Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat: Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816-1878 9783666357312, 3525357311, 9783525357316

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Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat: Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816-1878
 9783666357312, 3525357311, 9783525357316

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 71

VÔR

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 71 Friedrich Lenger Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816-1878

von

Friedrich Lenger

Mit 43 Tabellen und 5 Schaubildern

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Meinen

Eltern

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lenger, Friedrich: Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat: Studien zur Sozialgeschichte d. Düsseldorfer H a n d w e r k e r 1816—1878 / v o n Friedrich Lenger. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1986. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 71) I S B N 3-525-35731-1 NE: GT D 61 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986. - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Vervielfältigung und der Übersetzung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus auf photomechanischem (Photokopie, Mikrokopie) oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Inhalt

Vorwort

11

Kapitel I: Einleitung

13

1. Arbeitergeschichte und Klassenbildung

13

2. Handwerker und Klassenbildung

16

3. Sozialgeschichte-Lokalgeschichte-Alltagsgeschichte

17

4. Quantitative Methoden und Quellenlage

19

5. Zeitliche und räumliche Begrenzung sowie Aufbau der Arbeit

20

Kapitel II: Wirtschaft und Bevölkerung Düsseldorfs 1 8 0 0 - 1 8 8 0 . . .

22

1. Wirtschaft und Gesellschaft Düsseldorfs im neunzehnten J a h r h u n d e r t . . .

22

2. Zwei Phasen der Industrialisierung

23

3. Bevölkerungswachstum und Stadtentwicklung

24

4. Komponenten des Bevölkerungswachstums

27

5. Gebürtigkeit und Sterblichkeit

28

6. Zur Sozialstruktur Düsseldorfs

29

7. Zusammenfassung und Ausblick

35

Kapitel III: Strukturwandel des Handwerks - zur wirtschaftlichen Lage und Entwicklung der einzelnen Handwerkszweige

36

1. Die wirtschaftliche Lage des Handwerks im neunzehnten Jahrhundert . .

36

2. Die Entwicklung des Gesamthandwerks

37

3. Löhne und Einkommen im Düsseldorfer Handwerk

40

4. Die Nahrungsmittelhandwerke: Bäcker und Fleischer

42

5. Schuhmacher

46

6. Schneider

50

7. Schreiner

54

8. Die Metallhandwerke unter besonderer Berücksichtigung der Schlosser .

58

9. Die Bauhandwerker: Maurer und Zimmerer

60

10. Zusammenfassung: Die wirtschaftliche Lage der Düsseldorfer Handwerker

63

5

Kapitel IV: Mobilität und Stabilität - das Paradox des Wanderungsverhaltens

65

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

65 67 70 73 76 78 80 82 87 89 91

Wanderungen im neunzehntenjahrhundert Das Wanderungs volumen in Düsseldorf1817—1880 Nah-und Femwanderung Einzel-und Familienwanderung Familien-und Fernwanderung Familienwanderung und Beruf Geographische Herkunft der Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter . . . Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter Persistenz und Alter Wanderungsbiographien Zusammenfassung

Kapitel V: Die Welt der kleinen Leute - intra- und intergenerationelle berufliche Mobilität von Handwerkern und Arbeitern 1. Soziale Mobilität im neunzehnten Jahrhundert 2. Der berufliche Werdegang der selbständigen Handwerker 3. Der berufliche Werdegang der unselbständigen Handwerker, Fabrikarbeiter und Tagelöhner 4. Der berufliche Werdegang der Söhne von Handwerksmeistern bis 1885 . 5. Der berufliche Werdegang der Söhne von Handwerksgesellen, Fabrikarbeitern und Tagelöhnern bis 1885 6. Zusammenfassung Kapitel VI: Familie, Lebenszyklus und Wohnungssituation 1. 2. 3. 4.

Selbständig wohnende Handwerksgesellen Die Größe der Handwerker-und Arbeiterfamilie Das Verlassen des elterlichen Haushalts und die Familiengröße Wohnungssituation

Kapitel VII: Wohnräumliche Segregation, Stadtentwicklung und résidentielle Mobilität 1. Stadtentwicklung, résidentielle Segregation und résidentielle Mobilität im neunzehntenjahrhundert 2. Stadtentwicklung Düsseldorfs nach der Jahrhundertmitte 3. Résidentielle Segregation in Düsseldorf um 1855 4. Résidentielle Mobilität Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855 bis 1875 6

94 94 96 100 105 109 112 117 117 121 128 131

133 133 134 135 143

5. Die Wohnviertelwahl der Söhne von Düsseldorfer Handwerkern und Arbeitern Kapitel VIII: Die Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter in der Revolution von 1848/49 1. Handwerker in der Revolution von 1848/49 2. Die wirtschaftliche Krise der späten 1840er Jahre und ihre Auswirkungen auf die Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 3. Die März-Revolution und die Formierung politischer Organisationen in Düsseldorf 4. Die Maiwahlen und die Schwäche des politischen Katholizismus 5. Die politischen Vereine und ihre soziale Basis

147

150 150 151 153 159 162

6. Aktionen vom Steuerboykott bis zur Reichsverfassungskampagne . . . . 7. Zwischenbilanz: Die Rolle der Handwerker in der Revolution von 1848/ 49 in Düsseldorf 8. Gewerbespezifische Initiativen 9. Der Arbeiterverein 10. Erste Gewerkschaften 11. Die Handwerkerbewegung in Düsseldorf 12. Zwischenbilanz: Handwerkliche Interessenpolitik in Düsseldorf 1848/ 49 13. Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse

181 184

Kapitel I X : Vereine, Parteien und Gewerkschaften zwischen Revolution und Sozialistengesetz

188

1. 2. 3. 4.

Kassen und Vereine Handwerkerbewegung und Liberalismus Sozialdemokratie, Streiks und Gewerkschaften Der politische Katholizismus und die Organisierung von Handwerkerund Arbeiterschaft 5. Bilanz: Liberalismus, Sozialdemokratie und Katholizismus

166 168 170 174 176 178

188 194 203 217 228

Kapitel X : Resümee

231

Anhang Anmerkungen Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Sachregister

235 266 310 329 330

7

Verzeichnis der Tabellen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 8

Bevölkerungsentwicklung Düsseldorfs 1800-1880 GeburtenüberschußundWanderungsgewinninDüsseldorfl817—1880 . . Geburten und Todesfálleje 1000 Einwohner 1816—1880 Einkommensgruppen in Düsseldorfer Gemeinden 1848 Einkommen der wichtigsten Düsseldorfer Berufsgruppen 1848 (in % ) . . . DieEntwicklungdesGesamthandwerksinDüsseldorfl822—1861 Die Entwicklung des Bäcker- und des Metzgerhandwerks in Düsseldorf 1816-1861 Die Entwicklung des Schlosserhandwerks in Düsseldorf1816—1861 . . . . Die Entwicklung des Maurer- und des Zimmererhandwerks in Düsseldorf 1816-1861 Wanderungsvolumen und Wanderungsbilanz fur Stadt und Kreis Düsseldorf 1817-1880 Zu- und Abwanderungen in Düsseldorf 1832—1866 nach Herkunft und Ziel Zu- und Abwanderungen in Düsseldorf 1817—1866 nach Ehestand und Geschlecht Zu-und Abwanderungen in Düsseldorf1856—1880 nach Ehestand Zu- und Abwanderungen in Düsseldorf 1847—1866 nach Wanderungstyp (Einzel- oder Familien Wanderung), Herkunft bzw. Ziel in Prozent Zu-und Abwanderungen von Familienoberhäuptern in Düsseldorf 1861 — 1880 nach dem Beruf Geburtsorte der 1855 in Düsseldorf selbständig wohnenden Handwerker und Arbeiter Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855—1867 Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855—1867 nach Altersgruppen Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855—1875 Berufliche Mobilität Düsseldorfer Handwerksmeister 1855-1875 Berufliche Mobilität Düsseldorfer Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner 1855-1875 Berufe der Söhne Düsseldorfer Handwerksmeister 1875 und 1885 Berufe der Söhne Düsseldorfer Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner 1875 bis 1885 Zahl der Handwerker in der eigentlichen Stadt (1855) Größe der Düsseldorfer Handwerker- und Arbeiterfamilien 1855

235 236 238 240 33 241 242 243 244 245 247 251 256 258 260 263 84 86 265 98 102 107 111 118 122

26 Alter und Familiengröße 27 Alter Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855 (in %) 28 Das Durchschnittsalter der ältesten Söhne und Töchter Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855 (Mindestalter: 11 Jahre) 29 Handwerker und Arbeiter in den Stadtvierteln Düsseldorfs 1855 30 Résidentielle Mobilität in Düsseldorf ansässig bleibender Handwerker und Arbeiter 1855-1875 31 Verteilung der Söhne von 1855 in Düsseldorf ansässigen Handwerkern und Arbeitern auf die Stadtviertel 1885 32 Berufe der Unterzeichner des liberal-katholischen Wahlaufrufs 1848 . . . . 33 Meister, Meistersöhne und Gesellen unter den Unterzeichnern des liberalkatholischen Wahlaufrufs 34 Berufe der demokratischen Kandidaten (1848) und Urwähler (1849) bei den Wahlen im Mai 1848 und im Januar 1849 35 Unterzeichner der Düsseldorfer Handwerkerpetition 36 Die soziale Zusammensetzung zweier Kranken- und Sterbekassen in Düsseldorf 1856 und 1859 37 Die soziale Zusammensetzung Düsseldorfer Gesangvereine 1855 38 Die soziale Zusammensetzung zweier politischer Vereine in Düsseldorf zu Beginn der 1860er Jahre 39 Die soziale Zusammensetzung des Düsseldorfer Handwerker- und Arbeiterbildungsvereins 1865 40 Die Berufe der Düsseldorfer Unterzeichner einer Beitrittserklärung zu Lassalles Offenem Antwortschreiben 41 Die soziale Basis der Düsseldorfer Sozialdemokratie 1875 bis 1878 42 Die soziale Zusammensetzung des Düsseldorfer Pius-Vereins 1850 und des Vereins zur Errichtung der Mariensäule 1859 43 Die soziale Zusammensetzung des christlich-sozialen Vereins in Düsseldorfbeiseiner Gründung 1871

124 126 130 140 145 149 156 158 165 180 190 193 197 200 205 216 219 227

Verzeichnis der Schaubilder 1 Bevölkerungsentwicklung Düsseldorfs 1800-1880 2 Einkommensverteilung der Einkommensteuerpflichtigen in Düsseldorf 1848 3 Die Entwicklung des Gesamthandwerks in Düsseldorf1822—1861 4 Mobilitätskennziffer für Stadt ( ) und Kreis ( ) Düsseldorf 1817— 1880 5 Bau-Nivellements-Plan der Stadt Düsseldorf! 854

26 30 39 69 136

9

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1984/85 von der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf als Dissertation angenommen. Das Manuskript, das hier leicht gekürzt veröffentlicht wird, wurde im Sommer 1984 abgeschlossen, seither erschienene Literatur nicht mehr eingearbeitet. Die Friedrich-Ebert-Stiftung förderte meine Arbeit durch ein Promotionsstipendium und Zuschüsse der Handwerkskammer Düsseldorf, der Pressestiftung des Rheinisch-Westfälischen Verlags, vor allem aber die Auszeichnung der Dissertation mit dem DRUPA-Preis der Düsseldorfer Messegesellschaft - N O WE A 1986 ermöglichten die Drucklegung. Wichtiger noch als die materielle Absicherung aber war die freundliche Unterstützung, die ich von vielen Seiten erfahren habe. Dank schulde ich zunächst dem Rechenzentrum der Universität Düsseldorf, insbesondere der steten Hilfsbereitschaft von H. Lippert und R. Valder, und Prof. Dr. Hugo Weidenhaupt und seinen Mitarbeitern am Stadtarchiv Düsseldorf, die meine Arbeit ganz wesentlich erleichtert haben. Mit Rat, Kritik oder Ermunterung halfen mir vor allem Dr. Dieter Dowe (Bonn), Dr. Josef Ehmer (Wien), Dr. Christiane Eisenberg (Bielefeld), Prof. Geoff Eley (Ann Arbor, Michigan), Prof. Dr. Heinz-Gerhard Haupt (Bremen/Lyon), Prof. Dr. Karl Heinrich Kaufhold (Göttingen), Manfred Kubik (Bielefeld), Dr. Toni Offermann (Kall-Wallenthal) und Prof. Jonathan Sperber (Columbia, Missouri). Die Mühe, das gesamte Manuskript einer kritischen Lektüre zu unterziehen, nahmen Prof. Dr. Jürgen Kocka (Bielefeld) und Prof. Dr. Dieter Langewiesche (Tübingen) auf sich, die beide die Entstehung der vorliegenden Studie mit zahlreichen kritischen Kommentaren und Anregungen begleitet haben. All ihnen möchte ich aufrichtig danken! Besonderen Dank schulde ich schließlich meinem verehrten akademischen Lehrer Prof. Dr. Wolfgang J . Mommsen, der die Arbeit betreut hat, und dem Korreferenten Priv.-Doz. Dr. Christof Dipper (Trier/Freiburg). Die Schaubilder zeichnete mein Bruder Karsten und bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses sowie beim Korrekturlesen beteiligten sich meine Eltern sowie Annette Roth (Tübingen). Auch ihnen sage ich von Herzen Dank! Last but not least danke ich Ellen Erdmann, die weder meine Strümpfe stopfte noch meine Manuskripte tippte und sich bis heute nur wenig für die Geschichte der Düsseldorfer Handwerker interessiert. Dieses Buch hätte gut ohne sie geschrieben werden können; es wäre nur eher fertig geworden. Tübingen, im Juli 1986

Friedrich Lenger 11

KAPITEL I

Einleitung

Í. Arbeitergeschichte und Klassenbildung Die Forderung, die Geschichte der Arbeiterbewegung in enger Verbindung mit der Geschichte der Arbeiterschaft zu schreiben, ist in den letztenjahren zum Gemeinplatz geworden. 1 Wenn dieses Postulat auch noch weit häufiger formuliert als praktiziert wird, gibt es doch bereits einige Arbeiten, die die Fruchtbarkeit einer solchen Verknüpfung demonstrieren. 2 Der gebräuchlichste Ansatzpunkt ist wohl der Arbeitsplatz, dessen Beschaffenheit und Veränderungen in zumeist branchen- oder betriebsgeschichtlich angelegten Studien zur Erklärung der Mobilisierbarkeit der Arbeiterschaft herangezogen werden. 3 Neben dem Arbeitsplatz haben zunehmend auch die Arbeiterfamilie, die regionale und berufliche Mobilität, die Wohnverhältnisse sowie zahlreiche andere Aspekte der Lebensweise der Arbeiterschaft Aufmerksamkeit gefunden. 4 Sollen die Ergebnisse dieser in aller Regel lokal- oder regionalgeschichtlich verfahrenden Einzeluntersuchungen nicht unvermittelt bleiben, müssen sie in einen größeren Interpretationsrahmen eingefugt werden. Nur so ist schließlich auch eine Gewichtung der häufig getrennt behandelten Einzelfaktoren möglich. Einen solchen Rahmen bietet das in jüngster Zeit vor allem von Hartmut Zwahr und Jürgen Kocka verfochtene Konzept der Klassenbildung. Zwahr untersucht in seiner bahnbrechenden Lokalstudie die ökonomische, soziale und politisch-ideologische Konstituierung des Leipziger Proletariats. 5 Zunächst geht er der Durchsetzung von Lohnarbeit in einzelnen Berufsgruppen nach. Während seine darauf folgende Analyse der Entwicklung proletarischer Gemeinschaftsbeziehungen inhaltlich überzeugend und methodisch höchst originell ist, erscheint die Darstellung der politisch-ideologischen Klassenbildung dogmatisch verkürzt. Nach Zwahr, wie nach Lenin, kann die elementare Arbeiterbewegung aus sich heraus nur trade-unionistisches Bewußtsein erzeugen, erhält aber von der internationalen Arbeiterbewegung die erforderliche Unterstützung und erfüllt schließlich mit der Gründung einer marxistischen Arbeiterpartei ihre historische Mission. Kocka hat versucht, den Zwahrschen Ansatz zu entteleologisieren. 6 Auch er unterscheidet zwischen drei Dimensionen der Klassenbildung: einem latent vorhandenen wirtschaftlichen Klasseninteresse, einer klassenmäßig 13

ausgeprägten sozialen Identität und schließlich gemeinsamen Aktionen der Klassenangehörigen. Weder bestehen nach Kocka einseitige Abhängigkeiten zwischen diesen drei Dimensionen, noch verläuft der Klassenbildungsprozeß nur in eine Richtung: auch Klassenentbildung ist möglich. Vor allem aber betont er gegen Zwahr zu Recht, daß »class formation, as it is here understood, can occur and has occured with different ideological results. . . « . 7 O b aber deshalb die Arbeiterbewegung »mit genau denselben Formalkategorien und Fragestellungen aufgeschlüsselt werden kann wie die anderen, schon behandelten Dimensionen des Klassenbildungsprozesses auch«, scheint mir zweifelhaft. 8 In der Konsequenz dieses Ansatzes, der stets Binnendifferenzierung und Außenabschottung der Arbeiterklasse im Auge hat, läge es schließlich, den Klassenbildungsprozeß bei einheitlicher Organisation in christlichen Gewerkschaften für weiter fortgeschritten zu halten, als bei einer Fragmentierung in Richtungsgewerkschaften. Ohne einen Begriff und eine inhaltliche Bestimmung von Klassenbewußtsein wird man kaum auskommen. Sowohl der teleologische Ansatz Zwahrs als auch das ausgesprochen formalistische Konzept Kockas gehen auf die Marxsche Unterscheidung zwischen der »Klasse an sich« und der »Klasse für sich« zurück. 9 Vollzieht sich für Marx die politische Konstituierung - d. h. der Schritt von der Klasse an sich zur Klasse für sich - im und durch den K a m p f der Klassen, so ist fur Ε.P. Thompson letzterer Voraussetzung fur Klassenbildung überhaupt. 1 0 Dies ist nur konsequent, gibt es doch für Thompson keine Klasse an sich: »Class is defined by men as they live their own history, and, in the end, this is its only definition, β 1 1 Eine solche voluntaristische Definition erlaubt aber nicht einmal eine klare Entscheidung über Klassenzugehörigkeiten, so daß in Thompsons bedeutendem Buch oft unklar bleibt, ob von kleinen Warenproduzenten oder Lohnarbeitern die Rede ist. 1 2 Für Thompsons Hauptanliegen - die Unmöglichkeit der Ableitung >richtigen< Bewußtseins aus der Klassenlage zu betonen und die aktive Rolle menschlichen Handelns für die Klassenbildung hervorzuheben - ist der Verzicht auf das Konzept einer Klasse an sich aber gar nicht notwendig. 1 3 »It is precisely because a class need not be conscious of itself that the phrase >class-in-itself< was introduced. « 1 4 Die größte Schwierigkeit bei der Benutzung des Marxschen Klassenbegriffs liegt zweifellos darin, daß »ein eingebautes Hegemoniepotential« des Proletariats selbst für Marxisten keine unproblematische Annahme mehr ist. 1 5 So schreibt z . B . Frank Deppe: »Der politische >Normalzustand< der Arbeiterklasse ist nicht der der Einheit, sondern der der >Spaltungprivate< Lebenswelt gleichermaßen einbezieht, doch soll und kann keineswegs der Anspruch einer »histoire totale« erhoben werden. 4 1 Unter den Überschriften »Arbeiterkultur« und »Alltagsgeschichte« sind in letzter Zeit zahlreiche Arbeiten erschienen, die den Gegenstandsbereich einer Sozialgeschichte der Arbeiterschaft erheblich erweitert haben. 4 2 Zunehmend erhebt die Alltagsgeschichte jedoch den Anspruch, weniger als neuer Untersuchungsbereich denn als eigenständige Sichtweise anerkannt und praktiziert zu werden. Zu Recht kritisieren ζ. B. Robert M. Berdahl u. a., daß »die entscheidende Frage, was es denn für die Betroffenen bedeute, in einer spezifischen Klassenlage und -situation zu sein«, häufig ausgeblendet wird. 4 3 Weshalb aber zur Behebung dieses Mangels auf die analytische Unterscheidung zwischen Ökonomie und Kultur verzichtet werden soll, bleibt unklar. 4 4 Weder eine »thick description« noch die »Widerborstigkeit der Alltagsperspektive« können klare Fragestellungen ersetzen. 45 Der Anspruch der Alltagshistoriker ist insofern völlig zu Recht als antianalytisch und neohistoristisch gebrandmarkt worden und läuft in letzter Konsequenz auf Antiquarianismus hinaus. 46 Es wäre aber falsch, die zum Teil sehr beachtlichen substantiellen Ergebnisse der Alltagshistoriker zu ignorieren oder auf die Beschäftigung mit volkskulturellen Traditionen etc. zu verzichten. Letztere ist vielmehr problemlos in das Studium von Klassenbildungsprozessen einzubeziehen. 47

18

4. Quantitative Methoden und Quellenlage Die 1968 von Emmanuel Le Roy Ladurie formulierte Prophezeiung »l'historien de demain sera programmeur ou il ne sera plus« hat sich nicht bewahrheitet. 48 Auch wenn von der Euphorie früherer Jahre, die in Deutschland ohnehin kaum durchschlug, nur noch wenig zu spüren ist, wird die Legitimität quantitativer Ansätze in der Geschichtswissenschaft wohl nicht mehr grundsätzlich bestritten. 49 Die beiden wichtigsten Impulse zur verstärkten Quantifizierung kamen einerseits von sozialwissenschaftlich orientierten Historikern, denen die Präzision der propagierten Methoden die Wissenschaftlichkeit ihres Tuns zu belegen schien, und von populistisch beeinflußten Sozialhistorikern, die eine Perspektive »von unten« postulierten, »to embrace the social experience of ordinary, unexceptional people« andererseits. 50 Auch in der vorliegenden Arbeit geht es überwiegend um »ordinary, unexceptional people«. Wenn dabei, wo irgend möglich, quantifizierbare Quellen herangezogen werden, dann allerdings ohne den verfehlten Anspruch, den benutzten statistischen Verfahren wohne an sich schon ein Mehr an Wissenschaftlichkeit inne. In der Regel sind zwar statistische Aufstellungen verläßlicher als Beobachtungen von Zeitgenossen, doch ist dies im einzelnen quellenkritisch zu überprüfen. Die Nachprüfbarkeit der mit quantitativen Methoden gewonnenen Ergebnisse macht zudem besondere Schwierigkeiten, da die zwischen Quelle und Ergebnis liegenden Arbeitsschritte im Bereich der Datenerfassung, Datenübertragung und der (elektronischen) Datenverarbeitung kaum lückenlos zu dokumentieren sind. 51 Diese Schwierigkeiten wird die in den einzelnen Kapiteln enthaltene Dokumentation der Vorgehensweise veranschaulichen, die aber im Rahmen einer Buchveröffentlichung nicht ausfuhrlich genug sein kann, um die Replizierbarkeit der quantitativen Untersuchungen vollständig sicherzustellen. 52 Die Quellenlage zur Erforschung der wirtschaftlichen und sozialen Lage des Düsseldorfer Handwerks im neunzehnten Jahrhundert kann als günstig bezeichnet werden. Neben einer dichten Überlieferung an Polizei- und Verwaltungsakten sowie lokalen Zeitungen, findet sich im Stadtarchiv Düsseldorf und im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf ungewöhnlich reiches, unveröffentlichtes statistisches Material, insbesondere zur Zahl der Handwerker, zu den Bevölkerungsveränderungen und zur Wanderung. Besondere B e deutung für die einen gruppenbiographischen Ansatz verfolgende Arbeit haben die individualstatistischen Informationen der Gewerbesteuermutterrollen, der Adreßbücher und der Düsseldorfer Bürgerbücher. Letztere geben fur jeden Düsseldorfer Anschrift und Beruf, Geburtsort und -datum, den letzten Wohnsitz sowie einige andere Informationen. Diese Quelle, die außergewöhnlich detaillierte Aussagen zur Sozialstruktur erlaubt, steht zur Zeit für den deutschen Bereich ziemlich allein. Man sollte jedoch mit Aussagen über ihre Einzigartigkeit sehr vorsichtig sein, da zu erwarten steht, daß 19

erst bei einer weiteren Verbreitung der Einsicht in die Aussagekraft solcher Massenquellen eine gründliche Suche nach vergleichbaren Bevölkerungslisten durchgeführt werden wird. Der Quellenreichtum und die Vollständigkeit der Überlieferung auf den unteren Verwaltungsebenen ließ die Einbeziehung der Bestände des Zentralen Staatsarchivs Merseburg und des Staatsarchivs Koblenz verzichtbar erscheinen.

5. Zeitliche und räumliche Begrenzung

sowie Aufiau

der Arbeit

Über die Datierung einer ersten Phase der Herausbildung der Arbeiterklasse in Deutschland bestehen keine großen Meinungsverschiedenheiten. Kocka läßt seine Darstellung 1875 enden und Zwahr setzt »die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger Jahren bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts« an. 5 3 Diese Periodisierung deckt sich in etwa mit der häufig nach Henning datierten ersten Industrialisierungsphase in Deutschland. 54 Ist man jedoch an den das Handwerk treffenden Strukturwandlungen und ihren Wirkungen interessiert, empfiehlt es sich, etwas früher anzusetzen, um die Lage der Handwerker vor der Industrialisierung zu bestimmen. Die erst in preußischer Zeit besser werdende Quellenlage läßt es dabei kaum zu, weiter als bis 1816 zurückzugehen. Von da ab ist eine verläßliche Einschätzung der wirtschaftlichen Lage des Düsseldorfer Handwerks möglich. Der zeitliche Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt aber auf der Periode zwischen Revolution und Sozialistengesetz, einem Abschnitt der im Vergleich zum Vormärz und zum späten Kaiserreich als sozialgeschichtlich wenig erforscht gelten muß. Inwiefern die vorgenommene zeitliche Begrenzung (1816-1878/80) auch vor dem Hintergrund der lokalen Industrialisierungsgeschichte sinnvoll erscheint, kann erst im zweiten Kapitel dieser Arbeit gezeigt werden. Die Wahl Düsseldorfs als Untersuchungsgegenstand erklärt sich aus der Kombination dreier Gründe. Zunächst schien es sinnvoll, zum Studium des Anteils der Handwerker an der Herausbildung der Arbeiterklasse eine Stadt zu wählen, in der die handwerkliche Produktion - anders als z.B. in den meisten Ruhrgebietsstädten eine vorindustrielle Tradition hat und die zudem eine früh ausgeprägte Arbeiterbewegung aufzuweisen hat. Darüberhinaus erzwang das Interesse an der sozialen Dimension von Klassenbildungsprozessen eine besondere Berücksichtigung der Quellenlage, da für die beabsichtigten Mobilitätsstudien Bevölkerungslisten unverzichtbar sind. Und schließlich soll gar nicht bestritten werden, daß Zeit- und Geldknappheit für die Wahl des Studienortes als Untersuchungsgegenstand sprachen. Dies u m so mehr, als die Bearbeitung einer Massenquelle wie der Düsseldorfer Bürgerbücher ganz außergewöhnlich zeitaufwendig ist. Wenn in dieser Einleitung die Forschungslage nur sehr verengt in Bezug auf Klassenbildungsprozesse angerissen wurde, dann vor allem deshalb, 20

weil jedes einzelne Kapitel der vorliegenden Arbeit einen Themenbereich anspricht, der in der Literatur zumeist für sich behandelt wird. Diese ganz verschiedenen Forschungslagen sollen deshalb zu Beginn der einzelnen Kapitel aufgegriffen werden. Im folgenden Kapitel wird zunächst versucht, einen Überblick über die Entwicklung Düsseldorfs im neunzehnten Jahrhundert zu geben. Dabei stehen Bevölkerungswachstum und Sozialstruktur im Vordergrund, um die Einordnung der im weiteren Verlauf der Arbeit zur sozialen Dimension der Klassenbildung gemachten Aussagen zu ermöglichen. Die kurze Skizze der lokalen Industrialisierungsgeschichte wird dann im dritten Kapitel durch die möglichst präzise Schilderung der Lage und Entwicklung der wichtigsten Handwerkszweige im Untersuchungszeitraum vertieft. Das vierte das Wanderungsverhalten behandelnde Kapitel muß noch einmal über die im Zentrum stehenden Handwerker und Arbeiter hinausgreifen, da zur Einordnung der Ergebnisse keine vergleichbaren Untersuchungen für andere Berufsgruppen vorliegen. Die geographische leitet dann über zur beruflichen Mobilität. Nach der Behandlung von Familie und Wohnungssituation beendet ein Kapitel zur residentiellen Segregation und Mobilität den Reigen der mit Mobilität befaßten Kapitel. Die zwei dann folgenden Kapitel behandeln die politische Dimension des Klassenbildungsprozesses. Das achte Handwerker und Arbeiter in der Revolution von 1848/ 49 betrachtende Kapitel greift gelegentlich auf die vormärzliche Zeit zurück, während das neunte die Folgezeit bis zum Sozialistengesetz abdeckt. Ein kurzes Resümee am Ende dieser Arbeit versucht thesenartig, die Einzelergebnisse mit Hinblick auf die Herausbildung von Kleinbürgertum und Proletariat zusammenzuziehen.

21

KAPITEL II

Wirtschaft und Bevölkerung Düsseldorfs 1800-1880

i.

Wirtschaft und Gesellschaft

Düsseldorfs

im neunzehnten

Jahrhundert

Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Düsseldorfs im neunzehnten Jahrhundert ist weitestgehend unerforscht. In den Stadtgeschichten von Lau/ Most und Weidenhaupt spielen Wirtschaft und Gesellschaft nur eine untergeordnete Rolle. 1 Zu wirtschaftsgeschichtlichen Einzelthemen gibt es einige ältere Dissertationen sowie firmengeschichtliche Studien. 2 Unlängst hat Friedrich-Wilhelm Henning eine umfassende Wirtschaftsgeschichte Düsseldorfs vorgelegt, die diese älteren Arbeiten - zuweilen ein wenig unkritisch und zahlreiche weitergehende Quellen aufarbeitet und insgesamt als zuverlässig bezeichnet werden kann. 3 Eine stadtgeschichtliche Studie, die der Sozialgeschichte zugeordnet werden könnte, ist mir dagegen nicht bekannt. Vor allem fur das späte achtzehnte und das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ist auch die Quellenlage sehr dürftig. So muß für diese Zeit oft auf Reiseberichte zurückgegriffen werden. 4 Reisende, die »das nette, reinliche und wohlhabende Düsseldorf mit den schönen massiven Häusern, geraden und hellen Straßen, thätigen und wohlgekleideten Einwohner« gegen Ende des achtzehntenjahrhunderts besuchten, waren sich über die Ursachen der »Wohlhabenheit der Einwohner« der von ihnen besuchten Stadt - oft mit Köln verglichen - einig. 5 So kommentiert Christian Friedrich Meyer den Bau der Carlstadt mit den Worten: »Indessen nicht die Industrie derselben auf Fabriken und Gewerbe, sondern vielmehr der Zusammenfluß von Menschen aus mehreren Provinzen dieses Landes um ihr Vermögen hierselbst zu verbrauchen, soll diese veranlaßt haben.« 6 Die hier schon anklingende Vorliebe zahlreicher Rentiers für die Gartenstadt Düsseldorf mit ihren Grünanlagen und der viel gerühmten Gemäldegalerie hat, wie wir noch sehen werden, eine beträchtliche Kontinuität. Einen weiteren nicht-gewerblichen Schwerpunkt der städtischen Wirtschaft benennt ein anonymer Autor 1794: »Die Menge von Geheimen-Hof- und Regierungsräthen mit Kanzleiverwandten, Advokaten, Prokuratoren, Notarien, Schreibern und andern dazu gehörigen Personen, die alle ihren Gehalt hier verzehren, verschaffe der Stadt ohnstreitig eben so viel Nahrung, als das Militair.« 7 Die aus dem Residenzcharakter der Stadt sich ergebenden Einflüsse auf die städtische Wirtschaft sind ebensowenig konstant wie die Anziehungskraft der Kunst22

akademie, prägen aber Düsseldorf bis in die zweitejahrhunderthälfte hinein. Ihren Tiefpunkt erreicht die Bedeutung Düsseldorfs wohl in den Jahren nach 1815, in denen die administrativen Funktionen stark eingeschränkt sind. 8 An dem Zuschnitt der Stadt ändert das wenig. Noch gegen Ende der 1840er Jahre hat sie für einen englischen Besucher »more the appearance of a small German capital than any town on the Rhine. [...] Düsseldorf is an exceedingly pleasant residence. « 9 Doch zu dieser Zeit findet auch die gewerbliche Wirtschaft Düsseldorfs bereits Beachtung. Hatte 1809 Phillip Andreas Nemnich in seiner nüchternen Bestandsaufnahme lediglich eine Tabakfabrik, eine Lohnfarberei und zwei Kattundruckereien, die außerhalb der eigentlichen Stadt liegen, verzeichnet, hat sich das Bild zur Jahrhundertmitte hin beträchtlich verändert. 1 0 Thomas Banfield sieht bereits die sich aus der günstigen Lage der Stadt ergebenden Standortvorteile. Die vorgesehene Eisenbahnverbindung nach Aachen kommentiert er: »This will place Düsseldorf in its true position as an important station on the right bank. It has already gained considerably by the railway to Elberfeld....« 1 1 Etwa um die selbe Zeit beschreibt der Regierungsrat Quentin Düsseldorf als eine Stadt, »welche [ . . . ] seit etwa 10 Jahren ein Fabrikort zu werden begonnen habe«. 12 Die hier angedeuteten Entwicklungen sollen in den folgenden drei Abschnitten etwas eingehender betrachtet werden, ohne daß hier eine hinreichende Darstellung der Industrialisierung und Urbanisierung Düsseldorfs geleistet werden könnte.

2. Zwei Phasen der

Industrialisierung

Für die Zwecke unserer Untersuchung mag die Beschäftigung mit zwei Phasen der lokalen Industrialisierung ausreichen. Die eine ist von den 1830er Jahren bis etwa 1860 zu datieren und erlebt eine erste deutliche Expansion des gewerblichen Sektors vor allem im Textilbereich. 13 Ab etwa 1860 setzt dann die rapide Ausweitung der Metallverarbeitung ein. Diese zweite Phase reicht weit über den Zeitraum dieser Untersuchung hinaus und ist von den Großunternehmen der Poensgens und Piedboeufs geprägt. Schon 1834 bringt Düsseldorf mit 11000 Talern Gewerbesteuern mehr als zwei Drittel der Elberfelder Steuersumme auf. 1 4 Diese Beobachtung relativiert die gängige Einschätzung Düsseldorfs vor der Jahrhundertmitte als »a sleepy provincial town without economic or administrative significance«. 15 Viebahns zeitgenössische Statistik und Topographie faßt anschaulich die gewerbliche Tätigkeit in Düsseldorf um die Mitte der 1830er Jahre zusammen: »Neuerdings hat es, durch Aufblühen der Kunstakademie und Gewerb e - 1 Kattundruckerei mit 200 Arb., mehrere Senf-, 5 Leder-, 8 Tabaks-, 2 Zucker-, 10 Liqueurfab. mit 40000 Thlr. Produkt, 3 Seifensiedereien, 11 Färbereien, 11 Buchdruckerpressen, 2 lithographische Anstalten, worunter die Arnzsche mit 120 Arbeitern, 1 Bleiweisfabrik, 1 Fabrik für gereinigtes 23

Oel, 1 Eisengießerei, 1 Haardamast-, 1 Wollstreichenfabrik mit 100, zusammen 1021 Arbeitern, mehrere Banquierhäuser mit 6 Mill. Thlr. Umschlag, bedeutende Speditionsgeschäfte - gewonnen.« 1 6 Außer den besonders hervorgehobenen erreicht allerdings keine »Fabrik« die Zahl von 100 Beschäftigten, die Mehrzahl ist vielmehr kleinbetrieblich zu nennen; es gibt auch »Fabriken« mit nur zwei Beschäftigten. 17 Unter den vielfältigen gewerblichen Unternehmungen expandieren vor allem die Textil- aber auch die Tabakfabriken. 18 Wenn Henning £ur das Jahr 1861 »die im Gewerbe außerhalb des Handwerks Erwerbstätigen für die Stadt selbst auf mehr als 40 v. H., vielleicht sogar auf fast 50 v. H. « veranschlagt, so überschätzt er wohl den Anteil der Industrie. 19 Die in den Berichten der Handelskammer für 1834 und 1860 angegebenen Zahlen von 1021 bzw. »gegen 3000« lassen zwar ein deutliches Anwachsen erkennen, liegen aber dennoch auch 1860/61 noch unter der Zahl der handwerklich Tätigen. 20 Eine Aufstellung der »gewerblichen Etablissements« aus der Mitte der 1860er Jahre zeigt neben dem Vordringen der Metallverarbeitung eine enorme Diversifizierung der gewerblichen Aktivitäten. Der Autor meint, »daß Düsseldorfs Industrie ziemlich beträchtlich ist, obgleich die Stadt vorzugsweise den Charakter einer Künstler- und Beamtenstadt trägt«. 2 1 Hatte schon die Textilfabrikation ihren Schwerpunkt in den Außengemeinden (vor allem Pempelfort und Derendorf) gehabt, so konzentrierte sich die seit den 1850er Jahren schnell an Bedeutung gewinnende Metallverarbeitung in Bilk und Oberbilk. 2 2 Entscheidend für die Entwicklung der Düsseldorfer Wirtschaft dürfte die Verbesserung der Verkehrsverbindungen zum bergischen Hinterland und vor allem die günstige Lage zum Ruhrgebiet gewesen sein. 23 1875 beschäftigen Metallindustrie und Maschinenbau schon fast 4500 Menschen. 2 4 Während mit dieser Expansion der Eisenindustrie kurzfristig auch eine Zunahme des Anteils der im sekundären Sektor Beschäftigten einhergeht, ist auf Dauer der tertiäre Bereich wachstumsträchtiger. 2S Düsseldorf wird nach 1860 nicht nur zu einer von der Eisenindustrie geprägten Stadt sondern auch zu einer Stadt der Verbände, von denen der Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen Rheinlands und Westfalens (»Langnamverein«) nur der bekannteste ist. 2 6 Der Schwerpunkt dieser Entwicklung liegt aber nach 1880.

3. Bevölkerungswachstum

und

Stadtentwicklung

Untrennbar verknüpft mit der wirtschaftlichen Expansion ist die starke Zunahme der Bevölkerung Düsseldorfs im neunzehnten Jahrhundert. Wird die Bevölkerung der Stadt um 1800 noch mit 16000 angegeben, überschreitet Düsseldorf schon 1882 mit mehr als 100000 Einwohnern die Grenze zur Großstadt. 2 7 Die Rekonstruktion des genauen Wachstumsverlaufs scheitert 24

an der Unzuverlässigkeit der Überlieferung. Zwar geben die weiter unten herangezogenen Bevölkerungslisten seit 1817 auch die jährliche Zahl der Einwohner an, doch handelt es sich hier bestenfalls um Annäherungen. Aus der Vorjahreszahl, dem Geburtenüberschuß und dem Wanderungsgewinn wird die neue Einwohnerzahl berechnet. Weder Geburten noch Todesfälle, weder Z u - noch Abwanderungen werden vollständig erfaßt und diese U n genauigkeiten beeinträchtigen die Zuverlässigkeit der Einwohnerzahlen. 2 8 Ein weiteres über diese und andere bekannte Ungenauigkeiten statistischer Aufnahmen aus dem neunzehnten Jahrhundert hinausgehendes methodisches Problem besteht in der Abgrenzung der eigentlichen Stadt gegenüber dem »platten Land«. 29 Vergleicht man die Einwohnerzahlen von 1801 mit denen von 1858, so ergibt sich für die Gesamtbürgermeisterei ein Zuwachs von 140%, für die Stadt selbst von 128% und für die Außengemeinden von 160% (vgl. Tabelle 1 im Anhang und Figur l). 3 0 Die Betrachtung der Einwohnerentwicklung der einzelnen Außengemeinden zeigt deutlich, daß dieser überproportionale Zuwachs fast ausschließlich von den in den Industrialisierungsprozeß einbezogenen Außengemeinden, wie Pempelfort, Bilk, Derendorf, Oberbilk und Flingern getragen wird, während die überwiegend landwirtschaftlich geprägten Bezirke, wie Hamm, Flehe, Volmerswerth etc. stagnieren. 31 Wenn Henning zu der entgegengesetzten Schlußfolgerung kommt, daß nämlich Düsseldorf »aufgrund der zugeordneten Dörfer langsamer« wächst, dann nur deshalb, weil er übersieht, daß nach der Stadterweiterung von 1854 die zahlenmäßig stärkste Außengemeinde, nämlich Pempelfort, sowie die Carlstadt, vormals der größere Teil von Bilk, zur Stadt gezählt werden. 3 2 Vergleicht man die Einwohnerentwicklung der Gesamtbürgermeisterei mit der der Stadt nach der Erweiterung so verlaufen diese zunächst weitestgehend synchron. Auf Dauer sind es jedoch wieder einige der außerhalb der eigentlichen Stadt liegenden Bezirke, die fur das starke Bevölkerungswachstum Düsseldorfs verantwortlich sind. 33 Die graphische Umsetzung der in Tabelle 1 aufgelisteten Zahlen läßt nicht nur das relativ langsamere Wachstum des eigentlichen Stadtkerns erkennen, sondern verdeutlicht auch die Chronologie des Bevölkerungszuwachses. Nach einer ersten leichten Beschleunigung des Bevölkerungszuwachses gegen Ende der 1820er Jahre beginnt um 1840 eine Phase raschen Wachstums. Seit etwa 1860 ist dieser Prozeß noch einmal deutlich beschleunigt, so daß sich die Einwohnerzahl Düsseldorfs in wenig mehr als zwanzig Jahren verdoppelt. Der jeweilige Anteil der beiden Komponenten dieses raschen Bevölkerungszuwachses - Geburtenüberschuß und Wanderungsgewinn - soll im nächsten Abschnitt untersucht werden.

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26

4. Komponenten des Bevölkerungswachstums Zunächst muß erneut betont werden, daß die Genauigkeit der im folgenden herangezogenen Zahlen nicht überschätzt werden sollte. Zwar ist die Quellenlage für Düsseldorfer besonders günstig, da ab 1817 einigermaßen lükkenlose Wanderungsstatistiken existieren, doch sind zwei Fehler wahrscheinlich. 34 Zum einen dürfte die Zahl der Abwandernden oft ungenau erfaßt worden sein, zum anderen läßt es ein diesbezüglicher Hinweis im behördlichen Schriftverkehr möglich erscheinen, daß bis gegen Ende der 1830er Jahre die Totgeborenen zwar bei den Sterbefällen, nicht aber bei den Geburten mitgezählt worden sind. 35 Beide Fehler, zu denen andere Ungenauigkeiten kommen dürften, führen zu einer leichten Überschätzung des Anteils des Wanderungsgewinns am Bevölkerungswachstum gegenüber dem Geburtenüberschuß. Aufgrund solcher Ungenauigkeiten sind die in Tabelle 2 (im Anhang) angegebenen Zahlen auch nicht immer in sich konsistent, d. h. aus der Einwohnerzahl, dem Geburtenüberschuß und dem Wanderungsgewinn läßt sich nicht immer die genaue Einwohnerzahl des Folgejahres errechnen. Dennoch scheint mir die Einbeziehung dieser Aufstellung wichtig, zumal auch neuere stadtgeschichtliche Arbeiten zum 19. Jahrhundert demographische Aspekte nur selten eingehender betrachten. 36 Zunächst einmal fällt die große Kontinuität im Verhältnis von Geburtenüberschuß und Wanderungsgewinn auf. Wenn Henning das seit den 1860er Jahren enorm beschleunigte Bevölkerungswachstum darauf zurückführt, »daß inzwischen der Geburtenüberschuß regelmäßig vom Wanderungsüberschuß übertroffen wurde«, so deutet er bestenfalls einen langfristigen Trend an, der erst nach 1880 durchschlägt und auch dann nicht durch »Regelmäßigkeit« gekennzeichnet ist. 3 7 Vor allem darfauch nicht übersehen werden, daß in der ersten Jahrhunderthälfte - betrachtet man die fünfjährigen Summierungen - der Wanderungsgewinn den Geburtenüberschuß häufiger übertrifft als umgekehrt. Zusammenfassend kann man festhalten, daß im Untersuchungszeitraum Geburtenüberschuß und Wanderungsgewinn recht gleichgewichtig zum Bevölkerungswachstum Düsseldorfs beitragen. Dabei ist der Anteil des Geburtenüberschusses weniger starken Schwankungen ausgesetzt, obgleich auch hier konjunkturelle Einflüsse deutlich werden. Daß die Gleichgewichtigkeit der beiden Wachstumskomponenten bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes Bestand hat, liegt — wie wir noch sehen werden - nicht zuletzt an der in den 1870er Jahren deutlich gestiegenen Gebürtigkeit. Vergleicht man die Ergebnisse für Düsseldorf mit zwei Städten in etwa vergleichbarer Größe, so fällt Düsseldorf zwischen Augsburg und Barmen. Während in Barmen von 1816 bis zur Jahrhundertmitte der Geburtenüberschuß in allen Jahrfunften den Wanderungsgewinn übertrifft, dauert es in Augsburg bis in die 1850er Jahre ehe die Zahl der Geborenen überhaupt einmal die der Verstorbenen erreicht. 38 Diesen Unterschieden soll im fol27

genden, Gebürtigkeit und Sterblichkeit behandelnden, Abschnitt nachgegangen werden.

5. Gebürtigkeit

und

Sterblichkeit

Ein Vergleich der Zahlen der Geburten und Todesfälle je 1000 Einwohner (vgl. Tabelle 3 im Anhang) klärt die Sonderstellung Augsburgs in Bezug auf die Komponenten des Bevölkerungswachstums schnell auf. Durchweg ist die Sterblichkeit höher als in Düsseldorf, Barmen und der Rheinprovinz insgesamt. I. Fischer führt Wohnverhältnisse und Frauenarbeit als Gründe für diese außergewöhnliche (Kinder-) Sterblichkeit an, übersieht aber, daß die durchweg negativen Geburtenüberschüsse auch auf die niedrige Gebürtigkeit zurückzuführen sind. 39 Zumindest bis zur Jahrhundertmitte sind die Unterschiede in der Zahl der Geborenen je 1000 Einwohner zu Barmen und Düsseldorf größer als in der der Todesfälle. Die Verringerung dieser Differenzen seit den späten 1860er Jahren unterstreicht eindrucksvoll die Bedeutung von Niederlassungs- und Ehebeschränkungen, deren Wegfall zu einem sprunghaften Anstieg der Verheiratetenquote von 21,1 (1867) auf 31,4% (1871) führt. 4 0 Weit näher zusammen liegen die drei rheinischen Zahlenreihen. Dennoch sind auch die hier zu beobachtenden Differenzen zwischen den rheinischen Werten, die sowohl bezüglich der Gebürtigkeit als auch der Sterblichkeit niedriger als die gesamtpreußischen Zahlen sind, instruktiv. 4 1 Betrachtet man zunächst die Zahlen der Geborenen je 1000 Einwohner, deren Schwankungen von Jahr zu Jahr in den fünfjährigen Durchschnitten nicht mehr sichtbar werden, so liegen die Zahlen für Düsseldorf und die Rheinprovinz insgesamt jeweils recht nahe zusammen, die für Barmen zumeist deutlich höher. Erst die auch in Düsseldorf spürbare Zunahme der Geburten je 1000 Einwohner in den 1870er Jahren führt die beiden städtischen Zahlenreihen näher aneinander heran, während die Gebürtigkeit in der Gesamtprovinz zurückbleibt. Der höheren Gebürtigkeit der Stadt Barmen gegenüber Düsseldorf und der Rheinprovinz insgesamt entspricht - zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte - eine höhere Sterblichkeit. Man wird hierin mit Köllmann eine direkte Folge der höheren Gebürtigkeit, die eine höhere Zahl von Totgeborenen nach sich zieht, sehen dürfen. 4 2 Gleichermaßen läßt sich das in allen drei Zahlenreihen sichtbar werdende Ansteigen der Sterblichkeit seit den 1860er Jahren zur gestiegenen Gebürtigkeit in Bezug setzen. Interessanter als die bloße Beschreibung der wichtigsten Entwicklungslinien und Unterschiede ist sicherlich die Frage nach möglichen Gründen. Einen Hinweis, warum die Geborenenziffer in Barmen bis zu den 1860er Jahren deutlich über den Düsseldorfer Vergleichszahlen liegt, gibt der Altersaufbau der Bevölkerung. So beträgt der Anteil der Kinder unter fünfzehn Jahren in Düsseldorf 1832 nur »etwas mehr als 20 v. H. «, während die 28

Vergleichszahlen für die anderen Städte des Regierungsbezirks zwischen dreißig und funfunddreißig Prozent liegen. 4 3 Ein möglicher G r u n d fur diese auffallende Diskrepanz könnte in der schon in den Reiseberichten anklingenden besonderen Attraktivität Düsseldorfs für Rentner, Maler etc. liegen. Diese wandern auch in fortgeschrittenem Alter zu, während gemeinhin die Z u w a n d e r u n g zu einer Verjüngung der städtischen Gesellschaft und damit indirekt zu einer höheren Geborenenziffer fuhrt. 4 4 Z u Beginn der 1860er Jahre ist der Unterschied im Anteil der unter fünfzehn Jahre alten Kinder spürbar geringer, die Vergleichszahlen für Düsseldorf und Barmen sind 30,4 und 3 5 , 5 % . 4 5 U m g e k e h r t liegt der Anteil der über sechzig Jahre Alten in Düsseldorf mit 6,1% noch recht deutlich über dem Barmener Wert (4,5%). 4 6 Es ist naheliegend, in der Angleichung, die ja auch in der Geborenenziffer zu beobachten ist, den Einfluß der in Düsseldorf nun verstärkt einsetzenden Industrialisierung zu vermuten, in deren Verlauf die Bedeutung von Rentnern etc. für die Düsseldorfer Gesellschaft zurückgeht. D e r artige Spekulationen sind k a u m hinreichend zu belegen, erfahren aber eine gewisse Bestätigung durch die i m folgenden Abschnitt duchgeführte Analyse der Sozialstruktur.

