' y-anil 'its underneath or downhill side' v-e'tal 'its downhill side' s-tz'e'el 'it's side'

There are systematic ambiguities in the usage of the whole set of these words. First, the vertical axis 'up/down' vertically) is conflated with the Absolute system of spatial reference for calculating angles on the horizontal ('up / down' in relation to the South/North slope of the land). So when people say the Tzeltal equivalent of "ascend" or "descend", they can mean either vertically or along a coordinate abstracted from the lay of the land. Secondly, there is yet another ambiguity between the local actual gradient as opposed to the global Absolute (South-North) slope, since, if the local slope deviates from the Absolute slope, it may be used as an additional coordinate for describing local spatial relationships. Thus an utterance glossing 'lt is uphill from the house' might mean either 'lt is south of the house' (cardinal direction sense) or 'lt is up the local slope from the hotise' (local geographic sense). This is a vocabulary that is therefore not only semantically complex, but has a range of alternate complex interpretations, which are disambigu-

-~--

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Penelope Brown and Stephen C. Levinson

ated by pragmatic principles (see Brown & Levinson 1993a for details). In short, nothing makes this easy for children to learn. In Piagetian terms, spatial relations describable with the Tzeltal Intrinsic system, (where an object is spatially related to the named body parts or regions of a reference object), are essentially topological. A two-place relation is at issue: a Figure is said tobe AT some named part or region of a Ground object. The Absolute system, in contrast, is Euclidean: the location of objects is described in a coordinate system independent of the scene described, and indeed independent of the perspective of the observer. Since precise directions and angles are involved in using the coordinate system, and the systern is independent of the objects related, it constitutes an abstract spatial framework at least Euclidean in character, if not Newtonian! At least a ternary relation is involved: 'A is uphill from B' involves A, B and the direction c 'uphill'. On first principles, and judging by studies of western children, we would expect the Tzeltal Intrinsic system to be conceptually easier, and therefore earlier learned, than the Absolute 'uphill/downhill' system. We might also expect this on the grounds that Intrinsic systems seern to be found in nearly all languages, and might thus be held to be based on universally available concepts. The very general hypothesis - that language encoding cognitively simpler concepts (like topological spatial concepts) is learned earlier by children than that encoding rnore complex concepts (like projective spatial concepts) is generally well-grounded. Moreover in the dornain of spatial language it is very robustly supported by evidence frorn the acquisition of European spatial adpositions: as shown in and above, children learn topological prepositions ('in', 'on') before Intrinsic 'in front/behind', and they learn those before Projective 'in front/behind', and well before 'left/right'. As mentioned, this has long been taken as support of the position that conceptual development drives language development. Yet these studies did not consider languages with Absolute systems. These would be expected to develop late, since they have cognitive properties that are considered to be difficult: they are (at least potentially) decentered, making no reference to ego's point of view, and (at least in full-blown adult form) they require an oriented mental map. The first acq1:1isition study of an Absolute system (to our knowledge) was conducted by de Le6n (1994), working in another Mayan language, Tzotzil, spoken in a neighboring cornmunity, and very similar linguistically to Tzeltal. She found evidence of remarkably ·early competence of children in the Absolute system: in a crosssectional study she found competent child use by about age four in production and comprehension placement tasks on a tabletop, (although full adultlike performance is much later), and concluded that Absolute and Intrinsic come in together, at about the same age, around age four. In this Tzeltal study we build on her work, but we are interested in the very earliest appearance of the Absolute system, the form it takes, how it develops, and how it relates to the acquisition of the Intrinsic system.

//

Frames of Spatial Reference

299

4.0 The child data 4.1 The data The data reported on here is drawn from an on-going longitudinal study of five children in monolingual Tzeltal families, covering the ages of 1;6 to about 4;6 with 4-to-6-weekly samples, plus any older siblings or cousins that happened tobe present during recordings. (The data covers a total of more than twenty children under 10 years old). The database consists of over 600 hours of tape-recorded and/ or video-taped, natural interaction, mostly in the children' s own homes, interacting with caregivers and siblings and/ or cousins. This is supplemented by elicited production and 'space game' tasks with older children. The data was transcribed by native speakers in the field, and is still in the process of being checked, computerized and coded by P. Brown. 4.2 Questions: children's production age 2-4 The questions tobe addressed here by looking at Tzeltal children's language development are the following: Ql. Does the Intrinsic system appear earlier than Absolute one in children's language production? (Recollect that Tzeltal has both.) Q2. Within the Absolute system, is the vertical sense (being more 'natural') learned earlier than the horizontal sense? Q3. In the horizontal Absolute uses, is the local-slope sense learned earlier than the abstract cardinal-direction sense, since it is more concrete and visible? Q4. Are Absolute systems so complex and 'unnatural' that children learn them later than the corresponding Relative (left/right/front/back) systems are learned in communities that use Relative coordinates? We take these questions in turn:

Question 1: Is Intrinsic learned before Absolute? Insofar as we can infer from production data alone, the answer is no. Children's production of Intrinsic vocabulary in locative expressions is either simultaneous with, or actually later than, Absolute vocabulary. The evidence from longitudinal data of three children7 is summarized in Table 2, which presents the Absolute vocabulary, with columns for each major grammatical category in which it is encoded. As Table 2 shows, Absolute vocabulary first appears in children's speech around the age of 2;0, in some cases when the child is still in the one- or two-word stage. It is fully productive (in contrast 7

Tue two other focal children are omitted here as their data is not yet processed sufficiently to analyze. Their performance in terms of Absolute and Intrinsic vocabulary, however, is consistent with that of these three focal children, as is that of several other children present in the data collected. See Brown, in press, for details.

