Zur Psychologie des produktiven Denkens [1. Aufl.] 978-3-540-03487-2;978-3-642-88750-5

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German Pages VII, 135 [143] Year 1974

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Zur Psychologie des produktiven Denkens [1. Aufl.]
 978-3-540-03487-2;978-3-642-88750-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen (I) (Karl Duncker)....Pages 1-21
Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen (II) (Karl Duncker)....Pages 21-37
Über Lösungsprozesse bei mathematischen Problemen (Karl Duncker)....Pages 37-55
Über totale Einsicht bzw. Evidenz (Karl Duncker)....Pages 55-74
Über Lernen und partielle Einsicht (Karl Duncker)....Pages 74-89
Über Findung durch Resonanz (Karl Duncker)....Pages 89-102
Über funktionale Gebundenheit dinglicher Lösungsgegenstände (Karl Duncker)....Pages 102-123
Über funktionale Gebundenheit mathematischer Lösungselemente (zum Problem der „mathematischen Begabung“) (Karl Duncker)....Pages 123-135

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Karl Duncker

Zur Psychologie des

produktiven Denkens Dritter Neudruck

Mit 27 Abbildungen

Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1974

Unveränderter Neudruck der im Verlag Julius Springer, Berlin 1935 erschienenen ersten Auflage

ISBN 978-3-642-88751-2 ISBN 978-3-642-88750-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-88750-5 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus aufphotomechanischem Wege (Photokopie,Mikrokopie) zu vervielfaltigen Copyright 1935 by J ulius Springer in Berlin © by Springer-Verlag oHG. Berlin · Göttingen · Heidelberg 1963

© by Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1966, 1974 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1974. Softcoverreprint ofthe bardeover 3rd edition 1974 Library of Congress Catalog Card Number 35-35396

Vorwort. Das produktive Denken dort zu studieren, wo - weithin kenntlich produktiv gedacht wurde, ist gewiß verlockend, und ohne Zweifel könnten aus biographischem Material wichtige Aufschlüsse über die Genese produktiver Gedanken gewonnen werden. Aber obschon das Gewitter das erhabenste Beispiel elektrischer Entladung ist, zur Erforschung ihrer Gesetzmäßigkeiten sind die kleinen Funken im Laboratorium tauglicher. Das Komplizierte, schwer Zugängliche an einfachen, "handlichen" Formen zu studieren, ist die Methode der experimentellen Wissenschaft; bei dieser Vereinfachung gerade das Wesentliche draußen zu lassen, ihre notorische Gefahr. Die experimentelle Psychologie ist dieser Gefahr vor allen anderen Wissenschaften ausgesetzt. Möge es mir gelungen sein, den Gegenstand zu vereinfachen, ohne ihn versimpelnd zu entstellen. Die Gebietsbeschränkung des Untersuchungsmaterials auf praktischtechnische und mathematische Denkaufgaben ist mir durchaus bewußt. Auch sie geschah aus Gründen leichterer Zugänglichkeit, Experimentierbarkeit. Ich glaube jedoch - und der Leser dürfte (nach der Lektüre) hierin mit mir einig sein -, daß wesentliche Züge der Lösungsfindung vom speziellen Denkmaterial unabhängig sind. Aber noch für eine andere Beschränkung bin ich dem Leser Rechenschaft schuldig. Es wurde bei den denkpsychologischen Analysen bewußt abgesehen von allen Sachverhalten, die für das Problem des Findens, des 8V[!ÜJK8tV, nicht unmittelbare Bedeutung haben - mögen sie auch noch so wesentlich zum vollen psychologischen Bestand eines Findungsprozesses gehören. Nach den Ergebnissen der modernen Bedürfnis- und Affektpsychologie liegt jeder zu eigen gemachten Denkaufgabe - sozusagen als Energiequelle - ein "bedürfnisartiges Spannungssystem" (LEWIN) zugrunde, welches im Fortgang des Lösungsgeschehens allerlei Wandlungen durchmacht, bis es - womöglich - in einer endgültigen Lösung seine völlige Entspannung findet. Die Schicksale dieses Spannungssystems, wie sie sich z. B. dokumentieren in steigendem bzw. sinkendem Interesse, in Erfolgs- und Mißerfolgserlebnissen, in Abschweifungen, Ersatzhandlungen, Resignation und Ärger oder in Leistungsstolz und erhöhtem Anspruch - diese und ähnliche Momente des Lösungsgeschehens sind in den nachfolgenden Analysen mit einer gewissen brutalen Konsequenz unberückt:~ichtigt geblieben. Denn sie sind irrelevant für die spezifischen

Vorwort.

IV

Fragen des Findens (auf welche Weise eine sinnvolle Lösung überhaupt gefunden werden kann), und außerdem gibt es über diese Dinge eine Reihe vorzüglicher Arbeiten, während das Problem des Findens in der modernen Psychologie nur sehr spärlich bedacht worden ist. Obgleich alles, was in der vorliegenden Arbeit behandelt wird, sozusagen unter dem Kommando des Problems der Findung steht, läßt sich doch manches mit Gewinn auch von ganz anderen Problemzusammenhängen her betrachten. Es sind vor allem die in denKapitelniV und V enthaltenen Ausführungen über Einsicht und Evidenz, die derart eine gewisse theoretische Selbständigkeit für sich beanspruchen möchten. Es handelt sich hier um einen Versuch, das alte erkenntnistheoretische Problem, wie ein Erkennen "sachlicher Notwendigkeiten" möglich sei, von einem neuen Ansatz her - teilweise - zu lösen. Diese Erörterungen schließen sich an eine Problementwicklung an, die durch die Namen HuME, KANT, HussERL und WERTREIMER einigermaßen gekennzeichnet ist. Der Abraham-Lineoln-Stiftung (U.S.A.) möchte ich an dieser Stelle meinen Dank dafür aussprechen, daß sie mir durch Gewährung eines Forschungsstipendiums im Jahre 1929 dw Durchführung umfassender Studien zum Problem der mathematischen Begabung ermöglichte, wovon hier einiges in Kapitel III sowie vor allem in Kapitel VIII zur Veröffentlichung gdangt. Das vorliegende Buch ist meinen Lehrern WoLFGANG KöHLER und MAx WERTREIMER in Verehrung gewidmet.

Berlin, im l!'ebruar 1935. KARL

DuNCKER.

Inhaltsverzeichnis.

Erster Teil.

Struktur und Dynamik von Lösungsprozessen. Kap. I. Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen (I)

Seite

1

Einleitung und Fragestellung . . . . . . Versuchsverfahren . . . . . . . . . . . Ein Protokoll der "Bestrahlungs"aufgabe Nichtpraktikable "Lösungen" Gruppierung der Lösungsvorschläge . . . Funktionalwert und Verstehen . . . . . Sinnlose Fehler als Symptom mangelnden Verständnisses Der Lösungsprozeß als Entwicklung des Problems Unselbständige Lösungsphasen . Unzulänglichkeit eines Protokolls . . . . . "Anregung von unten" . . . . . . . . . Lernen aus Fehlern (korrigierende Phaseu) Zwei Lösungsstammbäume . . . . . . . . Auseinandersetzung mit N. R. F. MAlER . .

1 2 2 3 4 5 7 9 11 12 13 14 16 19

Kap. II. Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen (li)

21

1. Assoziationstheorie der Lösungsfindung . . . . . . . . . . 2. Lösungsfindung auf Grund der Resonanzwirkung eines "Signalements" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heuristische Methoden des Denkens: Situationsanalyse als Konfliktanalyse . . . . . . . . . 4. Situationsanalyse als Materialanalyse . . . . . . . 5. Zielanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Disponibilität (Lockerheit) von Situationsmomenten 7. Bedingungen der Disponibilität von Situationsmomenten 8. Über par-force-Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . 9. Umstrukturierung des Denkmaterials . . . . . . . . .

21

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Kap. 111. Über Lösungsprozesse bei mathematischen Problemen . . . . . . . . . . . . . . . Die "13"-Aufgabe Versuche mit verschiedenen Hilfen . . . . . . . . . Die eigentliche Schwierigkeit bei der "13"-Aufgabc Erleichterung einer Umstrukturierung durch taugliche Präzisierung der Forderung . . . . . . . . . . . . . . 5. Die "Höhen"-Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . 6. Massenversuch mit der "Höhen" -Aufgabe . . . . . . . . . 7. Über Vielseitigkeit und Umstrukturierbarkeit des Denkmaterials

1. 2. 3. 4.

21 24 25 27 28 31 33 34 37 37 39 41 43 44 46 46

VI

Inhaltsverzeichnis.

8. Explizierungsarbeit bis zum "Einschnappen" des entscheidenden Grund-Folge-Sachverhalts . . . . . . . . . . . 9. "Die Figur erinnert an ... " . . . . . . . . . . . 10. Ziel- und Situationsanalyse als Behauptungs- bzw. Voraussetzungsexplikation 11. Didaktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . .

Seite

48 50 52 54

Zweiter Teil.

Einsicht, Lernen und einfaches Finden. Kap. IV. Über totale Einsicht bzw. Evidenz

.....

1. Das Erfassen von Grund-Folge-Beziehungen als Voraussetzung der Problemlösung. . . . . . . . . . . . . 2. Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Über analytische tmd synthetische Ablesbarkeit 4. Auseinandersetzung mit der modernen Axiomatik 5. Wie ist synthetische Einsicht möglich ? . . . . . 6. Gestalttheoretische Deutung der synthetischen Einsicht 7. Über Allgemeingültigkeit und Zuverlässigkeit einer synthetischen Ablesung . . . . . . . . . ........... . 8. Über synthetische Ablesung aus vorgefundenen (nicht konstruierten) Fundamenten . . . . . . . . . . 9. Noch einige Beispiele synthetischer Ablesbarkeit 10. Anwendung auf die Psychologie des Verstehans und Findens von Lösungen . . . . .

Kap. V. Über Lernen und partielle Einsicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Empirische Zusammenhangsstrukturen Das Lernen von Zusammenhangsstrukturen Sehr allgemeine Zusammenhangsstrukturen Über phänomenale Kausalität, a) raumzeitliche Koinzidenz Über phänomenale Kausalität, b) Form- und Materialentsprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partielle Uneinsichtlichkeit natürlicher Kausalität Stockversuche mit Kleinkindern Lösungen im Anschluß an das "instinktive" Repertoire . Einsichtliche Lösungen und Erfahrung Zur Bereinigung des "Erfahrungs~'begriffs

Kap. VI. Über Findung durch Resonanz 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Fragestellung und Beispiele Ergänzendes zum Begriff der Resonanz Diskussion einiger Versuche . . . . . Strukturale Kombination . . . . . Transformierung in konkrete Suchmodelle "Prägnanz" eines Signalements Über Suchbereiche . . . . . Topische Antizipation . . . . Reproduktion ui:td "Miterregung" Partielle Reproduktion

55

55 56 57

60 62

63 66 67

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77

78 80 82 83 85

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89 89

92 93 94 94 95

96 98 99

101

Inhaltsverzeichnis.

VII

Dritter Teil.

Gebundenheit des Denkmaterials. Kap. VII. Über funktionale Gebundenheit dinglicher Lösungs. . . . . gegenstände . . . . 1. Problemstellung. Der Begriff der heterogenen funktionalen Gebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Versuchs- und Auswertungsverfahren und die Aufgaben 3. Hauptversuche und Hauptergebnis . . . . . . . . . . . 4. Über "situationsrelevante" Gebundenheit und "Fühlung" 5. Korrelation quantitativer und qualitativer Befunde . . . 6. Analyse der die Umzentrierung erschwerenden Faktoren 7. Versuche über Aktualität von F1 . . . . . . . . . . 8. Versuche mit prägnanterem Signalement . . . . . . . 9. Prägnantes Signalement und situationsrelevante Gebundenheit 10. Über homogene Gebundenheit und Übertragung . . . . . . 11. Der dynamische Sinn heterogener funktionaler Gebundenheit

Seite

1 02 102 103 105 107 108 110 115 117 119 120 121

Kap. VIII. Über funktionale Gebundenheit mathematischer Lösungselemente (zum Problem der "mathematischen Begabung") 123 1. Über Umstrukturierung mathematischer Sachverhalte . . . . 123 2. Das Finden eines Beweises als relativ anschauungsabstraktes Wiedererkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Aufzeigung der "anschaulichen" Eigenschaften mathematischer 126 Gegenstände, die das Wiedererkennen erschweren 128 4. Fortsetzung (zweites Beispiel) 129 5. Fortset'lung (drittes Beispiel) . . . . . . . 131 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . 132 7. Die heuristische Funktion der Anschauung 132 8. Umstrukturierung und Forderungsprägnanz 9. Diskussion zweierHypothesenüber die psychologische Ursache des Umstrukturierungsdefekts . . . . . . . . . . . . . 133

Erster Teil.

Struktur und Dynamik von Lösungsprozessen. Kapitel I.

tJber Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen (1).

§ I. Einleitung und Fragestellung. Ein "Problem" entsteht z. B. dann, wenn ein Lebewesen ein Ziel hat und nicht "weiß", wie es dieses Ziel erreichen soll. Wo immer der gegebene Zustand sich nicht durch bloßes Handeln (Ausführen selbstverständlicher Operationen) in den erstrebten Zustand übedühren läßt, wird das Denken auf den Plan gerufen. Ihm liegt es ob, ein vermittelndes Handeln allererst zu konzipieren. Die "Lösung" eines solchen praktischen Problems hat somit zwei Forderungen zu genügen: ihre Verwirklichung (Umsetzung in die Praxis) muß erstens die Verwirklichung des erstrebten Zustandes zur Folge haben und zweitens vom gegebenen Zustand aus durch "bloßes Handeln" erreichbar sein. -Dasjenige praktische Problem, an dem ich die Lösungsfindung experimentell am eingehendsten studierte, lautet: gesucht ein Vedahren, um einen Menschen von einer inoperablen Magengeschwulst zu befreien mit Hilfe von Strahlen, die bei genügender Intensität organisches Gewebe zerstören - unter Vermeidung einer Mitzerstörung der umliegenden gesunden Körperpartien. Verwandt mit solchen praktischen Problemen, in denen gefragt wird: "wie erreiche ich?" sind gewisse theoretische Probleme, in denen es darum geht: "wie, woraus sehe ich ein?" Entstand dort die Problemsituation dadurch, daß ein Ziel keinen direkten Anschluß an die vorhandene Wirklichkeit fand, so entsteht sie hier - im theoretischen Problem - dadurch, daß eine Behauptung oder Vermutung (oder auch Feststellung) keinen direkten Anschluß an die gegebenen Voraussetzungen findet. Als Beispiel diene auch hier wieder dasjenige Problem, womit ich - auf diesem Gebiet - am ausführlichsten experimentierte: gesucht eine Begründung dafür, daß alle sechsstelligen Zahlen vom Typus abcabc, z. B. 276276 durch 13 teilbar sind. Beiden Arten von Problemen ist gemeinsam, daß nach dem fehlenden Grund einer vorgegebenen (gedanklich vorweggenommenen) Folge gesucht wird, im praktischen Problem nach dem Realgrund, im theoretischen nach dem logischen Grund 1. 1 Andere Arten von theoretischen Problemen wie z. B. "was ist das Wesen bzw. das Gesetz von?" oder "wie verhalten Rich zueinander?" usw. wurden hier nicht untersucht.

Duncker, Psychologie des produktiven Denkens.

2

Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

In der vorliegenden Arbeit wird gefragt, wie aus der Problemsituation die Lösung hervorgeht, was es für Wege zur Lösung eines Problems gibt ?

§ 2. Versuchsverfahren. Die Experimente gingen so vor sich: den Versuchspersonen (Vpn) - im allgemeinen waren es Studenten oder Gymnasiasten - wurden allerlei Denkaufgaben gestellt mit der Bitte, laut zu denken. Diese Instruktion "laut denken" ist nicht identisch mit der bei Denkexperimenten sonst üblichen Aufforderung zur Selbstbeobachtung. Während der Selbstbeobachtende sich selbst als Denkenden zum Gegenstand macht, also - der Intention nach - verschieden vom denkenden Subjekt ist, bleibt der laut Denkende unmittelbar auf die Sache gerichtet, läßt sie nur gleichsam "zu Worte kommen". Wenn jemand beim Nachdenken unwillkürlich vor sich hin spricht "da müßte man doch einmal zusehen, ob nicht .... " oder "es wäre schön, wenn man zeigen könnte, daß .... ", so wird man das nicht "Selbstbeobachtung" nennen wollen; und doch zeichnet sich in solchen Äußerungen das ab, was wir weiter unten als "Entwicklung des Problems" kennen lernen werden. - Die Versuchsperson (Vp) wurde nachdrücklich ermahnt, keine noch so flüchtigen oder törichten Einfälle unverlautbart zu lassen. Wo sie nicht hinreichend orientiert zu sein glaube, dürfe sie ruhig Fragen an den Versuchsleiter (VI) richten. Doch seien an und für eich zur Lösung der Aufgaben keine speziellen Vorkenntnisse nötig. § 3. Ein Protokoll der "Bestrahlungs"aufgabe. Beginnen wir mit der "Bestrahlungs"aufgabe (S. 1). Gewöhnlich wurde dieser Aufgabe die in Abb. 1 abgebildete schematische Skizze beigegeben. So etwa habe sich's jemand im allerersten Abb. 1. Moment vorgestellt (Querschnitt dur~h den Körper, in der Mitte die Geschwulst, links der Strahlenapparat). Aber so ginge es ja offenbar nicht. Aus den mir vorliegenden Protokollen wähle ich das eines Lösungsprozesses, der an typischen Einfällen besonders reich, dafür aber auch besonders lang und umständlich war. (Der durchschnittliche Prozeß verlief weniger unstet und konnte erheblich mehr sich selbst überlassen bleiben 1 .) Protokoll: 1. Strahlen durch die Speiseröhre schicken. 2. Die gesunden Gewebe durch chemische Einspritztmg liDempfindlich machen. 3. Freilegen der Geschwulst durch Operation. 1 Vgl. die einschlägigen Protokolle in meiner früheren (übrigens theoretisch noch sehr unentwickelten) Arbeit "A qualitative study of productive thinking", The Pedagogical Seminary, Vol. 33, 1926.

3

Nichtpraktikable "Lösungen".

4. Man müßte die Strahlenintensität unterwegs herabsetzen, z. B. ginge das ? - die Strahlen erst dann voll einschalten, wenn die Geschwulst erreicht ist (VI: falsches Modell, ist doch keine Spritze). 5. Etwas Unorganisches (Strahlenundurchlässiges) zu sich nehmen zum Schutz der gesunden Magenwände (VI: es sind nicht bloß die Magenwände zu schützen). 6. Entweder miissen doch die Strahlen in den Körper hinein oder aber die Geschwulst muß heraus. - Man könnte vielleicht den Ort der Geschwulst ändern, aber wie? Durch Druck? Nein. 7. Eine Kanüle einsetzen. - (Vl: Was tut man denn ganz allgemein, wenn man mit irgend einem Agens an einer bestimmten Stelle einen Effekt erzielen will, den man auf dem Weg bis zu jener Stelle vermeiden möchte?) 8. (Antwort): Man neutralisiert unterwegs. Das habe ich aber schon die ganze Zeit versucht. 9. Die Geschwulst nach außen bewegen (vgl. 6). (Der Vl wiederholt die Aufgabe und betont "bei genügend großer Intensität".) 10. Die Intensität müßte verändert werden können (vgl. 4). 11. Abhärtung des gesunden Körpers durch vorausgehende schwache Bestrahlung. (Vl: vVie ließe sich erreichen, daß die Strahlen nm das Gebiet der Geschwulst zerstören?) 12. (Antwort): Sehe eben nur zwei Möglichkeiten: entweder den Körper schützen oder die Strahlen unschädlich machen. (VI: Wie könnte man die Intensität unterwegs herabsetzen? [Vgl. 4]). 13. (Antwort): Irgendwie ablenken - diffuse Strahlung - zerstreuen halt: ein breites und schwaches Strahlenbündel so durch eine Linse schicken, daß die Geschwulst in den Brennpunkt und also unter intensive Bestrahlung fällt 1 • (Gesamtdauer etwa 1 / 2 Stunde.)

§ 4. Nichtpraktikable "Lösungen". Aus dem mitgeteilten Protokoll ist zunächst einmal folgendes zu ersehen: der ganze Prozeß, wie er von der ursprünglichen Problemstellung zur endgültigen Lösung führt, stellt sich dar als eine Reihe mehr oder weniger konkreter Lösungsvorschläge. Praktikabel (wenigstens dem Prinzip nach) ist allerdings nur der letzte. Alle vorausgehenden werden dem Problem in irgendeiner Hinsicht nicht gerecht, weswegen der Lösungsprozeß bei ihnen nicht halt machen kann. Sie mögen nun aber noch so primitiv sein, das eine ist sicher, von sinnlosen, blinden "Probierreaktionen" kann dabei keine Rede sein. Nehmen wir z. B. den ersten Vorschlag: "die Strahlen durch die Speiseröhre schicken". Der Sinn dieses Vorschlags ist klar. Die Strahlen sollen über einen gewebefreien Weg in den Magen geleitet werden. Nur liegt dem Vorschlag offensichtlich ein unzutreffendes Modell der Situation zu. grunde (als ob die St.rahlen eine Art Flüssigkeit wären, als ob die Speise1 Dieser Vorschlag ist eng verwandt mit der "besten" Lösung: Kreuzung mehrerer schwacher Strahlenbündel in der Geschwulst, so daß nur hier die zur Zerstörung nötige Strahlenintensität erreicht wird. - Daß übrigens die in Frage kommenden Strahlen nicht durch gewöhnliche "Linsen" ge. brochen werden, ist ebenso wahr wie für uns (denkpsychologisch) belanglos. Vgl. u. § 4.

1*

4

Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

röhre einen gradlinigen Zugang zum Magen darstellte usw.). Jedoch innerhalb dieses gewissermaßen versimpelten Situationsmodells wäre der Vorschlag eine wirkliche Erfüllung der Aufgabeforderung. Er ist also in der Tat die Lösung eines Problems, nur freilich nicht des faktisch gestellten. -Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Vorschlägen. Der zweite setzt voraus, es gäbe ein - z. B. chemisches - Mittel, organische Gewebe für die Strahlen unempfindlich zu machen. Gäbe es so f!twas, dann wäre alles in Ordnung und der Lösungsprozeß schon hier zu Ende. Auch der vierte Vorschlag (die Strahlen erst voll einschalten, wenn die Geschwulst erreicht ist), zeigt sehr deutlich seine Abkunft von einem falschen Modell, etwa dem einer Spritze, die erst nach Einführung in das Injektionsobjekt in Tätigkeit gesetzt wird. Der sechste Vorschlag schließlich behandelt den Körper gar zu sehr nach Analogie eines Gummiballs, der sich ohne Schaden deformieren läßt. - Kurz, man sieht, solche Vorschläge sind alles andere als völlig sinnlose Einfälle. Nur in der faktisch vorliegenden Situation scheitern sie an gewissen vorher noch nicht bekannten bzw. beachteten Situationsmomenten. -Manchmal ist es nicht so sehr die Situation wie die Forderung, auf deren Entstellung, Versimpelung die praktische Untauglichkeit eines Vorschlags beruht. Beim dritten Vorschlag z. B. ("Freilegung der Geschwulst durch Operation") scheint dem Denkenden abhanden gekommen zu sein, wozu die Strahlentherapie eigentlich eingeführt wurde. Eine Operation sollte ja gerade vermieden werden. Ähnlich wird im fünften Vorschlag vergessen, daß ja nicht nur die gesunden Magenwände, sondern der ganze von den Strahlen durchquerte gesunde Körper zu schützen ist. Hier dürfte eine prinzipielle Bemerkung am Platze sein. Den nach der Lösungsentstehung und nicht nach dem Wissensschatz fragenden Psychologen interessiert nicht primär, ob ein Lösungsvorschlag tatsächlich praktikabel ist, sondern nur, ob er formal, d. h. im Rahmen der gegebenen Voraussetzungen des Denkenden "praktikabel" ist. Wenn ein Ingenieur bei einem Entwurf mit falschen Formeln oder mit nichtexistenten Materialien rechnet, so kann dieser Entwurf dennoch ebenso klug aus seinen falschen Voraussetzungen hervorgehen wie ein anderer aus seinen richtigen. Er kann ihm "denkpsychologisch äquivalent" sein. Kurz, es kommt uns darauf an, wie ein Lösungsvorschlag aus dem System seiner subjektiven Voraussetzungen hervorgeht und diesem gerecht wi.rd. § 5. Gruppierung der Lösungsvorschläge. Vergleicht man die verschiedenen im Protokoll vorhandenen Lösungsvo~schläge miteinander, so heben sich zwanglos gewisse Gruppen engerer Verwandtschaft voneinander ab. Offenbar haben die Vorschläge 1, 3, 5, 6, 7 und 9 dieses miteinander gemein, daß in ihnen allen der Versuch gemacht wird, einen Kontakt zwischen Strahlen und gesundem Gewebe zu vermeiden. Das

5

Funktionalwert und Verstehen.

wird nun auf recht verschiedene Weisen erreicht, in 1 durch Umleitung der Strahlen über einen von Natur gewebefreien Weg, in 3 durch operative Entfernung der gesunden Gewebe aus der ursprünglichen Strahlenbahn, in 5 durch Zwischenschalt ung einer Schutzwand (was unausgesproche n wohl bereits in 1 und 3 mitgemeint war), in 6 durch Nach-außenVerlagerung der Geschwulst, in 7 schließlich durch eine Kombination von 3 und 5. - Ganz anders wird das Problem in den Vorschlägen 2 und 11 angepackt. Hier soll die Mitzerstörung gesunder Gewebe durch Unempfindlichmachung (Immunisierung ) dieser Gewebe -:;f verhindert werden. - Eine dritte Methode n" Weg zu ihnen gibt, wird in Kap. IV zu zeigen sein.

26

Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

Signal einen Fluß hinunterschicken" wurde eine Vp durch das unaufhaltsam überall hindurchschlüpfende Wasser auf die Lösung "Färbung des Wassers" gebracht. - Oder: bei der Herstellung des Versuchsmaterials für einen der Massenversuche mit der Bestrahlungsaufgabe fiel die Ellipse ziemlich schmal aus. Das hatte zur Folge, daß von den 43 Teilnehmern dieses Massenversuchs 7 den Vorschlag machten, die Strahlen auf dem kürzesten Weg (d. h. statt in der Richtung der langen in der der kurzen Ellipsenachse) zu schicken ein Vorschlag, dem ich sonst nie beg-egnete. Offenbar hatte sich die kurze Achse als tauglicher Weg aufgedrängt. Einmal gab ich einer Gruppe von 3 Vpn zur Bestrahlungsaufgabe eine Skizze, die an nebensächlicher Stelle eine Linse tmd eine Kondensiernng der Strahlen enthielt (vgl. Abb. 6), als sei das Senderohr zufällig zu groß und eine Sammellinse erforderlich, um das Strahlenbündel auf einen geringeren Querschnitt zu bringen 1 . 5 anderen Vpn gab ich (zum Vergleich) die gewöhnliche Skizze. - Das Ergebnis war: 3 VQn den 5 Vpn der "Linsen"-Gruppe zogen die Linse zur Lösung heran, wän'i-end niemand aus der Vergleichsgruppe auf die Linsenlösung verfiel, und ja auch nach meinen sonstigen Erfahrungen nicht 5, sondern 75 V pn dazu gehörten, um (ohne Linsenhilfe) 3 "Linsenlösungen" zuwege zu bringen. Die Linse und die Strahlenkondensierung regten also zu ihrer sinngemäßen Verwendung an. Ganz Analoges, nämlich die Einbeziehung expliziter Situationkomponenten in das Lösungsgeschehen, ergab ein Versuch, in welchem 12 Vpn eine Skizze Abb. 6. bekamen, die außer dem zerstörenden Strahlenbündel noch ein (lotrecht dazu einfallendes) Bündel von Röntgenstrahlen enthielt ("zur Feststellung von Lage und Zustand der Geschwulst"). 12 andere Vpn, denen die gewöhnliche Skizze mitgegeben wurde, bildeten die Vergleichsgruppe. - 6 von den 12 Vpn der "Röntgen"-Gruppe gerieten auf Lösungen, die noch von "anderen" Strahlen (z. T. auch ausdrücklich von Röntgenstrahlen) Gebrauch machten ("zur Aufhebung der schädlichen Strahlenwirkung" u. dgl.), während nur 3 von den 12 Vergleichs-Vpn auf solche Weise verfuhren 2 • Wir wollen den Tatbestand der Aufgreifung und Verwertung von Situationseigenschaften noch an einem ganz anderen Aufgabenmaterial illustrieren. Die Aufgabe, die - in realer Situation - bereits N. R. F. MAlER verwendet hat, lautet: "In einem großen Zimmer hängen in beträchtlicher Entfernung voneinander zwei Stricke von der Decke herab. Der eine trägt an seinem freien Ende einen kleinen Ring, der andere einen kleinen Haken. - Ein Mensch bekommt die Aufgabe, die beiden Strickenden anVgl. o. S. 3, Fußnote 1 bezüglich "Linse". Übrigens wurde von den 12 Vpn der "Röntgen"-Gruppe (und ebenso von 4 anderen (Einzel)-Vpn, denen die Strahlenaufgabe an Hand der Röntgenskizze gestellt wurde) keine einzige zu der Lösung "Kreuzung schwacher Strahlenbündel" angeregt (zu welchem Zweck die kreuzenden Röntgenstrahlen beigegeben worden waren). Dies muß zunächst überraschen, da wir doch eben sahen, wie gründlich so ein Modell nach Lösungsmitteln "ausgeplündert" zu werden pflegt. Der Grund ist wahrscheinlich der, daß den Röntgenstrahlen die Verschiedenheit ihrer ursprünglichen Funktion von der der Hauptstrahlen zu fest aufgeprägt ist (vgl. den Begriff der "sytemimmanenten Funktionsverschiebung" in Kap. VII u. VIII). 1

2

Zielanalyse.