6. Zur Sozialstruktur

Düsseldorfs

Der in den vorhergehenden Abschnitten schon angedeutete Wandel Düsseldorfs i m neunzehnten Jahrhundert von der Residenz- zur Industriegroßstadt geht mit einschneidenden Veränderungen der Sozialstruktur einher. Diesen im einzelnen nachzugehen, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Stattdessen soll anhand einer Quelle aus der Zeit der Jahrhundertmitte eine detaillierte M o m e n t a u f n a h m e versucht werden, deren Aussagekraft dadurch erhöht wird, daß die generelle Richtung des Strukturwandels klar ist. Nicht zuletzt erlaubt das hier benutzte Verzeichnis der Communal-Einkommensteuer-Anschläge der Sammtgemeinde Düsseldorf für das Jahr Í848 eine weit präzisere Verortung der in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden H a n d werker als die häufig benutzten Berufszählungen. 4 7 Das angesprochene Verzeichnis listet etwa 3700 Düsseldorfer, darunter etwas weniger als 500 Frauen, mit Beruf und E i n k o m m e n auf. 4 8 Damit enthält es weniger als zehn Prozent der Düsseldorfer Bevölkerung. Aussagekräftiger ist vielleicht der Vergleich der Zahl der veranschlagten Männer mit einer groben Schätzung der Zahl der männlichen Erwerbsfähigen - die genauere Berechnung von Arbeitskräftepotentialen scheint für unsere Z w e c k e verzichtbar. "'Ausgehend von den weiter oben herangezogenen Daten z u m Altersaufbau der Bevölkerung wird man den Anteil der männlichen Erwerbsfähigen auf etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, d. h. auf ca. 13000 schätzen können. Von diesen wird nur ein Viertel überhaupt zur C o m m u n a l - E i n k o m m e n s t e u e r veranschlagt. Interpretiert man also die in 29

30

Figur 2 veranschaulichte Einkommensverteilung als Ausdruck sozialer U n gleichheit, so ist zu bedenken, daß nur das obere Viertel der Einkommenspyramide erfaßt ist. Die zeitgenössische Diskussion u m die Einkommensteuer bietet wohl die zuverlässigste Einschätzung der veranschlagten Einkommen. Es besteht ein recht breiter Konsens, daß Einkommen unter 200 Taler imjahr nicht besteuert werden sollten. 5 0 Eine entsprechende Steuerbefreiung für Kleinsteinkommen von 100 und 150 Talern im Jahr hätte allerdings die Zahl der Veranschlagten noch einmal u m fast die Hälfte reduziert. 5 1 Selbst die Ausklammerung dieser Kleinsteinkommen würde zu keiner stärkeren Annäherung der Verteilungskurve an die eine »gleiche« Verteilung ausdrückende Gerade führen. Schließlich verfügen elf Prozent der Veranschlagten über mehr als vierzig Prozent des Einkommens. 5 2 Der in der Verteilung der Einkommen der männlichen Veranschlagten (Figur 2) deutlich werdende Eindruck ausgeprägter sozialer Ungleichheit wird durch die Einbeziehung der weiblichen Veranschlagten und durch eine Aufschlüsselung der Einkommen nach Einzelgemeinden (Tabelle 4 im Anhang) noch verstärkt. Zeigt sich doch, daß nicht nur der Anteil der überhaupt zur Einkommensteuer Veranschlagten in den innerstädtischen Bezirken (Düsseldorf, Neustadt, Pempelfort) deutlich höher als in den Außengemeinden (Stoffeln ausgenommen) liegt, sondern auch die höchste Einkommensgruppe über 500 Taler pro Jahr hier am stärksten besetzt ist. In dieser Hinsicht besonders auffällig ist die Gemeinde Pempelfort, bevorzugtes Wohnviertel zahlreicher Rentner und Rentnerinnen, deren Einkommen in Tabelle 4 mitberücksichtigt sind. Deutlich von den innerstädtischen Bezirken abgesetzt sind die agrarischen Außengemeinden (Golzheim, Mörsenbroich, Lierenfeld, Stoffeln, Flehe, Volmerswerth und Hamm). Der Anteil der zur Einkommensteuer Veranschlagten liegt hier deutlich niedriger und diese fallen ganz überwiegend in die Gruppe der Kleineinkommen bis 200 Taler. Der Befund für die in den Industrialisierungsprozeß einbezogenen Außengemeinden (Derendorf, Flingern, Grafenberg und Oberbilk), die noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt sind, ist weniger eindeutig, wie auch für Bilk, wo bevorzugte Wohnviertel (die Carlstadt) mit landwirtschaftlich genutzten Flächen vermischt sind. Die Sonderstellung der eigentlich städtischen Bezirke ist jedenfalls überdeutlich. Deshalb beschränkt sich auch die folgende Analyse der Einkommensverteilung der wichtigsten Berufsgruppen (vgl. Tabelle 5) auf Düsseldorf, Neustadt und Pempelfort. Die für die Untersuchung gewählte Aufstellung nach Berufsgruppen bedarf der Begründung, wie die Einzelkategorien der Erläuterung. Wenn auf die gängige Einordnung der Berufsgruppen in ein Schichtungsmodell verzichtet wurde, dann zum einen, weil ein solches keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprach, vor allem aber, weil es die Aussagekraft bloßer Berufsbezeichnungen überstrapaziert hätte. 5 3 So sagt eine handwerkliche Berufsbezeichnung noch nichts über die Selbständigkeit des Handwer31

kers aus, ja selbst die Bezeichnung »Meister« kann - wie wir sehen w e r d e n nicht als Beleg für reale Selbständigkeit interpretiert werden. Weitere Beispiele für Zuordnungsprobleme ließen sich fast endlos auflisten. Anstatt in solchen Fällen willkürlich oder auch »nach dem persönlichen Vorwissen des Autors« zu entscheiden, sollte man lieber näher an der in der Quelle benutzten Bezeichnung bleiben und Zuordnungen dokumentieren. 5 4 Zunächst ist auffallend, daß über ein Sechstel der in den städtischen Bezirken besteuerten Einkommen Renteneinkommen sind. Da hier die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Veranschlagten recht groß sind, wurden Rentner und Rentnerinnen getrennt ausgewiesen, während die übrigen 159 Einkommen, die Witwen, (Ehe-) Frauen, Geschwistern oder auch Erbengemeinschaften zugeordnet sind, zumeist aus der Fortführung eines Handwerks-, Kleinhandels-, Gastronomie- oder Gärtnereibetriebes resultieren. Während bei den Rentnern der Median (der in der Mitte der Verteilung liegende Zentralwert) in das Einkommensintervall von 200 bis 500 Taler fällt, liegt er bei den Rentnerinnen zwischen 100 und 200 Talern. 55 Die Gruppe der Kaufleute ist so heterogen wie die Berufsbezeichnung uneindeutig ist. Dennoch macht das Zusammenfallen von Median (in der Tabelle jeweils durch Unterstreichung hervorgehoben) und maximaler Häufigkeit (in der Tabelle durch ein * gekennzeichnet) im Einkommensintervall von 500 bis 1000 Taler die Wohlhabenheit dieser Gruppe deutlich. Deren wohlhabendsten Vertretern ließen sich die wenigen Bankiers zurechnen. Zu den äußerst problematischen Berufsbezeichnungen gehört auch der Begriff des Fabrikanten. Die hier aufgeführten Liqueur-, Strohhut- oder Regenschirmfabrikanten entsprechen kaum gängigen Vorstellungen von Industrieunternehmern und unterscheiden sich nicht von größeren Handwerksmeistern. Trotzdem reflektiert die zahlenmäßige Schwäche des industriellen Bürgertums den Stand um die Jahrhundertmitte in etwa angemessen, denn die wenigen großbetrieblichen (Textil-)Fabrikanten finden sich in dieser Rubrik und nicht, wie Zunkel für die Rheinprovinz ganz allgemein konstatiert, bei den Kaufleuten. 56 Stärker vertreten sind die beiden letzten zum Bürgertum zu zählenden Berufsgruppen. Die höheren Beamten, die zahlreichen geheimen und nicht so geheimen Räte, weisen den höchsten Prozentsatz an auf über 2500 Taler veranschlagten Einkommen auf. Wie bei den Kaufleuten so liegt auch hier der Median zwischen 500 und 1000 Talern jährlichen Einkommens. Daß die Freiberufler auch in der untersten Einkommenskategorie recht stark vertreten sind, liegt nicht zuletzt an der Einbeziehung der zahlreichen Düsseldorf bevölkernden Maler, die nur zu einem geringen Teil höhere Einkommen aufweisen. Am anderen Ende des freiberuflichen Spektrums finden sich die gut verdienenden Apotheker, Advokat-Anwälte und einige Ärzte. Versuchte man, eine Linie zwischen Bürger- und Kleinbürgertum zu ziehen, müßte sie wohl mitten durch die Kategorie der Fachhändler laufen. Hier finden sich Kohlen-, Wein-, Mode- und ungezählte andere Händler en 32

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optimistische< Sicht verstellt jedoch den Blick auf die E r f a h r u n g der von den Strukturwandlungen Betroffenen. Betrachtet man aber die Lage der H a n d w e r k e r unter d e m Blickwinkel der Herausbildung von Arbeiterklasse und - b e w e g u n g , so ist gerade diese E r f a h r u n g von zentraler Bedeutung, insbesondere w e n n es u m die Erforschung der Z u s a m menhänge von ökonomisch-sozialer und politisch-ideologischer Konstituierung v o n Proletariat und Kleinbürgertum geht. In diesem Kapitel soll zunächst die wirtschaftliche Lage und Entwicklung des Düsseldorfer H a n d w e r k s von 1816 bis 1880 möglichst präzise umrissen werden. N a c h einem Überblick über die Entwicklung des Gesamthand36

werks sollen ausgewählte Gewerbe eingehender betrachtet werden. Neben den Bau- und Nahrungsmittelhandwerken stehen dabei vor allem die Massenhandwerke der Schreiner, Schuhmacher und Schneider im Vordergrund. 6 Bei der Analyse der wirtschaftlichen Lage der Düsseldorfer Handwerke kann man sich weder mit der bereits angeführten Wirtschaftsgeschichte von Henning noch mit einer älteren dem Düsseldorfer Handwerk gewidmeten Dissertation begnügen. 7 Beide Arbeiten lassen die wichtigsten im folgenden benutzten Quellen außer Acht. Auch aus den zahlreichen zumeist von J.J. Spies verfaßten Jubel- und Festschriften einzelner Gewerbe und den Katalogen zu einigen vom Düsseldorfer Stadtmuseum veranstalteten Handwerksausstellungen kann man bestenfalls Einzelhinweise entnehmen. 8 Angesichts der oft recht kargen Quellen zur wirtschaftlichen Lage der Handwerker im 19. Jahrhundert, insbesondere des fast vollständigen Fehlens von Lohnangaben außerhalb des Baugewerbes, bieten die überlieferten Angaben zur Zahl der Beschäftigten einen wichtigen Zugang zur Handwerksgeschichte. 9 Die in der Regel unveröffentlichten Tabellen der dreijährigen Preußischen Gewerbezählungen von 1816 bis 1858 sind bisher nur selten benutzt worden. 1 0 Für Düsseldorf sind sie von 1822 an lückenlos erhalten und sollen, da die Mängel der frühen Gewerbestatistik den Verzicht auf eine vorsichtige Auswertung nicht rechtfertigen, zunächst zur Darstellung der Entwicklung des Gesamthandwerks verwandt werden. 1 1 Die U n tersuchung beschränkt sich dabei bis 1861 auf das eigentliche Stadtgebiet. Danach ist die Ausgrenzung der landwirtschaftlich geprägten Außengemeinden in der Statistik nicht mehr vorgenommen und wird im Zuge der Industrialisierung auch weniger eindeutig. Für die vorpreußische Zeit fehlen leider zuverlässige statistische Angaben. So müssen die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts hier ausgeblendet bleiben. 12

2. Die Entwicklung

des

Gesamthandwerks

Die in Tabelle 6 (im Anhang) und Figur 3 zusammengestellten Eckdaten zur Entwicklung des Düsseldorfer Handwerks umfassen nur die Zeit von 1822 bis 1861, da danach keine vergleichbaren Angaben vorliegen. Ein Vergleich der Handwerkertabelle von 1861 mit der Gewerbezählung von 1875 oder der Berufszählung von 1882 steht vor fast unüberwindbaren methodischen Hindernissen. 13 Der m. E. problematischen Gleichsetzung von Handwerksund Kleinbetrieb, die auf die Schwierigkeiten, >Handwerk< überhaupt zu definieren, verweist, ist der Rückzug auf Einzelhandwerke vorzuziehen, deren Beschäftigte auch in unterschiedlich angelegten statistischen Aufnahmen einigermaßen zuverlässig ausgemacht werden können. 1 4 Dieser Weg wird in den folgenden Abschnitten beschritten, so daß fragwürdige Hochrechnungen für das Gesamthandwerk verzichtbar erscheinen. 37

Bei der Betrachtung der in Tabelle 6 und Figur 3 zusammengetragenen Daten ist zunächst zu beachten, daß kaum davon ausgegangen werden kann, daß die in die Spalte der Meister ohne Angabe der Gehülfen eingehenden Handwerke bis 1843 ohne Gesellen gearbeitet haben. 15 Das zahlenmäßig stärkste Gewerbe, das hier enthalten ist, ist das zwischen 1828 bis 1843 stets etwa 200 Meister zählende Anstreicherhandwerk. Geht man von der Konzentrationsquote - dem Quotienten aus der Zahl der Gesellen und Meisterdieses Handwerks für die Jahre 1846 bis 1861 (etwa 0,5) aus und nimmt diese auch für die frühe Zeit an, dann muß man die Zahl der Gesellen (und damit die der Beschäftigten überhaupt) um die Hälfte der Meister ohne Gehülfenangabe erhöhen. 16 Dem Anteil der Handwerker an der Bevölkerung müßte demzufolge von 1822 bis 1843 etwa ein Prozentpunkt zugeschlagen werden. Andererseits ist es möglich, daß die Zahlen für die 1820er Jahre überhöht sind, da zumindest aus der Tabelle für 1825 klar ersichtlich ist, daß die Außengemeinden Bilk, Pempelfort und Derendorf zum Stadtbezirk gezählt wurden. Vor allem die frühen Angaben sind also bestenfalls zu Trendaussagen zu gebrauchen. Eins macht die dichte Zahlenreihe für Düsseldorf jedoch ganz deutlich: Selbst wenn diejahre »irregulären Charakters« wie 1831 (Cholera) und 1849 ausgeklammert bleiben, so schwankt der Handwerkeranteil an der Bevölkerung zwischen 9 , 8 % (1834) und 16,3% (1852) doch ganz erheblich. 17 Wenn dagegen Bergmann für Berlin »von 1800 bis 1858 fast gleichbleibend einen Anteil von 11 bis 12% der Bevölkerung« angibt, dann wohl vor allem wegen der quellenbedingten Beschränktheit auf nur drei Stichjahre. 18 Der Beschäftigungsstand zu Beginn der 1820er Jahre ist recht hoch gemessen an der Folgezeit und bezogen auf die Bevölkerung. Vielleicht ist darin eine Folgeerscheinung des Preissturzes von 1819 bis 1824 zu sehen, der sich bei fast stabilen Löhnen in einer verstärkten Nachfrage äußern müßte. 1 9 Die im Verlauf der 1820er Jahre in Bezug auf die Bevölkerung leicht absinkenden Beschäftigtenzahlen erreichen dann 1831 ihren absoluten Tiefstand. Bis in die Mitte der 1840er Jahre folgt ein einigermaßen gleichförmiger Zuwachs, der das Bevölkerungswachstum nur unwesentlich übertrifft. Die Beschäftigtenzahlen explodieren geradezu von 1843 bis 1849 und bleiben bis etwa 1852 auf der erreichten Höhe, bevor sie bezogen auf die Bevölkerung auf das Niveau Mitte der 1840er Jahre zurückgehen. 20 Während die starke Expansion von 1843 bis 1849 überwiegend von einer Zunahme der Gesellenzahlen bestimmt ist, findet der Rückgang der Beschäftigtenzahl ab 1852 (auch in absoluten Zählen) bei sich kaum verändernden Meister-GesellenRelationen statt. Bevor versucht wird, die hier grob umrissene Entwicklung anhand der Betrachtung einzelner Handwerke zu präzisieren, sollen die kargen Informationen zu den Löhnen und Einkommen der Düsseldorfer Handwerker benutzt werden, um ihre wirtschaftliche Lage im Untersuchungszeitraum etwas greifbarer darzustellen.

38

Die Zahl der Meister und Gehülfen für 1822 nach H S A D , R D 2159; von 1825 bis 1852 nach StAD, II, 1295 übereinstimmend mit H S A D , LA 117 für 1828 bis 1849; von 1855 bis 1861 nach St A D , II, 1296, H S A D , R D 2169/2170 und H S A D , LA 118/119, für 1861 auch Statistik des Kreises.

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3. Löhne und Einkommen im Düsseldorfer Handwerk Wie schon angedeutet sind zuverlässige Informationen zu den Löhnen der Handwerksgesellen rar. Für Düsseldorf liegt neben vereinzelten Angaben lediglich eine Aufstellung aus dem Jahr 1819 vor. Eine solche vereinzelte Aufstellung erlaubt natürlich keine Aussagen zur Lohnentwicklung, noch soll versucht werden, durch den Vergleich mit Getreidepreisen etc. den »Lebensstandard« der Handwerksgesellen näher zu bestimmen. O h n e genaue Kenntnis der Zahl der jährlichen Arbeitstage, d . h . der Verbreitung saisonaler und temporärer Arbeitslosigkeit, scheinen mir solche Versuche äußerst fragwürdig. Z u d e m - und dies scheint fur verheiratete Gesellen durchaus bedeutsam - macht der Gesellenlohn möglicherweise nur einen Teil des Familieneinkommens aus. Aufschluß verspricht die für Düsseldorf vorliegende »Nachweisung des bei den gangbarsten Gewerben im [.. . ] Stadtkreis Düsseldorf üblichen Tageslohns 1819« am ehesten bezüglich der Lohndifferenzen zwischen einzelnen Handwerkszweigen. 2 1 Einen Bezugspunkt gibt der übliche Tagelohn für einen männlichen Tagelöhner, der bei 12 Silbergroschen (Sgr.) liegt. Tapezierer, Böttcher, Töpfer und Schneider liegen noch unter diesem Tagelohn. Der niedrige Tagelohn von nur 10 Sgr. fur Schneidergesellen deutet daraufhin, daß die Misere dieses übersetzten Handwerkszweiges schon zu Beginn unseres Untersuchungszeitraumes ausgeprägt ist. Für die Schuhmacher liegt leider nur eine nicht vergleichbare Angabe vor: per Stück bezahlt k o m m e n sie »mit der halben Kost« im Durchschnitt auf 8 Sgr.. Auf einer Stufe mit den Tagelöhnern liegen die Glaser, Pumpenmacher, Schieferdecker, Schiffbauer und Blechschläger. Auch die Gesellen der Baugewerbe sind hier angesiedelt; ihre Löhne schwanken allerdings saisonal von 10 Sgr. im Winter bis 14 Sgr. im Sommer, die der Handlanger von 8 bis 10 Sgr.. Mehr als das ortsübliche Entgelt für einen Tagelöhner erzielen 1819 allein die Schmiede-, Schlosser-, Schreiner- und Wagnergesellen. Den höchsten Lohn bekommen schließlich die Färber und Zeugdrucker mit 19 Sgr., ohne daß festgestellt werden könnte, ob diese in den Textilfabriken oder noch bestehenden Handwerksbetrieben beschäftigt sind. N o c h ausgeprägter als im Baugewerbe sind schließlich die Unterschiede zwischen Gelernten und Ungelernten in der Zigarrenfabrikation. Während die in der Regel jugendlichen Sortierer und Handlanger sich mit 6 Sgr. bescheiden müssen, k o m m e n die Tabakschneider auf 15 Sgr. Neben den Lohndifferenzen zwischen einzelnen Handwerkszweigen dürfte die Nähe der Gesellenlöhne zum Entgelt der Tagelöhner der wichtigste Befund sein. O b die Gesellenlöhne in der Folgezeit, wie Saalfeld annimmt, schneller steigen als die der Ungelernten läßt sich an Düsseldorfer Quellen leider nicht überprüfen. 2 2 Stattdessen sollen noch einige sich aus der bereits zitierten »NachWeisung« ergebende Beobachtungen nachgetragen werden. Überraschend ist es sicherlich, daß nur für Drechsler, Blechschlä40

ger und Glaser neben dem angeführten Tagelohn noch eine Lohnangabe »mit Kost« gemacht wird. Selbstverständlich scheint das Kost- und Logiswesen um 1819 jedenfalls nicht mehr gewesen zu sein. Eine Ausnahme bilden die Bäcker und auch die Kupferschmiede, für die nur Löhne »mit der Kost« angegeben werden. 23 Bäcker »stehen nicht im Tagelohn sondern erhalten Sommer und Winter monatlich drei Thaler und Kost«. Die Kupferschmiede liegen mit jährlich 38 Talern noch ein wenig darüber. 24 Informationen zu den Einkommen der selbständigen Handwerker bietet erneut das Verzeichnis der Communal-Einkommensteuer-Anschläge. Differenzen zwischen den einzelnen Handwerkszweigen, denen in den folgenden Abschnitten nachgegangen wird, außer Acht lassend, fällt sofort auf, daß nur etwa die Hälfte der Meister zur Einkommensteuer veranschlagt wird. Ein Vergleich der in Tabelle 5 verzeichneten handwerklichen Einkommen mit der in Tabelle 6 angegebenen Meisterzahl für 1849 übertreibt dabei noch den Anteil der Veranschlagten, da die Einkommen auch die von 24 Witwen und die aller Pempelforter Handwerker umfassen. Werden also ohnehin nur weniger als 50% der Handwerker zur Einkommensteuer veranschlagt, so fallen von den Veranschlagten ca. 50% in die unterste Einkommensklasse. Drei Viertel der Veranschlagten haben Einkommen bis zu 200 Taler. Nur ein Viertel der Veranschlagten und damit weniger als ein Achtel aller Düsseldorfer Handwerksmeister liegt also in Einkommensbereichen, die nach zeitgenössischen Einschätzungen als auskömmlich bezeichnet werden können. 2 S Da die berufliche Zuordnung der Einkommen allein auf Grundlage des Verzeichnisses erfolgte, finden sich unter diesen wohlhabenderen Handwerkern einige, die auch bei den Fabrikanten oder Kaufleuten firmieren könnten, wie ein Eisenhändler, der sich als Schlosser bezeichnet. Typisch sind also für selbständige Handwerker in Düsseldorf um die Jahrhundertmitte Kleinund Kleinsteinkommen, vergleichbar denen vereinzelter Tagelöhner, denen der kleineren Beamten und der Sammelgruppe der >Arbeitermit offenem Laden< versehen sind, im Durchschnitt über dem Mittelsatz, zwei von ihnen zahlen immerhin zwölf Taler. Diesen Satz bringt auch eine neben zwei kleineren existierende Schuhhandlung auf. Die veränderte Steuerstruktur und die gegenüber 1840 um fast die Hälfte gestiegene Konzentrationsquote weisen auf eine zunehmende Polarisierung des Düsseldorfer Schuhmacherhandwerks in einige wenige Betriebe mittlerer Größe und zahlreiche Alleinmeister hin und legen die Vermutung der verlagsmäßigen Abhängigkeit einiger der letzteren nahe. 53 Konkret belegbar ist das Verlagssystem am Beispiel der »Schuh- und Stiefelhandlung im Hause des Lederfabrikanten Peter Scheurenberg«, die ihre »unter der Leitung des Schuhmachermeisters Fiedler selbstverfertigten Arbeiten zu [ . . . ] festen Preisen« anbietet, aber auch »nach genommenem Maaße arbeitet, und alle Reparaturen übernimmt und ausführt«. 5 4 Zwar gibt die wohl auf den Anfang des Jahres 1856 zu datierende Anzeige des im Adreßbuch von 1855 noch als Lederhändler und Gerber geführten Peter Scheurenberg keine Auskunft über den Umfang des Geschäfts, doch läßtdas Rabattangebot an Wiederverkäufer auf eine recht beachtliche Betriebsgröße schließen. 55 Die hier angesprochenen, im Kleinhandel anzusiedelnden Wiederverkäufer stehen an erster Stelle der Beschwerden der nach der Revolution von 1848/49 neu gegründeten Schuhmacher-Innung. 5 6 Nach der einer Eingabe an den Bürgermeister von 1853 beigefügten Aufstellung verkaufen in Düsseldorf 16 Trödler, drei Schuhhändler und zwölf Schuhmacher mit offenem Laden Schuhe. 57 Inwieweit »Schuhe und Stiefel theils handwerksmäßig im Großen [ . . . ] theils durchaus fabrikmäßig... gefertiget«, die nach Mülmann im Regierungsbezirk Düsseldorf »überall verkauft« wurden, in Konkurrenz zu den Produkten der Düsseldorfer Schuhmacher treten, ist schwer auszumachen. 58 Neben dem bereits angesprochenen Kleinhandel macht der weit verbreitete Handel mit Schuhen auf Jahrmärkten und der Hausierhandel, dessen Verbreitung die Handelskammer schon in ihrem ersten Bericht 1834 beklagt, eine solche Konkurrenz sehr wahrscheinlich. 59 Ganz offensichtlich stehen die Düsseldorfer Schuhmacher nach der Jahrhundertmitte unter verstärktem Konkurrenzdruck von Seiten des Handels. In die Produktion dringt der Handel dabei zunächst nur in Einzelfällen - wie dem des Lederhändlers Scheurenberg - ein. Dafür ist neben der Kapitalschwäche des Kleinhandels wohl auch die billigere Schuhproduktion durch 47

verlegte Landhandwerker verantwortlich. 6 0 Zudem bieten Flickschusterei, vorübergehende Aufgabe der Selbständigkeit und evtl. sogar der Hausierhandel dem bedrohten Schuhmachermeister Ausweichmöglichkeiten. Belegt sind diese Strategien in den Aussagen der auf Veranlassung der Innung vorgeladenen Schuhmacher, die, ohne Ablegung der Meisterprüfung selbständig gearbeitet zu haben, beschuldigt werden. »Seit dem Jahre 1840 besorge ich die kleinen Schuhflickereien für meine Familie, auch wohl arbeite ich in dieser Art für andere Leute«, sagt ζ. B. der 49jährigeJoseph Jaspers aus. Und der 52jährigeJohan Schäfer gibt zu Protokoll: »Seit etwa30 Jahren arbeite ich selbständig, mit einigen Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit, in welchem Falle ich bei andern Meistern als Geselle wohnte. « Von den 36 am 9. Dezember auf dem Rathause Verhörten berichtet jedoch nur einer, »in meiner Wohnung für verschiedene andere Meister gegen Rückzahlung« zu arbeiten. Immer wieder wird indessen das Nicht-Ablegen der Meisterprüfung mit Armut erklärt: » . . . indem ich weder Mittel besitze die Kosten zu bezahlen, noch das erforderliche Material aufzubringen«. 6 1 Wenn also einerseits eine beträchtliche Anzahl von Selbständigen die Gebühr von fünf Talern für die Meisterprüfung nicht bezahlen kann und andererseits ein »hiesiger Schuhmachermeister [ . . . ] fertige Waaren [ . . . ] für 710 Thaler« bezieht, wird deutlich, was Polarisierung für das Düsseldorfer Schuhmacherhandwerk um die Jahrhundertmitte bedeutet. 62 Die konstatierte Polarisierung des Schuhmacherhandwerks zeigt sich auch in der Einkommensverteilung. Während sich mehr als drei Viertel der zur Einkommensteuer veranschlagten Schuhmachermeister in der untersten Kategorie von 100 Talern befinden, versteuern einzelne Schuhmacher 400, 500, 600 oder sogar 700 Taler im Jahr. Die Zahl der Schuhmacher, deren Einkommen über 100 Talern liegt, deckt sich in etwa mit der Zahl der Gewerbesteuerpflichtigen, ohne daß man hieraus eine völlige personelle Übereinstimmung schließen könnte oder sollte. Wichtig ist es, über den Unterschieden in der Höhe der Gewerbe- und Einkommensteuerzahlungen nicht zu vergessen, daß nur eine kleine Gruppe von Schuhmachern hier anzutreffen ist. Zwar ist der Anteil der zur Einkommensteuer Veranschlagten mit über einem Drittel aller Schuhmachermeister deutlich höher als der Anteil der Gewerbesteuerpflichtigen, doch liegt die überwiegende Mehrheit der Veranschlagten am unteren Ende der Einkommenskala. Mehr als 90% aller Düsseldorfer Schuhmachermeister werden erst gar nicht zur Einkommensteuer oder nur auf 100 Taler im Jahr veranschlagt. 63 Diese Klein- und Alleinmeister, die die Masse der Düsseldorfer Schuhmacher um die Jahrhundertmitte ausmachen, leben ständig in unmittelbarer Nähe des Existenzminimums, nach den Schätzungen Saalfelds sogar darunter. 6 4 Ein Vierteljahrhundert später scheint die Gesamtstruktur des Schuhmacherhandwerks kaum verändert. Daß der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung 1875 unter 1% (0,82%) liegt, ist sicherlich auf die Einbeziehung der Außengemeinden zurückzuführen, die eine wesentlich 48

geringere Handwerkerdichte aufweisen. Diese Ausweitung des in die Gewerbezählung einbezogenen Raumes erklärt aber kaum den Rückgang der Konzentrationsquote auf das Niveau der 1830er und frühen 1840er Jahre (0,48). Das Vorherrschen des Alleinmeisters wird noch deutlicher in der Aufgliederung nach Betriebsgrößen. Von 425 Betrieben arbeiten 420 mit weniger als sechs Beschäftigten. Da diese 420 Betriebe nur 159 Gehülfen beschäftigen, gibt es mindestens 261 Alleinmeister. 65 Die Analyse der Gewerbesteuerzahlungen zeigt jedoch, daß die wirkliche Zahl der Alleinmeister noch wesentlich höher liegen muß. Man darf wohl annehmen, daß die fünf Betriebe, die mit mehr als fünf Beschäftigten arbeiten, insgesamt aber auch nur 49 Personen beschäftigen, alle zur Gewerbesteuer herangezogen werden. 6 6 So bleiben weitere 43 kleinbetriebliche Gewerbesteuerzahler, die mit mehr als einem Gehülfen arbeiten. Selbst wenn diese jeweils genau zwei Gehülfen beschäftigen, wofür nichts spricht, ergibt sich ein rechnerisches Minimum von 304 Alleinmeistern. 67 Zu den bestenfalls 25% der Düsseldorfer Schuhmachermeister, die nicht allein arbeiten, gehören die 48 Gewerbesteuerzahler, die 11,3% aller Meister stellen. Der Prozentsatz der Steuerpflichtigen gleicht 1875 also genau den Anteilen für 1858 und 1861. Gegenüber den fünfziger Jahren ist auch die Verteilung der Gewerbesteuersätze konstant: mehr als zwei Drittel der Steuerpflichtigen erreichen den Mittelsatz von 18 Mark nicht. Erneut sind zwei Schuhmacher, die 36 Mark aufbringen müssen, die Spitzenreiter ihres Gewerbes. 6 8 Für das dritte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zumindest verdient das Schuhmacherhandwerk mehr noch als die Nahrungsmittelhandwerke das Etikett stabil, doch handelt es sich hier um die Stabilität einer miserablen wirtschaftlichen Lage. Wenn es auch an dem Befund einer fortgesetzt äußerst schwierigen Lage der Schuhmacher nichts zu deuteln gibt, so ist der Eindruck großer Kontinuität in mancher Hinsicht irreführend. Zunächst hat der Handel 1875 noch an Gewicht gewonnen. Zwei Schuhwarenhandlungen zahlen immerhin je 72 Mark Gewerbesteuer und liegen damit deutlich über den Zahlungen der bestsituierten Schuhmacher. 69 1880 listet das Adreßbuch 26 Schuhwarenhandlungen, worunter sicher einige Schuhmacher mit offenem Laden sind. 70 Interessanter als die Veränderungen im Bereich des Absatzes sind jedoch arbeitsteilige Verfahren, deren Eingang in die Produktion leider nur indirekt erschlossen und im Umfang nicht präzise bestimmt werden kann. 7 1 So erzielen 1875 zwei Handlungen mit Schustermaterialien, ihren Gewerbesteuerzahlungen von je 48 Mark zufolge, recht beachtliche Umsätze. 7 2 1880 weist das Adreßbuch einen Schäftemacher aus und die Berufsbezeichnung des Leistenmachers taucht auf. 73 Die Einführung arbeitsteiliger Verfahren steht im Widerspruch zur oben konstatierten Dominanz der Alleinmeister. Die Abhängigkeit der letzteren von als Verleger fungierenden Händlern und Schuhmachern, die beispielhaft schon für die 1850er Jahre belegt werden konnte, löst diesen Widerspruch auf. Die Verbreitung des Verlagssystems läßt sich aber ebenso wenig genau bestimmen wie das Ausmaß des Vordrin49

gens der Nähmaschine seit den 1850erJahren und der Stepp- und Durchnähmaschinen seit den 1870er Jahren. 7 4 Daß die Einführung kleinerer Maschinen - 1880 gibt es in Düsseldorf 11 Nähmaschinenlager - angesichts der Kapitalschwäche verarmter Kleinhandwerker neue Ansatzpunkte zur Schaffung verlagsmäßiger Abhängigkeiten bietet, ist recht offensichtlich. 75

6.

Schneider

Angesichts der für die Bekleidungshandwerke ähnlichen Nachfragestruktur sollte man in bezug auf die Zahl der Beschäftigten bei den Schneidern eine zum Schuhmacherhandwerk in etwa parallel verlaufende Entwicklung erwarten. Die vorliegenden Zahlen bestätigen das weitestgehend. 76 Auch hier zeigt sich ein hoher Beschäftigungsstand zu Beginn der 1820er Jahre (ein Schneider auf 34 Einwohner), der jedoch schon von 1822 zu 1825 bei gleichzeitiger Halbierung der Konzentrationsquote rapide sinkt. Daß hier die Zahl der Meister trotz deutlich sinkender Gesamtbeschäftigtenzahl zunimmt, kann nur als Flucht arbeitsloser Gesellen in die Selbständigkeit interpretiert werden. Nach weiterem, wenn auch verlangsamten Sinken der Beschäftigtenzahl bis 1831 setzt dann eine Periode mäßigen Wachstums bis 1846 ein, ohne daß der Beschäftigungsstand der frühen 1820er Jahre schon wieder erreicht wäre. Im Falle des Schneiderhandwerks bleiben gleichwohl alle auf den Beschäftigtenzahlen aufbauenden Interpretationen problematisch, da bei diesen Zahlen die Einbeziehung weiblicher Meister und Gehülfen nicht klar ist. Die Erläuterungen zur Erstellung der Gewerbetabellen verlangen zwar ausdrücklich, die weiblichen Meister mitzuzählen, und Engel geht bei Schneidern und Putzmachern auch davon aus, daß die weiblichen Beschäftigten mitgezählt worden sind, doch scheint die Praxis uneinheitlich gewesen zu sein. 77 So deckt sich die Meisterzahl in der Gewerbetabelle für dasjahr 1855 mit der Zahl der männlichen Schneidermeister in dem von mir aus Adreßund Bürgerbüchern dieses Jahres erstellten Datensatz. Dagegen sind in den exorbitant hohen Zahlen der Jahre 1849 und 1852 wohl die weiblichen Beschäftigten mitenthalten. Nach Spies soll es 1853 in Düsseldorf 233 selbständige Schneidermeister gegeben haben, »die 130 Gesellen beschäftigten«. 78 Da diese Zahlen die Außengemeinden mit einschließen, die Zahlen für den Stadtbezirk somit noch niedriger sein dürften und die Reduzierung der Meisterzahl um mehr als ein Drittel binnen eines Jahres ausgeschlossen werden kann, ist für 1852 die Einbeziehung weiblicher Beschäftigter mehr als wahrscheinlich. 79 N i m m t man die oben angeführten Zahlen der männlichen Schneider für 1853 auch für das Vorjahr an, ohne Abzüge für die in den 1853er Zahlen enthaltenen Beschäftigten in den Außengemeinden zu machen, so wäre für 1852 von 145 weiblichen Selbständigen und fast 300 Gehülfinnen auszugehen. 80 50

Trotzdem finden sich ζ. B. im Adreßbuch von 1855 nur vereinzelt weibliche Schneider verzeichnet; nur in den Bürgerbüchern weisen Witwen und unverheiratete Töchter gelegentlich die Berufsangabe >Näherin< auf. Mit dieser Beobachtung kann keineswegs die sehr bedeutende Frauenarbeit im Schneiderhandwerk bestritten werden; sie deutet vielmehr daraufhin, daß diese Arbeit nicht als handwerkliche Berufstätigkeit anerkannt und angesehen wird, insbesondere, wenn es sich u m die Arbeit von Ehefrauen handelt. 8 1 Das ist angesichts der männlichen Welt des Handwerks nicht weiter überraschend. Daneben mag die Organisation der Fertigung für die Magazine über Zwischenmeister und Zwischenmeisterinnen für die fehlende Sichtbarkeit weiblicher Schneiderarbeit, die in sehr hohem Maße im Haushalt geleistet wird, mitverantwortlich sein. 8 2 Für die Jahre 1855 und 1858, aber auch schon für die 1840er Jahre ist also davon auszugehen, daß über die angegebenen Zahlen der Gewerbetabellen hinaus eine beträchtliche Zahl von Frauen im Schneiderhandwerk arbeitet. Für 1861 gibt die Tabelle 75 weibliche Meister (37% der männlichen) und 180 weibliche Gehülfen (105% der männlichen) an. 8 3 Kehrt man zu den widersprüchlichen Angaben über die Zahl der im Schneiderhandwerk 1852/1853 Beschäftigten zurück, so wird das Bild noch verwirrender, wenn man die im Verwaltungsbericht fur das Jahr 1851 angegebenen Zahlen mitheranzieht: dort werden 140 Meister und 305 Gesellen verzeichnet. 84 Mit konjunkturellen oder saisonalen Schwankungen lassen sich diese Diskrepanzen nicht erklären, zumal die entsprechenden Angaben fur das ganz ähnlichen Nachfragebedingungen unterworfene Schuhmacherhandwerk keine nennenswerten Variationen aufweisen. 8 S Geht man von einer in etwa konstanten Beschäftigungsstruktur für die Jahre 1851 bis 1853 aus, bieten sich folgende Annahmen als Erklärung der angeführten Unterschiede an: Die Angaben in der Gewerbetabelle von 1852 umfassen sämtliche in der Schneiderei tätigen Personen. Von den dort aufgelisteten 378 »Meister(n) oder auf eigene Rechnung arbeitende(n) Personen« sind etwa 230 männliche Schneidermeister, einige wenige sind auf eigene Rechnung arbeitende Gesellen, und etwa ein Drittel machen weibliche Selbständige aus. Von den 230 männlichen Meistern führen aber nur die 140 im Verwaltungsbericht erfaßten ihren Betrieb selbständig; die übrigen 90 dürften entweder als Werkführer bzw. als Zwischenmeister für Kleidermacher oder unselbständig für andere Meister tätig sein. Demzufolge müßten sie in der Zahl der 305 im Verwaltungsbericht verzeichneten (männlichen) Gesellen enthalten sein. Trotzdem bleibt eine Differenz zu den von den Meistern 1853 beschäftigten 130 Gesellen. Alles spricht dafür, daß diese ca. 100 Gesellen, wie auch die auf 200 zu schätzenden weiblichen Gehülfen überwiegend fur Kleidermagazine arbeiten. »Je mehr das Magazinsystem siegt, desto mehr findet die Beschäftigung weiblicher Hände in der Schneiderei statt. « 8 6 U m diese Spekulationen wenigstens plausibel zu machen, bedarf es sicher einer eingehenderen Analyse. Betrachtet man zunächst die Steuerstruktur, 51

so fällt auf, daß der Anteil der gewerbesteuerpflichtigen Meister 1840 mit 10,8% höher ist als injedem der folgendenjahre, für die der Satz zu ermitteln ist. Fast die Hälfte dieser steuerpflichtigen Schneidermeister zahlen 1840 genau den Mittelsatz von sechs Talern, ein weiteres Drittel liegt mit acht Talern nur unwesentlich darüber, und die übrigen zahlen weniger als den Mittelsatz. 15 Jahre später erreicht nur noch ein einziger Schneider den Gewerbesteuersatz von acht Talern, während nunmehr zwei Drittel der Gewerbesteuerpflichtigen unter dem Mittelsatz von sechs Talern liegen. Der nach 1855 weiter sinkende Prozentsatz der Meister, die überhaupt gewerbesteuerpflichtig sind, muß als weiteres Anzeichen für die fortgesetzte Verarmung dieses Handwerkszweiges gesehen werden. Die Gründe für diese Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Düsseldorfer Schneidermeister dürften in erster Linie in deren zunehmender Abhängigkeit vom Handel liegen. 1840 haben die drei bestehenden Kleidermagazine zusammen 32 Taler zu zahlen, 1855 beträgt das Gewerbesteueraufkommen der acht in Betrieb befindlichen Magazine schon 124 Taler. 87 Angesichts des weiterhin hohen Anteils der Schneider an der Bevölkerung scheint es wenig wahrscheinlich, daß diese schnell expandierenden Kleidermagazine in großem Umfang aus anderen Orten importierte Waren absetzen. Zusätzliche Konkurrenz erwächst den Schneidern von Seiten der Trödler und zwar genau von denen, die auch mit Schuhen handeln. 88 Erneut ist es der guten Zusammenarbeit zwischen Innung und Bürgermeister zu verdanken, daß ein näherer Einblick in die Arbeitsverhältnisse der Schneiderei möglich ist. Die Aussagen der »über ihre gesetzliche Qualifikation im Gewerbebetrieb« Vernommenen sind sehr aufschlußreich. Die Mehrheit der Unselbständigen arbeitet für Kleidermagazine, deren vielfältige Produktionsorganisation deutlich wird: » . . . ich stehe in Arbeit des Salomon Cahn hierselbst, seit etwa 13 Jahren. Die Kleidungsstücke werden von mir selbständig gefertigt, das Tuch nur wird von Cahn geliefert«, berichtet Johann Moritz. Dagegen bedient sich ein anderer Magazininhaber eines Zwischenmeisters: » . . . arbeite bei dem Kleiderhändler Manes auf dem Hundsrück. Die mir ertheilten Arbeiten werden zugeschnitten durch Schneider Heinrich Krüger an der Wallstraßen-Ecke« (Ludwig Krüger). Der Betrieb Jacob Scheuers schließlich wird von zwei Schneidermeistern geführt: »Zu Dienst stehe ich bei dem Kleiderhändler Jacob Scheuer und arbeite unter dem Werkführer Tuhsing und Wenning, welcher erstere die Arbeiten zuschneidet und die näheren Anweisungen ertheilt« (Ludwig van Moerbeck). 8 9 Werden hier einerseits verschiedene Ausformungen bzw. Stufen des Verlagssystems anschaulich belegt, so fehlen andererseits nähere Informationen zur Rolle der Zwischenmeisterinnen und zur Situation der weiblichen Gehülfen. Auch läßt sich leider nicht bestimmen, inwieweit arbeitsteilige Verfahren über das Ausgliedern des Zuschneidens hinaus angewandt werden und wieviele Arbeitskräfte außer den beiden Werkführern in der zentralen Werkstätte des Jacob Scheuer noch beschäftigt sind. Festzuhal52

ten bleibt, daß das Verlagssystem die Düsseldorfer Schneiderei u m die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schon so weit durchdrungen hat, daß die selbständig i m Kundenauftrag arbeitenden Schneidermeister eine M i n d e r heit bilden. Im Verzeichnis der Communal-Einkommensteuer-Anschläge der Sammtgemeinde Düsseldorffiir dasJahr 1848 finden sich 93 in der eigentlichen Stadt ansässige Schneider wieder, die w o h l ganz überwiegend zu der Gruppe der wirklich Selbständigen gehören. Wie sich an Einzelbeispielen nachweisen läßt, sind aber auch einzelne Verleger als Kleidermacher aufgeführt. Letztere dürften dafür verantwortlich sein, daß i m m e r h i n vier Schneider E i n k o m m e n von 600 Talern versteuern. Anscheinend gelingt es einigen wenigen im K u n d e n auftrag arbeitenden Meistern, gleichfalls auskömmliche E i n k o m m e n zu erzielen: 25 liegen zwischen 200 und 400 Talern. 9 0 D o c h fallen mehr als zwei Drittel der zur Einkommensteuer veranschlagten Kleidermacher unter die 200 Taler-Grenze. Das Überwiegen der Kleinsteinkommen entspricht der Lage der Schuhmacher. Trotz des weiter verbreiteten Verlagssystems sind jedoch die höheren E i n k o m m e n s g r u p p e n bei den Schneidern ein wenig besser besetzt. 9 1 Wie wir gesehen haben, ist die Unterscheidung zwischen Meistern und Gesellen, zwischen Selbständigen und Unselbständigen i m Schneiderhandwerk ohne genauere Kenntnis der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Schneiders wenig aussagekräftig. Dies ist zu berücksichtigen, w e n n die Gewerbezählung von 1875 382 Betriebe mit 342 männlichen u n d 40 weiblichen Inhabern ausweist. Bis auf drei größere Betriebe, die zusammen nur 28 Personen beschäftigen, fallen alle Düsseldorfer Schneidereibetriebe in die Kategorie mit bis zu f ü n f Beschäftigten. Auf die 379 Kleinbetriebe k o m m e n aber nur 105 Gehülfen, 72 männliche und 33 weibliche. 9 2 Dazu paßt es gut, daß nur 23 Schneider zur Gewerbesteuer herangezogen werden und nur ein einziger m e h r als 24 M a r k aufzubringen hat. Diese kleine G r u p p e von Schneidern, die mindestens die Hälfte aller Gehülfen beschäftigt, dürfte den Kern der noch im Kundenauftrag arbeitenden oder eigene Geschäfte unterhaltenden Kleidermacher darstellen, während die Mehrheit ihrer Kollegen für die zahlreichen Magazine gearbeitet haben wird. Von diesen zahlreichen Kleidermagazinen u n d Herrengarderobehandlungen entrichtet kein Geschäft weniger als 30 M a r k Gewerbesteuer, die größeren 90 bzw. 96 M a r k . 9 3 1880 listet das Adreßbuch nicht weniger als 26 solcher Garderobehandlungen für den Herrn auf. 9 4 Angesichts einer deutlichen Expansion des Handels überrascht, daß die Zahl der Beschäftigten 1875 auch in absoluten Zahlen deutlich niedriger als u m die Jahrhundertmitte sein soll. D e r gleichzeitige rapide Rückgang des Anteils der weiblichen Beschäftigten nährt ebenfalls Skepsis gegenüber den Angaben der Gewerbezählung, weist aber vielleicht in die Richtung einer Erklärung f ü r das scheinbare Schrumpfen des Schneiderhandwerks. 9 5 Wahrscheinlicher als der wirkliche Rückgang des weiblichen Beschäftigten53

anteils ist die Auslagerung der von Frauen geleisteten Arbeit in den Haushalt. Wie wir gesehen haben, geschieht diese Frauenarbeit weitgehend >unsichtbar< u n d ihr Ausmaß ist deshalb sehr schwer zu schätzen. 9 6 Z u m einen deutet die Existenz von elf Nähmaschinenlagern in Düsseldorf u m 1880 auf einen recht beachtlichen U m f a n g der Konfektionsindustrie, z u m anderen hat in der in Düsseldorf vorherrschenden Herrenkonfektion die Frauenarbeit den vergleichsweise geringsten Eingang gefunden. 9 7 Die Zahl der u m die Mitte der 1870er Jahre in der Schneiderei tätigen Düsseldorfer Frauen wird sicherlich über der in der Gewerbezählung ausgewiesenen Zahl v o n 85 gelegen haben, ohne daß genauere Schätzungen möglich sind. Klarer ist der Bedeutungsverlust der Selbständigkeit fur die Meister. In der Regel ohne direkte Absatzmöglichkeit werden sie m e h r und mehr zu Heimarbeitern für die örtlichen Kleidermagazine. Die in den 1870er Jahren schon weit verbreitete Nähmaschine hat dabei die Organisation der Produktion, in die die Innungsakten aus der nachrevolutionären Zeit den besten Einblick gestatten, k a u m verändert. 9 8 Erst das A u f k o m m e n der Zuschneidemaschinen in den 1880er u n d Knopflochmaschinen seit der Mitte der 1890er Jahre gibt der zentralen Werkstatt des Konfektionsunternehmers mehr Gewicht. 9 9