Penelope Brown and Stephen C. Levins011

300

sets, in different contexts, in different grammatical constructions, in both possessed and unpossessed forms, etc.) by at least age 3;7. Table 2: Summary of production ages 2-4 for Absolute vocabulary

First appearance of terms: x Productive use, m con t rast se t s, w1"th no errors : vv

n= 3

verbs ('ascend descend')

directionals ('ascending' 'descending')

unpossessed Nouns ('.uphill' 'downhill')

2;0-2;5

X

X

X

2;6-3;0

yy

yy

yy

Age

possessed Nouns ('its-uphill', 'itsdownhill', 'above it', 'below it' (ABS)

3;0-3;6

X

3;7-4;0

yy

-

I

1

'

-

4;1-4;6

Intrinsic vocabulary, m locahve uses (1.e., not JUSt as names of ammate body parts), appears somewhat later in this natural production data, as shown in Table 3: the nouns meaning things like 'top', 'back', 'middle', 'inside' in either unpossessed or (explicitly relational) possessed form are extremely rare until age 3;6, and possessed body parts used as locatives are virtually non-existent in the data even by age 4. On the basis of this production data, then, Absolute vocabulary appears to come into use prior to the Intrinsic terms. Table 3: Summary of production ages 2-4 for Intrinsic vocabulary Age

unpossessed Nouns ('middle', 'top', 'back', etc.)

possessed Relational Nouns ('its-middle', 'its-inside', 'its-top', 'its-undemeath' INT)

X

X

n::::3

possessed Body Parts ('its-head'/ 'its-foot'/ itsbelly/ 'its-nose'/', 'its-ear, etc.)

2;0-2;5 2;6-3;0 3;0-3;6 3;7-4;0 4;1-4;6

yy

yy

X??

We consider the Tzeltal ded1cated Intrmsic system to consist of possessed bodyparts and in addition certain relational nouns (indicating, e.g., 'underneath', 'on top') used as locatives. As can be seen from Table 3, this whole vocabulary comes in relatively late. However, topological place relations can also be expressed using the single Tzeltal preposition with little inherent meaning: such expressions of the form "AT trail", or "AT town" for example, without any further spatial discriminations, do appear much earlier, at the two-word stage (around the age of 2;0). But the Intrinsic system of body-

Frames of Spatial Reference

301

parts and topological relational nouns ('inside', 'outside', 'topside', 'middle', etc.) is used productively very late. There are no examples of possessed bodyparts used as locatives - the Tzeltal dedicated Intrinsic system - in the three children's speech in the data examined to date (sampling ages 1;6-4;0).8 Children under 4 do not seem to use these productively as locatives, although they probably understand adult locative uses of them. Although these nouns constitute the main Intrinsic vocabulary, there are other, more indirect ways of expressing topological r-oncepts, e.g. through verbs of 'putting in' or 'taking out'. These do appear in children's speech earlier than the Intrinsic nouns, some even earlier than the corresponding Absolute verbs of 'ascending', 'descending' and 'crossing'. The motion verbs 'enter' and 'exit' might also be held to encode topological notions of containment, and they also appear at about the same time as 'ascend' /'descend' (around age 2;0), at around the two-word stage. (These verbal notions also appear in gerundive directional adverbs at about the same age). There is therefore evidence from language production of early understanding of some topological notions, especially those of containment. On the basis of this linguistic evidence, we can see that Tzeltal children of two do indeed talk about some topological relationships using the single preposition to express location at a place, and verbs to indicate motion in and out of containers. We can therefore infer that they have the corresponding topological concepts, as would be expected on Pi 9getian grounds. But the children do not seem to use these concepts as the basis for an early acquisition of the more detailed Tzeltal Intrinsic body-part system, which requires both an analysis of the shape of objects (e.g., an 'arm' is a rigid protrusion), and the use of the parts isolated on the basis of shape to speak about the location of other objects close to those parts. There is evidence that children have mastered many of the basic bodypart words for humans and animals between the ages of 2;0 and 2;6, suggesting that there is nothing inherently complex in the phonology or constructions. Nevertheless, they do not use the same lexemes as intrinsic spatial relators till much later. Let us return to the early use of the Absolute vocabulary, as shown in Table 2. Of course we need to know just how children of 2-3;6 are using their Absolute vocabulary. Is it really being used in the abstract, cardinal direction sense which would entail a Euclidean level of conceptual development? To assess this we must place their usage within the physical and geographical context in which it occurs, which is initially the children's own house compound (consisting minimally of two small houses). Even when the layout of a household compound is relatively flat, children from about age 2;0 use Absolute vocabulary to talk about spatial relations within this local house8

This is with the exception of a few frozen unpossessed forms which are compound nouns and not productive combinations; for example ti'nel "door [lit: mouth-house]", patna "back (of) hause"). In such cases, saying that something is "at the ti'nel" is equivalent to saying it is "at the door", not that it is "at the mouth/ edge of the door."