27

einander LU befestigen, aber so olme weiteres geht das nicht. Denn das Problem ist ja gerade: wie bekommt er die Strickenden überhaupt erst einmal beide in die Hände ? (Die Stricke hängen so unangenehm weit auseinander.) Typische Lösungen dieser simplen Aufgabe sind: 1. Er geht mit dem einen Strick bis zur Mitte, bindet ilm hier an einen Stuhl oder dgl. fest und holt sich den anderen; 2. er nimmt sich einen langen Stock und angelt den anderen Strick heran; 3. er bindet an den einen Strick einen Faden und kann so den anderen ergreifen, olme den ersten fahren zu lassen; 4. er versetzt einen Strick (resp. beide) in Schwingung und fängt ilm beim Anschwtmg auf (bzw. er schwingt sich selber an dem einen Strick hinüber -zum anderen); 5. er besteigt eine Leiter, weil ein Strickende in der Gegend der Zimmerdecke dem anderen Strick am nächsten kommt. Wenn man die obige Aufgabe verschiedenen Personen zu lösen gibt, so geschieht es, daß einige von einem Vorstellungsmodell wie in Abb. 7a ausgehen, andere wieder von einem Vorstellungsmodell wie in Abb. 7 b oder

1 /

1 a

b

IV c

Abb. 7.

wie in Abb. 7 c. - Wir verteilten nun diese drei Modelle auf 3 Gruppen von Vpn als "Ausgangsmodelle" und wollten sehen, ob durch solche Modellbesonderheiten ein merklicher Einfluß auf die Lösungsrichtung ausgeübt wird. Dabei ergab sich, daß die Lösung 1 - die "Verankerungs"methodebei 12 von 18 Vpn mit Modell 7a auftrat, also in 66% der einschlägigen Protokolle, - dagegen nur bei 1 von 7 Vpn mit Modell 7 b und nur bei 4 von 13 Vpn mit Modell 7 c, also hier zusammen nur in 25% der Protokolle. Offensichtlich regt das Modell 1 am unmittelbarsten zur Verankerung des einen Stricks an ("wenn der hier bliebe, dann .... "). Schöne Versuchsergebnisse über die Wirkung von Hilfen (von solchen, die schon vorhandenen "Richtungen" passendes Endmaterial liefern, sowie von solchen, die zu neuen Richtungen anregen) findet man in den bereits erwälmten Arbeiten N. R. F. MAlERS.

§ 5. Zielanalyse. Neben der Situationsanalyse in ihren beiden Formen als Konflikt- und Materialanalyse ist für einen echten Denkprozeß charakteristisch die Analyse des Ziels, des Geforderten, die Frage "was will ich eigentlich~" und etwa die ergänzende Frage "was kann ich entbehren~" Auf diese Weise kann einem bei der Bestrahlungsaufgabe z. B. klar werden, daß der einbündelige Verlauf der Strahlen, wie er im untauglichen Ausgangsmodell vorliegt, gar nicht gefordert, also entbehrlich ist. Analog kann so bei der Pendelaufgabe die normale Gestalt

28

Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

des Pendels als "entbehrlich" erkannt werden. Das Denken vermag sich durch die Frage, was eigentlich gefordert ist, von hinderlichen "Fixierungen" zu befreien. Eine ähnliche Rolle spielt die absichtliche Verallgemeinerung der Problemstellung, des Ziels, die Frage: "was macht man denn ganz allgemein, wenn man .... ?" Ich habe in der Bestrahlungsaufgabe manchmal, wenn eine Vp "den Wald vor Bäumen nicht mehr sah", diese heuristische Methode der Verallgemeinerung empfohlen mit den Worten:_"was tut man denn etwa ganz allgemein, wenn man mit irgendeinem Agens an einer bestimmten Stelle einen Effekt erzielen will, den man auf dem Wege bis zu jener Stelle vermeiden möchte?" Die Vp sagte dann zwar häufig: "das habe ich doch schon die ganze Zeit probiert" - und trotzdem half es ihr, gewissermaßen. als "Auflockerung" (Beseitigung von Fixierungen). Wir werden später bei der Diskussion mathematischer Problemlösungen (vgl. Kap. III) noch andere Formen der Situations- und vor allem der Zielanalyse kennen lernen. Einstweilen wollen wir die bisherigen Ergebnisse des vorliegenden Kapitels dahin zusammenfassen:

im echten Denkprozeß spielen eine entscheidende Rolle gewisse heuristische "Methoden", die das Entstehen der sukzessiven Lösungsphasen vermitteln. Diese heuristischen Methoden sind in den mitgeteilten Lösungsstammbäumen nicht angeführt. Sie stellen keine Lösungsphasen im Sinne der angeführten dar, sie sind keine "Eigenschaften" der gesuchten Lösung, sondern "Wege" zu solchen. Sie fragen: "wie finde ich die Lösung 1", nicht: "wie erreiche ich das Ziel1" 1 . Intelligente heuristische "Methoden" sind schon im primitivsten Tierversuch konstatierbar. So konnte THORNDIKE in seinen berühmten Experimenten an Katzen (vgl. oben S. 12) feststellen, daß im Laufe der Versuche "die Tendenz, den eigenen Aktionen Beachtung zu schenken" (statt blind herumzuprobieren) zunimmt. Und bei Versuchen mit der gleichen Problemsituation fand ADAMS: "gewöhnlich war die mit reiner Aktivität ausgefüllte Zeit kurz im Vergleich mit der Zeit, die dem Mustern der Situation gewidmet wurde (Experimental Studios of adaptive behavior in cats, Comp. Psych. Monogr. VI, S. 92).

§ 6. Disponibilität (Lockerheit) von Situationsmomenten. Welche Richtung ein Lösungsprozeß in jedem Augenblick einschlägt, hängt ab vom psychologischen Relief der Problemsituation, von der "Disponibilität", der "Lockerheit" der betreffenden Situationsmomente. Vielen Vpn stellt sich die Bestrahlungsaufgabe- wenigstens zunächst- so dar, als müsse unbedingt und nur die Bahn des Strahlenbündels tauglich variiert werden. Die übrigen kritischen Situationsmomente (als da sind die Intensität der Strahlung, die innere Beschaffenheit der Gewebe) bleiben "selbstverständlich", "fest", "unthematisch". 1 Eine Lösung ist vom Typus eines Weges zum Aufgabeziel, eine heuristische Methode dagegen vom Typus eines Weges zu Lösungen.

Disponibilität (Lockerheit) von Situationsmomenten.

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Von was für geringfügigen Nuancen der Problemstellung die Richtung eines Lösungsprozesses abhängen kann, zeigen die folgenden Versuche: zwei Gruppen von Vpn erhielten die Strahlenaufgabe mit dem gleichen Text und der gleichen Skizze, nur zwei Sätze, die die Unbrauchbarkeit der direkten "Lösung" ·erläutern sollten, waren für die beiden Gruppen verschieden formuliert worden. Gruppe I erhielt die Sätze: "Die Strahlen würden dabei ja auch gesunde Gewebe zerstören. Wie könnte man die Strahlen daran hindern, die gesunden Gewebe zu beschädigen?" .Gruppe II erhielt statt dessen die Sätze: "Auch gesunde Gewebe würden dabei zerstört werden. Wie könnte man die gesunden Gewebe davor bewahren, von den Strahlen beschädigt zu werden?" Kurz, derselbe ( !) Aufgabesachverhalt wird das eine Mal im Aktiv, das andere Mal im Passiv ausgedrückt. Im ersten Fallliegt der Akzent auf den Strahlen, im zweiten Fall auf den gesunden Geweben. Zur Feststel!tmg, ob durch einen derartigen Betonungsunterschied die Lösungsrichtung, die Wahl der Stammlinie merklich beeinflußt wird, zählte ich in beiden Gruppen die Protokolle, in denen auf irgendeine Weise die Strahlungsintensität zum Angriffspunkt gemacht wurde. (Hierher würden also gehören sämtliche von P 2 III ausgehenden Linien, vgl. oben S. 17, sowie die Frage: "sind etwa kranke Gewebe empfindlicher, so daß man schwächere Strahlen verwenden könnte ? " - kurz, alle "Intensitätslösungen". Die Häufigkeit solchen Vorgehens darf zweifellos als symptomatisch für eine besondere "Lockerheit" der Strahlen gelten. Es ergab sich in der Tat: die "Strahlen "gruppe beschäftigte sich in 10 von 23 Protokollen (43o/o) mit der Strahlungsintensität, die "Gewebe"gruppe nur in 3 von 21 Protokollen (14%), und abgesehen davon trat in der ersteren Gruppe die Strahlenintensität viel beherrschender auf, wo sie auftrat.

Die "Einbündeligkeit" der Strahlen (ein Strahlenbündel aus einem Rohr gesandt) war für beinahe alle Vpn eine derart selbstverständliche, feste Systembedingung, daß die Lösung "Konzentrierung mehrerer schwacher Strahlenbündel in der Geschwulst" schon deswegen gar nicht gut aufkommen konnte 1 . Hätte ich das früh genug in seiner Tragwei.te erkannt, so hätte ich die störende, weil fixierende Skizze bei den Hauptversuchen lieber weggelassen. So wunderte ich mich lange darüber, daß die Lösungsphase der Strahlenkonzentrierung bzw. die drei ihr untergeordneten Schlußlösungen P 4 III A a-c (vgl. o. S. 17) so selten vorkamen. Es entfielen z. B. auf diese vier Phasen in 26 Massenversuchsprotokollen nur zwei spontane (überdies von derselben Vp stammende) Aussagen. Die anderen von mir angestellten Massenversuche mit der Strahlenaufgabe ergaben keinen besseren Prozentsatz. Hatten die Vpn in allen Massenversuchen auch nur höchstens 5 bis 10 Minuten Zeit, so muß doch die geringe Zahl der "Konzentrierungslösungen" auffallen. 1 Häufig kamen hier Aussagen wie: "Ja, ich dachte eben, ich müßte das so machen, mit einem Strahlenapparat wie in der Skizze".' - Analog gab es bei der Pendelaufgabe Vpn, denen die gewöhnliche Gestalt eines Pendels unantastbar war, so daß Lösungen vom Typus P 4II Bb bis e (siehe oben S. 18) bei ihnen keine großen Chancen hatten - was manchmal auch daher kam, daß mit einer Pendelschnur statt -stange gearbeitet wurde.

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Schließlich fiel mein Verdacht erstens auf die Skizze und zweitens. auf die Strahlennatur des Agens. (Daß sich Strahlenintensitäten summieren lassen, dürfte manchen Vpn zu wenig geläufig sein. Überhaupt zerfallen Strahlen phänomenal nicht leicht in trennbare und summierbare "Bestandteile".) Um diesen Verdacht zu prüfen, wurden einige Massenversuche angestellt. 1. 11 Vpn bekamen die Bestrahlungsaufgabe mit Skizze, 11 andere Vpn ohne Skizze. (Die Vpn waren Unterprimaner eines Reform-Realgymnasiums.) Ergebnis: mit Skizze 9% Lösungen, ohne Skizze 36% Lösungen. 2. In zwei weiteren Ma~senversuchen (ohne Skizze) erhielten im ganzen 28 Vpn die alte - in abgekürzter Form oben S. 1 mitgeteilte - Problemstellung, während 30 Vpn folgende (die "Strahlen"· durch "Partikel" ersetzende) Variante erhielten: "Nehmen Sie an, ein Mensch hat im Innern seines Körpers, sagen wir im Magen, eine Geschwulst. - Angenommen femer, es gäbe eine Art winziger Geschosse (etwa von Atomgröße}, die die Fähigkeit besitzen, organische Gewebe zu durchdringen und dabei zu zerstören, wenn sie in genügender Zahl pro Raum- und Zeiteinheit auftreffen. - Wie könnte man mit Hilfe solcher winzigen Geschosse den Patienten von seiner Magengeschwulst befreien ? " Ergebnis: mit Strahlenmodell 18% Lösungen, mit Partikelmodell 37% Lösungen. (Die Vpn waren teils Studenten, teils Obersekundaner eines humanistischen Gymnasiums.) - Der Verdacht bestätigte sich also in jeder Beziehung. Ein Konfliktmoment kann natürlich sehr verschiedene "Festigkeits"grade aufweisen. Es gibt einen Grad von Festigkeit, der eben hinreicht, um für den Moment die Veränderungstendenz auf nachgiebigere Stellen abzulenken, der aber schon einem relativ geringen Auflockerungsdruck ("jetzt will ich's einmal anders versuchen") und einer systematischen Sondierung der Situation nach "anderen Angriffsstellen" nachgeben würde. Es gibt andererseits einen Festigkeitsgrad, der so gut wie allen Anfechtungen gewachsen ist. Hier sprechen wir von "Fixierung". Ein drastisches Beispielliefert jene bekannte Streichholzaufgabe, in der aus sechs Streichhölzern vier gleichseitige Dreiecke zu bilden sind. Die Lösung ist ein räumliches (3-dim.) Tetraeder. Zwar ist für alle Vpn (wir prüften fünf Vpn in Einzelversuchen und etwa 40 in Massenversuchen) die ursprüngliche Situation wenigstens insofern "die gleiche", als alle zunächst mit einem ebenen Modell arbeiten, wie wenn die Aufgabe gelautet hätte: .... vier gleichseitige Dreiecke legen 1 . 1 Das kommt offenbar daher, daß alle sonstigen bekannten Streichholz. aufgaben sich in der Ebene abspielen, was naturgemäß dazu führen muß, daß der Charakter "Streichholzaufgabe" mit dem Charakter des "Legens" verschmilzt. Außerdem eignen sich Streichhölzer ihrer Natur nach nicht gut zu "Hoch bauten".

Bedingungen der Disponibilität von Situationsmomenten.

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Aber das Festgelegtsein auf die Ebene ist bei verschiedenen Individuen enorm verschieden. Es gibt Vpn, denen die Figur von gewissen glücklichen Lagen aus, wie sie beim Probieren nicht selten vorkommen - eine wichtige Funktion des intelligenten Herumprobierens - mit einem jähen Ruck in die dritte Dimension emporschnellt. Das wird durch eine Art "Absättigung" 1 der Ebene auf Grund eines langwierig vergeblichen Darinherumprobierens sehr erleichtert. Solche glücklichen a b c "Anregungen von unten" Abb. 8. liefern z. B. die drei ebenen Konstellationen der Abb. Sa-c. Den meisten Vpn vermag jedoch nicht einmal so ein Anstoß zu helfen. Sie sind und bleiben unheilbar auf die Ebene "fixiert". W obigemerkt: das "Festigkeitsrelief" einer Problemsituation hängt nicht von willkürlicher Aufmerksamkeitsverteilung ab. Die Aufmerksamkeit wird vielmehr im allgemeinen umgekehrt vom unwillkürlichen Situationsrelief gesteuert. § 7. Bedingungen der Disponibilität von Situationsmomenten. Im folgenden soll untersucht werden, welche Faktoren - abgesehen von Wissen und Gewohnheit- für das "Thematischwerden", für die "Lockerheit" eines Situations-, speziell Konfliktmoments entscheidend sind. Einer dieser Faktoren läßt sich schön an folgender primitiven Problemsituation aufweisen. E~n Affe will mit einem Stock durch eine enge Tür. Er kommt nicht durch. Was tun~ Primäres Konfliktmoment ist das Aufeinanderprallen, die Überschneidung von Stock und Türrahmen. Diese Relation ist nun dadurch besonders leicht als Konfliktgrund kenntlich, daß hier ein Stadium voraufging, wo sie fehlte und gleichzeitig unbehinderte Bewegung stattfand. Ohne Überschneidung ging es vorwärts, mit Überschneidung nicht mehr, d. h. beide Seiten des betreffenden Kausalverhältnisses finden sich nacheinander in ein und derselben Situation realisiert. Dadurch gewinnt das Konfliktmoment den unmittelbar anschaulichen Charakter eines "Hindernisses". Wir können das allgemein so formulieren: ein Konfliktmoment wird besonders leicht auf dem Grund seines Gegenteils kenntlich. Ein weiteres Beispiel hierfür entnehme ich der "Tür"-Aufgabe: eine Tür - Abb. 9 zeigt einen Querschnitt durch Türansatz, Wandansatz 1 Vgl. A. KARSTEN, Psychische Sättigung, Psychol. Forsch., X. KARSTEN stellte bei wachsender "Sättigung" eine wachsende Tendenz zu spontanem Variieren der betreffenden Tätigkeit fest.

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Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

und Angel - soll nach beiden Seiten geöffnet werden können. Wie ist das zu erreichen ? - Der Tatbestand "die Tür geht nicht nach rechts auf" hat die beiden Konfliktgründe: "die rechte Türecke kommt auf ihrem Weg nicht weiter" bzw. "die linke Türecke kommt nicht von der Wand fort". Von diesen ist nun offenbar der erstere deshalb auffälliger, thematischer als der zweite, weil er den jähen Abbruch einer bereits vorhandenen und sehr aktuellen Bewegung bedeutet, während das Gegenteil des zweiten bis dahin noch in keiner Weise vorgekommen war. Die größere Aktualität des erstgenannten Konfliktmoments dürfte mit daran schuld gewesen sein, daß bei G/ 7Vpn Lösungseinfälle, die sich um die Aufhebung des ersten Konfliktmoments gruppieren (speziell die Abschrägung bzw. Verdünnung von Tür und Wand) vor Lösungseinfällen kamen, Abb. 9 · Abb. 10· die sich um die Aufhebung des zweiten Konfliktmoments gruppieren (z. B. Angel aus Gummi, oder: zwei Angeln, von denen die linke ausschnappt, wenn die rechte einschnappt 1 ). Ein zweiter Faktor für das Thematischwerden eines Konflikt· moments läßt sich wieder an der "Stock-Tür"-Aufgabe (S. 31) illustrieren. "Lösungen" der Problemphase, wie die störende Überschneidung von Türrahmen und Stock zu beheben sei, sind (im Prinzip) mindestens die folgenden vier Variationen: 1. Drehung des Stockes in eine hinreichend vertikale resp. normale (auf der Türebene senkrechte) Lage, 2. Verkürzung des Stockes (bei unveränderter Schräglage), 3. Verbreiterung der Tür (bei unveränderter Schräglage und Länge des Stockes), 4. Durchbrechung des Türrahmens (bzw. des Stockes) an der Überschneidungsstelle (bei unveränderter Schräglage und Länge des Stockes sowie bei unveränderter Türbreite). Diesen vier Lösungen entsprechen ebensoviel Konfliktmomente in der ursprünglichen Situation. Von diesen ist nun bei weitem das nächstliegende die Raumlage des Stockes. Denn sie ist das zufälligste, variabelste, und nichts in der Situation verlangt gerade diese Schräglage. M. a. W. ein Konfliktmoment wird um so leichter kenntlich, je zufälliger es ist. Ein dritter Faktor: (vgl. die "Tür"-Aufg.) die Dicke und Eckigkeit der einander zugekehrten Wand- und Türpartien ist als Konfliktmoment besonders sinnfällig deshalb, weil die Ecken bei versuchter

H

1 In derselben Richtung liegt die eigentliche Lösung (siehe Abb. 10): der Drehung nach links dient die linke Angel, und die rechte wird mitgenommen; der Drehung nach rechts dient die rechte, und die linke bleibt funktionslos.

Über par-force-Lösungen.

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Türöffnung aufeinanderprallen, d. h. die Ecken erleiden den Konflikt unmittelbar. Man kann allgemein sagen: ein Konfliktmoment wird um so leichter kenntlich, je mehr, je direkter es am Konfliktereignis selbst beteiligt ist. Beispiele aus anderen Aufgaben: die Schwierigkeit der "Zerstreuungslösungen" bei der Bestrahlungsaufgabe beruht ganz wesentlich darauf, daß, hier das entscheidende Konfliktmoment, das Aus-einem-einzigenRohr-entsandtwerden der Strahlen, derart abseits liegt vom unmittelbaren Konfliktereignis, dem Zerstörtwerden gesunder Gewebe - und dessen direkter Ursache, der großen Strahlenintensität im gesunden Körper. Viele Vpn empfanden die große Strahlenintensität im gesunden Körper als das eigentliche Übel, glaubten aber, das sei eben durch das Ziel: die Zerstörung der Geschwulst - unerläßlich gefordert. {"Die Strahlen müssen ja doch stark sein und von außen zur Geschwulst gelangen. Da ist nichts zu machen".) Sie sahen nicht, daß das Ziel (die Geschwulstzerstörung) die große Intensität unterwegs nur bei stillschweigender Voraussetzung bloß einer Strahlenquelle fordert. Die Einheit der Strahlenquelle ist eben ein relativ "entferntes" Konfliktmoment. Analoges wird aus Tierversuchen immer wieder berichtet, z. B. von KöHLER (a. a. 0. S. 177): "an einem Stabe, mit dem die Tiere das Ziel erreichen könnten, ist eine starke Schnur befestigt; ihr freies Ende trägt einen Metallring ... , und dieser liegt über einen Nagel gestreift ... " " ... Grande, Chica, Rana und Tercera zerren zuerst am Stock und bemühen sich dann fortwährend, die Verbindung Seil- Stab zu lösen ... " (statt in der RingNagelgegend anzugreifen). Hier spielt sicher u. a. eine Rolle, daß das kritische Moment "Ring über Nagel" schon rein räumlich so weit abseits von der unmittelbaren Konfliktregion ("der Stock will nicht weiter") gelegen ist. Ähnliches berichten Y ERKES u. a. Mit den aufgezählten sind die hier maßgeblichen Faktoren natürlich nicht erschöpft. Speziell über Disponibilität von Situationsmomenten, die als "Material" in Betracht kommen, soll in Kap. VII gehandelt werden. - Kaum besonderer Erwähnung bedarf es, daß neben derartigen Faktoren häufig Gewohnheit darüber entscheidet, an welchen Situationsmomenten vorzugsweise angegriffen wird. Frühere Erfolge hinterlassen Spuren, von denen die künftige "Lokalisierung der Schwierigkeit" in verwandten Situationen mitbestimmt wird. Es geht aber nicht an, derartige Bevorzugung bzw. eine "Fixierung" ohne weiteres nur als Wirkung gewohnheitsmäßiger Bevorzugung anzusehen, wie das z. B. MAIER in seiner sonst vorzüglichen Untersuchung in Bd. 24 des Brit. J. Psychol. tut.

§ 8. Über par-force-Lösungen. Es sei in diesem Zusammenhang noch eine merkwürdige Form der Lösungsentstehung geschildert, die ich zunächst geneigt war, mehr für ein Kuriosum zu halten, bis ich erkannte, Duncker, Psychologie des produktiven Denkens.

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Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

daß hier eine praktisch sehr wichtige Lösungsgenese vorliegt. Bei vielen Aufgaben gerät man einfach dadurch auf die Lösung, daß bei einem etwas gewaltsamen Versuch, das Ziel auf direktem Wege zu erzwingen, der physikalische Sachverhalt sozusagen in der Lösungsrichtung ausweicht (ein unmittelbar betroffenes Konfliktmoment aufhebt). Beispiele: Wenn man bei der Türaufgabe die gewünschte Drehung am ursprünglichen Modell gewaltsam genug durchzusetzen versucht - was gar nicht notwendig in der Realität, sondern fast besser noch (wegen der hier bestehenden Übertreibbarkeit der Effekte) in der Vorstellung geschehen kann - dann müssen dabei u. U. die Ecken daran glauben. D. h. die Lösung durch Abschrägung der Ecken läßt sich einfach dem bekannten physikalischen Verhalten des Modells unter der Beanspruchung einer Gewaltlösung "absehen". - Genau so kann (bei derselben Gewaltlösung) die Angel reißen oder sich dehnen. was häufig direkt. zu den Lösungen "Angel aus Gummi" oder "im geeigneten Moment links ausschnappende Angel" führt. Analog bei der verwandten Stock-Tür-Aufgabe: wird der Stock mit genügender Kraft durch die Tür "gerannt", so gibt er in der Richtung gewisser (primitiver) Lösungen nach: die Enden brechen ab. Drittes Beispiel: bei der Pendelaufgabe ließ einmal eine Vp (in Gedanken natürlich) das Pendel sich einfach bei festgehaltenen Endpunkten ausdehnen - mit dem Erfolg, daß die Pendelstange sich durchbog. War diese "Ausflucht der Natur" auch nicht direkt zu verwenden, so konnte sie doch Lösungsformen, welche Ausdehnung in anderen (entgegengesetzten) Richtungen verwenden, mindestens nahelegen. Man sieht: sehr oft läßt man sich beim Lösen von Aufgaben mit Erfolg leiten von den Reaktionen der Natur auf gewaltsame Beanspruchungen in Richtung auf das Aufgabeziel (Methode der par-forceLösung). Die par-force-Lösungen sind übrigens nur Übersteigerungen eines Sachverhaltes, den wir oben (vgl. § 7) in Gestalt des dritten Faktors kennen lernten. Ebenso, wie ein Konfliktereignis gewisse Konfliktmomente dadurch auszeichnet, daß es sich direkt an ihnen ausläßt, sie "direkt betrifft", kann es diese Konfliktmomente auch so kräftig betreffen, daß es sie gewissermaßen überrennt und so bereits ein Stück ihrer Aufhebung besorgt.

§ 9. Umstrukturierung des Denkmaterials. Jede Lösung besteht in irgendeiner Veränderung der gegebenen Situation. Dabei verändert sich nicht nur dieses oder jenes an der Situation, d. h. es geschehen nicht nur solche Veränderungen, wie man sie bei jeder ganz aufs Praktische gerichteten Beschreibung zu erwähnen hätte, sondern es verändert sich außerdem die psychologische Gesamtstruktur der Situation (bzw.

Umstrukturierung des Denkmaterials.

