Zur Soziologie des Genossenschaftswesens [1 ed.] 9783428484317, 9783428084319

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Zur Soziologie des Genossenschaftswesens [1 ed.]
 9783428484317, 9783428084319

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FRIEDRICH FÜRSTENBERG

Zur Soziologie des Genossenschaftswesens

Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Eierausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, llamburg, Prof. Dr. W. W. Engelhardt, Köln, Prof. Dr. Dr. h. c. F. Fürstenberg, Bonn, Prof. Dr. R. llettlage, Regensburg und Prof. Dr. Th. Thiemeyer t

Band 35

Zur Soziologie des Genossenschaftswesens Von

Friedrich Fürstenber g

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fürstenberg, Friedrich: Zur Soziologie des Genossnschaftswesens I von Friedrich Fürstenberg. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum Genossenschaftswesen und zur öffentlichen Wirtschaft ; Bd. 35) ISBN 3-428-08431-4 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6925 ISBN 3-428-08431-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Vorwort Als eine der großen sozialen Innovationen im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses ist das auf die Förderung der Mitgliederwirtschaften gerichtete Genossenschaftswesen zugleich Träger und Objekt tiefgreifender Strukturwandlungen geworden. Damit reflektiert es sozialökonomische und sozialkulturelle Trends, die eine soziologische Betrachtungsweise herausfordern. Doch sind soziologische Analysen von Genossenschaften, auch in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang, relativ selten. Dies hängt damit zusammen, daß der Soziologe als Forschungsvoraussetzung neben einem allgemeinen theoretischen Interesse auch eine hinreichende Situationskenntnis sowie Verständnis fiir sozialökonomische Phänomene benötigt. Der Doppelcharakter der Genossenschaften als Verbände und Unternehmen bedingt auch Schwierigkeiten des Zugangs zum empirischen Untersuchungsfeld. Die in diesem Band vereinigten genossenschaftssoziologischen Arbeiten des Verfassers reichen bis in die Zeit seiner Tätigkeit als Geschäftsfiihrer des Forschungsinstituts fiir Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnberg, als Lehrbeauftragter fiir dieses Gebiet sowie als Redaktionssekretär der Zeitschrift fiir das gesamte Genossenschaftswesen zurück. Die Mitgliedschaft im Bildungsrat des Zentralverbands der deutschen Konsumgenossenschaften zu Beginn der 60er Jahre bot gleichzeitig Einblicke in personal- und sozialpolitische Probleme der Genossenschaftspraxis. Auch wenn sich die Arbeitsschwerpunkte auf dem späteren Berufsweg verlagerten, blieb doch ein vertieftes Interesse am Genossenschaftswesen und ein immer wieder erneuerter Kontakt mit den Hauptvertretern der Genossenschaftswissenschaft. Wesentliche eigene Forschungsarbeiten, z. B. zur Partizipationsproblematik im Zusammenhang mit einer humanen Arbeitsgestaltung, wurden durch diese Auseinandersetzung mit genossenschaftlichen Ideen und genossenschaftlicher Wirklichkeit angeregt. Angesichts der fortbestehenden Herausforderungen an intentionale Verbände durch eine immer stärker rationalisierte und transnational vernetzte Wirtschaftspraxis ist die Frage nach der Identität der Genossenschaften, nach der Realisierung ihres spezifischen Förderauftrags ebenso dringlich wie die grundsätzliche Frage nach dem Fortwirken genossenschaftlicher Leitbilder in der modernen Gesellschaft. Der vorliegende Band soll zur vertieften Beschäftigung mit diesen Problemfeldern anregen. Vielleicht trägt dies dazu bei, daß

Vorwort

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die Genossenschaftssoziologie aus der unverdienten Rolle als Stiefkind der wirtschaftssoziologischen Forschung heraustritt.

Bonn, im Februar 1995

Friedrich Fürstenberg

Inhaltsverzeichnis Ansatzpunkte einer Soziologie des Genossenschaftswesens ................. 9

I.

Il.

4.

Strukturanalyse der Genossenschaftsorganisation ... .......................... 20 Die Sozialstruktur der Genossenschaftsorganisation ......................... 20 Die Genossenschaft als sozialer Integrationsfaktor ....... .................... .30 Zur Kritik einer soziologischen "Systemtheorie" der Genossenschaft 43 Das Paradigma der genossenschaftlichen Gruppe ............................ .49

I. 2. 3. 4.

Der genossenschaftliche Förderungsauftrag aus soziologischer Sicht. ...................................................... ................ ............ ...................55 Probleme der Mitgliederpartizipation ... ........... ............................ ...... 55 Grundlagen einer genossenschaftlichen Bildungsidee ....................... 66 Die Förderung genossenschaftlicher Nachwuchskräfte ......... .... ....... ..77 Der genossenschaftliche Beitrag zur Untemehmenskultur ................. 85

I. 2. 3.

III.

IV.

Zukunftsorientierte Entwicklungen: Personale Selbstorganisation im kooperativen Leistungsverband .............................. ...................... 95

Literaturverzeichnis .. ...... .......... ................ .......................................... ..... .. .... 108 Nachweise ... ............ ...... ........................ ............. ........................... .......... ... ...... ll4

I. Ansatzpunkte einer Soziologie des Genossenschaftswesens In der wissenschaftlichen Literatur über das Genossenschaftswesen fehlt es nicht an Hinweisen auf dessen soziale Dimension, die sich einer rein ökonomischen Betrachtungsweise verschließt. Die den modernen Genossenschaften eigene vielfllltige Überschneidung von solidarischem Kleingruppenverhalten, zweckrationalen Organisationsprinzipien und politisch orientierter Interessenwahrnehmung in der Form intentionaler Verbände bietet von der Sache her auch hinreichend Ansätze fiir soziologische Analysen. Sieht man jedoch von prinzipiellen Erörterungen historisch-soziologischer und idealtypisch-phänomenologischer Art ab, die hauptsächlich aus der Feder von Wirtschaftssoziologen oder soziologisch interessierten Wirtschaftswissenschaftlern stammen (vgl. Weippert 1957, Seraphim 1958), so müssen zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg die Genossenschaften der Bundesrepublik Deutschland als Stiefkind soziologischer Forschung betrachtet werden. Während aus juristischer, betriebswirtschaftlicher, volkswirtschaftlicher, ja sogar wirtschaftsgeschichtlicher Sicht grundlegende Monographien veröffentlicht worden sind, ist eine entsprechend tiefgreifende soziologische Analyse bisher nur fiir den Partizipationsaspekt vorgelegt worden (Hettlage 1979). Neben skizzenhaften Ansätzen und globalen Interpretationsformeln fmden wir einige wenige empirische Untersuchungen (von Oppen 1959), die sich jedoch entweder auf atypische oder auf raum-zeitlich eng begrenzte Verhältnisse erstrecken. So erscheint es nicht überflüssig, einmal grundsätzlich die Frage zu stellen, inwiefern überhaupt die moderne Soziologie zur weiteren Erforschung des Phänomens "Genossenschaft" beitragen kann, und von welchen Ansatzpunkten her eine entsprechende Forschung systematisch zu entfalten wäre. Die moderne Soziologie hat sich von einer Universalwissenschaft mit philosophischen Prätentionen zu einer Fachwissenschaft auf empirischer Grundlage entwickelt, die nicht mehr normative Aussagen über eine gegebene Wirklichkeit anstrebt. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen vielmehr empirisch nachweisbare soziale Wirkungszusammenhänge. Gegenüber einer theorieblinden, die Phänomene bloß beschreibenden, klassifizierenden und vielleicht auch statistisch auszählenden Empirie wird also Nachdruck auf die Erforschung sozialer Wechselbeziehungen gelegt, die die verschiedenen Handlungsfelder von Menschen, Gruppen und Institutionen in modernen Gesellschaften kennzeichnen. Dieser soziale Wirkungszusammenhang wird in einer Genossenschaft auf verschiedenen Ebenen verwirklicht. In allgemeinster