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Penelope Brown and Stephen C. Levinson

hold space: they use Absolutemotion verbs ('ascend' /'descend') to describe movement between the houses, Absolute directionals ('ascencting' /'descending') to convey the direction of motions and the orientation of positions vis a vis the Absolute axis, and relational nouns ('uphill' / 'downhill') to talk about the spatial relations of objects within this local arena. Thus when playing with toys they might say 'push the truck uphill here; it's ascending' etc., either in the cardinal direction sense, or in the sense of up the local slope. They also use Absolute vocabulary for more distant spatial relations: e.g., someone who has gone south to the school may be said to have gone "uphill", or when coming back may be said tobe "descending". Now, there is of course a progression in understandü1g the system. Frorn production data, one can see that although the terms appear tobe used with . correct reference from the beginning, children may have some simplified understanding of the meaning. On the basis of limited productivity, one may guess that children's first usage of the 'uphill/downhill' nouns is perhaps much like the use of place names; it is non-projective and nonrelational, in the kind of examples illustrated in 9.Verbs of motion encoding correct cardinal directions also occur, as in , but early uses may be constructed by emulated collocation with named places rather than by active construal of the direction:

From age 2;0-2;6: Possibly nonprojective, nonrelational uses of "uphill/downhill" nouns: "Mrs. (at) uphill." [i.e., the uphill-living Mrs. is the one I mean] "I come (to) across, i.e. I traverse." [orthogonal to the uphill/downhill axis] "He's gone (to) downhill." [down to place where their cornfields are] "Antun (at) downhill." [response to "Who hit Father's foot?"] "He's gone (to) house (of) father downhill." [response to "Where's your namesake?"] Age 2-2;5: Early use of absolute 'ascend/descend' verbs:

''I'm ascending/ descending." [e.g., to the other house - either actually up/down the slope of the land, or on the flat but in the direction of the S/N overall slope of land] "lt descended towards here." [toy car down hillside] ''I'II ascend too." [to other house, steeply ;uphill'] "Nik is ascending away". [to his house] We can only be sure that children have the abstract ternary conceptual relation in mind (e.g., Ais in the uphill relation to B) when the ground object (B) 9

The examples here are from naturally-occurring language production of the children. For reasons of space only thc English glosscs are given; sce Brown, in press, for many full Tzeltal examples.

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is explicitly mentioned. Certainly by age 3;6, some examples of explicitly relational Absolute uses are found in the children's data, showing that they are now able to use Absolute coordinates to project angles in order to calculate novel spatial relationships of moveable objects in relation to fixed landmarks or reference objects, as illustrated below in English gloss:

By age 3;6: Explicitly relational uses of Absolute nominals "There it (the ball) is downhill of the mandarin treE( "To 'its uphill' (uphill side of house) here we come again." "We went for injections to uphill-of Alvina's house" "lt was found below (downhill of) the water tap" "He lives downhillwards of the school" The complexity of the Tzeltal constructions can be best seen from the following examples:

(3;6) ya ka'y xan tza'nel jo'tik Zum a ine ta yanil retrina. "We're going again for a shit over below ("downhillwards of") the latrine."

(3;11) Zum ay ta yanil mantarinae. "It's below (lit: at-its-downhill) the mandarin tree." To return to our initial question, the answer is clear: on the basis of children's linguistic production, the Absolute system appears tobe produced in its entirety and productive (at least in a limited way) well prior to the full appearance of the body-part Intrinsic system. We turn now to our second question: Question 2. Within the Absolute usages, are vertical uses earlier than horizontal

uses? The essential answer is no, except for one child. In general, the vertical senses of these 'up/down' words do not seem to necessarily precede the local-slope senses; they appear together (Brown, in press). This is of course contrary !O what one might expect on the grounds that the vertical is universally perceptually given and presumably universally encoded in languages (Clark 1973), while the uphill/downhill distinction is culturally-specific. But in the sample all the children use the 'uphill/ downhill' nouns initially in their land slope sense only, even though they sometimes hear adults use them in their vertical sense; in addition some children use the verbs mo/ko 'ascend' /'descend' in the Absolute horizontal senses as early as they use them in the vertical sense (as in 'climb a tree'). A clear case of such Absolute usage ('ascend' on flat ground) is the following:

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Ant is 3;5, Lus is 2;0: [they are playing with a toy car on fiat ground outside house] Ant; bajt jobel ja' ini, bajt jobel. gone San Cristobal it is this, gone San Cristobal. "It's gone to S.C., it's gone to S.C." [toy car] Lus; moem bel ascend-STAT goDIR , "lt has ascended awaywards" [re car mentioned as going to sfc, to the south] / While utterances like Lus's in are relatively rare at this early age, and are certainly outnumbered by utterances using vertical senses for "ascend/ descend" verbs, the children already display by around age two the ability to use them in either sense. Question 3. In the lwrizontal Absolute uses, is the local-slope usage earlier than tlze cardinal direction usage? Here the answer is clearly yes, as one would expect on the grounds that the perceptual support of a local, visible slope with its experiential implications for motor exertion would facilitate the acquisition of the local-slope meanings (e.g., 'up this incline'). These land-slope meanings of the 'up' /'down' vocabulary are at first restricted to a relatively small set of contexts, as de Le6n (1994) found in her Tzotzil data as well. In the Tenejapan village under study, the relationship between local-slope and the cardinal directions (North-South) varies across households, as does the arrangernent of houses and relevant other places. Households normally consist of at least two houses, one for sleeping in, one for cooking and eating in. In some households these houses are uphill/downhill from each other, in others they lie 'acrossways' from another. Where the local-slope deviates markedly from the North/South axis, the language allows utilization of 'uphill/ downhill' terms to describe the local slope In the households where this is the case both adults and small children use the local-slope for describing the angle of events occurring on the flat patio area between houses. Children are thus not yet forced into the abstract cardinal direction use of the Absolute system, because another usage with more perceptual support is available. To summarize: Tzeltal children start using the Absolute vocabulary with both land slope senses and vertical senses at the two-word stage, from about age 2;0. Initially these terms are used 'non-relationally', i.e. without explicitly specifying the Ground in relation to which something is up- or downhill. By at least age 3;0 they have mastered the semantic contrasts for the entire set of Absolute terms, and the syntax of possessed nouns is mastered by at least 3;7 (this syntax is equally relevant for both Absolute and Intrinsic nominals). They are using the vocabulary in an explicitly relational way by this time, specifying the Grounds where relevant, and sometimes in novel contexts (saying things like "Fis uphillwards of G" for novel F's and G's). At this point in contrast they do not yet seem to be using the Intrinsic system