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gewisser ausgezeichneter Teilbereiche). Solche Veränderungen nennt man , , Umstrukturierungen''. Im Verlauf eines Lösungsvorganges wird derart umstrukturiert z. B. das "Betontheitsrelief" der Situation (ihr "Figur-Grund"Relief). Situationsteile und -momente, die vorher psychologisch kaum oder nur ganz im Hintergrund - unthematisch - existierten, springen auf einmal hervor, werden zur Hauptsache, zum Thema, zur "Figur" - und umgekehrt (vgl. §§ 6 und 7). Außer der Betontheit ändern sich die sachlichen Teileigenschaften oder "Funktionen". Die neu hervortretenden Situationsteile verdanken ihre Auszeichnung gewissen (relativ allgemeinen) Funktionen: das da wurde "Hindernis", "Angriffspunkt" (Konfliktmoment), jenes da "Mittel" usw. Gleichzeitig ändern sich auch die spezielleren Funktionen (z. B. die Speiseröhre wird "Strahlenweg", oder ein Streichholzdreieck wird "Grundfläche eines Tetraeders"). Besonders radikale Umstrukturierungen pflegen sich in den Ganzheits- oder Zusammenhangsverhältnissen zu vollziehen. Situationsteile, die vorher - als Teile verschiedener Ganzheiten - voneinander getrennt waren, oder- obzwar Teile derselben Ganzheit- doch keinerlei Sonderbeziehung zueinander hatten, schließen sich zu einer neuen Ganzheit zusammen. So bekommt z. B. in gewissen "Lösungen" der Pendelaufgabe auf einmal der Aufhängeort etwas mit der Pendellänge zu tun, während vorher zwischen diesen beiden Momenten kein psychologischer Zusammenhang bestand. (ÜbPrzeugendere Beispiele für Veränderung der Zusammengehörigkeit und Gruppierung wird das nächste Kapitel bringen.)Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß solche Umstrukturierungen beim Denken, beim Lösen von Problemen eine wichtige Rolle spielen. Die entscheidenden Stellen in Denkprozessen, die Stellen des plötzlichen Verstehens, des "Aha", des N euen, sind immer zugleich Stellen, wo so eine plötzliche Umstrukturierung im Denkmaterial geschieht, wo etwas "kippt". Im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung, betitelt "Gebundenheit des Denkmaterials", wird ausführlich von dem Widerstand gehandelt werden, den eine alte .Strukturierung eines gegebenen Denkmaterials einer neuen, lösungsadäquaten Strukturierung desselben Materials entgegensetzen kann. Dort wird auch genauer zu zeigen sein, was für Arten von "Strukturiertheit" bei verschiedenen Typen von Lösungsfindung die kritische Rolle spielen, z. B. beim Finden dinglicher Lösungsgegenstände (vgl. Kap. VII) oder beim Finden eines mathematischen Beweises (vgl. Kap. VIII). - Es ist sehr wahrscheinlich, daß die tiefsten Unterschiede zwischen verschiedenen Individuen bezüglich dessen, was man "Denkfähigkeit", "Intelligenz" nennt, in Unterschieden der Leichtigkeit solcher Umstrukturierungen begründet 3*

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Über Lösungsprozesse bei praktisch-technischen Problemen.

sind. KöHLER 1 und LEWIN 2 haben die Vermutung ausgesprochen, die Umstrukturierbarkeit eines Denkmaterials sei eine Funktion gewisser Beschaffenheiten des "nervösen Milieus", in dem sich die betreffenden Vorgänge abspielen, oder gar überhaupt des "seelischen Materials einer Person". Wir werden am Ende von Kap. VIII noch eine andere Hypothese kennen lernen. Aber indem man mit großem und zweifellos berechtigtem Nachdruck auf die Bedeutung von Strukturierungs- oder Organisationsvorgängen beim Denken hinwies, verlor man eine andere Seite des Problems fast vollständig aus dem Auge. Wie entstehen denn diese Umstrukturierungen und mit ihnen die Lösung ~ Daß sie geschehen und daß sie beim einen leichter, beim anderen schwerer geschehen, gibt ja noch keinerlei Aufschluß darüber, warum sie geschehen, d. h. woher die

richtunggebenden "Kräfte" stammen, die ein Denkmaterial von der alten in die neue (lösungsadiiquate) Strukturierung hinüberführen. An und für sich können Umstrukturierungen eines Feldes die verschiedensten Ursachen haben. Der Wahrnehmungspsychologe kennt eine Menge "mehrdeutiger" Figuren, die einfach dadurch, daß man sie lange genug in einer der möglichen Strukturierungen auf sich wirken läßt, "von selbst" in die andere, entgegengesetzte Strukturierung "umzukippen" tendieren (vgl. die spontane Vertauschung von vorn und hinten bei der perspektivischen Zeichnung eines Würfels, einer Treppe usw.). Hier ist wohl "Sättigung" die Ursache der Umstrukturierung. - Oder: Erlebt man nach- oder nebeneinander eine Reihe partiell identischer Komplexe (deren objektiv gemeinsamer Bestandteil nicht durch Camouflage unkenntlich gemacht ist), so geschieht es unter geeigneten Bedingungen, daß der gemeinsame Bestandteil, der gemeinsame Aspekt dominierend hervortritt, während in jedem Einzelfalle, für sich genommen, ganz andere Aspekte phänomenal im Vordergrund stehen (vgl. Kap. V § 2). Die Umstrukturierung geschieht hier also durch eine Art "Ausfällung des Gemeinsamen" (abstraction by varying concomitants, W. JAMES). - Oder: Man sucht etwas mit bestimmten Eigenschaften, z. B. etwas Langes, Festes, und alles, was die betr. Eigenschaften objektiv enthält, wird entsprechend "zentriert". Hier geschieht die Umstrukturierung durch die Resonanzwirkung eines tauglichen Signalements (vgl. Kap. VI). - Eine Umstrukturierung kann ferner durch willkürliche Veränderung der Gestaltauffassung verursacht sein usf.

Die vorliegende Untersuchung hat es sich in ihren ersten beiden Teilen zum Ziel gesetzt, die kausalen (richtunggebenden) Faktoren bei der Lösungsentstehung aufzuzeigen. Eine eingehende Deskription aller vorkommenden Umstrukturierungen war nicht beabsichtigt, um so weniger, als hier schon Wesentliches geleistet war. Dagegen existierten durchgeführte kausale Ansätze von Seiten gestalttheoretischer Denk1 W. KöHLER, Das Wesen der Intelligenz (in "Kind und Umwelt", herausgegeben von Prof. A. KELLER, 1930). 2 KuRT LEWIN, Eine dynamische Theorie des Schwachsinns (erschienen in "Hommage au Dr. DECROLY", Saint-Nicolas-W (Belgique), 1933.

Die "13" -Aufgabe.

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psychologie bisher noch nicht. Die Theorie der "Schließung" oder "Prägnanz" ist viel zu allgemein, um hier ernstlich herangezogen werden zu können. Natürlich verläuft das Lösungsgeschehen so lange, bis "die Lücke geschlossen", "die Organisation vollständig", "die Störung beseitigt", "das Gleichgewicht bzw. die Entspannung erreicht" ist. Und das ist dynamisch, richtiger energetisch gewiß von Belang. Aber was für verschiedener Vorgangsarten dieses "Streben nach Gleichgewicht" oder "Prägnanz" sich zu bedienen vermag, das war es, was einmal von gestaltpsychologischer Seite untersucht werden mußte. Kapitel III.

Über Lösungsprozesse bei mathematischen Problemen. § 1. Die "13"-Aufgabe. Die Endlösung einer mathematischen Aufgabe, speziell Beweisaufgabe, hat die Form "etwas (hier nicht mehr zu Beweisendes), woraus das Behauptete folgt". Auch bei solchen mathematischen Problemen wird die Lösung typisch nicht in einem, sondern in mehreren sukzessiven Schritten erreicht. Uns interessieren auch hier wieder vor allem die heuristischen Methoden, die dem Denken - aus der Natur der Sache heraus - für die Findung der Lösungsphasen zu Gebote stehen. Ich experimentierte viel mit folgender Aufgabe: inwiefern sind alle sechsstelligen Zahlen von der Form 276 276, 591591, 112112 durch 13 teilbar 1 - Es sei hier ein Einzelprotokoll mitgeteilt, das außer einigen ebenso typischen wie fruchtlosen Abwegen den gangbarsten Lösungsweg enthält: 1. sind etwa schon die Tripel durch 13 teilbar 1 2. gibt es hier vielleicht irgendeine Quersummenregel, wie bei der Teilbarkeit durch 91 3. es muß aus einem verborgenen gemeinsamen Bauprinzip folgen - das erste Tripel ist 10mal das zweite, 591591 ist 591 mal 11, nein: mal101 (Vl: so 1) nein: mal1001. Ob 1001 durch 13 teilbar ist 1 (Gesamtdauer 14 Minuten.) Betrachten wir einstweilen nur den Prozeß 3. Er. beginnt mit einer Zielanalyse 1 . Denn die Behauptung, alle Zahlen vom Typus abcabc seien durch 13 teilbar, bedeutet - genau besehen - nichts anderes, als daß die Teilbarkeit durch 13 aus einer gemeinsamen Eigenschaft dieser Zahlen ableitbar sei. Nunmehr wird gesucht nach einer solchen gemeinsamen Eigenschaft - und zwar, präziser, nach einer "Baueigen1 "Ziel" heißt hier natürlich nicht wie früher "praktisches Ziel", sondern das, was eingesehen, was bewiesen werden soll. Zielanalyse ist also genau genommen ,,Behauptungsanalyse''.

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Über Lösungsprozesse bei mathematischen Problemen.

schaft", einer teilbarkeitsrelevanten Gemeinsamkeit. Damit ist ein Prozeß der Situationsanalyse, genauer Voraussetzungsanalyse eingeleitet. Durch die Charakterisierung des Geforderten als "teilbarkeitsrelevante Gemeinsamkeit" wird das Suchen auf einen engeren Bereich beschränkt. Es gibt aber Vpn, die an der betreffenden Stelle nur nach einer "andern" Gemeinsamkeit suchen. Dabei bleiben sie dann oft im Optischen stecken, z. B. stellen sie fest: die erste und die letzte von je viernebeneinanderstehenden Ziffern sind einander gleich (was natürlich nicht weiter hilft).

Wichtig-ist nun folgendes: das Gesuchte ist nicht schon als "gemeinsamer Teiler" charakterisiert, sondern höchstens als "teilbarkeitsrelevant". Die für die Losung entscheidende Grundfolgebeziehung: "wenn ein gemeinsamer Teiler von Zahlen durch q teilbar ist, dann sind die Zahlen selber durch q teilbar" springt in den Prozeß erst ein, nachdem eine relativ unbestimmte Situationsanalyse bereits einen Teil der "Wenn"-Prämisse, des "Grundes" freigelegt hat. Diese Prämisse besteht doch im vorliegenden Falle aus zwei Teilen: 1. solche Zahlen sind durch 1001 teilbar, und 2. 1001 ist durch 13 teilbar. Und allererst durch die Entdeckung der Teilprämisse 1 gerät das Denken auf den entscheidenden Grundfolgesachverhalt, von dem her dann organisch, als "Ergänzung", die zweite Teilprämisse gefunden wird (vgl. "ob 1001 durch 13 teilbar ist?"). Die Findung der zweiten Teilprämisse steht also unter ganz anderen Bedingungen als die der ersten: diese geht dem entscheidenden Satz voraus, jene wird von ihm diktiert. Von den 45 Vpn, denen ich diese Aufgabe ohne Hilfe stellte (35 davon in drei Massenversuchen, zehn in Einzelversuchen), wurde keiner einzigen der entscheidende Grund-Folge-Sachverhalt direkt vom Aufgabeziel suggeriert. Nicht ein einziges Mal entstand unmittelbar aus der ursprünglichen Problemstellung die Phase "ich will doch einmal sehen, ob die Zahlen keinen durch 13 teilbaren Teiler haben?" - welche Forderung dann einer bis dahin noch unanalysierten Situation "auferlegt" worden wäre 1 . Dagegen: jedesmal, wenn eine Vp durch einen Prozeß der Voraussetzungsanalyse - nicht no~wendig gerade den oben geschilderten - zum gemeinsamen Teiler 1001 gelangt war 2 , machte sie sich sofort an die Untersuchung, ob 1001 durch 13 teilbar sei. D. h. die Vp empfand diesen Nachweis als noch ausstehend, worin sich das Inkrafttreten des entscheidenden Grund-Folge-Sachverhalts indirekt zu erkennen gibt. Übrigens begründeten alle diese Vpn - mindestens auf 1 Damit soll nicht etwa behauptet werden, daß so etwas z. B. bei routinierten Mathematikern - nicht vorkommen könnte. Uns interessiert nur, daß es den anderen Weg gibt, und daß er, wie sich noch zeigen wird, ein typischer Weg der Lösungsfindung ist. 2 Das geschah unter jenen 45 Vpn bei allen, die überhaupt zur Lösung gelangten, nämlich bei 9. (Die 35 Vpn aus den Massenversuchen hatten nicht viel Zeit zur Lösung der Aufgabe, etwa 5 Minuten.)

Versuche mit verschiedenen Hilfen.

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die Frage "wieso?"- ihre Lösung mit dem Bestehen dieses "bekannten" und ,,einleuchtenden" Sachverhalts. Wir können dieses Ergebnis, das sich bald als typisch herausstellen wird, so formulieren: der entscheidende (Lösung und Ziel verbindende) Grund-Folge-Sachverhalt wird hier "von unten angeregt" (vgl. Kap. I, § 11)

durch einen auf dem Wege der (Ziel- und) Voraussetzungsanalyse gefundenen Teil der lösenden Prämisse. Der Rest der Lösung wird als "Ergänzung" des so entdeckten Grund-Folge-Sachverhalts gefunden. In unserem Beispiel hatte die Voraussetzungsanalyse die Form einer "Umzentrierung" 1 des gegebenen Zahlenmaterials: abcabc =abc mal 1001. Anhangsweise sei hier noch kurz auf einige oft produzierte, aber erfolglose Lösungsvorschläge eingegangen, die zumeist daher rührten, daß die Vpn das Bildw1gsgesetz abcabc noch nicht in seiner Allgemeinheit erfaßt hatten und sich infolgedessen zu sehr an den konkreten Beispielen orientierten. Das o. S. 37 mitgeteilte Einzelprotokoll enthält, an zweiter Stelle, die Frage nach einer QuersummenregeL Dem Suchen nach einer solchen Regel liegt das allgemeine Wissen zugrunde, daß zwischen Quersumme und Teilbarkeit manchmal eine relevante Beziehung besteht. Offenbar von der Quersmnmenidee inspiriert war folgende wilde Voraussetzungsexplikation: 6 = 5 9 1 = 15 (vgl. die Zahlenbeispiele S. 37). Hat das 7 "2 was zu bedeuten?". Von 13 genauer untersuchten Protokollen enthielten sechs die Quersummenidee. Dieselbe Häufigkeit (nämlich 6 / 13 ) hatte der im oben erwähnten Einzelprotokoll an erster Stelle stehende Einfall, es könnten vielleicht schon die Ziffernpaare resp. -tripel, aus denen die kritischen Zahlen bestanden, durch 13 teilbar sein (woraus ja allerdings folgen würde, daß auch die ganzen sechsstelligen Zahlen durch 13teilbar sind). - In 2 ft 3 Fällen wurde untersucht, ob die kritischen Zahlen etwa Potenzen von 13 seien? In 3/ 13 Fällen spezialisierte die Vp ihr Modell, untersuchte z. B. 100100, weil ja genugsam bekannt ist, daß das allgemeine Prinzip einer Lösung oft an gewissen ausgezeichneten Fällen besser zum Vorschein kommt. (Derartige Spezialisierungen treten auch bei anderen Aufgaben gelegentlich auf. Sie haben in der Tat oft einen guten Sinn und stellen eine recht allgemeine heuristische Methode dar.)

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§ 2. Versuche mit verschiedenen Hilfen. Um die hypothetische Wirkung irgendwelcher Einfälle auf den weiteren Verlauf des Prozesses zu prüfen, kann man sich die Methode der Hilfen auf folgende Weise bedienen: der Vl wirft die betreffenden Gedanken von außen in den Prozeß hinein und sieht zu, wie sie sich typisch auswirken. Ich führte mit der "13"-AufgabeMassenversuche aus, in denen sechs verschiedene Gruppen von Vpn verschiedene Hilfen mit auf den Weg bekamen: Hilfe a) "die Zahlen sind durch 1001 teilbar", Hilfe b) "1001 ist durch 13 teilbar", Hilfe c) "ist ein gemeinsamer Teiler der Zahlen durch 13 teilbar, so sind sie alle durch 13 teilbar, 1

Vgl. MAx

WERTHEIMER,

Über SchlußprozesseimproauktivenDenken.

40

Über Lösungsprozesse bei mathematischen Problemen.

Hilfe d) "ist ein Teiler einer Zahl durch p teilbar, so ist die Zahl selber durch p teilbar, Hilfe e) "verschiedene Zahlen können einen teilbaren Teiler gemeinsam haben", Hilfe. f) "suchen Sie nach einer tieferliegenden Gemeinsamkeit, aus der die Teilbarkeit durch 13 ersichtlich wird". Eine siebte Gruppe (Kontrollgruppe) bekam die Aufgabe ohne jede Hilfe (o. H.). M. a. W. in a und b wird je eine konkrete Prämisse des entscheidenden Grund-Folge-Sachverhalts als Hilfe gegeben, in c dieser selber (in allgemeiner, d. h. noch anzuwendender Form), in d und e je eine abstrakte Komponente des entscheidenden Sachverhalts (in d die ungleich wichtigere), in f schließlich der Hinweis auf Explizierung einer tieferliegenden Gemeinsamkeit. - Betrachtet man diese sechs Hilfen mit Rücksicht darauf, ob und in welcher genetischen Reihenfolge sie als spontane Phasen in einem sich selbst überlassenen Lösungsgeschehen auftreten, so ergibt sich folgendes: von den sechs Gedanken ereignete sich in 45 ohne Hilfeleistung angestellten Versuchen, also als spontane Phase, der Gedanke f ("tieferliegende Gemeinsamkeit") stets vor allen übrigen, a ("durch 1001 teilbar") steht vor allen außer f, c (der entscheidende Grund-Folge-Sachverhalt) stets vor b ("1001 durch 13 teilbar"), d und e dürften als spontane Phasen überhaupt nicht zu erwarten sein. Tabelle I enthält die aus drei Massenversuchen zusammengezogenen Ergebnisse, nämlich die Zahl der Vpn in jeder der sieben Gruppen, welche die Aufgabe lösten (in %). Tabelle I. Gruppen

a b c d e f o. H.

Zahl der beteiligten Vpn 1

Prozentzahl der Vpn, welche die Aufgabe lösten

22

59 50 15 14 0 15 8

10 13

22 10 13

26

1 In einem der drei Massenversuche fungierten als Vpn 63 Teilnehmer eines psychologischen Anfängerpraktikums an der Berliner Universität. In den beiden anderen Massenversuchen handelt es sich um Primanerinnen eines Real- und eines Humanistischen Gymnasiums (53 Vpn). In den uns interessierenden Ergebnissen stimmen alle drei Massenversuche miteinander überein.

Die eigentliche Schwierigkeit bei der "13"-Aufgabe.

41

Wir entnehmen der Tabelle I zwei wichtige Tatsachen: 1. Die den konkreten Hinweis auf 1001 enthaltenden Prämissen (a und b) begünstigen die Lösung ungleich mehr als alle übrigen Hilfen. (Im besonderen: die Hilfe b, die zwar, wie gesagt, als spontane Phase eines sich selbst überlassenen Lösungsprozesses nie ohne vorausgehende a-Phase auftritt, die aber mit Hilfe a den konkreten Hinweis auf 1001 gemeinsam hat, hilft ungefähr ebenso viel wie a.) 2. Die übrigen Hilfen helfen so gut wie gar nicht (f wohl darum nicht, weil diese Phase einer besonderen Hilfe kaum bedarf). Denn die Schwankung zwischen 15% und O% dürfte hier die Zufallsschwelle kaum überschreiten, was schon daraus hervorgeht, daß die o. H.-Gruppe um 8% besser abschneidet als die e-Gruppe, obwohl doch die Hilfe e, wenn nicht als "Hilfe", so doch kaum als "Hemmung" aufzufassen ist. Bemerkenswert an diesen Befunden scheint mir zu sein, daß der einschlägige generelle Grund-Folge-Sachverhalt (vgl. c oder d), als Hilfe gegeben, so gut wie gar nicht "hilft". Aus dem früher Gesagten wußten wir nur, daß er im "natürlichen" Prozeß nicht ohne voraussetzungsanalytische Arbeit entsteht. Jetzt sehen wir, daß er, künstlich "aufgepfropft", die Lösung kaum begünstigt, während seine konkreten (den Hinweis auf 1001 enthaltenden) Prämissen dies in hohem Maße tun.

§ 3. Die eigentliche Schwierigkeit bei der "13"-Aufgabe. In dem Befund über die verschiedene Wirksamkeit der verschiedenen Hilfen bestätigt sich eine Folgerung, die wir im Grunde schon früher zu ziehen in der Lage gewesen wären: die eigentliche Schwierigkeit der 13-A ufgabe ist bei der Herausarbeitung des gemeinsamen Teilers 1001 zu überwinden. Zahlen vom Typus abcabc erscheinen der durchschnittlichen Vp nicht leicht als Vielfache von 1001, auch dann nicht, wenn die Vp eigens aufgefordert wird (vgl. die Hilfen c, d, e) nach einem gemeinsamen Teiler zu suchen. Qualitative Befunde bestätigen die Schwierigkeit dieser "Umzentrierung" sehr eindrucksvoll. Die Vpn waren meist sehr überrascht, wenn ihnen schließlich verraten wurde, daß die Zahlen - Vielfache von 1001 (von der Formabc mal1001) seien, was sie dann freilich einzusehen nicht umhin konnten. Sie hatten eben vorher nur mechanisch (von links nach rechts) dividiert. Wie fest die vom mechanischen Dividieren herrührende banale Struktur den Zahlen eingeprägt ist, geht auch aus folgendem Protokoll hervor. Die betreffende Vp war - per Zielanalyse - auf den gar nicht so schlechten Gedanken gekommen: "die Behauptung bedeutet doch, daß der bei der Division von abc durch 13 verbleibende Rest, als Tausender vor abc gesetzt, eine durch 13 teilbare vierstellige Zahl ergeben muß". W"eiter aber gelangte die Vp trotzgrößter Anstrengung nicht. Und dabei wäre es doch nur nötig gewesen, die Restbetrachtrmg auch auf das zweite Tripel anzuwenden rmd die beiden Reste miteinander in Beziehrmg zu setzen, wodurch eine Zahl von der Form rOOr entstanden wäre, die ihre 1001haftigkeit sofort ver-

42

Über Löstmgsprozesse bei mathematischen Problemen.

raten hätte. Aber daß zwei (oder mehrere) bei der Division einzelner Summanden einer Zahl entstehenden Reste zusammen wieder einen Summanden derselben Zahl ergeben, zu dieser "Durchsicht" langte es nicht. Dazu waren die Zahlen für die betreffende Vp zu "aspektarm" (s. u.).

Aus der Feststellung, die Schwierigkeit beruhe ganz wesentlich auf der "Verstecktheit" des Teilers 1001 im gewöhnlich strukturierten Zahlenbild einer Zahl vom Typus abcabc, würde folgen, daß sich die Schwierigkeit verringern ließe durch jede Variation der als Beispiele gebotenen Zahlen, die den Teiler 1001 offenbarer und somit einer explizierenden Analyse erreichbarer machte. - Auf eine derartige Variation brachte mich ein Einzel versuch, der folgenden Verlauf nahm: "Wenn die Behauptung stimmt, dann müssen auch je zwei einander benachbarte Zahlen vom Typus abcabc durch 13 teilbar sein, z. B. 276276 und 277277 (Zielanalyse) - - also auch ihre Differenz 1001. Das wäre nun umgekehrt zu zeigen. Ist 1001 durch 13 teilbar? - Ja." Uns interessiert an diesem Prozeß der entscheidende analytische Schritt. Die Vp hatte spontan gesehen, daß es unter Zahlen vom Typus abcabc echte Nachbarn gibt. Diese "Sicht" bekundet schon einige Freiheit vom üblichen Zahlenbild und ist der geforderten Struktur "276 Tausender+ 276 Einer" bereits recht nahe. - Die Nachbarschaft weist auf die konstante Differenz hin und suggeriert dadurch folgenden (einsichtlichen und bekannten) Grund-Folge-Sachverhalt: "Wenn die Zahlasowie dieDifferenza-b durch q teilbar ist, dann ist auch b durch q teilbar". (Man sieht: auch hier wird der entscheidende Sachverhalt erst auf dem Wege über eine Ziel- und Voraussetzungsanalyse erreicht.) Diesem Lösungsprozeß verdanke ich nun folgende Variation der 13-Aufgabe, die das Entdecken der 1001 erleichtern sollte. Der Text blieb genau derselbe bis auf die drei Beispiele. Diese lauteten nicht mehr "276276, 591591, 112112", sondern "276276, 277277, 278278". Der Effekt (vgl. Tab. II) war erTabelle II. staunlich. Die Nachbarschaft Zahlenbeispiele brachte die der Zahlenbeispiele I Vpn I Lösungen Situationsanalyse auf die Fährte der Differenz 1001 und führte 276276} so zur Lösung. 0 5 591591 Die Zahlen der Tabelle II zu klein aus, sind es sehen 276276} 3 4 277277 aber nicht. Aus folgenden Gründen: nach unseren sonstigen Versuchen (an ähnlichem Vpn-Material) mit der alten Fassung sind - vgl. Tab. I - bei fünf Vpn 0,4 Lösungen zu erwarten, d. h. 0 entspricht durchaus dem zu erwartenden Ergebnis. Ferner: daß bei der neuen Fassung 3 von vier Vpn die Aufgabe lösten; entspricht einem Prozentsatz von Lösungen, den ich sonst nur durch die wirksamste

Erleichterung einer Umstrukturierung durch taugliche Präzisierung.

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Hilfe ("die Zahlen sind durch 1001 teilbar") ungefähr erreichen konnte. Vor allem aber: die drei Vpn gelangten wirklich über die Differenz 1001 zur Lösung, schlugen also einen sonst nicht üblichen Weg ein. § 4. Erleichterung einer Umstrukturierung durch taugliche Präzisierung der Forderung. Wir stellten fest, daß eine Lösung, die eine Umzentrierung (Aspektänderung) des gegebenen Materials involviert, dadurch erleichtert werden kann, daß der neue Aspekt irgendwie "hervorgehoben" und damit einer Voraussetzungsanalyse zugänglicher gemacht wird, sei es durch einen expliziten Fingerzeig (vgl. § 2), sei es durch taugliche Variation des Materials (vgl. § 3). Nun wurde bereits im Kap. I, § 11 darauf hingewiesen, daß eine Lösung stets "aus der Beanspruchung des jeweils Gegebenen durch das jeweils Geforderte" entsteht. Man wird infolgedessen eine Lösung, speziell eine lösende Umstrukturierung des Materials von zwei Seiten her erleichtern bzw. erschweren können, nicht nur durch täuglichc Variation des Gegebenen ("von unten her"), sondern auch durch taugliche Variation der Forderung ("von oben her"). In der 13-Aufgabe erleichterten wir von unten her: durch Hervorhe bung, Lockerung des kritischen Aspekts "Vielfache von 1001". Ein Versuch, von oben her zu erleichtern, indem die Vp ausdrücklich dazu angehalten wurde, nach einem gemeinAbb. 11. samen durch 13 teilbaren Teiler zu suchen (vgl. Hilfe c und d in § 2), mißlang - in unserem konkreten Fall. Daraus darf nun nicht etwa der Schluß gezogen werden, es könnte eine Umzentrierung niemals von oben her, d. h. durch eine geeignete Präzisierung der Forderung, erleichtert werden. Das wäre verkehrt, wie die folgenden Versuche mit einer von G. KATONA in die Psychologie eingeführten "Anschauungsaufgabe" zeigen 1 . Ein regelmäßiges Tetraeder soll aus seinen beiden kongruenten Hälften (vgl. Abb. 11) zusammengesetzt werden. Jede Hälfte hat zu Begrenzungsflächen zwei gleiche Trapeze, zwei gleiche Dreiecke und ein Quadrat. Der Vp wird erklärt, wie ein Tetraeder aussieht (u. U. wird ihr auch ein ganzes Tetraeder gezeigt), und darauf werden die beiden Tetraederhälften bzw. nur eine gegeben, d. h. zuerst von allen Seiten gezeigt, um die Begrenzungsflächen der Teile und ihre Kongruenz augenscheinlich zu machen, und dann vor die Vp hingestellt. Die Vp darf nicht probieren, höchstens in Gedanken. Die Lösung involviert radikale Umstrukturierungen: Flächen und Kanten, die in den beiden Hälften homolog waren, kommen im Ganzen 1

G.

KATONA,

Eine kleine Anschauungsaufgabe, Psychol. Forsch., Bd. 9.

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Über Lösungsprozesse bei mathematischen Problemen.

an heterologe Stellen (z. B. die eine der langen Kanten wird zur Seiten-, die andere zur Basiskante usf.)l. Es ergab sich an sieben Vpn: Alle Lösungen (von denen vier zwischen 2 und 5 Minuten, zwei zwischen 10 und 20 Minuten beanspruchten und eine durch die Hilfe "ein Dreieck herstellen" prompt hervorgerufen wurde) entstanden schließlich durch Vermittlung einer auf Herstellung von "Dreiecken" gerichteten Problemphase. Meistens wurde versucht, eines der Trapeze zu einem Dreieck zu ergänzen. War erst einmal die präzise Forderung mit der Richtung auf Dreiecksflächen entstanden, so folgte die Lösung rasch hinterher, die Umstrukturierung ergab sich wie von selbst (sie "resultierte")2 • Die Richtung auf Dreiecksflächen war natürlich auf Grund einer Zielanalyse entstanden. "Ein Tetraeder herstellen" heißt doch jedenfalls "Dreiecksflächen herstellen". Wir können also sagen: Eine Umstrukturierung wird im allgemeinen um so leichter vollzogen, je schärfer in der Forderung die neue Struktur "anvisiert" ist.

§ 5. Die "Höhen"-Aufgabe. Eine zweite mathematische Beweisaufgabe, mit der viele Versuche durchgeführt wurden, diesmal eine geometrische, lautet folgendermaßen: "Verc bindet man die Fußpunkte der drei Höhen eines Dreiecks miteinander, so entsteht das sogenannte Höhenfußpunkt-Dreieck. Warum halbieren die Höhen die Winkel dieses Höhenfußpunkt-Dreiecks? Warum ist z. B. a = ß? (vgl. Abb. 12). Ein Protokoll : Abb. 12. "Gegeben sind Höhen. Die Höhenstehen auf den Seiten von ABC senkrecht, also sind y und t5 als Winkel, deren Schenkel paarweise aufeinander senkrecht stehen, einander gleich (Voraussetzungsanalyse). Man müßte nun zeigen können, daß a = y und ß = t5 ist." Weiter kam die Vp nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen, die zuletzt erreichte Problemphase zu lösen, gab sie auf. - Der Prozeß könnte etwa folgendermaßen weitergehen: a = y, das hieße doch, daß a und y 1 Die von KATONA für die Schwierigkeit der Aufgabe in erster Linie verantwortlich gemachte optische Täuschung, bestehend in einer Dehnung der Quadrate in der Längsrichtung, läßt sich eliminieren, ohne daß die Aufgabe dadurch wesentlich leichter würde. 2 Zwei Vpn konnten sich übrigens trotz dieser "theoretisch" klaren Lösung nicht anschaulich klar vorstellen, wie die Teile sich zu einem ganzen Tetraeder wirklich zusammeuschließen. lrgendwo klaffte es immer.