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I. Ansatzpunkte einer Soziologie des Genossenschaftswesens

Form konstituiert er sich durch genossenschaftliche Zielvorstellungen in mehr oder weniger systematisierter Form, die von einer Gruppe von Menschen als Maximen genossenschaftsorientierten Handeins akzeptiert werden. Der innere Zusammenhang dieser Zielvorstellungen und ihre Bindung an die verschiedenen Bereiche ihrer Verwirklichung bzw. ihre Ausstrahlung auf andere soziale Phänomene sind dementsprechend bedeutsame Forschungsobjekte fiir den Soziologen. Eine zweite Ebene, auf der der soziale Wirkungszusammenhang, der sich als Genossenschaft darstellt, sichtbar wird, sind die tatsächlichen und vielfaltigen Sozialbeziehungen zwischen den Beteiligten. Die Beschreibung eines derartigen lnteraktionsgefiiges vermittelt Aufschlüsse über die Realisierung des Phänomens "Genossenschaft" im Bereich unmittelbaren Sozialverhaltens. Modeme Genossenschaften weisen darüber hinaus aber auch eine komplexe Organisationsstruktur auf, die eine dritte Betrachtungsebene fiir den Soziologen konstituiert. Hier ist nicht mehr das unmittelbare Sozialverhalten des Mitglieds Kernpunkt des Forschungsinteresses, sondern die mehr oder weniger institutionalisierte Rahmenordnung, die den Arbeitsablauf in den verschiedenen genossenschaftlichen Einrichtungen regulierend beeinflußt. Draheims bekannte Unterscheidung von "Genossenschaftsgruppe" und "Genossenschaftsbetrieb" kennzeichnet diese mehrschichtige Betrachtungsweise (Draheim 1955, 16). Es wäre eine unzulässige Abstraktion, wenn die Genossenschaft als ein zielorientierter sozialer Zusammenhang von Verhaltensstrukturen und regulierender Rahmenordnung isoliert von der sie umgebenden sozialen Umwelt betrachtet würde. Die Genossenschaften sind eingebettet in eine gegebene Gesellschaftsstruktur, aus der sie vielfliltige Impulse aufnehmen und auf die sie ihrerseits ständig verändernd einwirken. Deshalb sind auch die sozialen Wirkungszusammenhänge zwischen Genossenschaften und sozialer Umwelt in die soziologische Betrachtung mit einzubeziehen. Es soll nun versucht werden, die soziologisch bedeutsamen Problemstellungen fiir jede Betrachtungsebene kurz zu umreißen und gleichzeitig einige Forschungshypothesen zu formulieren, die als Orientierung über den möglichen Beitrag weiterer soziologischer Analysen zum Verständnis des modernen Genossenschaftswesens dienen sollen. Soziologische Aspekte genossenschaftlicher Zielvorstellungen Wenn wir von der Allgemeingültigkeit des Prinzips der Mitgliederförderung als genossenschaftlichem Grundauftrag im Sinne Henzlers (1957) ausgehen, so beschränkt sich das soziologische Forschungsinteresse auf die jeweilige raumzeitliche Ausprägung dieses Grundprinzips. Es geht dem Soziologen also nicht

I. Ansatzpunkte einer Soziologie des Genossenschaftswesens

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um eine abstrakt-logische Untersuchung der verschiedenen Dimensionen dieses Grundprinzips bzw. um seine phänomenologische Entfaltung als Beitrag zu einer allgemeingültigen Klärung des Wesens der Genossenschaft. Er beschäftigt sich vielmehr mit den in jeweiligen Situationen als verbindlich erklärten bzw. als verbindlich hingenommenen konkreten Vorstellungen davon, was als genossenschaftliche Mitgliederförderung gelten soll. Hier finden wir einige markante Entwicklungstendenzen. Obwohl zu keinem Zeitpunkt Hinweise auf die rein ökonomische Mitgliederförderung fehlten, herrschten doch in der Frühzeit des modernen Genossenschaftswesens sittlich verpflichtende Idealbilder von gemeinschaftsorientierten Verhaltensweisen vor. Dementsprechend wurde der Förderungsauftrag der Genossenschaften auch in der personengebundenen, sittlichen Weiterentwicklung konkretisiert. Überreste dieser einstmals dominierenden Auffassung finden wir auch heute noch in der Form sozialpädagogischer Appelle (vgl. Albrecht 1965, 12). Sie haben jedoch nicht so sehr den Charakter eines verbindlichen Verhaltensregulativs, sondern gerade in der Praxis oft die Funktion einer bestimmte Interessengegensätze überbrükkenden ideologischen LeerformeL An die Stelle sittlicher Idealbilder sind konkrete ökonomische Zielfunktionen getreten. Mitgliederförderung wird, das läßt sich aus den verbindlichen Erklärungen auf den verschiedenen Verbandstagen deutlich ableiten, als Förderung im Wirtschaftskampf verstanden. Dabei ist klar, daß die Stärkung der Wirtschaftsposition nicht allein von wirtschaftlichen Mitteln abhängt. Die Interpretation des Förderungsauftrages im Hinblick auf nichtökonomische oder metaökonomische Zielsetzungen ist jedoch vorwiegend sekundärer Natur. Wenn sich die Hypothese aufstellen läßt, daß Mitgliederförderung als genossenschaftliche Zielvorstellung in wachsendem Maße zweckrational und wirtschaftsbezogen definiert wird (vgl. Seraphim 1956), so entsteht das zusätzliche Problem, wodurch dieser Trend ausgelöst wird und worauf dessen möglicherweise unterschiedliche Stärke in einzelnen Genossenschaftssparten und in den verschiedenen Regionen zurückzufuhren sei. Da diese Frage sofort zu internen Strukturveränderungen in den Genossenschaften selbst und externen Veränderungen in der für sie maßgebenden Gesellschaftsstruktur hinfuhrt, werden wir in der Schlußbetrachtung hierauf zurückkommen. Genossenschaftliche Zielvorstellungen sind noch unter einem anderen Aspekt soziologisch interessant. Es läßt sich in jedem konkreten Falle der Interpretation einer Zielvorstellung fragen, welche Bedeutung der jeweils gegebene Inhalt denn für die betreffende Genossenschaft habe. Ist die Interpretation von Zielvorstellungen stets funktional im ~usammenhang mit der von der Genossenschaft zu bewältigenden Situation zu sehen oder gibt es eine gewisse soziale Autonomie im Bereich der Zielvorstellungen? Mit anderen Worten: Werden genossenschaftliche Zielvorstellungen im Zuge struktureller