7. Schreiner Für das Schreinerhandwerk könnte man eine von den Bekleidungshandwerken losgelöste Entwicklung erwarten, da nicht nur die Bautischlerei von der B a u k o n j u n k t u r abhängt, sondern zumindest teilweise auch die N a c h f r a g e nach Möbeln. Entgegen dieser E r w a r t u n g ist die Gesamtentwicklung des Schreinerhandwerks, soweit sie sich in den Beschäftigtenzahlen spiegelt, der der Schuhmacher und Schneider sehr ähnlich. 1 0 0 Z w a r ist bei den Schreinern der Beschäftigungssockel zu Beginn der 1820er Jahre nicht ganz so hoch wie bei den Schuhmachern und Schneidern, der Abfall der Beschäftigtenzahl demnach auch weniger drastisch, aber auch hier erscheinen die 1830er und 1840er Jahre als Phase langsamen Wachstums. Daß bei geringerem Anteil an der Bevölkerung (zwischen 1828 und 1840 u m 1% schwankend) auch die Konzentrationsquote gegenüber den frühen 1820er Jahren gesunken ist, weist auf sehr kleine Betriebsgrößen, jedoch nicht unbedingt auf eine schlechte wirtschaftliche Lage des H a n d w e r k s hin. Dagegen spricht vor allem der vergleichsweise h o h e Anteil gewerbesteuerpflichtiger Meister (1840 gut 30%). Verteilt man, rein rechnerisch, die beschäftigten Gesellen auf die steuerpflichtigen Meister, so können diese i m Durchschnitt nur mit weniger als drei Gesellen arbeiten. Die sich hieraus ergebende Vermutung, daß auch Kleinbetriebe eine recht günstige Ertragslage aufweisen, wird durch die Verteilung der Steuerzahlungen bestätigt. Fast zwei Drittel der steuerpflichtigen Tischlermeister zahlen den Mittelsatz von sechs Talern, nur drei Betriebe liegen außerhalb des Bereiches v o n vier 54

bis acht Talern und zahlen j e zwölf Taler. Dazu kommen noch, in der Gewerbesteuermutterrolle bei den Kaufleuten geführt, eine Möbelfabrik und eine Möbelhandlung, die 12 bzw. 24 Taler zu entrichten haben. 1 0 1 Daß der Begriff >Möbelfabrik< in dieser Zeit vor allem eine betriebsgrößenmäßige Abgrenzung zum Handwerk bedeutet, ohne produktionstechnische Unterschiede zu beinhalten, sieht man schon daran, daß der Handelskammerbericht 1840 drei Möbelfabriken auflistet. 1 0 2 Somit müssen zwei dieser >Fabriken< gewerbesteuerrechtlich dem Handwerk zugeordnet werden. Wie langsam diese Möbelfabriken ihren handwerklichen Charakter verlieren, deutet die Beschreibung eines »Damen-Schreib- und Arbeitstisches« an, den der Begründer der ersten Düsseldorfer Möbelfabrik, Carl Hilgers, auf der Gewerbeausstellung von 1852 präsentiert: » . . . aus Ebenholz mit Achatsteinen, kunstvoller Schnitzerei und vier Scheurenschen Rheinansichten.« 1 0 3 Inwieweit der »Hof-Möbel-Fabrikant« Hilgers in der Beibehaltung kunsthandwerklicher Luxusproduktion für diesen Gewerbezweig typisch ist, läßt sich, wie das Vordringen arbeitsteiliger Produktionsmethoden in vormaschineller Zeit, nur sehr schwer abschätzen. 1 0 4 Doch scheinen die wenigen größeren Betriebe, den Aussagen der Gewerbesteuermutterrolle zufolge, bis 1840 die Ertragslage der kleineren Betriebe noch nicht entscheidend verschlechtert zu haben. Mitte der 1840er Jahre beginnt dann auch für das Schreinerhandwerk eine Expansionsphase. Der Verlust der Selbständigkeit einiger Meister, der sich an der gegenläufigen Entwicklung der Meister- und Gesellenzahlen von 1843 zu 1846 ablesen läßt, ist als Konzentrationsprozeß für das Krisenjahr 1846 typisch. Die 1843 beginnende enorme Zunahme der Gesellenzahlen dauert bis 1852 an und beträgt 137%. Da die Zahl der Selbständigen in diesen Jahren fast unverändert bleibt, steigt also die Größe der Betriebe. Für 1851 werden ζ. B. vier Möbelfabriken mit insgesamt 70 Arbeitern angegeben. 1 0 5 Für die zunehmende Bedeutung der Möbelfabrikation in den 1840er Jahren, die in der Stadtgeschichtsschreibung hervorgehoben wird, spricht auch die Existenz einer ab 1848 durch D a m p f betriebenen Fournierschneiderei, die 1849 immerhin 27 Arbeiter beschäftigt. 1 0 6 Erst 1855 nimmt auch die Zahl der Meister wieder in nennenswertem U m f a n g zu. Einige Gesellen nutzen offenbar die günstige konjunkturelle Lage, u m sich selbständig zu machen. Für das Jahr 1853 berichtet die Handelskammer: » Auch in diesem Jahr waren die Möbelfabriken vollauf beschäftigt, wozu die vielen Neubauten, welche der Ausmeublierung bedurften, nicht unerheblich beigetragen haben.« 1 0 7 Daß das starke Anwachsen der Beschäftigtenzahl auch bezogen auf die Bevölkerung (von etwa 1% in den 1830er Jahren auf fast 2% Ende der 1840er und Anfang der 1850er Jahre) dennoch mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Schreinerhandwerks insgesamt einhergeht, macht schon die Halbierung des Anteils der zur Gewerbesteuer herangezogenen Meister in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre gegenüber dem Vergleichszeitraum der 1840er Jahre deutlich. Welche strukturellen Veränderungen 55

dahinter stehen, kann wiederum nur die Analyse der Gewerbesteuerzahlungen zeigen. Die 1840 noch klar um den Mittelsatz konzentrierte Verteilung hat sich 1855 bemerkenswert aufgefächert. Fast 40% der steuerpflichtigen Schreinermeister zahlen jetzt weniger als den Mittelsatz und die 30%, die gestreut bis zum Betrag von 24 Talern darüber liegen, tragen mehr als die Hälfte der von den Düsseldorfer Schreinern entrichteten Gewerbesteuer. Aufschlußreich scheint mir dabei, daß die Mehrheit dieser höher besteuerten Betriebe den Zusatz »mit offenem Laden« trägt. Diese Verlagerung zum Handel bezeugt auch die Existenz von fünf Möbelmagazinen, die mit einer Ausnahme mindestens 18 Taler aufbringen müssen. 1 0 8 Insgesamt kann man also eine verstärkte Polarisierung in einige wenige größere Betriebe und eine Anzahl von Mittel- und Kleinbetrieben konstatieren, die sich hinter der Konzentrationsquote von 1,41 für 1855 ebenso versteckt, wie das Überwiegen von Alleinmeistern, die zunehmend in verlagsmäßige Abhängigkeit geraten. Belege für die verlagsmäßige Organisation von Heimarbeit im Schreinerhandwerk bieten wieder die Verhörprotokolle der wegen unrechtmäßiger selbständiger Tätigkeit Vernommenen: » . . . so führte ich die Arbeiten in meiner Wohnung accordmäßig aus, und habe ein solches Verhältnis bis jetzt beibehalten. Ich übernahm nämlich von dem einen oder dem anderen Schreinermeister ein Stück Arbeit gegen Accord, Zeichnung und Zugabe des Materials, und überlieferte es sodann vollständig fertig. « Eine Ausnahme stellt Joseph Scheifers dar, indem er selbst das Material stellt. Das mag damit zusammenhängen, daß er als einziger der Vernommenen auch für einen auswärtigen Magazininhaber arbeitet: » Seit dem Jahre 1849 arbeite ich in meiner Wohnung für verschiedene Möbelmagazin-Inhaber und bin gegenwärtig beschäftigt für van Zütphen hier und Christian in Gladbach. Hauptsächlich fertige ich Stühle und überliefere solche gegen Accord und nach Zeichnung unter eigener Zugabe des Materials.« Selbst in die Bautischlerei dringt der Verlag ein: »Ich übernehme nämlich von dem einen oder andern Baumeister die [ . . . JArbeit unter Beigabe des Profils und gegen Accord. « 109 Wie schon bei den Schneidern und Schuhmachern erscheinen die von der Agrarkrise der späten 1840er Jahre geprägten Jahre um die Jahrhundertmitte als Periode beschleunigten strukturellen Wandels. 110 Die für diese Zeit vorliegenden Informationen zur Einkommenslage spiegeln die strukturellen Veränderungen zum Teil schon wieder. Die Einkommenslage der Schreiner ist um die Jahrhundertmitte zumindest besser als die der Schneider und Schuhmacher. Fast zwei Drittel der Schreinermeister werden zur Einkommensteuer veranschlagt. Auch bei den Schreinern fallen die meisten in die unterste Einkommenskategorie (57,7%), doch liegt dieser Anteil unter dem bei den Schneidern und Schuhmachern. Die Zahl der Schreinereinkommen über 100 Taler deckt sich in etwa mit der Zahl der gewerbesteuerpflichtigen Schreiner, so daß zumindest die mit mehr als einem Gesellen arbeitenden Schreinermeister Einkommen oberhalb des Existenzminimums erzielt ha56

ben werden. Immerhin 21,2% der zur Einkommensteuer veranschlagten Schreiner haben Einkommen von 200 Talern im Jahr. Fast ebensoviele liegen über diesem Satz und verdienen bis zu 1500 Taler. Dieser Spitzenverdiener ist aber sicherlich schon als Möbelfabrikant anzusehen. 111 Die Gewerbezählung von 1875 dokumentiert zunächst das Wachstum des Schreinerhandwerks. Gegenüber der Zählung von 1861 ist die Zahl der Beschäftigten um mehr als 300 gestiegen. Dagegen ist die Konzentrationsquote mit 0,93 unverändert, wiewohl hier Verzerrungen durch die Einbeziehung der Außengemeinden möglich sind. Die genauere Aufgliederung nach Betriebsgrößen zeigt jedoch, daß eine Vergrößerung der Betriebe nicht zu beobachten ist. Kein einziger Betrieb hat 1875 mehr als 50 Beschäftigte und die elf Betriebe, die mehr als fünf Personen beschäftigen kommen zusammen nur auf 125 Arbeitskräfte. 112 Bedenkt man, daß schon 1851 vier M ö belfabriken 70 Arbeiter beschäftigen, wird klar, daß von einer Durchsetzung des Großbetriebs nicht die Rede sein kann. Stattdessen dürfte die verlagsmäßig organisierte Heimarbeit intensiviert worden sein. Dafür spricht neben der weiteren Zunahme der Klein- und Alleinmeister auch der gesunkene Anteil der zur Gewerbesteuer veranschlagten Schreinermeister (12,7%). Fast die Hälfte dieser wenigen Steuerpflichtigen liegt unter dem Mittelsatz von 18 Mark, weniger als ein Viertel darüber. Dazu kommen noch zwei Möbelfabriken mit Zahlungen von 90 bzw. 126 Mark. 1 1 3 Erneut muß vor einer Überschätzung der aus den Beschäftigtenzahlen sich ergebenden Schlußfolgerungen gewarnt werden, da eine vollständige Erfassung der Heimarbeiter gänzlich unwahrscheinlich ist. 114 Die Expansion des Handels ist auch im Bereich der Möbelproduktion zu beoachten. 1880 listet das Adreß-Buch 17 Möbelmagazine auf, von denen zwei in großen Anzeigen die Möblierung ganzer Häuser, die »Übernahme ganzer Wohnungs-Einrichtungen« anbieten. 115 Eins dieser Magazine ist das Berliner Möbel-Magazin und es ist anzunehmen, daß dieses Geschäft vorwiegend >Berliner Möbel·, d.h. Massenprodukte geringerer Qualität, vertreibt. 1 1 6 Der Absatz solcher auswärtiger Billigmöbel mindert zweifellos die Verkaufsmöglichkeiten der Düsseldorfer Möbelschreiner, doch liegt der Schwerpunkt der Düsseldorfer Produktion wohl auf den besseren Qualitäten. 1 1 7 Da Düsseldorfer Möbel auch in Köln abgesetzt werden, sollte man weder den Umfang der Düsseldorfer Möbelproduktion noch die Verbreitung des Verlagssystems unterschätzen. 118 Ein Kleinmeister wird kaum direkte Absatzmöglichkeiten außerhalb Düsseldorfs gehabt haben. Schon die Verhörprotokolle aus den frühen 1850er Jahren deuten auf die Spezialisierung in der Schreinerei hin. Diese Ansätze sind in der Folgezeit sicherlich weitergeführt worden - die Berufsbezeichnung des Stuhlmachers taucht immer häufiger in den Adreßbüchern auf. Dagegen ist die Bedeutung von Maschinen bis in die 1880er Jahre hinein gering. Die Hobelmaschine setzt sich erst in den 1880er Jahren durch und Kreis- und Bandsäge werden durch Lohnschneidereien, ähnlich der bereits angeführten Fournierschneiderei, 57

auch Kleinmeistern zugänglich gemacht. 1 1 9 Die Überlegenheit der größeren über die kleineren Betriebe ist also keine technische, sondern die Überlegenheit der Kapitalstärke und der direkten Absatzmöglichkeiten.

8. Die Metallhandwerke

unter besonderer Berücksichtigung

der

Schlosser

Die wirtschaftliche Lage der Metallhandwerke zu umreißen, wird durch die große Vielfalt der hier anzusprechenden Gewerbe und ihrer ganz verschiedenartigen Entwicklungen erschwert. Während die Nagelschmiede schon zur Jahrhundertmitte der übermächtigen Konkurrenz maschineller Fertigung gegenüberstehen, werden die zumeist in den Düsseldorfer Außengemeinden angesiedelten Hufschmiede von der Industrialisierung im Untersuchungszeitraum kaum betroffen. 1 2 0 Darüber hinaus bereitet auch die A b grenzung der Arbeitsfelder der einzelnen Metallhandwerke untereinander Schwierigkeiten. 1 2 1 Das in diesem Abschnitt im Vordergrund stehende Schlosserhandwerk, dessen quantitative Entwicklung bis 1861 in Tabelle 8 (im Anhang) dargestellt ist, kann also nicht als repräsentativ fur die Metallhandwerke überhaupt angesehen werden. Nach dem auch bei anderen Gewerben beobachteten Absinken der B e schäftigtenzahlen in den 1820er Jahren und einer Phase langsamen Wachstums bis zu Beginn der 1840er Jahre setzt Mitte der 1840er Jahre eine rasche Expansion des Handwerkszweiges ein. Das 1849/1852 erreichte Beschäftigungsniveau wird bis 1861 in etwa gehalten. Vierzehn Jahre später hat sich die Zahl der Betriebe wie der Beschäftigten ungefähr verdoppelt. Die Zahl der Gesellen bleibt gegenüber der Meisterzahl jedoch ein wenig zurück, so daß die Konzentrationsquote von 1,78 auf 1,43 zurückgeht. Unter den 111 bei der Gewerbezählung von 1875 erfaßten Betrieben sind auch nur zwei, die mehr als zehn, weitere fünf, die mehr als fünf Beschäftigte aufweisen. Diese mittleren Betriebe beschäftigen fast die Hälfte aller Gehülfen. Wirkliche Großbetriebe findet man aber nur in der Kategorie »Fabrication von Maschinen, Werkzeugen, etc.«. Ein guter Teil der hier arbeitenden 1155 Beschäftigten ist in einer der beiden über 200 Menschen beschäftigenden Maschinenbaufabriken an der Produktion von Gegenständen beteiligt, deren Herstellung in der ersten Jahrhunderthälfte zu einem Teil noch von Schlossern besorgt wurde. 1 2 2 Mißt man die Lage eines Handwerkszweiges am Anteil der gewerbesteuerpflichtigen Meister, so schneiden die Schlosser in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit Prozentzahlen zwischen 18,8 und 30,2 gegenüber den Schuhmachern und Schneidern günstig und nur wenig schlechter als die Schreiner ab. Zudem liegt 1840 nur ein steuerpflichtiger Schlosser unter dem Mittelsatz von sechs Talern. 1 2 3 Die Ähnlichkeit mit den Schreinern zeigt sich auch in der Einkommensverteilung. Auch bei den Schlossern ist der Anteil der Einkommen von nur 100 Talern geringer als bei den 58

Schneidern und Schuhmachern und die Einkommenskategorie von 200 Talern mit mehr als einem Viertel der zur Einkommensteuer Veranschlagten besetzt. 124 Betrachtet man die Anteile der Gewerbesteuerpflichtigen in der zweiten Hälfte der 1850er und in den frühen 1860er Jahren, so stellt sich die Lage der Schlosser als stabil dar. Dies gilt weniger, wenn man die Verteilung der Gewerbesteuerzahlungen vergleicht. Fast die Hälfte der 1855 zur Gewerbesteuer herangezogenen Schlosser liegt jetzt unter dem Mittelsatz, nur zwei zahlen zehn Taler. Ein Grund für die verschlechterte Situation selbst der mit mehr als einem Gehülfen arbeitenden Betriebe ist sicherlich der Eisenwarenhandel. Von acht Geschäften zahlt keines weniger als 12 Taler, das größte 30 Taler Gewerbesteuer. 1 2 5 Zwanzig Jahre später ist der Anteil der Gewerbesteuerpflichtigen unter 20% gesunken, die Verteilung der Gewerbesteuerzahlungen aber wieder deutlicher um den Mittelsatz konzentriert. N u r vier Handwerksmeister liegen darunter, während mehr als drei Viertel der Gewerbesteuerpflichtigen zwischen 18 und 30 Mark entrichten. 126 Die quantitativen Eckdaten sagen nur wenig zur Entwicklung des Schlosserhandwerks im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts. Die schon in den 1850er Jahren nachweisbare Konkurrenz durch den Handel hat zu einer zunehmenden Verdrängung des Schlosserhandwerks aus seinen eigentlichen Produktionsbereichen gefuhrt. So bietet ein »En-gros-Geschäft« 1880 sämtliche zum Baufach gehörenden Eisen- und Bronze-Waren an. Gleichzeitig übernimmt dieses Geschäft die Fabrikation von Fenster- und Türbeschlägen sowie von Kunstschlosserarbeiten. 127 Man wird annehmen dürfen, daß diese Arbeiten von verlegten Düsseldorfer Schlossern angefertigt werden. Wenn der Verlust von Produktionsfunktionen nicht zu einem Rückgang des Anteils der Schlosser an der Gesamtbevölkerung fuhrt, dann vor allem wegen der im folgenden Abschnitt behandelten Expansion des Baugewerbes. Aber auch in diesem Bereich setzt sich die industrielle Fertigung rasch durch und macht aus Schlossern und Klempnern bloße Installateure. 128 Als Ausweichmöglichkeiten bleiben dem kleinbetrieblichen Schlosser (und Klempner) nur das Reparaturhandwerk und der Kleinhandel mit Küchengerät und Baumaterialien. 129 Die Kapitalerfordernisse für die Maschinenschlosserei übersteigen in aller Regel seine Möglichkeiten. 130 Letztere ist in Düsseldorf in den 1870er Jahren schon nicht mehr dem handwerklichen Bereich zuzuordnen. Ähnliches gilt für das Klempnerhandwerk, auch wenn hier in den Kategorien der Gewerbezählung die »Blechwaaren-Fabriken« noch nicht vom Handwerksbetrieb getrennt sind. Von 251 Beschäftigten 1875 arbeiten allein 157 in zwei solchen Blechwarenfabriken, von denen eine mehr als zehn, eine andere mehr als 100 Personen beschäftigt. Auf die verbleibenden 53 kleinbetrieblichen Klempnereien entfallen ganze 41 Gehülfen, so daß es nicht überrascht, daß eine deutliche Mehrheit der gewerbesteuerpflichtigen Klempnermeister unter dem Mittelsatz von 18 Mark liegt, kaum einer darüber. 1 3 1 Schlosser- und Klempnerhandwerk entsprechen am ehesten dem von 59

W. Fischer, Noll und gelegentlich auch - entgegen seinen eigenen empirischen Ergebnissen - J . Bergmann vertretenen Bild eines auch in Bezug auf die Bevölkerungszahl wachsenden Handwerks, das die Anpassung an die Erfordernisse industriellen Wirtschaftens durch den Rückzug aus der Produktion und die Verlagerung auf Reparatur, Dienstleistung und Kleinhandel vollzieht. 132 Die die Trennung von Reparatur und Produktion weiter vorantreibende Durchsetzung von Bohr- und Fräsmaschine, Stanzer und Blechschere erfolgt allerdings erst gegen Ende der 1870er Jahre und ist keine eigentliche Voraussetzung des Funktionsverlustes der ehemaligen Vollhandwerke der Schlosser und Klempner. 1 3 3 Die Kosten dieses Anpassungsprozesses, die vielleicht unter dem Schlagwort >Entfremdung< subsumiert werden können und welche den Zeitgenossen durchaus vertraut sind, haben in der Erfolgsgeschichte des Handwerks keinen rechten Platz. »Einen Mangel haben fast alle Reparaturarbeiten, nämlich den daß sie dem Handwerker nie so viel Freude machen, wie die Herstellung eines neuen Stückes.« 134 Darüber hinaus ergeben sich fur den kleinbetrieblichen Handwerker aus der Reparaturfunktion ganz neue Abhängigkeiten gegenüber großbetrieblichen Produzenten und Händlern. 1 3 5 Und schließlich hat die Möglichkeit einer Anpassung ohne Rückgang der Beschäftigtenzahlen für das Schlosser- und Klempnerhandwerk eine nur diese Gewerbe betreffende Voraussetzung im Bauboom des dritten Viertels des neunzehnten Jahrhunderts, der im nun folgenden Abschnitt thematisiert werden soll.

9. Die Bauhandwerke:

Maurer und

Zimmerer

Bei der Betrachtung der quantitativen Entwicklung des Bauhandwerks in Tabelle 9 (im Anhang) fallen schon in der ersten Jahrhunderthälfte große Schwankungen der Gesellenzahlen auf. Z u m Verständnis dieser Schwankungen ist die Kenntnis der Rekrutierungsmuster des Düsseldorfer Bauhandwerks unabdingbar: »Die hier in Arbeit stehenden Maurer und auch Zimmerer, sind Leute, die entweder im hiesigen Orte oder in dessen Nähe zu Hause sind, im Tagelohn arbeiten, größtenteils eine eigene Wohnung haben, oft noch ein Stück Feld mit Ackerschaft zur Haltung einer Kuh besitzen und dieses neben ihrer Tagelöhner-Arbeit bewirthschaften. Fremde, zuwandernde Gesellen finden bei solchen Umständen ihr Bestehen n i c h t . . ,« 136 Die agrarische Anbindung und der Tagelöhnerstatus der unselbständigen Düsseldorfer Bauhandwerker lassen es höchst unwahrscheinlich erscheinen, daß die der Entwicklung der anderen Handwerkszweige entgegenlaufende rapide Zunahme der Gesellenzahl von 1822 bis 1834 bei den Maurern von arbeitslosen Gesellen anderer Gewerbe mitgetragen wurde. Die hohe Zahl der Maurer vom Ende der 1820er bis zur Mitte der 1830er Jahre mag in Zusammenhang stehen mit dem 1831 genehmigten Stadterweiterungsplan. 137 Überraschend aber, daß die Zahl der Zimmerer, in der 60

auch noch die Schiffbauer enthalten sind, während dieses Zeitraums auf sehr niedrigem Niveau stagniert. Eine mögliche Erklärung liegt darin, daß viele Baumeister sowohl M a u r e r - als auch Zimmerermeister sind u n d die von ihnen beschäftigten Bauhandwerker-Tagelöhner pauschal den Maurern zugeschlagen haben m ö g e n . 1 3 8 Es ist leider nicht möglich, diesen Punkt w i r k lich zu klären, doch ist bei der Betrachtung der Beschäftigtenzahlen i m Bauhandwerk ohnehin zu bedenken, daß bei einer i m Dezember durchgeführten Zählung starke Verzerrungen aufgrund des ausgeprägten saisonalen Charakters der Bauarbeit wahrscheinlich sind. 1 3 9 Vielversprechender als die eingehendere Beschäftigung mit den Beschäftigtenzahlen, die von 1834 bis 1861 bei den Maurern zumeist über 100, bei den Z i m m e r e r n zwischen 60 und 80 liegen und nur durch die Weltwirtschaftskrise von 1857 spürbar gedrückt werden, ist die eingehendere Analyse der Gewerbesteuerzahlungen und der durchschnittlichen Betriebsgröße. 1840 werden insgesamt zwanzig Maurer, Z i m m e r e r , Baumeister und -Unternehmer zur Gewerbesteuer herangezogen. Diese Zahl entspricht genau der Zahl der M a u r e r - und Zimmerermeister unter Ausschluß der ebenfalls selbständigen Flickarbeiter. Von diesen zwanzig Betrieben des Bauhandwerks, die mit mehr als einem Gehülfen arbeiten, zahlt mehr als die Hälfte den Mittelsatz von sechs Talern oder weniger. Auf diese kleineren Handwerksmeister dürften die folgenden zeitgenössischen Beobachtungen zutreffen: »Hier in Düsseldorf sind die Baumeister meistens Bankerot gegangen, w o r a n nun freilich das Geldleihen mit eine Hauptursache war, denn sie besaßen nicht so viel Geld, u m ein Haus fertig zu machen. « 1 4 0 Wechselproteste, Schuldumschreibungen etc. finden sich sehr zahlreich in den N o t a riatsakten und belegen Benzenbergs Urteil. 1 4 1 Neben diesen mit dünner Kapitaldecke arbeitenden Baumeistern, gibt es aber noch einige Bauunternehmer, die zwischen 12 und 18 Taler Gewerbesteuer zahlen. 1 4 2 Fünfzehn Jahre später entspricht zwar die Zahl der Steuerpflichtigen nicht mehr der der Meister, doch an der Polarisierung zwischen Klein- und Mittelbetrieben hat sich k a u m etwas verändert. Daß von 27 M a u r e r - und Zimmerermeistern nur 17 zur Gewerbesteuer herangezogen werden, dürfte daran liegen, daß einige der zuvor bei den Flickarbeitern geführten nun zu den Meistern gezählt werden. Wie schon 1840 sind es f ü n f Bauunternehmer, die sich durch Gewerbesteuerzahlungen von zehn bis 24 Talern deutlich von den Kleinmeistern, die höchstens sechs Taler aufbringen, unterscheiden. 1 4 3 Welche Einkommensunterschiede mit den unterschiedlichen Gewerbesteuerzahlungen einhergehen, zeigt erneut das Verzeichnis der Communal-Einkommensteuer-Anschläge. Während auch bei den Bauhandwerkern die unterste Einkommenskategorie von 100 Talern am stärksten besetzt ist, versteuern die f ü n f wohlhabendsten Bauunternehmer jährlich 500 bis 1500 Taler. 1 4 4 Den Klagen anderer H a n d w e r k e r während der Revolution von 1848/49 zufolge resultieren diese hohen E i n k o m m e n nicht nur aus handwerklicher Arbeit sondern auch aus der Ausnutzung der Generalunternehmerfunktion, 61

die die Bauunternehmer z.B. bei öffentlichen Bauten ausüben. 145 Auch wenn die Unterschiede zwischen Klein- und Mittelbetrieben recht erheblich sind, bestätigen die Düsseldorfer Zahlen, insbesondere die unter Ausschluß der Flickarbeiter berechneten Konzentrationsquoten, Schmollers Urteil, wonach die durchschnittliche Betriebsgröße des Bauhandwerks in den rheinischen Städten deutlich unter den Werten anderer Provinzen liegt. 146 Das dritte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts ist eine Phase rapiden Wachstums für das Düsseldorfer Baugewerbe. Lag die Zahl der als Maurer oder Zimmerer Beschäftigten 1852 noch unter 200, so hat sie sich bis 1875 mehr als vervierfacht (auf 920). Auch findet sich jetzt eine Bauunternehmung mit mehr als 200 Beschäftigten. Stellt man die Betriebsgrößen der in den Kategorien Bauunternehmer, Maurer und Zimmerer aufgelisteten Betriebe zusammen, so haben 146 Betriebe weniger als sechs, zwölf Betriebe zwischen fünf und zehn, elf Betriebe zwischen elf und 50, zwei Betriebe zwischen 51 und 200 und ein Betrieb mehr als 200 Beschäftigte. Insgesamt arbeiten 248 Beschäftigte in Betrieben mit weniger als sechs, 672 in Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten. Fast die Hälfte aller Beschäftigten entfällt auf acht größere Bauunternehmungen. 1 4 7 Die Entwicklung zum Großbetrieb vollzieht sich im Baugewerbe ohne jede Veränderung der Arbeitstechnik. 148 Leider lassen sich aber die Kapitalinvestitionen, die hinter dieser Vergrößerung der Unternehmen stehen, ebensowenig rekonstruieren wie die Beteiligung der Bauhandwerker an Bauspekulationen. 149 Die konstatierte Dominanz der Großbetriebe wird schließlich durch die Feststellung, daß 1874 und 1875 — gemessen an der Zahl der Baukonzessionen — ausgesprochene Boomjahre für das Düsseldorfer Baugewerbe sind, nur unwesentlich relativiert. 150 Die Analyse der Gewerbesteuerzahlungen zeigt zunächst den geringen Anteil der Zimmerer, in dem sich der »Übergang vom Holzbau zum Steinbau« ausdrückt. 1 5 1 Von 73 zur Gewerbesteuer herangezogenen Bauhandwerkern sind nur elf Zimmerer. Bedenkt man, daß immerhin fünf Betriebe mehr als fünf Beschäftigte aufweisen und zusammen 109 Personen beschäftigen, nehmen sich die höchsten Gewerbesteuersätze von 24 (zweimal), 30 und 42 Mark recht bescheiden aus. Die übrigen steuerpflichtigen Zimmerer zahlen wie die Hälfte der Maurer und Bauunternehmer nicht mehr als den Mittelsatz von 18 Mark. Die umsatzkräftigere Hälfte der Maurer und Bauunternehmer weist Zahlungen von 24 bis 108 Mark auf. Die elf höchsten Zahlungen schließlich (von 42 bis 108 Mark) sind ausnahmslos »Bauunternehmern« zugeordnet, unter denen wir die Inhaber der acht größten Bauunternehmungen Düsseldorfs vermuten dürfen. 1 5 2 Die rasche Durchsetzung des Großbetriebes im Baugewerbe ist keineswegs die einzige Veränderung in diesem Handwerkszweig. Übernahm traditioneller Weise ein Baumeister den Bau eines Hauses auf Bestellung, wobei der Bauherr das Material stellte, und erhielt selbst über den Gesellenlohn hinaus nur den sogenannten >Meistergroschencapitaliste< a de n o m b r e u ses têtes.« 1 6 6

64

KAPITEL I V

Mobilität und Stabilität - das Paradox des Wanderungsverhaltens 1. Wanderungen im neunzehnten

Jahrhundert

Unter dem Einfluß der allmählichen Rezeption der neueren nordamerikanischen Sozial- und Stadtgeschichtsschreibung hat das Problem der Wanderung auch in der Bundesrepublik neue Aufmerksamkeit gefunden. 1 Vor allem ein grundlegender Aufsatz von Dieter Langewiesche arbeitete U m fang und Bedeutung der Wanderungsbewegungen durch eine systematische Auswertung der Statistischen Jahrbücher Deutscher Städte und eine umfassende Aufarbeitung der reichen älteren Untersuchungen deutlich heraus. 2 Schon das Ausmaß der Wanderungsbewegungen stellte die gängige Vorstellung einer Einbahnstraße vom Land in die Stadt wirkungsvoll in Frage und eröffnete den Blick auf andere Wanderungsformen. 3 Leider beschränkt sich die Mehrzahl der neueren Arbeiten auf die Hochindustrialisierungsphase, so daß die Zusammenhänge zwischen Industrialisierung, Urbanisierung und Wanderungshäufigkeit als weitestgehend ungeklärt gelten müssen. Doch zeigen schon die von Horst Matzerath für Rheydt und (Rhein-)Dahlen berechneten und bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert zurückreichenden Zahlenreihen, daß eine dichotomische Sicht einer stabilen Agrar- und einer hochmobilen Industriegesellschaft irreführend wäre. 4 Auch die neueren Arbeiten von Steven Hochstadt, der sich um die Konstruktion durchgängiger Zahlenreihen vom frühen neunzehntenjahrhundert bis in die Gegenwart bemüht hat, stützen Charles Tillys Vermutung »that the pace of migration changed much less than its character«. 5 Hatten bereits die mit aggregierten Daten arbeitenden Untersuchungen ein Ausmaß an geographischer Mobilität konstatiert, das den Ergebnissen jüngerer amerikanischer Studien durchaus zu entsprechen schien, so wurde dieser Eindruck von einigen auf individualstatistischem Material fußenden Lokalstudien nur bestätigt. 6 Überdies boten die in diesen Arbeiten benutzten Volkszählungslisten, Adreßbücher und dergleichen die Möglichkeit berufs-, alters- und geschlechtstypische Wanderungsmuster zu erforschen. 7 Versuchten diese methodisch ihren amerikanischen Vorbildern folgenden Arbeiten den Anteil der Bevölkerung einer Stadt (oder eines näher definierten Teils derselben) zu bestimmen, der nach einem Jahrzehnt noch auffind65

bar war, gingen einige Autoren das Problem der Wanderung von der Verteilung der Geburtsorte der am untersuchten Ort Ansässigen an. 8 In den letzten Jahren sind also nicht nur zahlenmäßig viele, sondern auch methodisch ganz unterschiedlich verfahrende Untersuchungen zur Wanderung erschienen. Leider ging diese methodische Vielfalt nicht mit der notwendigen Reflektion über die Begrenztheit des jeweiligen Ansatzes und der erforderlichen begrifflichen Genauigkeit einher. So interpretiert ζ. B. Hubbard die Ergebnisse seiner individualstatistisch verfahrenden Lokalstudie als Bestätigung für Langewiesches Aufarbeitung der aggregierten Wanderungsstatistiken deutscher Großstädte, ohne daß ersichtlich wäre, worin die Entsprechung zwischem dem Anteil der nach zehn Jahren noch am selben Ort Wohnenden und der Zahl der jährlichen Ein- und Auswanderungen je 1000 Einwohner bestehen soll. 9 Und Borscheid kommt zu dem ganz einfach unzutreffenden Ergebnis, »daß die gesamte regionale Mobilität des 19. Jahrhunderts einspurig, d. h. fast ausschließlich vom Land in Richtung der neu entstandenen Industriezentren verlief«, weil er nur die auswärtig Geborenen als >Wanderen fassen kann. 1 0 Diese Liste mit Beispielen ist beliebig verlängerbar und bezeichnend für ein wenig ausgeprägtes Methodenbewußtsein, das sich auch in der unkritischen Rezeption der amerikanischen Mobilitätsstudien widerspiegelt. 11 In diesem Kapitel soll versucht werden, an einem lokalen Beispiel die Zeit von 1817 bis 1880 möglichst umfassend abzudecken. Da die oben angesprochenen Quellen - aggregierte Wanderungsstatistiken, Volkszählungslisten und Adreßbücher sowie Aufstellungen der Geburtsorte einer Bevölkerung jeweils nur einzelne Aspekte des Gesamtphänomens ansprechen, werden hier diese verschiedenartigen Quellen gemeinsam analysiert. Den Aufbau dieses Kapitels bestimmen dabei die grundlegenden Fragen einer jeden Migrationsstudie: wieviele, wohin und woher und vor allem wer. Schließlich geht es auch um die Auswirkungen geographischer Mobilität auf die städtische Gesellschaft. So sollte es möglich sein, neues Licht auf Gründe und Hintergründe der Wanderung im neunzehnten Jahrhundert zu werfen. Im Vordergrund stehen die alters-, berufs- und geschlechtsspezifische Z u sammensetzung der Wanderungsströme sowie mögliche Veränderungen dieser Zusammensetzung im Untersuchungszeitraum. Dagegen bleibt der in den Daten offen zu Tage tretende Zusammenhang zwischen Wanderungsverhalten und wirtschaftlichen Wechsellagen hier außer Betracht. Nicht nur fehlt es an einer lokalen Konjunkturgeschichte, für die Zeit vor 1850/1860 fehlt eine Konjunkturgeschichte überhaupt, da die »Zyklizität des industriewirtschaftlichen Wachstums« die gesamtwirtschaftliche Lage noch keineswegs dominiert. 1 2 Bevor wir nun zur Analyse der Wanderungsvorgänge kommen, gilt es noch einige Begriffe zu definieren: Unter Wanderung wird im folgenden der Praxis der Meldebehörden entsprechend - jeder über die Stadt- bzw. Kreisgrenzen hinausgehende Wohnortwechsel verstanden. Innerstädtische 66

Umzüge, die häufig im Zusammenhang mit der Wanderung behandelt worden sind, bleiben hier also ausgeklammert. Das Wanderungsvolumen (auch Wanderungsumschlag genannt) wird durch die Mobilitätskennziffer ausgedrückt, die die Zahl der Wanderungsvorgänge (Summe aus Zu- und Abwanderungen) je 1000 Einwohner angibt. Es scheint notwendig hervorzuheben, daß hier die Zahl der Wanderungen und nicht die der Wandernde« (je 1000 Einwohner) gemeint ist. Wenn also ζ. B. Dieter Langewiesche schreibt: »Jedes Jahr durchzog ein Wanderungsstrom die Städte, der im Durchschnitt ca. 1/4 bis 1/3 aller Einwohner von Großstädten ausmachte«, so bedeutet das keineswegs, daß jeder vierte bzw. jeder dritte Einwohner von Großstädten in die Wanderung einbezogen war. 1 3 Angenommen es handelte sich bei den Zu- und Abwanderern ausnahmslos um Saisonarbeiter, die im Mai zu- und im Oktober abwanderten, so würde jeder Wanderer zweimal gezählt: der Wandererstrom würde bei den von Langewiesche nachgewiesenen Mobilitätskennziffern nur 1/8 bis 1/6 der Einwohner ausmachen. Überdies wäre in diesem hypothetischen Fall keiner der ja zumeist am Jahresende gezählten Stadtbewohner in die Wanderung einbezogen. Wichtiger als diese Zahlenspiele ist die Schlußfolgerung, daß die Mobilitätskennziffer, wie das durch sie ausgedrückte Wanderungsvolumen allgemein, über die Zahl der Wandernden keine Auskunft gibt. Unabhängig vom Wanderungsumschlag ist wiederum die Wanderungsbilanz (auch Wanderungssaldo), d.h. die Differenz zwischen der Zahl der Zu- und Abwanderungen. 1 4

2. Das Wanderungsvolumen

in Düsseldorf

1817—1880

Seit 1817 wurde in den meisten Kreisen des Regierungsbezirkes Düsseldorf die Zahl der im Laufe eines Jahres Z u - und Abwandernden festgehalten, woraus sich unschwer die jährlichen Wanderungssalden und die Mobilitätskennziffern (MKZ) errechnen lassen, die in Figur 4 und Tabelle 10 (im Anhang) zusammengestellt sind. Angesichts der vor allem vor der Jahrhundertmitte kargen Quellenlage, die sich im Fehlen von Migrationsstudien widerspiegelt, ist es schwierig zu beurteilen, inwieweit die Düsseldorfer Zahlen als auch für andere Gebiete typisch anzusehen sind, kommen doch mögliche Vergleichszahlen überwiegend aus dem selben Regierungsbezirk. In den Berechnungen Matzeraths für Rheydt und Rheindahlen fehlen bis 1831 entweder die Angaben oder sind »aus nicht vollständiger Zahlenreihe« errechnet; für die 1830er Jahre sind dann die immer deutlich über den Werten für Rheindahlen liegenden Düsseldorfer Mobilitätskennziffern den für Rheydt errechneten recht ähnlich: zunächst liegen sie ein wenig darunter, zu Beginn der 1840er Jahre übertreffen die Mobilitätskennziffern für den Kreis Düsseldorf dann die Rheydter Werte. 15 Steven Hochstadt hat in seiner Dissertation die Kreise des Regierungsbezirks in agrarische, industrielle und »gemischte« eingeteilt und für diese Gruppen die jeweiligen Einwande67

rungsraten berechnet. Vergleicht man seine Ergebnisse mit den Zahlen für den Kreis Düsseldorf, so fallt Düsseldorf zwischen die Werte für industrielle und »gemischte« Kreise - Hochstadt hat den Kreis Düsseldorf zu Recht zu den »gemischten« gezählt - während die Rheindahlener Werte bis zur Jahrhundertmitte deutlich unter den ohnehin niedrigeren Zahlen für agrarische Kreise liegen. 16 Ab 1840 sind dann die Vergleichsmöglichkeiten etwas günstiger. Nur während der 1840er Jahre weist Düsseldorf ein zumeist höheres Wanderungsvolumen als Berlin, Krefeld, Mönchen-Gladbach, Rheydt und einige kleinere Orte, für die Zahlen vorliegen, auf, ohne weit über den Werten der Vergleichsorte zu liegen. Danach nimmt Düsseldorf eine Mittelstellung unter den wenigen Groß- und Mittelstädten, deren jährlicher Wanderungsumschlag bekannt ist, ein. 17 Betrachtet man die Entwicklung der Mobilitätskennziffer für die Stadt Düsseldorf von 1817 bis 1880, wird man die Angaben für die ersten Jahre, in denen die Zu- und Abwanderungen erfaßt wurden, in ihrer Zuverlässigkeit nicht überbewerten dürfen. Die für 1821 berechnete und vergleichsweise hohe Mobilitätskennziffer von 122,5 wird jedoch ausdrücklich bestätigt, betont der Landrat doch, »daß nach einem speziellen Bericht des Oberbürgermeisters die sich ergebende Verminderung bez. Düsseldorf durch eine der Angabe nach zufolge ganz genaue Aufnahme entstanden sey«. 18 Gerade die Existenz eines speziellen Berichts läßt aber vermuten, daß das Wanderungsvolumen dieses Jahres als außergewöhnlich angesehen wurde. Um die Mitte der 1820er Jahre und dann wieder Ende der 1830er Jahre nimmt das Wanderungsvolumen beträchtlich zu. Der 1841er Wert von 210,7 wird erst 1874 wieder erreicht und bis 1880 kaum übertroffen. Diese Maximalwerte liegen nur geringfügig unter den von Dieter Langewiesche für deutsche Groß- und Mittelstädte berechneten Zahlen. 19 Die von ihm angegebenen Werte steigen bis zum Ersten Weltkrieg zwar noch einmal um ca. 50%, doch scheint mir die Tatsache, daß der Wanderungsumschlag in den frühen 1840er Jahren schon das Niveau der späten 1870er und frühen 1880er Jahre erreicht, bemerkenswerter. Dieser Befund macht es sehr unwahrscheinlich, daß dem Aufkommen der Fabrikindustrie als direktem Auslöser und Verursacher größerer Mobilität allein ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Noch 1834 wird die Zahl der Fabrikarbeiter, wenn wir diese einmal als groben Indikator für den Stand der Industrialisierung nehmen, in Düsseldorf mit 1021 angegeben. 20 Es paßt gut zu diesem Bild einer auffallenden Kontinuität vom Vormärz bis in die Hochindustrialisierungsphase, daß sich das Vordringen der eisenverarbeitenden Industrie seit dem Ende der 1850er Jahre in der Mobilitätskennziffer nicht sichtbar niederschlägt. Erneut läßt sich das Düsseldorfer Wanderungsvolumen in der Größenordnung durchaus mit den Werten für Rheydt, soweit diese überliefert sind, vergleichen. 21 Daß dagegen die für die erste Hälfte der 1870er Jahre für Barmen berechneten Zahlen nur zwischen 1/4 und 1/3 der Düsseldorfer 68

o o CN

O o

Nach A n g a b e n in StAD, II, 1298/1299; H S A D , R D , 415-420; H S A D , LA, 114-119 s o w i e Statistik des Kreises u n d den städtischen Verwaltungsberichten 1861 bis 1880.