Die "Höhen" -Aufgabe.

45

Peripheriewinkel über FM sind, daß somit die Punkte F, M, A, D auf einem Kreis liegen (Zielanalyse). - Es wäre also zu zeigen, daß in der Tat F, M, A, D auf einem Kreis liegen. Nun sind nach Voraussetzung die Winkel bei D und F Rechte und zwar über derselben Sehne AM (die drei Höhen schneiden sich ja in einem Punkt), also liegen wirklich nach dem Satz des Thales F, M, A, D auf einem Kreis, ergo ...... .

Schauen wir uns den Prozeß näher an. 1. Zunächst findet eine Voraussetzungsanalyse statt. So eine Explizierung der gegebenen Voraussetzungen geschieht natürlich immer sub specie des Zieles. So, wie in der 13-Aufgabe an analoger Stelle im allgemeinen nach einer teilbarkeitsrelevanten (nicht irgendeiner) Gemeinsamkeit der Zahlen gesucht wird, so wird hier speziell nach einer winkelgleichheitsrelevanten Folgerung aus den Voraussetzungen gesucht. Die Vpn forschen hier oft ausdrücklich nach irgendwelchen "Winkeln, die mit a und ß in Beziehung stehen" oder nach "ähnlichen Dreiecken, in denen a und ß liegen" u. dgl. Man sieht: Richtunggebendfür die Voraussetzungsanalyse ist das Wissen um se}J,r allgemeine Beziehungen (hier die Ähnlichkeits-, die Kongruenzsätze u. dgl.). Ich besitze von den verschiedensten Aufgaben her Protokolle, in denen die Vpn sich ausdrücklich die Frage vorlegen: "was gibt es e·igentlich für Sätze über so etwas - - 1" (eine wichtige heuristische Methode!). Z. B. eine Vp fragte sich bei der Höhenaufgabe nach "anwendbaren Sätzen über Winkelgleichheit", worauf ihr zunächst nur die Ähnlichkeits- und Kongruenzsätze einfielen. Als es damit nicht gehen wollte - die Figur versprach keine ähnlichen bzw. kongruenten Dreiecke - fragte sie sich weiter nach "anderen anwendbaren Sätzen _. _" und kam so zum Peripherie· winkelsatz, den sie aber nicht anzuwenden verstand. Eine andere Vp gelangte über den Peripheriewinkelsatz tatsächlich zur Lösung. - Aber wohlgemerkt: was einem auf die Frage nach zielrelevanten Sätzen tatsächlich einfällt, das hängt nicht nur vom Wissensschatz in abstracto ab. Hier spielt eine maßgebliche Rolle, wie das gegebene Modell (die "Figur") für die Vp konkret strukturiert ist. 2. Nachdem solchermaßen durch Voraussetzungsanalyse y = c" z. B. "b > c", oder von dem als transitiv bereits definierten Begriff "größer als" die Transitivität abgelesen würde.) Die Ablesung eines nichtkonstitutiv mitenthaltenen Moments wollen wir "synthetische Ablesung" nennen. Es wird darin dem durch die Prämissen konstituierten Sachverhalt ein neuer Aspekt gleichsam "hinzugesetzt" (vgl. die Ausdrucksweise "synthetisches Urteil" bei KANT). Die Ablesung eines konstitutiv mitenthaltenen Moments hingegen heiße "analytisch". - Ein anderes,

a

Abb. 16.

b

noch relativ ähnliches Beispiel: es kann ohne Benutzung arithmetischer Axiome zur Evidenz gebracht werden, daß ein Teiler eines Teilers der Zahl a Teiler von a ist. Auf folgende (verallgemeiner nde) Weise: ein "Teiler" eines Ganzen G läßt sich geometrisch auffassen (definieren) als eine Größe T, die in endlicher Wiederholung das Ganze gerade ausfüllt, wie es in Abb. 16a paradigmatisch dargestellt ist. Ein Teiler T' von T verhält sich genau so zu T wie dieses zu G (Abb. 16b). Dann sehe ich, lese ich ab, daß T in endlicher Wiederholung G ergibt, d. h. ein Teiler von G ist, q. e. d. Auch hier ist die Conclusio zum Aufbau der Fundamente (resp. - was dem äquivalent ist - zur Definition der Prämissenbegriffe) nicht mitverwendet worden. Ein konstitutives Mitenthaltensein liegt also auch hier nicht vor. - Ein drittes Beispiel: ich versuche zwei paradigmatisch e "Geraden" einander zweimal schneiden zu lassen. Dann sehe ich, lese ich ab, daß sie mir bei dieser Bemühung unter der Hand krumm geworden sind ; präziser: das Krummsein erweist sich mir als ein neuer (zum Aufbau nicht mitverwendeter ) Aspekt am Sachverhalt des Einandetzweim alschneidens zweier Linien (womit - im welcher 1 "Paradigmatisch " wollen wir einen Sachverhalt nennen, unter ausschließlicher Verwendung der in den Prämissen ausdrücklich enthaltenen Begriffe in der Anschauung konstruiert ist.

60

Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

Verein mit dem Satz vom Widerspruch - das Axiom "zwei Geraden schneiden sich höchstens einmal" indirekt zur Evidenz gebracht ist) 1 . Man sieht bereits aus diesen wenigen Beispielen: dem unmittelbaren Bedeutungsgehalt nach sind "analytisch" und "synthetisch" nicht unbedingt Gegensätze, sondern zwei Seiten eines bestimmten Verhältnisses. Denn aWJh "synthetische" Ablesung beruht auf einer bestimmten Form von "Mitenthaltensein" und ist daher - im allgemeinsten Sinn- "Analyse". Immerhin hat "analytisch" eine besondere Affinität zu konstitutivem Mitenthaltensein und "synthetisch" zu nicht-konstitutivem Mitenthaltensein. Noch eine Bemerkung zu dem hier verwendeten Begriff der "Anschauung". Es ist gleichgültig, ob man das, was in der vorliegenden Untersuchung "Anschauung" genannt wird, noch als Anschauung im engeren Sinn oder teilweise bereits als "unanschauliche Repräsentation" (vgl. das sogenannte unanschauliche Denken) bezeichnen will. "Anschauung" soll uns diejenige Begebenheitsweise sein, in der so etwas wie "a > b, b > c, a < c" unvollziehbar wird. Sie dürfte sich decken mitHusSERLS "Intuition", im Gegensatz zu reiner "Signifikation ", bloßem Meinen, - vgl. speziell Logische Untersuchungen II, 2, S. 192. - (H. nennt übrigens die Anschauung von dergleichen wie a > b "kategoriale (fundierte) Anschauung", a. a. 0. S. 128 ff.).

§ 4. Auseinandersetzung mit der modernen Axiomatik. Eine kurzgefaßte Auseinandersetzung mit der modernen Mathematik sollte nicht länger hinausgeschoben werden. Wie steht die moderne Axiomatik zur Frage der Einsicht, Evidenz 1 Für den modernen Mathematiker (vgl. D. HILBERT, Grundlagen der Geometrie) ist die Gerade das, was durch die Axiome über sie - ein anfängliches X- definitorisch festgesetzt ist, nicht mehr. Und die Relation "größer als" gewinnt ihre Transitivität in der Mathematik nicht anders als durch logische Deduktionen aus bestimmten Festsetzungen (aus den Axiomen über die Beziehungen "zwischen" und "kongruent"). M. a. W. in der modernen Mathematik sind Sätze (Beziehungen von der Form "wenn a, dann b"), die nicht aus anderen Sätzen logisch abgeleitet werden, Festsetzungen, Konventionen (PoiNCARE), implizite Definitionen (ScHLICK). Die Evidenz dieser Axiome wird so - und zwar absichtlich - auf die Form eines konstitutiven Mitenthaltenseins (spezieller: Mitgesetztseins) des b in dem definierten a reduziert, kurz: auf "analytische" Ablesbarkeit (Tautologie). Metaphorisch: der Mathematiker schreibt den mathematischen Gegenständen ihre "Evidenz" vor, freilich unter Preisgabe synthetischer Evidenz. (Übrigens werden auch die logischen Axiome, die Deduktionsprinzipien, heute gern als bloße Feststellungen angesehen.) 1 Dies hätte natürlich auch in Form eines direkten Beweises geschehen können: von der Konstruktion zweier sich einmal schneidender Geraden ist ablesbar, daß sie nicht wieder zusammenkommen.

Auseinandersetzung mit der modernen Axiomatik.

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Gegen dieses Verfahren ist nichts einzuwenden. Der Mathematiker und Logiker kann so vorgehen. In der Tat, Mathematik und Logik würden "funktionieren", auch wenn sämtliche Prinzipien nichts als Festsetzungen wären. Kurz: "Festsetzung" und "evidentes Folgen" sind hinsichtlich ihrer logischen Leistungsfähigkeit äquivalent. Jedoch: gewiRse Wenn-dann-Beziehungen haben, abgesehen davon, daß sie sich als Festsetzungen behandeln lassen, noch eine zweite Natur, die zwar für den rein logischen Aufbau der Mathematik irrelevant, deswegen aber keineswegs überhaupt nicht existent ist. Diese zweite Natur ist eben jene synthetische Evidenz, die wir oben (s. S. 59) an einigen Beispielen zu demonstrieren suchten. Die ältere Mathematik forderte solche Evidenz überall dort, wo heute nur noch Festsetzungen stehen. Diese Forderung wurde von den modernen Mathematikern aufgegeben und damit die eigentliche Evidenz aus den Bezirken der "reinen" Mathematik verbannt. Sie kam dann in der Philosophie zu großen Ehren, wurde zum Prinzip des sogenannten phänomenologischen Erkennens erhoben und aller bloß induktiven Gewißheit schroff entgegengesetzt. Das Problem aber, wie sie vom Gegenstand her möglich sei, wurde mit den Worten "im Wesen gründen" - zugedeckt. Es macht übrigens auch für die Anwerulbarkeit mathematischer Axiome auf die empirische Wirklichkeit keinen prinzipiellen Unterschied, ob die Axiome "praktische Festsetzungen" oder "Einsichten" sind. Denn wenn ich aus dem empirisch Gegebenen gewisse Begriffe wie "größer als" oder "Gerade" abstrahiere, zu komplexeren Gebilden zusammenfüge und daraus allerlei neue Einsichten ablese, so habe ich dafür, daß diese Einsichten auf die Wirklichkeit zutreffen, nicht mehr Gewähr, als wenn ich mit lauter praktischen Festsetzungen arbeitete. Ich könnte mich ja bei der Abstraktion geirrt haben. Kurze Abschnitte schwach gekrümmter Linien sind fürs Auge gerade. Ich kann infolgedessen den Begriff der unendlichen Geraden aus der Wirklichkeit abstrahieren und in ihr verwirklicht glauben - bloß abstrahieren ließe er sich übrigens auch aus lauter deutlich krummen Linien - ohne daß es doch in dieser selben Wirklichkeit dergleichen zu geben brauchte. Daraus folgt aber: die Anwendbarkeit auf Wirkliches ist für das "Wesen" auch solcher Begriffe, die aus der Wirklichkeit abstrahiert wurden, in keiner Weise Pflicht - woraus denn gleichzeitig zu ersehen ist, daß sogenannte Wesensschlüsse auf Wirkliches nie absolut gezogen werden können. Denn ob die betrejjerule Wirklichkeit das in den Prämissen ausgesagte "Wesen" tatsächlich verkörpert oder nicht, läßt sich einzig und allein empirisch entscheiden. Für synthetische Einsicht ebenso wie für analytische gilt der ErNSTEINsehe Satz: "Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit" (Geometrie und Erfahrung, s. S. 3 f.).

Wenn sich nun - wie wir sahen - weder die "reine" Mathematik noch die Wirklichkeitsforschung auf synthetische Evidenz verläßt, wozu ist - so könnte man fragen - synthetische Evidenz dann überhaupt nötig? Die Antwort lautet dreifach: 1. Ob nötig oder nicht, sie

Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

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existiert. 2. Auch eine maximal "formalisierte" Mathematik enthält noch gewisse nicht mehr eliminierbare Grundintuitionen, z. B. die Begriffe "Element", "Beziehung", "Folgen", sowie die Prinzipien des Deduzierens. Sollte nicht, was der logischen Anschauung bzw. Evidenz recht ist, der räumlichen Anschauung und Evidenz billig sein?! Ferner, hielte man die Raumanschauung für außerstande, sich ihrer Übereinstimmung mit den Axiomen der euklidischen Geometrieper evidentiam ein für allemal zu versichern, so wäre damit die "reine Raumanschauung" mit der "empirischen Wirklichkeit" auf die gleiche erkenntnistheoretische Stufe gestellt, was mir, trotz REICHENBACHS dahinzielender Versuchel, außerordentlich verfehlt erscheint. 3. Vor allem: produktives Denken ist ohne synthetische Einsicht - wie wir noch sehen werden - nirgends, weder in der Mathematik und Logik noch in der Wirklichkeitsforschung psychologisch möglich. Allgemeiner gefaßt: die anschauliche Schicht, in der synthetische Einsicht heimisch ist, ist das psychologische Medium produktiven Denkens überhaupt (auch des axiomatischen!). Auf diese denkpsychologische Relevanz der Einsicht kommt es uns an.

§ 5. Wie ist synthetische Einsicht möglich? Bevor wir jedoch den Beweis fÜr diese zweite Behauptung antreten, ist noch einiges zu tun. Noch ist unsere Frage: "wie ist synthetische Einsicht möglich?" nicht zu Ende beantwortet. Synthetische Einsicht ist offenbar dadurch möglich (vgl. die Beispiele S. 59), daß ein Sachverhalt sich in der Regel durch weniger Momente (Aspekte) aufbauen läßt, als nachher - vermöge neuer "Betrachtungsweisen" - von ihm abgelesen werden können 2 . Es sind nicht alle möglichen Aspekte eines Denkgegenstandes zu seinem Aufbau nötig, so wenig wie alle möglichen Aspekte e'ines visuellen Gegenstandes zur eindeutigen Erfassung seines Aufbaus nötig sind. Ein und derselbe paradigmatisch in der Anschauung konstruierte Sachverhalt läßt sich a) von neuen Seiten, b) in neuen Richtungen, c) in neuen Zusammenfassungen, d) zum erstenmal als Ganzes usw. betrachten. (Auf dieser "Aspektstruktur" der Denkgegenstände beruht die Möglichkeit synthetischer Evidenz.) Beispiele zu a): die notwendige Krümmung zweier einander mehr als einmal schneidender "Geraden", b): aus "a größer als b" folgt "b kleiner als a", c): die Transitivität der Relationen "größer als" und "Teiler von", d): wenn im Zimmer ein Mensch A ist und ein Mensch B und ein Mensch C ... , dann sind drei Menschen im Zimmer. Diejenigen Aspekte, die von einem heterogen (d. h. durch andere Aspekte) aufgebauten Sachverhalt auf solche Weise ablesbar sind, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, § 9-13. Der Terminus "ablesen" soll zum Ausdruck bringen, daß es sich um ein "Sehen", ein "Einer-Sache-etwas-Absehen"handelt. Einsicht ist in der Tat ein Sehen, Ersichtlichwerden. (Vgl. Kap. VI, speziell S. 98f.) 1

2

Gestalttheoretische Deutung der synthetischen Einsicht.

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werden als einsichtliche "Folge" der aufbauenden Aspekte (des "Grundes") bezeichnet. (Das klassische Kriterium: "die Folge kann bei gegebenem Grunde nicht anders sein als sie ist", ergibt sich, wie man sieht, mit Notwendigkeit aus unserer Auffassung des einsichtliehen Grund-Folge-Verhält nisses.) In den bisher herangezogenen Beispielen handelte es sich zumeist um "relativ" bestimmte Ablesungsfundamen te, d. h. die Elemente der Ablesungsgrundlage waren nicht absolut, sondern relativ zueinander definiert. Z. B. durch a > b wird dem a kein absoluter Größenwert oder -bereich, sondern ein bloß relativ zu b bestimmter Größenbereich vorgeschrieben. Analog werden durch die Prämissen "zwei sich zweimal schneidende Geraden" die Lagen der Geraden nicht absolut, sondern relativ zueinander bestimmt. - Es liegt nun eine im Vergleich zu den eben genannten Fällen primitivere Form von einsichtiger Ablesung dann vor, wenn die Fundamente absolut definiert sind. So läßt sich von den Fundamenten a = 6 cm (bzw. 4--7 cm) und b = 2 cm (bzw. 1-3 cm) einsichtig ablesen "a > b". Oder von den (geeignet gewählten) Orten x 1 , Yv z1 und x 2 , y 2 , z2 zweier Gegenstände a und b ist ablesbar, daß "a links von b" liegt; ebenso von zwei geeigneten Farbwerten ihre "Gleichheit" u. dgl. Diese Form von Einsichtlichkeit "fundierter" Phänomene bei gegebenen Fundamenten ist öfters hervorgehoben worden 1 . Sie ist vom Typus synthetischer Einsichtlichkeit, denn die abgelesene Relation braucht bei der Wahrnehmung resp. begrifflichen Charakterisierung ihrer Fundamente noch nicht mitvollzogen zu sein.

§ 6. Gestalttheoretische Deutung der synthetischen Einsicht. In einer synthetischen Ablesung vollzieht sich ein Aspektwechsel, bei gleichzeitiger Erhaltung von - ja von was eigentlich? Was ist eigentlich unter den "Fundamenten" einer Ablesung zu verstehen? Betrachten wir daraufhin einmal den in Abb. 17 dargestellten Fall. Gegeben ein Quadrat und in bestimmtem Abstand davon eine Strecke, die man sich durch senkrechte Parallelverschiebung einer Quadratseite erzeugt denken kann. Hier gilt einsichtlich: Wenn ein diesseits der Strecke S gelegener Punkt den senkrechten Abstand a von S hat, dann liegt er außerhalb des 1 Z. B. von LINDWORSKY in seiner "Theoretischen Psychologie im Umriß", S. 37 ff. - Leider hat man dem Fundierungsverhältni s oft eine genetische (zeitliche) Priorität der fundierenden Inhalte vor den fundierten sowie eine verschiedene Provenienz beider untergeschoben, z. B. seitens der sogenannten Grazer Schule - womit das Richtige an diesem Verhältnis arg verschüttet wurde. Eine Relation ist psychologisch häufig realisiert, ohne daß ihre Fundamente einzeln für sich überhaupt zum Bewußtsein gelangten. Dieses Primat den Fundamenten gegenüber haben solche Relationserlebnisse mit den eigentlichen Gestalterlebnissen gemeinsam.

Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

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Quadrats; wenn er analog den Abstand ß hat, dann liegt er auf der Quadratseite; wenn er schließlich den Abstand y hat, dann liegt er innerhalb des Quadrats. Innerhalb jeder dieser drei Aussagen vollzieht sich ein Aspektwechsel des Punktes. Der Punkt ist jedesmal zuerst nur durch einen bestimmten Abstand von der Strecke S charakterisiert. Dann wird er plötzlich durch seine Lagebeziehung zum Quadrat charakterisiert. Er hat jetzt also - vermöge einer neuen "Betrachtungsweise" - seinen "Aspekt" geändert. Gestalttheoretisch ausgedrückt: er hat dadurch, daß er in eine neue Gestaltung eingegangen ist, seine konkrete "Funktion" geändertl. Wollte man nun schon von hier aus verallgemeinern und sagen, synthetische Einsicht bestehe also offenbar darin, daß die aus einer neuen Gestaltung gegebener Elemente resultierenden neuen Eigenschaften S dieser Elemente abgelesen werden, so hätte man damit das Spezifische von "Einsicht" sofort wieder verloren. ;(I Denn wenn man z. B. reinen Wasserstoff und reinen r Sauerstoff geeignet zusammenbringt (also in einen geeigneten Gestaltzusammenhang bringt), und das Resultat, den Knall und Entstehung von Wasser, "abliest", dann hat man zwar etwas sehr Wichtiges beobachtet, aber "synthetisch eingesehen" hat man nichts. Oder: Wenn Abb. 17. in einem wahrnehmungspsychologischen Experiment die Helligkeit h einer zweiten Helligkeit h + s glel.ch erscheint und diese wieder einer dritten Helligkeit h 2 s, und wenn nun beim Vergleich von h mit h 2 sauf einmal Ungleichheit ablesbar wird, so hat man zwar wieder etwas Wichtiges beobachtet, aber nichts "synthetisch eingesehen". Im Gegenteil, man wundert sich im ersten Augenblick über solche "Unlogik" (und das, obwohl hier das eigene Nervensystem schuld ist). Kurz: Synthetische Einsicht kann nicht einfach darauf beruhen, daß das Resultat einer neuen Gestaltung abgelesen wird. Das Beispiel von Abb. 17 muß also anders interpretiert werden, um als Beispiel "synthetischer Einsicht" verständlich zu sein. In der Tat: Der Punkt bleibt beim Wechsel seiner "Funktion" nicht nur numerisch identisch das bleiben ja auch die Wasserstoffatome oder die Helligkeit h - sondern er bleibt ortsidentisch, d. h. aber, er bleibt identisch in der für die beiden sukzessiven Funktionen "fundamentalen" Hinsicht. Der Ort, an den er durch seine Funktion innerhalb der ersten Gestaltung (z. B. der Punkt hat den Abstand a von S) gestellt worden war, ist derselbe Ort, vermöge dessen er in der zweiten Gestaltung die Funktion "außerhalb des Quadrats liegend" übernimmt. Wir wollen das so ausdrücken: die erste Ge-



.

+

+

1 "Funktion" oder "Teilqualität" nennt man eine Eigenschaft, die einem Element nur als Teil seines konkreten Gestaltganzen zukommt.

Gestalttheoretische Deutung der synthetischen Einsicht.

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staltung (die Abstandsbeziehung zu S) konstituiert das Fundament, von dem - in Verbindung mit weiteren Fundamenten, als da sind die bestimmte Lage und Größe des Quadrats - der neue Aspekt, die neue Funktion synthetisch abgelesen wird. "Fundament" bedeutet also eine durch die erste Gestaltung konstituierte Eigenschaft, die identisch erhalten bleiben muß, damit in der neuen Gestaltung die neue Funktion einsichtig ablesbar sei. Sie ist das Identische im Wechsel der Funktionen. - Diese Identität bewirkt übrigens den eigentümlichen Phänomenalcharakter des "Hervorgehens-aus", der "inneren Notwendigkeit". Man spürt bei der Ablesung, wie das Abgelesene ausschließlich in den durch die Aufbauprämissen konstituierten Eigenschaften der Sachverhaltselemente fundiert ist, "aus ihnen hervorgeht". Bei genügender Beachtung dieser Identitätsbedingung entfällt die Gefahr, daß der Ablesende irgend etwas für einsichtlich halte, nur weil es im Augenblick der Ablesung "ablesbar" ist. Wenn im Augenblick der Ablesung von der durch die Funktionen a > b und b > c konstituierten Ablesungsgrundlage das a boshafterweise plötzlich zu schrumpfen (oder sich rot zu färben) anfinge, so wäre der Ablesende durchaus nicht zu ahnungslosem Für-evident-halten solchen Fatums (a < c oder a rötlicher als c) verdammt. Die Fundamente müssen ja so in die neue Gestaltung eingehen, wie sie sich als durch die frühere Gestaltung konstituiert jederzeit vergegenwärtigen lassen. Es empfiehlt sich, die gewonnenen Erkenntnisse in einer endgültigen Formulierung der Antwort auf die Frage, wie synthetische Einsicht möglich sei, zusammenzuziehen: Synthetische Einsicht ist dadurch möglich, daß von einem in bestimmter Gestaltung gegebenen und durch bestimmte Funktionen (Aspekte) charakterisierten Sachverhalt bei identisch festgehaltenen Fundamenten neue, d. h. zur Charakterisierung nicht mitverwendete Funktionen (Aspekte) v~;rmöge neuer Gestaltungen (Betrachtungsweisen) ablesbar sind. Damit wäre die allgemeine Kautische Frage "wie sind synthetische Urteile a priori möglich!" beantwortet, sofern "synthetisch" im Sinne eines auf nicht-konstitutivem Mitenthaltensein beruhenden Folgens, "analytisch" im Sinne eines auf konstitutivem Mitenthaltensein beruhenden Folgens und "a priori" im Sinne von einsichtlich verstanden werden. Unsere Beantwortungdes allgemeinen Karrtischen Problems unterscheidet sich von der Kautischen grundsätzlich dadurch, daß wir - hierin übrigens mit der Phänomenologie HussERLS übereinstimmend -das synthetische Apriori nicht auf im Gegenstand investierte Verordnungen der Vernunft reduzieren, sondern als im Eigenwesen der Gegenstände selbst gründend begreifen 1 • 1 Es tut hier nichts zur Sache, daß HusSERL unser synthetisches Apriori noch einmal unterteilt und "synthetisch" nur die im "sachhaltigen", "stofflichen" Wesen gründenden Erkenntnisse nennt, die im "formalen" Wesen gründenden dagegen "analytisch", vgl.Log. Unters. II, 1, S. 25tff.; II, 2, S. 189ff. 5 Duncker, Psychologie des produktiven Denkens.

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Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

§ 7. Über Allgemeingültigkeit und Zuverlässigkeit einer synthetischen Ablesung. Die geschilderte Theorie der Einsicht stellt uns u. a. vor die Frage: wie ist die Allgemeingültigkeit einer Einsicht möglich, da doch Ablesung jeweils nur an einem Paradigma erfolgt. Wie kann ich z. B. von einer Konstellation bestehend aus einem Haus, einem Baum und einem Busch die allgemeine Transitivität der Größerbeziehung ablesen? Woher weiß ich, daß dasselbe herausgekommen wäre, wenn ich statt dessen eine Vase, ein Tintenfaß und einen Radiergummi als Modell verwendet hätte ? Zur Allgemeingültigkeit einer Einsicht ist offenbar nur nötig, daß ich die für die Anwendung eines Begriffs (z. B. des Begriffs "größer als") wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes von den unwesentlichen unterscheiden kann (das Merkmal "größer als" von dem "um 2,5 m größer als" sowie - erst recht - von dem Grün des Baumes, der da größer als der Busch ist). Das aber kann ich in der Tat, so wahr ich überhaupt Begriffe zu konzipieren und anzuwenden vermag. Folglich kann ich auch bei der Ablesung erkennen, welche Merkmale der Ablesungsgrundlage in die jeweilige Ablesung eingehen und welche nicht. Noch nicht geklärt ist das Verhältnis zwischen der Ablesbarkeit und der "Unschärfe aller Anschauung" (ScHLICK, Allgemeine Erkenntnislehre, S. 27 ff.). Warum kann man z. B. die Tatsache, daß die Winkelsumme eines bestimmten gegebenen Dreiecks 180 Grad beträgt, nicht einfach direkt ablesen? Warum gestattet überhaupt bei so vielen Sachverhalten, wo es sich um genaue Größenwerte resp. Koinzidenzen handelt, die Anschauung nur ungefähre Mutmaßungen? 1 - Gewissen Aufgaben gegenüber erweist sich die Anschauung in der Tat als zu unscharf. Ehe man aber, wie ScHLICK es tut, aus der wahrscheinlich richtigen Feststellung, "daß allem Anschauen oder sonstigen Erleben die völlige Schärfe und Exaktheit mangelt", einen allgemeinen Schluß auf die ungenügende Schärfe der Anschauung zieht, muß man sich doch erst einmal fragen: fehlt mit der völligen Schärfe auch überall die nötige Schärfe ? 2 Betrachten wir einmal den üblichen Beweis des obigen Winkelsummensatzes. Es sei bereits gezeigt, daß (vgl. Abb. 18) a' = a, ß' = ß, y= y. 3 Nun ist u. a. noch der Satz nötig: Gleiches zu Gleichem addiert 1 Daß sie immerhin Vermutungen nahelegt, darin besteht die heuristische Funktion der Anschauung, welche, denkpsychologisch betrachtet, von größter Bedeutung ist (vgl. Kap. VIII, S. 132). 2 Wäre das Psychische in jeder Beziehung zu unexakt, so nützte auch die Axiomatik nichts. Denn der Vollzug besteht auch hier aus psychischen Prozessen. 3 An diesem Nachweis ist übrigens schön zu sehen, wie in die Ablesung nur solche Eigenschaften des Paradigmas eingehen, die es zu "Winkeln an Parallelen" resp. zum "Dreieck" machen.

Über synthetische Ablesung aus vorgefundenen Fundamenten.