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I. Ansatzpunkte einer Soziologie des Genossenschaftswesens

Veränderungen Attribute des situativen Anpassungsdrucks und damit weitgehend manipulierbar, oder haben sie so viel Eigengewicht, daß sie die Richtung des jeweiligen Anpassungsverhaltens steuern? Wir berühren mit dieser Fragestellung ein Grundproblem der modernen Genossenschaften. Seitens der Genossenschaftstheorie wird in der Regel an der These festgehalten, daß der Charakter einer Genossenschaft durch ihre Zielvorstellung gegeben sei, die selbstverständlich umweltadäquate, wechselnde Interpretationen zulassen müsse. Seitens der Genossenschaftspraxis finden wir wenig Kritik an dieser globalen These, hingegen jedoch Verhaltensweisen, die sich erst nachträglich interpretativ mit gegebenen Zielvorstellungen decken, primär aber nichts anderes als Versuche optimalen Wirtschaftens in einer gegebenen Marktsituation sind. Wenn aber Genossenschaften in ihrer Verhaltensweise mehr oder weniger reaktiv die allgemeinen Trends der Wirtschaftslage widerspiegeln und sich in ihrer Zielorientierung von den Maximen anderer Wirtschaftssubjekte nicht mehr unterscheiden, dann entsteht die Frage, worin denn ihre Eigenart zu suchen sei. Genügt es, sie als eine Art Pflanzschule moderner Wirtschaftsweise in sozialökonomisch rückständigen Wirtschaftszweigen zu betreiben? Ist andererseits eine eigenständige genossenschaftliche Wirtschaftsweise überhaupt zu verwirklichen? Der Soziologe berührt hier das Gebiet der Ideologiekritik, die auch für den Bereich der Genossenschaften eine notwendige Voraussetzung der Besinnung auf die eigenen Existenzgrundlagen sein sollte. Die Struktur der genossenschaftlichen Sozialbeziehungen

Das soziale Beziehungsgefüge in einer Genossenschaft war bisher in der Regel Gegenstand typologischer Betrachtungen (Becker 1960). In ihnen wirkte häufig die traditionelle These nach, genossenschaftliche Sozialbeziehungen seien als gemeinschaftsorientiertes Solidarverhalten zu charakterisieren. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß es sich hierbei um eine Modellvorstellung handelt, die in enger Beziehung zu genossenschaftlichen Zielinterpretationen steht. Eine Soziologie des Genossenschaftswesens, die wirklichkeitsadäquate Aussagen anstrebt, wird sich hiermit nicht begnügen können. Nicht die Ableitung von Verhaltenstypen aus einem vorgegebenen Wertsystem kann ihr Inhalt sein, sondern die Erforschung tatsächlicher Verhaltensweisen. Hierbei ist die Typisierung allenfalls Endprodukt der Untersuchung. So verlagert sich das Schwergewicht des Forschungsinteresses notwendigerweise auf eine Analyse des Interaktionszusammenhangs in einer gegebenen Genossenschaft. Die Frage hierbei lautet: Welche Art von Kontakten besteht zwischen den an einer Genossenschaft Beteiligten, und in welcher Form sowie Intensität und Dauer treten sie auf? Die rationalisierte Primärerfahrung der Praktiker ebenso wie vorliegende Detailstudien weisen darauf hin, daß es sich hierbei um einen sehr vielschichtigen Komplex handelt. In dem Maße, in dem die Genos-

I. Ansatzpunkte einer Soziologie des Genossenschaftswesens

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Senschaftsorganisation sich fortbildet und differenziert, treten auch neue Arten von Sozialkontakten auf. Die direkte Begegnung von Mensch zu Mensch wird ergänzt durch die zunehmend bedeutungsvollere indirekte Form der Kommunikation über spezifische Medien, wie Rundschreiben, Zeitschriften, Vorträge auf Versammlungen u.dgl. Die hierdurch entstehenden Verbindungslinien sind unterschiedlich intensiv und nur teilweise personorientiert. Die wachsende Sachorientierung genossenschaftlicher Sozialkontakte, insbesondere in ihrer indirekten Form, führt zu einer weiteren Erscheinung: zu ihrer Aufgliederung in eine formelle und informelle Sphäre. Gerade das eingangs gekennzeichnete Solidarverhalten zeigt sich weniger im Bereich formaler, Ieistungs- und sachorientierter Sozialkontakte, sondern vielmehr in dem vom Genossenschaftszweck nicht unmittelbar berührten Bereich zwischenmenschlichen Verhaltens, das nicht von den Normen der Organisation vorgeformt ist und sich damit informell entfalten kann. Diese Aufgliederung ist nicht ein eigentümliches Merkmal der Genossenschaften, sondern überall dort festzustellen, wo soziale Gebilde einem notwendigen Bürokratisierungsprozeß unterliegen, um ihre Leistungswirksamkeit zu erhalten. Aus diesen Bemerkungen ist schon ersichtlich, daß eine voreilige, monistische ("Gemeinschaftsorientierung") oder dualistische ("Gemeinschafts- oder gesellschaftsorientiertes Handeln") Interpretation genossenschaftlichen Sozialverhaltens unrealistisch ist. Wir müssen vielmehr die Fülle der Kontaktsituationen untersuchen und die in ihnen wirksamen Impulse zur Gestaltung des sozialen Beziehungsgefüges feststellen. Wenn hier auch zweckorientiertes Handeln aufgrund ökonomischer Interessen eine maßgebende Rolle spielt, so braucht das doch nicht als Zeichen einer Widerlegung der These von der Mitgliedersolidarität gelten. Solidarität ist nicht allein Merkmal kleiner sozialer Gruppen. Es gibt durchaus auch Solidarverhalten in Beziehungsgefügen, die emotionale Impulse und Primärkontakte von Mensch zu Mensch kaum aufweisen. Die Mitgliedersolidarität in einer Genossenschaft ist deshalb auch nicht von dem Weiterbestehen bestimmter genossenschaftlicher Urformen abhängig. In einer rationalisierten Form kann sie sich sogar in einer entwickelten Genossenschaftsorganisation intensiv weiterentwickeln. Hinreichende Kontaktmöglichkeiten bzw. eine bewußte Kontaktpflege sind hierfür jedoch genauso Voraussetzung wie die Möglichkeit einer intensiven Zielidentifikation für jedes Mitglied, die allerdings auf einen bestimmten sozialen Rollenaspekt begrenzt ist, also nicht mehr alle sozialen Lebensäußerungen umfaßt.