69

Werte ausmachen, dürfte wohl eher auf einem Berechnungsfehler Köllmanns, denn auf realen Mobilitätsdifferenzen beruhen. Zumindest ähneln die von ihm fur diese Jahre angegebenen Zahlen der Zu- und Abwanderung auffällig den für die Familienwanderung unter Ausschluß der Mehrheit der Einzelwanderer in Düsseldorf gemachten Angaben. Überdies liegen die übrigen, um ein Vielfaches höheren Angaben Köllmanns (fur die Jahre von 1906 bis 1910) durchaus im Rahmen der von Langewiesche berechneten Zahlenreihen. 22 Es gibt also keinen Grund, die Düsseldorfer Zahlen, die auch im Vergleich mit Krefeld, Duisburg und Berlin keineswegs herausragen, als lokale Besonderheit anzusehen. 23

3. Nah- und

Fernwanderung

Es soll hier nicht den einzelnen Schwankungen von Wanderungsvolumen und Wanderungsbilanz, die in deutlich erkennbarem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Wechsellagen stehen, nachgegangen werden. Vielmehr soll dem oben zitierten Hinweis Tillys entsprechend überprüft werden, ob der Charakter der Wanderung sich während der Industrialisierung stärker als ihre quantitative Bedeutung verändert hat. Leider liegen nur für einzelne Jahre der 1830er sowie einigermaßen durchgehend von 1846 bis 1866 gesonderte Aufstellungen der Wanderungsdistanzen vor. Diese unterscheiden Zuund Abwanderungen aus bzw. nach anderen Gemeinden des Kreises Düsseldorf, aus bzw. nach anderen Kreisen des Regierungsbezirkes Düsseldorf, aus bzw. nach anderen Regierungsbezirken Preußens und schließlich aus bzw. nach dem eigentlichen Ausland. Die entsprechend in Tabelle 11 (im Anhang) zusammengestellten Daten sagen über die Wanderungsdistanzen im engeren Sinne natürlich noch nicht viel aus - mancher preußische Regierungsbezirk war erheblich weiter von Düsseldorf entfernt als Teile des Auslands - doch ist die Aufschlüsselung der Wanderungsströme nach Verwaltungseinheiten recht aufschlußreich. Zu berücksichtigen bleibt allerdings, daß die Verläßlichkeit der Angaben zu Herkunft und Ziel unterschiedlich ist, beinhaltet letztere doch lediglich eine Absichtserklärung. Trotz ihrer Lückenhaftigkeit sind die Angaben für die 1830er Jahre äußerst wichtig, weisen sie doch auf einen deutlichen Wandel in der Verteilung der Wanderungsdistanzen zu Beginn der 1840er Jahre hin. Bis einschließlich 1838 sind die Z u - und Abwanderungen aus bzw. nach anderen Gemeinden des Kreises fur etwa die Hälfte aller Wanderungsbewegungen verantwortlich, während der Wanderungsaustausch mit anderen Kreisen des Regierungsbezirks nur etwas mehr als ein Viertel, der mit anderen Regierungsbezirken etwa ein Sechstel ausmacht. Es ist naheliegend, die Veränderung der Anteile der jeweiligen Wanderungsströme mit dem in den 1840er Jahren stark gestiegenen Wanderungsumschlag in Verbindung zu bringen, doch fehlen hier für entscheidende Jahre die Angaben, so daß ζ. B. die Auswirkun70

gen der Agrarkrise von 1846/1847 kaum von strukturellen Verschiebungen getrennt werden können. 2 4 Nach der Jahrhundertmitte zeichnet die in Tabelle 11 nachgezeichneten Wanderungsströme vor allem ihre Konstanz aus. In der Regel kommen etwa zwanzig Prozent der jährlichen Zuwanderer aus anderen Gemeinden des Kreises, zwischen einem Drittel und knapp der Hälfte kommen aus anderen Kreisen des Regierungsbezirks und etwa ein Drittel aus anderen preußischen Regierungsbezirken; die Zuwanderung aus dem Ausland spielt eine vergleichsweise geringe Rolle. Noch frappanter ist vielleicht die hohe Übereinstimmung zwischen den jeweiligen prozentualen Anteilen der Z u - und Abwanderungen innerhalb der Distanzkategorien, doch gilt es hier unbedingt die absoluten Zahlen im Auge zu behalten. Im Vergleich zu Rheydt weist Düsseldorf deutlich höhere Anteile bei Wanderungen über große Distanzen, vor allem aus bzw. nach anderen Regierungsbezirken auf. 2 5 Dies belegt die Bedeutung von Größe, Lage und nicht zuletzt verkehrsmäßiger Anbindung (Eisenbahn!) einer Stadt für die Struktur ihrer Z u - und Abwanderungsströme. Hatten die auf die 1840er Jahre zu datierenden Veränderungen zu einem relativen Anstieg der Wanderungen aus bzw. nach anderen Kreisen und Regierungsbezirken gefuhrt, so läßt sich für die Zeit von 1849 bis 1866 kein solcher Trend von der Nah- zur Fernwanderung feststellen. Stattdessen vermitteln die Zahlen den Eindruck eines recht stabilen Grundmusters, das sich auch bei starken Schwankungen im Wanderungsvolumen (z. B. 1857/ 1858) durchhält. Ändert sich die Zahl der Wanderungen, so betrifft dies Nah- und Fernwanderung gleichermaßen. Andererseits scheint keine Korrespondenz zwischen den Ursachen von Nah- und Fernwanderung zu bestehen: wie der häufige Vorzeichenwechsel bei den Wanderungsbilanzen der einzelnen Herkunfts- und Zielgebiete fur das gleiche Jahr belegt, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, daß die Stadt Düsseldorf Einwohner an andere Gemeinden des Kreises verliert und gleichzeitig aus anderen Kreisen und Regierungsbezirken Einwohner gewinnt (so 1856, 1857, 1859). Darauf daß Fern- und Nahwanderung unterschiedlichen Bedingungen unterworfen sind, weisen auch längerfristige Wanderungsbilanzen hin. Für die Zeit von 1855 bis 1866 lassen sie sich leicht errechnen: Während die Stadt an die anderen Gemeinden des Kreises Einwohner abgibt, gewinnt sie aus den anderen Kreisen und Regierungsbezirken sowie aus dem Ausland erheblich dazu. Dabei besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen Wanderungsdistanz und Höhe des Wanderungsgewinns (bezogen auf den Anteil am Wanderungsumschlag überhaupt). Erlauben die bisher vorgestellten Daten schon weitergehende Schlußfolgerungen über den Charakter der Wänderungen? Steven Hochstadt hat argumentiert, daß der weitgehend parallele Verlauf der Z u - und Abwanderungskurven fur das Überwiegen der temporären Wanderung spricht, d. h. für die Rückkehr des oder der Wandernden an den Ausgangspunkt der 71

Wanderung binnen eines Zähljahres. 26 Da die personelle Identität der Zuund Abwanderungsströme durch ihre in etwa gleiche Stärke aber keineswegs nachgewiesen ist, stellt diese Parallelität noch keinen zwingenden Beweis fur »the overwhelming importance of temporary migration« dar. 2 7 Für den, der trotz dieser methodischen Schwierigkeiten, die Hochstadt einräumt, bereit ist, seiner ja durchaus plausiblen Interpretation zu folgen, begründet die in Tabelle 11 vorgenommene Aufteilung der Wanderungsströme nach Distanz einige Zweifel. Zunächst gleichen sich Zu- und Abwanderung auf städtischer Ebene nicht in dem Maße, wie Hochstadt das für den Regierungsbezirk insgesamt anschaulich darstellt. 28 Seiner Argumentation noch stärker widerspricht der Umstand, daß die weitere Aufspaltung der Wanderungsströme nach Herkunft und Ziel die Entsprechungen weiter vermindert. Verliert ζ. B. die Stadt Düsseldorf 1858 immerhin 449 Einwohner an andere Gemeinden des Kreises, 286 Einwohner an andere Kreise und 15 Einwohner an das Ausland, so wird das zum Teil durch den Zugewinn aus anderen Regierungsbezirken (314 Einwohner) ausgeglichen. So erscheint der Unterschied zwischen Zu- und Abwanderungen (2424 zu 2860) insgesamt gering, doch geht aus der weiteren Aufschlüsselung eindeutig hervor, daß mindestens 1064 Wanderungen (die Summe aus den einzelnen Wanderungsbilanzen absolut genommen) nicht an ihren Ausgangspunkt zurück erfolgt sein können. Darüberhinaus würde man doch wohl erwarten, daß die Parallelität von Zu- und Abwanderung auf Grund nur temporärer Migration im Bereich der Nahwanderung am deutlichsten zu Tage tritt. Dies ist aber keineswegs der Fall. Läßt man, um diese Frage näher zu klären, das Vorzeichen der jährlichen Wanderungsbilanzen der einzelnen Herkunftsund Zielgebiete außer Acht, und bestimmt nur das Ausmaß von wanderungsbedingten Bevölkerungsveränderungen - gleichgültig ob positiv oder negativ - , besteht kein Zusammenhang zwischen Wanderungsdistanz und »Wanderungseffektivität« - wenn man so den Anteil der Wanderungsbilanz am Wanderungsvolumen in jedem Jahr bezeichnen will. Lediglich die jährlichen Wanderungssalden mit dem Ausland haben stärkeren Anteil an den Gesamtsalden als die entsprechenden Wanderungsbewegungen am Gesamtwanderungsvolumen. Die jährliche Effektivität der Wanderung entspricht also mit dieser Ausnahme für die jeweiligen Herkunfts- und Zielgebiete ihrem Anteil an der Gesamtwanderung, während der längerfristige Wanderungsgewinn (hier von 1855 bis 1866 berechnet) mit zunehmender Entfernung zunimmt. Eine andere Schlußfolgerung, die der Vergleich der nach Entfernungen differenzierten Wanderungsbilanzen nahelegt, ergibt sich aus der auf längere Sicht (erneut 1855 bis 1866) fast ausgeglichenen Wanderungsbilanz der Stadt mit den anderen Gemeinden des Kreises. Man könnte vermuten, daß hier ein Teil der Bevölkerung mit Wurzeln in den eher agrarisch geprägten Gemeinden um Düsseldorf in Abhängigkeit von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation in die Stadt zieht oder in die landwirtschaftliche Ursprungsgemeinde 72

zurückkehrt. Daß es sich hierbei nicht ausschließlich um saisonale Beschäftigung in der Stadt handeln kann, belegen die unausgeglichenen jährlichen Wanderungsbilanzen. Eine solche Vermutung kann jedoch bestenfalls Plausibilität beanspruchen, belegbar ist sie mit aggregierten Daten allein nicht.

4. Einzel-und

Familienwanderung

Einen ersten Zugang zu der Frage, wer wanderte, gibt die Aufschlüsselung der Wanderungsströme nach Geschlecht und Familienstand, die in Tabelle 12 (im Anhang) zusammengefaßt ist. Die Vierteilung in Knaben und Junggesellen, Männer und Witwer, Mädchen und Jungfrauen sowie Frauen und Witwen stellt jedoch keine fur unsere Fragen hinreichende Differenzierung dar. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß ein Teil der Knaben undjunggesellen sowie der Mädchen und Jungfrauen mit ihren als Individuen bei den Verheirateten geführten Eltern zu- und abgewandert sein werden. Auch warnt die keineswegs vollständige Kongruenz der Zahlen von Männern und Witwern gegenüber den Frauen und Witwen vor der Annahme verheiratete Personen seien nur im Familienverband gewandert. Geht man davon aus, daß die in der Regel recht hohe Kongruenz von Wanderungsströmen der Verheirateten (und Verwitweten) beiderlei Geschlechte als Hinweis auf Familienwanderung - für deren Vorhandensein weiter unten noch direktere Belege beigebracht werden - zu deuten ist, so ist über den Gesamtzeitraum von 1817 bis 1866 eine leichte Zunahme der Familienwanderung zu konstatieren, oder angesichts der beträchtlichen Schwankungen vielleicht genauer: eine Stabilisierung des Anteils der im Familienverband Wandernden auf etwas höherem Niveau. Z u m einen steigt der prozentuale Anteil der Verheirateten zumindest bei den Zuwanderungen an, zum anderen korrespondieren die Zahlen der Verheirateten (und Verwitweten) beiderlei Geschlechts in den 1860er Jahren sehr weitgehend. Einen ganz ähnlichen Trend zunehmender Familienwanderung belegt Matzerath von 1831 bis 1850 zu 1851 bis 1865 für Rheydt, während Rheindahlen - wirtschaftlich stagnierend und durch ein erst nach 1850 allmählich zunehmendes Wanderungsvolumen gekennzeichnet - eine genau entgegengesetzte Entwicklung zeigt. 29 Es ist für die Wanderungen der Verheirateten seit der Krise der späten 1840er Jahre charakteristisch, daß ihr Anteil an der Zuwanderung über dem an der Abwanderung liegt. Dieses Auseinanderlaufen von Z u - und Abwanderungen bei den Verheirateten nimmt schließlich bis zur Mitte der 1860er Jahre deutlich zu. Stimmt unsere Interpretation des Zunehmens der Familienwanderung, dann darf man sich von den geringen Prozentsätzen der verheirateten Zu- und Abwanderer nicht irrefuhren lassen: insofern es sich um Familien handelt, ist der Zahl der Verheirateten noch eine unbestimmte Zahl unverheirateter Kinder zuzuschlagen. Für die These von der zunehmenden Familienwanderung spricht noch ein weiterer seit der Mitte der 73

1850er Jahre deutlich werdender Wandel: bleibt der Anteil der Verheirateten an der Gesamtwanderung auch mit ganz wenigen Ausnahmen unter zehn Prozent fur jedes Geschlecht, so haben die Verheirateten doch einen ganz unverhältnismäßig hohen Anteil an der jährlichen Wanderungsbilanz. Die Familienwanderung ist also in ihrem Volumen vergleichsweise gering, dafür aber ungeheuer »effektiv«. Von 1862 bis 1866 bleibt der Anteil der Verheirateten (und Verwitweten) an den Zuwanderungen jeweils unter 15% (bei den Abwanderungen bezeichnenderweise unter 10%), dennoch ist die Familienwanderung in diesen Jahren für jeweils etwa zwei Drittel des Wanderungsgewinns verantwortlich. 30 — Und dabei sind mit ihren Eltern wandernde Kinder noch nicht berücksichtigt! 31 Dominieren also seit der Mitte der 1850er Jahre die Verheirateten die Wanderungsbilanz, bleibt das Wanderungsvolumen auch weiterhin von den Unverheirateten, und hier besonders von den männlichen Junggesellen, bestimmt. Der Anteil der »Knaben und Junggesellen« am Wanderungsvolumen geht von 1817 bis 1866 leicht zurück, während der der »Mädchen und Jungfrauen« steigt, doch sind dies schwache Trends angesichts der Schwankungen von Jahr zu Jahr. Von einem »sprunghaften Anstieg unverheirateter Frauen bei der Zuwanderung«, wie ihn Matzerath für Rheydt feststellt, kann in Düsseldorf überhaupt keine Rede sein. 32 Gleichermaßen ist es schwierig, in den Zahlenreihen für die Stadt Düsseldorf »the bulge in single male mobility«, nach Hochstadt »a temporary accompaniment to the early stages o f urban industrialization«, zu identifizieren. 33 Ohnehin bedürfte es zunächst einer präzisen Definition der »Frühindustrialisierungsphase(n)« und einer näheren Erläuterung der angenommen Ursachen für diese Zunahme männlicher Einzelwanderung, bevor man Hochstadts These weiter verfolgen könnte. Eindeutig zurückzuweisen ist dagegen Borscheids Behauptung: »Die in der vorindustriellen Gesellschaft beobachtete regionale Mobilität wurde in ihrer überwiegenden Mehrheit von den Frauen getragen. « 3 4 Diese ist wohl nur aus der methodischen Beschränkung seiner Regionalstudie zu erklären: wenn Frauen weniger häufig als Männer in ihrer Heimatgemeinde heiraten, so ist damit noch wenig über ihren Anteil an Wanderungsbewegungen gesagt. Selbst in Rheindahlen vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sind Frauen für weniger als die Hälfte der Wanderungen verantwortlich. 3 5 Was die Düsseldorfer Zahlen aber sehr deutlich machen, ist die weitestgehende Unabhängigkeit der Arbeitsmärkte für unverheiratete Männer und Frauen voneinander. Die Anteile der männlichen und weiblichen ledigen Zu- und Abwanderungen verändern sich häufig gegenläufig und gelegentlich weisen die jeweiligen Wanderungsbilanzen unterschiedliche Vorzeichen auf. Langewiesche verweist in diesem Zusammenhang auf die relative Konjunkturunabhängigkeit der Beschäftigung von Dienstbotinnen. 3 6 Doch steckt natürlich der allgemeine Wohlstand den Rahmen ab, innerhalb dessen sich diese Gegenläufigkeit bewegen kann. Bevor das Verhältnis von Einzel- zu Familienwanderung näher bestimmt 74

werden kann, müssen noch zusätzliche Materialien beigebracht werden. Seit den frühen 1860er Jahren enthalten die städtischen Verwaltungsberichte Aufstellungen über die Familienwanderung - manchmal leider nur über diese. Gleichermaßen identifizieren einige der bereits benutzten Quellen zu Herkunft und Ziel der Wanderungsströme die Gruppen der Gesellen und des Gesindes. Das Material läßt zwar keine durchgehende geschlechtsspezifische Differenzierung zu, ermöglicht es aber, die Betrachung von Einzel- und Familienwanderung bis 1880 weiterzutreiben. Zunächst bestätigen die in Tabelle 13 (im Anhang) zusammengestellten Zahlenreihen die schon geäußerten Vermutungen zur Familienwanderung. Für die Jahre, in denen sich die Tabellen 12 und 13 überlappen, ist die Zahl der im Familienverband Z u und Abwandernden erheblich größer als die Summe der Verheirateten und Verwitweten beiderlei Geschlechts. 37 Die Differenz bezeichnet das Minim u m an im Familienverband mitwandernden Kindern. Andererseits ist die Zahl der zu- bzw. abwandernden Familien größer als die der verheirateten (oder verwitweten) Männer wie auch der Frauen. Ganz offensichtlich wandern also unvollständige Familien oder - wahrscheinlich zahlenmäßig bedeutender - wandern Familien unvollständig. Insgesamt ist das Verhältnis von Einzel- zu Familienwanderung erstaunlich konstant. Von der Mitte der 1850er Jahre bis zum Beginn der 1880er Jahre macht die Familienwanderung etwa ein Viertel der Zuwanderung und zwischen zehn und dreißig Prozent der Abwanderung aus. Damit widersprechen die Düsseldorfer Zahlen dem Ergebnisjacksons, der für Duisburg herausfand, »that family units became a smaller part of the migratory stream between 1867/8 and 1890, declining from thirty-four to twenty-four percent«. 38 Dies mag mit einem insgesamt höheren Wanderungsvolumen der Ruhrgebietsstädte zusammenhängen. 3 9 Der besondere Charakter der Familien Wanderung, ihre »Effektivität«, kommt auch in den bis 1880 fortgeführten Zahlenreihen gut zum Ausdruck. Trotz extremster Schwankungen dominiert die Familienwanderung ganz eindeutig diejährlichen Wanderungsbilanzen. 40 Der hohen Effektivität der Familienwanderung entspricht zwangsläufig ein geringer Anteil der Einzelwanderer an den jährlichen Wanderungsbilanzen. Einen wichtigen Grund hierfür liefert eine von Bernd Balkenhol durchgeführte Auswertung der Düsseldorfer Gesellenregister der 1870er Jahre. Aus seinen gelegentlich unübersichtlichen und oft nur schwer nachvollziehbaren Aufstellungen geht hervor, daß von den im Jahre 1878 »Weiterziehenden« drei Viertel weniger als einJahr in der Stadt verbracht hatten, knapp ein Sechstel nicht einmal einen Monat und ein gutes Drittel weniger als ein Vierteljahr in Düsseldorf gewohnt hatten. Die »Gesellen«, worunter wie unter dem synonym gebrauchten Begriff »Knechte« alle unverheirateten, bzw. keinen eigenen Hausstand leitenden Arbeitskräfte männlichen Geschlechts verstanden wurden, sind zu fast 90% bis zu dreißig Jahre alt. Leider lassen sich aus Balkenhols Tabellen die eigentlichen Handwerksgesellen nicht herausfiltern, da er die Berufsangaben nur zu Branchenübersichten 75

nutzt. So finden sich ζ. B. alle Metallberufe in einer Kategorie versammelt, ohne daß der Hufschmied v o m (Fabrik-) Schlosser geschieden werden k ö n n te. O h n e h i n sind diese Kategorien zu heterogen - eine u m f a ß t neben Arbeitern, Fabrikarbeitern und Tagelöhnern auch noch Puddler und Former - , u m weitergehende Analysen zu erlauben. 4 1 Bleibt nur festzuhalten, daß die Wanderungsbewegungen der männlichen Unverheirateten, darunter die Handwerksgesellen i m engeren Sinne, ganz überwiegend temporären C h a rakter haben u n d fast ausschließlich von den unter Dreißigjährigen getragen werden. Genaueren Aufschluß über den Anteil eigentlicher Handwerksgesellen geben drei Einzelaufstellungen aus d e n j a h r e n 1836,1837 und 1839, die die monatlich zu- oder abwandernden Gesellen, Knechte und M ä g d e nachweisen. Zunächst überrascht, daß saisonale Schwankungen k a u m eine Rolle spielen. Z u - und A b w a n d e r u n g haben ihre Minima jeweils in Dezember u n d Januar, die übrigen Monats werte liegen recht dicht zusammen. Der jährliche Anteil der Gesellen an den Z u - und A b w a n d e r u n g e n in der Rubrik Gesellen und Gesinde schwankt zwischen der Hälfte und zwei Dritteln, w ä h r e n d die Knechte nur selten über 10%, die Mägde zwischen einem knappen Drittel und fast der Hälfte ausmachen. 4 2 Von der Fastidentität zwischen männlichen Unverheirateten und Gesellen in den Wanderungsstatistiken der späten 1830er Jahre kann man vierzig Jahre später natürlich ebensowenig ausgehen, wie von der Gleichsetzung weiblicher Unverheirateter mit den Mägden. Gerade in diesem Bereich ist Balkenhols Auswertung der Mägderegister, welche die weiblichen Unverheirateten umfassen, allzu dürftig, so daß über die D o m i n a n z von Dienstmädchen, Näherinnen und Wäscherinnen bei den Berufsangaben hinaus keine Aussagen möglich sind. 4 3

5. Familien- und Fernwanderung Leider liegen zur (vorherigen) Verweildauer der im Familien verband A b w a n dernden keine Angaben vor, doch läßt der hohe Anteil der Familien an den jährlichen Wanderungsbilanzen längere Ortsansässigkeit vermuten. H o c h stadts These » Yet even for migrating families, a stay of m o r e than a few years was unusual«, ist nicht näher belegt, aber durch die Berechnung von jährlichen Wanderungseffektivitäten allein nicht zu widerlegen. 4 4 N e b e n der Familienwanderung hat auch die Wanderung über größere Entfernungen letztere allerdings nur längerfristig - überdurchschnittlich großen Anteil an der Wanderungsbilanz. Dies läßt einen Z u s a m m e n h a n g zwischen Familienund Fern Wanderung erwarten. Für einige Jahre sind die Angaben detailliert genug, u m die Ü b e r p r ü f u n g dieser These zu erlauben. Z u bedauern ist dabei das Fehlen der Unterscheidung nach d e m Geschlecht, hat doch die obige Analyse ergeben, daß die Wanderungsbewegungen der männlichen und weiblichen Unverheirateten unabhängig voneinander variieren u n d häufig sogar gegenläufig sind. 76

Zunächst bestätigen die Zahlen in Tabelle 14 (im Anhang) - läßt man die Wanderung aus und nach dem Ausland außer Acht - die Vermutung, daß zwischen Familien- und Fernwanderung ein positiver Zusammenhang besteht, steigt doch der Anteil der Familien- an der Gesamtzuwanderung von der Gemeinde- (zwischen fünf und zwanzig Prozent schwankend) über die Kreis- (zwischen einem Zehntel und einem Drittel schwankend) bis zur Regierungsbezirksebene auf nach der Mitte der 1850er Jahre recht stabile 25 bis 30% stetig an. Dieses Muster bezeichnet aber angesichts der starken Schwankungen nur einen schwachen Trend und beschreibt Teilperioden der hier behandelten Zeitspanne höchst unvollkommen. Dennoch gilt es festzuhalten, daß der Anteil der Familienwanderung an der Zuwanderung mit zunehmender Distanz steigt. Der durch die höhere Effektivität sowohl der Fern- als auch der Familienwanderung nahegelegte Zusammenhang zwischen beiden findet weitere Bestätigung in der besonderen Effektivität der Fernwanderung von Familien. Schlagen sich 40,8% der Zuwanderungen aus anderen Kreisen des Regierungsbezirks als Wanderungsgewinn nieder, sind es bei der Zuwanderung aus anderen Regierungsbezirken in denselben Jahren (1853-1866) immerhin 47,6%. 4 5 Es ist naheliegend, diesen Befund mit der Gleichsetzung von Familienwanderungen über größere Entfernungen mit Chancenwanderung zu erklären, doch reichen aggregierte Statistiken als Belege hierfür nicht aus. Auffallend gering sind Zu- und Abwanderungen im Familienverband aus bzw. nach anderen Gemeinden des Kreises Düsseldorf. Man könnte annehmen, daß ein - vielleicht nur saisonaler - Arbeitsplatz für den Ehemann keinen hinreichenden Grund für den Umzug der ganzen Familie in die Stadt darstellte. Die geringen Unterschiede zwischen der Zahl der zuwandernden Männer und Witwer gegenüber der der Frauen und Witwen machen jedoch deutlich, daß die saisonale Einzelwanderung verheirateter Männer nur eine geringe Rolle gespielt haben kann. 4 6 Der dagegen überproportional hohe Austausch der Unverheirateten mit den anderen Gemeinden des Kreises ist zu erwarten, spiegelt sich doch in den Zahlen der Zu- und Abwanderungen vermutlich eine große Zahl von Dienstmädchen, Lehrlingen, Mägden und Knechten. 4 7 Auf den ersten Blick überraschend, ist das auch relative Übergewicht der Ledigen bei der Auslands Wanderung, noch verblüffender vielleicht nur, daß hier in der Regel - und im Gegensatz zum Austausch mit den Gemeinden, Kreisen und Regierungsbezirken - der Anteil der Ledigen an der Z u - über dem an der Abwanderung liegt. Doch sind bei der Betrachtung der Auslandswanderung, über deren Distanz relativ zu der Zu- und Abwanderung aus bzw. nach anderen preußischen Regierungsbezirken ohnehin keine Aussagen möglich sind, einige zusätzliche Bemerkungen angebracht. In der durch die Tabelle 14 abgedeckten Zeitspanne ist die Zahl der aus dem Kreis Düsseldorf - separate Angaben für die Stadt existieren nicht - nach Übersee Auswandernden, ganz im Gegensatz zu einigen anderen Kreisen des Regie77

rungsbezirks, unbedeutend. 4 8 Sie dürfte sich noch am ehesten bei der Familienwanderung bemerkbar machen. Der Großteil der Auslandswanderungen dürfte aber den Handwerksgesellen zuzuschreiben sein. Wenn dabei die Wanderungsbilanz der Gesellen (und des Gesindes) mit dem Ausland zumeist positiv ist und in ihrem Umfang (bezogen auf das Wanderungsvolumen) auch durchaus beachtlich, so mag das daran liegen, daß eine größere rheinische Stadt wohl eine recht attraktive Anfangsetappe auf einer durch Deutschland fuhrenden Wanderung gewesen sein mag, während umgekehrt vielleicht die Wanderungsziele Belgien, Frankreich und England aufgrund preußischer Überwachungs- und Verbotstraditionen nur ungern angegeben wurden. 4 9 Doch muß dies, wie die Annahme, daß die Auslandswanderung überwiegend von Handwerksgesellen getragen wurde, Spekulation bleiben, da nähere, vor allem berufspezifische Angaben, fehlen.

6. Familienwanderung

und Beruf

N u r für das Minderheitenphänomen der Familienwanderung enthalten die städtischen Verwaltungsberichte seit 1861 Aufstellungen der Berufe der zuund abwandernden Familienoberhäupter, die in Tabelle 15 (im Anhang) zusammengestellt sind. Zunächst spiegelt sich die bereits mehrfach angemerkte wichtige Rolle der Familienwanderung fur den Wanderungsgewinn der Stadt Düsseldorf auch in dieser Aufstellung. Nicht nur übertrifft die Zahl der zuwandernden Familien bzw. Familienoberhäupter die der abwandernden in jedem einzelnen Jahr, auch innerhalb der im folgenden näher betrachteten Berufsgruppen der Fabrikanten, Kaufleute, Kommis und kleinen Handelsleute, der Handwerker, der Tagelöhner sowie der Fabrikarbeiter erreicht die Zahl der Ab- niemals die der Zuwanderungen. Dabei machen die Abwanderungen erst ab 1875 mehr als die Hälfte der Zuwanderungen aus. Es ist auf der Grundlage des zur Verfügung stehenden Materials nicht endgültig zu entscheiden, ob in der verringerten Effektivität der Familienwanderung seit der Mitte der 1870er Jahre eine Trendwende oder - was wahrscheinlicher ist - nur eine der »Großen Depression« zuzuschreibende vorübergehende Erscheinung zu sehen ist, die die unterschiedlichen Berufsgruppen ganz unterschiedlich trifft. 5 0 Neben den bereits angeführten zahlenmäßig stärksten Berufsgruppen unter den zu- und abwandernden Familienoberhäuptern verdienen zwei Kategorien besondere Aufmerksamkeit. Z u m einen die Residualkategorie »Verschiedene«, deren von 1861 bis 1880 erheblich vergrößerter Anteil an der Familienwanderung wohl als Ausdruck der mit der Industrialisierung einhergehenden beruflichen Diversifizierung interpretiert werden darf. Z u m anderen sind es die Beamten, die einen seit den frühen 1870er Jahren überraschend großen Teil der wandernden Familienoberhäupter ausmachen. 5 1 Bedauerlicherweise sind die oben aufgelisteten Berufsgruppen we78

nig trennscharf definiert: Die Kategorie der »Fabrikanten, Kaufleute, Kommis und kleinen Handelsleute« umfaßt Unternehmer von der Statur eines Albert Poensgen ebenso wie ehemalige Handwerker und Fabrikarbeiter, die ihre letzten Lebensjahre als Trödler oder Viktualienhändler verbringen. Auch und gerade wenn man sich für beide sozialen Typen interessiert, muß man die Heterogenität der Gruppe bedauern. Bei den verbleibenden Handwerkern, Tagelöhnern und Fabrikarbeitern muß man wohl davon ausgehen, daß diese Eigenbezeichnungen nur eingeschränkt zuverlässige Auskunft über den Arbeitsplatz des Betroffenen geben. So mancher, der bei seiner Zuwanderung seinen Beruf als Handwerker oder als Tagelöhner angab, dürfte nur kurze Zeit darauf in einer Düsseldorfer Fabrik gearbeitet haben. Ein wenig verläßlicher und eindeutiger scheint mir nur der Begriff des Fabrikarbeiters zu sein. Diese Berufsgruppe hat in den 1860er Jahren in Düsseldorf exzellente Arbeitsmarktchancen. Bis 1869 macht die Zahl der abwandernden Fabrikarbeiterfamilien nur einen verschwindend geringen Bruchteil der zuwandernden aus. Diese bevorzugte Situation der Fabrikarbeiterschaft während des ersten Jahrzehnts des Aufbaus einer eisenverarbeitenden Industrie in Düsseldorf findet ihre Parallele bei den Tagelöhnern, wodurch die Vermutung, daß sich unter den Tagelöhnern potentielle ungelernte Fabrikarbeiter befinden, gestützt wird. Überraschender ist vielleicht die Tatsache, daß der Anteil der Fabrikarbeiter wie auch der der Tagelöhner an der Familienwanderung von 1861 bis 1880 keineswegs drastisch steigt. Dieser Befund wird durch das gleichzeitige leichte Sinken der »Fabrikanten, Kaufleute, Kommis und kleinen Handelsleuten« sowie der Handwerker bei gleichzeitiger Zunahme der Beamten und der »Verschiedenen« relativiert, doch übertrifft auch in den späten 1870er Jahren die Zahl der zu- wie der abwandernden Handwerkerfamilien die Summe der entsprechenden Fabrikarbeiter- und Tagelöhnerzahlen. Zu Beginn der 1860er Jahre gibt es in Düsseldorf ungefähr je 3000 Fabrikarbeiter und Handwerker (unter Einrechnung der Gesellen). 52 Selbst wenn man berücksichtigt, daß ein Teil der qualifizierteren Fabrikarbeiter einen handwerklichen Beruf angegeben haben mag, erscheinen die Handwerker, zumindest insoweit sie Familien vorstehen, als die mobileren, während die zuwandernden Fabrikarbeiter in der ersten Hälfte der 1860er Jahre nur zwischen einem und zwei Prozent der örtlichen Fabrikarbeiterschaft ausmachen. Noch bemerkenswerter ist angesichts des Befunds von Henning, daß in Düsseldorf »die Metallbranchen bis in die Mitte der 70er Jahre innerhalb von zwei Jahrzehnten zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden waren«, die Tatsache, daß die Zahl der zu- und abwandernden Fabrikarbeiterfamilien die der Beamtenfamilien in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre nur selten erreicht. 53 Überhaupt ist bei der Betrachtung des Minderheitenphänomens der Familienwanderung zu betonen, daß die am ehesten zur Arbeiterklasse zu rechnenden Gruppen der Fabrikarbeiter und Tagelöhner bis zu Beginn der 1880er Jahre nur selten mehr als ein Viertel der wandernden Familien stellen. Das häufig angeführte 79

»floating proletariat« hat also nur sehr bescheidenen Anteil an der Familienwanderung.54

7. Geographische Herkunft der Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter In den nun folgenden Abschnitten dieses Kapitels stehen endlich die H a n d werker u n d Arbeiter im Vordergrund. Die obige Einbringung der zumeist alle nach bzw. aus Düsseldorf Z u - und A b w a n d e r n d e n erfassenden Wanderungsstatistiken schien jedoch zur Einordnung der i m folgenden ausgebreiteten berufsspezifischen Ergebnisse und zur genaueren B e s t i m m u n g der methodischen Grenzen verschiedener Ansätze der historischen Migrationsforschung notwendig. Die i m folgenden gemachten Angaben gründen sich auf einen aus d e m Düsseldorfer Adreßbuch von 1855 u n d den gleichzeitigen Düsseldorfer Bürgerbüchern gebildeten Datensatz. 5 5 Beide Quellen beschränken sich weitestgehend auf selbständig Wohnende. Von diesen w u r den sämtliche Vertreter ausgewählter handwerklicher Berufe, sämtliche Fabrikarbeiter u n d Tagelöhner mit ihren Familienangehörigen in den Datensatz a u f g e n o m m e n . Es m u ß also im folgenden beachtet werden, daß die hochmobile G r u p p e j u n g e r Lediger (Gesellen und Gesinde) von der Analyse ausgeschlossen bleibt. Diese quellenbedingte Begrenztheit teilen andere Studien, ohne sie jedoch zu benennen und in ihren möglichen Auswirkungen auf die so gewonnenen Ergebnisse zu diskutieren. 5 6 Andererseits schließt die A u f n a h m e in Adreß- u n d Bürgerbuch keineswegs vorherige Ledigenwanderung aus; angesichts des Ausmaßes der Wanderungen von Gesellen und Gesinde scheint diese vielmehr wahrscheinlich. Obgleich aus dem Vergleich von Wohn- (oder Heirats-) und Geburtsort keinerlei Rückschlüsse auf Wanderungshäufigkeiten möglich sind, ist die geographische H e r k u n f t der Düsseldorfer H a n d w e r k e r und Arbeiter aufschlußreich für die Ü b e r p r ü f u n g der in den vorhergehenden Abschnitten aufgestellten Thesen zur relativen Effektivität von N a h - und Fernwanderung. Läßt m a n zunächst die berufsspezifischen Unterschiede außer Acht und betrachtet nur die Randverteilungen der Tabelle 16 (im Anhang), fällt es schwer den Anteil der Ortsgebürtigen einzuordnen. Vergleiche mit A n g a ben über den Anteil der Ortsgebürtigen an der ortsansässigen Bevölkerung für andere Jahre (z. B. fur Düsseldorf 1871: 62,3%) sind unzulässig, da diese durch Einbeziehung von Kindern (auch und gerade der Zugewanderten) den Ortsgebürtigenanteil aufblähen. 5 7 Auch die überwiegend auf bei der Heirat gemachten Angaben basierenden Untersuchungen von Borscheid und Schomerus beschreiben keine v o m Altersaufbau her vergleichbaren Bevölkerungen. O b ein Ortsgebürtigenanteil v o n etwa 40% f ü r die männliche Erwerbsbevölkerung (bzw. einen Teil derselben) einer größeren Stadt u m die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts relativ hoch oder relativ niedrig ist, kann deshalb nicht entschieden werden. Bemerkenswert ist in j e d e m Falle, 80

daß der Anteil der Ortsgebürtigen bei den Unselbständigen deutlich über dem der Selbständigen liegt. Auffallend weiterhin der verschwindend geringe Anteil von in anderen Gemeinden des Kreises Geborenen. Hier bestätigt sich die im Anschluß an Tabelle 11 formulierte Vermutung, wonach der Austausch mit den anderen Gemeinden des Kreises von zeitlich begrenzten, allerdings nicht nur saisonalen, Wanderungen bestimmt sei, ebenso wie die Zurückweisung aller Versuche, auf Angaben über den Geburtsort Aussagen zur Wanderungshäufigkeit stützen zu wollen. Gleichermaßen bekräftigt der in etwa auf einer Höhe mit dem Anteil der in anderen Kreisen des Regierungsbezirks Geborenen liegende Prozentsatz der in anderen Regierungsbezirken Geborenen die Aussagen zur mit der Entfernung zunehmenden »Effektivität« der Wanderungen, liegt doch die Zuwanderung aus anderen Regierungsbezirken vor 1855 unter der aus den übrigen Kreisen des Düsseldorfer Regierungsbezirks (vgl. Tabelle 11). Und schließlich paßt auch die unbedeutende Zahl gebürtiger Ausländer gut zu der Annahme, daß es sich bei den Auslandswanderungen überwiegend um Gesellenwanderungen handelt, die nicht in Düsseldorf ihr Ende finden. Bei der Analyse der berufsspezifischen Unterschiede in der Orts- bzw. Fremdgebürtigkeit wollen wir uns zunächst den selbständigen Handwerkern zuwenden. Hier ist interessanterweise der Anteil der geborenen Düsseldorfer in den ärmeren und zu großen Teilen dem Verlagssystem unterworfenen Gewerben am höchsten, während sich die besser situierten Bäkker- und Metallhandwerker überproportional aus den anderen Gemeinden des Kreises (Verbindung zu Müllern im, Zuzug von Hufschmieden aus dem Umland?), vor allem aber aus anderen Kreisen des Regierungsbezirkes (Bäcker) und aus anderen Regierungsbezirken (Metallhandwerker) rekrutieren. Es wäre sicher vorschnell, dieses Ergebnis als Bestätigung gängiger Thesen zum Zusammenhang von geographischer Mobilität und beruflichem Aufstieg zu werten, doch ist der hohe Anteil Fremdgebürtiger in Gewerben mit vergleichsweise hohem Kapitalbedarf, in denen man vielleicht am ehesten hohe Betriebsvererbung erwarten würde, recht bemerkenswert. 58 Immerhin sind auch von den Schreiner-, Schneider- und Schuhmachermeistern über zwanzig Prozent in anderen Regierungsbezirken geboren, bei den Metallhandwerkern vierzig Prozent. Diese herausragende Stellung der Metallhandwerke darf wohl mit der beschriebenen Expansion dieser Gewerbezweige in Zusammenhang gebracht werden. Durchweg liegt der Ortsgebürtigenanteil der Unselbständigen deutlich über dem der Selbständigen, während die Anteile der in anderen Regierungsbezirken Geborenen niedriger sind. Die Verteilung der Geburtsorte der verheirateten Gesellen in den Massenhandwerken der Schreiner, Schneider und Schuhmacher entspricht in etwa der der Meister. 59 Auffallend bei den Unselbständigen, daß fast zwei Drittel der Tagelöhner, aber nur ungefähr ein Viertel der Fabrikarbeiter und der Metallhandwerker in Düsseldorf geboren sind. Daß die Fabrikarbeiter überproportionalen Anteil an den in 81

anderen Kreisen des Regierungsbezirks Geborenen haben, spiegelt den Industrialisierungsvorsprung von Städten wie Elberfeld und Barmen. In der Verteilung ihrer Geburtsorte ähneln die Fabrikarbeiter dabei den Metallhandwerkern weit mehr als den Tagelöhnern.

8. Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter

Die Aussagekraft der Verteilung der Geburtsorte, die der Vergleichbarkeit wegen den oben benutzten Wanderungsstatistiken entsprechend kategorisiert wurden, ist mit diesen kurzen Bemerkungen sicherlich nicht erschöpft. In diesem Abschnitt soll aber statt einer eingehenderen Analyse der Geburtsortverteilung ein Verfahren angewandt werden, das wohl als Königs- (oder Thernstrom-)weg der historischen Migrationsforschung bezeichnet werden kann. In seiner zuerst 1964 veröffentlichten Lokalstudie bestimmte Stephan Thernstrom ausgehend von einer Stichprobe aus den Volkszählungslisten von 1850 für Newburyport, Mass. den Prozentsatz der zehn, zwanzig und dreißig Jahre später noch Ortsansässigen sowie deren Berufe. 6 0 Seither ist diese scheinbar einfache Methode wohl hundertfach repliziert worden. 6 1 Nur selten ist dabei mehr als die Hälfte der Ausgangsstichprobe nach zehn Jahren wieder aufgefunden worden, ein Ergebnis, das als Beleg für eine enorme geographische Mobilität gewertet worden ist. 6 2 Aufgrund des Mangels an den amerikanischen Volkzählungslisten vergleichbaren Quellen gibt es nur wenige Nachfolgestudien für den deutschsprachigen Raum. Auch diese bestätigen eine hohe Mobilität, die also kein amerikanisches Spezifikum gewesen zu sein scheint. 63 In Anbetracht der großen Zahl von Nachfolgestudien hat es überraschend lange gedauert, bis die Methodik dieser Studien kritisch beleuchtet worden ist. 6 4 Donald H. Parkerson, der neben den Ergebnissen einer typischen Mobilitätsstudie auch direkte Aussagen einer Bevölkerung über die Länge ihres Aufenthaltes am Ort benutzen konnte, berichtet einen Unterschied von über zwanzig Prozentpunkten zwischen den Ergebnissen der beiden Verfahren. Zwar waren nur 36,6% der Ausgangsbevölkerung nach Thernstroms Methodik wieder auffindbar, unter Benutzung der zusätzlichen Informationen über die Aufenthaltsdauer schätzte Parkerson den Prozentsatz der noch Ortsansässigen aber auf 59%. Diesen enormen Unterschied führt er auf Erhebungsmängel und methodische Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Personen zurück. 65 Naheliegender als dieser beeindruckende Versuch, mögliche Meßfehler zu schätzen, wäre die Berücksichtigung der Sterblichkeit gewesen. Die (nach zumeist 10 Jahren) nicht auffindbaren Personen als Ab wanderer zu begreifen, ist ganz offensichtlich kurzschlüssig, da ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung verstirbt. 66 Neben der Berücksichtigung der Sterblichkeit ist vor allem methodische Transparenz zu fordern. Arbeiten, die, wie die Crews, keinerlei Aufschluß 82

über die angewandte Stichprobenprozedur und über die Kriterien geben, nach denen über die Identität zweier in zwei verschiedenen Listen aufgeführten Personen entschieden wird, können kein Zutrauen in ihre Ergebnisse erwarten. 6 7 Eine kurze Darstellung der von mir selbst gewählten Vorgehensweise mag die Gründe fur einen solchen, vielleicht übertrieben anmutenden, Rigorismus veranschaulichen. Das Grundproblem besteht in der einfachen Frage: ist der im Adreßbuch von 1855 verzeichnete Theodor Vogelsang mit dem 1863/1867 aufgelisteten identisch? 68 Die in Adreßbüchern in aller Regel über den Namen hinaus enthaltenen Angaben zu Beruf und Anschrift helfen bei der Beantwortung dieser Frage nicht weiter, sind doch Beruf und Adresse höchst veränderlich und in ihrer Veränderlichkeit oft gerade der Gegenstand der Mobilitätsstudie. Fehlen nähere Angaben wie Geburtsort und -datum ist wohl niemals ganz auszuschließen, daß ein Theodor Vogelsang in der Zeit zwischen zwei Stichpunkten ab- und ein anderer zugewandert ist. Völlig aussichtslos sind Versuche, Träger gängiger N a men, wie Josef Müller und Peter Schmitz, zu identifizieren. 69 Weitere Probleme des »record linkage« sollen hier nicht referiert werden, stattdessen will ich mein eigenes Vorgehen kurz skizzieren. Aus dem Grunddatensatz wurden die Träger wenig häufiger (d. h. maximal zweimal vorkommender) Nachnamen, deren Häufigkeit bei der Erstellung des Datensatzes mitkodiert worden war, entnommen. Für die Berufe, die der so erstellte Teildatensatz noch in ausreichendem Maße enthielt, um eine statistisch bedeutungsvolle Analyse zuzulassen, wurde dann ein »record linkage« mit späteren Adreßbüchern versucht. In der amerikanischen Diskussion war die Beschränkung auf weniger gebräuchliche Namen umstritten, da hier manche Namen, die für einzelne ethnische Gruppen typisch waren, ausgeschlossen wurden, doch konnten empirische Untersuchungen die weitestgehende Repräsentanz der Träger seltenerer Namen für die Gesamtbevölkerung bestätigen. 70 Schließlich läßt sich der benutzte Teildatensatz unschwer mit dem Grunddatensatz vergleichen. In einem ersten Schritt wurde aus den Düsseldorfer Familienblättern, einer Fortschreibung der Bürgerbücher, das Todesdatum der in den späteren Adreßbüchern zu Suchenden ermittelt. 7 1 Dann erst wurden die Adreßbücher von 1863, 1867, 1875 und 1885 auf die im Teildatensatz Enthaltenen hin überprüft. 7 2 Die in Tabelle 17 zusammengestellten Ergebnisse sind, gemessen an früheren M o bilitätsstudien, verblüffend. Zunächst sollen erneut berufsspezifische U n terschiede unbeachtet bleiben. Angesichts des überraschend niedrigen Prozentsatzes der zwischen 1855 und 1867 Abgewanderten stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Repräsentativität der Ergebnisse. Es wurde bereits ausgeführt, daß durch die Beschränkung auf die Träger seltenerer Namen keine Verzerrungen zu erwarten sind. Da der Grunddatensatz durch eine Vollerhebung erstellt worden ist, sind Fehler aufgrund von Mängeln der Stichprobenziehung ebenfalls ausgeschlossen. Zumindest für die Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter können die Ergebnisse also Gültigkeit 83

Tabelle 17: Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855-1867 Beruf

ortsansässig

gestorben

abgewandert

Summa

Bäckermeister % Schreinermeister % Schneidermeister % Schuhmachermeister % Metallhandwerksmeister %

37 66,1 64 58,7 80 58,8

9 16,1 39 35,8

10 17,9

47 34,6

9 6,6

56 100,0 109 100,0 136 100,0

67 58,7

32 28,1

15 13,2

29 60,5

15 31,3

4 8,3

114 100,0 48 100,0

Selbständige insgesamt %

277 59,4

142 30,7

44 9,5

463 100,0

Schreinergesellen %

26 22,4 16 15,0

29 25,0 38 35,5 20 27,4

116 100,0

Schneidergesellen % Schuhmachergesellen % Metallhandwerksgesellen % Fabrikarbeiter % Tagelöhner %

61 52,5 53 49,5 41 56,1 52 61,1 25 42,4 40 46,5

13 15,3 9 15,3 27 31,4

20 23,5 25 42,4 19 22,1

59 100,0 86 100,0

Unselbständige insgesamt %

272 51,7

103 19,7

151 28,6

526 100,0

Summa %

549 55,6

245 24,9

195 19,7

989 100,0

SPSS-Auswertung des Datensatzes Mobilität.