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productively (although, as rnentioned, they know the narnes for anirnate body parts and probably understand at least sorne of the Intrinsic usage of adults around thern). Now three irnportant points rnust be stressed: 1. As rnentioned above, the vertical senses of these 'up / down' words don't seern to necessarily precede the local-slope senses; they appear together. Thus the universally-relevant vertical axis does not seern to give the child a significant lead or 'way in' to the rneaning of these terrns. 1 2. The frequency of use in the input language, at least on initial exarnination, doesn't seern to explain the priority of Absolute over Intrinsic frarnes of reference. 10 3. Grammatical complexity cannot explain the priority of Absolute terrns over Intrinsic terrns , since they occur in the sarne grarnrnatical constructions. For exarnple, both involve the sarne possessive construction type, as illustrated in :

Explicitly relational Absolute and lntrinsic possessed nouns: ABSOLUTE ta y-ajk'ol na PREP 3E-uphill house "at its-uphill house" [i.e., uphillwards of the house] INTRINSIC ta s-xujk na PREP 3E-side house "at its-side house" [i.e., beside the house] ta y-util na PREP 3E-inside house [i.e., inside the house] "at its-inside house" In the possessed noun construction, Absolute nouns ('its-uphill/ downhill') are productively used by children at least as early as Intrinsic ones. However, there are of course severe lirnitations to natural production data: we often cannot know just frorn the speech children produce how productive these vocabulary iterns are, since in rnany cases their linguistic production could in principle be based sirnply on rnernorized collocations between Absolute expressions and particular locations or landrnarks, despite a good range of contexts and narned locations.11 If such child usage is based on rote collocation, it would of course fail to index any of the abstract con10

11

Both are relatively infrequent, at least in comparison with Indo-European spatial language encoded in prepositions (three examples of each appeared in a sample of 368 utterances, in 1.25 hours of natural interaction with a two-year-old). There are of course difficulties in comparing the frequencies of two sets of vocabulary; this is a proble~ which needs tobe further explored. . While children by 3;6 can use this system to spatially relate objects and events to places and people familiar to them, this might amount (as a guess) to 20 or 30 places; just when this extends to any place is still unclear.

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ceptual grasp of a spatial framework independent of objects and perceptua1 viewpoints which are the conceptual fundamentals of a real Absolute sy 5 _ tem. We need therefore controlled evidence of use in completely ~ situations, to which we now turn. 4.3 Child data: age 4-12 Farm Animal games

For this reason a number of 'referential communication tasks' designed as interactional 'space game5' were carried out with children down to the age of 4;0 (which is about the lirnit of the method). The 'Farm Anima! task' requires one player, the Director, to describe a spatial layout to another, the Matcher, who - despite being visually screened from the Director's scene _ has to recrea te the array with a matching set of toys (see Figure 4 for an example of the stimuli). This is one of many kinds of naturalistic experiment devised by members of the Space Project at the Max Planck Institute; 12 in this case, it is a verbal game played between two native speakers, designed to prompt spatial descriptions. Adu lts describe the scenes depicted by saying things Jike: "place the cow uphillwards of the tree", "pull the horse downhillwards", etc. We found that some children are able to take the Matcher role, to understand and follow the instructions utilizing 'uphill' /'downhil!' spatial relators in these novel, table-top tasks, from as young as age four, albeit with a lot of repetition by the Director. These children are already at 4;0 using the abstract, cardinal-direction sense of the ·Absolute terms. 13 For production in the same novel tasks - operating as the Director - we find adultlike usage ("put the cow uphillward s of the horse, facing acrossways", for example) in general by age 7;8. (So far there is one precocious child who can do this at the age of 5;8, and four others between 6;5 and 7;8). By the time children can perform the Director role in this game their uphill/ downhill usage is fluent, accurate, and productive, and (for at least some) can be used indoors as well as outdoors. There is no doubt that for this novel task, setting up toys in arrangements they have never seen before, the children must be using their Absolute system as an abstract set of coordinates which can be applied to novel assemblages, to generate the correct application of linguistic labels. That they use the full cardinal-direction abstraction of the system underlines the precocity of this behaviour from a Piagetian point of view. There may of course be various ways in which these children still do not have adult mastery of the Absolute system. lt may still be the case, for example, that children have not learned the pragmatic priorities that effectively disambiguate the various possible senses (cardinal-direction, localslope, vertical) of the terms. We can expect them tobe less good at the 'deadreckoning' that allows adults to use such a system in the dark, in an 12

13

See Space Stimuli Kit 1.2, 1993, produced by the Cogni tive Anthropology Research Gro up at the Max Planck Institute for Psycholinguistics, Nijmegen. The Farm Anima! games of five children age 4-5 have been analyzed so far.