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Soziologische Analse des genossenschaftlichen Organisationsrahmens Auch hinsichtlich des genossenschaftlichen Organisationsrahmens müssen sich soziologische Forderungen zunächst mit einer traditionellen These auseinandersetzen, die die Diskussion weithin geprägt hat. Es handelt sich um das Leitbild von der Genossenschaftsdemokratie, die sich in den umfassenden Mitwirkungsrechten und Haftungspflichten des einzelnen Mitglieds realisiert. In der soziologischen Literatur hat sich unter dem Einfluß Vierkandts geradezu eine Antithese von genossenschaftlicher und herrschaftlicher Organisation herausgebildet, deren Grundlage das unterschiedliche Ausmaß an hierarchischer Aufgliederung ist: Jeder Organisationsplan einer modernen Genossenschaft zeigt demgegenüber jedoch deutlich, daß hierarchische Elemente auch hier keineswegs fehlen. Sie treten nicht so sehr dort auf, wo es um die grundlegenden Beziehungen zwischen Genossenschaftsmitgliedern und ihren Repräsentanten geht. Sie ergeben sich vielmehr aus der organisatorisch bedingten Differenzierung von Funktionen und Vollmachten bzw. der wirtschaftlich erforderlichen Spezialisierung von Leistungen innerhalb einer Genossenschaft, wie sie für deren moderne Form des marktorientierten Zweckverbandes mit verschiedenen Betriebseinheiten typisch ist. Die Weiterentwicklung des von einer Zentrale her gesteuerten Zweckverbandes zu einem horizontal und vertikal abgestuften Verbundsystem mit vielfältig spezialisierten Genossenschaftszentralen verstärkt diese Tendenz erheblich. Auf die dadurch eingeleitete und unabdingbare teilweise Autonomisierung der Führungsspitze ist wiederholt, z.B. von Henzler im Anschluß an Draheim, hingewiesen worden (Henzler 1964, 444).

In dieser Situation müssen soziologische Aussagen über die Genassenschaftsorganisation von konkreten Studien der vorhandenen Wirkungszusammenhänge zwischen den verschiedenen Stufen und Bereichen ausgehen. Die Fortschritte der Betriebs und Organisationssoziologie bieten hierfür eine wertvolle Handhabe. Erst eine derartige Durchleuchtung der Organisation ermöglicht auch Aussagen darüber, inwiefern das einzelne Mitglied seine Mitwirkungs und Kontrollrechte überhaupt realisieren könnte. Diese Fragestellung hat besonders englische Soziologen beschäftigt (vgl. J. A. Banks und G. N. Ostergaard 1955, sowie G. N. Ostergaard and A. H. Halsey 1965). Über die Verhältnisse in der BRD informiert das allerdings schon länger zurückliegende Gutachten des Instituts für Genossenschaftswesen an der Universität Münster: Das Verhältnis der Mitglieder zu ihrer Genossenschaft (1956). Daß die Wahrnehmung seiner Interessen in entsprechenden Repräsentativvertretungen nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann, ist offensichtlich, denn derartige Einrichtungen halten nicht die Entfremdung der einzelnen Mitglieder von dem immer stärker wachsenden organisatorischen Apparat der Großgenossenschaft auf. Sie werden sogar noch dadurch verstärkt, daß es oft eine starre

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Grenzziehung zwischen Mitglied und Mitarbeiter der Genossenschaft gibt. Beide Personenkreise sind gerade in den organisatorisch am weitesten fortentwickelten Genossenschaften immer weniger identisch. Dies muß natürlich nicht so sein, zumal dieser Sachverhalt in verschiedenen Genossenschaftssparten letztlich dahin führt, daß das Genossenschaftsmitglied eine Art außenstehender Aktionär wird, während der Mitarbeiterkreis als eine Art Belegschaft viel unmittelbarer im Produktionszusammenhang steht. Eine soziologische Analyse der Genossenschaftsorganisation kann auch in anderer Hinsicht interessante Ergebnisse bringen. Mit modernen Untersuchungsmethoden ist es möglich, die Faktoren zu bestimmen, die den sozialen Zusammenhang fördern bzw. ihn hemmen, und die wichtigsten Konfliktzentren im Rahmen der Organisation zu beschreiben. Aussagen über das soziale Spannungsfeld, das jede Genossenschaftsorganisation darstellt, sind aber nicht nur interessantes Material für die Schulung zukünftiger genossenschaftlicher Führungskräfte, sie sind ebenso wichtige Unterlagen flir die Ausarbeitung einer genossenschaftlichen Führungsstrategie und flir die Erweiterung des Anpassungsspielraums, den die Organisation hat. Wenn z. B. gegenwärtig die Marktintegration ein Zentralthema genossenschaftlicher Diskussion und genossenschaftlicher Verhaltensweisen in der Praxis ist, handelt es sich bei den diesbezüglich eingeleiteten Maßnahmen keineswegs nur um rein wirtschaftliche Anpassungen. Es handelt sich auch darum, neue Muster organisierten Verhaltens zu etablieren und wirksam zu machen. Ein systematisches Studium der Widerstände, die hierbei auftreten bzw. der Faktoren, die die Anpassung fördern, kann nicht nur im Einzelfall wichtige Aufschlüsse bieten, sondern gleichsam paradigmatisch organisatorische Anpassungen in anderen Genossenschaften erleichtern helfen. Es wäre wünschenswert, daß entsprechende Studien nicht auf der Ebene traditioneller Beschreibung von juridischen Vorgängen und von Veränderungen ökonomischer Meßgrößen oder in rein typologische Erörterungen stehenbleiben, sondern sich auch des differenzierten Instrumentariums soziologischer Forschungstechniken bedienen. Die Beziehungen zwischen Genossenschaften und Gesellschaftsstruktur