84

12 16,4

6 5,5

107 100,0 73 100,0 85 100,0

beanspruchen. Wegen des zeitaufwendigen Suchens in den Familienblättern wurden lediglich die zahlenmäßig stärkeren Gruppen der Schuhmachermeister, der Tischlergesellen und der Tagelöhner auf eine den anderen Gruppen vergleichbare Größe reduziert. Und zwar wurde mit Hilfe des SPSS-Programmpakets eine Zufallsstichprobe von je zwei Dritteln der Schuhmachermeister und Tischlergesellen sowie von einem Siebtel der Tagelöhner - d. h. genauer von denen mit den selteneren Namen - gezogen. 73 Wie die Tabelle 17 ausweist, sind damit aber keineswegs besonders mobile Gruppen gemessen an ihrem Vorkommen in der Düsseldorfer Gesellschaft um die Jahrhundertmitte zu kurz gekommen. Eine Einschränkung muß jedoch wiederholt werden: die in den Datensatz Aufgenommenen sind selbständig Wohnende, stehen einem Haushalt vor, und es steht zu erwarten, daß dies eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weniger mobile Personengruppe ist. Michael Katz hat in seiner wichtigen Hamilton-Studie die relative Persistenz von Haushaltungsvorständen untersucht und seine Ergebnisse machen deutlich, daß diese Beschränkung der von uns benutzten Daten allein die überraschenden Resultate nicht erklärt. 74 Es bleibt also festzuhalten, daß mehr als die Hälfte der 1855 im Düsseldorfer Adreßbuch verzeichneten Handwerker und Arbeiter zwölfjahre später noch (oder aber auch wieder) in Düsseldorf leben und daß von den nicht mehr Auffindbaren ebensoviele verstorben wie abgewandert sind. N u n stellt sich die Frage nach der Repräsentativität der Ergebnisse noch in einem anderen Sinn. Sind die hier behandelten Handwerker und Arbeiter vielleicht einfach weniger mobil als andere Berufsgruppen? Eine empirische Antwort erlaubt das von mir maschinenlesbar gemachte Düsseldorfer Material nicht, wiewohl eine analoge Analyse fur die Gesamtbevölkerung quellenmäßig natürlich möglich wäre. Die vorliegende Literatur zur Wanderung im neunzehnten Jahrhundert legt ohnehin eher eine gegenläufige Annahme nahe. Überwiegend wird von der Wanderung als einem von den Unterschichten getragenen Phänomen geschrieben. Diese Einschätzung stößt zwar zunehmend, und m. E. zu Recht, auf Kritik, doch wird eine unterdurchschnittliche Beteiligung von Handwerkern und Arbeitern an den Wanderungsbewegungen nirgends behauptet. 75 Die vorliegenden Studien stützen vielmehr weitestgehend die Aussagen von Michael Katz, der nicht die in Hamilton wie in Düsseldorf deutlichen Unterschiede zwischen einzelnen Berufen bestreitet, sondern lediglich betont, daß diese sich zu keinem systematischen Zusammenhang zwischen beruflichem Status (oder Qualifikation) und Mobilität verdichten. 76 Stattdessen benennt er neben der Stellung im Lebenszyklus, auf die wir vermittelt über das Alter noch zu sprechen kommen werden, vor allem den Wohlstand als Erklärungsfaktor geringerer Mobilität. Die Handwerker und Arbeiter können indessen - wie wir gesehen haben - sicher nicht zu den wohlhabenderen Gruppen der Düsseldorfer Gesellschaft gerechnet werden, für die nach Katz eine besondere Bindung an die Stadt zu vermuten wäre. 7 7 Zusammenfassend gibt es also keinen Grund, 85

weshalb man die in Tabelle 17 zu Tage tretende hohe Ortstreue als eine den ausgewählten Berufen spezifische Eigenheit ansehen sollte. Schließlich ist das eigentlich überraschende Resultat ja auch weniger der Prozentsatz der nach z w ö l f j a h r e n noch Auffindbaren, wiewohl auch dieser über den Ergebnissen vergleichbarer Studien liegt, als vielmehr der geringe Anteil der Abwanderer und die hohe Zahl der Verstorbenen. Es ist deshalb anzunehmen, daß andere Studien, hätten sie ebenfalls Informationen zu den Todesdaten der in den Adreßbüchern Verfolgten herangezogen, zu in der Größenordnung ähnlichen Ergebnissen gekommen wären.

9. Persistenz und Alter Vor der eingehenderen Analyse berufsspezifischer Differenzen bezüglich der Ortstreue m u ß die Berücksichtigung des Altersaufbaus der untersuchten Gruppen stehen. Einige diesbezügliche Daten sind in Tabelle 18 zusammengestellt. Die vorgenommene recht grobe Einteilung nach Altersgruppen macht die Unterschiede zwischen den Selbständigen und den Unselbständigen deutlich. Zwei Drittel der Handwerksmeister sind zwischen 35 und 54 Jahren alt; bei den Unselbständigen sind dagegen mehr als zwei Drittel jünger als 45 Jahre. Darüberhinaus deutet die höhere Sterblichkeit der Selbständigen in den jeweiligen Altersklassen das Überwiegen der Selbständigen am oberen und der Unselbständigen am unteren Ende der Altersklassen an. N u n ist es wenig überraschend, daß die Sterblichkeit in den höheren Altersklassen besonders hoch ist, doch darf nicht übersehen werden, daß der Tod in keiner Altersgruppe selten ist. Dagegen ist der Zusammenhang von Alter und Abwanderung keineswegs linear. Daß die Abwandererquote der Selbständigen bei den Jüngeren ihr M a x i m u m hat, überrascht weit weniger als ihr Wiederansteigen bei den über 54-jährigen. Über die Ziele dieser Alterswanderung wissen wir wenig, doch scheint die Rückkehr an den Geburtsort eines der Ehepartner wahrscheinlich. Zu berücksichtigen ist aber auch, daß eine Ü b e r h ö h u n g der Zahl der Abwanderer bei den über 54-jährigen wahrscheinlich ist. Mancher wird in den späteren Adreßbüchern fehlen, weil er keinen eigenen Haushalt mehr fuhrt, nicht weil er abgewandert wäre. Die mögliche Aufgabe eines selbständigen Haushalts stellt sich bei den Unselbständigen als ein möglicherweise alle Altersklassen betreffendes Problem. Die hohe Zahl der Verheirateten (ca. vier Fünftel) unter den Unselbständigen schließt grobe Verzerrungen allerdings aus. Lediglich im Falle der Verwitwung wird der verheiratete Handwerksgeselle den Schritt zurück zu Kost und Logis getan haben. 7 8 Auch hier ist also mit einer Ü b e r h ö h u n g der Abwandererquote in der höchsten Altersklasse zu rechnen. Entgegen allen Erwartungen besteht fast überhaupt kein Zusammenhang zwischen dem Alter und der Abwanderungshäufigkeit der Unselbständigen, deren Prozentsatz erstaunlich konstant ist. So lassen sich die Unterschiede zwischen 86

Tabelle 18: Persistenz Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter 1855—1867 nach Altersgruppen a) Selbständige Handwerker Alter 25-34Jahre % 35-44Jahre %

ortsansässig 42 66,7

gestorben

abgewandert

Summa

110 69,2

10 15,9 37 23,3

11 17,5 12 7,5

63 100,0 159 100,0

45-54Jahre %

93 64,6

42 29,2

144 100,0

55 Jahre und älter o//o

25 28,7

52 59,8

unbekannt % Summa o//o

7 70,0 277 59,4

1 10,0 142 30,7

9 6,3 10 11,5 2 20,0 44 9,5

87 100,0 10 100,0 463 100,0

b) Unselbständige Handwerker, Fabrikarbeiter und Tagelöhner Alter

ortsansässig

gestorben

abgewandert

Summa

1 5 - 2 4 Jahre % 25-34Jahre % 35-44Jahre % 4 5 - 5 4 Jahre %

14 46,7

6 20,0

10 33,3

30 100,0

108 58,1 90 60,0 37 47,4

24 12,9

186 100,0

19 24,4

54 29,0 40 26,7 22 28,2

55 Jahre und älter %

16 27,1

31 52,5

12 20,3

unbekannt %

7 30,4 272 51,7

3 13,1

13 56,5 151 28,6

Summa %

20 13,3

103 19,7

150 100,0 78 100,0 59 100,0 23 100,0 526 100,0

SPSS-Auswertung des Datensatzes Mobilität.

87

Selbständigen und Unselbständigen nicht allein auf den unterschiedlichen Altersaufbau der beiden Gruppen zurückfuhren. Vielmehr dürfte es der Besitz eines eigenen Betriebes, mit dem allerdings nur in Ausnahmefällen ein gewisser Wohlstand verbunden war, gewesen sein, der die besondere Bindung der Selbständigen begründete. Vor der Erklärung berufsspezifischer Differenzen innerhalb der Gruppen der Selbständigen und der Unselbständigen ist zu fragen, ob diese Bestand haben oder auf Unterschiede im Altersaufbau zurückgeführt werden können. Die in Tabelle 19 (im Anhang) gegebene Aufstellung der Persistenz von 1855 bis 1875 zeigt, daß von 1855 zu 1867 noch feststellbare Differenzen weitestgehend verschwunden sind. Der Anteil der Ortsansässigen schwankt bei den Selbständigen sehr geringfügig um knapp vierzig, der der Verstorbenen um etwas mehr als fünfzig Prozent. Die Zunahme der Zahl der Abgewanderten gegenüber 1867 ist verschwindend gering. Dies läßt sich ganz allgemein formulieren: Wer nach zwölfjahren noch in Düsseldorf auffindbar ist, wandert auch danach nicht mehr ab. Gelegentlich läßt sich sogar Rückwanderung belegen, so für drei Bäckermeister und einige Tagelöhner. Letztere stehen bezüglich ihres Wanderungsverhaltens zwischen Selbständigen und Unselbständigen. Altersmäßig stehen sie, wie die hohen Anteile der Verstorbenen ausweisen, den Handwerksmeistern näher, doch ist der Anteil der Abwanderer deutlich höher als bei jenen. Unter den Handwerksgesellen nehmen die Schneider, wie bei den Meistern die Schuhmacher, eine Sonderstellung ein. Dem in den geringeren Verstorbenenanteilen zum Ausdruck kommenden jüngeren Altersaufbau dieser beiden Gruppen entspricht eine etwas höhere Abwanderung. Unter den Unselbständigen sind es aber vor allem die Fabrikarbeiter, die im Vergleich zu den (selbständig wohnenden) Handwerksgesellen und Tagelöhnern weniger ortsgebunden sind. Einen ersten Hinweis auf die Besonderheiten der Fabrikarbeiterwanderungen liefert der Kontrast zwischen dem sehr bescheidenen Anteil der Fabrikarbeiterfamilien an der jährlichen Familienwanderung (vgl. Tabelle 15) und der geringen Persistenz zwischen 1855 und 1867. Der Verzug zu einem neuen Arbeitsplatz nach einigen Jahren an einem Ort, nicht aber die Saison- oder überhaupt zirkuläre Wanderung, scheint für die Fabrikarbeiterschaft dieser fahre typisch. Diese Wanderungsform, die im folgenden Abschnitt mit einigen Beispielen illustriert werden soll, löst den (Schein-) Widerspruch zwischen geringer WanderMM^häufigkeit und hoher Abwandererquote (über zwölfjahre) auf. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß nur ein Teil der Fabrikarbeiterschaft überhaupt abwandert. Von den mehr als vierzig Prozent der Fabrikarbeiter in unserem Datensatz, die nach zwölfjahren noch in Düsseldorf ansässig sind, wandert auch in den folgenden Jahren keiner mehr ab.

88

10.

Wanderungsbiographien

Das wünschenswerte Zwischenstück zwischen Statistiken über die Häufigkeit von Wanderungen und Versuchen, die Anwesenheit von Individuen bzw. Familien von einem zum anderen Stichjahr zu bestimmen, wären Wanderungsbiographien. Solche Quellen, am ehesten noch in den Wanderbüchern der Handwerksgesellen überliefert, gibt es für Düsseldorf nicht. 7 9 Indirekten, wiewohl unvollständigen Aufschluß bieten jedoch die bereits benutzten Bürgerbücher und Familienblätter. Die Spalte, in die der letzte Wohnort eingetragen werden sollte, wurde zwar nur selten ausgefüllt, doch sind in den Geburtsorten der Kinder oft auch Etappen der Wanderung festgehalten. Die so erfaßten Wanderungen sind in zweifacher Hinsicht unvollständig. Z u m einen ist nicht gesagt, daß auf diese Weise alle zwischen der Geburt des ersten und des letzten Kindes stattgehabten Wanderungen erfaßt werden. Z u m anderen wird ein Lebensabschnitt betrachtet, in dem typischerweise wenig gewandert wurde. Trotz dieser Einschränkungen kann uns dieses Material einen Einblick in Wanderungsabläufe geben. Ausgewählt wurden Beispiele, die nach Durchsicht sämtlicher Fälle bei der Kodierung repräsentativ erscheinen. Typisch in ihrer Kleinräumigkeit ist die Wanderung des 1803 in Neuss geborenen Tagelöhners Heinrich Josef Vennen. Seine zehn Jahre jüngere Frau heiratet er wahrscheinlich in Mönchen-Gladbach. Zumindest ist dies der Geburtsort seiner Frau wie auch der Geburtsort ihrer ersten Tochter. Zwei Jahre darauf wird ihr erster Sohn in Bilk, einer damaligen Außengemeinde Düsseldorfs geboren, ein weiterer Sohn in Pempelfort, einer anderen Außengemeinde. Pempelfort wird auch von Vennen als letzter Wohnort angegeben, als die Düsseldorfer Polizei 1854 die Bürgerbücher anlegt. Dagegen sind die Kinder des Bäckermeisterehepaares Rehfeldt sämtlich in Düsseldorf geboren. Meister Rehfeldt stammt aus Arnsberg, seine Frau aus Minden. Rehfeldt gibt an, zuletzt in Köln gewohnt zu haben, doch bleibt offen, ob er dort vor oder nach seiner Heirat ansässig war. Die große Seßhaftigkeit der selbständigen Handwerker, die wir oben konstatiert haben, nimmt mit der Geburt eines Kindes noch zu. Bei den Unselbständigen ist die Wanderung mit Kindern zwar weniger selten, doch ist sie, sehen wir von den Fabrikarbeitern zunächst einmal ab, zumeist auf die nähere U m g e bung beschränkt und deshalb vom innerstädtischen Umzug nur schwer zu trennen. Der Geburtsort des Schreinergesellen Peter Islebe ist nicht bekannt, seine acht Jahre jüngere Frau ist gebürtige Düsseldorferin. Auch ihr erster Sohn wird in Düsseldorf geboren. Dessen anderthalb Jahre jüngerer Bruder erblickt in Oberbilk, einem späteren Industrievorort von Düsseldorf das Licht der Welt. Der Z u - und Abzug aus und nach den Außengemeinden der Stadt ist hier wohl eher als Umzug, denn als Wanderung zu verstehen, doch ist das eine Frage der Definition. Die weiteren Kinder der Familie Islebe werden wieder in Düsseldorf geboren. Peter Islebe, der schon als 19-jähriger 89

aus Mettmann zugewandert ist, steht mit seiner Ortstreue unter den unselbständigen Familienvätern keineswegs allein. Bezeichnend für die größere Räume verbindenden Wanderungsbewegungen der Fabrikarbeiter ist das Beispiel der Familie Willmund. Wilhelm stammt aus Wülfrath, seine Frau aus Frankenhausen bei Erfurt; es ist nicht bekannt, w o die beiden geheiratet haben, doch scheint es wenig wahrscheinlich, daß dies ausgerechnet in Ründeroth, einem O r t im bergisch-märkischen Industriegebiet, geschah. Dort gibt Wilhelm Willmund an, zuletzt gelebt zu haben. Sein gleichnamiger Sohn ist dann schon in Düsseldorf geboren. Die häufigsten Geburtsorte der 1855 in Düsseldorf ansässigen Fabrikarbeiter sind Elberfeld und Barmen. Aus Barmen stammt auch Friedrich Wilhelm vom Kohlen. Die ersten drei Söhne, die er mit seiner in Odenkirchen (heute ein Teil von Mönchen-Gladbach) geborenen Frau hat, werden in Grevenbroich, ein vierter ganz in der Nähe von Grevenbroich geboren. Bei der Geburt ihrer Tochter schließlich lebt die Familie in M ö n chen-Gladbach, von wo sie nach Rheydt zieht, bevor sie sich 1850 in Düsseldorf niederläßt. Typisch für die Unselbständigen insgesamt ist die recht hohe Mobilität im Alter. Johann Jacob Roßbach, gebürtiger Elberfelder wie seine Frau, wandert mit 26 Jahren aus Elberfeld zu. Ihren ersten Sohn bringen die Roßbachs schon mit nach Düsseldorf. Zwei weitere Söhne und eine Tochter werden in den folgenden sechs Jahren geboren, ohne daß ihre Geburtsorte angegeben wären. Interessanterweise löst sich der Haushalt nach etwa zwanzig Jahren durch Wanderung auf. Als erster verläßt Wilhelm Emil, der zweite Sohn, siebzehnjährig Düsseldorf. Sein älterer Bruder Johann Jacob j r . wandert ein Jahr später ab. Als auch der jüngste Sohn Karl August im Alter von 18Jahren abwandert, meldet sich Johann Jakob sen. ab. Leider sind die Zielorte der Abwanderungen nicht angegeben, so daß offenbleiben muß, w o der mit 48 Jahren sicherlich als alt anzusehende Fabrikarbeiter seinen Lebensabend verbringt. 8 0 Die ausgewählten Wanderungsbiographien genügen sicherlich nicht den Ansprüchen statistischer Repräsentativität. Einige Beobachtungen können dennoch als typisch festgehalten werden. Die Wanderung von Tagelöhnerfamilien ist weitestgehend auf die nähere Umgebung, insbesondere den linksrheinischen Raum konzentriert. Darüber hinaus ist hier die Herkunft aus den die saisonale Erntearbeiterschaft stellenden Gebieten der Eifel und des Westerwaldes besonders häufig. 8 1 Bei den Tagelöhnern wird auch am deutlichsten, daß die Mehrzahl der Wanderungen nicht als Entwurzelung begriffen werden kann. Der Geburtsort des Mannes, der Geburtsort der Frau, dies sind die Punkte, zwischen denen sich Wanderungsbewegungen häufig abspielen. Andere mögliche Anlaufpunkte, wie der Wohnort von Geschwistern, sind in den benutzten Quellen nicht auszumachen, doch mindert das ihre anzunehmende Bedeutung für Wanderungsziele und -entscheidungen nicht. 8 2 Selbst bei den Fabrikarbeitern, die zu höherer Mobili90

tat auch über größere Entfernungen tendieren, läßt sich gelegentlich der Geburtsort der Frau als wiederholte Wanderungsetappe nachweisen. 83 Dieser Befund stellt die willkürliche Definition der »Hochmobilen« in einem jüngeren Aufsatz in Frage: »Als hochmobil wurde ein Zuwanderer eingestuft, wenn von ihm der Geburtsort, der Herkunftsort und der Verzugsort nicht mit dem Etappenziel Münster identisch und alle vier Orte unter einander verschieden waren.« 8 4 Die mit der Kennzeichnung als »hochmobil« leicht assoziierte Rastlosigkeit trifft m. E. nicht einmal die Wanderungen der Fabrikarbeiter. Wer irgendwo im bergischen Land geboren, später in Elberfeld eine Lehre absolviert, in Düsseldorf heiratet und schließlich seinen Lebensabend im niederrheinischen Geburtsort seiner Frau verbringt, erfüllt zwar die Bedingungen Borscheidscher Hochmobilität, dürfte sich aber dennoch nicht als ruheloser Wanderer fühlen. In jedem Fall ist es wichtig festzuhalten, daß auch die am wenigsten Seßhaften (die Fabrikarbeiter) nicht planlos umhergeirrt zu sein scheinen, daß Wanderungsentscheidungen in Kommunikationsnetze und soziale Beziehungen eingebettet gewesen sein werden, wiewohl diese nur schwer rekonstruierbar sind.

11.

Zusammenfassung

Schon zu Beginn der 1840er Jahre hat das Wanderungsvolumen das Niveau der frühen 1880er Jahre erreicht. Zusätzlich warnen die recht hohen Mobilitätskennziffern für den Kreis Düsseldorf, der bis auf die Stadt agrarischen Charakter hat, vor dem durch manche Variante der Modernisierungstheorie nahegelegten Mißverständnis von der stabilen traditionalen Agrar- und der hochmobilen modernen Industriegesellschaft. Die Unterscheidung von Wanderungsdistanzen zeigt einen Zusammenhang von längerfristigem Wanderungsgewinn und zunehmender Wanderungsdistanz. Es ergibt sich zudem ein allmählicher Zuwachs der Familien- gegenüber der Einzelwanderung. Während die Einzelwanderung als vor allem von jungen ledigen Männern und (zu etwas geringerem Teil) Frauen gekennzeichnet werden kann, ist die einen geringeren Teil des Wanderungsvolumens ausmachende Familienwanderung für den größten Teil des auf Wanderungsgewinne rückführbaren Bevölkerungszuwachses der Stadt verantwortlich. Schließlich hat die Familien Wanderung auch überproportional großen Anteil an der Wanderung über größere Entfernungen. Borscheids Behauptung »Fernwanderung ist demnach gleichzusetzen mit Intelligenzwanderung von Einzelpersonen« ist einfach unzutreffend, wiewohl aus der methodischen Beschränkung seiner Arbeit erklärlich: wer »Wanderer« bei ihrer Heirat faßt, wird zwangsläufig wenig wandernde Familien finden.85 Die Familienwanderung, so konnte gezeigt werden, ist durchaus nicht von Arbeiterfamilien dominiert; Beamte, Fabrikanten und Kaufleute haben einen beachtlichen Anteil. Die Zuwanderung auf Dauer findet ihren Niederschlag auch in der Ortsgebür91

tigkeit der Handwerker und Arbeiter. Interessanterweise finden sich unter den Selbständigen relativ weniger geborene Düsseldorfer als unter den Unselbständigen. Dieser Befund mag sich aus der Altersabhängigkeit der Wanderung erklären. Zumindest liegt der Prozentsatz der zwischen 1855 und 1867 Abwandernden bei den (im Durchschnitt jüngeren) Unselbständigen deutlich über dem Vergleichswert für die Selbständigen. Die genauere Analyse zeigt jedoch, daß die Unterscheidung nach Altersgruppen den Unterschied in der Seßhaftigkeit zwischen Selbständigen und Unselbständigen nicht erklären kann. Beide Werte liegen aber deutlich unter den Ergebnissen anderer, vor allem nordamerikanischer Studien. Der recht frappante Unterschied, so wurde argumentiert, liegt in methodischen Schwächen, insbesondere der Vernachlässigung der hohen Sterblichkeit, in den vorliegenden Mobilitätsstudien begründet. 8 6 Es wurde eingangs betont, daß die den Arbeiten zur Migration üblicherweise zu Grunde liegenden Materialien wie Statistiken über Wanderungsbewegungen, Ortsgebürtigkeitsaufstellungen und Berechnungen von Persistenzraten keineswegs austauschbar sind, da sie zu ganz verschiedenen Fragen sprechen. Diese ganz verschiedenartigen Quellen miteinander zu kontrastieren, kann jedoch sehr fruchtbar sein. So ist denn im hohen Wanderungsvolumen einerseits und im niedrigen Anteil der binnen zwölf Jahren Abwandernden kein Widerspruch zu sehen. Vielmehr belegt die vergleichsweise hohe Stabilität der ortsansässigen Bevölkerung, daß diese kaum Anteil an den zahlreichen Wanderungsbewegungen hatte. Ein solcher Stabilitätsbefund hat natürlich Implikationen für die von einer großstadtfeindlichen Literatur immer wieder beschworenen Visionen vom Verlust der »Gemeinschaft«, vom Verfall sozialer Bindungen. 8 7 Leider wissen wir über die Wanderer weit weniger als über die ortsansässige Bevölkerung. Die aus einzelnen Bruchstücken nur unvollständig zusammengesetzten Wanderungsbiographien begründen jedoch Skepsis gegenüber Vorstellungen von ziellos umherirrenden Arbeitslosen. Die Dominanz der bis zu Dreißigjährigen bei der Einzelwanderung läßt es als sehr wahrscheinlich erscheinen, daß fur diese Altersgruppe die Wanderung ein ganz normaler Abschnitt des Lebenslaufs war. 8 8 Gerade über diese Gruppe wissen wir fast gar nichts. Lediglich das Wandern der Handwerksgesellen ist häufiger diskutiert und dabei für das neunzehnte Jahrhundert als verdeckte Arbeitslosigkeit beschrieben worden. 8 9 Neuere Arbeiten kommen auch hier zu Ergebnissen, die der gängigen Charakterisierung der Wanderer als »people who had made the least successful economic adjustment to the community and who were no longer able to hang on there« widersprechen. 90 Faßt man die Ergebnisse der vorliegenden sowie früherer Studien zusammen, spricht alles dafür, daß eine Erweiterung unserer Kenntnisse zu Ausmaß und Wesen der Wanderung im neunzehnten Jahrhundert Yves Lequins Diktum - »En fait, la mobilité n'est pas désordre, loin de là«. - weiter bestätigen wird. 9 1 War die Ausweitung unserer Untersuchung auf die gesamte Düsseldorfer 92

Gesellschaft zur Erfassung der geographischen Mobilität unerläßlich, so gilt es abschließend, die speziell die Handwerker und Arbeiter betreffenden Ergebnisse zusammenzufassen und auf ihre Relevanz für den Klassenbildungsprozeß zu befragen. Die herangezogenen Quellen machen zwar die quantitative Bedeutung der Wanderung der Handwerksgesellen deutlich, erlauben aber kaum detailliertere Aussagen. So muß offen bleiben, ob der höhere Anteil Fremdgebürtiger bei den Selbständigen, die die Gesellenwanderung bereits abgeschlossen haben, auf eine größere Bedeutung des Gesellenwanderns in früheren Jahren hindeutet. Klar sind dagegen die deutlichen Unterschiede zwischen Selbständigen und Unselbständigen in der Persistenz. Die deutlich geringere Mobilität der Handwerksmeister ist dabei nicht auf unterschiedliche Altersstrukturen reduzierbar. Während die U n terschiede zwischen einzelnen Handwerkszweigen unbedeutend sind, heben sich Tagelöhner und Fabrikarbeiter von den übrigen Unselbständigen ab. Besondere Bedeutung hat dabei die hohe Mobilität der Fabrikarbeiter, nimmt doch die zahlenmäßige Bedeutung dieser Gruppe im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts in Düsseldorf schnell zu.

93

KAPITEL V

Die Welt der kleinen Leute - intra- und intergenerationelle berufliche Mobilität von Handwerkern und Arbeitern

1. Soziale

Mobilität

im neunzehnten

Jahrhundert

Die in Studien der Nachfolge Thernstroms ganz ähnliche Methodik der Erforschung regionaler und beruflicher Mobilität hat auch die Frage nach dem Zusammenhang beider Formen von Mobilität in den Vordergrund treten lassen. 1 Die Frage, ob Wanderer beruflich erfolgreicher seien als Seßhafte oder vice versa, ist dabei in aller Regel vom Geburtsort der über eine gewisse Zeitspanne am Ort Ansässigen angegangen worden. Dies ist aber, wie das vorhergehende Kapitel zu zeigen versucht hat, unzulänglich, gibt doch die Kenntnis des Geburtsortes nur äußerst unvollkommen Auskunft über das Wanderungsverhalten. Für die zahlreichen amerikanischen Arbeiten gilt diese methodische Kritik nicht in gleicher Weise, da über den Geburtsort zumindest die Differenzierung in Immigranten und geborene Amerikaner vorgenommen werden kann, doch bleibt selbst eine solche Unterscheidung fragwürdig, solange über den Zeitpunkt der Einwanderung nichts bekannt ist. Ist der erste in Elberfeld geborene Sohn Johann Jacob Roßbachs, den dieser selbst erst 26-jährig mit nach Düsseldorf bringt, etwa geographisch mobil? Erst wenn man die in Ansätzen zur Erklärung der Zusammenhänge von regionaler und beruflicher Mobilität gelegentlich herangezogenen vermeintlichen Eigenschaften von Wanderern, wie die Bereitschaft alte Bindungen aufzugeben etc., mitbedenkt, werden die Grenzen der beim Geburtsort ansetzenden Zugriffe deutlich. Einem zweijährigen Kind wird wohl niemand mobilitätsfördernde bzw. -hemmende Einstellungen zuschreiben wollen. Die eigentliche Herausforderung, die die Frage nach dem Zusammenhang regionaler und beruflicher Mobilität in sich birgt, ist die Frage nach dem beruflichen Schicksal der Abgewanderten. Stanley Engerman hat das Problem auf die prägnante Formel »Up or Out« gebracht, mit der er den Befund hoher Aufstiegsmobilität bei geringer Persistenz hinterfragt. 2 Auch in der vorliegenden Arbeit entzieht sich der weitere berufliche Werdegang der Abwanderer unserer Kenntnis. Es konnte lediglich gezeigt werden, daß die 94

quantitative Bedeutung der Abwanderung deutlich geringer als bisher angenommen ist. Anders als z. B. fur die U.S.A. gibt es für Deutschland auch keine Quellen, die die systematische Erfassung der Abgewanderten und damit das umfassende Studium der beruflichen Mobilität erlauben. 3 Deshalb - und weil der Zugang über den Geburtsort unzulässig scheint - bleibt im folgenden der Zusammenhang zwischen regionaler und beruflicher M o bilität ausgeklammert. Das schon im vorhergehenden Kapitel wiederholt kritisierte geringe Methodenbewußtsein der Mobilitätshistoriker findet seinen Niederschlag auch in der Rezeption der sozialwissenschaftlichen Literatur. Von den beiden die Diskussion der 1960er Jahre bestimmenden Büchern von Bendix/Lipset und Blau/Duncan hat nur das erstere, theoretisch sehr anregende, aber auf schwachem empirischen Fundament stehende Werk größere Beachtung von Seiten der Historiker gefunden, während das zu Recht »the methodological classic of the 1960's« genannte Buch von Blau/Duncan fast unbeachtet blieb. 4 Lediglich die Frage beruflicher Klassifizierungen hat eingehendere Behandlung durch Historiker erfahren. 5 Nur selten liegen für das neunzehnte Jahrhundert über die bloße Berufsbezeichnung hinaus Informationen zu Bildungsstand, Einkommen oder anderen schichtungsrelevanten Kriterien vor. Gerade Studien aber, die auf solche zusätzliche Angaben zurückgreifen können, zeigen, daß innerhalb eines Berufs erhebliche Unterschiede z. B. bezüglich des Einkommens verbreitet sind. 6 Ganz besonders schwierig ist die Einschätzung von Handwerkern, deren Berufsbezeichnungen nur selten Auskunft über ihre Selbständigkeit geben. 7 Die Schwierigkeiten, auf Berufsangaben allein Schichtungsmodelle zu stützen, sind nun keineswegs den zahlreichen amerikanischen Mobilitätsstudien vorbehalten. 8 Angesichts der Quellenlage sind diese methodischen Probleme wohl kaum zu überwinden und man wird sich damit bescheiden müssen, den besseren neueren nordamerikanischen Arbeiten zu folgen, die sich um möglichst präzise Beschreibungen der Berufsstruktur bemühen, um die Spannweite der hinter Berufsangaben verborgenen Lebenslagen zu veranschaulichen. 9 Die Unzulänglichkeiten der benutzten Schichtungsmodelle erschöpfen sich allerdings keineswegs darin, daß sie die Aussagekraft der Berufsbezeichnungen überstrapazieren. Fast nie sind sie theoretisch hergeleitet und begründet, noch seltener wird nachgefragt, ob die vorgenommenen Klassifizierungen den Wertvorstellungen der Zeitgenossen entsprechen. 10 Nicht die Reprojektion neuerer soziologischer Thesen über die größere Bedeutung anderer als vertikaler Ungleichheiten also, sondern die kritische Rezeption der in den vorliegenden Mobilitätsstudien angewandten Verfahren begründet den Verzicht auf die hierarchische Ordnung von Berufsgruppen in ein wie auch immer geartetes Schichtungsmodell in der vorliegenden Arbeit. 1 1 Stattdessen wird der Grundfragestellung nach Klassenbildungsprozessen entsprechend der Durchlässigkeit der Klassengrenze vor allem innerhalb des handwerklichen Bereichs nachgegangen und im übrigen zur 95

Beschreibung von Berufswechseln in den außerhandwerklichen Bereich hinein auf die im zweiten Kapitel eingeführten Berufsgruppen zurückgegriffen. Die dort vorgenommene Schilderung der Einkommenssituation der verschiedenen Berufsgruppen hilft bei der Einschätzung der Bedeutung von Berufswechseln. Zunächst steht bei der vorgenommenen Mobilitätsanalyse die intragenerationelle, dann erst die intergenerationelle berufliche Mobilität im Vordergrund. Die Einbeziehung der intragenerationellen beruflichen Mobilität ist bisher im deutschsprachigen Raum nur selten geleistet worden, da die überwiegende Mehrheit der vorliegenden und der in Arbeit befindlichen Studien mit Heiratsregistern arbeitet. 12 Heiratsregister sind aber zur Erforschung wichtiger Aspekte sozialer Mobilität wenig geeignete Quellen, beruht doch die Entscheidung über den beruflichen Auf- oder Abstieg auf dem Vergleich der Berufsangabe des Bräutigams mit der seines Vaters oder Schwiegervaters. Berufliche Positionen sind nun aber auch altersabhängig und allein deshalb tendieren mit Heiratsregistern arbeitende Studien zur Unterschätzung der Aufstiegsmobilität. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Der seinem Vater als Kaufmann nachfolgende Sohn wird seinen Beruf bei der Heirat oft als Handlungsgehilfe angeben und damit als beruflicher Absteiger klassifiziert werden. Es ist hier weder nötig, das mögliche Ausmaß solcher Fehleinschätzungen zu bestimmen noch die zahlreichen anderen Einwände gegen die Benutzung von Heiratsregistern aufzulisten. 13 Für eine Untersuchung, die berufliche Mobilität vor allem unter dem Aspekt der Klassenbildung betrachtet, ist es jedenfalls unverzichtbar, gerade auch für bestimmte Altersstufen typische Berufswechsel einzubeziehen.

2. Der berufliche Werdegang der selbständigen

Handwerker

Vor jeder Interpretation der in Tabelle 20 zusammengestellten Daten zum beruflichen Werdegang der 1855 in Düsseldorf ansässigen selbständigen Handwerker gilt es daran zu erinnern, daß nur die in Düsseldorf Verbleibenden in der folgenden Analyse behandelt werden. 14 Deren beruflicher Werdegang ist vor allem durch große Stabilität gekennzeichnet. Gut 70% der 1867 bzw. 1875 noch in Düsseldorf ansässigen Handwerksmeister, deren Beruf bekannt ist, betreiben auch nach zwölf bzw. zwanzig Jahren ihr Handwerk noch selbständig. 15 Lediglich etwa ein Zehntel der Handwerksmeister verliert von 1855 bis 1867 die Selbständigkeit und arbeitet als Geselle im gleichen Handwerk. Zahlenmäßig noch unbedeutender sind Tätigkeiten in anderen Handwerkszweigen, gleichgültig ob selbständig oder unselbständig. Gleichermaßen kommt es nur höchst selten zur Tätigkeit (ehemals) selbständiger Handwerker als Tagelöhner oder Fabrikarbeiter. Diese Feststellungen werden relativiert durch die gleichfalls schwache Besetzung anderer Berufsgruppen mit ehemaligen Handwerksmeistern. Ohnehin werfen die niedrigen Zahlenwerte in einigen Zellen der Mobilitätstabellen die Frage 96

nach der Signifikanz der Ergebnisse auf. Doch ist dies, da die Tabellen nicht auf einer Zufallsstichprobe beruhen, nicht die Frage nach der statistischen Signifikanz. 16 Wieviel Gewicht einer geringen Zahl von Berufswechseln beigemessen werden kann, ist also nicht statistisch zu entscheiden. Einige Unterschiede zwischen einzelnen Handwerkszweigen sind m. E. jedoch durchaus interpretierbar. So fallt ζ. B. die hohe Zahl der Bäckermeister auf, die ihren Beruf 1867 bzw. 1875 als Rentner angeben. Man wird diesen Befund in Beziehung zu der relativ besseren Einkommenssituation der Bäcker (und Wirte) setzen dürfen, die es einigen von ihnen erlaubt, sich im Alter aus dem Arbeitsprozeß zurückzuziehen. Dabei mag auch die Betriebsübernahme durch andere Familienangehörige eine Rolle gespielt haben, doch ist dies bei der Analyse der intergenerationellen Mobilität noch näher zu prüfen. Sollte sich die Vermutung der familieninternen Betriebsübernahme in den kapitalaufwendigeren Nahrungsmittelhandwerken bestätigen, ist nicht auszuschließen, daß hinter dem Verlust der Selbständigkeit einiger weniger Bäckermeister lediglich die vorzeitige Übergabe des Betriebs an den Sohn steht. Ist die Zahl der Bäckermeister, die einen letzten Lebensabschnitt als Rentner erleben, durchaus beachtlich, so gibt es nur einen einzigen Schneider, der sich dies leisten kann. Die besonders prekäre Lage des Schneiderhandwerks spiegelt sich auch in der hohen Zahl von Meistern, die bis 1867 ihre Selbständigkeit verloren haben. Wie die hier nicht tabellarisch wiedergegebene Aufschlüsselung der Berufswechsel nach Altersgruppen deutlich macht, trifft dieses Schicksal ganz überwiegend ältere Handwerksmeister. Einige aus dieser Gruppe sind 1875 jedoch wieder selbständig tätig. Dies verweist auch auf die Bedeutung konjunktureller Schwankungen für die Möglichkeit, berufliche Selbständigkeit zu behaupten. Wie der Vergleich zwischen den einzelnen Stichjahren deutlich macht, sind die einzelnen Handwerke aber ganz unterschiedlich anfallig gegenüber den wirtschaftlichen Wechsellagen. Ohne daß hier den konjunkturellen Auswirkungen im einzelnen nachgegangen werden kann, die wohl am ehesten über die Kreditmöglichkeiten für Kleinbetriebe zu erfassen wären, deutet die von 1863 bis 1867 schnell steigende Zahl ihre Selbständigkeit einbüßender Schneidermeister daraufhin, daß die Übergänge zwischen selbständigem und unselbständigem Gewerbebetrieb in diesem Handwerkszweig fließend sind. Die besonders schwierige Lage des Schneiderhandwerks kommt auch in dem höheren Abstrom aus diesem Handwerk in den Kleinhandel und dem in anderen Gewerben nicht nachweisbaren Übergang von Handwerksmeistern in die Fabrik zum Ausdruck. Faßt man die die Handwerksmeister betreffenden Ergebnisse zusammen, muß erneut die hohe Stabilität der selbständigen Handwerksmeister betont werden. Die in Tabelle 20 zusammengestellten Ergebnisse machen aber auch die Fragwürdigkeit möglicher Aussagen über Auf- und Abstiegsmobilität deutlich. Als »Absteiger« mag man die als Gesellen, Fabrikarbeiter oder 97

1 -1 Fabrik< ein bedeutungsvoller beruflicher Aufstieg des Besitzers verbunden ist. Einen die Grenzen der Sphäre des Kleinhandels und des Handwerks überschreitenden beruflichen Aufstieg vermag ich in der Mobilitätstabelle nicht zu entdecken. Großhandel, freie Berufe, höhere Be99

amtenpositionen etc. bleiben - wenig überraschend - dem selbständigen Handwerker ohnehin verschlossen. Der zahlenmäßig wichtigste Beruf außerhalb des Handwerks, der des Rentners, schließlich bezeichnet weniger eine berufliche Position als eine Phase des Lebenslaufs, die als Periode des Nicht-Arbeitens hervorzuheben, nur einigen wenigen bessergestellten Handwerksmeistern möglich ist. Die weniger attraktive Alternative für den alternden Handwerksmeister - dies zeigt die Betrachtung alterstypischer Berufswechsel - ist die Aufgabe des selbständigen Handwerksbetriebs. Die überwältigende Mehrheit der Handwerksmeister arbeitet aber selbständig bis ins hohe Alter.

3. Der berufliche Werdegang der unselbständigen Fabrikarbeiter und Tagelöhner

Handwerker,

Im Mittelpunkt des Interesses an der beruflichen Mobilität der Handwerksgesellen steht natürlich die Frage nach deren Chancen, Meister zu werden. Bei der Interpretation der hier vorgelegten Ergebnisse ist aber zu beachten, daß nur selbständig Wohnende und d. h. ganz überwiegend verheiratete Gesellen in die Analyse einbezogen sind. Der erste Befund für diese Gruppe ist wie für die Handwerksmeister der der Stabilität. Gut drei Viertel der in Düsseldorf verbliebenen Handwerksgesellen sind 1863, 1867 oder 1875 noch im handwerklichen Bereich tätig. Weit weniger stabil ist der Anteil derer, die selbständig ihr Gewerbe betreiben. Beträgt der Anteil der selbständigen Handwerker an den noch ortsansässigen (ehemaligen) Handwerksgesellen 1863 schon gut zwei Drittel, geht er bis 1867 auf ein knappes Viertel zurück und erreicht 1875 ein Maximum von 74%. Diese enormen Schwankungen verdienen Beachtung vor allem im Kontrast zur Situation der schon 1855 selbständigen Handwerker. 1 8 Zwar gelingt drei Vierteln aller in Düsseldorf verbleibenden Handwerksgesellen bis 1875 der Sprung in die Selbständigkeit, doch ist diese Selbständigkeit, wie die enormen Schwankungen in den 1860er Jahren ausweisen, eine wenig gefestigte, gerade wenn man das Berufsschicksal der Gesellen von 1855 mit dem der Meister vergleicht. Es wurde bereits im vorhergehenden Kapitel daraufhingewiesen, daß es keine lokale Konjunkturgeschichte gibt. Zudem ließe auch eine solche lokale Konjunkturgeschichte, die nur sehr unvollkommen aus den Handelskammerberichten etc. zu erarbeiten wäre, die Auswirkungen konjunktureller Schwankungen auf und die Reaktionen durch das Handwerk offen, liegt doch ζ. B. der Beschäftigungsstand im Handwerk am Ende der Krise der späten 1840er Jahre besonders hoch. 1 9 Die Kenntnis des allgemeinen Konjunkturverlaufes ist zur Erklärung der extremen Schwankungen des Selbständigenanteils unter den in Düsseldorf verbleibenden (ehemaligen) Handwerksgesellen dann auch nur von beschränktem Wert. Die Krise der späten 1850er Jahre, deren Auswirkungen 1862/63 kaum überwunden sind, 100

macht den Schritt in die Selbständigkeit keineswegs unmöglich. 2 0 Dagegen erscheint die Zeit von 1863 bis 1867 als »Phase sozusagen >gleichgewichtigen< Wachstums«. 21 N u r wenn man der Kreditkrise von 1866 starke und direkte Auswirkungen auf das Handwerk zuschriebe, ließe sich der gesunkene Anteil der Selbständigen konjunkturell erklären. 22 Das Maximum des Selbständigenanteils wird schließlich während der »Großen Depression« erreicht, deren Auswirkungen in Düsseldorf zwar leicht verspätet sichtbar werden, aber 1875 bereits voll durchschlagen. 23 Besteht überhaupt ein Z u sammenhang zwischen Konjunktur und den Möglichkeiten, betriebliche Selbständigkeit zu begründen oder zu behaupten, so scheint er gegenläufig. Gerade in Krisenzeiten steigt der Anteil Selbständiger unter den ehemaligen und vielleicht nun arbeitslosen Gesellen. Wie auch immer man zu den zwangsläufig recht vorläufigen Aussagen zum Zusammenhang von wirtschaftlichen Wechsellagen und Selbständigkeit im Handwerk stehen mag, einige Ergebnisse der Mobilitätsanalyse gilt es festzuhalten. Einer großen Zahl 1855 selbständig in Düsseldorf w o h nender Handwerksgesellen gelingt es in den folgenden zwanzig Jahren, einen selbständigen Handwerksbetrieb zu begründen. Dies widerspricht der geläufigen Annahme, daß die in der Regel mit der Begründung eines eigenen Hausstandes einhergehende Heirat als Konsequenz mangelnder Aufstiegsmöglichkeiten in die Selbständigkeit zu deuten ist, und stellt die Behauptung sinkender Aufstiegsmöglichkeiten zumindest in Frage. 24 Der Weg in die Selbständigkeit ist dem verheirateten Gesellen also keineswegs verbaut, er verliert nur, angesichts der Fragilität dieser Selbständigkeit, an Bedeutung. Erreichen die meisten Gesellen auch die handwerkliche Selbständigkeit, so erreichen sie jedoch nicht die Stabilität des selbständigen Gewerbebetriebes, die die 1855 schon Selbständigen mit Ausnahme der Schneider auch 1867 auszeichnet. Dieser frappante Unterschied begründet auch die nicht weiter belegbare Annahme, daß unter den 1855 selbständig in Düsseldorf wohnenden Handwerksgesellen eine größere Zahl ist, die für Magazine arbeitet. Diese Annahme würde auch die dem allgemeinen Konjunkturverlauf widersprechende Entwicklung des Selbständigenanteils erklären: In Krisenzeiten von den Magazininhabern freigesetzt, bleibt nur die Selbständigkeit als Ausweg. Die handwerksspezifischen Unterschiede bezüglich der Aussichten auf Selbständigkeit sind gering. Lediglich 1867 hält sich die Zahl der nun selbständigen, ehemaligen Handwerksgesellen bei den Schneidern und Schuhmachern auf höherem Niveau als bei den Schreinern und Metallhandwerkern. Daß somit die Selbständigkeit ehemaliger Handwerksgesellen in den ein vergleichsweise höheres Betriebskapital erfordernden Handwerken noch weniger gefestigt ist als bei den traditionell verarmten Schuhmachern und Schneidern, unterstützt die Vermutung, daß die erreichte Selbständigkeit vor allem der Bekleidungshandwerker in der Regel nur eine marginale ist und könnte als größere Anfälligkeit der Schreiner und Metallhand101

Tabelle 21: Berufliche Mobilität Düsseldorfer Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner 1855-1875

Meister im selben Handwerk

1863 1867 1875

46 9 32

33 14 25

Meister in anderem Handwerk

1863 1867 1875

2 2 2

5 1 3

Geselle im selben Handwerk

1863 1867 1875

Geselle in anderem Handwerk

1863 1867 1875 1863 1867 1875

10 39 3 1 1 1 1 1 1 2 1

Fabrikarbeiter

Tagelöhner

1863 1867 1875

Rentner

1863 1867 1875

Kleinhändler

1863 1867 1875

Fachhändler

1863 1867 1875

Fabrikanten

1863 1867 1875

Wirte

1863 1867 1875

102

39 8 24

5 20 3

5 17 1

7 34 1

4 1

3 1

1

1 1

2 2 2

2 1 1

4 3 2

2 2 1

27 110 8 1 8 3 5 4 3 10 7 4

1 1

1 1 1

1

1 1

1863 1867 1875

Kaufleute

26 10 21 1

2 3 1

8 3 5

3 4 2

1 1 1 1

1

144 41 102

1 1 2

1 1

2 1

2 1

2 2 1

12 9 3 7 6 7

3 3 2

1 1 1 1 1 2 1

24 17 10 4 3 3 1

1

1

1 1

1 1

1

1 1

1

(Fortsetzung

1855

υ S 'δIx J3 υ ΙΛ

u J3 υ« c J3

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3 υ (Λ

J3

Ìl

1863 1867 1875

Diener

1863 1867 1875

Commis etc.