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unknown town, inside an unfamiliar building. Nor at this stage do we know how much individual variability there is in children's usages, perhaps determined in part by the ecologies of their households and visiting relations with other households. 14 Answers to these questions are being pursued in ongoing research.

l

Figure 4: Farm animal game stimulus

Thus, although most children of eight appear to have mastered the system completely, it may be that their understanding of it is less than fully adult. Nonetheless, we can be confident at this point that there is surprisingly early acquisition of a conceptually complex frame of reference, mastered for local (familiar) situations and tabletop space, indicating at least a limited productivity of these spatial terms by age seven and a half or so. 4.4 How do the children do it? There are three points to make about the situation in which Tzeltal children learn their language, which may provide them with the scaffolding allowing them to use this Absolute system in novel contexts so early: 14

There is some suggestion, for example, that the acquisition pattern may not be exactly the same as what de Le6n (1994) describes for Tzotzil in the neighboring Tzotzil commwuty of Nabenchauk, raising the possibility that it is influenced by the different N/S slope of the land in these two comrnwuties, with a crosscutting E/W 'sunset/ sunrise' axis in Tenejapa but not in Nabenchauk.

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Perceptual support. Since the Absolute system allows one to use the local-slope axis as a basis for the c;oordinate system, children can get direct perceptual support for some early, more local, uses of the system. 2. Gesture. The Absolute system is supported by very accurate directional pointing, which typically co-occurs with Absolute usage in adult speech, and this may systematically help the child to grasp the conceptual underpinnings of the abstract systern (Levinson, in press). 3. Input. Although these spatial words are not particularly high frequency items in the input to small children (since caregivers often don't need tobe specific about locations, and they can often use deictics), the uphill/downhill terminology is used consistently in particular contexts: (i) for describing vertical motion and vertically aligned static spatial relations, (ii) for describing motion and static relations in spatially close proximity using the local- slope coordinates; and (iii) for describing motion and static relations across significant distances along the Absolute axis. Absolute descriptions are sometimes also used by caregivers to small children for small-scale location on flat (e:g., tabletop)-surfaces, although small children may not spontaneously use it this way (except in our 'space game' tasks). In the contexts where small children use and hear language, there is thus a very consistent mapping between the 'uphill' /'downhill' words and particular places, directions, people, and events, which may provide the initial entry to the system. This then can later be used for more moveable objects and more ephemeral spatial relations. Turning now to our fourth and final question, about the relative acquisition order of Absolute and Relative systems: 1.

5.0 What, if anything, is unnatural? Absolute ~s. Relative systems On the basis of the 'symptoms of natural categories' specified by Landau & Gleitman (1985), (summarized. in -::6> above), both Absolute and Relative systems are in some senses 'unnatural'. What we have presented so far demonstrates that the Absolute system is not delayed, in relation to Relative front/back/left/right systems. If it is unnatural, it seems tobe less unnatural than the left/right part of our own (English/Dutch/ German, etc.) projective system. Consider the evidence accumulated about the ages when children speaking European languages learn the spatial pre- or post-positions (already given above in ), and let us compare it with the ages when Tzeltal

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children are learning their Absolute and Intrinsic vocabulary, as summarized in Table 4: Comparative data on age of Absolute/Relative vocabulary acquisition

in> on> under> beside > back1> Jronti>" back2 > frontz ('boy behind truck') ('boy behind tree') European: Age 2 --------------------c. ;3;10--------------->Age 4 onL--------> Tzeltal: Absolute ------------------>3;6 -----> Intrinsic---------> European: own left1/righti' other's lefti/rightl x left2 of y for egae Agef -----------> 6 -------> 8 --------> 11/12 Note. Order of language acquisition in Relative languages is summarized from Piaget (1928), Laurendeau & Pinard (1977), Harris (1972), Johnston & Slobin (1979), Tanz (1980), Weisenborn & Stralka (1984) •Johnston and Slobin (1979, p. 538) production data, mean age of acquisition: intrinsic in front (English 3;9; Italian 3;10; Serbo-Croatian 3;10; Turkish 3;4), intrinsic behind (English 4;4; Italian 2;1 (n =2) ; Serbo-Croatian 3;9; Turkish 2;10). bTanz (1980, p. 26) Correct comprehension at 66% of subjects at 4;2, 70% at 4;11 (20% Hausa pattern); Johnston & Slobin (1979) production data suggest few children of 4;4 have both deictic 'back' and 'front' notions. TOTAL AB GE NERVT;> 39 hh dann auch 40 «ff> warum STE:HT DAS NI:CHT IM KULTUR AN ZEI GER.> 41 Anna: und was SAGT die katherina? 42 Gerda: hh eh::m 43

44 (-) 45 Anna: «stöhnend> ah:::::[hhhhhhhhhhhhhh]> 46 Gerda: [] dieses kulturzentrum. Nach der expliziten Einleitung ihrer eigenen Rede ,," (Z. 39) reproduziert Gerda ihren eigenen Vorwurf (Z. 40). Dieser wird prosodisch vom vorausgehenden Kontext abgesetzt: Eine erhöhte Lautstärke, eine markierte Akzentuierung des finiten Verbs „STE:HT" und eine beständig fallende Tonhöhenbewegung von ,,STE:HT" bis „AN ZEIGER." indizieren eine irritierte Stimme: ,,«ff> warum STE:HT DAS NI:CHT IM KULTUR ANZEIGER.>" Darüber hinaus sticht diese Äußerung vom vorausgehenden Kontext durch eine dichte Akzentuierung ab: Jede betonbare Silbe wird betont. Wir können somit beobachten, wie Gerda die rekonstruierte, vorwurfsvolle Stimme der Ich-Protagonistin in der erzählten Welt von ihrer Stimme als Erzählerin im Hier-undJetzt abhebt. Auf Annas Frage hin (,,und was SAGT die katherina?") rekonstruiert Gerda (Z. 42ff.) eine weitere Stimme: die von Katharina. Das hohe Tonhöhenregister (eine Oktave höher als Gerdas unmarkierte Stimme), die steigend-fallenden Konturen auf den gedehnten Silben „i !IH:R" und „zu i ! VIE:L" sowie di: markierte Aspiration und die behauchte, weinerliche Stimme setzen diese Außerung von den bisherigen ab und indizieren einen Stimmenwechsel. Die Sprecherin Gerda verwendet also bestimmte prosodische Ressourcen und Mittel der Stimmqualität zur Inszenierung der verschiedenen Figuren. Zwar sind beide Redewiedergabesequenzen (Z. 3940 und Z. 42-44) stark affektiv aufgeladen, doch setzt Gerda unterschiedliche prosodische Designs zur Indizierung der jeweiligen Figur und ihrer affektiven Haltung ein: In den Zeilen 39-40 'hören' wir die insistierende,