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gibt Gleiches. Bedarf es für diesen Satz, d. h. zur einsichtigen Ablesung der Conclusio aus den Prämissen einer besonderen Schärfe der Anschauung 1 Brauchten wir irgend eine besondere Schärfe der Anschauung zu der Feststellung, daß zwei sich schneidende Geraden nicht wieder zusammenkommen 1 - oder daß aus a > b > c folgt a > c 1 (Vgl. besonders auch die im § 9 diskutierten Beispiele.) Es gibt also Bedingungen, unter denen das Abzulesende in der Ablesungsgrundlage genügend klar zutage tritt. Wo das nicht der Fall ist, da erst sieht sich der (primitive) Mensch nach Beweisen um. Die ursprÜngliche Funktion des Beweises ist: etwas nicht direkt Ahleshares in etwas direkt Ahleshares resp. in eine Kette direkter Ablesbarkeiten aufzulösen. Ein lehrreiches Beispiel hierfür: Gelegentlich einer Bergtour, bei der der Abstieg auf demselben Weg geschah wie der am Tag vorher erfolgte Aufstieg, legte ich mir die Frage vor, ob es wohl auf dem Weg einen Ort geben müßte, an dem ich / mich beim Abstieg zur genau gleichen Tageszeit befJ.'/.-; fände wie beim Aufstieg, vorausgesetzt natürlich, daß '« « Auf- und Abstieg sich im ganzen zu ungefähr gleicher Abb. 18. Tageszeit (sagen wir von 5 bis 12 Uhr) abspielten? - So ohne weiteres wollte mir keine überzeugende Einsicht gelingen. Ich habe seitdem Dutzenden von primitiven sowohl wie intellektuellen Menschen diese Frage vorgelegt und mit großem Vergnügen beobachtet, daß es anderen auch so geht. - Der Leser überlege selbst ein wenig. - Gewiß gibt es mehrere Zugänge zur Einsicht der Lösung. Aber keiner dürfte es an unmittelbarer - fast möchte ich sagen, drastischer - Einsichtlichkeit mit folgender Zurechtlegung aufnehmen: man verteile Aufstieg und Abstieg an zwei Personen am gleichen Tag. Die müssen sich doch begegnen. Ergo. - Damit ist der Sachverhalt aus einem unklaren, dämmerigen, nicht recht überschaubaren Zustand plötzlich ans Licht gebracht. Die Antwort wird ablesbar, die Anschauung scharf genug.

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§ 8. "Über synthetische Ablesung aus vorgefundenen (nicht konstruierten) Fundamenten. Es war in den bisherigen Erörterungen über Einsicht fast ausschließlich die Rede von Ablesungsgrundlagen, die aus gewissen begrifflichen Prämissen (paradigmatisch) konstruiert sind, kurz, von konstruierten Fundamenten. - Es leuchtet jedoch ein, daß Einsicht nicht an konstruierte Sachverhalte gebunden ist. Die Ablesungsgrundlage kann - bis auf die neu herangebrachte "Betrachtungsweise" - auch bloß "gegeben", "vorgefunden" sein. Sie muß nur irgendwie "charakterisiert" sein. Worauf es bei synthetischer Einsicht ankommt, ist ja nur dieses: die ursprüngliche phänomenale Gegebenheitsweise der Ablesungsgrundlage, ihre bestimmte "Charakterisiertheit" darf das Abzulesende nicht schon konstitutiv mitenthalten. Das Abgelesene muß den ursprünglichen phänomenalen Aspekten gegenüber einen neuen Aspekt darstellen - natürlich nicht im Sinne eines Zusatz5*

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Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

materials, wie es etwa durch "genaueres Hinsehen" entdeckt werden kann. Statt weiterer Auseinandersetzungen ein Beispiel: gegeben ein bestimmtes Zimmer mit seinen Möbeln usw. Es kann dann z. B. der folgende Satz gelten: "Wenn man in diesem Zimmer vom Ofen geradeswegs zur Tür geht, kommt man dicht an einer Kommode vorbei." Dieser Aspekt braucht in der ursprünglichen Gegebenheitsweise des Zimmers keineswegs konstitutiv mitenthalten zu sein (wie z. B. das Vorhandensein der Kommode) und ist gleichwohl ablesbar von dem Tatbestand dieses Zimmers mit der darin gezogenen Geraden. - Ein anderes Beispiel, bei dem es sich um eine wichtige Komponente fast aller praktischen Manipulationen handelt!. Gegeben ein Gegenstand an einem bestimmten Ort P. Wenn nun mein Körper, meine Hand oder ein von mir hantierter Stock sich in einer bestimmten (nicht mit Hilfe von P charakterisierten) Richtung bewegt, so ist ablesbar, daß mein Körper (resp. Hand oder Stock), wenn es so weiter geht, d. h. nichts Unvorhergesehenes dazwischen kommt, den in P befindlichen Gegenstand berühren wird. Was diese beiden Fälle von unseren früheren Beispielen unterscheidet, ist lediglich der Umstand, daß jetzt die anschauliche Ablesungsgrundlage nicht aus irgendeiner Begrifflichkeit konstruiert, sondern zum größten Teil (im ersten Beispiel bis auf die gezogene Gerade und die Betrachtung ihrer Umgebung, im zweiten bis auf die Bewegung in bestimmter Richtung) einfach nur "gegeben" ist 2 • Der Grund, warum in diesem Kapitel der Spezialfall der Ablesung von begrifflich konstruierter Grundlage im Vordergrund steht, ist einfach der: Das Spezifische der synthetischen Einsicht ist leichter zu demonstrieren, wenn man die Ablesungsgrundlage begrifflich "in der Hand" hat. Pures Gegebensein läßt sich nicht mitteilen und das "Wie" eines Gegebenseins läßt sich wi-eder nur begrifflich charakterisieren. - Dazu kam noch der Wunsch, den Anschluß an ältere Behandlungen des Problems zu erleichtern. Mit dem Wegfall der Beschränkung auf begrifflich konstruierte (paradigmatische) Ablesungsgrundlagen ist nun aber der Anwendungs1 Sie kommt z. B. in allen Lösungen problematischer Situationen vom Typus der KöHLER sehen vor. 2 Das soll nicht heißen, die Ablesungsgrundlage ließe sich nicht auch konstruieren und zwar heterogen, d. h. ohne Mitverwendung der abgelesenen Relation. Man brauchte ja einfach nur die Lagen der verschiedenen Zimmerbestandteile durch deren räumliche Koordinatenwerte in irgendeinem Bezugssystem zu charakterisieren. Und wenn auch die Umsetzung dieser verschiedenen Koordinatentripel in die entsprechende anschauliche Verteilung der Zimmerbestandteile einen relativ umständlichen Vermittlungsprozeß erheischte, so wäre diese Umsetzung doch vom gleichen Typus wie die Umsetzung des Ausdrucks a > b in ein anschauliches Modell.

Noch einige Beispiele synthetischer Ablesbarkeit.

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hereich unseres Einsichtsbegriffs ungeheuer gewachsen. Im gewöhnlichen Leben sehen wir ja nicht aus eigens gesetzten Prämissen ein, sondern aus gegebenen Situationen und darin vorgenommenen Operationen! Wir interessieren uns in der Praxis des Lebens nicht für allgemeine, allgemeinverständlich und allgemeingültig formulierbare Sätze, sondern dafür, daß es hic et nunc stimmt! (Ganz zu schweigen davon, daß Tiere durch die Forderung begrifflich konstruierter Ablesungsgrundlagen von vornherein aus dem Reich der Einsicht ausgeschlossen würden was unbillig wäre.)

§ 9. Noch einige Beispiele synthetischer Ablesbarkeit. Im folgenden sollen noch einige weitere Beispiele einsichtiger Ablesung herangezogen werden, um die Reichweite, die Implikationen der Theorie zu demonstrieren. In den ersten drei Beispielen handelt es sich nicht wie bisher um nur je eine einzige Ablesung, sondern um je eine ganze Kette von Ablesungen, die in einer "Schlußablesung" terminiert. In einer solchen Kette gehen die Ergebnisse der früheren Ahlesurrgen in die Konstruktion der Ablesungsgrundlage der späteren ein, bis zu der die Conclusio enthaltenden Schlußablesung. 1. "Eine ungerade Zahl eine ungerade Zahl = eine gerade Zahl". "Ungerade" heißt: eine Menge von Paaren ein halbes Paar. Zunächst ist ablesbar, daß zwei Mengen von Paaren, zusammengetan, wieder eine Menge von Paaren ergibt. Ferner ist ablesbar, daß ein halbes Paar mit einem anderen halben Paar zusammen ein ganzes Paar ergibt. Schließlich führt eine dritte Ablesung zur Konklusion 1 . 2. "7 5 = 12". Die Prämisse "7 5" konstruiert die (zunächst aus x Elementen bestehende) Vereinigungsmenge aus einer Menge von 7 und einer Menge von 5 (anderen) Elementen. Die Frage "wieviel ist das?" (was ist x für eine Zahl?) fordert eine bestimmte Operation, nämlich eine abzählende Durchlaufung dieser Vereinigungsmenge (so, daß jedes Element gerrau einmal genannt wird) und die Nennung der auf das letzte Element entfallenden Zahl. Von der auf solche Weise abzählend durchlaufenen Vereinigungsmenge, gerrauer von dem letzten Element dieser Abzählung ist der Name "12" ablesbar. (Es sei bemerkt, daß wir uns hier nicht um mengentheoretische und arithmetische Definitionen zu kümmern brauchen, sondern daß es uns lediglic,h ankommt auf eine Beschreibung des Denkvorganges, durch den so ein Satz wie "7 5 = 12" zur Evidenz gebracht werden kann. In den nächsten zwei Beispielen handelt es sich um "physikalische" Sachverhalte. 3. Wenn ein Spiegel um einen Winkel o gedreht wird und wenn stets Ausfallswinkel =Einfallswinkel ist, dann dreht sich der ausfallende Strahl um 2 ll. - Es ist ablesbar, wie erstens die Spiegeldrehung den alten Ausfallswinkel als ganzes d. h. also auch den ausfallenden Strahl um t5 verschiebt; und wie zweitens der durch die Spiegeldrehung um ll vergrößerte bzw. verkleinerte Einfallswinkel den (ihm gleich sein sollenden) Ausfallswinkel um ll

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1 Der abgelesene neue Aspekt entsteht hier jedesmal dadurch, daß zwei Stücke "im ganzen" angeschaut werden (vgl. S. 62 die Betrachtungsweise d).

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Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

vergrößert bzw. verkleinert, also den ausfallenden Strahl nochmals um ll verschiebt ( Schlußablesung). 4. Größeres Volumen bei konstanter Menge bedeutet geringere Dichtigkeit. - Von der Ausbreitung einer konstanten Menge (z. B. eines Gases) ist als "neue Seite" des Sachverhaltes ablesbar, daß die betreffende Substanz überall "dünner" geworden ist. Zum Schluß noch ein Beispiel aus der reinen Logik. 5. (Auch die logischen Schlußformen verdanken ihre Einsichtlichkeit synthetischen Ablesungen.) Z. B.: aus "alleM sind P" und "alleS sind M" (oder "dieses S ist M") folgt "alle S sind P" (bzw. "dieses S ist P"). - Hier entsteht die Conclusio durch "andere Zusammenfassung" der Termini, vgl. die EuLERsche Umfangsdarstelhmg in Abb. 19. Auf der Einsichtlichkeit dieses Schlußverfahrens beruht übrigens die Einsichtlichkeit der Anwendung jeder allgemeinen Regel. Ich schreibe die "Anwendungsformel" wie folgt: "Aus f (a) und a =b folgt f (b)", z. B. den längsten Gegenstand (a) nehmen (f); ,~ der längste Gegenstand ist dieser Draht hier (b); ergo:

den Draht nehmen [f (b)]. - Wenn ein Mensch oder Tier, etwa in einem Dressurversuch, das Prinzip des geforderten Verhaltens erfaßt hat, z. B. das, "immer durch die der Abb. 19. mittleren benachbarte Tür zu gehen", so handelt er bzw. es von da an einsichtig in bezug auf das erfaßte Prinzip. Jene Verständlichkeit, die auf nichts anderem beruht als auf intuitiver oder logischer Ableitbarkeit aus einem allgemeinen Gesetz (vgl. o. S. 6 f.), ist genau vom Typus der Einsichtlichkeit des obigen Schlußverfahrens.

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§ 10. Anwendung auf die Psychologie des Verstehens und Findens von Lösungen. Die vorstehende Theorie totaler Einsicht wurde absichtlich unabhängig vom denkpsychologischen Versuchsmaterial entwickelt. Sie sollte in sich selbst reif sein, bevor sie für die spezifisch denkpsychologische Problematik fruchtbar gemacht würde. Beginnen wir mit dem Einfachsten. Soweit Ziel- und Situationsanalyse im Folgern aus der Behauptung bzw. den Voraussetzungen bestehen, sind sie vom Typus synthetischer oder analytischer Ablesung 1 . Die "Betrachtungsweise" der Ablesung (vgl. S. 62 u. 64) wird, wie bereits festgestellt, jedesmal vom Ganzen der Problemstellung vorgeschrieben. Wenn z. B. aus dem als richtig unterstellten Sachverhalt, daß es unendlich viele Primzahlen gibt, abgelesen wird, daß dann zu jeder beliebigen Primzahl stets eine größere existiert, so ist die "Betrachtungsweise" dieser Ablesung von dem Bestreben diktiert, die einem endlichen Beweisverfahren nicht zugängliche Unendlichkeitsbehauptung in eine endliche und generelle Behauptung zu verwandeln. Daß es das Unendlichkeitsmoment ist, welches die ursprüngliche Behauptung beweisunfähig macht, diese Konfliktanalyse setzt nurmehr eine Ver1 Der Ausdruck: Situations- bzw. Ziel-"Analyse'' darf nicht mit "analytischer" Ablesung in Sonderbeziehung geraten. Auch synthetische Ablesung ist ja, wie gesagt, "Analyse" im weiteren Sinn des Wortes.

Anwendung auf die Psychologie des Verstehens und Findens.

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gegenwärtigung dessen voraus, was "beweisen" eigentlich heißt, also eine sehr allgemeine Zielanalyse (vom Typus einer analytischen Ablesung1).

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Solche sehr allgemeinen und rein analytischen Zielexplikationen spielen bei der Problemlösung eine ebenso entscheidende wie heimliche Rolle. War im Primzahlenproblem die allgemeine Natur des Beweisens zu analysieren, so ist es in der folgenden (von M. WERTREIMER diskutierten) Denkaufgabe die allgemeine Natur des ~ Messens. Aufgabe: die Quadratseite durch den Radius r des eingeschriebenen Kreises ausdrücken (messen), vgl. Abb. 20. Ideale Lösung: Messen heißt doch Zur-Deckung-bringen von Zumessendem und Maß. Im vorliegenden Falle kommt Abb. 20. einer Decktmg immer noch am nächsten die Parallelität, also Drehung des Radius in seitenparallele Lage. Man sieht nun: Quadratseite = 2 r.

Es könnte nun leicht durch die spezielle Wahl der bisherigen Beispiele der Eindruck entstanden sein, als sei synthetische Einsicht so ziemlich auf das Gebiet der reinen Mathematik und Logik beschränkt. Es genügt jedoch, in Erinnerung zu bringen, daß die sogenannte reine Mathematik und Logik zum weitaus größten Teil (d. h. mit Ausnahme der "künstlichen" Axiomensysteme und daraus abgeleiteten Sätze) in der Wirklichkeit verkörpert ist, m. a. W. daß die Praxis des wirklichen Lebens voll von mathematischen und logischen Sachverhalten ist. Nehmen wir etwa die beiden praktisch(:'n Probleme, die uns in dieser Arbeit zu allererst beschäftigten, die Bestrahlungsaufgabe und die Pendelaufgabe. Das Verständnis der besten Lösung involviert hier beide Male an entscheidender Stelle eine synthetische Ablesung. Im ersten Falle ist entscheidend, daß an der Kreuzungsstelle mehrerer Materialtransporte2 mehr Material ist als an den übrigen Stellen. Diese Materialhäufung ist einsichtig ablesbar vom Modell der sich kreuzenden Transporte. Die fast verblüffende Evidenz der Kreuzungslösung fd beruht auf dieser synthetischen Ablesbarkeit. Die beste Lösung der Pendelaufgabe verdankt ihre Evidenz folgender P rr synthetischen Ablesung: "wenn sich (in Abb. 21) p und q um gleiche Längen ausdehnen, dann bleibt der Abstand d zwischen ihren Endpunkten konstant". - Mag die mehr "inhaltliche" Abb. 2t. Seite des Effekts, nämlich daß die Strahlen organische Gewebe zerstören, bzw. daß Erwärmung ausdehnend wirkt, noch so sehr rein empirischen, uneinsichtlichen Charakters sein, die mehr "formale" 1 Im engeren Sinn "analytisch" nannten wir eine Ablesung, die nicht einem bestimmten konstitutiven Aspekt einen ganz neuen gleichsam "hinzusetzt", sondern das "eigentlich Gemeinte" (das Konstitutive) hervorkehrt. 2 Ein Strahlenbündel sei hier der Einfachheit halber als Materialtransport aufgefaßt, d. h. nach Analogie eines Flusses.

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Über totale Einsicht bzw. Evidenz.

~Seite des Effekts folgt beide Male total einsichtlich aus der in der Lösung enthaltenen Geometrie des Strahlenverlaufs bzw. der Pendelerstreckungen.

Allgemein gilt: Einsichtlich auf Grund synthetischer Ablesung können nur Momente (Aspekte) in bezug auf ihr Ganzes sein. Daß das in dieser Richtung bewegte Stockende die dort liegende Kugel treffen wird, ist einsichtlich, wenn man die Gesamtbewegung des ·Stockendes (einschl. ihres zeitlich noch bevorstehenden Teils) als zeitlose Linie vorwegkonzipiert und diese Linie mit der Lage der Kugel in Beziehung-setzt. Was die Kugel aber auf den Anstoß hin 1mternehmen wird, ist aus den eben genannten Prämissen keineswegs total einsichtlich. Das physikalische Reagieren von Systemen aufeinander enthält, wie wir noch sehen werden (vgl. Kap. V), gewisse Komponenten von "Nur-noch-Hinzunehmendem", d. h. Uneinsichtlichem.

Wir haben erkannt, daß die Verständlichkeit der besten Bestrahlungslösung ebenso wie die der besten Pendellösung auf synthetischer Evidenz des tragenden Sachverhalts beruht. Es liegt hier also ein ungleich tieferes Verstehen der Lösung vor als jene allgemeinere Form von Verstehen, von der in Kap. I § 6 (vgl. auch S. 76) die Rede war. Dort genügte es prinzipiell zum Verständnis, wenn in Gestalt des "Funktionalwertes" der Anschluß an eine hinreichend elementare und generelle Kausalbeziehung zwischen Lösung und Ziel hergestellt war (vgl. das Sauerstoffbeispiel S. 6). Die tragende Kausalbeziehung selber konnte dabei in sich selbst total uneinsichtlich sein. Auch die allgemeinsten heuristischen Methoden des produktiven Denkens sind vom Typus einsichtiger Ablesungen und zwar mehr analytischer Art. So ist z. B. Situationsanalyse, wo sie im Folgern aus den gegebenen Voraussetzungen besteht, selber analytisch aus dem Wesen des Beweisens. Denn "beweisen" heißt ja eigentlich nichts anderes als das Behauptete aus den gegebenen Voraussetzungen folgern. - Noch allgemeiner: Situationsanalyse als Prüfung des Gegebenen sowie Zielanalyse als Prüfung des Geforderten, diese beiden Grundmethoden des rationalen Findens sind selber analytisch einsichtlich aus dem Wesen des Problemlösens überhaupt. Denn ein Problem lösen involviert: das Gegebene dem Geforderten dienstbar machen 1 . - Daß ich wissen muß, was gegeben ist, um mit dem Gegebenen zu operieren, und ebenso wissen, was gefordert ist, um auf das Geforderte hin zu operieren, das wiederum folgt analytisch aus der Natur des Handelns. Denn Handeln bedeutet: Agieren, gesteuert vom Wissen um das Wohin und Womit. (Diese Struktur des Handeins ist keine "Definition", sondern eine "Urerfahrung" des Menschen.)- Auch die Frage: "warum 1 Es kann offen bleiben, ob hier wirklich "analytische" oder nicht viel mehr "synthetische" Ablesrmg vorliegt, denn das hängt ja davon ab, ob der fragliche Sachverhalt durch einen andersartigen Aspekt eingeführt (konstituiert) war oder nicht (vgl. oben S. 58), und das ist bis zu einem gewissen Grad eine Frage des psychologischen Einzelfalles.

Anwendung auf die Psychologie des Verstehens und Findens.

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geht es nicht, resp. was müßte ich verändern, damit es geht?", also das, was wir "Konfliktanalyse" nannten, ist evident und zwar aus dem Wesen von "Lösung". Denn Lösung ist Grund des verwirklichten Ziels, also Aufhebung eines eventuell vorhandenen Zielhindernisses. Nun bleibt aber noch eine wichtige Frage zu beantworten. Gesetzt es sei das Ziel von der Lösung einsichtig ablesbar, d. h. die Lösung sei als Lösung durchaus verständlich. Wäre darum allein schon die Lösung einsichtigfindbar? -Nein, denn hierzu müßte ja umgekehrt die Lösung vom Ziel einsichtig ablesbar sein. Gegeben ist ja das Ziel, die Lösung erst zu finden. Einer Einsichtlichkeit in der Richtung von a nach b entspricht aber im allgemeinen keine Einsichtlichkeit in der umgekehrten Richtung. (So ist z. B. aus a > b > c wohl a > c ablesbar, nicht aber umgekehrt aus a > c: a > b oder b > c.) Nur in gewissen Grenzfällen, wo Ziel und Lösung einander äquivalent sind, besteht Ablesbarkeit in beiden Richtungen (vgl. Zielanalyse im Sinne eines "umkehrbaren" Folgerns aus der gegebenen Behauptung). Aber das sind Ausnahmen, die - so wichtig sie an ihrem Ort sein mögen - nichts an der Tatsache ändern, daß synthetische Ablesbarkeit in den meisten Fällen für das Denken die Form einer Einbahnstraße hat, die gerade in der kritischen Richtung Ziel - Lösung nicht befahrbar istl. - Also hätte die Einsichtlichkeit einer Lösung am Ende gar keine heuristische Bedeutung ? So zu schließen wäre voreilig. Wie steht es denn mit dem Weg zur Lösung über den zugehörigen Konfliktgrund (vgl. Kap. Il, § 3)? Zweifellos ist überall dort, wo von einer Lösung a das Ziel b einsichtig ablesbar ist, von dem entsprechenden Konfliktmoment non-a der Konflikt non-b einsichtig ablesbar. Ein Konfliktmoment unterscheidet sich aber von der entsprechenden Lösung durch den höchst wichtigen Umstand, daß es (mitsamt dem Konflikt) in der gegebenen Problemsituation vorhanden und also prinzipiell durch Situationsanalyse erreichbar ist. Es entsteht die entscheidende Frage: ist ein Konfliktmoment leichter zu entdecken, wenn der Konflikt von ihm einsichtig ablesbar ist ? Unterlegen wir unserer Betrachtung die Situation der Stock-TürAufgabe (vgl. o. S. 31). Zweifellos ist von den hier bestehenden Konfliktmomenten - von der relativen Schräglage und Länge des Stockes, von der Enge der Tür usw. - der letztlich zu behebende Konflikt, die Überschneidung, einsichtig ablesbar. Können nun aber umgekehrt dem gegebenen Faktum der Überschneidung irgendwelche Hinweise auf die gesuchten Konfliktmomente entnommen werden? Die derart bescheiden formulierte Frage muß jedenfalls mit ja beantwortet werden. Denn niemand wird leugnen wollen, daß der 1 Man vergleiche: Es kann jemand ein Gedicht, ein Lied, ein Bild ganz tief empfinden und verstehen - ohne dergleichen selber hervorbringen zu können.

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Über Lernen und partielle Einsicht.

Tatbestand der Überschneidung seine wesentlichen Fundamente -eben die Lage und Länge des Stockes sowie die Enge der Tür - in charakteristischer Weise auszeichnet vor solchen irrelevanten Merkmalen, wie es z. B. die Farben von Stock und Tür u. dgl. sind. M. a. W. die Überschneidung als räumliche Relation zeichnet ihre räumlichen Relata vor anderen, z. B. farbliehen Situationsmomenten aus, ebenso wie eine Farbrelation ihre farbliehen Relata vor anderen z. B: räumlichen Situationsmomenten auszeichnen würde. Über die Natur dieser zweifellos bestehenden Auszeichnung bin ich mir noch nicht ganz im klaren. Sie scheint jedoch selber wieder vom Typus einsichtiger Ablesung zu sein. Jedenfalls ist die wichtige Frage, ob einsichtliche Lösungen (gemeint sind solche, von denen das Ziel einsichtig ablesbar ist) im Prinzip auch einsichtig findbar sind, mit ja zu beantworten. - (Einige Faktoren, die dann weiter: darüber entscheiden, ob und wie leicht das Denken unter den vielen jeweiligen Konfliktmomenten gerade auf dieses bestimmte hier gerät, lernten wir bereits in Kap. II, § 7 kennen. Das dort Gesagte gilt natürlich auch für einsichtliche Konfliktgründe.) Im folgenden Kapitel soll u. a. untersucht werden, ob und was für Einsichtlichkeiten bescheidenerer Art dort vorliegen, wo totale Einsicht im Sinn synthetischer oder analytischer Ablesbarkeit nicht möglich ist - also z. B. auf dem Gebiet des "Kausalen" im engeren Sinn. Die auf sogenannter "Einfühlung" beruhende Verständlichkeit innerseelischen Geschehens sei hier nur beiläufig erwähnt, da sie für unser Problem der Lösungsfindung von geringem Belang ist. Offenbar hängt diese viel diskutierte Verständlichkeit damit zusammen, daß im eigenen Seelenleben Kausalität "von innen erlebbar" ist. Hier und nur hier fallen das kausale und das erlebende System zusammen. - Schöne Beispiele innerseelischer Verständlichkeit findet man z. B. bei \V. KöHLER, Psychologische Probleme, Kap. X. - Über eine andere Provenienz einsichtliehen Folgens, vgl. Anm. 1, S. 58 der vorliegenden Arbeit. Kapitel V.

Über Lernen nnd partielle Einsicht. § I. Empirische Zusammenhangsstrukturen. Im vorigen Kapitel wurde dargetan, daß die Einsichtlichkeit vieler Zusammenhänge vom Typus "wenn a, dann b" auf einer Ablesbarkeit des b von dem a beruht. Diese Ablesbarkeit ist entweder synthetischer Natur, d. h. das b ist ein neuer Aspekt des heterogen konstituierten Sachverhalt~s a; oder sie ist analytischer Natur, d. h. das b ist ein konstitutiver Aspekt des Sachverhaltes a und daher nicht "neu". - Es entstehen nun Fragen wie diese: Welcher Art sind die Wenn-dann-Zusammenhänge unserer Welt dort, wo keinerlei Ablesbarkeit des "dann" von dem "wenn" besteht, und wie sind solche Zusammenhänge einem denkenden Lebewesen zugänglich ~

Empirische Zusa.mmenha.ngsstrukturen.

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Im besonderen: Beruht Einsichtlichkeit, wie sie in§ 2 des vorigen Kapitels allgemein definiert wurde, überall auf Ablesbarkeit? Gibt es Fälle, wo keine Ablesbarkeit vorliegt und wo dennoch "das wirkliche phänomenale Sosein von b unmittelbar, d. h. ohne Dazwischenkunft fremder Instanzen, durch das phänomenale Sosein von a vor anderen Soseinsmöglichkeiten irgendwie bevorzugt erscheint?" Beginnen wir von unten, d. h. vom Minimum dessen, was an "Rationalität" in der Zusammenhangsweise eiuer Welt überhaupt vorhanden sein muß, damit ein Lebewesen gerade eben noch denkend in sie einzudringen, durch Denken sich in ihr zurechtzufinden vermöchte. Wenn die Ereignisse der Welt völlig regellos, völlig chaotisch miteinander raumzeitlich zusammenhingen, ihre Zusammenhangsweise also der absolute Zufall wäre, käme dem Denken keinerlei praktische Bedeutung zu. Konstanz des Zusammenhangs ist somit das minimum rationale 1 . Da nun aber kein Ereignis sich genau identisch wiederholt, kann eine Konstanz des Zusammenhangs nur zwischen Teilen oder Momenten von Ereignissen obwalten. Denn nur solche wiederholen sich. Dem Denken erwächst also die Aufgabe, herauszufinden, zwischen welchen Komponenten zusammenhängender Ereignisse ein konstanter Zusammenhang besteht oder - etwas lebensnäher gewendet -welche Eigenschaften des jeweils Gegebenen für einen besonders ins Auge gefaßten Effekt kausal wesentlich sind ? Solche konstanten Zusammenhänge (Gesetze) haben nun in unserer wirklichen Welt zumeist nicht den Typus einer konstanten Verknüpfung bestimmter "Elemente", sondern den einer konstanten Struktur von Variablen. Z. B. besteht der unter allen Umständen konstante Zusammenhang nicht zwischen dem Kochen von Wasser und einer ganz bestimmten Temperatur, sondern zwischen dem Kochen einer beliebigen Flüssigkeit und derjenigen Temperatur, bei welcher der Dampfdruck der Flüssigkeit den am betreffenden Ort herrschenden Luftdruck gerade eben übersteigt. M. a. W. die Elemente, als da sind die Flüssigkeit, die Temperatur, der Ort, die beteiligten Drucke können variieren, ohne daß die Konstanz des Zusammenhangs dadurch beeinträchtigt würde. Im Gegenteil: Unter veränderten Bedingungen muß in bestimmter Weise Verändertes geschehen, damit die gleiche Zusammenhangsstruktur erhalten bleibe (vgl. Die Transponierbarkeit einer Gestalt, speziell die Transponierbarkeit einer verstandenen Lösung, wovon schon oben S. 7 die Rede war). Aber nicht etwa nur in der Wissenschaft, sondern allenthalben in der unmittelbaren Praxis des Lebens findet sich der Mensch - und im Prinzip genau so das Tier - vor die Aufgabe gestellt, die konstante Struktur eines Zusammenhangs zu erfassen, volkstümlicher ausgedrückt: 1

Die statistische Auffassung der Naturgesetze leugnet nicht die Kon-

stanz überhaupt, sondern nur die mikroskopische Konstanz.