1863 1867 1875

kleine Beamte

1863 1867 1875

1 1 1

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2 Ό u C 5.3

Lehrer

1863 1867 1875

Klerus

1863 1867 1875

2 1 1 1 1 2

Sonstige

1863 1867 1875

uneindeutig

1863 1867 1875 1863 1867 1875

1 1 1 1 1 1 1 2 3

Ih

AbsteigerAbsteigern< sind aber die Fabrikarbeiter oder Tagelöhner in der Minderheit. In den übrigen Berufsgruppen sind die Söhne von Schneider- oder Schuhmachermeistern, wie von Handwerksmeistern ganz allgemein, kaum vertreten. Lediglich in der Absenz im Kleinhandel und der Überrepräsentanz bei den Commis etc. und den kleinen Beamten ließen sich Unterschiede zu den anderen Gewerben feststellen, ohne daß diesen angesichts der kleinen absoluten Zahlen großes Gewicht beigemessen werden sollte. In deutlichem Kontrast zu den verarmten Schneidern und Schuhmachern stehen die Schreiner und die Metallhandwerker. Hier ist die Berufsvererbung wesentlich größer - fast zwei Drittel der Söhne von Schreinermeistern arbeiten 1875 als Schreiner - und unselbständige Arbeit in einem anderen handwerklichen Beruf kommt zunächst überhaupt nicht vor. Die Zahl der Söhne von Schreinermeistern oder Metallhandwerksmeistern, die als Fabrikarbeiter oder Tagelöhner arbeiten, ist 1875 gering (zwischen zehn und fünfzehn Prozent) und genau doppelt so groß wie die Zahl derer, die sich als >Fabrikanten< bezeichnen und von denen man annehmen darf, daß sie einen größeren handwerklichen Betrieb führen. Bei den Söhnen der Schreinermeister zeichnet sich neben der bereits konstatierten hohen Berufsvererbung auch eine schwache Entsprechung der polaren Struktur dieses Handwerkszweiges bei der Berufswahl ab. Acht Fabrikarbeitern und Tagelöhnern unter den Söhnen Düsseldorfer Schreinermeister stehen 1885 ebensoviele Fabrikanten und Kaufleute gegenüber, wobei man die Fabrikanten wohl überwiegend in der Möbelbranche vermuten darf. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß gewerbespezifische Unterschiede eine große Rolle für die berufliche Plazierung der Söhne Düsseldorfer Handwerksmeister spielen, daß aber selbst für die Söhne von Meistern in den am stärksten gefährdeten Handwerken der >Abstieg< in die Fabrik oder in den Tagelohn nur selten vorkommt. Die Abgeschlossenheit der handwerklichen Berufswelt kommt gerade darin deutlich zum Ausdruck, daß der Anteil der Fabrikarbeiter und Tagelöhner unter den Söhnen Düsseldorfer Handwerksmeister kaum deutlich mit der Lage der Herkunftshandwerke variiert. 32

5. Der berufliche Werdegang der Söhne von Handwerksgesellen, Fabrikarbeitern und Tagelöhnern bis 1885

Auch bei den Söhnen von Handwerksgesellen finden wir 1875 eine Mehrheit in handwerklichen Berufen. Liegt der Anteil der Handwerker bei den Gesellensöhnen nur wenig unter dem der Meistersöhne, so ist unter diesen der Selbständigenanteil doch deutlich geringer (1875: 46,5 zu 66,3%). Einmal mehr ist dagegen der Abstrom aus dem Handwerk in Fabrikarbeit und Tagelohn mit etwa zehn Prozent unbedeutend. Umgekehrt scheint der Weg 109

ins Handwerk fur die Söhne von Fabrikarbeitern und Tagelöhnern keineswegs verschlossen. Der Anteil von Tagelöhnersöhnen in Handwerksberufen deckt sich 1875 mit dem der Gesellensöhne, der entsprechende Wert fur die Söhne von Fabrikarbeitern liegt nur wenig niedriger. Beide Werte gehen aber 1885 deutlich zurück und die Berufs Vererbung der Tagelöhner übertrifft dann alle anderen Berufe. Zudem läßt sich für die Söhne von Tagelöhnern zeigen, daß eine Mehrheit der unselbständig Tätigen 1875 im Bau-und Textilhandwerk arbeitet, zum einen also in einem Bereich, dessen Nähe zum Tagelöhnertum bereits mehrfach hervorgehoben wurde, zum anderen in einem Gewerbe, in dem die handwerkliche Berufsbezeichnung die Arbeit in der (Textil-)Fabrik nicht ausschließt. Den grundsätzlichen Befund von der Offenheit handwerklicher Berufe für die Söhne von Fabrikarbeitern und (in geringerem Maße) Tagelöhnern stellt diese Beobachtung nicht in Frage. Fragt man nach gewerbespezifischen Differenzen, stößt man zunächst auf Unterschiede, die auch bei der intergenerationellen Mobilität von Meistersöhnen zu beobachten waren. Die Berufsvererbung ist bei den Schreinern besonders häufig, bei den Bekleidungshandwerkern seltener. Trotz der sehr kleinen Zahl von Fällen überhaupt, ist die Flucht aus dem Schneider- und Schuhmacherhandwerk gut zu erkennen. Nur ein einziger Sohn eines Schuhmachergesellen folgt 1875 seinem Vater im Beruf nach, nicht einer betreibt 1875 irgendein Handwerk selbständig. Nicht ganz so krass, wiewohl in der unterdurchschnittlichen Berufsvererbung vergleichbar, ist die Situation der Söhne von Schneidergesellen. Von den wenigen, die handwerkliche Selbständigkeit erreichen, sind zwei Schuhmacher geworden. Dieser Wechsel in ein auch im niedrigen Kapitalbedarf verwandtes Handwerk konnte auch bei den Söhnen der Schneidermeister häufiger festgestellt werden. Anders als bei jenen spielt aber der Wechsel in ein Metallhandwerk, der als Beleg günstigerer Plazierungsmöglichkeiten gedeutet wurde, bei den Söhnen unselbständiger Schneider keine Rolle. Wie bei den Meistersöhnen zeigt die Berufswahl der Söhne von unselbständigen Schreinern und Metallhandwerkern einen deutlichen Kontrast zu den Schneidern und Schuhmachern. Auch bei den Gesellensöhnen ist die Berufsvererbung in diesen Handwerken höher, ohne jedoch das Niveau der Meistersöhne zu erreichen. Neben der Lage des Herkunftgewerbes hat ganz offensichtlich auch die Selbständigkeit oder - wie die Analyse der intragenerationellen Mobilität nahelegt - die Stabilität derselben erheblichen Einfluß auf die berufliche Plazierung von Handwerkersöhnen. Nun ist Berufsvererbung nicht mit der Übernahme des väterlichen Betriebes gleichzusetzen, doch ist die Aussicht auf letztere eine naheliegende Erklärung für die Unterschiede in der Berufsvererbung zwischen den Söhnen selbständiger und unselbständiger Schreiner bzw. Metallhandwerker. Da aber die überwiegende Mehrheit der 1855 noch unselbständigen Handwerker in der Folgezeit die Selbständigkeit erringt, ist dieser Erklärungszusammenhang wohl gegenüber der Einkommenssituation sekundär. Sind also vor allem 1875 Unterschiede im berufli110

Tabelle 23: Berufe der Söhne Düsseldorfer Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner 1875 und 1885 O

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Beruf des Vaters 1855 Meister im väterlichen Handwerk Meister in anderem Handwerk Geselle im väterlichen Handwerk Geselle in anderem Handwerk Fabrikarbeiter Tagelöhner Rentner Kleinhändler Kaufleute Fachhändler Fabrikanten Wirte Gärtner Commis etc. Freiberufler kleine Beamte Lehrer, Klerus Sonstige Summa

1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885 1875 1885

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SPSS-Auswertung des Datensatzes Mobilität.

111

chen Werdegang zwischen den Söhnen selbständiger und unselbständiger Handwerker unübersehbar, so treten diese bis 1885 stärker zurück, während gleichzeitig Unterschiede zwischen Gesellen- und Fabrikarbeitersöhnen erkennbar werden. Schon 1875 findet man unter den Gesellensöhnen des Schreiner- und Metallhandwerks wie unter den Fabrikarbeitersöhnen einzelne >FabrikantenFabrikantgeborenen Proletariats^ 33 Schließlich ist ja auch der Abstrom aus anderen im weitesten Sinne proletarischen Berufen wie den Tagelöhnern oder Handwerksgesellen in die Fabrik sehr bescheiden. Da, wie im zweiten Kapitel gezeigt wurde, in den 1860er und 1870er Jahren die Zahl der Fabrikarbeiter in Düsseldorf schnell zunimmt, kann man für Düsseldorf im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts wohl eher von einem zugewanderten Proletariat sprechen.

6.

Zusammenfassung

In den vorhergehenden Abschnitten wurden wiederholt einige der methodischen Beschränkungen der hier vorgelegten Mobilitätsanalysen angeschnitten. Aber auch inhaltlich ist der Anspruch dieses Kapitels begrenzt. So fehlt ζ. B. eine systematische Behandlung der Bedingungen und Ursachen beruflicher Mobilität, insbesondere auch die eingehendere Untersuchung des Einflusses struktureller Veränderungen der städtischen Wirtschaft. 34 Und schließlich sind auf der Grundlage des hier benutzten Quellenmaterials keine Aussagen zur Entwicklung des Ausmaßes beruflicher >Auf-< oder >Abstiegsmöglichkeiten< zulässig. Die Einbeziehung all dieser Dimensionen könnte zwar hier und da die Interpretation der vorgelegten Mobilitätstabellen beeinflussen, scheint aber für die Behandlung intra- und intergenerationeller beruflicher Mobilität im Zusammenhang von Klassenbildungsprozessen verzichtbar. Zur Analyse der Abgrenzungen zwischen Handwerksmeistern, -gesellen und Arbeitern sowie gewerbespezifischer Differenzen ist die bloße Beschreibung von Berufswechsel und Berufswahl hinreichend. Die Beschreibung des beruflichen Werdegangs Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter sowie ihrer Söhne rechtfertigt m. E. auch den Verzicht auf die gängige Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht, schafft diese Klassifizierung doch nur kategorial eine künstliche Klarheit, die empirisch nicht gegeben ist. 35 112

Die Einordnung der Ergebnisse zur intra- und intergenerationellen Mobilität der Handwerker wird dadurch erschwert, daß diese Berufsgruppe in den ohnehin nicht sehr zahlreichen Mobilitätsstudien fur den deutschsprachigen R a u m nur selten gesondert betrachtet worden ist. 3 6 Die auch von Hubbard konstatierte sehr hohe berufliche Stabilität der Handwerksmeister kann u m so mehr als Bestätigung der Düsseldorfer Ergebnisse gewertet werden, weil seine Arbeit einer sozialstrukturell Düsseldorf sehr ähnlichen Stadt in etwa dem gleichen Zeitraum gilt. 3 7 Dieser Stabilitätsbefund ist aber vor dem Hindergrund der beschriebenen marginalen wirtschaftlichen Existenz der meisten Handwerker zu sehen. Mehr Aufmerksamkeit hat die berufliche Laufbahn der Söhne von Handwerksmeistern gefunden. Vor dem Hintergrund Meistersöhne privilegierender Zunftbestimmungen war die Vorstellung besonders hoher Berufsvererbung im Handwerk lange vorherrschend. Als typisch fur diese Sicht kann vielleicht die Arbeit Mitgaus über Berufsvererbung und Berufswechsel im Handwerk angesehen werden. 3 8 Mitgaus Verfahren und Ergebnisse sind überzeugend von Mitterauer kritisiert worden, doch reichen dessen Quellen nur in Ausnahmefällen bis ins neunzehnte Jahrhundert. 3 9 Vergleiche, die zum Teil noch durch unterschiedliche Vorgehensweisen erschwert werden, sind eigentlich nur mit einigen die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts behandelnden Arbeiten m ö g lich. Wenn Ludwig für Göttingen feststellt, daß 86,8% der in die Gilde aufgenommenen Fleischermeister, 60% der Bäcker-, 44,9% der Schuhmachermeister Meistersöhne sind, ersetzt das keine quantitativen Angaben zur Berufsvererbung, die nur im Anteil der den väterlichen Beruf ergreifenden Söhne zu messen ist, deutet aber auf gewerbespezifische Unterschiede, die andernorts Bestätigung finden.40 So behauptet auch Sharlin für Frankfurt allerdings auf schmalem statistischen Fundament — eine besonders hohe Berufsvererbung für die Nahrungsmittelhandwerke. Da seine aufHeiratsregistern basierenden Zusammenstellungen die in Frankfurt geborenen Söhne getrennt ausweisen und für diese eine höhere Berufsvererbung als für die Fremdgebürtigen feststellt, mag man hier einen Zusammenhang zwischen Berufsvererbung und Betriebsübernahme sehen. 4 1 Die Sonderstellung der Nahrungsmittelhandwerke wird aber weder durch die Düsseldorfer noch durch die von Ayçoberry für Köln berechneten Zahlen bestätigt. 4 2 Auch Ayçoberry arbeitet mit Berufsangaben zum Zeitpunkt der Heirat, so daß in den Unterschieden zu Frankfurt nur lokale Differenzen gesehen werden können. Abweichungen der Resultate für Düsseldorf von Ayçoberrys Kölner Ergebnissen mögen dagegen durchaus aus der unterschiedlichen Methodik zu erklären sein. 4 3 So führt Ayçoberry z . B . die Schneider bei den Berufen mit besonders hoher Berufsvererbung auf. Z u m Teil mag das daran liegen, daß Schneidersöhne erst nach der Heirat, bei der Ayçoberry den Beruf erfaßt, das väterliche Gewerbe verließen. Wahrscheinlicher ist jedoch die Rückführung dieser Unterschiede auf unterschiedliche Alternativmöglichkeiten im Vormärz und der Zeit zwischen 1855 und 1885. Sieht also 113

Ayçoberry die Schneider »durch Armut und Arbeitslosigkeit in ihren engen Berufskreis eingeschlossen«, so läßt sich für Düsseldorf durchaus das Bemühen, die verarmten Gewerbe der Schneiderei und Schuhmacherei zu verlassen, erkennen. 44 Neben Unterschieden in der behandelten Zeitspanne und der methodischen Vorgehensweise, macht vor allem die fehlende Unterscheidung zwischen Meistern und Gesellen bei Ayçoberry einen Vergleich fragwürdig. So bleibt nur die hohe Berufsvererbung bei den Söhnen Düsseldorfer Schreiner- und Metallhandwerksmeister, die in deutlichem Kontrast zu Schneidern und Schuhmachern steht, festzuhalten. 45 Zu den Chancen der Handwerksgesellen, die Selbständigkeit zu erreichen, wurden bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit einige Studien angeführt, die für Berlin für verschiedene Zeitpunkte des neunzehnten Jahrhunderts - recht beliebig und ohne überzeugende Belege - ein Sinken dieser Chancen behaupten. Zieht man die Literatur zur Revolution von 1848/49 mit heran, so kann man geradezu von einem verbreiteten Topos blockierter Aufstiegschancen sprechen. 46 Dagegen hatten nach Ludwig »die meisten Gesellen reale Chancen, Meister zu werden.. .«. 4 7 Da sie diese These aber nur mit dem Hinweis, daß lediglich einige wenige Gesellen älter als die meisten Jungmeister beim Gildeeintritt gewesen seien, belegt, wodurch der Abstrom zahlreicher Gesellen in nichthandwerkliche Berufe keineswegs ausgeschlossen wird, kann ihre Argumentation nicht wirklich überzeugen. Nun können die Düsseldorfer Ergebnisse zunächst nur Gültigkeit für die Gruppe der selbständig wohnenden und zu einem großen Teil verheirateten Gesellen in den vier zahlenmäßig wichtigsten Handwerkszweigen beanspruchen, doch werden gerade die Aufstiegschancen der verheirateten Gesellen besonders niedrig eingeschätzt. Sieht man von den Nahrungsmittelgewerben und dem Bauhandwerk, für die schlechtere Aufstiegsmöglichkeiten zum selbständigen Handwerksbetrieb möglich und wahrscheinlich sind, ab, so können die Chancen der 1855 in Düsseldorf ansässigen Handwerksgesellen, in den folgenden zwanzig Jahren Meister zu werden, nur als ausgezeichnet bezeichnet werden. Wie der Vergleich der Selbständigenanteile zu mehreren Zeitpunkten belegt, gibt es hier starke Schwankungen. Wenn also Hubbard für die Zeit von 1857 bis 1869 konstatiert, daß »46 v. H. der gelernten Tischlergesellen und 38 v. H. der gelernten Schneider- und Schustergesellen eine eigene Werkstatt« begründeten, so mögen die gegenüber unseren Ergebnissen für 1867 etwas höheren, gegenüber 1863 und 1875 aber etwas niedriger liegenden Zahlen auf solche Schwankungen zurückzuführen sein. Sein Befund äußerst geringer Aufstiegschancen für Metall- und Maschinenbauarbeiter, von denen nur 6% im gleichen Zeitraum die Selbständigkeit erreichten, dürfte hingegen vor allem auf die Einbeziehung der in den großbetrieblichen Grazer Maschinenbaufabriken Beschäftigten zurückzufuhren sein. 48 Ist also den Gesellen der Weg in die Selbständigkeit keineswegs verbaut, so bleibt ihre Selbständigkeit doch weniger stabil als die der schon 1855 Selbständigen, deren Lage als zu großen 114

Teilen marginal gekennzeichnet wurde. Auch im Bereich der intergenerationellen Mobilität ähneln sich die Befunde für Meister und Gesellen. Die Söhne der 1855 noch unselbständigen Handwerker ergreifen in der Folgezeit mehrheitlich handwerkliche Berufe. Allerdings - und dies verweist deutlich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Meister- und der Gesellenfamilien, ihre Söhne beruflich zu piazieren - ist bei den Söhnen der Unselbständigen der Anteil der handwerklich Beschäftigten niedriger und unter diesen die Selbständigenquote deutlich geringer. Diese Differenzen bezüglich der Plazierungsmöglichkeiten für ihre Söhne zwischen Meistern und Gesellen scheinen jedoch wenig ausgeprägt, mißt man sie an gewerbespezifischen Differenzen. Zu den gemeinsamen handwerklichen Mobilitätsmustern gehört das Fehlen - intra- und intergenerationell - von zahlenmäßig bedeutungsvollen Abstiegen in Fabrikarbeit und Tagelohn. Die Marxsche Vermutung, wonach »vielleicht die Kinder der Hinausgeschmissenen«, d. h. der in strukturell gefährdeten Handwerken Beschäftigten, in Fabriken Arbeit finden, während die Handwerker selbst »für lange Zeit in ihrem alten trade, den sie unter den ungünstigsten Bedingungen fortsetzen, verpaupern«, wird durch die hier vorgelegten Ergebnisse nicht bestätigt. 49 Stellt der Übergang vom Handwerk in Fabrikarbeit oder Tagelohn zahlenmäßig eine Seltenheit dar, ist der umgekehrte Weg zumindest intergenerationell durchaus verbreitet. Intragenerationell stellt wohl das erforderliche Ausbildungsniveau eine kaum zu überwindende Mobilitätsbarriere dar. Die Söhne von Fabrikarbeitern und Tagelöhnern ergreifen recht häufig handwerkliche Berufe, bis 1875 zumindest wesentlich öfter, als ihren Vätern im Beruf nachzufolgen. Doch gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen den Söhnen von Fabrikarbeitern und denen von Tagelöhnern. Ist die Berufsvererbung bei letzteren sehr hoch, kann man im Gegensatz dazu geradezu von einer Flucht aus der Fabrikarbeit sprechen. Dies gilt für den Bereich der intra- wie der intergenerationellen Mobilität. Bleiben die Väter jedoch überwiegend im Bereich ungelernter Arbeit, verlassen die Söhne mehrheitlich Fabrikarbeit und Tagelohn. Mit diesem Befund ist bereits weiter oben die Denkfigur eines >geborenen Proletariats< in Frage gestellt worden und die Bedeutung des zugewanderten Proletariats unterstrichen worden. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch das zuwandernde ein geborenes Proletariat ist, doch bleibt in jedem Fall die geringe Selbstrekrutierung der örtlichen Fabrikarbeiterschaft hervorzuheben. Die Einordnung dieses Befundes wird dadurch erschwert, daß die meisten vorliegenden Studien lediglich Aussagen zur sozialen Herkunft der Fabrikarbeiterschaft enthalten. »Daß die Fabrikarbeiter der Metall- und der Textilindustrie in erster Linie den verschiedenen Handwerkerberufen entstammten«, wie Borscheid und Schomerus feststellen, kann auf der Grundlage der hier vorgelegten Mobilitätsanalysen nicht einmal ausgeschlossen werden, da über die Berufe der Väter von zuwandernden Fabrikarbeitern nichts bekannt ist. 5 0 Sicher ist dagegen, daß die Düsseldorfer Fabriken ihre Arbeitskräfte nur in Ausnah115

mefállen unter den Söhnen der lokalen ortstreuen Handwerker- und Fabrikarbeiterschaft fanden. Die Bedeutung eines zugewanderten Proletariats< ist also mitheranzuziehen, wenn abschließend die Resultate der Mobilitätsanalysen auf die Frage nach Klassenbildungsprozessen bezogen werden. Trotz der hohen beruflichen Persistenz des handwerklichen Sektors lassen sich durchaus Unterschiede in der intra- und intergenerationellen Mobilität zwischen 1855 Selbständigen und Unselbständigen ausmachen. Diese erscheinen jedoch angesichts ausgeprägter gewerbespezifischer Differenzen und einer klaren Abgrenzung zur Fabrikarbeiterschaft und zu den Tagelöhnern sekundär. Vor allem der häufige Übergang vom Gesellen- zum Meisterstatus spricht gegen die Betonung der Klassenlinie zwischen selbständigen und unselbständigen Handwerkern. Weit klarer, wiewohl nicht lückenlos, ist die Trennlinie zu den Fabrikarbeitern und Tagelöhnern. Läßt sich intragenerationell die Abschottung des handwerklichen vom ungelernten Bereich als Folge von Ausbildungsdifferenzen begreifen, so muß die Offenheit des handwerklichen Bereiches für die in Düsseldorf verbleibenden Söhne der Fabrikarbeiter und Tagelöhner nicht unbedingt auf intensive soziale Beziehungen zwischen beiden Gruppen deuten. Angesichts der hohen Bedeutung der Zuwanderung für die Rekrutierung der Fabrikarbeiterschaft wird man dieser Offenheit des handwerklichen Bereiches nicht allzu viel Gewicht beimessen dürfen. Andererseits scheint die an den noch zünftigen Verhältnissen Leipzigs orientierte Interpretation Zwahrs fur die Düsseldorfer Situation überzogen: »Das Einströmen von Proletariersöhnen in zünftige, von ihren eigentlichen Trägern schon gemiedene Lehrstellen riß die zünftige kleine Warenproduktion endgültig in den Abgrund. « S1 Auch sonst finden die Ergebnisse Zwahrs in den hier vorgelegten Mobilitätstabellen nur eingeschränkt Bestätigung. Zwar sind die von Zwahr beobachteten gewerbespezifischen Differenzen auch in Düsseldorfnachweisbar-z. B. in der niedrigen Berufsvererbung der Schneider - , doch läßt sich der kategorische Befund »Auf einer bestimmten Stufe der Proletarisierung wurde der eigene oder der Handwerksberuf einer anderen Zunft vom Vater nicht mehr auf den Sohn übertragen«. - nicht halten. 52

116

KAPITEL V I

Familie, Lebenszyklus und Wohnungssituation

1. Selbständig

wohnende

Handwerksgesellen

In den vorhergehenden Kapiteln wurde wiederholt hervorgehoben, daß die auf Bürger- und Adreßbüchern basierenden Aussagen zur Mobilität der Handwerksgesellen nur für die selbständig wohnenden Gesellen Gültigkeit beanspruchen können, ohne daß die Auflösung des Kost- und Logiswesens im Düsseldorfer Handwerk im einzelnen gezeigt worden wäre. Dies soll in diesem Kapitel nachgeholt werden, wie ganz allgemein den Differenzen zwischen Meistern und Gesellen, Fabrikarbeitern und Tagelöhnern im Bereich der Familie und der Wohnungssituation nachgegangen werden soll. Eine erschöpfende Behandlung auch nur der für den Klassenbildungsprozeß relevanten Aspekte der Entwicklung der Arbeiter- und Hand werker fa milien ist dabei weder möglich noch beabsichtigt. 1 Die Bestimmung des Anteils der selbständig wohnenden Gesellen an der Gesamtzahl der Gesellen eines Gewerbes ermöglicht der Vergleich der 1855 in den Adreß- und Bürgerbüchern verzeichneten Gehülfen mit den Angaben der Gewerbetabelle des gleichen Jahres. Um sicherzustellen, daß nicht recht weitreichende Interpretationen auf bloße Erfassungsmängel einer der beiden Quellen aufgebaut werden, müssen die Handwerksmeister in diesen Vergleich, der in Tabelle 24 zusammengefaßt ist, einbezogen werden. Da die Zeitpunkte der beiden Aufnahmen neun Monate auseinanderliegen - die letzten Zugänge im Adreßbuch von 1855 lassen sich mit Hilfe der Bürgerbücher auf Februar datieren, die Gewerbetabellen dagegen wurden jeweils Anfang Dezember erstellt - ist mit geringfügigen Abweichungen zu rechnen. Daß die Diskrepanzen zwischen den Angaben des Adreßbuches und denen der Gewerbetabelle bei den Bäcker- und Schlossermeistern mehr als nur geringfügig sind, wird man auf die vielfaltigen Nebentätigkeiten der Bäcker, die deren gelegentliche Aufnahme als Brauer oder Wirt in das Adreßbuch wahrscheinlich macht, zum einen und auf die unklare Abgrenzung zwischen den einzelnen Berufen innerhalb des Metallhandwerks zurückfuhren dürfen. Bei den Schreinern schließlich scheint es wahrscheinlich, daß die Angaben der Gewerbetabelle durch die Einbeziehung einiger auf eigene Rechnung arbeitender Gesellen leicht überhöht sind. Auch wenn dieser letzte Punkt nicht endgültig 117

geklärt werden kann, bleibt doch insgesamt der Eindruck hoher Aufnahmegenauigkeit bestehen.

Tabelle 24: Zahl der Handwerker in der eigentlichen Stadt (1855) Handwerk Adreßbuch Bäcker Metzger Schreiner Schneider Schuhmacher Maurer Schlosser

77 43 187 208 294 13 37

Meister Gewerbetabelle 106 46 211 209 297 14 54

Adreßbuch 25 27 278 180 107 52 82

Gesellen Gewerbetabelle 154 62 297 273 216 90 98

Angaben fur das Adreßbuch nach einer SPSS-Auswertung des Datensatzes Bürgerbuch, für die Gewerbetabelle nach den in der Legende zu Tabelle 6 angegebenen Quellen.

Vor dem Hintergrund dieser recht hohen Übereinstimmung zwischen den Angaben des Adreßbuches und der Gewerbetabelle kann man die entsprechenden Angaben für die Handwerksgesellen zur Einschätzung der Verbreitung des Kost- und Logiswesens im Düsseldorfer Handwerk um die Mitte der 1850er Jahre heranziehen. Daß der Anteil selbständig wohnender und deshalb im Adreßbuch verzeichneter Handwerksgesellen in den Nahrungsmittelhandwerken am geringsten ist, überrascht nicht, erstreckt sich doch die gängige Einschätzung dieser Handwerke als >stabil< auch auf den Fortbestand des traditionellen Meisterhaushaltes. Diese Einschätzung wird durch die fast zur Hälfte selbständig wohnenden Metzgergesellen jedoch konterkariert. Ganz offensichtlich ist es weniger die vermeintliche >Stabilität< der Nahrungsmittelhandwerke als die spezifische Arbeitsweise, insbesondere die Nachtarbeit im Bäckerhandwerk, die die Gesellen an den Haushalt ihres Arbeitgebers bindet. Fast völlig verschwunden ist das Kost- und Logiswesen bei den Schreinern und Schlossern. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Zahl der Schreinergesellen nach der Gewerbetabelle ein wenig zu niedrig liegt, da einige auf eigene Rechnung arbeitende Gesellen bei den Meistern gezählt sein mögen, sind die Unterschiede zwischen den Angaben beider Quellen so gering, daß in diesem Handwerk das Wohnen beim Meister als Ausnahme bezeichnet werden muß. Dasselbe wird man trotz erheblicher zahlenmäßiger Diskrepanzen für die Maurergesellen annehmen dürfen, die außerhalb der Stadt wohnend nicht im Adreßbuch auftauchen aber dennoch von ihren Arbeitgebern als Beschäftigte bei der 118

Gewerbezählung angegeben worden sind. Uneindeutig ist der Befund lediglich für die Schuhmacher- und Schneidergesellen. Etwa die Hälfte der Schuhmacher- und ein Drittel der Schneidergesellen wird nicht im Adreßbuch gefuhrt und lebt - so ist anzunehmen - beim Meister. Der Anteil der beim Meister wohnenden Gesellen mag dabei bezüglich des Schneiderhandwerks noch übertrieben sein, da die Gewerbetabelle die Beschäftigten während der vorweihnachtlichen Hochsaison erfaßt. Ohnehin bezeichnen die aus der Differenz zwischen den Angaben der Gewerbetabelle und des Adreßbuches abgeleiteten Schätzungen des Anteils der beim Meister untergebrachten Handwerksgesellen die möglichen Maxima. Zum einen enthält die Kategorie der Gehülfen in der Gewerbetabelle auch Lehrlinge, die häufiger als die Gesellen im Meisterhaushalt gewohnt haben werden, zum anderen werden auch Untermieter, Schlaf- und Kostgänger nicht im Adreßbuch aufgeführt. Die Verbreitung des »Wohnen ohne eigene Wohnung« ist für die Mitte der 1850er Jahre in Düsseldorf nicht sehr hoch einzuschätzen.2 In einer in einem späteren Abschnitt dieses Kapitels näher behandelten Wohnungsenquete aus diesen Jahren ist von Untermietund Schlafgängerverhältnissen noch keine Rede und die Berufsbezeichnung der Kostgeberin findet sich auch erst in den 1870er und 1880er Jahren häufiger in den örtlichen Adreßbüchern. 3 Wie immer man die aus der Nichterfassung solcher Wohnverhältnisse resultierenden Fehler in ihrem Ausmaß einschätzen mag, sie könnten lediglich zu einer Überschätzung der noch beim Meister wohnenden Gesellen führen. Daß die diesbezüglichen handwerksspezifischen Differenzen gerade auf unterschiedliche Verbreitung von Untermiet- und ähnlichen Verhältnissen zurückzuführen sein sollten, scheint gänzlich unwahrscheinlich. Wenn Otto von Mülmann Mitte der 1860er Jahre zum Kost- und Logiswesen im Regierungsbezirk Düsseldorf schreibt, »dass zwischen Meistern und Gesellen fast allgemein eine reine Geldwirthschaft eingeführt ist, dass die Gesellen nicht mehr bei den Meistern wohnen und Kost haben, dass also die alte patriarchalische Sitte, die Gewerksgehülfen als zum Hausstande des Meisters gehörig zu betrachten, fast nirgendwo mehr herrscht«, verdeckt er damit zwar einige handwerksspezifische Differenzen, beschreibt aber den Grundsachverhalt und die Entwicklungsrichtung zutreffend. 4 Weitere zehn Jahre später werden schon »die beim Lehrherrn in Kost und Wohnung befindlichen Lehrlinge, deren es an einigen Orten (Düsseldorf, Eupen) nur verhältnismäßig wenige gibt«, im gleichen Zusammenhang mitbehandelt. 5 Vergleicht man die hier vorgelegten Ergebnisse mit den recht seltenen quantitativen Angaben zu anderen Städten, so erscheint die Auflösung des traditionellen Meisterhaushalts in Düsseldorf weit fortgeschritten. So schwanken z.B. die von Ehmer für Wien angegebenen Anteile der beim Meister wohnenden Gesellen und Lehrlinge 1857 in der Bekleidungsindustrie, der Holz- und der Metallverarbeitung zwischen 50,2 und 63,8%. 6 Auch wenn man berücksichtigt, daß diese Angaben einen außergewöhnlich 119

hohen Lehrlingsanteil einschließen, bleiben für die Holz- und Metallverarbeitung deutliche Unterschiede bestehen. 7 Für Leipzig gibt Zwahr leider nur die Verheiratetenanteile an, die nicht ohne weiteres mit dem Anteil der selbständig wohnenden Gesellen gleichgesetzt werden dürfen. Gewerbespezifische Differenzen sind dennoch aufschlußreich und die Verheiratetenanteile selbst 1875 noch recht gering. Bei Fleischer- und Bäckergehilfen kommen Verheiratete praktisch überhaupt nicht vor und Schneider-, Schlosserund Tischlerhandwerk liegen mit Anteilen zwischen 32 und 41% mit an der Spitze der klassischen Handwerke. Deutlich niedriger dagegen der Verheiratetenanteil bei den Schuhmachergehilfen mit nur 13%. 8 Für die im Vergleich zu Düsseldorf weniger fortgeschrittene »Herauslösung des Gesellen aus dem Meisterhaushalt« in Leipzig wird man vor allem den langen Fortbestand der seit 1809 in Düsseldorf aufgehobenen zünftigen Beschränkungen verantwortlich machen. 9 Die Interpretation der gewerbespezifischen Differenzen im Fortbestand des Kost- und Logiswesens ist schwierig, entziehen doch die Ergebnisse der Mobilitätsanalyse der üblichen Gleichsetzung der verheirateten mit den >ewigen< Gesellen die Grundlage. Der Vergleich des Metzger- und des Bäckerhandwerks zeigte die Bedeutung arbeitstechnischer Erfordernisse für den Fortbestand hausrechtlicher Abhängigkeit, deutet aber auch auf den möglichen Einfluß der Betriebsgröße, die, wie im dritten Kapitel dieser Arbeit gezeigt wurde, über die Konzentrationsquote nur unzureichend erfaßt wird. Bei Metzgern, Schreinern und Schlossern ist die Beschäftigung einer Mehrheit der Gesellen in größeren Betrieben wahrscheinlich, die die Emanzipation der Handwerksgesellen vom Meisterhaushalt offensichtlich erleichtert hat. 1 0 Der zumindest teilweise Fortbestand des Kost- und Logiswesens in den klein- und kleinstbetrieblich organisierten Bekleidungshandwerken legt es nahe, »die Kopplung von Schlafstelle und Arbeitsplatz« als »Form gesteigerter Ausbeutung« zu interpretieren. 11 Wie auch immer man zu dieser Interpretation und den Erklärungsversuchen für die handwerksspezifischen Differenzen im Fortbestand des Kost- und Logiswesens stehen mag, es bleibt festzuhalten, daß in den meisten hier behandelten Handwerken um die Mitte der 1850er Jahre die selbständig wohnenden Handwerksgesellen eine Mehrheit darstellen, aber auch, daß die in dieser Arbeit vorgestellten quantitativen Ergebnisse zumeist nur für eben diese Mehrheit Gültigkeit besitzen. Der beim Meister wohnende Geselle findet sich nicht im Adreß- und Bürgerbuch und entzieht sich damit häufig dieser Untersuchung.

120

2. Die Größe der Handwerker-

und

Arbeiterfamilie

Mit der selbständigen Haushaltsführung und - wie wir sehen werden häufig auch mit der Heirat sind wichtige Unterscheidungen zwischen Meistern und Gesellen für eine Mehrheit der Gesellen verschwunden. In diesem Abschnitt soll zunächst möglichen Unterschieden in der Familiengröße nachgegangen werden. Betrachtet man die in Tabelle 25 zusammengestellten Daten zur Familiengröße, so bestätigen zunächst die Verheiratetenanteile der Gesellen in den verschiedenen Handwerken im wesentlichen die bei der Behandlung der Verbreitung des Kost- und Logiswesens beobachteten U n terschiede. So sind von den wenigen selbständig wohnenden Gesellen der Nahrungsmittelhandwerke kaum dreißig Prozent verheiratet, während der entsprechende Anteil bei den Schneidern, Schreinern und Metallhandwerkern etwa drei Viertel ausmacht. Der etwas niedrigere Prozentsatz für das Schuhmacherhandwerk korrespondiert mit dem höheren Anteil der beim Meister wohnenden Gesellen in diesem Handwerk. Daß schließlich bei den Maurergesellen die Verheiratung den Regelfall darstellt, überrascht in einem Handwerk, das schon im achtzehnten Jahrhundert Kost und Logis nur in Ausnahmefallen kennt, nicht. 1 2 Gerade die großen Differenzen im Anteil der Verheirateten bei den Gesellen der verschiedenen Handwerke machen deutlich, daß Familiengrößen sinnvoll nur bezogen auf die Zahl der Verheirateten berechnet werden können. 1 3 Leider gestatten die Bürgerbücher keinen Vergleich der Familienmit der Haushaltsgröße. 14 Gesellen und Gesinde, eventuelle Schlafgänger etc. sind - wie bereits erwähnt - in den Bürgerbüchern nicht aufgeführt. Dagegen sind neben Kindern und Eltern auch andere mitwohnende Verwandte, wie Eltern und Geschwister eines der Ehepartner, uneheliche Kinder der Töchter oder Adoptivkinder enthalten und in die vorgenommene Berechnung durchschnittlicher Familiengrößen einbezogen. Zahlenmäßig spielen diese mitwohnenden Verwandten eine äußerst geringe Rolle - ihre Zahl macht ganze 0,7% der Kinder aus - , so daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß diese nur unvollständig erfaßt sind. Die Erläuterung der in Tabelle 25 zusammengestellten Daten muß abschließend auch die Berechnung der durchschnittlichen Familiengröße unter Ausschluß Alleinstehender begründen. Diese Berechnung wurde der Bestimmung der durchschnittlichen Familiengröße der Verheirateten vorgezogen, da so die Einbeziehung unvollständiger Handwerker- und Arbeiterfamilien, d. h. der Fälle, in denen ein verwitweter Handwerker oder Arbeiter mit Kindern oder anderen Verwandten zusammenlebte, möglich ist. Wie ein Vergleich der entsprechenden Fallzahlen deutlich macht, sind die Unterschiede zahlenmäßig unerheblich, die Differenzen bei den Meistern wegen häufigerer Verwitwung etwas größer als bei den Gesellen. Auch nach dieser ersten Vorklärung können die unterschiedlichen Familiengrößen noch nicht sinnvoll interpretiert werden. Begnügt man sich mit 121

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S Achtundvierziger Revolution^« 1 Spielen in Stadelmanns stark psychologisierender Darstellung die Gesellen als die »intelligenten Entwurzelten« die zentrale Rolle, haben neuere Untersuchungen die Unterstützung auch der Meister für die radikalen Demokraten in den Vordergrund gerückt. 2 »Das Nebeneinander von demokratischen Forderungen im politischen Bereich und restaurativen Postulaten auf dem wirtschaftlichen und sozialen Feld«, das Heinrich August Winkler »zu den charakteristischen Merkmalen der Handwerkerbewegung der Revolutionsjahre 1848 und 1849« zählt, wird dabei in der Regel als in seiner Widersprüchlichkeit erklärungsbedürftig empfunden. 3 Erst die vor allem von Jürgen Bergmann vorangetriebene eingehendere Beschäftigung mit der Stellung der Handwerker zur Revolution und mit ihren gesellschaftspolitischen Vorstellungen hat die Vielschichtigkeit der vertretenen Positionen deutlich gemacht. 4 Die größere Differenziertheit, die bei Bergmann in den Versuch, politische und ökonomische Forderungen bestimmten Handwerkszweigen und Handwerkergruppen zuzuordnen, einmündet, hat aber nur wenig daran geändert, daß Meister und Gesellen zumeist separat betrachtet werden. 5 In Bezug auf die Meister interessieren mögliche Affinitäten zum Liberalismus oder aber auch schon die Wurzeln kleinbürgerlicher Unterstützung für den Nationalsozialismus. 6 Die Gesellen geraten dagegen in erster Linie als Träger der entstehenden Arbeiterbewegung ins Blickfeld. 7 »The break between masters and men« - symbolisiert im Ausschluß der Gesellen vom Frankfurter Handwerkerkongreß - ist also Voraussetzung nicht Untersuchungsgegenstand der meisten zum Themenkomplex Handwerk und Revolution vorliegenden Arbeiten. 8 In einer Untersuchung der Herausbildung von Kleinbürgertum und Proletariat hat die Überprüfung dieser Annahme einen hohen Stellenwert. Dem Verhältnis zwischen Meistern und Gesellen geht 150

deshalb dieses Kapitel, das die Rolle der Handwerker und Arbeiter in der Revolution von 1848/49 ganz allgemein zum Thema hat, detailliert nach. Eingangs soll aber zuerst noch die wirtschaftliche Lage der Handwerker in den späten 1840er Jahren betrachtet werden.

2. Die wirtschaftliche Krise der späten Í 840er Jahre und ihre auf die Düsseldorfer Handwerker und Arbeiter

Auswirkungen

Die Beziehung zwischen der Agrarkrise von 1846/47 und der Revolution von 1848/49 ist häufig diskutiert worden. Inzwischen scheint klar, daß der Lebensmittelmangel gegen Ende 1847 im wesentlichen überwunden ist und die Preise für Grundnahrungsmittel im Frühjahr 1848 einen Tiefpunkt erreichen. 9 Auf regionaler Ebene findet diese Einschätzung in den von Irsigler und Ebeling vorgelegten Statistiken ihre Bestätigung. 10 Gleichermaßen zeichnet sich ab, daß von der industriewirtschaftlichen Depression des ersten Revolutionsjahres direkt nur die verschwindend kleinen Gruppen der Fabrikarbeiter und des Wirtschaftsbürgertums betroffen werden. 1 1 Weit weniger klar ist die wirtschaftliche Situation der städtischen Handwerker. Manfred Simon sieht monetäre Schwierigkeiten und die politische Unsicherheit der Revolutionsjahre als Ursachen anhaltend schwacher Nachfrage und hoher Arbeitslosigkeit bis zur Mitte des Jahres 1849. 12 Ganz ähnlich beschreibt Jürgen Bergmann, der das detaillierteste Material zur wirtschaftlichen Lage der Handwerker 1848/49 zusammengetragen hat, die Handwerker am Ende der Agrarkrise als ihrer Ersparnisse beraubt und ohne Zugang zu Krediten. Er gesteht jedoch zu, daß die Zeitungsberichte, auf denen seine Analyse aufbaut, nicht wirklich verläßlich sind, da das Interesse an der wirtschaftlichen Situation der Handwerker politisch motiviert sei und in keinem direkten Zusammenhang mit der Schwere des erlebten Elends stehe. 13 Auch die zu Düsseldorf erreichbaren Quellen erlauben keine wirklich befriedigende Einschätzung. Der Bürgermeister Fuchsius formuliert seine ernste Sorge über die Lage der Unterschichten im Januar 1848. 14 Im April berichtet die Düsseldorfer Bezirksregierung nach Berlin: »fast täglich werden Fallissements bekannt und haben sofortige Beschäftigungslosigkeit vieler Arbeiter zur Folge. « 1S Einen Monat später ist der Bericht präziser: »Die Arbeitslosigkeit nimmt täglich zu, indem immer mehr Personen, welche seither zum Mittelstande gehörten, hilfsbedürftig werden und den Arbeitssuchenden sich anschließen.« 16 Daß spätere Berichte vor allem politische Ereignisse behandeln, ist kein guter Grund anzunehmen, daß die wirtschaftliche Lage weniger prekär ist. Im Oktober 1848 bezieht eine örtliche Tageszeitung die Diskussion um die Fortsetzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Tagelöhner explizit auf die Lage der Handwerker: »So hart nun auch das Schicksal dieser Leute, für das liebe Brot arbeiten zu wollen 151

und nicht zu können, so sollten sie doch bedenken, daß außer ihnen es noch hunderte von braven Handwerkern, die zum Theil ebenfalls Familienväter sind, in hiesiger Stadt gibt, die sich in gleicher vielleicht noch schlimmerer Lage befinden. « 1 7 Ganz offensichtlich sind hier die Handwerksgesellen gemeint, denn nur von diesen ist - wie wir gesehen haben - ein Teil verheiratet, während fur die Meister eine Familie die Regel ist. Doch ist die Krise keineswegs auf die Gesellen beschränkt und dauert auch 1849 weiter an: »Wie schwer die ohnehin sehr traurigen Verhältnisse des Handwerkerstandes von denselben betroffen werden, läßt sich vorzüglich aus seinen Beziehungen zum Gewerbegericht erkennen. Denn die bei zunehmender Tätigkeit stets sich vermehrenden Streitigkeiten haben bis jetzt anhaltend abgenommen.« 1 8 Es scheint wenig sinnvoll, die Liste von Kommentaren zur düsteren Lage des Handwerks in diesen Jahren fortzuführen. Bei aller Übereinstimmung zwischen diesen zeitgenössischen Berichten bleibt doch deren Allgemeinheit unbefriedigend. Schließlich enthalten die Zeitungen auch 1848 und 1849 Anzeigen, in denen Gesellen gesucht werden. Nun sind diese Anzeigen nicht sehr zahlreich und betreffen nicht alle Handwerkszweige, doch selbst Schneidergesellen wird Arbeit angeboten. Diese pessimistischen Einschätzungen der Lage der Handwerker sind sicherlich nicht falsch, sie erlauben aber kein Urteil über die Strategien der Handwerker, mit der Unterbeschäftigung fertig zu werden. Die handwerklichen Klagen und Forderungen, die weiter unten in diesem Kapitel behandelt werden, beziehen sich natürlich auch auf die Beschäftigungssituation, sind aber weder so präzise noch werden sie so massiv vorgebracht wie die Forderungen der Tagelöhner nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die in spektakulären Demonstrationen an die städtischen Behörden gerichtet wurden. 19 Ein von dem Verein zur Beförderung von Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Wohlstand und Sittlichkeit ins Leben gerufenes Arbeitsvermittlungsbüro wird von den Handwerkern gemieden. 20 Der Tätigkeitsbericht dieses Arbeitsnachweises für den Februar 1848 ist ganz typisch: »Die Arbeitssuchenden waren größtentheils verheiratete Frauen und Wittwen, welche durch Handarbeiten einiges Verdienst für die Ihrigen gewinnen wollten. « 2 1 Auch manche Handwerkerfrau wird so das Familieneinkommen aufgebessert haben. Ihre Ehemänner dachten dagegen ganz und gar nicht daran, außerhalb ihres erlernten Berufes zu arbeiten. Die Beschäftigtenzahlen im Handwerk erreichen 1849 einen Höhepunkt, der durch eine Zunahme von Meistern und Gesellen verursacht wird. 2 2 Das Bild vom arbeitslosen Gesellen, der sich selbständig macht, stimmt hier also nicht. Da die Volks- und damit auch die Handwerkerzählung gegen Ende des Jahres 1849 stattfindet, mag man versucht sein, die hohen Beschäftigtenzahlen als Zeichen einer verbesserten wirtschaftlichen Lage zu deuten. Dagegen sprechen jedoch die Wanderungsstatistiken. 1848 und 1849 gibt Düsseldorf »Knaben und Junggesellen« ab. 2 3 Es dürften also in erster Linie Arbeitslose 152

aus anderen Bereichen der städtischen Wirtschaft sein, die die Zahl der unterbeschäftigten Handwerker anschwellen läßt. Ist das oben entworfene Bild der wirtschaftlichen Lage der Düsseldorfer Handwerker während der Revolutionsjahre zutreffend, dann ist die ökonomische Situation der Handwerker zwar schlechter als in den 1830er und in den frühen 1840er Jahren, aber dennoch nicht grundsätzlich neu oder qualitativ andersartig als in früheren Krisen. Unsichtbare Unterbeschäftigung ist während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts für die Mehrheit der Handwerkszweige charakteristisch. Der Anteil der handwerklich Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung Düsseldorfs schwankt in dieser Zeit zwischen 8,2 und 17,1 %. 2 4 Diese Schwankungen reflektieren wohl nur zum kleinsten Teil Veränderungen der Nachfrage nach handwerklichen Gütern und ganz überwiegend Fluktuationen in der Verbreitung der Unterbeschäftigung. Darüberhinaus stellt der Blick auf frühere Agrarkrisen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Einzigartigkeit der vorrevolutionären Situation in Frage. Wiewohl quantitativ präzise Vergleiche quellenbedingt kaum möglich sind, scheint es doch wahrscheinlich, daß das materielle Elend, das die Krisen von 1816/17 und 1830/31 für die Bevölkerung bedeuten, nicht hinter dem der späten 1840er Jahre zurücksteht. 25 Einen Unterschied zu diesen früheren Krisen brachte allerdings das Zusammenfallen einer konjunkturellen mit einer strukturellen Krise zumindest der zahlenmäßig stärksten Handwerkszweige. Für Schreiner, Schneider und Schuhmacher wirkte sich die Krise der späten 1840er Jahre - wie die Analyse im dritten Kapitel dieser Arbeit ausweist - in einer ganz erheblichen Beschleunigung der strukturellen Krise aus, während die Nahrungsmittelhandwerke weitestgehend unbetroffen bleiben. 26 Fällt schon eine präzise Einschätzung der Krisensituation der späten 1840er Jahre schwer, ist die Beurteilung der Krise als Determinante des Revolutionsverlaufs noch weit schwieriger. Hier eine der »wesentlichen Ursachen« der Handwerkerbewegung sehen zu wollen, scheint mir jedenfalls überzeichnet und arg ökonomistisch. 27