Betrachten wir soziologisch die externen Beziehungen zwischen der Genossenschaft und ihrer sozialen Umwelt, so ist auch hier zunächst an verschiedene traditionelle Leithypothesen anzuknüpfen. Einerseits begegnen wir gelegentlich noch der fortwirkenden These Fauquets (1937) vom "Genossenschaftlichen Sektor", d.h. einer eigenständigen, in sich gefestigten Sphäre genossenschaftlichen Wirtschaftens, der eine entsprechende Festigung genossenschaftlicher Sozialgebilde entspricht und von der man erhofft, daß sie expansiv allmählich weitere Wirtschaftssektoren reformiert. Die Gegenthese hierzu, die sich all-

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mählich durchgesetzt hat, weist demgegenüber auf die wachsende gesamtwirtschaftliche Verflechtung der Genossenschaften hin, die den Aufbau eines quasi-autarken Genossenschaftssektors illusorisch erscheinen läßt und die Grundlage für eine umweltoffene, aktive genossenschaftliche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bietet. Der Übergang zu diesem Leitbild kennzeichnet den Abschluß einer wesentlichen Epoche der neueren Genossenschaftsgeschichte, die durch eine gesellschaftliche Defensivstellung des Genossenschaftswesens und dementsprechend durch besondere sozialreformerische Impulse gekennzeichnet war. An die Stelle dieser Bestrebungen sind in wachsendem Maße Integrationsbemühungen getreten, die ihrerseits wiederum Ausdruck der Tatsache sind, daß das Genos~enschaftswesen schon integrierender Bestandteil einer modernen Wirtschaftsgesellschaft ist. Die Diskussionen der letzten Jahre, etwa über die Beziehungen zwischen Genossenschaften und Staat, verweisen darüber hinaus auf ein immer stärkeres Bewußtsein der Umweltabhängigkeit moderner Großgenossenschaften. Leider ist auch auf dieser Ebene der sozialen Zusammenhänge, die das Genossenschaftswesen konstituieren, die konkrete soziologische Forschung im engeren Sinne äußerst spärlich .. Die Beziehungen der Genossenschaftssparten untereinander, die Beziehungen der Genossenschaften zu den Marktpartnern und zu anderen Wirtschaftsverbänden, zu staatlichen Institutionen, zur Öffentlichkeit, z. B. zur Presse oder zum Bildungswesen, um nur wenige Bereiche zu nennen, sind unter soziologischem Gesichtspunkt kaum ernsthaft untersucht worden. Dennoch könnten gerade derartige Studien Aufschluß über die für die Genossenschaften immer wichtiger werdende Frage liefern, welche Umwelt denn genossenschaftsfördernd bzw. genossenschaftshemmend ist. Dieses Problem wird in der Regel nur im Zusammenhang mit den Genossenschaften in Entwicklungsländern gesehen (vgl. Trappe 1966). Es ist aber auch in der modernen Wirtschaftsgesellschaft vorhanden. Zweifellos zeigt gerade die Nachkiegsentwicklung in Europa, daß z.B. politische Einflüsse eine historische gegebene Struktur des Genossenschaftswesens völlig umgestalten konnten. Die Genossenschaften im Prozeß des sozialen Wandels

Ein Grundproblem jeder soziologischen Analyse ist die Allgemeingültigkeit ihrer Ergebnisse. Da die soziologische Betrachtungsweise herkömmliche Bezugspunkte notwendigerweise relativiert, um neue Zusammenhänge zwischen den Phänomenen sichtbar zu machen, kann sie auch nicht mit dem Anspruch auf zeitlos gültige Aussagen auftreten. Deren Gültigkeit beruht vielmehr auf dem Grad der erreichten Wirklichkeitsadäquanz und den sich daraus herleitenden Möglichkeiten der Vorausschau auf wahrscheinliche Veränderungen. Es ist auch zu beachten, daß schon die Erkenntnis vom sozialen Wandel des soziolo-

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giseben Erkenntnisobjekts "Genossenschaft" eine sehr wesentliche Aussage ist. In wissenschaftlichen Diskussionen ebenso wie in Unterhaltungen mit Praktikern ist immer wieder festzustellen, daß unterschiedliche Auffassungen gleichermaßen mit dem Hinweise auf empirische Sachverhalte belegt werden können. Daraus rechtfertigen sich dann bestimmte theoretische oder ideologische Grundhaltungen, die immer wieder für die Erklärung von Teilaspekten der genossenschaftlichen Wirklichkeit fruchtbar gemacht werden können. Untersucht man diese Aussagedivergenzen näher, so kann in vielen Fällen festgestellt werden, daß sie unterschiedliche soziale Entwicklungsstadien des Genossenschaftswesens und seiner sozialen Umwelt reflektieren. Ebenso wie in der modernen Wirtschaftsgesellschaft früher vorherrschende Entwicklungsstadien weiterhin fortwirken, während gleichzeitig die Zukunft schon begonnen hat, so ist auch im Genossenschaftswesen die historische Entwicklung in vielfältigen Ablagerungen und Reservaten noch gegenwärtig. Ein wesentliches Erkenntnisziel der vergleichenden Soziologie des Genossenschaftswesens in unterschiedlichen sozialen Umweltstrukturen sollte es deshalb sein, die verschiedenen Erscheinungsformen sozialer Zusammenhänge im Genossenschaftswesen bestimmten raum-zeitlichen Umwandlungsprozessen zuzuordnen. Ein erster systematischer Versuch der diesbezüglichen Hypothesenbildung soll das verdeutlichen. Ausgangspunkt soll die Hypothese sein, daß die Ausbildung der modernen Wirtschaftsgesellschaft sukzessive eine extensive, intensive und schließlich integrative Phase durchläuft. Während es zunächst darum geht, die Produktivkräfte in neuen Produktionskombinationen nutzbar zu machen und die neue Wirtschaftsweise auf möglichst viele Wirtschaftssektoren auszudehnen, hat in der zweiten Phase die Intensivierung der Nutzung, d. h. die Rationalisierung der verfügbaren Mittel Vorrang. In einer dritten Phase, die sich z. B. deutlich in den Trends zu automatisierten Arbeitssystemen, zur Konzentration in größeren Wirtschaftseinheiten und zu internationalen Verflechtungen äußert, werden die unterschiedlichen Leistungsströme auf höherer Ebene integriert und hierdurch wieder neue Impulse des Wirtschaftswachstums freigelegt. Es soll nun unsere These sein, daß diesen drei Phasen auch unterschiedliche Phasen der Genossenschaftsentwicklung in organisatorischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entsprechen. Die tatsächlich bestehende Überlagerung dieser Phasen in konkreten Situationen könnte vorhandene Diskrepanzen zwischen jeweiliger Zielinterpretation und tatsächlicher Struktur der Sozialbeziehungen sowie des Organisationsrahmens, aber auch abweichende Verhaltensmuster auf jeder Ebene des genossenschaftlichen Wirkungszusammenhangs erklären. In der extensiven Phase besteht die Hauptfunktion der Genossenschaften in einer Stabilisierung der Lebensformen solcher Bevölkerungskreise, die von der neuen durch freie Konkurrenz am Markt gekennzeichneten und durch Kapi2 Fürstenberg