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Über Lernen und partielle Einsicht.

zu erfassen, worauf es ankommt. So vermag z. B. ein Schimpanse offenbar nur darum immer wieder prompt irgendein taugliches stockartiges Werkzeug (z. B. ein Stück Draht, ein Strohbüschel, einen Schuh) zum Heranholen eines direkt nicht greifbaren Zielobjekts sinngemäß zu verwenden, weil er erfaßt hat, daß es nicht auf die Farbe, Ausgangslage, absolute Raumrichtung usw. des manipulierten Werkzeugs ankommt, sondern einzig und allein auf die Struktur: das Ziel mit einem genügend langen Gegenstand in Greifweite schieben 1 .

§ 2. Das Lernen von Zusammenhangsstrukturen. Sehr wichtig ist nun, daß die Aufgabe, das Wesentliche zu erfassen, auch dort lösbar ist, wo die erfaßte Zusammenhangsstruktur in sich selber jeglicher Einsichtlichkeit entbehrt, wo also z. B. jede beliebige andere Wirkung für das betreffende Lebewesen genau so gut mit der gegebenen Ursache zusammenhängen könnte wie die faktische. Die Natur läßt die Lebewesen mancherlei konstante Zusammenhänge erfassen, in deren innere Notwendigkeit einzudringen sie ihnen einstweilen noch verwehrt. (Unter den Philosophen herrscht sogar, mindestens seit HuME, die fast einstimmige Überzeugung, von der äußeren Natur seien andere als solche total uneinsichtUchen Kausalzusammenhänge gar nicht zu erwarten.) Wir stellen zunächst die Frage: Wie ist es möglich, konstante, aber in sich selbst total uneinsichtliche Zusammenhänge zu erfassen ? Diese Frage wurde bereits von FR. BACON und J. St. MILL in der allgemeinen Form sogenannter Induktionsregeln beantwortet, deren Quintessenz sich folgendermaßen aussprechen läßt: Die wesentliche Ursache eines Effekts b - oder das "zu b Hinführende" - ist erfaßbar durch Abstraktion dessen, was alle b-Situationen sonst noch gemeinsam enthalten und was allen vergleichbaren non-b-Situationen sonst noch gemeinsam fehlt 2 • Eine derartige "abstraktive Induktion" vollzieht sich überall im praktischen Leben von Mensch und Tier, nur weniger systematisch als in der Wissenschaft. Psychologisch bedeutet sie einen Prozeß, in welchem sich aus einer Vielheit bestimmt gearteter Situationen der gemeinsame Aspekt 1 Ein paar schöne Beispiele von Stockverwendung ohne Verständnis dieser funktionalBn Struktur finden sich in K. GoTTSCHALDTS Schrift "Der Aufbau des kindlichen Handelns" (Vergleichende Untersuchungen an gesunden und psychisch abnormen Kindern), Beihefte zur Z. angew. Psych. s. 124ff. 2 Wie ursprünglich dieses Kausalkriterium ist, davon legen Versuche HuANGS (Childrens Explanations of Strange Phenomena, Psychol. Forsch. Bd. 14) beredtes Zeugnis ab. HuANG ließ in Versuchen mit Kindern u. a. scheinbar dasselbe Ereignis entgegengesetzte Effekte haben, z. B. das eine Mal sank die auf Wasser gelegte Nadel, das andere Mß.l nicht. Es ist erstaunlich, wie jeder noch so harmlose Unterschied zwischen den beiden Situationen von den Kindern prompt als "Ursache" für das verschiedene Verhalten der Nadel aufgegriffen wurde.

Sehr allgemeine Zusammenhangsstrukturen.

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herausorganisiert. Das Resultat eines solchen Organisationsvorgangs besteht in einer Aspektänderung der betreffenden Situationen und tritt häufig ganz plötzlich auf, eventuell begleitet von einem "Aha-Erlebnis". Organisationsvorgänge dieser Art lassen sich in Dressurversuchen an Mensch und Tier sehr schön beobachten. So kann man z. B. Hühner darauf dressieren, ihr Futter immer von dem helleren zweier variabler Graupapiere zu wählen (KÖHLER). Oder man kann einen Menschen darauf dressieren, immer den dem mittleren links benachbarten Kasten zu wählen (bei variiere:uder Lage und Anzahl der dargebotenen Kästen). Solche Dressuren führen oft zu plötzlicher "Einsicht". Das Prinzip des geforderten Verhaltens ist auf einmal klar und die Fehlerkurve zeigt jenen berühmten und viel diskutierten plötzlichen Abfall. Das Prinzip kann dabei in sich selber beliebig uneinsichtlich sein 1 . Es gibt also - paradox ausgedrückt - Einsicht in einen total uneinsichtlichen Zusammenhang. Das Paradox löst sich auf, sobald man gewahr wird, daß der Terminus "Einsicht" hier in zwei verschiedenen Beziehungen auftritt. Durch das Erfassen des gemeinsamen Prinzips einer Vielheit von Situationen wird nicht dieses Prinzip in sich selber (in seinem inneren Warum) eingesehen, sondern eingesehen wird "aus" dem gemein~amen Prinzip das Gerade-so-und-nicht-anderssein der einzelnen Situation. Die verschiedenen bis dahin zufällig anmutenden Situationen erscheinen auf einmal als lauter Verkörperungen eines einzigen Prinzips. Damit gewinnen sie jene "Verständlichkeit", von der bereits im Kap. I (S. 6) die Rede war und die in nichts anderem besteht als in "Zurückführbarkeit auf ein alU}emeines Gesetz" (vgl. auch Kap. IV, § 9, Beispiel 5). Das heiße "Einsicht zweiten Grades". Leider ist durch die geschilderte Doppeldeutigkeit von "Einsicht" in der psychologischen Fachwelt große Verwirrung entstanden. Man redet von der einen, wenn man von der anderen zu reden glaubt. Ich bezeichne - der Eindeutigkeit zuliebe - einen Zusammenhang vom Typus "wenn a, dann b" nicht dann als einsichtlich, wenn er als gemeinsames Prinzip einer Vielheit von Gegebenheiten, in diese Einsicht gewährend, erfaßbar ist, sondern wenn und in dem Maße wie - in ihm selbst - das b unmittelbar durch das a vor anderen Möglichkeiten ausgezeichnet, motiviert ist (vgl. Kap. IV, § 2). Das heiße "Einsicht ersten Grades".

§ 3. Sehr allgemeine Zusammenhangsstrukturen. Es ist klar, daß man mit Hilfe abstraktiver Induktion um so sicherer und rascher zur 1 Dem Idealtypus total uneinsichtlicher Verknüpfung kommen unter den wirklichen Kausalzusammenhängen wohl am nächsten die, mit denen sich der experimentierende Mediziner so oft begnügen muß (vgl. hierzu das schöne und denkpsychologisch - z. B. für die heuristische Bedeutung des Zufalls - höchst aufschlußreiche Buch von DE KRUIF "Mikrobenjäger").

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Über Lernen und partielle Einsicht.

Erfass11ng des betreffenden Prinzips gelangen muß, je größer die Anzahl der Situationen ist, aus denen das identische Prinzip sich abstrahieren läßt. Unsere Welt ist nun in dieser Hinsicht relativ günstig gestellt. Betrachten wir z. B. die oben erwähnte Situation, worin irgend ein stockähnlicher Gegenstand zur Heranholung eines außer Greifweite gelegenen Zielobjekts verwendet wurde. Dieses Verhalten setzt unter anderem die generelle "Erfahrung" voraus, daß ein Ding durch ein anderes Ding bewegbar ist. Um nun diese Erfahrung zu machen, benötigt ein Lebewesen ganz sicher nicht gerade die Stock-Ziel-Situation und allerlei darin vollzogene "trial and error" - Reaktionen. Irgend ein anderer Vorgang mitgeteilter Bewegung, nicht notwendig ein zielhafter, sondern ein spielerischer, würde ihm genau das gleiche demonstrieren können. Es braucht auch nicht einmal das lernende Subjekt selber zu sein, das da direkt oder. indirekt etwas bewegte, sondern fortgesetzt geschehen in unserer Umwelt Bewegungsübertragungen (Dinge stoßen, ziehen einander), aus denen immer wieder die gleiche Lehre zu ziehen ist. Es gibt zwar "Gegenstände", die einander ungehindert zu durchdringen vermögen, wie z. B. Wellen, Schatten und dgl., aber das sind fast schon berüchtigte Ausnahmen. Noch viel allgemeiner ist die (übrigens sowohl in der Bestrahlungswie in der Pendelaufgabe aktuelle) Erfahrung, daß eine Wirkung auch von der Beschaffenheit des Reagens (von dessen "Empfindlichkeit") abhängt. Schon wenn der Säugling in seinem Bettehen herumfuchtelt und -strampelt, erfährt er, daß es anders tut, wenn man auf die Decke, als wenn man auf das Holzgeländer schlägt. Und daß die Mutter aufs Schreien anders reagiert als andere Leute, bleibt ihm nicht verborgen usw. Ich fasse zusammen: überall partizipieren in unserer Welt die besonderen an sehr allgemeinen Kausalitätsbeziehungen. "Sehr allgemein" aber heißt: in beinahe jedem Geschehen zugänglich. Der abstraktiven Indukti9fl gebri'cht es in unserer Welt also wahrlich nicht an Material.

§ 4. Über phänomenale Kausalität, a) raumzeitliche Koinzidenz. Soviel steht fest: auch in einer Welt total uneinsichtlicher Zusammenhänge kann ein Lebewesen lernen, worauf es jeweils ankommt - und auf der Basis so gewonnener genereller Erfahrungen neue Probleme lösen. Aber was ein Lebewesen in einer Welt total uneinsichtlicher Zusammenhänge (per definitionem) nicht kann, das ist, der Betrachtung eines Ereignisses ursprüngliche Hinweise auf die Natur eines kausal mit ihm verknüpften Ereignisses abgewinnen. Die Entscheidung, ob die Kausalzusammenhänge unserer Welt - abgesehen von beteiligten Ablesbarkeiten wenigstens partiell einsichtlicher Natur sind, reduziert sich somit auf die Entscheidung, ob eine z. B. erstrebte Wirkung etwas enthält, was die (erforderliche) Ursache vor anderen denkbaren Ereignissen

Über phänomenale Kausalität, a) raumzeitliche Koinzidenz.

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in irgendwelchen Hinsichten auszeichnet. Wenn und in dem Maße wie das der Fall ist, würde ein Doppeltes gelten: 1. das Denken wäre auch auf dem Gebiet der Naturkausalität heuristisch nicht absolut blind, und 2. das Erlernen der Kausalitätsbeziehungen würde sich aus der Inhaltlichkeit des zu Verknüpfenden heraus erleichtern. Wir wollen der Untersuchung das Stockbeispiel zugrunde legen. Ziel war hier: die Banane heranbekommen, Lösung: die Banane mit einem gleichsinnig bewegten Stock treffen. Wir stellen fest: wenn man eine Banane haben will, muß man jedenfalls bei der Banane selbst angreifen, d. h. man schlägt mit dem Stock nicht etwa nach einem Stein, 2, 7 m links vom Ziel, sondern genau nach diesem selbst. Daraus folgt zugleich, daß es auf die Länge und nicht z. B. auf die Farbe des Werkzeugs ankommt. - Dieser wie jeder Fall von "Nahewirkung" involviert nun in der Tat eine partielle Einsichtlichkeit: wenigstens der Ort der Ursache ist durch den Ort der Wirkung (eben vermöge der Koinzidenz) vor allen übrigen denkbaren Orten ausgezeichnet. Die Orte von Ursache und Wirkung sind einander nicht "zufällig". - (Dieselbe räumliche Koinzidenz von Ursache und Wirkung bzw. Agens und Reagens ist übrigens in vielen Fällen der Grund dafür, daß [vgl. o. S. 24], die Lösung am Material der gegebenen Problemsituation - im Sinne einer Veränderung desselben - angreift, wodurch wenigstens bei praktischtechnischen Problemen die heuristische Methode der Situationsanalyse ihren entscheidenden Sinn bekommt.) Da nun das Prinzip der Nahewirkung vor vielen an seiner Statt denkbaren Prinzipien durch besondere Einfachheit und "Prägnanz" ausgezeichnet ist, braucht es auch nicht so umständlich erlernt zu werden wie irgend ein total uneinsichtlicher Zusammenhang. Daß es sogar in gewissen Fällen keinerlei Lernen voraussetzt, lehren gewisse ursprünglichste Reaktionen aller Lebewesen, nämlich das "instinktive" 1 Hin-auf-das-Ziel. Die räumliche Koinzidenz von Ursache und Wirkung ist nur die eine Seite des vollen Nahewirkungsprinzips. Die andere ist die zeitliche Koinzidenz, genauer: die Koinzidenz von Ursache und Wirkung als Singularitäten, Unstetigkeiten in zeitlichen Verläufen. - Jemand kommt abends nach Hause. Ein Windstoß schlägt die Tür hinter ihm zu. Im selben Moment geht am anderen Ende des Korridors, in einem Zimmer, dessen Tür offensteht, das Licht an. Und wenn einer nun noch so gut wüßte, daß zwischen dem Zufallen der Tür und dem Angehen des Lichts 1 Dieses Wort steht absichtlich in Anführungsstrichen. Denn bei der billigen Alternative: entweder Lernprodukt oder Instinkt - wird gewöhnlich außer acht gelassen, daß auch für die Entstehung eines Instinkts solche Einfachheitstatsachen, wie siez. B. die Koinzidenz von Ursache und Wirkung darstellt, nicht ohne Belang sein dürften.

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Über Lernen und partielle Einsicht.

kein ursächlicher Zusammenhang besteht, daß vielmehr ein Mensch in jenem Zimmer - zufällig genau im gleichen Moment - das Licht angemacht hat, er würde sich des zwingenden Kausaleindrucks doch nicht erwehren können - so entscheidend ist die zeitliche Koinzidenz. Allgemein empfinden wir als "Ursache" eines Ereignisses, einer Singularität, eine andere räumlich und vor allem zeitlich damit koinzidierende Singularität, welche ihrerseits als "Schnitt" zweier in sich selbst gleichförmiger Verläufe oder "Weltlinien" resultiert 1 . So koinzidiert z. B. das An- bzw. Ausgehen des elektrischen Lichts mit dem Schnittpunkt zwischen den Weltlinien des Lichtschalters und des bewegten Armes, das Naßwerden der Straße mit dem Schnittpunkt zwischen Regen und Straße usw. Wir haben hier vor uns den eigentlichen "Gestaltfaktor phänomenaler Kausalität" 2 . Ich fasse zusammen: die phänomenale Kausalität unserer Welt verdankt dem Nahewirkungsgesetz eine bemerkenswerte Einfachheit ("Prägnanz") in raum-zeitlicher Hinsicht. Ursache und Wirkung sind mindestens bezüglich ihrer Stellen in Zeit und Raum nicht beliebig, sondern einsichtlich zueinander. Zeit und Ort der Ursache gehen in Zeit und Ort der Wirkung unmittelbar anschaulich ein.

§ 5. Über phänomenale Kausalität, b) Form- und Materialentsprecbungen. Für unsere Kausalorientierung mindestens ebenso wichtig wie jeneraum-zeitliche Lageentsprechungen sind gewisse Formentsprechungen zwischen Ursache und Wirkung bzw. Agens und Reagens (wie sie sich aus konstanter zeitlicher und räumlicher Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ergeben müssen). Ein Beispiel zeitlicher Formentsprechung: der Rhythmus der Klopfgeräusche entspricht dem Rhythmus der Klopfbewegungen. Ein Beispiel räumlicher Formentsprechung: die Spur gleicht dem sie hinterlassenden Gegenstand. Analoge Formentsprechung besteht zwischen Agens und Reagens: der 1 Unter "Weltlinie" versteht man nach MrNKOWSKI die vierdimensionale, d. h. raumzeitliche Erstreckung eines Gegenstandes. 2 Der Faktor der zeitlichen Koinzidenz von Ursache und Wirkung ist in der Tat die zeitliche Variante eines bekannten Gestaltfaktors für figuralen Zusammenhang (vgl. MAx WERTREIMERS Untersuchung in Psychol. Forsch., Bd. 1 u. 4), nach welchem zwei benachbarte Unstetigkeiten in sonst homogenem räumlichem Felde eine zwingende Gruppeneinheit bilden. (Dazu brauchen sie einander nicht inhaltlich ähnlich zu sein. Sie können sogar dem umgebenden Felde ähnlicher sein als einander. Es genügt die im bloßen "Figur"sein, d. h. im gemeinsamen Herausstehen, Sichabheben vom Grunde bestehende "Älmlichkeit", im Verein mit dem "Faktor der Nähe"). Der Faktor der zeitlichen Koinzidenz ist übrigens ein Analogon des o. S. 76 erörterten Kausalkriteriums, bei dem es sich jedoch lediglich um "Koinzidenz" von Bedingungen, nicht um Koinzidenz von Ereignissen handelte.

Über phänomenale Kausalität, b) Form- und Materialentsprechung en.

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Schlüsselbart gleicht dem Schlüsselloch, der (kürzeste) Umweg der Kontur des Hindernisses. - Auch hinsichtlich der Veränderungsform entsprechen Ursache und Wirkung einander, d. h. die Variationen von Ursache und Wirkung laufen einander parallel. So entspricht (vgl. Bestrahlungsaufgabe) im allgemeinen vermehrter Strahlungsintensität vermehrte Zerstörungswirkung, oder es entspricht vermehrter Stoßintensität vermehrte Bewegung bzw. Deformation (womit eine weitere Einsichtlichkeit im Material des Stockbeispiels aufgezeigt wäre). Die genannten Formentsprechungen sind ein Spezialfall "inhaltlicher" Entsprechung überhaupt. Dieselbe Stabilität unserer Welt, die darin zum Ausdruck kommt, daß das Gros der uns umgebenden Objekte relativ unverändert bleibt, äußert sich auch darin, daß im allgemeinen viele Eigenschaften unverändert aus der Ursache in die Wirkung über- · gehen, d. h. beim Übergreifen eines Geschehens von einem System auf ein anderes erhalten bleiben. So geht die Nässe des Regens in die Nässe der Straße über, die Farbe des Lichts in die Farbe der Beleuchtung. So setzt sich - vgl. wieder das Stockbeispiel - die Bewegung des Stoßenden in die Bewegung des Gestoßenen fort, wobei im allgemeinen auch noch etwas von der Bewegungsrichtung erhalten bleibt, nicht nur das phänomenale Genus der Bewegung überhaupt. Man vergleiche ferner, was W. SCHAPP 1 "wahrnehmbare Kausalität" nannte: schwere Dinge machen "schweren" Lärm, zierliche Dinge bewegen sich zierlich usw. Die "qualitative" Kausalität des primitiven, magischen Weltbilds ist gewissermaßen eine Übertreibung solcher Einsichtlichkeiten, z. B. das Schnelle macht schnell, das Starke stark usw. Man sieht: Ursache und Wirkung sind nicht nur bezüglich der "Lage", sondern auch in hohemMaßebezüglich des , ,Inhalts'' einsichtlich zueinander: Eigenschaften der Form, des Charakters, der Richtung, des Materials usw. gehen unmittelbar anschaulich aus der Ursache in die Wirkung ein. Die geschilderten Einsichtlichkeiten bestehen samt und sonders in gewissen Identitäts- bzw. Gleichheitsbeziehung en zwischen Ursache und Wirkung. Man sieht: diese "partiellen" Einsichtlichkeiten der Kausalität sind ganz anderer Herkunft als die analytische und synthetische Ablesbarkeit, auf welcher das beruhte, was wir "totale Einsicht" nannten (vgl. Kap. IV). Sie tragen auch nicht so sehr den Charakter von Notwendigkeit als von Einfachheit, Prägnanz. Damit ist nun auch die zweite der eingangs (s. § 1) gestellten Fragen beantwortet. Es gibt in der Tat Fälle, wo keine Ablesbarkeit vorliegt und wo dennoch "das wirkliche phänomenale Sosein von b unmittelbar, d. h. ohne Dazwischenkunft fremder Instanzen, durch das phänomenale Sosein von a vor anderen Soseinsmöglichkeiten irgendwie bevorzugt 1

WILHELM ScHAPP, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. 6

Dunckcr, PHychologie des produktiven Denkens.

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Über Lernen und partielle Einsicht.

erscheint". Einsichtlichkeit beruht also nicht überall auf Ablesbarkeit. Und wenn auch die "partielle" Einsichtlichkeit, die wir soeben kennen lernten, weit anspruchsloser ist als die auf Ablesbarkeit gegründete "totale", so ist sie doch keineswegs so anspruchslos, als daß siesichnicht füglieh jenem oben zitierten RuMEschen Satz entgegenhalten! ieße. Gewisse Züge einer Wirkung lassen sich in der Tat von der Ursache her mindestens "mutmaßen" (conjecture). Und das ist für das Finden sowohl wie für das Erlernen außerordentlich wichtig. Die me sten der genannten Entsprechungen zwischen Ursache und Wirkung sind übrigens nur dort zu erwarten, wo die Kausalität nicht in reiner Auslösung oder "verdeckten" Hergängen besteht. Die Regel "causa aequat effectum" hat deshalb so weitgehend übersehen werden können, weil man sich - nach den berühmten Vorbildern von BACON, HuME und MrLL - zu einseitig an Auslösungen bzw. in ihren wesentlichen Partien verdeckten Hergängen, z. B. chemischen Prozessen, orientiert hat!.

§ 6. Partielle Uneinsichtlichkeit natürlicher Kausalität. Warum von partieller Einsichtlichkeit gesprochen wurde, liegt auf der Hand. Bei weitem nicht alle Eigenschaften der Wirkung sind phänomenal in Eigenschaften der Ursache fundiert. In jede Naturkausalität gehen gewisse uneinsichtliche Momente ein. So ist z. B. (vgl. das Stockbeispiel) die für den Stockgebrauch grundlegende Tatsache der Beweglichkeit und Undurchdringlichkeit der Dinge etwas "Nur-noch-Hinzunehmendes". Wollte jemand einwenden, die Undurchdringlichkeit der Körperdinge werde doch bereits durch ihr Verhalten beim Tasten und Hantieren nahegelegt, so wäre zu erwidern: gewiß, aber dieses Verhalten selber ist ja nur eine andere Form der Undurchdringlichkeitserfahrung. Diese selber läßt sich rational nicht weiter auflösen. Auch die Kategorie der "Empfindlichkeit" ist nur partiell einsichtlieh, nämlich nur insofern, als die Abhängigkeit der Wirkung von Beschaffenheiten des Reagens natürlich sinnvoller ist, als es eine Abhängigkeit von Beschaffenheiten irgend eines beliebigen unbeteiligten Gegenstandes wäre. M. a. W. nur das Nahewirkungsmoment ist darin einsichtlich. Im übrigen wäre durchaus denkbar eine Welt, in der die Wirkung in der Regel nur vom Agens abhängt. Die Einsichtlichkeit der Formulierung: "Die Wirkung ist von der "Empfindlichkeit" des Reagens abhängig" beruht natürlich auf rein analytischer Ablesbarkeit. Denn "Empfindlichkeit" ist definiert als dasjenige 1 Der Inhalt der §§ 4 und 5 bildete den Hauptteil meines auf dem X. Internat. Kongreß für Psychologie zu Kopenhagen gehaltenen Referats über "Lernen und Einsicht im Dienst der Zielerreichung" (s. Acta Pyschologica, Bd. I).

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Stockversuche mit Kleinkindern.

am Reagens, was die Wirkung mitbestimmt. - Auf solcher alytischen Ablesbarkeit beruhen unzählige sogenannte Wesenssätze über Wirkliches, z. B. der, daß der Tod zur Struktur des Lebens gehöre. Ist das Leben konkret in seiner ganzen Todesbezogenheit verstanden, so ist der Satz analytisch. Ist das Leben bloß durch gewisse äußerliche Merkmale charakterisiert, so ist der Tod ein "stubborn fact" (vgl. auch die analytischen Beispiele o. ß. 72 f., sowie die Fußnote 1 auf S. 58).

Für alle uneirrsichtlichen Züge der Kausalität besteht natürlich gar keine andere Möglichkeit der Bewältigung als die des Erlernens durch abstraktive Induktion. Doch wohlgemerkt: dieses Erlernen wird durch die überall begleitenden einsichtliehen Momente ungeheuer erleichtert. In einer Welt z. B., in der die Wirkung mit der Ursache nicht koinzidierte, sondern nach irgend einer anderen - oder gar noch (gesetzmäßig) variierenden - Zeit-Raum-Funktion von ihr abhinge, dürfte ein Lernen äußerst schwierig und unergiebig sein.

§ 7. Stockversuche mit Kleinkindern. Die seltsame Verflechtung einsichtlicher und uneirrsichtlicher Momente beim Stockgebrauch ließ es sehr reizvoll erscheinen, das Entstehen dieser Werkzeugverwendung einmal im Experiment zu studieren. Wir verdanken wichtige psychologische Aufschlüsse über den Stockgebrauch einer Anzahl von tierund kinderpsychologischen Arbeiten (vgl. KöHLER, YERKES u. a.). Was aber noch ausstand, war eine gründliche genetische Untersuchung. Im Sommer 1931 ermöglichte mir das freundliche Entgegenkommen der "Kinderkrippe" des Bezirks Kreuzberg (Berlin) die Realisierung des lang gehegten Wunsches, die Entwicklung der Stockleistung an menschlichen Kleinkindern genau zu studieren. Vpn waren acht Kinder (8,5 bis 13,5 Monate alt; keines aß schon selbständig mit dem Löffel). Die Problemsituation war immer die gleiche: das Kind saß an einem Tisch, auf dem - außerhalb Greifweite - irgendein lockendes Ding lag (ein roter Stoffball, ein Zelluloidfrosch oder dgl.) und - innerhalb Greifweite - ein Stock. Verlor der Zielgegenstand während des Versuchs seine Anziehungskraft, so wurde er durch andere ersetzt bzw. ergänzt oder für kurze Zeit in die Hand gegeben. Ergebnisse.

1. Nur zwei der acht -Kinder (10 und 13 Monate alt) verwendeten den Stock als Werkzeug entweder sofort oder nachdem sie sich durch vergebliche Greifversuche davon überzeugt hatten, daß sie den Gegenstand mit bloßer Hand nicht erreichen konnten1 . 1 Bei dem jüngeren dieser beiden Kinder gelang es mir, die Eltern nach etwaigen Vorstadien der Leistung auszufragen. Es ergab sich: der Junge hatte viel Umgang mit älteren Geschwistern und spielte zu Hause schon wacker mit Handfeger, Löffel und dgl. (Außerdem war er einmal interessierter Zuschauer bei einem Versuch mit einem anderen Kind gewesen.)