3. Die März-Revolution

und die Formierung politischer in Düsseldorf

Organisationen

Die Nachricht von der Französischen Revolution erreicht Düsseldorf am 27. Februar und wird in den Straßen der Stadt enthusiastisch gefeiert. 28 Im März und April werden zahllose Treffen organisiert und in vielen dieser Versammlungen werden Petitionen aufgesetzt. 29 Die Berichte sind scheinbar widersprüchlich, was die soziale Stellung der Teilnehmer angeht. So ordnet der Landrat die Teilnehmer einer Volksversammlung in der Bockhalle als »meistens aus den niedern Ständen der Stadt« stammend ein und berichtet: »Alle guten Bürger der Stadt (. . .) haben an dieser Demonstration nicht den mindestens Antheil genommen . . .« 30 Dagegen werden die Un153

terzeichner der dort verabschiedeten Petition, die nun nicht unbedingt mit den Besuchern der Versammlung identisch sein müssen, von der Düsseldorfer Zeitung als »Düsseldorfs Bürger« bezeichnet und »unter ihnen namentlich der Handwerkerstand« hervorgehoben. 3 1 Vermutlich meinen beide Berichte genau dieselben Personen! Konrad Repgens apodiktische Formulierung - »Rheinische Märzbewegung heißt nicht Aufbruch >des Volkesniedern Stände< politisch zu kontrollieren, wird sie schon Ende März 1848 enttäuscht, als der fuhrende Demokrat Lorenz Cantador zum Chef gewählt wird. 3 8 Genau dieser Lorenz Cantador gehört auch zu den Gründern des Vereins für demokratische Monarchie, der sich am 16. April konstituiert. 3 9 Die führenden Persönlichkeiten dieses Vereins, wie Lorenz Cantador, Moritz Geisenheimer, A. J. Bloem u.a., die ganz überwiegend Kaufleute, Handlungsgehilfen und Rechtsanwälte sind, lassen eine beeindruckende personelle Kontinuität zu vormärzlichen Vereinen, wie dem Turnverein, dem Allgemeinen Verein der Karnevalsfreunde und dem St. Sebastianus Schützenverein erkennen. 4 0 Der wenig eindeutige N a m e des neu gegründeten politischen Klubs gibt Anlaß zu einer hitzigen Auseinandersetzung über seine Ziele, die in den verschiedenen Beiträgen mal konstitutionell, mal demokratisch-republikanisch definiert werden. 4 1 Die Fortsetzung dieser Auseinandersetzungen im Mai '48 macht deutlich, daß die Formulierung des Vereinsprogramms, wonach die »Volksherrschaft mit einem Fürsten an der Spitze« angestrebt wird, die Frage nach dem politischen Charakter des Vereins für demokratische Monarchie nicht endgültig klärt. 4 2 N i m m t man die Kandidatenliste dieses Vereins für die Maiwahlen mit ihrem hohen Handwerkeranteil als Indikator für die soziale Zusammensetzung des Vereins überhaupt, für den leider keine Mitgliederverzeichnisse existieren, kann man davon ausgehen, daß eine Mehrheit der Mitglieder dem Handwerk zuzurechnen ist. 4 3 Über den Verein für konstitutionelle Monarchie ist nur wenig bekannt. 4 4 154

Für die Maiwahlen arbeitet er mit katholischen Kreisen zusammen. 4 5 Auch diese liberal-katholische Kooperation hat vormärzliche Tradition und läßt sich personell ζ. B . bei der Gründung des bereits angesprochenen Vereins zur Beförderung von Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Wohlstand und Sittlichkeit nachweisen. 4 6 Das gemeinsame Programm der liberal-katholischen Allianz fugt einfach einen Abschnitt zur »religiösen Freiheit« den politischen und sozialen Forderungen des konstitutionellen Liberalismus hinzu. 4 7 Glücklicherweise drucken die lokalen Zeitungen nicht nur den Wahlaufruf dieser Koalition sondern auch die Namen der Unterzeichner ab. Neben 129 Erstunterzeichnern, deren Namen dem Wahlaufruf direkt beigefugt sind, werden die Namen von weiteren 490 späteren Unterzeichnern in den Tagen vor den Maiwahlen veröffentlicht. Wütende Proteste einiger Bürger, überwiegend von Handwerkern, sie hätten den Wahlaufruf entweder überhaupt nicht unterzeichnet oder aber sie wären über dessen Inhalt irregeführt worden, lassen die Verläßlichkeit dieser Quelle zweifelhaft erscheinen. 4 8 Die Aussagekraft der Unterschriften sollte also nicht überschätzt werden. Etwa jedem zweiten Namen ist eine Berufsangabe beigegeben; die Gründe für das Fehlen von Berufsangaben sind ganz unterschiedlich. Friedrich Kühlwetter, Direktor der Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn, mag es angesichts seiner Stellung in der städtischen Gesellschaft für überflüssig gehalten haben, seinen Beruf anzugeben. Dies scheint für die Mehrzahl der Fälle, in denen die Berufsangabe fehlt, allerdings eine wenig wahrscheinliche Erklärung. Es kann zudem nicht ausgeschlossen werden, daß auch Frauen den Wahlaufruf unterschrieben haben. D a es mit Hilfe der örtlichen Adreßbücher möglich war, ein weiteres Drittel der Unterzeichner zu identifizieren, kann deren Anteil allerdings nicht sehr hoch sein. Schließlich werden unter den verbleibenden 109 Unterzeichnern, deren Beruf nicht zu ermitteln war, eine ganze Reihe von Söhnen Düsseldorfer Bürger sein, die, da sie noch bei ihren Eltern wohnten, von der Aufnahme in das Adreßbuch ausgeschlossen waren. Die fur die in Tabelle 32 vorgenommene Aufstellung der Berufe der Unterzeichner des liberal-katholischen Wahlaufrufs gewählten Kategorien bedürfen der Rechtfertigung und Erläuterung. Unter den »Freiberuflern, . . . « finden sich schlecht bezahlte Lehrer und der örtliche Klerus ebenso wie höhere Regierungsbeamte und wohlhabende Rentner, vor allem aber zahlreiche Maler und andere Künstler. 4 9 Die zweite Gruppe ist kaum weniger heterogen. Da ohne zusätzliche Informationen wohlhabende Kaufleute und marginale Kleinhändler nicht unterschieden werden können, bedeutet auch die Einbeziehung der Wirte, deren jährliche Einkommen zwischen 100 und weit über 2000 Talern schwanken, keinen weiteren Verlust an Präzision. 5 0 Klarer abgegrenzt sind die beiden am schwächsten vertretenen Gruppen. Die zahlenmäßige Schwäche des Wirtschaftsbürgertums, das bei den Unterzeichnern lediglich durch einige Textilfabrikanten und Druckereibesitzer vertreten ist, entspricht dem fast vollständigen Fehlen dieser Sozialgruppe 155

im Düsseldorf der Jahrhundertmitte. Dagegen steht die geringe Zahl der Tagelöhner und Träger für eine extreme Unterrepräsentation dieser Gruppe, die dem völligen Ausschluß nahe kommt. Ähnliches gilt für die Gärtner der Außengemeinden, die in der Tabelle 32 unter den »Sonstigen« geführt werden.

Tabelle 32: Berufe der Unterzeichner des liberal-katholischen Wahlaufrufs 1848 ErstunterZeichner

spätere Unterzeichner

Summa

Freiberufler, Regierungsund andere Beamte etc.

61

58

119

Kaufleute, Kleinhandler, Wirte

21

58

79

7 1

17 18

24 19

28 1 10 129

231 9 99 490

259 10 109 619

Fabrikanten etc. Tagelöhner, Träger Handwerker Sonstige unbekannt Summa

Ausgezählt nach: Dok. 17 in Düsseldorf während der Revolution, DK vom 23. bis 28. April 1848; zur Identifizierung zusätzlich: Adreß-Kalender und Wohnungsanzeiger der Stadt Düsseldorf und der Vorstädte, Düsseldorf 1847 und Wohnungs-Anzeiger und Adreßbuch der Oberbürgermeisterei Düsseldorfpro 1850, Düsseldorf o.J.

Die Mehrheit der Unterzeichner des liberal-katholischen Wahlaufrufs, deren Berufe bekannt sind, stellt das Handwerk. S1 Trotz ihrer zahlenmäßigen Dominanz haben die Handwerker nur sehr begrenzten Zugang zur Führungsgruppe der liberal-katholischen Allianz. Ein Vergleich der entsprechenden Spalten der Tabelle 32 zeigt dies überdeutlich. Die Erstunterzeichner, für die man persönlichen Kontakt zu den Verfassern des Wahlaufrufs unterstellen darf, gehören ganz überwiegend zu der heterogenen Gruppe der »Freiberufler, . . .« Die Führungsposition der >Wohlhabenden und der Gebildetem spiegelt sich weniger deutlich in den anderen Berufsgruppen, wiewohl eine detailliertere Analyse zeigen könnte, daß z.B. unter den Kaufleuten, Kleinhändlern etc. die Kaufleute überproportional oft bei den Erstunterzeichnern zu finden sind. Da das Interesse dieser Untersuchung den Handwerkern gilt, scheint eine solche Feinanalyse verzichtbar. Daß nur etwas mehr als ein Zehntel der handwerklichen Unterschriften 156

auf die >in-group< der Erstunterzeichner entfällt, belegt eindeutig, daß die Handwerker nicht zu den Organisatoren zählten, sondern vielmehr mobilisiert werden sollten. Gewerbespezifische Differenzen sind auch hier aufschlußreich. Die in der Tabelle 33 aufgelisteten Handwerkszweige stellen etwa die Hälfte der handwerklichen Unterschriften, aber weniger als ein Viertel der Erstunterzeichner. Unter letzteren sind neben drei Bäckern, drei Baumeistern und zwei Schreinern vor allem die handwerklichen Produzenten von Luxusgütern wie die Goldschmiede. Die nur wenigen Erstunterzeichner sollen im folgenden nicht mehr von den übrigen Unterzeichnern getrennt behandelt werden. Vielmehr geht es im folgenden darum, Meister und Gesellen zu unterscheiden. Leider gibt es für die Revolutionsjahre keine Quelle, die eine schnelle Unterscheidung erlaubt. Für die Nahrungsmittelhandwerke ist das Problem leicht zu lösen, finden sich doch die selbständig Tätigen in diesen Gewerben in den Steuerlisten wieder. 52 Die größten Schwierigkeiten, zwischen Gesellen und Meistern zu unterscheiden, gibt es in den Massenhandwerken der Schreiner, Schneider und Schuhmacher. Diese Schwierigkeiten verdanken sich nicht nur fehlenden Quellen, zum Teil reflektieren sie die Lage dieser Handwerkszweige, in denen der Unterschied zwischen Meistern und Gesellen keineswegs »changing in the direction of class distinctions« war, wie Barrington Moore glaubt, sondern vielmehr jede Bedeutung verlor. 53 Da nur eine kleine Minderheit der Handwerksmeister in diesen Gewerben gewerbesteuerpflichtig ist, sind die Steuerlisten keine große Hilfe. Gelegentlich enthält allerdings die Berufsangabe auch den Zusatz -meister oder -geselle. 54 Schließlich wurden zwei weitere Quellen zur Identifizierung der Meister herangezogen. In den frühen 1850er Jahren untersuchen die wiedergegründeten Innungen sehr sorgfältig die Berechtigung der Meister zum selbständigen Gewerbebetrieb. ss Nach dem Gewerbegesetz von 1849 kommt dem Nachweis selbständiger Arbeit vor 1845 besondere Bedeutung zu. Jene, die den Innungsdokumenten zufolge diesen Nachweis führen können, werden zusammen mit denen aufgelistet, die ein jährliches Einkommen von mindestens 100 Talern aufweisen. 56 Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß auch Gesellen Jahreseinkommen von 100 oder mehr Talern hatten, ist das letzte Kriterium für die Meisterschaft wohl das fragwürdigste. Die aufgrund ihres Einkommens zu den Meistern gezählten Handwerker erhöhen die Zahl der Meister aber nur unwesentlich, so daß ernsthafte Verzerrungen unwahrscheinlich sind. Die Auflistung der Gesellen, d. h. derjenigen Handwerker, die weder Gewerbe- noch Einkommensteuer zahlen und auch in den Innungsdokumenten nicht erwähnt sind, unterscheidet die entweder 1847 oder 1850 im Adreßbuch aufgeführten von den beim Meister wohnenden. Weit wichtiger als die Verfahrensweisen zur Identifizierung von Meistern und Gesellen sind natürlich die dadurch ermöglichten inhaltlichen Aussagen. Zunächst fallen die Unterschiede zwischen den Nahrungsmittelhandwerken und den Massenhandwerken der Schreiner, Schneider und Schuh157

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3 Republik< und für die Monarchie, . . . « - wirkungsvoll in Frage, wiewohl hier natürlich regionale Nuancierungen einzuräumen sind. 1 3 6 Die Rolle der Handwerksgesellen hat am wenigsten scharfe Konturen. Wir finden sie als Aktivisten im Volksklub aber auch als Unterzeichner des liberal-katholischen Wahlaufrufs. Ihr Fehlen im Verein für demokratische Monarchie ist eher auf die Beschränkungen der Quellen als auf ihre Nichtmitgliedschaft zurückzuführen. Darüberhinaus darf nicht übersehen werden, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Assoziationen fließend sind. Volksklubmitglieder sprechen in Versammlungen der (gemäßigteren) Demokraten und diese im Allgemeinen Bürgerverein. 137 Diese Durchlässigkeit politischer Grenzen geht mit einer egalitären Stimmung einher, die sich auch auf die konstitutionellen Liberalen erstreckt. Die vom Verein zur Beförderung von Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Wohlstand und Sittlichkeit ins Leben gerufene Allgemeine Kranken- und Sterbe-Lade ermuntert nun mit einigem Erfolg die bürgerlichen Schichten beizutreten, nachdem die Lade bislang »ihre Wirksamkeit auf Mitglieder der sog. arbeitenden Klassen beschränkte, den Unterschied zwi169

sehen Arbeiter und Bürger, wie ihn die vergangene Zeit offenbar gekannt hat, bisher nicht vermeiden konnte. « 138 Die politischen Gruppierungen, die sich während der Revolution von 1848/49 in Düsseldorf bilden, unterscheiden sich zwar bezüglich ihres Sozialprofils, sind aber keine Klassenorganisationen. Die soziale Heterogenität der wegen der Störung des Empfangs des preußischen Königs Verfolgten z.B. zeigt große Ähnlichkeit mit den Trägern »sozialen Protests« im vormärzlichen Düsseldorf. 1 3 9 Daß die bei den Barrikadenkämpfen Getöteten überwiegend Tagelöhner sind, deutet wohl eher auf Unterschiede zwischen den Organisierten und spontanen Aktivisten, die auch andernorts angemerkt wurden, als auf einen Bruch der städtischen Gesellschaft in der Haltung zur Revolution. 1 4 0 Diese und andere Unterscheidungen sind bei der Einordnung von Ergebnissen zur sozialen Basis der Revolution von 1848/49 zu berücksichtigen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß das Sozialprofil der Mitglieder politischer Vereine, der Teilnehmer an Demonstrationen und der von der Polizei Verfolgten identisch sein sollte. 141 Schließlich haben unsere Ergebnisse auch eine mögliche Implikation fur die Auseinandersetzung um die Klassenzuordnung der Märzgefallenen. 142 Sind die Düsseldorfer Resultate verallgemeinerbar, dann legen sie nahe, die Zuordnung der Märzgefallenen zum Kleinbürgertum oder zur Arbeiterklasse als ganz unerheblich im Zusammenhang der Revolution von 1848/49 einzustufen.

8. Gewerbespezifische

Initiativen

der

Handwerker

Neben der Bildung politischer Vereine findet in der Märzrevolution auch die Organisierung vielfältiger Interessengruppen statt. In Düsseldorf finden Versammlungen der patentierten Geometer und der Pächter statt, um nur zwei Berufsgruppen zu nennen. 1 4 3 Zu den ersten, die sich zusammenfinden, um ihre Lage und Interessen zu diskutieren, gehören die Handwerker. Den ersten Beleg dieser Aktivitäten bildet ein auf den 21. März 1848 datiertes Flugblatt, mit dem eine Gruppe von Handwerkern, Meistern und Gesellen, und Kaufleuten »Arbeiter und Arbeitgeber« zur Beratung von Anträgen an die Landstände einlädt. Bezeichnenderweise sollen die Diskussionen auf Bezirks- oder Gemeindeebene, nicht aber nach Handwerkszweigen stattfinden. »An uns, arbeitende Brüder, ist es nun, auch uns zur Anerkennung zu bringen; an uns ist es, das Beispiel Frankreichs nachzuahmen, unsere Vertretung, die Erwägung und Würdigung unserer Verhältnisse zu verlangen. « 144 Als am 23. März die acht Bezirksversammlungen stattfinden, sehen die Zeitungen in dem »parlamentarischen Takte« der Arbeiter, denen »mustergültiges Benehmen« bescheinigt wird, den bemerkenswertesten Aspekt der Verhandlungen. 145 Die acht Bezirksversammlungen wählen Vertreter für ein Central Comité fur Arbeiter und Arbeitgeber und tagen selbst, soweit das feststellbar ist, nie wieder. 1 4 6 Als sich die 24 Mitglieder des Central 170

Comités erneut versammeln, ist von dem revolutionären Geist, der das einladende Flugblatt charakterisiert hatte, nichts mehr zu spüren. Am 2. April wählt das Comité Franz A. von Stockum, dem Stadthistoriker Most zufolge ein »durchaus konservativ-reaktionär gerichteter« Mann, zum Vorsitzenden. 147 Der uns mittlerweile bekannte Eduard Hölterhoff darf Protokoll fuhren. Die neue Ausrichtung - oder die bürgerliche Übernahme? - spiegelt auch die Umbenennung des Central Comités wider: nun ist es ein Comité »für die arbeitende Klasse« und nicht mehr für »Arbeiter und Arbeitgeber«. 148 Im Verlauf von April und Mai organisiert das Central Comité Versammlungen, zu denen jeweils die Angehörigen einzelner Handwerkszweige eingeladen werden. Diese Versammlungen überschneiden sich mit unabhängigen Treffen der einzelnen Handwerke. Die Düsseldorfer Bäcker werden am 25. April zu einer »allgemeinen Berathung« eingeladen. Da die Einladung lediglich »im Namen mehrerer redlich gesinnter Bäckermeister« unterzeichnet ist, wird man annehmen dürfen, daß ausschließlich Meister eingeladen sind. 149 Über den Inhalt der Diskussionen bei diesem Treffen ist nichts bekannt und in der Folgezeit wird nur noch eine einzige Versammlung angekündigt. Thema dieser zweiten Versammlung ist ein Brief der Kölner Bäcker, in dem sie ihre Düsseldorfer Kollegen zum Beitritt in den Bäcker-Gewerbe-Verein Köln auffordern. 1 5 0 Erneut muß offen bleiben, wie die Düsseldorfer Bäcker zu diesem Vorschlag stehen, doch ist der Kontakt zu anderen Städten für die Nahrungsmittelhandwerke typisch. Ankündigungen von Treffen der Metzger sind nicht überliefert, doch nehmen einige Düsseldorfer Metzger am 26. April und am 8. Mai 1848 an zwei Generalversammlungen des Central-Comités der deutschen Metzger teil. Die Forderungen der dort beschlossenen Petition an die Frankfurter Nationalversammlung sind sehr präzise und betreffen vor allem Schutzzölle. In ihnen kommen ausschließlich die Interessen der selbständigen Metzger zum Ausdruck. Wenn Best hier die Metzger »die traditionellen korporativen Organisationen des deutschen Handwerks« nutzen sieht, übersieht er wohl, daß ausschließlich rheinische Städte, in denen die korporativen Institutionen seit langem aufgehoben sind, vertreten sind. 1 5 1 Angesichts der regionalen Bedeutung der Viehmärkte bedarf es auch nicht des Rückgriffs auf korporative Traditionen, um enge (Geschäfts-)Beziehungen unter den rheinischen Metzgermeistern zu erklären. 152 Während die Nahrungsmittelhandwerker ganz selbstverständlich davon ausgehen, daß nur Meister an ihren Versammlungen teilnehmen, kündigen Böttcher, Buchbinder, Glaser und Maler ihre Treffen ausdrücklich als Meisterversammlungen an. 1 5 3 Dies ist bei den Bauhandwerkern ebenfalls unnötig. 1 5 4 Als einzige werden die Bauhandwerksmeister zu den Gesprächen der Kaufleute, Fabrikanten, Bauunternehmer und 171

sonstiger Arbeitgeber eingeladen. 155 Dieses Privileg ermöglicht den Bauhandwerksmeistern auch den Zugang zu 8000 Talern, die die Regierung fìir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Düsseldorf zur Verfügung gestellt hat. 1 5 6 Die engsten organisatorischen Verbindungen zwischen dem Central Comité für die arbeitende Klasse und den einzelnen Handwerken bestehen bei den Massenhandwerkern. Lediglich die Schneider tagen, bevor sie vom Central Comité eingeladen werden: »Sämtliche Kleidermacher, Meister und Gesellen, werden hierdurch zur Berathung über Verbesserung der sie betreffenden Arbeits-Zustände eingeladen . . .« 1 5 7 Drei Wochen später diskutiert das Central-Comité die Anliegen der Schneider und lädt Meister und Gesellen gemeinsam ein. 158 Die Beschlüsse des Central Comités werden in den örtlichen Zeitungen veröffentlicht. Die Forderung, die Schneiderei im örtlichen Gefängnis einzustellen, gehört wohl zum Standardkatalog handwerklicher Forderungen. Die Bitte an die hiesigen Eisenbahn-Direktionen, »die Schneiderarbeiten ihrer Angestellten den Lokal-Meistern zu übergeben«, ist eine weitere Düsseldorf direkt betreffende Maßnahme. Die weit wichtigeren und weitreichenderen Forderungen nach »Beseitigung aller Militairschneider, (. . .) Aufhebung aller Kleidermagazine, (. . .) Beschränkung des Meisterrechts ( . . . ) sollen durch Petitionen an den Reichstag, durch die Bildung von Innungen (. . .) ihre Erledigung finden. « Daß schließlich auch die »Auslösung der dringendsten Pfandstücke« gefordert wird, sagt vielleicht mehr über die wirtschaftliche Lage der Handwerker als die weiter oben angeführten Regierungs- oder Presseberichte. 159 Leider werden nur die Beschlüsse, nicht aber Berichte eventuell kontrovers verlaufender Diskussionen veröffentlicht. Bei ihrem nächsten Treffen tagen die Schneidermeister jedenfalls ohne die Gesellen. 160 Die erste Einladung zu einem solchen Meistertreffen fällt durch ihre Abfassung auf. Sie ist »an alle selbständig für eigene Rechnung arbeitenden Schneidermeister« gerichtet. 161 Während gemeinhin die Formulierung »auf eigene Rechnung arbeitend« in der preußischen Statistik die Einbeziehung selbständig tätiger Gesellen bedeutet, ist hier wohl etwas anderes gemeint. Nicht die handwerkliche Qualifikation allein, sondern auch »wirkliche Unabhängigkeit« wird hier als Voraussetzung der Meisterschaft angesehen. Schneidermeister, die für die Kleidermagazine arbeiten, fallen nach dieser Definition heraus. Unsere Interpretation findet Bestätigung, wenn man die Unterzeichner der am 4. September 1848 aufgesetzten Petition der Düsseldorfer Schneider betrachtet. Die Zahl der Unterzeichner, etwa 140, gleicht unserer Schätzung der wirklich unabhängigen männlichen Schneidermeister. 1 6 2 Unter den etwa 100 Unterzeichnern mit einer leserlichen Unterschrift finden sich zehn Gewerbesteuerzahler. Nimmt man den gleichen Anteil Gewerbesteuerpflichtiger auch fur die verbleibenden vierzig Unterzeichner an, so kann man sämtliche gewerbesteuerzahlenden Schneidermeister Düsseldorfs unter den Unterzeichnern vermuten. 163 Der Inhalt der 172

Petition besteht lediglich in einer Beitrittserklärung zum Frankfurter Schneiderkongreß. Dessen Forderungen sind selbst in offiziösen Handwerksgeschichten als »einseitig« und »übertrieben« charakterisiert worden, da ein Monopol für die handwerkliche Produktion von Kleidung angestrebt würde. 1 6 4 Die Forderungen des Frankfurter Schneiderkongresses gehen indes nur unwesentlich über die Beschlüsse des Düsseldorfer Central Comités hinaus. Nach Abfassung der Beschlüsse betreffend das Schneiderhandwerk lädt das Central Comité Schuhmachermeister und -gesellen ein. Eine erste auf Samstag angesetzte Versammlung ist so schlecht besucht, daß ein zweiter Versuch am Dienstag, dem 2. Mai, gemacht werden muß. 1 6 5 Über den Verlauf der Diskussion ist wieder nichts bekannt, doch wird deutlich, »daß diese Anträge mit denen des Schneidergewerkes in allen Punkten übereinstimmen und nur in einem Wunsche sich insofern erweitern, als es im Interesse des Gewerkes nothwendig sei, den Verkauf von Schuhmacherwaaren auf Märkten und in Läden einzustellen. « 1 6 6 Einen Monat später versammeln sich die Schuhmachergesellen und wenig später auch die Meister getrennt. 1 6 7 Die Gründe für diese separaten Treffen liegen wie die dort diskutierten Themen im Dunklen. Die Annahme eines Bruchs zwischen Meistern und Gesellen scheint jedoch vorschnell. Im November schildert die Presse die Fahnenweihe der Schuhmacher-Innung: »Gestern morgen wurde die Innung der Schuhmacher durch feierliche Fahnenweihe in der Andreas-Pfarrkirche constituiert. Gegen 2 Uhr Nachmittags begaben sich alsdann die Angehörigen aus dem Gesellenverbande in festlichem Aufzuge mit Musik auf den Markt vor dem Rathaus, woselbst sie für ihre Bruderschaft die Lade in Empfang nahmen . . , « 1 6 8 Meister und Gesellen definieren hier ihr Verhältnis ganz traditional als das von Meisterzunft und Gesellenbruderschaft. Dieses Verhältnis kennt durchaus Konflikte, steht aber dennoch zur Annahme eines Bruchs zwischen Meistern und Gesellen im Widerspruch. 1 6 9 Z u d e m schließen sich nicht alle Meister, und man wird annehmen dürfen, auch nicht alle Gesellen, der Innung und der Gesellenbruderschaft an. 1 7 0 Als letzter strukturell gefährdeter Handwerkszweig wird das Schreinerhandwerk v o m Central Comité für die arbeitende Klasse behandelt. Neben Meistern und Gesellen werden auch »diejenigen Geschäftsleute« eingeladen, »welche Schreiner-Arbeiten übernehmen oder anfertigen lassen . . . « 1 7 1 Erneut liegen keine Berichte von der Diskussion vor, doch gründen die Schreinermeister schon i m j u n i 1848 eine Innung. 1 7 2 Die Statutenablehnung durch den Gemeinderat am 17. Oktober darf keineswegs als Ausdruck einer innungsfeindlichen Position verstanden werden. Vielmehr fordert der Gemeinderat wiederholt zur Gründung von Innungen auf. 1 7 3 Dort, w o die handwerklichen Wünsche der gültigen Gewerbeordnung widersprechen, bleibt er allerdings hart. So werden die Forderungen der Schneider und Schuhmacher, den Verkauf ihrer Waren auf den Märkten zu verbieten, 173

ebenso abgelehnt wie der Anspruch der Schreinerinnung, alleiniger E m p fänger öffentlicher Bauaufträge zu sein. 174

9, Der

Arbeiterverein

Dominieren die Handwerksmeister die Versammlungen der einzelnen Handwerkszweige und die Aktivitäten des Central Comités für die arbeitende Klasse, so könnte man die Gesellen im Ende April 1848 gegründeten Arbeiterverein vermuten. 1 7 5 Nach dem Protokoll der ersten Versammlung am 25. April, die von den bürgerlichen Gründern des Vereins, wie Eduard Hölterhoff, den wir bereits als Mitglied des Vereins fur demokratische Monarchie, später des Allgemeinen Bürgervereins und nicht zuletzt des Central Comités für die arbeitende Klasse kennengelernt haben, Emil Rockmann und Louis Kugelmann geprägt ist, nehmen etwa fünfzig Arbeiter an dieser ersten Sitzung teil. Vier Tage später werden Vertreter für die einzelnen Gewerbe gewählt. 1 7 6 Gemeinhin wird die Organisation nach Berufen bzw. Handwerken als hinderlich für die Ausbildung berufsübergreifender Solidaritäten gesehen. 177 Andererseits wird die Mitgliedschaft in einem allgemeinen Arbeiterverein als der »entscheidende(n) qualitative(n) Bruch mit handwerklichen Organisationsformen« interpretiert. 178 Eine detaillierte Betrachtung eines örtlichen Arbeitervereins wird die Überprüfung beider Argumente erleichtern. Leider fehlen auch für den Arbeiterverein Mitgliederlisten, doch geben die regelmäßig in der Zeitung des Kölner Arbeitervereins veröffentlichten Sitzungsprotokolle einen Eindruck von der sozialen Zusammensetzung des Arbeitervereins. So beschließt der Arbeiterverein am 3. Mai, »statt des Samstags, an welchem die meisten Handwerker durch ihre Arbeiten behindert wären, an den Versammlungen Theil zu nehmen, den Montag vorläufig als Versammlungstag festzustellen . . . « 179 DerBeschluß belegt den handwerklichen Charakter des Vereins ebenso, wie die Zählebigkeit der Tradition des »blauen« Montags. Die Liste der von den einzelnen Gewerken gewählten Comité-Mitglieder überrascht durch die Abwesenheit einiger Berufe. Vertreten sind: Schreiner, Schlosser, Blecharbeiter, Steindrucker, Drechsler, Gerber, Sattler, Tapezierer, Fuhrleute, Schuster, Dachdecker, Goldarbeiter, Buchbinder, Cigarrenmacher und Kaufleute. 180 Neben dem Fehlen von Bäckern, Metzgern, Maurern, Zimmerleuten und Schneidern fällt auch die Abwesenheit aller Textilhandwerker auf. O b das Fehlen von Tagelöhnern und allen Arbeitern ohne handwerkliche Ausbildung auf politische Apathie oder sozialen Ausschluß zurückzufuhren ist, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Fest steht, daß der Düsseldorfer Arbeiterverein ein Verein von Handwerkern ist. Angesichts des breiten Konsensus über die führende Rolle von Handwerksgesellen in den frühen Arbeiterbewegungen westlicher Industrienationen ist dies ein wenig spektakuläres Ergebnis. Eine genauere Untersuchung führt 174

dann doch zu einem überraschenden Ergebnis: der Arbeiterverein organisiert Handwerksgesellen und Handwerksmeister. Die Schwierigkeiten, zwischen Meistern und Gesellen zu unterscheiden, und die benutzten Methoden, diese Schwierigkeiten zu lösen, sind bereits geschildert worden. Führt man entsprechende Untersuchungen für die einzelnen Comité-Mitglieder durch, stellt sich heraus, daß Buchbinder und Buchdrucker ausschließlich von Gesellen, Gerber, Schreiner und Schuhmacher ausschließlich von Meistern repräsentiert werden, während die übrigen Gewerbe zwischen diese Extreme fallen. Die wichtige Rolle, die die Handwerksmeister im Arbeiterverein spielen, k o m m t weniger überraschend, wenn man die Sitzungsprotokolle sorgfältig liest. A m 3. Mai steht die Diskussion der v o m Kölner Arbeiterverein übernommenen Statuten auf der Tagesordnung. Frühere Historiker des Düsseldorfer Arbeitervereins haben übereinstimmend die Debatte über das Motto des Vereins hervorgehoben. 1 8 1 Die Mitglieder weisen Hölterhoffs Vorschlag, die Forderung nach »Ruhe, Ordnung, Gesetzlichkeit, . . . « mit in das Motto aufzunehmen, zurück und stimmen für »Freiheit, Brüderlichkeit, Arbeit«. 1 8 2 Die Betonung der »politisch-ideologische(n) Entwicklung des Düsseldorfer Arbeitervereins, die der des Kölner Arbeitervereins durchaus gleichzusetzen war«, d.h., wie man vermuten darf, in Richtung auf eine progressive revolutionäre Kraft, hat andere in der Sitzung des Arbeitervereins zum Ausdruck kommende Wünsche in den Hintergrund gedrängt. 1 8 3 So »wurde noch der Wunsch mehrfach laut, daß man darauf bedacht nehmen möge, Meister- und Gesellenstand w o möglich gleichmäßig vertreten zu lassen. « Gleichermaßen werden auch Meister und Gesellen zum Beitritt aufgefordert. 1 8 4 Die Sorge um ausgeglichene Repräsentanz von Handwerksmeistern und -gesellen stellt wohl kaum den »grundsätzliche(n) Unterschied der Arbeitervereine in Köln und Düsseldorf zu ihren Namensbrüdern in der >Arbeiterverbrüderunghäßliche Bild< von >Arbeitern mit Kapitalisten-Gesinnung< als Ergebnis der >Erhebung von einigen Arbeitern in den UnternehmerstandNeuen Sozialdemokraten« 207

in Folge Lohnabzugs hierselbst ausgebrochen. Nähere Angaben fehlen in der betreffenden Notiz. « 139 Von der Düsseldorfer Bevölkerung unbemerkt streiken also Düsseldorfer Zigarrenmacher, melden dies dem Neuen Sozialdemokraten, aus dem ein Teil der Lokalpresse erst die Nachricht vom Streik entnimmt. 1 4 0 Der Konflikt bleibt streng auf Betrieb oder bestenfalls Branche beschränkt und findet quasi unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Andererseits ist die Streiknachricht in überregionalen sozialdemokratischen Zeitungen nicht unwichtig fur den Erfolg des Streiks, da es den Zuzug auswärtiger Arbeiter zu verhindern gilt. So hat auch die Drohung des Düsseldorfer Bevollmächtigten der Zigarrenarbeiter mit Enthüllungen über den Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeitervereins für den Fall, daß ein Streik (1869) nicht im Verbandsorgan publiziert wird, durchaus einen Sinn. 1 4 1 Die Publikation von Streiknachrichten im Neuen Sozialdemokraten deutet bereits enge Beziehungen zwischen Zigarrenarbeitergewerkschaft und Sozialdemokratie an, wie sie ja auch im Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeitervereins Fritzsche personifiziert sind. Als dieser in Düsseldorf agitiert, hat er zwar etwa dreihundert Zuhörer, gewinnt aber kaum Mitglieder für den ADAV. 1 4 2 Im Vordergrund der Interessen der organisierten Zigarrenmacher steht spätestens seit dem Herbst 1868 die Arbeitslosigkeit. Bei den diesbezüglichen Diskussionen bricht auch der schon in der Revolutionszeit sichtbare Gegensatz zwischen ledigen und verheirateten Arbeitern wieder auf. Es wird nämlich vorgeschlagen, daß unverheiratete Zigarrenmacher - finanziell von der Düsseldorfer Organisation unterstützt - die Stadt ver- und ihren Arbeitsplatz ihren verheirateten Kollegen überlassen sollen. 143 Leider ist über die praktische Umsetzung dieses Plans nichts bekannt. Mit dem Streik von 1873 verliert sich zunächst die Spur der organisierten Zigarrenarbeiter in Düsseldorf. 144 Eher noch enger als bei den Zigarrenmachern sind die Beziehungen zwischen der örtlichen ADAV-Gemeinde und der örtlichen Mitgliedschaft des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins. 145 Zwar gehören nach Klagen des ADAV-Mitglieds Remölsch auch von den Düsseldorfer Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins »keine sechs« dem ADAV an, doch ist die Zusammenarbeit eng. 1 4 6 Real, der Nachfolger Lewys im Amt des Düsseldorfer Bevollmächtigten, ist häufiger Redner bei den zunächst nur schwach besuchten Versammlungen des Schneidervereins. Der Aufruf zum Beitritt richtet sich an die »Kollegen in ganz Düsseldorf, Meister wie Gesellen, die ihr Alle unter dem Druck des Kapitals seufzet (. . .). Viele von Euch, namentlich die Meister, haben noch eine bessere Zeit gekannt und sind trotz regsten Fleisses nicht im Stande gewesen, ihre Selbständigkeit zu behaupten . . ,« 147 Auch die Einbeziehung der Kleinmeister bringt keinen Zuwachs an Mitgliedern. Gemessen an den organisatorischen Erfolgen der Buchdrucker und Zigarrenarbeiter sind die einunddreißig Mitglieder, die Dreesbach auf der zweiten Generalversamm208

lung des Allgemeinen Deutschen Arbeiterschafts Verbandes im Mai 1869 in Kassel mitvertritt, nur ein äußerst geringer Teil der Schneider überhaupt. 1 4 8 Der geringe Organisationsgrad der Schneider zeigt sich auch bei einem größeren Streik im Frühjahr 1870. Ende März beschließt eine von etwa achtzig Personen besuchte Schneiderversammlung, an der einmal mehr Real und Dreesbach teilnehmen, »in Zukunft die Stückarbeit nur gegen erhöhten Lohn zu fertigen. « Die Feststellung der neuen Lohnsätze wird einer siebenköpfigen Kommission übertragen und »die Kleiderhändler ersucht (. . .), die Löhne hiernach zu erhöhen, sowie keine Arbeiten mehr außerhalb der Stadt fertigen zu lassen, widrigenfalls eine Arbeitseinstellung Seitens der Schneider zu gegenwärtigen stände. « Eine zwei Wochen später stattfindende und nur noch von siebenunddreißig Personen besuchte Versammlung muß feststellen, »daß trotz dem ( . . . ) gefaßten Beschlüsse sich die hiesigen Schneider inzwischen einzeln mit ihren Arbeitgebern geeinigt hätten. « 149 Die Initiatoren der Lohnbewegung geben jedoch nicht auf und laden »sämmtliche Schneider Düsseldorfs, besonders diejenigen, welche für die Confektions-Geschäfte arbeiten, die es sich zur heiligsten Aufgabe stellen, sich und ihrer Familie ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen«, erneut zu einer Versammlung ein. 150 Den hierbei gefaßten Beschluß, »es solle dann am 19. d. Mts. eine Commission bei den Schneidermeistern und ConfektionsGeschäfts-Inhabern herumgehen und die Forderung stellen, daß die Schneidermeister den Lohn um 25, die Confektions-Geschäfts-Inhaber aber um 50 Prozent zu erhöhen hätten«, unterzeichnen funfundvierzig Schneider. 151 Die Forderungen werden auch gestellt, doch treten auf Grund ihrer Ablehnung »nur ungefähr 60« Schneider in den Streik. So überrascht es nicht, daß die Arbeitgeber zunächst gelassen die Ansicht vertreten, »daß man die Sache ruhig austoben lassen müsse; die Haupträdelsführer der Strikenden sollten jedoch unter keiner Bedingung in Düsseldorf Arbeit erhalten.« Anders als die Zigarrenarbeiter versuchen die streikenden Schneider gezielt, die Ö f fentlichkeit für sich zu gewinnen und »veranstalten (. . .) Concerte und Versammlungen.« 152 Auf einer solchen recht gut besuchten Versammlung, in der die Legitimation des Streiks nachgewiesen werden soll, muß sich der Bevollmächtigte der Düsseldorfer Schneider gegen Vorwürfe wehren, Lohnerhöhungen seien unnötig: »Wenn behauptet worden sei, er selbst habe wöchentlich schon 18 Thlr. verdient, so müsse er bemerken, daß außer ihm noch seine Frau und 3 Gesellen angestrengt und anhaltend hätten arbeiten müssen, um diesen Lohn zu erzielen, von welchem übrigens die Gesellen den größten Theil fur sich bekommen hätten.« 153 Der Gewerkschaftler Redemann wird also ganz zu Recht im Adreßbuch bei den Selbständigen aufgeführt. 1 5 4 Der Streik, den er mitorganisiert, ist ein Streik von verheirateten Schneidern, Gesellen und Klein- sowie Zwischenmeistern, deren Forderungen sich in erster Linie an die Magazininhaber richten. Daß sie dabei den eigentlichen Schneidermeistern einen »Rabatt« einräumen und fünfundzwanzig statt fünfzig Prozent Lohnerhöhung verlangen, unterstreicht, daß 209

die Konfliktlinie nicht entlang der Klassenlinie verläuft. Den trotz geringer Streikbeteiligung - nach Zeitungsberichten streiken höchstens 160 von 500 Schneidergesellen - erfolgreichen Abschluß ihres Streiks verdanken die Düsseldorfer Schneider ihrer Ausdauer, wohl auch der Publizierung des Streiks, die den Zuzug stoppt, vor allem aber der saisonal bedingt sehr hohen Nachfrage, die sich im Anzeigenteil der Lokalpresse in zahllosen Stellenangeboten für Rockarbeiter äußert. 155 So akzeptieren die Schneidermeister - von den Inhabern der Magazine ist leider nichts bekannt — eine 25%ige Lohnerhöhung, weigern sich aber, den Tarif zu unterschreiben. 156 Wie um die übrigen Düsseldorfer Gewerkschaften so wird es in der ersten Hälfte der 1870er Jahre auch um den Schneiderverein ruhiger. 1 S 7 Ein dem Allgemeinen Deutschen Schneiderverein in Gießen angeschlossener Kranken-Unterstützungsbund der Schneider hat Ende 1875 nur achtzehn Mitglieder, von denen elf selbständig sind. 158 Die Allianz von Kleinmeistern und verheirateten Gesellen besteht also auch gegen Ende des Untersuchungszeitraums fort, ohne weiter in Erscheinung zu treten. 1878 zählen die Polizeibehörden den Schneiderverein zu denen, die schon seit zwei Jahren keine Zusammenkünfte mehr abgehalten haben. 159 Ganz anders ist die Situation bei den Schuhmachern, bei denen erneut die Spaltung in ledige und verheiratete Gesellen zu Tage tritt. Wie wir bereits gesehen haben, schließen die ledigen Gesellen ihre verheirateten Kollegen von der Krankenkasse aus. In der Folgezeit werden die Funktionen der Kasse ausgeweitet und von dieser auch Stiftungsfeste und Bälle veranstaltet. 160 Dagegen werden die Mitglieder des Vereins Concordia der Schuhmachergesellen zu Derendorf, denen pro Jahr ein Ständchen gratis zusteht, wohl ganz überwiegend verheiratet sein. 161 Eine Lohnbewegung im Mai 1870 wird ausschließlich von den ledigen Gesellen getragen. Auf Einladung des Altgesellen Hirtz versammeln sich 67 Schuhmachergesellen am 5. Mai in der Schusterherberge. 162 Die Gesellen sprechen sich »gegen die hier übliche s.g. Halbstückarbeit, bei welcher die Gesellen von den Meistern Logis, Kaffee und Mittagessen bekämen und zum größten Theile gezwungen wären, sich ungerechte Abzüge von ihrem Arbeitslohn machen zu lassen«, aus. Es wird »einstimmig beschlossen, daß künftig auf Ganzstück gearbeitet werde.« Die Hoffnungen, die die Gesellen an diese Änderung knüpfen, sind sehr weitreichend. »Eine angenehme und unabhängigere Lebensstellung« umfaßt die Herabsetzung der Arbeitszeit von achtzehn auf elf Stunden und die Beseitigung der Nachtarbeit. »Der Geselle könne als dann bei mittelmäßiger Anstrengung täglich 20 Sgr. verdienen und anständig bestehen.« 163 Bald darauf beschließt eine Versammlung von 65 Meistern, die in einem direkt neben der Gesellenherberge gelegenen Lokal tagt, »dem Verlangen (. . .) auf Ganzstück zu arbeiten zu entsprechen. « Auch die beschlossene Publizierung der neuen Zahlweise in der überregionalen Kölner Zeitung - der Vorschlag eines Schuhmacher210

meisters, hierzu den Sozialdemokraten zu benutzen, wird mit Entrüstung zurückgewiesen - deutet daraufhin, daß es sich hier um ledige Wandergesellen handelt. 1 6 4 Die hier u m etwas mehr Selbständigkeit ringenden Schuhmachergesellen grenzen sich auch politisch von den Gesellen der anderen Massenhandwerke ab. Der Bevollmächtigte der Schneider und ADAV-Aktivist Redemann berichtet, daß er zur Wahl eines gemeinsamen Bevollmächtigten aller Gewerke »an die Schustergesellen, welchen die Tendenzen der Sozial-Demokratie bisher fremd geblieben seien, eine Einladung ergehen lassen wolle, obgleich er zur Aufklärung derselben bereits viermal in der Schusterherberge das Wort ergriffen, aber keinen andern Erfolg erzielt habe, als daß er jedesmal hinausgeworfen worden sei. « Ähnlich ergeht es einem Schreinergesellen, der sich zur Versammlung der Schuhmachergesellen auf deren Herberge einfindet, da »die Schustergesellen fur sich bleiben wollten und nicht gesonnen seien, solche Zwecke zu verfolgen, wie die Schneider und Schreiner sie bisher angestrebt. « 165 Fünf Jahre später k o m m t es dann doch zur Gründung einer sozialdemokratisch orientierten Schuhmachergewerkschaft in Düsseldorf, mit der eine Krankenunterstützungs- und Begräbniskasse verbunden ist. In einer von etwa 150 Personen besuchten Versammlung spricht »ein Frankfurter Reisegesell über die Arbeit in den Zuchthäusern und den den kleinen Meistern hieraus erwachsenden Schaden. Sodann ward der >Wecker< verlesen, zum Abonnement eingeladen und zum Schluß ein Allgemeiner Deutscher Schuhmacherverein< gebildet, dem ca. 20 der Anwesenden beitraten. « Von den neunzehn Gründungsmitgliedern sind drei selbständig, unter den übrigen Mitgliedern auch solche, die beim Meister wohnen. So überrascht es nicht, daß nur wenige Gründungsmitglieder auch 1878 noch zu den Gewerkschaftsmitgliedern zählen. 166 Der gegenüber den Schneidern geringere Meisteranteil an der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft entspricht der geringeren Durchsetzung des Verlagssystems in der Schuhmacherei. Die Orientierung der Schuhmachergewerkschaft ist - soweit eine Übereinstimmung mit dem Verbandsorgan unterstellt werden d a r f - strikt antizünftlerisch und auf die »Abschaffung des Lohnsystems und Errichtung freier, sozialistischer Arbeiterassoziationen« gerichtet. 167 Wie die Behandlung der Lohnbewegung der Schuhmachergesellen gezeigt hat, ist die Gesellenschaft gespalten. Die unterschiedlichen Haltungen zur Sozialdemokratie entsprechen nur tendenziell der Trennlinie zwischen ledigen und verheirateten Gesellen. Daß gleiche Lage nicht mit gleicher politischer Position verwechselt werden darf, zeigen die Kleinmeister. Einige wenige schließen sich der Sozialdemokratie an, andere dem wiedererstarkenden >zünftlerischen< Flügel der Handwerkerbewegung. Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen nur der Antisemitismus, der auch in der Schuhmachergewerkschaft gegen »die Groß-Juden, die selbst keinen Stiefel machen könnten, die aber vermöge ihrer Geldkraft dem Arbeitgeber das 211