Susanne Günthner

342

entschlossene und verärgerte Stimme der Ich-Protagonistin; in den Zeilen 42-44 werden wir dagegen mit der lamentierenden Stimme Katharinas konfrontiert. Dieser Transkriptausschnitt verdeutlicht das Aufeinandertreffen Verschiedener Stimmen im Gespräch: Einerseits haben wir den Kontrast zwischen der in der Erzählsituation verankerten Stimme der Erzählerin (Gerda) und der Stimmen ihrer animierten Figuren. Darüber hinaus zeichnet sich aber auch ein Kontrast zwischen den beiden animierten Figurenstimmen ab. Das folgende Tianskriptsegment entstammt einem informellen Gespräch zwischen Ira, Eva und Willi. Die Interaktion findet in der lokalen schwäbischen Variante statt. Eva hat soeben von einer Nachbarin berichtet, die ihr wiederum erzählt hat, dass Touristen sich beschwert hätten, da die lokale Seilbahn am vorausgehenden Tag kaputt war. Nach einer kurzen Unterbrechung kommt Ira auf dieses Thema zurück und fragt Eva nach Details des Vorgangs: SEILBAHN [ 31Ira: (.)

32Ira: 33 34Eva: 35

36 37 38 39Ira:

GESCHtern. (oder)? (-) an der SEILboh. 9 die LEIT.10 die LEIT? (-) ha die hat gsa unjMEGlich. (.) o jetzt war doch geschtern an der seilbah was kaPUTT, und des kann ja immer WIEder sei: (-) i mein an dEr seilbah isch bsonders VIEL kaputt. (-) [(ja)] (yes)

und die 40Eva: · die hättet den SCHAFFner 41 der schaffner hätt gar nix gar koi ANTwort mehr gebe. 42 was techri.ischs goht doch mal j !kaPUTT hh> 49

und na hat der GSA, 51 es kommt doch ein DBU:S. hh 52 9 10

'seilboh' ist die lokale Dialektvariante für 'Seilbahn'. 'leit' ist die lokale Dialektvariante für 'Leute'.

343

Fremde Rede im Diskurs

53 54 551ra: 56Eva:

jWA:(h)S.> haha[haha j !NEI::N]> 3Hanna: [hahahahahaha] j !NEI::N 4Fritz: (verwendet) oder. 5Gerd: also daß es süwas überjHAUPT gibt, 6Urs: also es gibt irgendwie jeder LANDkreis darf also 7 vorbildliche bür[ger,] [hhm] 8Hanna: so ein, zwei pro LANDkr[eis aussuchen.] 9Urs: [joh:::::oh::] lOHanna: und die kriegen dann die llUrs: «f> baden WÜRTTem[berg,>] 12 13Gerd: [hm.] [natürlich sein dorf]schultes hihi in BER(hi)gen(hi)dorf 14Urs: hat gedAcht, [( )] 15Gerd: «f> UTÜRke.> 16Urs:

17 Und gleichzeitigen HÄUSle ba[ut,] 18 19Gerd: [haha]

[hahahahahahahahahahhahahaha] 21Gerd: [ «!, I, p> des isch doch Ideal.>] 22Urs: [AU::::: j !nei::::n] 23Klara: 24Urs:

25 «flüsternd> hot no a GSCHÄFT und goht no in d schlcht zum->= 26Hanna: = 27Urs: [zur(.)] 28Urs: und d=frau trägt koin SCHLEier. (-) «f> GENAU.> 29Klara: und fünf KIN der ham se. 30Urs: genau. und no hat ihn VORgschlage, 31 und no dann wurd wurde er jetzt MUSterbürger.

/

Fremde Rede im Diskurs

351

32U /K/F: hahahahahahahaha[hahahahahahaha]hahahaha 33Hanna: [jNEI:::::::::N] Zur Rekonstruktion der Gedankenwelt des Dorfschultes wechselt Urs in Zeile 17 in eine starke Dialektvarietät (Schwäbisch) und redet zugleich auffallend langsam in einem tiefen Tonhöhenregister. Diese Merkmale, die auf verschiedenen Ebenen (Codeswitching, Prosodie) angesiedelt sind, indizieren einen gewissen Bruch zu seinen vorherigen Äußerungen (Zeilen 6-7; 1112; 14) und verweisen auf ein.en neuen Interpretationsrahmen. Urs verwendet also mehrere Kontextualisierungshinweise, die im Zusammentreffen mit anderen Zeichen (wie der expliziten Ankündigung der Gedankenwelt des Dorfschultes in Zeile 14 und der sequentiellen Platzierung) darauf hinweisen, dass nun eine fremde Stimme auftritt. Nach der Übermittlung der Nachricht über Mustafas Auszeichnung als „Musterbürger" beginnt Urs in Zeile 14 mit der Rekonstruktion des inneren Monologs des Bürgermeisters: ,,[natürlich sein dorf]schultes hihi in BER(hi)gen(hi)dorf hat gedAcht,". Die hier eingebauten Kicherpartikeln kontextualisieren eine spielerische Interaktionsmodalität. Dann konfrontiert Urs seine Rezipienten mit der imaginierten Gedankenwelt des Bürgermeisters in Form direkter Redewiedergabe: 16Urs:

17

18 Und gleichzeitigen HÄUSle ba[ut,] 19Gerd: [haha] 20Urs: «!, l> [der sich ANpaßt]und gleichzeitig gegen diskriminierung;> 21Gerd: [hahahahahahahahahahha] 22Urs: [] Diese Episode der fiktiven Rekonstruktion der Gedankenwelt des Bürgermeisters ist hochstilisiert: Die Kombination von tiefem Tonhöhenregister mit langsamen Sprechtempo und breiter Dialektvarietät suggeriert eine naive und hinterwäldlerische Persönlichkeit. Diese Präsentation des Dorfschultes wird durch die ihm zugeordneten Gedanken untermauert. Er ehrt einen türkischen Mitbürger, der sich nicht nur im Kampf gegen Ausländerdiskriminierung einsetzt, sondern zugleich schwäbische Ideale wie 'Häusle bauen' vertritt. Die Reaktionen der Rezipienten (Z. 19, 21 und 23) motivieren Urs, seine Inszenierung fortzusetzen. Er baut daraufhin die Typisierung des Dorfschultes als einfachem Provinzler, der schwäbische Kleinbürgerideale wie „schaffen wie en Brunnebutzer" hochhält, weiter aus. Auffällig ist ferner, dass schließlich auch die Gesprächsteilnehmerin Hanna in Urs' Animation des Bürgermeisters einstimmt und diese fortführt: ,," (Z. 26). Hanna komplettiert Urs' Redezug und übernimmt dabei zugleich das von Urs der Figur des Bürgermeisters zugewiesene prosodische Design: Auch sie präsentiert die Gedankenwelt des Dorfschultes in einem tiefen Tonhöhenregister, mit verlangsamtem Sprechtempo und in einer breiteren schwäbischen Dialektvarietät.

352

Susanne Günthner

In Zeile 29 setzt nun auch Klara, eine weitere Interaktionsteilnehmerin, die fiktive Gedankenwelt des Bürgermeisters fort und fügt hinzu: ,,und fünf KIN der ham se." ' Dieser Transkriptausschnitt verdeutlicht, wie prosodische Hinweise in Kombination mit Codeswitching als Stilisierungsverfahren und Ressourcen zur Konstruktion eines bestimmten sozialen Typus (des einfachen, provinziellen schwäbischen Kleinbürgers) eingesetzt werden und zugleich der Evaluatio_n der präsentierten Gedanken durch die Zitierenden dienen. Darüber hinaus wird ersichtlich, wie Ko-Partizipantinnen in die gemeinsame Konstruktion einer fremden Stimme einsteigen können, indem sie die bereits etablierten prosodischen Merkmale der betreffenden Charakterdarstellung übernehmen.3 1 Diese Art der Einstimmung und Übernahme des prosodischen Designs der zitierten Figur fungiert zugleich als indirektes Mittel der Übereinstimmungsmarkierung mit der Evaluation des Erzählers. 2.4. ,,Die Überlagerung von Stimmen" bei der Animation geschriebener Texte

Interagierende animieren nicht nur Figuren, indem sie deren Äußerungen oder Gedanken rekontextualisieren, sondern gelegentlich werden auch geschriebene Texte mündlich rekonstruiert. Bei der 'Übersetzung' eines Textes vom schriftlichen Medium ins MündJiche fingiert der Wiedergebende eine bestimmte Prosodie und Stimmqualität, um die Figur des Schreibers zu animieren und seine Aktivitäten vorzuführen. Auch hier transportiert die fremde Rede keineswegs nur referentielle Bedeutung, sondern die Zitierenden verwenden Stilisierungsverfahren zur sozialen Kategorisierung von Personen3 2 und bringen zugleich ihre Evaluation hinsichtlich der zitierten Figuren und deren Texte zum Ausdruck. · Ulla erzählt ihrer Tochter Sara von einer gemeinsamen Bekannten, die per Heiratsanzeige einen Mann suchte und schließlich einen Antwortbrief bekam: HEIRATSANZEIGE die hot DAUsende heirat~annonce uffgebe, 22Ulla: do war j !NI::CHTS dAbei. (--) 23 oiner (-) oiner hot no gschriebe, (--) 24 er wär au so FUFFzig, 25 ond wenn sie ihm

26 27

Ulla beginnt in Zeile 25 mit der Rekonstruktion von Ausschnitten aus dem Brief des Kandidaten: ,,er wär au so FUFFzig, ond wenn sie ihm

,,. Auch hier konfrontiert die Erzählerin ihre Rezipientin direkt mit der fremden Rede, ohne diese explizit durch verba dicendi zu rahmen. Die zitierte Stimme wird so übertrieben dargeboten, dass die Erzählerin nicht nur einen „verängstigten" Briefeschreiber animiert, sondern ihn mittels Übertreibung dem Amüsement preisgibt. 2.5. ,,Fremde Rede in versteckter Form" In den bisherigen Beispielen fremder Rede haben die Erzählerlnnen durch die Inszenierung von Äußerungen, Gedanken oder Textpassagen bestimmte Figuren animiert. Gelegentlich finden sich auch Fälle, in denen die Sprecheräußerung durchmischt ist von Passagen fremder bzw. ,,ausgeliehener Rede". Solche inkorporierten Formen „fremder Rede in versteckter Forrn" 33 in eine scheinbar monologische Äußerung können von kurzen Passagen bis zu längeren Textsequenzen reichen. Zwar betonen Clark/Gerrig „incorporated quotations" seien sehr selten in Alltagsinteraktionen, doch zeigen die vorliegenden Gesprächsdaten, dass Sprecherlnnen auch in informellen Alltagsinteraktionen von diesen Formen geborgter Rede durchaus Gebrauch machen.34 33 34

...