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2. Den sechs übrigen Kindern war der Stock zunächst einmal ein Spielzeug, mit dem sie vor sich auf den Tisch oder neben sich an die Wand schlugen oder den sie in beharrlichem Spiel auf den Boden warfen. Dazwischen griffen sie hin und wieder nach dem Gegenstand, aber Greifen und Mit-dem-Stock-spielen waren zunächst zwei völlig getrennte Beschäftigungen. 3. Bei vier von diesen sechs Kindern hatte.bzw. gewann das Spielen mit dem Stock Bezug auf den Gegenstand. Das bunte Ding auf dem homogenen Tischgrund mußte ja immer wieder den Blick fesseln, und daß dann die spielerischen Stockbewegungen statt ins Leere auf das Ding hin geschahen, ist nicht verwunderlich. Bei drei von diesen Kindern entwickelte sich ein regelrechtes Fernspielen. 4. Daß bei solchem Fernspiel das Ding nicht umhin konnte, dem Kind auch einmal deutlich näher zu kommen, q. U. zum Greifen nahe, ist klar. Bei zwei von den vier (unter 3. genannten) Kindern erfolgte nun durch solchen Zufall die jähe Umzentrierung: der Spielstock wurde Werkzeug im Dienst des Haben-wollens. Während vorher das Nach-demDing-greifen und das Mit-dem-Stock (und durch ihn mit dem Ding)Spielen zwei selbständige Angelegenheiten waren, wurde jetzt das Fernspiel ganz vom Habenwollen verdrängt. Die Stockhantierung wurde zur Ergänzung des Greifens. - Bei den zwei andilren Kindern hingegen vermochte kein solcher Zufall den Stock zu "instrumentalisieren". 5. Die zwei anderen von den sechs (unter 2. genannten) Kindern spielten mit dem Stock ohne Bezug auf das Ding. Bei dem einen von ihnen brachte dann aber eine (bemerkte) Zufallsberührung mit einem Schlag - also ohne vermittelndes Fernspielen - die Instrumentalisierung des Stockes zu Wege. Das andere Kind (8,5 Monate) bliebtrotz Zufallsberührung (und sogar einmal Zufallserfolg) ganz im Stockspiel befangen, wenn es nicht gerade Greifversuche machte. Bei diesem weitaus jüngsten Kind war die Kluft zwischen Ding und Stock am tiefsten. 6. Als ich mit dem zuletzt genannten Kind 4 Wochen später - zu Filmzwecken - eine Wiederholung veranstalten wollte, mußte ich zu meinem größten Erstaunen feststellen: die instrumentale Stockverwendung, von der das erstemal auch nicht eine Andeutung bestanden hatte, war perfekt. Aus der inzwischen erfolgten "Reifung" allein möchte ich das nicht erklären. Jene Zufallseffekte dürften doch nicht ganz spurlos vorübergegangen sein. Von den mitgeteilten Befunden scheint mir besonders wichtig dieser zu sein: im allgemeinen entsteht der Werkzeuggebrauch des Stockes aus spielerischem Umgang mit dem Stock und - vermittels des Stocks - mit dem Ding. Eine bei solchem Spiel zufällig unterlaufende Annäherung

Lösungen im Anschluß an das. "instinktive" Repertoire.

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des Dinges führt zur Entdeckung der Werkzeugtauglichkeit des Spielstockes1. Eine ganz andersartige, viel schwerfälligere, zudem lmter sehr anderen Bedingungen beobachtete Entwicklung des Stockgebrauchs entnehme ich der erwähnten Monographie von Y erkes, The Mind of a Gorilla. Durch chronologische Anordnung aller einschlägigen Befunde ergibt sich das folgende Bild: 5. bis 9. Januar 2 : Stock gleichgültig. (Der Stock lag in der Nähe des Ziels.) 9. bis 13. Januar: Stock bereits interessant. 15. bis 19. Januar: Nur wenn der Stock zufällig in Zielkontakt ist, erfolgt die Lösung (und zwar in der starren Form von fegenden Stockbewegungen nach links). 19. bis 26. Januar 3 : Der benachbarte Stock wird selbständig in Zielkontakt gebracht. Durch vielfältige Stockmanipulation wird der Automatismus des Nach-links-Fegens beseitigt. 27. bis 29. Januar': Nur wenn der Stock schon durch das Gitter hinausragt, erfolgt die Lösung. (Am Anfang war sogar erforderlich, daß der Stock mit dem größeren Teil hinausragte.) Am 29. Januar wird der Stock von selbst zufällig durchs· Gitter geschoben, was sofort zur Lösung führt. 30. Januar bis 1. Februar: Von jetzt an wird der Stock selbständig von innen durchs Gitter geschoben. Auch ein irgendwo im Käfig begegnender Stock wird verwendet. 2. bis 4. Februar 5 : Es wird nach Stöcken gesucht. Auch andere Gegenstände (Kette, Stroh ... ) treten als Ersatz auf. (Auf das Stockproblem wurden jedesmal etwa 15 Minuten verwendet.)

§ 8. Lösungen im Anschluß an das "instinktive" Repertoire. Wie wichtig für das Lösen von Problemen mannigfaltiger Umgang mit Dingen und Situationen ist, und wie Art und Bereich solchen Umgangs durch Konstitution und Lebensweise des betreffenden Wesens bestimmt sind, möge noch an einigen anderen Beispielen gezeigt werden. Sicher ist es für die Genealogie der Stocklösung beim Schimpansen nicht ohne Belang, wenn Köhler berichtet: "das Löffeln mit Stroh1 Daß zwei der Säuglinge den Stock sofort als Werkzeug benutzten, verliert etwas an Gewicht, wenn man bedenkt, daß bei einem, dem jüngeren von ihnen, wie gesagt, ein reges Hantieren mit Stockgegenständen schon früher beobachtet worden war, während mindestens bei denjenigen drei der sechs übrigen Kinder, deren Eltem ich noch befragen konnte, dergleichen bis dahin nicht bemerkt worden war. 2 Ab 7. Januar wurden nebenher Aufgaben gegeben, in denen das Ziel an einem Seil befestigt war. 3 Vom 11. bis 22. Januar wurden Stöcke zur Erreichung eines aufgehängten Ziels noch nicht benutzt. ' Am 28. Januar wird in einer Situation, wo "Congo" an einem Pflock angebunden 1md das Ziel außer Reichweite ist, ein leicht erreichbarer Stock noch nicht benutzt. 5 Am 2. und 3. Februar wurden - im Gegensatz noch zum 22. Januar zur Erreichung eines aufgehängten Zieles Stöcke benutzt.

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halmen, Stäbchen u. dgl. kommt auch als reine Spielerei vor, (S. 54). "Ein Mittelding zwischen Löffel und Jagdinstrument ist das Stäbchen oder der Strohhalm beim Ameisenfang" (S. 55). Allgemeiner: "Ist etwas schlecht anzufassen, aber doch interessant, so wird es alsbald mit dem Stock behandelt." (S. 57). Man vergleiche hiermit das Fernspielen in den Kinderversuchen des vorigen Paragraphen. Ferner: sollte für das eindrucksvolle Debut der Stockverwendung bei Nueva (S. 23) nicht relevant sein, daß ihr Repertoire bereits so etwas enthielt: , , ... sie kratzt (mit dem Stöckchen) ein wenig auf dem Boden, schiebt so Bananenschalen auf einen Haufen ... " ? Auch die geniale Doppelstacklösung Sultans hat ihre Vorgeschichte mit Spiel und Zufall. "(Sultan) spielt mit den Rohren achtlos herum. Dabei kommt es zufällig dazu, daß er vor sich in jeder Hand ein Rohr hält, und zwar so, daß sie in einer Linie liegen; er steckt das dünnere ein wenig in die Öffnung des dickeren, ... " 1 . Natürlich sind Stockmanipulationen nur bei Greiftieren zu erwarten. Aber das Erfülltsein der rein anatomischen Voraussetzungen genügt kaum zur Entstehung einer Problemlösung, wenn in der natürlichen Lebensweise ähnliche Leistungen nirgends vorkommen. So berichtet M. HERTZ 2 , daß Raben beim Zu-sich-heraufziehen eines an einem Faden hängenden Ziels nicht mit den Klauen nachhelfen, wohl aber Dohlen. Denn d~e Dohle stellt sich stets auf die Beute, d. h. Schnabel und Klauen pflegen bei ihr zu kooperieren, während der Rabe seine Klauen ungern in die Tätigkeit einbezieht. Oder: Rabenvögeln fällt das Wegräumen von Hindernissen leicht (S. 373ff.), dem Schimpansen z. B. schwer (KöHLER S. 47). Warum? "Beim Raben spielt Wegräumen .... im Zusammenhang mit seinem eigenen Verstecken eine Rolle." (Raben verstecken bekanntlich ihre Wertgegenstände, indem sie sie mit irgend etwas zudecken. Das "Aufdecken" ist ihnen also geläufig.) - Übrigens hat bei allen Tieren das Wegräumen von Hindernissen dadurch gewisse Chancen, daß bei der Bemühung um das Ziel Im-Weg-Befindliches leicht unwillkürlich berührt und verrückt wird (vgl. ADAMS, a. a. 0. S. 140 f). Wir können zusammenfassend sagen: eine Lösung muß einen gewissen Anschluß an das instinktive Verhalten des betreffenden Lebewesens ha-ben. § 9. Einsichtliche Lösungen und Erfahrung. In §§ 1-3 wurde dargetan, wie allenthalben generelle Zusammenhangserfahrungen generelle Lösungsprinzipien an die Hand liefern. Nun soll gezeigt werden, daß auch einsichtliche Grund-Folge-Zusammenhänge nicht "erfahrungsfrei" 1 "Die Tiere bohren ja fortwährend mit Halmen und Stöcken spielerisch in Löchern und Fugen ... ", (S. 91). 2 M: HERTZ, Beobachtungen an gefangenen Rabenvögeln, Psychol. Forsch. VIII, S. 388f.

Zur Bereinigung des "Erfahrungs"begriffs.

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sind, z. B. insofern, als "erfahren" wird, daß überhaupt so etwas existiert wie der betreffende "Grund". Nehmen wir als Beispiel die allgemeine Lösungsmethode: "wenn es auf einem Weg nicht geht, versuche man es auf einem anderen." Zweifellos ist in unserer Welt überall und unausgesetzt erfahrbar, daß verschiedene Wege zum gleichen Ziel führen. Ich halte es für unwahrscheinlich, daß in einer Welt, wo so etwas nirgends zu beobachten ist, ein Wesen auf den Gedanken kommen würde, sich zu fragen, ob das Ziel nicht vielleicht auf einem anderen Wege erreichbar sei. - Ebenso unwahrscheinlich kommt mir vor, daß ein Wesen in einer Welt, in der Veränderung und Verwandlung nicht existierte (noch nie beobachtet wurde), darauf verfallen würde, das Gegebene "verändern" zu wollen, wenn es ein "Anderes" will - trotz aller Einsichtlichkeit der Grund-Folge-Beziehung zwischen Veränderung und Anderssein. Ferner: jedem dürfte bekannt sein, wie förderlich z. B. bei mathematischen Lösungen trotz aller Einsichtlichkeit das Gelernthaben ist. Mag post festurn noch so sehr einleuchten, daß die Existenz einer Zahl bewiesen ist, wenn man sie konstruiert hat (vgl. unsere Primzahl-Aufgabe, S.10 f. ), dieAnwendungdieser Beweismethode ist gewöhnlich das Resultat eines Lernens. Desgleichen erlernbar sind - unbeschadet ihrer Einsichtlichkeit - z. B. das Verfahren des indirekten Beweises, der vollständigen Induktion usw., ferner alle spezielleren Beweisgänge ebenso wie die allgemeinsten heuristischen Methoden des produktiven Denkens. Die Bedeutung des Lernens für solche Einsichtlichkeiten hängt natürlich damit zusammen, daß- vgl. o. S. 73- in der Regel zwar aus der bereits gefundenen Lösung bzw. Lösungsmethode das Ziel, nicht aber umgekehrt aus dem gegebenen Ziel die gesuchte Lösungsmethode einsichtig ablesbar ist. Vom Lernen der relativ uneinsichtlichen Kausalbeziehungen unterscheidet sich jedoch solches Lernen in sich selbst total einsichtlicher Zusammenhänge in höchst bedeutsamer Weise dadurch, daß schon aus einer einzigen Erfahrung das Prinzip in seiner ganzen Klarheit und Bestimmtheit erkannt zu werden vermag, abstraktive Induktion also grundsätzlich nicht nötig ist. - Einen deutlich abbreviierenden Charakter hat das Lernen beim Rechnen. Zwar ist jede Rechenleistung auf einsichtliche Schritte reduzierbarl, doch wäre es außerordentlich zeitraubend, hätte man nicht zugleich das Einmaleins "gelernt". § 10. Zur Bereinigung des "Erfahrungs"begriffs. Der Ausdruck, eine Problemlösung stamme aus Erfahrung, ist derart belastet mit Mißverständlichkeiten, daß es sich wohl verlohnt, einige Präzisierungen des 1 Vgl. o. S. 69. THORNDIKE ist durchaus im Irrtum, wenn er (vgl. Human Learning) im Einmaleins nichts als eine Unzahl von "connections", .,bonds" sehen will.

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Über Lernen und partielle Einsicht.

Erfahrungsbegriffs vorzunehmen. 1. Erfahren und gelernt werden (jedenfalls im späteren Leben) nicht Bewegungen und Bewegungsketten, sondern objektive Grund-Folge-Strukturen I, deren Umsetzung in Körperbewegungen für das betreffende Lebewesen im allgemeinen kein Problem mehr darstellt. Die von der Reflexlehre herstammende und schier unausrottbare Ansicht, gelernt würden immer und überall Bewegungsimpulse, müßte vollständig kapitulieren vor dem Faktum, daß jede neue Lernerwerbung (des späteren Lebens) von Stund an in tausendfacher Variation der beteiligten Bewegungen zu beobachten ist 2 • 2. "Erfahrungen" schlagen sich im allgemeinen nicht in Sätzen nieder, sondern in Eigenschaften der Dinge. Ähnlich wie Bedürfnisse in "Aufforderungscharakteren" (LEWIN) sind Grund-Folge- bzw. Zweck-MittelErfahrungen in "Funktionalcharakteren" der Dinge selbst verkörpert. Der Hammer ist etwas zum Nägel-Einschlagen, die Bank etw,as zum Ausruhen 3 . Allgemeinere Funktionalcharaktere von Dingen sind z. B. "schwer", "undurchdringlich", "bewegbar", "empfindlich", ,.hindernd" usw. 3. Daß die Erfahrung eines "Hinführens-zu" nicht aus eigenen Reaktionen und erst recht nicht gerade aus Problemreaktionen zu stammen braucht, wurde bereits hervorgehoben. Die behavioristische Trial-and-Error-Theorie hatte hier das Gesichtsfeld der Psychologen arg beschränkt. 4. Ebenso wurde bereits darauf hingewiesen, daß nicht "dieselbe" Leistung wie die neu geforderte schon einmal erfahren sein muß, sondern - wegen der Möglichkeit genereller Erfahrungen - nur "ähnliche" Leistungen bzw. Kausalzusammenhänge. Diese Ähnlichkeit besteht auch oft nur zwischen den Teilen der neuen Leistung und früheren Leistungen, d. h. die neue Leistung ist durch Kombination mehrerer alter Leistungen entstanden, welche Möglichkeit schon o. S. 22 angedeutet wurde. In zahlreichen Lösungsprozessen wird derart eine Hauptleistung mit einer Herstellungsleistung kombiniert. Nachdem einmal erfahren ist, daß etwas in einer bestimmten Lage bzw. in einem bestimmten Zustand zum Erfolg führt, wird es - früher oder später auch in die betreffende Lage bzw. den betreffenden Zustand gebracht. Immer wieder ist in Tierversuchen zu beobachten, wie zuerst die taugliche Lage (z. B. der Kiste unter dem Ziel, des Stocks in Berührung mit dem Ziel) als tauglich erkannt und ausgenützt wird, um dann später eigens hergestellt zu werden. Die schließliehe Gesamtleistung ist also eine Kombination zweier ganz verschiedener Leistungen. - Sie kann auch durch sukzessive Realisierung ein und desselben Lösungsverfahrens 1 Vgl. die "means-end-relations" bei E. C. ToLMAN, Purposive Behavior in Animals and Men. 2 Vgl. W. KöHLER, a. a. 0., N. R. F. MAIER, Reasoning in White Rats; Gengerelli u. a. 3 Vgl. ToLMAN, a. a. 0., sowie Psych. Rev., Vol. 40 (S. 395).

Fragestellung und Beispiele.

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zustandekommen. Ein einfaches Beispiel: Wenn ein ~chimpanse erst mit einem kurzen Stock einen langen heranholen muß, um dann hiermit die Banane zu erreichen, .so besteht dieser Lösungsprozeß offenbar aus zwei "Lösungsphasen" (im genauen Sinn der vorliegenden Arbeit). Die erste besteht in der Forderung eines zur Erreichung der zu fernen Banane genügend langen Stocks, die zweite in der "ergänzenden" Forderung eines zur Erreichung dieses zu fernen Stocks genügend langen Stocks. Die beiden Lösungsphasen stellen also sukzessive Realisierungen ein und desselben Lösungsverfahrens dar 1 . 5. Keineswegs ist zur Erfahrungsund Zufallsausbeutung erforderlich, daß der gewünschte Effekt oder etwas ihm Ähnliches schon einmal vollständig erreicht wurde. Häufig genügt die Verursachung einer als solche kenntlichen bloßen Annäherung. Ja, oft macht schon die Verursachung einer bloßen Bewegung des Zielgegenstandes auf die erforderliche Lösungsmöglichkeit aufmerksam 2 • Kapitel VI.

Über Findung durch Resonanz. § 1. Fragestellung und Beispiele. In Kap. II, § 2 wurde skizziert, wie eine "Lösung" auf Grund der Übereinstimmung zwischen der geforderten (antizipierten, signalisierten) und der dem Gesuchten innewohnenden Eigenschaft" gefunden, besser aufgefunden werden kann. Wir nannten damals den Vorgang, durch den im Wahrnehmungsfeld bzw. Gedächtnis (Spurenfeld) ein so und so signalisierter Gegenstand oder Sachverhalt aufgefunden wird, Resonanz. Das Modell der "Lösungsfindung auf Grund der Resonanzwirkung eines Signalements" wurde jedoch damals nur erwähnt, um als ein naheliegendes, aber für Lösungsfindung überhaupt denn doch gar zu beschränktes Modell einstweilen beiseitegetan zu werden. Es ist die "trivialste" und uneinsichtigste Form der Lösungsfindung, in jeder Welt prakt~kabel, in der nur überhaupt Äbnlichkeiten, Wiederholungen vorkommen. Obwohl nun die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Einsichtlichkeiten unserer Welt andere, einsichtigere Weisen der Lösungsfindung ermöglichen, so wird doch 1 Es wäre jedoch verfehl't, eine Lösung darum für leicht zu halten, weil sie ja nur in einer zweimaligen Anwendung ein und desselben Verfahrens bestehe. Es zeigt sich immer wieder, daß die bloße Einschiebung eines Zwischenziels die geforderte Handlung außerordentlich zu erschweren vermag. Es gehört zur Bewältigung derartig untergliederter Ganzheiten eine beträchtliche "Spannweite des intentionalen Bogens" (BERINGER). Bezüglich dieser Spannweite bestehen große individuelle Unterschiede. Vgl. auch K. GoTTSCHALDT, a. a. 0., Kap. VI; ferner P. GurLLAUME et J. MEYERSON, Recherehes sur l'usage de l'instrument chez les singes, J. d€ Psychol., Bd. 27, 28 u. 31) (vgl. "c'est la vision d'ensemble quimanque") 2 Vgl. ADAMS, a. a. 0., S. 100ff., S. 115, S. 117.

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Über Findung durch Resonanz.

dadurch jene simple Findungsweil;;e keineswegs überflüssig gemacht. Wo immer im Verlauf eines Lösungsgeschehens im Wahrnehmungsfeld der Problemsituation nach tauglichen Mitteln gesucht wird, vor allem aber, wo immer Erfahrungen, gelernte Strukturen in einen Lösungsprozeß einbezogen werden, da dürfte dies in der Form einer Resonanzwirkung vermöge eines tauglichen Signalements vor sich gehen. Es lohnt darum, näher zu untersuchen, was es mit dieser Art des Findens für eine Bewandtnis hat. Vorerst noch einige Beispiele zur Ergänzung der in Kap. li, § 2 enthaltenen. Ich suche auf dem Tisch vor mir nach einem Bleistift. Der Blick wandert umher, bis er schließlich am Bleistift "hängen bleibt". - Wir haben also zu unterscheiden: ein Signalement oder "Suchmodell" (vgl. die ungefähre Vorstellung des Bleistifts) und einen "Suchbereich" (vgl. den Tisch). Der Suchbereich braucht natürlich nicht in der Wahrnehmung zu liegen. Es kann statt dessen irgend ein Erinnerungsfeld (mit dem "inneren Blick") durchlaufen werden. Schließlich kann ein bestimmter Suchbereich auch ganz fehlen. Das Gesuchte (nebst Aufenthaltsort) taucht dann unmittelbar "aus dem Gedächtnis" aufl. Ebenso wie ein bestimmtes individuelles Ding kann "irgend etwas So-und-so-Artiges" gesucht werden. Ich suche z. B. nach etwas Länglichem, Stockartigem (zum Hervorholen eines unter den Schrank gerollten Gegenstandes). Dabei kann ich wieder im Wahrnehmungsraum oder in irgend einem vielversprechenden Erinnerungsbereich nach etwas Tauglichem Umschau halten, es kann mir aber dgl. auch ,;abstrakt" einfallen (ein Lineal, ein Schirm), und ich stelle erst hinterher die Frage, ob und wo so etwas wohl vorhanden und zugänglich sein könnte? Noch ein Beispiel: Einmal gab ich mehreren Knaben ein Problem, worin nach einem um keinen Preis von den Feinden abzufangenden Nachrichtenträger gefragt war. Die erste - übrigens zielanalytische Lösungsphase oder Problemumformung bestand darin, daß die Kinder mit dem Suchmodell "etwas hoch oben" bzw. "etwas Unsichtbares" suchten. (Denn was heißt "abfangen"? - doch jedenfalls: sehen und berühren). Diesen Forderungen entsprachen die immanenten Eigenschaften der "Lösungen": Flugzeug, Unterseeboot. Als Signalement des Gesuchten brauchen keineswegs optische Eigenschaften zu dienen, wo nicht gerade in einem visuellen Felde gesucht 1 Es läge nahe, ein bestimmt gerichtetes Suchen einen "Vektor" zu nennen. Doch wohlgemerkt: Die Richtung so eines "Suchvektors" wäre keineswegs räumlich definiert. Sie bestünde, wenn überhaupt in einem "Raum", dann jedenfalls in einem anderen "Raum" als beispielsweise der Vektor, der zwischen dem Subjekt und dem Raumort des bereits gefundenen Objekts definiert ist.

Fragestellung und Beispiele.

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wird. Wenn ich etwas brauche, um damit einen Nagel in die Wand zu schlagen, fällt mir prompt ein Hammer ein. Hier ist das Gesuchte also durch seine typische Funktion charakterisiert, nicht durch Momente seines Aussehens. Erst wenn ich nun den Hammer in meiner Umgebung suche, kommt ein visuelles Signalement ins Spiel. Das Gesuchte braucht kein Ding zu sein. Es kann auch ein Verfahren sein, ein Weg zu .. Die signalisierte Eigenschaft lautet dann eben "hinführend zu dem und dem Effekt". Zu solcher Auffindung von Gegenständen und Operationen ist natürlich nicht nötig, daß die geforderte oder signalisierte Eigenschaft an dem betreffenden Gegenstand schon einmal abstrahiert war. Sie muß ihm lediglich als Disposition innewohnen. Im übrigen kann der Gegenstand zum allererstenmal in meinen Erlebniskreis getreten sein. Häufig geschieht es, daß ein vertrauter Gegenstand eines schönen Tages - unter dem Druck bestimmten Suchens - in einer "neucn" Eigenschaft auftritt, d. h. in einer, die ich bisher noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Ich suche z. B. nach etwas zum Beschweren von Aktenstücken - und ein Lexikon bietet sich an. Oder der Schirm wird plötzlich als Stockersatz beansprucht. Analog kann ein Vorgang in meiner Umgebung oder Erinnerung zum erstenmal als Mittel-zumZiel beansprucht werden. -Man sieht: unter dem Druck eines bestimmten Suchens können sich sehr radikale Umzentrierungen des Gegenstandes (vgl. WERTHEIMER, Schlußprozesse ... ) vollziehen. Nur die "Disposition dazu" muß im Gegenstand vorhanden sein. Solche Umzentrierungen von Gegenständen lassen sich bereits unter einfachsten Bedingungen beobachten. Der Leser mache folgendes Experiment: er schaue sich in seinem Zimmer oder auf der Straße die Umgebung unter Beanspruchung auf "rot" an, d. h. er "suche" nach allem Roten, was in seinem Umfeld gerade vorhanden ist. Dann wird mit dem (vielleicht sehr vertrauten) "Relief" seiner Umgebung eine erstaunliche Veränderung vor sich gehen. Es strukturiert sich auf "rot" hin, alles dispositioneil Rote springt ungebührlich hervor, ganz untergeordnete, früher kaum oder gar nicht beachtete Gegenstände (Ladenschilder, Bücherrücken, Krawatten ... ) führen auf einmal das große Wort und gehen ungeahnte Verbindungen miteinander ein. Es ist dabei nicht so, daß man Rotes allmählich einsammelte, sondern Rotes "springt einem in die Augen", wird erst richtig rot und beherrscht das Relief. Das erkennende Konstatieren hinkt hinterdrein. - Man kann sein Umfeld auch zur Abwechslung auf "rund" beanspruchen. Dann sieht man plötzlich lauter neue Formell auftauchen, das Rotgewimmel ist wie weggelöscht. Ähnliche resonative Beanspruchtmgen des Wahrnehmungsfeldes geschehen u. U. ganz unwillkürlich auf Grund sogenannter .,Einstl:'lhmgen",

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Über Findung durch Resonanz.

wie sie beispielsweise von intensiver (suchartiger) Beschäftigung mit gleichförmigen Gegenständen zurückbleiben können. Eine persönliche Beobachtung, die mich jedesmal wieder von neuem verblüfft: wenn ich eine Weile intensiv Noten gelesen habe, kann ich oft hinterher minutenlang auf keine sogenannte homogene Fläche blicken, ohne daß sofort und unabwendbar alle zufälligen Mikrostrukturen der betreffenden Flächen zu Noten ausarten. Wenn man sich die Mannigfaltigkeit der in unserer Notenschrift gebräuchlichen Symbole vergegenwärtigt, so kann man sich ja. denken, daß zahllose zufällige Mikrostrukturen Notensymbole darstellen können. (Ein größerer schräger Fleck z. B. erscheint spontan als zwei im Sekundenintervall schräg aneinander gepreßte Köpfe halber oder ganzer Noten, oder - falls er schmal genug ist - als Balken.) Es handelt sich, wie man sieht, hier nicht um Halluzinationen, sondern um Beanspruchungen des Wahrnehmungsfeldes unter einem gänzlich unwillkürlichen Druck auf Notenartiges. Etwas anders liegen die Bedingungen in Versuchen, über die K. GoTTSf"HALDT berichtet in seiner Arbeit: "Über den Einfluß der Erfahrung auf die Wahrnehmung von Figuren, JI; Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung figuraler Einprägung und den Einfluß spezifischer Geschehensverläufe auf die Auffassung optischer Komplexe (Psychol. Forsch. Bd. 12). G. erzeugte bei seinen Vpn durch periodisch gebaute Darbietungsreiheh an bestimmten Reihenstellen einen spezifischen Erwartungsdruck, unter dem eine an und für sich mehrdeutige Prüffigur - es handelte sich um Darbietungen in einem Schwellenbereich der Figurwahrnehmung in entsprechend spezifischer Weise wahrgenommen wurde.

§ 2. Ergänzendes zum Begriff der Resonanz. Um mit dem Begriff der "Resonanz", wie "wir ihn in der vorliegenden Arbeit verwenden wollen, vertrauter zu machen, sei darauf hingewiesen, daß das Wiedererkennen - sowohl das individuelle wie das generelle 1 zweifellos durch Resonanz geschieht. Wodurch sollte ein Wahrgenommenes auch nur so etwas wie "Bekanntheitsqualität" gewinnen, es sei denn durch irgendeinen Grad von quasi-resonativer Kommunikation mit bestimmten Residuen? Daß die Tatsache des Wiedererkennans mit der "Leitungshypothese" (wonach ein Empfindungskomplex und sein Residuum durch bestimmte Bahnen einander zugeordnet sein sollen) nicht verträglich ist, wurde bereits von v. KRIES und BECHER überz•mgend dargetan. Wenn ein bestimmtes Objekt wiedererkannt wird, obwohl es sich bald auf dieser, bald auf jener Netzhautstelle - und dazu noch in verschiedenen Größen und Perspektiven - abbildet, dann kann für die Erregung des passenden Residuums unmöglich eine besondere Leitungsverbindung zwischen Retinalort und Residualort verantwortlich sein. Denn räumlich (nervös) verbunden ist ja alles mit allem, da von jeder Netzhautstelle aus jedes Residuum belangbar ist.- Das Auswahlprinzip kann also nicht in nervöser Spezialverbindung bestehen. Es muß durch das inhaltliche Zueinander von äußerer Erregungsgestalt und Residuum gegeben sein. (Und mehr ist mit dell). Ausdruck "Resonanz" einstweilen nicht gemeint.) 1 Individuelles Wiedererkennen: ich erkenne ein Haus, in dem ich vor Jahren wohnte, einen Schlager, meinen Mantel wieder. Generelles Wiedererkennen: ich erkenne Häuser als Häuser, Schlager als Schlager, Mäntel als Mäntel (wieder). Wiedererkennen in diesem letzteren Sinn geschieht. unausgesetzt.