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taleinsatz gesteuerten Wirtschaftsweise in ihrer Existenz bedroht sind. Diese Stabilisierung gelingt zunächst durch die Organisation wirtschaftlich wirksamen Solidarverhaltens in Primärgenossenschaften. Die soziale Struktur dieser Genossenschaften weist dementsprechend starke emotionale und auf die Gesamtheit der Lebensformen bezogene Verhaltensweisen auf. Gefestigt wird diese Genossenschaftsstruktur durch ausgeprägte ethische Leitbilder, die gleichzeitig dem Traditionalismus der Genossenschaftsmitglieder entgegenkommen und dennoch zukunftsweisend sozialreformerische Impulse ausstrahlen. In der zweiten, intensiven Phase der Wirtschaftsentwicklung ist der wirtschaftliche Existenzkampf der Genossenschaften erleichtert durch eine sich allmählich herausbildende vielgestaltige Organisation, die den rationalen Gebrauch der verfilgbaren Mittel ermöglicht. Hauptmerkmal ist die Fortentwicklung zu Sekundärgenossenschaften in der Form wirtschaftlicher Zweckverbände. Deren wachsende Einbeziehung in gesamtwirtschaftliche Bezüge fUhrt dazu, daß auch die Mitglieder keine Randstellungen im Sozialleben mehr einnehmen, das sich pluralistisch auf die verschiedensten Sozialbereiche auffiichert. Dadurch verliert auch die genossenschaftliche Aktivität ihre enge Bindung an die Verhaltensmuster von Kleingruppen. Um so stärker prägt sich aber ihr zweckbestimmter Charakter im Sinne der wirtschaftlichen Interessenwahrnehmung aus. Zwar wirken in dieser Phase die ursprünglichen Leitbilder fort, ihre Interpretation erfolgt jedoch, strategisch von genossenschaftlichen Führungsgruppen gelenkt, im Sinne .der Anpassung an die neuen Gegebenheiten der Wirtschaftsgesellschaft und die hierdurch gegebenen Chancen einer Verbesserung der Sozial- und Wirtschaftslage. Die vorherrschende Genossenschaftsstruktur in der dritten, integrativen Phase der regionalen und vertikalen Marktverflechtung sowie Marktorganisation können wir gegenwärtig im Trend zum genossenschaftlichen Stufenverbund, zur kooperativ organisierten Funktionsübertragung und Funktionsverbindung zwischen Wirtschaftseinheiten vor- oder nachgeschalteter Erzeugungsund Absatzstufen erkennen. Außerdem sind Funktionsverschiebungen der Art zu beobachten, daß neuartige Organisationen zum Zwecke genossenschaftlicher Eigenversorgung, Weiterverarbeitung und Absatzförderung entstehen. Hierdurch entfaltet sich das Genossenschaftswesen allmählich zu einem vielschichtigen Verbundsystem, das die von den Großunternehmen eingeleitete Marktorganisation durch Schaffung gegengewichtiger Aktionseinheiten vollenden hilft. Die Genossenschaften werden zu Zentren gegengewichtiger Marktmacht und gewinnen auch politisches Mitspracherecht bei der Beeinflussung des Datenkranzes wirtschaftlicher Entscheidungen. Ihre Sozialstruktur gleicht sich mehr und mehr derjenigen anderer Wirtschaftsorganisationen an. Die Mitgliederförderung erfolgt funktionell, d. h. sach- und zweckbezogen im

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Rahmen zunehmend zentralisierter Entscheidungsprozesse. Hierdurch entstehen jedoch schwerwiegende Spannungen, da Genossenschaften in besonderem Maße auf Mitgliederkonsensus und Eigeninitiative der Mitglieder angewiesen sind. Es ist demnach zu vermuten, daß auch in sozialer Hinsicht Strukturwandlungen des Genossenschaftswesens bevorstehen, im Sinne der Suche nach neuen Formen sozialer Integration und Mitwirkung, die als zeitgemäße Ausgestaltung des genossenschaftlichen Grundauftrags interpretierbar sind. Eine wirklichkeitsnahe, empirische soziologische Forschung kann durch die Analyse schon bestehender organisatorischer Ansätze und ihrer Folgen fUr das Sozialverhalten der Beteiligten sowie durch Situationsanalysen auf allen Ebenen genossenschaftlicher Wirkungszusammenhänge wichtige Orientierungshilfen bei der Lösung dieser Probleme bieten.

II. Strukturanalyse der Genossenschaftsorganisation 1. Die Sozialstruktur der Genossenschaftsorganisation Jede Genossenschaftsorganisation stellt sich als ein komplexes Handlungsfeld dar, in dessen Struktur sich Voraussetzungen und Möglichkeiten der Zielfmdung widerspiegeln. Als Sozialstruktur im engeren Sinne ist hierbei der Wirkungszusammenhang von Personen, Gruppen und verhaltensbestimmenden Organisationsmerkmalen zu verstehen, der relativ dauerhaft Art, Intensität und Reichweite von Aktionen der Genossenschaftsmitglieder prägt. Soziologie der Genossenschaftstypen

Wenn man davon ausgeht, daß grundlegende Zielvorstellung moderner Genossenschaften die Mitgliederförderung ist (Henzler 1957, 1970), dann ergibt sich eine Typologie genossenschaftlicher Sozialstrukturen aus der raum-zeitlich bedingten inhaltlichen und formalen Ausprägung dieses Grundprinzips. Dem Soziologen geht es hierbei um den Wirkungszusammenhang in den jeweils realisierten Sozialformen. Je nachdem, ob die Verwirklichung der Mitgliederförderung durch spezifische Formen tendenziell herrschaftsfreien Zusammenlebens oder durch marktwirksame Verhaltensrationalisierung angestrebt wurde, entstanden zwei grundlegend verschiedene Genossenschaftstypen. Im ersten Falle bildeten sich Vollgenossenschaften als kleine überschaubare Lebensgemeinschaften (Primärgenossenschaften), in denen die Vielgestaltigkeit der modernen Gesellschaft von der Arbeitsteilung bis zum Wertepluralismus negiert und durch Fusion sozialer Rollen aufgehoben wurde. Experimentelle Gemeinschaftsbildungen mit häufig utopischer Orientierung auf religiöser oder weltanschaulicher Grundlage waren die Folge. Im zweiten Falle entwickelten sich Teilgenossenschaften in der Form sozialökonomischer Interessenverbände, meist mit eigenen Geschäftsbetrieben, die sich auf eine funktionelle Teilintegration ihrer Mitglieder beschränkten (Sekundärgenossenschaften). Die neuzeitlichen Erwerbs- und Verbrauchergenossenschaften vergesellschaften die Mitglieder nur in einem spezifischen Rollenkontext, etwa als Produzenten von Agrarprodukten, als gewerbetreibende Kreditnehmer, als Verbraucher u. a. Hierbei

II. Strukturanalyse der Genossenschaftsorganisation

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werden sie jedoch nicht zur Aufgabe ihrer eigenen Wirtschaftsbetriebe bzw. Haushalte veranlaßt Obwohl die Polarität von Lebensgemeinschaft und Wirtschaftsverband auch in der Gegenwart fortwirkt, z. B. bei der Diskussion der Funktionen von Genossenschaften in Entwicklungsländern und in der oft ideologisch geflirbten Diskussion über herrschaftsfreie Organisationsformen, hat in den hochindustrialisierten Ländern nur der Typ der Teilgenossenschaft weiterreichende praktische Bedeutung erlangt. Für diese Erscheinungsform zeichnet sich die Tendenz ab, an die Stelle ganzheitlicher Idealforderungen immer stärker konkrete ökonomische Zielfunktionen zu setzen. Allerdings ist auch ein Trend zur kooperativen Organisation "alternativ" wirtschaftender Kleingruppen festzustellen. Vorherrschend ist jedoch ein Verständnis von MitgliederfOrderung als Förderung im wirtschaftlichen Wettbewerb. Diese Stärkung der Wirtschaftspositionen ist zwar nicht allein von wirtschaftlichen Mitteln allein abhängig. Die Interpretation des Förderungsauftrags im Hinblick auf nichtökonomische oder metaökonomische Zielsetzungen tritt aber hinter dem ökonomischen Primärziel zurück (Seraphim 1956). Aus soziologischer Sicht stellt sich das Problem, ob die jeweilige Interpretation des genossenschaftlichen Grundauftrags mit ihren weitreichenden sozialen Folgen Ergebnis eines situationsspezifischen Anpassungsdrucks oder einer relativ autonomen Weiterentwicklung eines bestimmten Genossenschaftstyps ist. Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob Genossenschaften als relativ eigenständige Wirtschaftsorganisationen im soziologischen Sinne zu betrachten sind oder ob es sich hierbei lediglich um gesellschafts- und steuerrechtlich herausdifferenzierte Organisationstypen handelt, die optimales Wirtschaften ermöglichen sollen. Aus soziologischer Sicht wird wohl nur dann von Genossenschaften im engeren Sinne gesprochen werden können, wenn die Zielvorstellung der Mitgliederförderung ihre Ausprägung im solidarischen Handeln findet, das die Entstehung einer Mitgliederhierarchie in grundlegenden Entscheidungssituationen ausschließt. Die Sozialstruktur des Genossenschaftsverbands

Die idealtypische Aussage, daß aus soziologischer Sicht Genossenschaften durch Form und Ausmaß des mitgliederfördernden Solidarverhaltens bestimmt werden, bedarf der verbands- und situationsspezifischen Konkretisierung. Hierbei tritt das Problem filr den Soziologen auf, daß moderne Wirtschaftsgenossenschaften in ihrer Aufbau- und Ablauforganisation in der Regel an die Struktur von Konkurrenzunternehmungen augepaßt sind. In der Tat sind des-

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halb viele sozialwissenschaftliche Aussagen über Genossenschaften nichts anderes als die Adaption allgemeiner Erkenntnisse an eine juristische Sonderform moderner Unternehmungen. Die soziologische Eigenart der Genossenschaftsorganisation ergibt sich aber aus den Besonderheiten der in ihr stattfindenden Entscheidungs- bzw. Problemlösungsprozesse, und zwar sowohl hinsichtlich der Zielkonzepte als auch der beteiligten Personenkreise (vgl. Dülfer 1984). Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsorganisationen weist die Sozialstruktur der Genossenschaften einen grundlegenden Dualismus auf. Im Hinblick auf die Mitglieder stellt sie sich als Verband, als Personenvereinigung dar. Im Hinblick auf die Mitarbeiter ist sie ein leistungsorientiertes Zweckgebilde in der Form eines oder mehrerer Betriebe, die zu einem Unternehmen mit spezifischer Rechtsform zusammengeschlossen sind. Jede Aussage über die Sozialstruktur der Genossenschaftsorganisation muß deshalb sowohl die Mitglieder- als auch die Mitarbeiterstruktur berücksichtigen. Außerdem ist eine Dichotomie von Solidar- und Wirtschaftlichkeitsprinzip zu beachten. Sie erfordert einen ständigen Ausgleich, so daß die Genossenschaft einerseits ein Zusammenschluß von Gleichberechtigten bleibt, andererseits sich im Konkurrenzkampf am Markte behaupten kann. Insofern spiegelt die innere Struktur einer Genossenschaft auch wie diejenige anderer sozialer Zweckgebilde eine grundsätzliche Spannung zwischen den Sachenordemissen der Organisation einerseits und den Interessen der Beteiligten andererseits wider. Die Sacherfordernisse führen zu einer Differenzierung von Funktionen und Vollmachten bzw. einer wirtschaftlich erforderlichen Spezialisierung von Leistungen. Ein Beispiel hierfilr ist die Weiterentwicklung des von einer Zentrale her gesteuerten Zweckverbands zu einem horizontal und vertikal abgestuften Verbundsystem mit vielfliltig spezialisierten Betriebseinheiten. Für die effiziente Verbundleitung ist eine weitgehende Autonomie der Führungsspitze erforderlich (Henzler 1964). Die Interessen der Beteiligten umschließen in einer Genossenschaft mindestens drei Personenkreise: die Mitglieder, die Mitarbeiter ohne Führungsfunktionen und die Führungsspitze. Für die Konsensusbildung im Sinne der genossenschaftlichen Zielsetzung sind insbesondere die Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitglieder entscheidend. Insofern kommt dem Ausmaß der Mitgliederintegration eine für die Genossenschaften konstitutive Bedeutung zu. Grundlage jedes Genossenschaftsverbandes ist die Aktivierung eines gemeinsamen zweckgerichteten Interesses, das den Zusammenschluß der Mit-