Brod aus dem Munde stehlen«, ausgedrückt wird. 1 6 8 1 878 wird die Schuhmachergewerkschaft verboten. 1 6 9 Ähnliche gruppeninterne Konfliktlinien sind bei den Schreinergesellen, die fast ausnahmslos selbständig wohnen, nicht zu erwarten. Die soziale Homogenität korrespondiert hier mit einem im Vergleich zu den anderen Massenhandwerken hohen Organisationsgrad. Bei der Gründungsversammlung am 26. April 1869 erklären immerhin 79 Schreiner ihren Beitritt. 170 Im Mai hat der Bevollmächtigte Dreesbach dann aber nur für 32 Holzarbeiter ein Mandat. 1 7 1 Im Herbst desselben Jahres bricht der Gewerkverein Deutscher Holzarbeiter auch in Düsseldorf in der Auseinandersetzung um von Schweitzers Staatsstreich auseinander. 172 Anders als die Düsseldorfer Schneider und Zigarrenarbeiter stehen die Holzarbeiter mehrheitlich in Opposition zur von Schweitzerschen Politik. 173 Diese Schreiner sind es auch, die 1873 eine SD AP-Mitgliedschaft und eine neue Holzarbeitergewerkschaft in Düsseldorf gründen. 1 7 4 Schmitz billigt der »Mitgliedschaft der SDAPer in Düsseldorf kaum die Rolle einer bedeutenden Oppositionsgruppe« zu, verkennt aber dabei m. E., daß die oppositionellen Tischler die Organisierung der Bauhandwerker nicht unwesentlich beeinflussen. 175 So wird die Kritik des SDAPers Reichel bei einer von 250 Personen besuchten Versammlung vom Gastredner Grottkau vom deutschen Maurerverein zwar brüsk zurückgewiesen, doch »nachdem auch noch Dreesbach gegen Reichel erwidert, schickten sich die meisten Personen an, das Lokal zu verlassen.« 176 Erst nach dem Gothaer Vereinigungskongreß finden sich auch die Düsseldorfer Tischler wieder zu einer Gewerkschaft zusammen. Von den 42 Mitgliedern des Allgemeinen Tischler-Schreiner-Vereins sind nur zwei selbständig. 177 Die Selbstauflösung dieser Gewerkschaft im August 1876 - im Zusammenhang mit der Auflösung der Berliner Zentrale - hat eher den Charakter einer Umbenennung, da nach der im September erfolgenden Gründung des Bundes der Tischler und verwandten Berufsgenossen »die nämlichen Personen, welche jenem Verein als hiesige Mitglieder angehörten, jetzt den neuen Verein bilden. « 178 Allerdings ist der Mitgliederstand rückläufig und beträgt bei der Schließung der Gewerkschaft 1878 nur noch zwölf. 1 7 9 Wirft die Spaltung der Sozialdemokratie die Tischler in ihren Organisationsbemühungen zurück, erschwert im Bauhandwerk die agrarische Anbindung vieler Handwerksgesellen und die Konfliktlinie zwischen diesen und den bei der raschen Expansion des Baugewerbes sicher zahlreich angeworbenen »Auswärtigen« die Ausbildung von Solidarität und die Schaffung stabiler Organisationen. 1 8 0 O b der im August und September 1869 von den Zimmerergesellen diskutierte Streik zur Ausführung kommt, ist ebenso ungewiß wie die der entsprechenden Pläne der Maurer und Zimmerer im August 1871. 181 »In Betreff des von mehreren Maurern beabsichtigten Strikes äußerten sich im Allgemeinen diese Handwerker dahin, daß sie mit 212

ihren Arbeitgebern zufrieden seien und mit denselben in kein feindliches Verhältnis treten wollten; auch convenirt ihnen die denselben zugemuthete Unterstützung der strikenden Maurer in Berlin nicht. « 1 8 2 Auch wenn Bringmann für 1869 eine Mitgliedschaft des Allgemeinen Deutschen Zimmerervereins in Düsseldorf angibt, scheint deren Existenz mangels anderer Belege zweifelhaft. 1 8 3 Vielmehr ist davon auszugehen, daß im Bauhandwerk die 1876 gegründete Mitgliedschaft des Allgemeinen Maurer- und Steinhauer-Bundes und das 1877 gegründete deutsche Z i m m e rer-Gewerk die ersten Düsseldorfer Gewerkschaften darstellen. 1 8 4 Die Z i m merer können mit dem Verweis auf ihren unpolitischen Kassencharakter das Verbot ihrer 1878 nur zwölf Mitglieder aufweisenden Organisation pur hinauszögern aber nicht verhindern. 1 8 5 O b die sechsunddreißig Maurergesellen, die noch 1876 in der »Gewerbefreiheit ein Ruin der Handwerker« sehen, der Sozialdemokratie zugerechnet werden können, sei dahingestellt. 1 8 6 Auf der Höhe sozialdemokratischer Gesellschaftsanalyse befinden sie sich nicht. Neben dem rasch expandierenden Baugewerbe wächst vor allem die Düsseldorfer Metallindustrie im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts schnell, ohne daß sich dieser Ausbau in der gewerkschaftlichen Entwicklung widerspiegelt. Über den von 1853 bis 1858 nachgewiesenen Feuer- und Metallarbeiterverein ist kaum etwas bekannt. 1 8 7 Auch ist unklar, in welcher Form die dreißig Metallarbeiter, die der Düsseldorfer Bevollmächtigte Dreesbach 1869 in Kassel mitvertritt, organisiert sind. 1 8 8 Einer der Gründe für das Fehlen gewerkschaftlicher Organisationen in diesem Bereich dürfte das Vorherrschen betrieblicher Kassen sein, die gelegentlich zu geselligen Vereinen erweitert werden. 1 8 9 Nicht immer ist der Charakter solcher Organisationen als primär gesellig oder primär gewerkschaftlich eindeutig festzustellen. So geht es nach den vereinspolizeilichen Akten bei den Bäckerund Bierbrauergesellen nur um Feste und Bälle und doch vertritt Theodor Becker diese Gruppen, die zusammen mit den »freien Arbeitern« 240 Mandate beanspruchen, auf dem ersten Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Kongreß 1868. 1 9 0 Ein Verein der Gold- und Silberarbeiter sowie verwandten Berufsgenossen, der seit 1878 in Düsseldorf besteht, ist zwar der nationalen Krankenkasse der Gold- und Silberarbeiter angeschlossen, die die organisatorische Kontinuität über die Zeit des Sozialistengesetzes hinaus sichert, hat aber in Düsseldorf wohl ausschließlich gesellige Funktionen. Nach der Kassengründung im November 1878 suchen die Gold- und Silberarbeiter um die Erlaubnis nach, »im Einverständnis sämtlicher Fabrikanten und Prinzipalität am 9. Februar 1879 im Breidenbacher H o f ein Kränzchen abzuhalten. « 1 9 1 Mehr gewerkschaftlich orientiert ist der kleine 1874 gegründete Buchbinder verein, der 1878 aber auch schon seit mehr als zwei Jahren keine Zusammenkünfte mehr abgehalten hat. 1 9 2 Gewerkschaftliche Organisationen entstehen im Untersuchungszeitraum außer bei den schon 1848/49 organisierten Buchdruckern und Zigarrenma213

ehern vor allem in den Massenhandwerken der Schneider, Schreiner und Schuhmacher. Gemeinsames Kennzeichen der Organisierten ist neben der handwerklichen Ausbildung und der Beschäftigung im Kleinbetrieb der Status des Familienvaters. Buchdrucker und Schneider begründen ihre Lohnforderungen gerade mit der notwendigen Existenzsicherung für ihre Familien. Gegenüber der Revolutionszeit scheint sich diesbezüglich auch bei den Zigarrenarbeitern einiges geändert zu haben. Scheitert 1850 noch ein Streik an der Immobilität der Verheirateten, können diese gegen Ende der 1860er Jahre ihren ledigen Kollegen den Vorschlag zumuten, ihnen doch durch Abreise ihren Arbeitsplatz zu überlassen. Während bei den Schreinern schon um die Mitte der 1850er Jahre der ledige Wandergeselle eine Ausnahmeerscheinung ist, stellt dessen stärkere Verbreitung bei den Schuhmachern zunächst ein ganz wichtiges Organisationshemmnis dar. 1 9 3 Die hier behandelten Gewerkschaften sind bis zum Ende der 1870er Jahre keineswegs Klassenorganisationen in einem strikten Sinne, wobei der Anteil der Kleinmeister in engem Zusammenhang mit der Verbreitung des Verlagssystems in den einzelnen Handwerkszweigen steht. Sieht man von den Buchdrukkern, die 1867 noch den Kandidaten der Fortschrittspartei unterstützen und sich in der Folgezeit auf gewerkschaftliche Aufgaben beschränken, einmal ab, so besteht auf Funktionärsebene eine enge personelle Verflechtung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Die Bevollmächtigten der Schneider (Redemann), Tischler (Dreesbach) und später der Schuhmacher (Tietge) sind die lokalen Führer von ADAV und SAR 1 9 4 Eine kleine Gruppe führender Parteimitglieder ist bei fast allen Versammlungen von Arbeitern anwesend und so überrascht es nicht, daß die auf Versammlungen von Partei und Gewerkschaften diskutierten Themen einander gleichen. Die Absage an den goldenen Boden des Handwerks, der Warencharakter der Arbeit und vor allem die Produktiv-Assoziationen mit Staatshilfe gehören dazu. 1 9 5 Gerade fur Handwerker, die in verlagsmäßiger Abhängigkeit stehen, müssen genossenschaftliche Projekte große Attraktivität besitzen, ist es doch naheliegend, den >parasitären< Verleger aus dem Produktions- und vor allem dem Distributionsprozeß auszuschließen. 196 Genossenschaftliche Zielsetzungen müssen zwar nicht im Widerspruch zu gewerkschaftlicher Organisierung und Streikaktionen stehen, doch ist das Verhältnis des ADAVs zu Streiks und Gewerkschaftsbildungen bekanntermaßen problematisch. 197 In Düsseldorf unterstützt der AD A V zunächst Organisierung und Lohnbewegungen, obwohl dies der offiziellen Parteilinie widerspricht. Gelegentlich profitiert die Düsseldorfer Gemeinde auch direkt von ihrer Unterstützung, wenn ζ. B. 1868 während eines Rotfärberstreiks die Mehrheit der achtundvierzig Streikenden beitritt. 198 Im allgemeinen sind Doppelmitgliedschaften selten und antigewerkschaftliche Ressentiments im ADAV verbreitet. So sagt ζ. B. Dreesbach bei der Generalversammlung des ADAV 1872 in Berlin: »die Strike-Bewegung gehört nicht in den Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein. (. . .) er sei jetzt jedoch ganz 214

entschieden fur das Trennen der Gewerkschaften vom Verein. « 199 Wichtiger als die latent antigewerkschaftliche Haltung vieler Vereinsmitglieder dürfte die Schweitzersche Gewerkschaftspolitik sein. Spaltet der Staatsstreich nur die Holzarbeiter, so fuhrt die Verschmelzung aller Berufsgewerkschaften 1870 zur Dezimierung der Zahl der gewerkschaftlich Organisierten. 200 Nicht zuletzt deshalb haben die sozialdemokratischen Gewerkschaften zunächst wohl nur sehr eingeschränkt zu einer Verwurzelung des ADAVs und dann der SAP in der Handwerker- und Arbeiterschaft beigetragen. Der Exkurs zur Gewerkschafts- und Streikbewegung, von dem wir nun zur Entwicklung der Düsseldorfer ADAV-Gemeinde zurückkehren, hat zeitlich oft schon vorgegriffen. 1867 gründet sich auch in Düsseldorf eine LADAV-Gemeinde, die allerdings keine größere Bedeutung gewinnt. 2 0 1 Entscheidender für den schweren Stand der ADAV-Gemeinde in der ersten Hälfte der 1870er Jahre sind der Nationalismus der Nachkriegszeit und vor allem das im nächsten Abschnitt näher beleuchtete erste massive Auftreten des politischen Katholizismus in Düsseldorf. Verzichtet der ADAV bei den Reichstagswahlen 1871 auf einen eigenen Kandidaten, so erhält er 1874 im gesamten Kreis ganze 268 Stimmen (= 1,6%). 2 0 2 Nach dem Verbot des ADAVs im August 1874 gründen die ehemaligen Mitglieder schon im März 1875 einen sozialdemokratischen Wahlverein, der zunächst nur siebzehn Mitglieder hat, dem aber bis zum September 1875 weitere achtzehn Personen beitreten. 203 Die soziale Zusammensetzung dieses Wahlvereins, der auch nach dem Gothaer Vereinigungskongreß von der SAP organisatorisch getrennt bleibt und deshalb von der Auflösung der SAP in Preußen 1876 nicht betroffen wird, beschreibt Schmitz zu Recht als »fast nur aus Handwerkern« bestehend. 204 Für die Fragestellung dieser Arbeit ist es jedoch ganz wesentlich zu wissen, ob es sich um Meister oder Gesellen handelt. Tabelle 41 stellt deshalb die Berufe der oben angesprochenen ersten fünfunddreißig Mitglieder des sozialdemokratischen Wahlvereins und die nach dem Sozialistengesetz gerichtlich Verurteilten gegenüber. Die Handwerksgesellen überwiegen zwar, doch ist die Zahl der Selbständigen bei den Schreinern, Stellmachern, Schneidern und Buchbindern keineswegs unbedeutend. Zudem ist offensichtlich, daß gewerkschaftlich organisierte Handwerker wie die Schreiner und Buchbinder hohen Anteil an der Mitgliedschaft im sozialdemokratischen Wahlverein sowie an den gerichtlich Verurteilten haben. In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre wie zu Beginn der 1860er Jahre (vgl. Tabelle 40) überrascht das Fehlen der Zigarrenarbeiter, die vor allem in den 1860er Jahren regen Anteil an den Arbeiterversammlungen nehmen. Die Einordnung der Düsseldorfer Ergebnisse zur Sozialstruktur der frühen Arbeiterbewegung ist schwierig. Sieht Herzig als »Trägerschicht des ADAV (. . .) die Handwerker, vor allem die Schuhmacher, Tischler und Schneider«, so schreibt Dowe zum rheinischen ADAV: »seine Sozialstruktur entsprach wenigstens bis Anfang der 70er Jahre durchaus der Zusammensetzung der rheinischen Arbeiterklasse.« 205 Die in den 215

Tabellen 40 und 41 zusammengestellten Daten bestätigen zwar eher Herzigs Formulierung, doch sollte man darin nicht so sehr einen Widerspruch als eine Ergänzung zu Dowes These sehen. Neben Städten mit gewerblicher Tradition, wie Dortmund - woher das von Herzig herangezogene Material überwiegend stammt - und Düsseldorf prägen Industriezentren wie Duisburg und vor allem das bergische Land die frühe Sozialdemokratie an Rhein und Ruhr. Auch dort sind Handwerker unter den Funktionären überrepräsentiert, doch entspricht die Gesamtmitgliedschaft wohl eher der Dominanz der Fabrikarbeiterschaft. 206 Tabelle 41: D i e soziale Basis der Düsseldorfer Sozialdemokratie 1875 bis 1878 Wahlverein Literaten, Buchhändler Bildhauer, Maler Wirte Korbwarenfabrikant Schuhmachergesellen Goldschmiedegesellen Stellmachergesellen Bauhandwerksgesellen Schlosser- und Schmiedegesellen Schreinergesellen Buchbindergesellen Schneidergesellen Schriftsetzer Arbeiter Stellmachermeister Schreinermeister Schlosser- und Schmiedemeister Buchbindermeister Schneidermeister Summa

1

1 1 3 7 5 3 2 3 2 2 2 1

Verurteilte 1 2 2 1 3 2 1 2 1 1

1 1 1

1 35

19

Listen in StAD, III, 6918a und 6918; ausgewertet mit Hilfe der Adreßbücher von 1875 und 1880.

Das fur Düsseldorf zu konstatierende Versäumnis der Sozialdemokratie, die Arbeiter der Textil- und vor allem der Metallindustrie fur sich zu gewinnen, muß demnach nicht repräsentativ für Rheinland und Westfalen sein, deutet aber Rekrutierungsschwierigkeiten in den Großbetrieben der Metallund Maschinenbauindustrie an, die bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Bestand haben. 2 0 7 Bezeichnend für die Einflußlosigkeit der Sozialdemokratie in den Industrievororten ist das Bestehen des deutschen Arbeitervereins 216

in Oberbilk. Der mehr als sechzig Mitglieder starke, und zu fast zwei Dritteln aus Fabrikarbeitern bestehende Arbeiterverein sucht 1879 um die Genehmigung einer neuen Fahne nach. »Die eine Seite der Fahne grundweiß in der Mitte der Deutsche Adler, mit Aufschrift >Ehret den Kaiser, seine Würde, Ehret uns der Hände Fleiß< . . .«. Den Mitgliederstand dieses von der Polizei als »patriotisch« eingeschätzten Arbeitervereins, der 1887 »unter dem Protektorate des Fabrik-Besitzers und Stadtrath Herr Josef Malmedie« steht, erreicht gegen Ende der 1870er Jahre keine der sozialdemokratischen Gewerkschaften. 208 Die Gewerkschaften sind wohl trotzdem mitverantwortlich dafür, daß sich die Sozialdemokratie vor dem Sozialistengesetz wenn auch auf sehr niedrigem Niveau - stabilisiert. Bei der Reichstags wähl 1877 erringt die SAP im städtischen Wahlbezirk immerhin 554 Stimmen (= 4,5%) und liegt damit deutlich über dem Ergebnis von 1874. 209 Das Sozialistengesetz unterbricht dann zunächst die organisatorische Konsolidierung der Düsseldorfer Sozialdemokratie. 210

4. Der politische

Katholizismus und

und die Organisierung Arbeiterschaft

von

Handwerker-

Wie immer man die Versuche der mehr als apologetischen Selbstdarstellungen des politischen Katholizismus bewerten mag, aus der behaupteten Frontstellung der katholischen Kirche zum preußischen Staat des Vormärz, die sich ζ. B. in den Kölner Wirren äußern soll, einen demokratischen Charakter der katholischen Bewegung in der Revolution von 1848/49 abzuleiten, bleibt festzuhalten, daß die katholische Kirche mit der Regelung von Kirchenangelegenheiten, denen allein ihr Interesse auch während der Revolutionsjahre gilt, in der oktroyierten Verfassung sehr zufrieden ist. 2 1 1 Für das Verhältnis von preußischem Staat und katholischer Kirche in den 1850er und frühen 1860er Jahren, die nach Sperber »a reconciliation with the Prussian authorities« sehen, vielleicht noch wichtiger ist die »zu der ultramontanen Umformung der Kirche« gehörende »Neugestaltung der Frömmigkeitspraxis.« 212 So steht die katholische Kirche z.B. in den 1850er Jahren in der Feiertagsfrage auf der Seite des Staates, mit dem sie die Gleichsetzung von volkskultureller Festtradition, Irreligiosität und subversiver Politik teilt, und des zumeist protestantischen Unternehmertums, das wie die Kirche, obgleich aus anderen Motiven, den sonntäglichen Besuch der Gast- und Schankwirtschaften durch die Arbeiterschaft verabscheut. 213 Die in der »Neugestaltung der Frömmigkeitspraxis« deutlich werdende neue Moralität, der »stress on sobriety and frugality were in and of themselves important elements of adoption to the conditions of proletarian existence in the capitalist society of the early industrial era.« 214 Die funktionale Äquivalenz zwischen neuen Formen religiöser Praxis und den Bedingungen frühindustrieller Gesellschaften, die Sperber hier betont und die auch - vielleicht weniger 217

überraschend - unter anderen konfessionellen Vorzeichen zu beobachten ist, erklärt natürlich noch nicht das Vordringen dieser neuen Moralität, bildet aber den Hintergrund für das »Religious Revival« der 1850er und 1860er Jahre. 2 1 5 Die Intensität religiösen Empfindens, die die vor allem in der ersten Hälfte der 1850er Jahre zahlreichen Volksmissionen auslöste und die in der verstärkten Teilnahme an und häufigeren Durchführung von Wallfahrten und Prozessionen nach der Jahrhundertmitte, welche weit mehr dem Typus der »Wallfahrt von oben« als der gängigen vormärzlichen Praxis entsprechen, zum Ausdruck kommt, läßt sich kaum ermessen, sollte aber deshalb nicht unterschätzt werden. 2 1 6 Die hier und in der Gründung zahlloser Sodali täten und Congregationen nach 1850 deutlich werdende Reintensivierung religiöser Praxis, die ihre politische Begründung in der Erklärung der Revolution von 1848/49 aus vormärzlicher Irreligiosität hat, ist von der im folgenden behandelten vereinsmäßigen Organisierung des Katholizismus nicht zu trennen. 2 1 7 Einen kaum mit dem Hinweis auf das vormärzliche Vereinsrecht von der Hand zu weisenden Beleg für den kurz skizzierten Zusammenhang von postrevolutionärer Situation und verstärkten Organisierungsbemühungen liefern die Gründungsdaten einiger katholischer Vereine in Düsseldorf. »Mit dem Jahre 1851 begannen sich die Elisabethen-Vereine über die Stadt auszubreiten. « 2 1 8 Sperber belegt die verstärkte Begründung von Sodalitäten und Congregationen unmittelbar nach der Jahrhundertmitte und auch für die Kirchengesang- und Schützen- sowie, wenn auch zeitlich weniger eindeutig, für die Kirchenbauvereine weisen die frühen 1850er Jahre besonders viele Gründungen auf. 2 1 9 Neben dem im ersten Abschnitt dieses Kapitels skizzierten Vereinswesen gibt es also noch ein breites katholisches Vereinsleben, ohne daß es möglich wäre, dessen Anteil quantitativ zu bestimmen. 2 2 0 Ohnehin ist eine klare Abgrenzung hier kaum möglich, da, wie Sperber am Beispiel des St. Sebastianus-Schützenvereins der Außengemeinde H a m m zeigt, ein ursprünglich religiös begründeter Verein im Vormärz einen betont säkularen Charakter annehmen, nach der Jahrhundertmitte aber wieder als ausgeprägt katholische Organisation funktionieren kann. 2 2 1 An dieser Stelle soll neben den katholischen Standesvereinen für Gesellen und Lehrlinge vor allem der Pius-Verein, als die wichtigste politische Organisation des Katholizismus in der spät- und postrevolutionären Phase, betrachtet werden. »Der Verein hat den Zweck zur Erringung und Wahrung der Freiheit und der Rechte der Kirche und zur Lösung der sozialen Fragen, so weit dies Aufgabe der Kirche ist, nach Kräften mitzuwirken.« 2 2 2 Die angesprochenen Berufsgruppen werden gleich zu Beginn des Wirkens des Düsseldorfer Pius-Vereins deutlich: »Die auf Dienstag den 10. d. Mts. anberaumte Versammlung wird wegen des an demselben Tage stattfindenden Handwerker-Congresses ( . . . ) verlegt. « 2 2 3 Die besondere Rücksichtnahme auf die Handwerker ist offensichtlich erfolgreich: von den 347 Mitgliedern des Pius-Vereins 1850 ist fast jeder zweite ein Handwerker (vgl. Tabelle 42). 218

Tabelle 42: Die soziale Zusammensetzung des Düsseldorfer Pius-Vereins 1850 und des Vereins zur Errichtung der Mariensäule 1859 1850 Freiberufler

1859

42

Maler

14

Geistliche

25

Rentner

17

2

Lehrer

3

kleine Beamte

5

Kaufleute etc.

29

Fabrikanten Kleinhändler Wirte Handwerker davon: Schreiner Schneider Schuhmacher Bauhandwerker Nahrungsmittelhandwerker

4 11 153 24 15 32 7 9 1

Fabrik- und Maschinenarbeiter

3

Tagelöhner

1

Gärtner etc.

12

Summa

3

4

Tabakarbeiter

sonstige und keine Angabe

4

49 13 6 5 2

2 1

35

1

347

74

Mitgliederlisten in S t A D , II, 1372.

Damit unterscheidet sich der Pius-Verein kaum von den anderen politischen Vereinen der Revolutionsjahre. Die Zahl der Tagelöhner, Fabrikarbeiter und unselbständigen Handwerker, wie der Stuhlarbeiter, ist gering, die Führung auch dieses Vereins in den Händen des Bildungsbürgertums. Der Vergleich mit der sozialen Zusammensetzung des Vereins zur Errichtung der Mariensäule (1859), der an Bedeutung vielleicht nicht unbedingt dem Pius-Verein vergleichbar ist, aber in der kommunalpolitischen Auseinandersetzung großes Gewicht hat, ist recht aufschlußreich. 2 2 4 Das Bildungsbürgertum fehlt fast vollständig, und der Anteil der Handwerker ist auf drei Viertel gestiegen. Unter den Handwerkern sind auch einige Gesellen, jedoch keine der Massenhandwerke. 2 2 5 Der Grund für die nach »oben« klarere Abgren219

zung des Vereins zur Errichtung der Mariensäule dürfte die inzwischen erfolgte Gründung der Kasino-Gesellschaft sein, eines exklusiven Geselligkeitsvereins, von dem über den Verein Constantia eine direkte Linie zur späteren Zentrumspartei führt. 2 2 6 Gleichermaßen in den Zusammenhang der zugleich post- und antirevolutionären Organisationsbestrebungen des Katholizismus gehört die Gründung von Kolping-Vereinen. 227 Auf dem Katholikentag 1863 äußert sich ein Referent recht deutlich zu den Zielsetzungen der katholischen Kirche bei den Vereinsgründungen: »Ich bin gefragt worden, (. . .), was wir mit den katholischen Vereinen wollen? - Wir wollen die Gesinnungen befestigen, um uns im Volk eine Kraft zu schaffen, aufweiche wir uns - Einer und Alle - stützen können, und aufweiche wir den Aufbau unserer neuen socialen Verhältnisse zu gründen suchen. « 228 Diesen Zielsetzungen entsprechen insbesondere die Kolping-Vereine, da zum einen die undemokratische Präsides-Verfassung kirchliche Führung festschreibt, zum anderen »Gesinnungsbefestigung« ein wichtiger Bestandteil der Vereinsarbeit ist und schließlich der Handwerkerstand zentrale Bedeutung für die »neuen socialen Verhältnisse« hat. In Düsseldorfkommt es im September 1849 auf Initiative einiger Geistlicher sowie einer Reihe von katholischen Gymnasiallehrern zur Gründung eines katholischen Gesellenvereins. »Er rekrutierte die ersten Mitglieder aus einer seit längerem bestehenden Sodalität. « 229 Unumschränkter Leiter in allen Vereinsangelegenheiten ist der geistliche Präses, der dem Verein mit »väterlicher Gewalt« vorsteht. 2 3 0 Vom »engeren Vorstand« auf Lebenszeit gewählt, besitzt »der Präses in allen den Verein betreffenden Fragen das letzte Wort. « Mit der verstärkten überregionalen Organisierung der Kolping-Vereine wird der Präses allerdings stärker in die kirchliche Hierarchie eingebunden, indem der Diözesan-Präses ihn dem Bischof zur Bestätigung vorschlägt. 231 Dem Vorstand, dem angesichts der Machtfülle des Präses nur wenig Bedeutung zukommt, gehören in Düsseldorf außer dem geistlichen Präses ein weiterer Kaplan als Vicepräses, je ein Lehrer und ein Professor, ein Schuhmachergeselle als Senior und weitere der Mitgliedschaft entstammende Assistenten an. »Die Mitglieder erzeigen dem Vorstande willige Folgsamkeit. « 232 Fast wichtiger als der Vorstand ist der aus angesehenen Bürgern, zumeist Handwerksmeistern, gebildete Schutzvorstand, dem die Vertretung des Vereins nach außen, aber auch die Verwaltung der Vereinsherberge obliegt. Die Struktur des katholischen Gesellenvereins ist kaum von seinen Zielen zu trennen. Die Familie und das >ehrbare Handwerk« sind die Organisationsmuster, an denen sich die Kolping-Vereine orientieren. Auf die patriarchalische Figur des Präses wurde bereits hingewiesen. Der wohl nach der Figur des Altgesellen modellierte »Senior« hat dagegen wenig Bedeutung, während in der Kontrollmacht des Schutzvorstands, wie Kubik sehr schön herausarbeitet, ein später Sieg der Meisterzunft über die Gesellenschaft zu sehen ist. 2 3 3 Religion, Familie und >ehrbares Handwerk< sind die Eckpfeiler des Kol220

pingschen Programms, die nicht nur in zahlreichen Vorträgen über den Handwerkerstand betont werden, sondern Vereinsstruktur und -aktivität durchgehend bestimmen. 2 3 4 Die Meisterfamilie soll die schon 1853 eingerichtete Herberge ersetzen, die zureisende Kolping-Gesellen »einen oder zwei Tage, vor sie hier Arbeit finden« aufnimmt. 1867 kann der Düsseldorfer katholische Gesellen verein fur 10850 Taler ein eigenes Vereinshaus kaufen, in dem 1873 59 Betten stehen und das im Jahr darauf 1098 durchreisende Gesellen unentgeltlich beherbergt. Die Zahlen machen klar, welche Attraktivität die Herbergen der katholischen Gesellenvereine für Wandergesellen besitzen, und deuten zugleich auf die Einflußmöglichkeiten hin, die sich dem Katholizismus hier eröffnen. Diese betreffen zunächst die sittliche Lebensführung: »Unser Verein muß darauf bedacht sein, gerade in der Fastnachzeit seinen Mitgliedern so viel als möglich zu bieten, um es dadurch zu bewirken, daß dieselben fern bleiben von solchen Lustbarkeiten, welche einem jungen Manne wegen ihres entsittlichenden Charakters für sein ganzes Leben gefährlich werden können. « Was den Gesellen geboten wird, ist nur unzulänglich zu erfassen. Neben Gottesdiensten stehen Gesang, Unterhaltung und Unterricht, aber gelegentlich auch »eine theatralische AbendUnterhaltung«, im Vordergrund. O b es bei den zahlreichen Ausflügen »mit Fahne und Trommeln« ähnlich vergnüglich zugeht, wie es Bebel in seinen Erinnerungen schildert, geht aus den Akten natürlich nicht hervor. Die Bedeutung von sittlich-moralischer Erziehung und allgemeiner Bildung unterstreicht auch der Bestand einer Vereinsbibliothek. 235 In vielerlei Hinsicht ähnelt der katholische Gesellenverein also dem Handwerker- und Arbeiterbildungsverein und ist, wie Bebels Erinnerungen belegen, auch durchaus so gesehen worden. 2 3 6 Wichtiger scheinen dennoch die Unterschiede. Z u m einen setzt der katholische Gesellenverein mit der U n terhaltung einer Herberge und einer Krankenkasse (bis 1871) direkter an den materiellen Interessen der Handwerksgesellen an. 2 3 7 Z u m anderen geht für die Mitglieder kaum ein Weg an den Gottesdiensten etc. vorbei. Vor allem aber wird der in den Statuten festgeschriebene unpolitische Charakter in den Kolping-Vereinen wohl ernster genommen. Ihre Funktion ist keine primär politische, sondern eine »versittlichende«. Deshalb finden sie allgemein Beifall. Selbst auf der Höhe des Kulturkampfs berichten die Polizeibehörden, daß »keinerlei Wahrnehmungen gemacht sind, daß in diesem Verein eine religiös fanatisierende oder sonst nach Außen wirkende Thätigkeit entfaltet werde.« 2 3 8 Und der Düsseldorfer Polizeidirektor konstatiert: »der segensreiche Erfolg dieses Gesellenvereins ist so sichtbar, daß man sich in allen Kreisen um ihren Fortbestand interessiert.« 239 Zu diesen Kreisen gehört selbst die liberale Presse Düsseldorfs, die auch in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren lobend über die Stiftungsfeste etc. des katholischen Gesellen Vereins berichtet. 240 Die polizeiliche Einschätzung und das Wohlwollen der liberalen Presse geben kaum den richtigen Maßstab zur Beurteilung des Erfolgs des katholi221

sehen Gesellenvereins ab, rechtfertigen aber seine Einordnung in den Zusammenhang der post- und antirevolutionären Vereinsgründungen und der Propagierung einer neuen Moralität durch den Katholizismus. Mißt man den Erfolg an den Mitgliederzahlen, schneidet der katholische Gesellenverein weit besser als seine linksliberalen und sozialdemokratischen Konkurrenten ab. Berichtet die Polizei im Februar 1853, also noch vor Einrichtung der Herberge, achtzig Mitglieder, wird der katholische Gesellenverein angesichts der raschen baulichen Expansion wohl bald den in den 1870er Jahren nachgewiesenen Stand von 300-350 Mitgliedern erreicht haben, ohne daß hierin die über hundert Ehrenmitglieder eingerechnet sind. 2 4 1 Leider ist über die Mitgliedschaft des Düsseldorfer katholischen Gesellenvereins kaum näheres bekannt. Entsprechend einer strikten innerhandwerklichen Hierarchisierung bleiben die Lehrlinge, fur die 1861 der katholische Lehrlings verein gegründet wird, ebenso ausgeschlossen wie die Meister, die nur in Schutzvorstand und Ehrenmitgliedschaft zahlreich vertreten sind und so ihre »väterliche« Aufsichtspflicht den Gesellen gegenüber erfüllen. »Ausgeschlossen blieben aber auch die verheirateten Gesellen. Denn da sie dem Schicksal verfielen, >mit der Familie abhängig zu sein, ohne Aussicht auf Erlösungewigen< Gesellen Berechtigung hätte. Die Unvollkommenheit dieser Angleichung erschwert, wie das Beispiel der Schuhmacher zeigt, die Organisierung ganz beträchtlich. Soziale Nähe zwischen Meistern und Gesellen k o m m t nicht zuletzt auch in der personellen Zusammensetzung der Vereine zum Ausdruck. Neben der hohen Übereinstimmung der sozialen Lage der Handwerksmeister mit der der -gesellen beeindruckt bei der Betrachtung der geographischen, beruflichen und residentiellen Mobilität die geringe direkte Betroffenheit der Düsseldorfer Handwerker durch den Industrialisierungsprozeß. Handwerksmeister und -gesellen wechseln nur höchst selten in die Fabrik oder ziehen in die Industrievororte. N u n ist es gut möglich, daß die Gruppe der 1855 - und damit vor dem Aufkommen der Metallindustrie - in Düsseldorf ansässigen Handwerker, auf die die Untersuchung quellenbedingt häufig konzentriert ist, ein besonders ausgeprägtes Beharrungsvermögen hat, doch gelingt es diesen Handwerkern in den 1860er und 1870er Jahren in bemerkenswertem Umfang, ihre Söhne in handwerklichen Berufen zu piazieren. Es mag mit dieser geringen Betroffenheit der Handwerker von der rapiden Industrialisierung, die ja auch räumlich außerhalb ihres Milieus stattfindet, zusammenhängen, daß Abgrenzungsversuche gegenüber der Fabrikarbeiterschaft kaum feststellbar sind. Nuancierungen in der sozialen Prägung der einzelnen Stadtviertel sind zwar durchaus erkennbar, doch prägen die »kleinen Leute«, Arbeiter, Handwerker und Kleinhändler die Stadt in den Gräben insgesamt. Wenn überhaupt eine - am ehesten vielleicht an der sozialen Zusammensetzung der Vereine ablesbare - soziale Distanzierung stattfindet, dann nicht zur 232

zahlenmäßig in der eigentlichen Stadt nur schwach vertretenen Fabrikarbeiterschaft, sondern zu den Tagelöhnern. Bezüglich der Fabrikarbeiterschaft sind jedoch die Grenzen der in dieser Arbeit herangezogenen Quellen besonders zu betonen. Die 1855 in der Stadt ansässigen Fabrikarbeiter, die über die Bürgerbücher zu erfassen sind, leben in einer Stadt mit etwas Textilindustrie. 25 Jahre später wird Düsseldorf jedoch ganz eindeutig von der Eisenindustrie bestimmt. Die soziale Distanz zwischen den dort beschäftigten Fabrikarbeitern und den im Vordergrund stehenden städtischen Handwerkern dürfte erheblich größer sein. Bezüglich der Ortstreue - um nur ein Beispiel anzuführen - zeigt schon die in die Untersuchung einbezogene Fabrikarbeiterschaft große Unterschiede zum Handwerk. Der Unterschied zu den in der Eisenindustrie Beschäftigten dürfte noch weit extremer sein, berichtet doch der Fabrikinspektor des Regierungsbezirks Düsseldorf von einem »in den Werken der Eisenindustrie noch immer 70-75 pCt. des normalen Bestandes ausmachende(n) Arbeiterwechsel«. 4 Die hohe Beständigkeit des Handwerks gegenüber diesen Veränderungen ist nicht nur an sich ein interessanter Befund, sondern verdeutlicht auch die soziokulturelle Kluft zwischen der von dem hier betrachteten kleinbürgerlich-proletarischen Milieu geprägten eigentlichen Stadt und den von einem ganz überwiegend zugewanderten Fabrikproletariat bestimmten Industrievororten. Organisatorisch überwindet der politische Katholizismus, nicht die Sozialdemokratie diese Kluft, wobei die Verwurzelung zahlreicher Zuwanderer in den katholischen Gemeinden von Eifel und Hunsrück sicherlich eine Rolle spielt. Die beachtlichen Integrationsleistungen des Katholizismus erscheinen so fast als Voraussetzung fur spätere evtl. auch sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Ohnehin reicht die Feststellung »Die sozialistische deutsche Arbeiterbewegung ist eine Bewegung, die sich in hohem Maße unter protestantischen Rahmenbedingungen (. . .) entwikkelte. « - nicht aus. 5 Die in sich recht homogene Gruppe der Handwerker bildet den Kern eines kleinbürgerlich-proletarischen Milieus, das in der Revolution von 1848/49 ebenso einmütig die Demokraten unterstützt, wie es in den späten 1860er und in den 1870er Jahren fur die Verteidigung der katholischen Kirche eintritt, - eine Orientierung, in der u. a. auch die Kontinuität einer antipreußischen Haltung zum Ausdruck kommt. Ansätze eines Auseinandertretens von Meistern und Gesellen zeigen sich in den 1860er Jahren im liberalen Lager mit der Organisierung von Arbeitern und Gesellen in einem Bildungsverein und dem an selbständige Handwerker gerichteten genossenschaftlichen Angebot, wobei bezeichnenderweise auf der Seite der Meister Vertreter von Handwerkszweigen in den Vordergrund treten, in denen die Distanz zwischen Meistern und Gesellen größer ist als ζ. B. bei den Schuhmachern und Schneidern. Die Abspaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung läßt sich dagegen nicht ohne weiteres als Fortsetzung der innerhalb des liberalen Lagers sich andeutenden Trennung begreifen, da die 233

organisatorische Verselbständigung keineswegs mit einer größeren klassenspezifischen Homogenität der Trägerschicht einhergeht. Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums bleibt die Düsseldorfer Sozialdemokratie eine Bewegung von selbständigen und unselbständigen Handwerkern. Die Datierungsvorschläge von Herzig und Offermann für das Ende »der handwerklich bestimmten Arbeiterbewegung« um 1870 treffen den Düsseldorfer Fall nicht. 6 Es scheint paradox, daß schließlich gerade der im kleinbürgerlichproletarischen Milieu fest verankerte Katholizismus die Trennlinie zwischen Meistern und Gesellen unterstreicht. Tritt der katholische Gesellenverein als Organisation von im weitesten Sinne unselbständigen Gesellen politisch nicht in Erscheinung, verkörpert der Meisterverein weniger die Konstituierung des Kleinbürgertums als die des Mittelstands.

234

Anhang

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung Düsseldorfs 1 8 0 0 — 1 8 8 0 Jahr

1800 1801 1807 1810 1816 1819 1822 1825 1828 1831 1834 1837 1840 1843 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1864 1867 1871 1874 1877 1880

Gesamtbürgermeisterei

Stadt

Stadt (erw.)

(a)

(b)

(c)

16000 12102 19472 20000 22675 23928 24096 25532 27550 28710 31019 32479 34271 37003 38733 40412 42733 44307 46849 49639 54690 60446 67229 74114 84221

16733 19282 20713 20578 21421 21858 22477 23515 23740 24847 25713 26553 27547

36397 37916 40972 44645 49478

92486

(a) Die Einwohnerzahl der Gesamtbürgermeisterei unter Einschluß der Außengemeinden von 1800 bis 1810 nach Brandl, S. 137; von 1816 bis 1849 nach StAD, II, 1298/1299; danach StAD, II, 1290 und nach den städtischen Verwaltungsberichten. In den aufgelisteten Zahlen sind die Militairpersonen, die mit Schwankungen 3000 ausmachen, nicht enthalten. Die Zahlen beziehen sich auf die Bevölkerung am Ende des (Verwaltungs-) Jahres. Ab 1876 ist das Verwaltungsjahr auf die Zeit vom 1. April bis zum 31. März des Folgejahres datiert. (b) Die Einwohnerzahl der eigentlichen Stadt bis 1846 nach einem Brief Dietericis in StAD, II, 1290; danach Bericht der Verwaltung fir das Jahr 1859, Düsseldorf o.J. (c) Die Einwohnerzahl der Stadt nach der Erweiterung für 1858 nach StAD, II, 1290; danach nach den städtischen Verwaltungsberichten.

235

Tabelle 2: Geburtenüberschuß und Wanderungsgewinn in Düsseldorf 1817—1880 Jahr 1817 1818 1819 1820 1817-1820 1821 1822 1823 1824 1825 1821-1825 1826 1827 1828 1829 1830 1826-1830 1831 1832 1833 1834 1835 1831-1835 1836 1837 1838 1839 1840 1836-1840 1841 1842 1843 1844 1845 1841-1845 1846 1847 1848 1849 1850 1846-1850 1851 1852 236

Geburtenüberschuß

Wanderungsgewinn

104 119 183 309 715 234 349 211 263 268 1325 259 262 314 226 102 1163 201 138 276 311 305 1231 374 175 315 343 383 1590 308 391 495 526 469 2189 273 332 453 330 527 1915 532 525

119 333 309 287 1048 -915 84 294 488 248 199 581 430 172 351 226 1760 322 503 -82 640 272 1655 270 64 343 426 -18 1085 820 234 484 1055 58 2651 -603 169 -283 -57 231 -543 208 1011

(Fortsetzung Tabelle 2) Jahr

Geburtenüberschuß

Wanderungsgewinn

1853 1854 1855 1850-1855

359 455 107 1978

294 365 -6 1872

1856 1857 1858 1859 1860 1856-1860

353 461 514 631 692 2651

868 957 ^36 1271 325 2985

1861 1862 1863 1864 1865 1861-1865

483 576 770 670 464 2966

694 421 323 650 408 2496

1866 1867 1868 1869 1870 1866-1870

507 453 471 896 634 2961

1871 1872 1873 1874 1875 1871-1875

-446 1056 924 1103 1271 3908

1876 1877 1878 1879 1880 1876-1880

1438 1565 1504 1564 849 6920

666 2872 835 1942 1571 7886

Z u s a m m e n g e s t e l l t u n d berechnet nach A n g a b e n in StAD, II, 1298/1299; H S A D , R D , 4 1 5 - 4 2 0 u n d H S A D , LA, 1 1 4 - 1 1 9 sowie den städtischen Verwaltungsberichten 1861 bis 1880 (unter wechselnden Titeln Düsseldorf, o.J.) u n d Statistik des Kreises. Die A n g a b e n f ü r das J a h r 1876 sind uneinheitlich, da die N e u f e s t l e g u n g des Verwaltungsjahres (vgl. die Legende zu Tabelle 1) n u r bei den A n g a b e n zur W a n d e r u n g berücksichtigt ist, w ä h r e n d die überlieferten G e b u r t e n u n d Sterbefälle sich n o c h auf das Kalenderjahr beziehen. Eine unsere Interpretationen beeinflußende Verzerrung der Ergebnisse ist v o n diesen U n g e n a u i g k e i t e n j e d o c h nicht zu erwarten.

237

Tabelle 3: Geburten und Todesfálleje 1000 Einwohner 1 8 1 6 - 1 8 8 0 a) Geburten Jahr

1816-1820 1818 1821-1825 1826-1830 1827/1830 1831-1835 1834 1836-1840 1837/1840 1841-1845 1843 1846-1850 1846/1849 1851-1855 1852/1855 1856-1860 1858 1861-1865 1861/1864 1866-1870 1867 1871-1875 1871/1875 1876-1880 1880

238

Düsseldorf

Barmen

Rheinprovinz

00

(b)

(c)

35,0

36,0

36,4

36,0 34,4

40,5 40,2

37,4 36,2

34,7

42,2

36,9

37,1

40,2

38,3

37,9

40,7

37,8

36,3

38,8

35,6

34,2

39,1

34,6

34,9

39,1

36,6

37,2

41,4

37,1

39,3

43,7

38,8

45,3

40,8

Augsbu (d)

23,2

30,1 30,4 25,2 26,0 25,2 26,2 27,2 30,0 37,2 39,4 44,1

46,2 38,3

Tabelle b)

3

Todesfille Düsseldorf

Barmen

Rheinprovinz

(a)

(b)

(c)

27,5

29,8

27,8

25,0 26,0

24,8 27,2

24,0 25,8

26,6

29,4

26,6

27,5

29,1

27,9

26,2

28,1

26,5

26,7

30,6

26,5

1851-1855 1852/1855 1856-1860 1858 1861-1865 1861/1864

24,8

24,8

24,8

23,8

24,5

25,2

26,1

25,7

25,4

1866-1870 1867 1871-1875 1871/1875 1876-1880 1880

30,0

30,4

27,6

28,3

29,5

Jahr

1816-1820 1818 1821-1825 1826-1830 1827/1830 1831-1835 1834 1836-1840 1837/1840 1841-1845 1843 1846-1850 1846/1849

Augsbu (d)

35,6

32,7 38,3 30,3 33,6 29,1 27,5 27,2 30,7 33,0 42,1 28,0

25,5 30,5

(a) Zusammengestellt und berechnet nach Angaben in St A D , II, 1298; Statistik des Kreises und nach den städtischen Verwaltungsberichten 1861 bis 1880. Für die Jahre 1816 und 1870 liegen keine Zahlen vor, so daß das arithmetische Mittel aus den Geburten- bzw. Sterbeziffern der Einzeljahre für 1816—1820 und 1866—1870 aus nur vier Einzelwerten gebildet wurde. (b) Nach Köllmann, Barmen, S. 71. (c) Arithmetische Mittel errechnet aus den Zahlen bei Wolfgang Köllmann (Hg.), Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815—1875, Bd. 1: Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands 1815—1875, bearbeitet von Antje Kraus, Boppard am Rhein 1980, S. 214/215, Spalte 4 und 9. (d) Einzelwerte oder arithmetische Mittel aus zwei Einzelwerten nach /. Fischer, S. 68. Die Einzelwerte wie auch die aus nur jeweils zwei Werten gebildeten Durchschnittszahlen sind nicht ohne weiteres mit den Angaben in den anderen Spalten der Tabelle vergleichbar, da hier Variationen von Jahr zu Jahr stärker durchschlagen können. Das d u r c h w e g verschiedene Niveau der Augsburger Zahlen wird trotz dieser möglichen Schwankungen deutlich.

239

Tabelle 4: Einkommensgruppen in Düsseldorfer Gemeinden 1848 Gemeinde

Düsseldorf Neustadt Pempelfort Bilk Derendorf Flingern Grafenberg Oberbilk Golzheim Mörsenbroich Lierenfeld Stoffeln Flehe Volmerswerth Hamm

Zahl der Veranschlagten 2383 99 588 151 118 51 13 68 18 33 16 19 21 29 105

in % der Einwohner 1850 Λ Λ • 1l(J,0

10,6 6,8 8,5 4,8 4,9 7,5 6,3 6,1 6,8 10,2 5,2 6,3 5,5

bis 200 Taler %

bis 500 Taler %

über 500 Taler %

57,0 71,8 54,9 65,5 73,7 82,3 69,3 80,9 100,0 90,9 93,8 57,9 100,0 93,1 86,7

24,2 15,2 22,8 24,6 20,4 11,8 23,0 14,7

18,8 13,0 22,3 9,9 5,9 5,9 7,7 4,4

9,1 26,3

6,3 15,8

6,1 10,1

3,2

SPSS-Auswertung des Datensatzes Einkommen. Der Anteil der zur Einkommensteuer Veranschlagten an der Zahl der Einwohner 1850 - für 1848/49 liegen keine Aufgliederungen nach Einzelgemeinden vor - berechnet nach dem städtischen Verwaltungsbericht für 1851, Düsseldorf O.J., S. 6.

240

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