Diskussion einiger V ersuche.

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Man kann sich den Hergang des Wiedererkennens grob so vorstellen: iline periphere Reizung schickt eine bestimmte (ihrem Inhalt spezifische, u. U. sehr komplizierte) Erregungswelle in das Nervensystem hinein, und auf diese Welle sprechen inhaltlich verwandte Residuen quasi-resonativ an. Den Nervenbahnen käme hierbei wesentlich die Rolle eines indifferenten, unparteiischen Mediums zu.

Nach der Theorie W. KöHLERS (vgl. den Vortrag auf dem X. internationalen Psychologenkongreß 1932) ist die reproduzierende Wirkung der Gleichheit aufzufassen als Paarbildung auf Grund des Gestaltfaktors der Gle~chheit in Anwendung auf die Zeitdimension. Die von H. v. RESTORFF angestellten Versuche geben interessante Aufschlüsse über die Abhängigkeit einer Reproduktion vom zeitlichen Zwischenfeld. In kürzester Zusammenfassung: Eine Reproduktion bzw. ein Wiedererkennen findet c. p. leichter statt über eine mit andersartigem, als über eine mit gleichartigem Material ausgefüllte Zwischenzeit. Alle im Folgenden ausgesprochenen Sätze über Ähnlichkeitsreproduktion bedürfen daher des Zusatzes: unter geeigneten Zwischenfeldbedingungen.

§ 3. Diskussion einiger Versuche. Die Versuchsperson soll sagen, was das ist: rot, rund,- saftig, -weich? Nach rot undrundreproduzierte eine Vp "Gummiball", nach saftig "Apfel", nach weich erst "Eierpflaume" dann "Tomate". - Ein zweiter Versuch: lang, spitz, kalt? (gemeint ist Eiszapfen). Die Vpn nennen zuerst Dinge wie "Stricknadel", "Degen". Der VI fügt dem· Signalement die Eigenschaft "spröde" hinzu. Jetzt wird schon eher mit "Eiszapfen" reagiert. Wird vollends das Suchmodell um die weitere Eigenschaft "herabhängend" bereichert, so bleibt die Lösung "Eiszapfen" selten aus. Was liegt hier vor ? 1. Die gegebenen "Bestimmungsstücke" wirken nicht "stückhaft'', "konstellativ" 1, als ob jedes für sich seine eigenen Residuen erregte, woraus dann durch Superposition das möglichst vielen Bestimmungsstücken gemeinsame (oder sonstwie bevorzugte) Residuum ausgewählt würde. Es ist vielmehr direkt phänomenal aufweisbar, wie die einzelnen Bestimmungsstücke einem einheitlichen "Dingmodell" eingefügt werden, jedes an seinem spezifischen Strukturort. M. a. W. das aus den gegebenen Bestimmungsstücken "konstruierte" Suchmodell erregt als Ganzes passende Residualganze. Der Prozeß gleicht in dieser Hinsicht dem Wiedererkennen eines Wahrnehmungsdinges, wo auch nicht lauter einzelne Eigenschaften lauter einzelangemessene Residuen wachrufen, sondern das konkret strukturierte Ding als Ganzes ein Ganzes. 1 Vgl. die "Konstellationstheorie" des Denkens von JAMES, G. E. MüLLER, PoPPELREUTER u. a., die zuerst von SELZ (I, S. 281ff.) theoretisch und von SHEPARD und FoGELSONGER (Psych. Rev., 20, 1913) experimentell widerlegt wurde, die aber noch heute (vor allem bei Psychiatern) in der Form einer Steuerung des Reproduktionsverlaufs durch sogenannte "Obervorstellungen" ein etwas unklares Dasein führt.

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Über Findung durch Resonanz.

2. Das Suchmodell ist aber kein vollständiges, scharf bestimmtes "Ding". Es ist ein teilweise "offen gelassenes", vages, fluktuierendes (resp. absichtlich variiertes) Dingschema mit (u. U. provisorisch besetzten) "Leerstellen". 3. Das Suchmodell setzt ein Verstehen der Instruktion voraus, welches zwei Phasen involviert: 1. Jedes einzelne der verbal gegebenen Bestimmungsstücke muß vorerst einmal für sich ,;verstanden" werden. Dieses Verstehen geschieht durch Erregung der entsprechenden (gattungsmäßigen) Einzelresiduen, auf dem Wege über die zugehörigen Wortresiduen. - 2. Aus den erregten Einzelresiduen wird alsdann durch einen Prozeß "strukturaler Kombination" (s. u.) das einheitlich-dinghafte Suchmodell konstruiert.

§ 4. Strukturale Kombination. Das eben beanspruchte Prinzip der strukturalen Kombinierbarkeit von Vorstellungen hat für die Psychologie des Verstehens von Mitgeteiltem grundsätzliche Bedeutung 1 . Wenn jemand sagt: "Stell Dir auf dem Tisch dort eine gelbe Krähe mit einer Zigarre im Schnabel vor", so entsteht daraus - mit mehr oder weniger Mühe - ein einheitliches Vorstellungsbild. Die Elemente und die Beziehungen (die abstrakten Strukturorte) sind sämtlich bekannt. Ihr Zueinander und Ineinander aber ist neu. Eine- Krähe und ein Tisch können zueinander in die Beziehung "auf" gebracht werden. Eine Zigarre und ein Krähenschnabel in die Beziehung "in". Der Strukturort "Farbe der Krähe" kann mit gelb besetzt werden usw. - Neukombinationen sind offensichtlich keine "Anhäufungen", sondern strukturale "Einfügungen". Elemente werden in Beziehungen gesetzt. Jede "Anwendung" allgemeiner Sätze, allgemeiner Erfahrungen auf neues Material geschieht durch strukturale Kombination. (In solche Kombinationen gehen natürlich nicht die Residuen selber ein, sondern aktuelle Prozesse, die von diesen gewissermaßen "abgezogen'" werden.) Das allgemeine Gesetz der strukturalen Kombination lautet: je zwei Residualerregungen, Vorstellungen, bzw. eine Vorstellung und eine Wahrnehmung lassen sich miteinander realiter in sämtliche Beziehungen setzen, die sie (ihrer Art nach) überhaupt als Relata einzugehen vermögen. - Kombinationen können sowohl von innen bedingt (vgl. freies Spiel der Phantasie) wie von außen (verbal) "determiniert" sein. Wer einen Roman liest, vollzieht von der ersten bis zur letzten Seite verbal determinierte Kombinationen. - Kombination ist übrigens nur ein Spezialfall von "Umstrukturierung des Vorstellungsmaterials" überhaupt. § 5. Transformierung in konkrete Suchmodelle. Häufig sind verstandene Instruktionen r.och keine geeigneten Suchmodelle. Die ur1

Vgl. hierzu

SELZ,

I, S. 162ff.

"Prägnanz" eines Signalements.

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sprüngliche Charakterisierung des Gesuchten, das ursprüngliche Signalement muß sich erst tauglich transformieren. Hierzu seien einige Versuchsergebnisse mitgeteilt. Es handelt sich dabei um Aufgaben des folgenden Typus: "Nennen Sie einen Städtenamen, dessen viertletzter Buchstabe ein t ist". - Bei solchen Aufgaben wird in bezeichnender Weise das ursprüngliche Signalement, das bei einem konkreten Städtenamen nur vermöge einer besonderen Prüfung als zutreffend erkennbar ist, das also keinen unmittelbar anschaulichen Charakter des betreffenden Städtenamens "trifft", in ein konkret-anschauliches Suchmodell verwandelt. Bei der oben genannten Aufgabe verfuhren Vpn z. B. so: sie bildeten ein Suchmodell vom Typus: T - / - - 1 , wobei häufig noch ein bestimmter erster Vokal antizipiert wurde. So entstanden bei einer Vp die (sämtlich nicht ganz korrekten) Lösungen: Tegel, Togo; dann, nachdem die Zweisilbigkeit als "zu lang" aufgegeben war: T(h)orn. - Oder aber es wurde ein Name von der Form: ---fstein oder ---Jtern antizipiert, worauf sich einstellten: Gastein, Kaiserslautern. Man sieht bereits aus den mitgeteilten Beispielen, wie da ein quasianschauliches (und darum ziemlich spezielles) Modell entsteht, welches sich rhythmisch um ausgezeichnete Elemente gliedert. So ein Modell ist unvollständig in dem Sinne, daß es "Leerstellen" enthält.

§ 6. "Prägnanz" eines Signalemtmts. Wir sahen, nicht jedes "Einanderentsprechen" von Signalement und Gegenstand ermöglicht schon ein Anklingen des Gegenstandes auf das Signalement. Das Signalement muß dem Gegenstand "gut sitzen", "prägnant" sein. Dafür gibt es eine Reihe von Bedingungen: 1. Vollständigkeit, Bestimmungsreichtum des Signalements. Ein einfaches Beispiel hierfür wäre die Tatsache, daß das Residuum "Eiszapfen" um so leichter erregt wird, je mehr der Eigenschaften: lang, spitz, kalt, spröde, herabhängend ... antizipiert sind. 2. Knappheit, Nicht. Überbestimmtheit des Signalements. In ein Signalement sollen möglichst keine Bestimmungen vollwertig eingehen, deren der zu findende Gegenstand zwar fähig aber nicht "haltig" ist. Ein Beispiel: ich suche etwas, womit sich dieser Messingnagel zwecks Aufhängung dieses Van-Gogh-Porträts in die Wand schlagen läßt. Ein solches Signalement trifft zwar auf "Hammer" zu, aber es ist offenbar dem Hammer gleichgültig, ob er gerade hic et nunc gerade einen Messingnagel und gerade zu diesem Zweck in die Wand schlägt. Das Finden der Lösung vollzieht sich hier also notwendig in Abstraktion von gewissen überflüssigen Situationsumständen. Ohne solche Abstrak1 Die kw-zen wagerechten Striche bedeuten Buchstaben, der schräge Silbentrennung.

Über Findung durch Resonanz.

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tion gäbe es überhaupt keine Verwertbarkeit einschlägiger genereller Erfahrungen. 3. Richtigkeit des Signalements. Das Signalement darf nicht "falsch" sein, d. h. etwas enthalten, was der Gegenstand nicht nur nicht, sondern anders enthält. Beispiele: ich sehe mich nach einem blauen Briefkasten um - vergeblich, denn die Briefkästen sind in diesem Lande gelb. Ein Suchen befindet sich manchmal in folgender charakteristischen Konfliktsituation. Gesucht seien Gegenstände mit der Eigenschaft b. Es existiere eine Klasse von Gegenständen mit den Eigenschaften bc, eine andere Klasse mit bd, eine dritte mit be usw. Bereichere ich nun mein Suchmodell um eine der zusätzlichen Eigenschaften, z. B. c, so steigen zwar jetzt (wegen der größeren Vollständigkeit) die Chancen für be-Gegen· stände. Gleichzeitig aber sinken die Chancen für bd und be-Gegenstände, denen gegenüber die Antizipation jetzt falsch ist. Ob ich also mit dem Modell bc mehr erreiche als mit dem Modell b, wird u. a. davon abhängen, wie groß die Klasse bc im Verhältnis zu den übrigen ist.

4. "Triftigkeit" des Signalements. Untriftig war jenes Signalement: "Städtenamen, dessen viertletzter Buchstabe ein t ist". Es "trifft zu", aber es "trifft" nicht (vgl. S. 95). Als Beispiele können hier auch Tatsachen dienen, die W. KöHLER geltend machte gegen G. E. MüLLERS These von der ausschlaggebenden Bedeutung der Komplexgebundenheit für die Reproduktionsbereitschaft 1 . Von dem "Teil" geht deshalb keine merkliche reproduzierende Wirkung auf den Rest des Violin-

t

schlüssels ~ aus, weil er kein charakteristischer, guter Teil des Ganzen ist. Aus demselben Grund geht noch eher von I als von II II eine reproduzierende Wirkung auf den ganzen Komplex lddO aus. Von den vier aufgezählten Bedingungen meint das "allgemeine Antizipationsgesetz" von AcH und SELZ nur die erste, die der Vollständigkeit.

§ 7. Über Suchbereiche. In der Regel ist ein Suchen auf etwas gerichtet, was seiner Art nach Teil eines "Feldes" oder irgendwie sonst beschaffeneu "konkreten Bereichs" ist bzw. sein kann. Dadurch wird ermöglicht (vgl. die Beispiele S. 90), daß das Suchmodell sich direkt an das spezielle Feld, den speziellen Bereich wendet - im Grenzfall nur an den bei einer Durchlaufung gerade berührten Minimalbereich. So wurden in den Versuchen mit den Städtenamen z. B. deutsche Städtenamen gesucht, wobei dann häufig noch im einzelnen bestimmte Teilgebiete Deutschlands "durchlaufen" wurden. Eine Vp, die mit dem Schema ---/stein suchte, war deutlich auf das gebirgige Südwestdeutschland gerichtet. Sie hatte das Gefühl, es müsse hier mehr Namen auf -stein geben. - Bei einer anderen Aufgabe: "viersilbige Städte" begann eine Vp sofort, in den Vereinigten Staaten zu suchen, wubei sie 1

KöHLER, Komplextheorie und Gestalttheorie, Psychol. Forsch., Bd. VI.

Über Suchbereiche.

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dann mehrmals an Hand des (vorgestellten) Kartenbildes "Durchlaufungen'' vornahm. Analoges geschieht bei jenem bekannten Gesellschaftsspiel: z. B. große Männer auf M nennen. Auch hier werden nicht bloß konkretere Suchmodelle gebildet (z. B. Mi - - ), sondern es werden gleichzeitig Bereiche abgegrenzt und durchlaufen (z. B. "Physiker" oder "französische Schriftsteller" und dgl.), welche Bereiche vom Suchenden möglichst konkret, d. h. nicht klassifikatorisch verstanden werden, z. B. als eine bestimmte Gegend auf dem Bücherbrett oder als ein bestimmtes Geschichtswerk oder dgl. Solche konkreten Bereiche werden dann, falls es nottut, d. h. falls dem Suchmodell nicht schon unmittelbar aus diesem Bereich Geeignetes "entgegenspringt'', mehr oder weniger systematisch durchlaufen. M. a. W. die "inhaltlichen" Bestimmungen des ursprünglichen Signalements werden durch "topische" Bestimmungen ergänzt. Die Ergänzung, ja partielle Ersetzbarkeit inhaltlicher Bestimmungen eines Suchmodells durch regionale Bestimmungen zeigt folgende Modifikation unserer Eiszapfenaufgabe. Gibt man der Vp statt der Bestimmungsstücke "spröde" und "herabhängend" die regionale Bestimmung "Winter", so leistet man ihr (bzw. der Lösung "Eiszapfen") ungefähr denselben Dienst. - Das Ineinandergreifen von Inhaltsbestimmungen und spontanen Gebietsbestimmungen geht aus dem folgenden Versuchsprotokoll hervor. Aufgabe: "rund, braun, schwer?" Reaktionen: 1. Kastanie (aber nicht schwer genug). Es stellt sich nun das Gefühl ein "so etwas könnte es sonst irgendwo im Pflanzenreich geben". Ein Gartengelände wird in Gedanken durchlaufen. Dabei entsteht 2. Kürbis. Dann wird das Pflanzenreich aufgegeben. Nach einer Weile entsteht 3. Kopf mit braunen Haaren, dann, mit Richtung auf Tierisches - 4. ein braunes zusammengerolltes Tier, ein Bär. Jetzt erfolgt abermals ein Bereichswechsel: es wird ein Artefakt gesucht. Ein Möbellager erscheint vielversprechend und wird durchlaufen. Dabei wird schließlich (nachdem bewußt auf räumliche Selbs~ändigkeit des gesuchten Gegenstandes verzichtet worden war) gefunden 5. ein kugelförmiger Schrankfuß resp. eine verzierende Kugel auf einem Geländerpfosten. Dann wird auch diese Region wieder aufgegeben. Die Initiative versiegt allmählich. Es werden noch genannt 6. Bovist und 7. Felsblock (wobei jedoch beide Male die Forderung "braun" als ungenügend erfüllt empfunden wird). Ein Suchbereich kann auf verschiedene Weise entstehen. Oft wird er einfach als die charakteristische "Sphäre" eines bestimmten Gegenstandes mit diesem zusammen wachgerufen (z. B. ein Garten als Sphäre eines pflanzlichen Gegenstandes) und dient dann fernerem Suchen als Bereich. Oder aber die Erregung wird vermittelt durch ein eigens auf einen einschlägigen Suchbereich gerichtetes Signalement (vgl. u. § 9 über "Miterregung"). Das Suchen innerhalb von Bereichen vollzieht sich im allgemeinen in Durchlaufungen. So werden räumliche Felder (eine Landschaft, ein Buch) oder zeitliche Felder (ein Tag oder ein ganzer Lebensabschnitt) - mehr oderweniger "kursorisch" -durchlaufen. Gebietsdurchlaufungen treten besonders dann auf, wenn kein prägnantes Suchmodell zustande kam, Duncker, Psychologie des produktiven Denkens.

7

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Über Findung durch Resonanz.

d. h. keines, das einen passenden Gegenstand aus größerem Felde direkt zu "attrahieren" vermocht hätte. Die partielle Ersetzbarkeit inhaltlicher durch regionale Bestimmungen wurde ja bereits erwähnt. Im Grenzfall, wo überhaupt kein inhaltliches Suchmodell mehr vorhanden ist, sondern bloß noch eine Suchregion und irgend ein reines Funktionssignalement "etwas zum ... ", bleibt nurmehr Durchlaufung übrig. Der Gegenstand wird d~nn gar nicht mehr an Hand seiner Geeignetheit gefunden, sondern das Suchen stößt gleichsam unterwegs auf ihn und stellt seine Geeignetheit, sein Passen erst nachträglich (durch Prüfung) fest. Das heißt aber gar nichts anderes als: das Suchen ist rein "topisch" geworden.

§ 8. Topische Antizipation. Wie entsteht die Antwort auf Fragen vom Typus: "was steht links neben dem Tintenfaß dort?:', "welches Land liegt zwischen Deutschland und Spanien?", "womit schlägt man einen Nagel in die Wand?", "welches ist die Farbe von reifen Tomaten?" Im Unterschied zu den früheren Aufgaben dieses Kapitels sind jetzt nicht (im engeren Sinn des Wortes) "Eigenschaften", sondern "Beziehungen", "Leerstellen", genauer: "Orte in Beziehungsgefügen" antizipiert, deshalb "topische Antizipation" (x R b, d. h. x in der Relation R zu b) 1 . Die Findung eines derart topisch antizipierten Gegenstandes wollen wir "Ablesung" nennen: das Gesuchte wird von einem bestimmten (Struktur-) Ort "abgelesen". Der ganze Findungsprozeß vollzieht sich in zwei Schritten. Zuerst werden die explizit signalisierten Gegenstände wachgerufen, zu denen der gesuchte Gegenstand in den Beziehungen R 1, R 2, •• stehen soll. Und diese Gegenstände gehen dann in das Signalement ein, mit dem das Gesuchte selber gefunden wird. Dieses entscheidende Signalement enthält also bereits reale Teile eben desselben individuellen Wahrnehmungs- oder Residualkomplexes, dem auch das Gesuchte angehört. Das ist der wesentliche Unterschied zu einer rein inhaltlichen Antizipation. (Wir sahen jedoch - vgl. § 7 - daß auch eine inhaltliche Antizipation sich im allgemeinen durch Suchbereiche und deren Durchlaufung topische Äquivalente verschafft.) Was wir in Kapitel IV "einsichtige Ablesung" nannten, ist durchaus vom Typus einer solchen topischen Findung (kompliziert durch gewisse Zusatzbedingungen, die an jenem Ort auseinandergesetzt wurden). Bei einer Ablesung, wie "welche Beziehung besteht zwischen a und c, wenn a > b und b > c ?" wird ja in der Tat die Findung durch den 1 In einem weiteren, aber allzu formalen Sinn von "topisch" liegt natürlich auch dort, wo der Gegenstand durch bestimmte "Eigenschaften" signalisiert ist, eine topische Antizipation vor. Denn es wird ja ein "Träger" solcher Eigenschaften gesucht (also x Rb, wo b die Eigenschaften, R die Trägerbeziehung).

Reproduktion und .,Miterregung".

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"Ort" (.,zwischen a und c") vermittelt. Die gesuchte Beziehung wird von diesem "Ort" abgelesen. Es gibt topische Antizipationen, bei denen der Beziehung R eine durchlaufbare Richtung entspricht, d. h. eine Richtung in der - vom Ausgangsgegenstandbaus - der Blickpunkt verschiebbar ist, bis er auf irgend etwas in dieser Richtung Gelegenes trifft. Solches ist z. B. der Fall bei der Aufgabe "was steht links neben dem Tintenfaß dort?" Hier kann der Blick vom Tintenfaß nach links wandern, bis er an irgend etwas dort "Stehendem" sozusagen hängen bleibt. Solches ist jedoch nicht mehr der Fall bei Aufgaben wie "Lösung von" oder "das kleinste von", denn hier entspricht der Beziehung keine einfache Durchlaufungsrichtung mehr. Der für uns wichtigste Fall von topischer Antizipation ist der, wo gesucht wird nach "etwas, das hinführt zu", oder "etwas zum ... ". Da, wie wir sahen, dem "Hinführen-zu" ein konkretes Erlebnismoment entspricht (vgl. Kap. V §§ 2, 4 und 5), so kann in der Tat aus jedem Erlebnis eines "Hinführens-zu" das Hinführende herausgelesen werden (durch Resonanz, eventuell im Verein mit einer gewissen Rückdurchlaufung des zeitlichen Hergangs). Häufig ist der Strukturort eines Gegenstandes längst zur ., QuasiEigenschaft" geworden. Der Gegenstand hat sich seinen typischen Ort sozusagen "introjiziert", so daß ihm jetzt der Ort als .,Eigenschaft", als Gehalt innewohnt. So ist z. B. der funktionale Ort, den der Hammer im Komplex des Nageleinschlagens einnimmt, längst zur .,Eigenschaft" des Hammers geworden.

§ 9. Reproduktion und "Miterregung". Bei der gewöhnlichen Ähnlichkeitsreproduktion wird nicht nur "Gleichartiges" erregt, sondern "Damit-Zusammenhängendes" "miterregt". Im allgemeinen kommt nur das Miterregte zum Bewußtsein - woraus sich denn erklärt, daß man so lange vor lauter "Berührungs"-Reproduktion die Ähnlichkeitskomponente nicht sah 1 . Nennen wir das Reproduktionsmotiv - das kein Suchmodell zu sein braucht - a und das Reprodukt b, so gibt es immer eine "Differenz" b-a, von der man sagen kann, sie sei "miterregt". Besteht b-a nur aus unselbständigen Momenten (vgl. die gläserne Durchsichtigkeit bei dem als etwas Langes, Kaltes, Spitzes antizipierten Eiszapfen), so wird man allerdings bloß theoretischer Konsequenz zuliebe von Miterregung sprechen. (In solchen Fällen spricht m!J.n gewöhnlich nur von "Ähnlichkeitsreproduktion".) - In dem Maße jedoch, wie b-a 1 Man glaubte infolgedessen, alle Älmlichkeitsreproduktion auf Berührungsreproduktion reduzieren zu müssen. Erst HöFFDING deckte den Zirkel auf: damit a ein b reproduziere, muß es doch zuvor dasjenige a' reproduziert haben, mit dem b seinerzeit assoziiert wurde. Der Berührungsreproduktion a -)>- b geht also notwendig eine Ähnlichkeitsreproduktion (ein Resonanzvorgang) a-+ a' voraus.

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Über Findung durch Resonanz.

als relativ selbständiger und für sich betonter Teil von b gegeben ist (vgl. die vereiste Dachrinne, das Haus, die ganze Winterlandschaft im Eiszapfenbeispiel), gewinnt der Ausdruck "Miterregung" an Natürlichkeit. In diesem Sinn von Miterregung wird bei der Reproduktion oft "die Jacke an den Knopf genäht". Ganze Atmosphären, raum-zeitliche Totalvorstellungen. können "miterregt" werden. (Hier spricht man gewöhnlich von , ,Barührungsreproduktion' '.) Wie kommt nun Miterregung zustande ? Zwei Formen von Miterregung sind zu unterscheiden: 1. Ein b-a kann einfach deshalb miterregt werden, weil es (dynamisch, nicht logisch) untrennbar zur Ganzheit von b gehört. M. a. W. b-a wird erregt, weil b nur als Ganzes erregbar ist, weil a' in b dynamisch unselbständig ist. Es hängt hier also ab von der Intimität und Festigkeit des gestaltliehen Zusammenhangs, ob und wie stark etwas noch "miterregt" wird. - Diese Form der "Miterregung" kann auf den Gestaltfaktoren der "Nähe" und "Schließung" beruhen. (Im Gegensatz zur Selektion auf Grund des Gestaltfaktors der Gleichheit vollzieht sich die reproduktive Selektion auf Grund der Gestaltfaktoren der Nähe und Schließung nicht zwischen einem "neuen" Prozeß und einem Residuum, sondern zwischen einem erregten Residuum und einem anderen - "nahen" bzw. das betreffende Ganze "schließenden" Residuum.) Die klassischen Assoziationsgesetze beziehen sich übrigens samt und sonders auf gewisse - sehr spezielle - Bedingungen, von denen neben anderen das Entstehen, die Zusammenhangsart und der Festigkeitsgrad von Residualsystemen abhängt.

Wir wollen diese Form von Miterregung bezeichnen als , ,Miterregung dynamisch unselbständiger Teile des a'-haltigen Systems". 2. Eine Miterregung kann aber auch antizipiert sein, was nichts anderes besagt, als daß das Miterregte topisch antizipiert ist. Fällt mir auf Grund einer .Ähnlichkeit etwas ein, so kann ich es willentlich "weiterspinnen" in bestimmten Richtungen nach außen hin ergänzen (vgl. den Begriff der "determinierten Komplexergänzung" bei SELZ); ich kann es aber auch im Innern anders strukturieren (vgl. den Begriff der "determinierten Abstraktion". bei SELZ). - Schon die Frage, "Was fällt Dir dazu ein?" ist eine topische Antizipation, wenn auch eine sehr unbestimmte. SELZ hat mit großem Nachdruck auf die Existenz solcher "determinierten" (im Gegensatz zu "diffusen") Reproduktionen hingewiesen. Er verfolgt sie bis in die sinnlosesten Gedächtnisleistungen hinein (vgl. "Das ~u Reproduzierende kann in solchen Fällen in abstrakter Form ... antizipiert sein: als die erste oder die auf die eben dagewesenen folgende Silbe der gelernten Reihe ... " SELZ I, S. 289). Allerdings scheint es mir entschieden zu weit gegangen, wem1 SELZ alle unwillkürlichen Reproduktionen (Miterregungen) als determiniert, d. h. eben als antizipiert ansieht. Es gibt

Partielle Reproduktion.

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zweifellos, was wir "Miterregung dynamisch unselbständiger Teile des a' -haltigen Systems" nannten. Hier noch von Antizipationen reden, hieße den Begriff verwässern. Pure Duldung ist keine Antizipation mehr.

§ 10. Partielle Reproduktion. Ein bestimmtes Residuum läßt sich nicht nur entweder ganz oder gar nicht wachrufen. Es weist vielmehr in der Regel eine Mannigfaltigkeit von Zügen und Bezüglichkeiten auf, von denen einige sehr wohl getrennt von und "vor" den übrigen reproduzierbar sind. Es geschieht nun beim Suchen nach an und für sich Bekanntem sehr häufig, daß das betreffende Residuum nicht direkt antizipierte Charaktere gleichsam als Reflexe vorauswirft, "sich vorschattet". Und zwar können sich vorschatten sowohl inhaltliche Momente als auch topische Momente, d. h. andere Bestandteile des Residualganzen, dem das x angehört, in ihren charakteristischen Beziehungen zu x. Solche inhaltlichen oder topischen Vorschattungen des Gesuchten werden nun der bestehenden Antizipation einverleibt und "transformieren" dieselbe. (SELZ spricht hier von "sukzessiver Wissensaktualisierung", I, S. 45 und 62ff.) Ein Beispiel. Aufgabe: Name des Verfassers von "Ein Held unserer Zeit"? Ich suche "na, der dreisilbige Name auf - ow ?" Schlußlösung: LERMONTOW. - In vielen Prozessen geht der Endlösung nur so etwas wie "das ist mir doch bekannt" voraus. Dies ist wohl der schwächste Reflex, den ein Residuum überhaupt vorauswerfen kann 1 . Durch Vorwegerregung anderer Bestandteile des anvisierten Residualganzen können erhebliche Bedeutungsänderungen des Gesuchten entstehen. Z. B. jemand sucht in der Erinnerung nach dem Datum einer Abreise. Dabei fällt ihm ein, "das war doch am Tage nach dem ... -Konzert in der Philharmonie, und das war - ?" Das gesuchte Datum der Abreise erfährt also eine Umzentrierung in das Datum des Tages nach 1 Hier