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gliederwirtschaften herbeifilhrt. Dieses Interesse hängt in seiner Stärke und Ausprägung davon ab, wie weit die Notwendigkeit solidarischer Selbsthilfe erkannt wird und ihre Auswirkungen dem einzelnen Mitglied sichtbaren Nutzen bringen. Indikator dieser relativen Aktivierung ist das Ausmaß der Genossenschaftstreue beim einzelnen Mitglied. Zur Erreichung des Genossenschaftsziels ist nun die rein funktionale Koordination der Verhaltensweisen der Mitglieder erforderlich. Dies äußert sich in der Art und Weise der Geschäftstätigkeit. Indikator hierfilr ist das Ausmaß, in dem das einzelne Mitglied seine Genossenschaft tatsächlich in Anspruch nimmt. Hierzu sind ständige, koordinierende Kontakte unerläßlich. Diese Voraussetzung ist in modernen Großgenossenschaften allerdings nicht unproblematisch. Das hängt mit der fortschreitenden Funktionsdifferenzierung und der filr das einzelne Mitglied dadurch gegebenen Unübersichtlichkeit der Genossenschaftsaktivitäten zusammen. Zusätzlich zu den filr jede Unternehmung geltenden Kommunikationsproblemen besteht also in einer Genossenschaft noch die Aufgabe der bewußten Kontaktpflege mit und unter den Mitgliedern (Dülfer 1984). Hierbei tritt auch die Frage auf, inwieweit sich "Genossenschaftsdemokratie" im Rahmen einer Großorganisation mit dem Erfordernis der Marktanpassung realisieren und organisieren läßt. Hierzu liegen verschiedene empirische Untersuchungen vor (Ostergaard und Halsey 1965). Erst wenn eine Aktivierung und Koordinierung der Verhaltensweisen der Mitglieder erfolgt ist, bestehen die Voraussetzungen filr die allmähliche Herausbildung eines "Genossenschaftsbewußtseins". Dieser Umstand wurde häufig insbesondere von einer idealistisch geprägten Genossenschaftstheorie nicht hinreichend berücksichtigt. Genossenschaftsidee und Genossenschaftsbewußtsein erschienen als a prioris und nicht als Ergebnisse sozialer Interaktionen. In modernen Wirtschaftsgenossenschaften läßt sich eher der umgekehrte Sachverhalt feststellen: daß die Anreicherung der Genossenschaft mit übergeordneten ideellen Zielsetzungen zwar möglich ist, filr den funktionalen Bestand der Genossenschaft aber nicht eine unabdingbare Voraussetzung bildet (vgl hierzu Münkner 1990). Da aber das Konsensuspotential der Mitglieder filr eine effiziente Genossenschaftspraxis ausschlaggebend ist, hat seine Fundierung in einem Genossenschaftsbewußtsein außerordentliche Bedeutung. Hierin liegt auch der Grund filr die vielfältigen Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen im Genossenschaftssektor, die auf die Teilidentifikation des Mitglieds mit seiner Genossenschaft abzielen. Den Ergebnissen der Sozialisationsforschung insbesondere im Hinblick auf Erwachsene entsprechend ist allerdings auf folgendes hinzuweisen: Die soziale Verbundenheit eines Mitglieds mit seiner Genossenschaft

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hängt nicht nur von der Aufklärung über ökonomische Zweckmäßigkeiten ab, die sich mit der Marktlage verändern. Sie wird auch geprägt durch die Art und Weise, in der die Genossenschaftsfunktionäre die Grundsituation des Mitglieds interpretieren und hierbei auf dessen Lebensinteressen Rücksicht nehmen. Die Genossenschaft als ein intentionaler, vom Mitgliederkonsensus abhängiger Verband ist nicht Selbstzweck, sondern dient der Bewahrung oder Verbesserung von Lebenslagen in spezifischer sozialkultureller Ausprägung. Dies wird besonders deutlich im Bereich der "mittelständischen" Genossenschaften, in denen noch viele Verhaltensmuster des selbständigen Bauerntums, Handwerks und Kleinhandels fortwirken. Insofern wird gerade der Genossenschaftsverband in erheblichem Maße von der Mentalität und dem Bewußtsein der Mitglieder geprägt. Folgende Strukturprobleme scheinen charakteristisch fiir diesen Bereich zu sein: I. Die Ökonomisierung der Mitgliederinteressen bei teilweise geringer Konstanz und daraus resultierend ein kurzfristiger Erfolgszwang fiir ihre Repräsentanten; 2. die Oligarchisierung der Willensbildung und damit einhergehend der wachsende Einfluß hauptberuflich tätiger Experten; 3. mit fortschreitender Bürokratisierung der Konsensusbildung ein Wandel der Genossenschaftsstruktur zu Lasten ihres Verbandsaspekts und zugunsten ihres Unternehmens-, (Betriebs-) aspekts. Obwohl die Sozialstruktur der Mitglieder und ihrer Interessen immer noch entscheidende Bedeutung fiir die Zielstruktur des modernen Genossenschaftsverbandes und dementsprechend auch fiir die mittel- und längerfristige Festlegung der Führungsstrategien besitzt, wird das aktuelle Genossenschaftshandeln überwiegend von den Erfordernissen der marktwirtschaftlich integrierten Betriebsstruktur bedingt. Die Sozialstruktur des Genossenschaftsbetriebs

Die genossenschaftliche Leistungsorganisation im Sinne einer planmäßigen Zusammenfassung von Arbeitsmitteln und Arbeitskräften kann nicht allein nach technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten dargestellt werden. Ihre Sozialstruktur als Ergebnis der Merkmale und Verhaltensweisen der Mitarbeiter gewinnt zunehmend auch Bedeutung als eigenständiger Faktor bei der Organisationsentwicklung. Das soziale Handlungsfeld des Genossenschaftsbetriebs wird durch folgende drei Grundaspekte strukturiert (vgl. Schaubild 1):

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1. eine mehr oder weniger differenzierte und integrierte Zielstruktur, die das jeweilige Ausmaß des Konsensus der verschiedenen Interessenlagen widerspiegelt; 2. die organisatorische Rahmenordnung durch Festlegung der horizontalen Spezialisierung (Funktionsbildung), der vertikalen Spezialisierung (Vollmachtenteilung), der Verhaltensnormierung und schließlich der Festlegung von Kommunikationswegen; 3. das Netzwerk sozialer Gruppierungen, wobei zwischen arbeits-und rangorientierten Gruppierungen, betrieblichen Interessenvertretungen sowie relativ spontanen, vom Betriebszweck gelösten Gruppierungen zu unterscheiden ist

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