Bachtin (Anm. 16). Herbert Clark/Richard J. Gerrig, "Quotations as Demonstrations", in: Language 66 (1990), 764-805, hier 790 .

Susanne Günthner

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Im folgenden Ausschnitt unterhalten sich Anni, Geli und,Kara. Anni und Kara versuchen Geli eine gemeinsame Bekannte (Eva) zu beschreiben, die Geli anscheinend nicht kennt: NEUE WOHNUNG 32Anni: ach. die KENNST du [auch.] 33Kara: [so==ne] BLONde, klEine, 34Anni: immer (.) 35 ] [hihi ] hihihi i ich kenn die ECHT nich. hihihi 37Geli: Zunächst setzt Anni in Zeile 34 mit einer unmarkierten Prosodie ein. Doch dann wechselt sie in eine fremde Stimme: 11 • Innerhalb einer Turn-Konstruktionseinheit werden die Rezipientinnen plötzlich mit der Stimme einer anderen Person konfrontiert, die prosodisch klar von der vorausgehenden Stimme durch einen Wechsel in ein hohes Tonhöhenregister sowie eine stark affektierte Artikulation abgetrennt ist. Anni injiziert also eine fremde Stimme in ihre eigene Äußerung. In solchen Fällen der 11 fremden ·Rede in versteckter Form"35 durchdringt die fremde Stimme die Rede der Sprecherin: fremde Worte, eine fremde Prosodie und eine fremde Stimmqualität verschmelzen mit der Stimme der Sprecherin in einer Äußerung. Die geborgte Rede 11 ]" (Z. 34-35) hat hier mehrere Funktionen: Sie beschreibt einerseits Evas Klei. dungsstil und charakterisiert zugleich Evas 'Habitus' und damit die Art, wie diese über ihre Kleidung redet. Doch auch hier schimmert die Perspektive der wiedergebenden Sprecherin durch: Die inkorporierte Rede wird in solch übertriebener und manierierter Weise präsentiert, dass sie die Figur Evas karikiert und zugleich Annis mokierende Haltung gegenüber Eva kontextualisiert. Wir haben somit ein Beispiel einer 11 hybriden Konstruktio11": 11

Hier liegt der typische Fall einer hybriden Konstruktion mit zwei Akzenten und zwei Stilen vor. Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei 'Sprachen', zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale - kompositorische und syntaktische - Grenze;

35

Bachtin (Anm. 16).

/

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Fremde Rede im Diskurs

355

die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes [... J.36

Auch im vorliegenden Beispiel gehört die Äußerung „immer " (Z. 34-35) zugleich zwei Personen: der Erzählerin Anni und der porträtierten Figur Eva. Uspensky beschreibt diese Art der Polyphonie als ,,Kontamination des Autorentextes" und damit als „Modifikation des Autorentextes unter dem Einfluss einer Rede, die nicht dem Autor selbst gehört_ sondern die Sprache einer anderen Person darstellt". 37 Auch hier zeigt sich, dass die Zitierende keine expliziten Kommentare bezüglich der Bewertung der fremden Rede liefert, sondern mittels indexikalischer Zeichen (prosodischer Verfahren und Mittel der Stimmqualität) die zitierte Rede evaluiert. Unmittelbar nach dieser Präsentation bestätigt Kara Annis Art der Darstellung von Evas Habitus mittels ,,[hihi ]". Karas und Gelis Kichern orientieren sich an Annis parodistischer Stilisierung von Eva. Die vorliegenden Datenbeispiele zeigen also nicht nur, dass Mehrstimmigkeit auch in Alltagsinteraktionen zu finden ist, sondern auch, dass die Rezipientlnnen sich an der Gestaltung der Redewiedergabe orientieren, und die Inszenierungen als Performanzdarbietungen geschätzt und honoriert werden. Sie goutieren die kleinen Vorstellungen und quittieren die Darbietungen mit Lachen und Kichern. Ein etwas anders gelagerter Fall der „geborgten Rede" findet sich in folgender Episode. Hilla, die gerade aus China zurückkam, berichtet ihrer Freundin Sara von schwarzen Studenten, die in China leben und die Einschätzung haben, China sei „rassistisch". Zur Stütze dieser Behauptung führt sie einen Artikel aus der Newsweek an: KINAKINA da hatte en en son ameriKAnischer journalist, 399Hilla: (--) 400 ehm halt son paar schwarze stuDENten da interviewt, 401Hilla: 402Sara: hmhm 403 (1.0) und(--) die: die ham also richtige HORror, 404Hilla: so HORrormeldungen (--) von sich gegeben;(-) 405 der eine(-) war ma verDROSCHen worden, 406 vonner ganzen(-) HORde chinesischer komrniliton,(-) 407

408 eine chiNEsin zum TEE einzuladen;= 409 410 = nach[mittags] 411Sara: [j !NEIN::]= 412Hilla: =DOCH 413Sara: